Sprachliche Merkmale der erlebten Rede im Deutschen und Polnischen [Reprint 2013 ed.] 9783110936896, 9783484304857

In this study, free indirect speech (erlebte Rede) in German and Polish is regarded not only as a way of rendering speec

222 67 13MB

German Pages 338 [340] Year 2003

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Sprachliche Merkmale der erlebten Rede im Deutschen und Polnischen [Reprint 2013 ed.]
 9783110936896, 9783484304857

Table of contents :
Abkürzungsverzeichnis
0 Einführung
0.1 Der Gegenstand
0.2 Ziele und Vorgehensweise
1 Zur Definition der erlebten Rede
1.1 Definitionsansätze
1.2 Erlebte Rede im Spektrum der Redewiedergabeformen
1.3 Indikatoren der erlebten Rede
1.4 Erlebte Rede in geschriebener und gesprochener Sprache
1.5 Zusammenfassung
2 Theoretische Grundlagen
2.1 Deixis und Anaphora
2.2 Sekundäres subjektives Zentrum
2.3 Transposition
2.4 Narrativität
2.5 Zusammenfassung
3 Adverbiale im Deutschen und Polnischen
3.1 Allgemeines zu Temporal- und Lokaladverbialen
3.2 Temporaladverbiale
3.3 Positionale Lokaladverbiale
3.4 Dimensionale Lokaladverbiale
4 Tempora im Deutschen
4.1 Grammatische und lexikalische Zeitausdrücke
4.2 Tempussemantik
4.3 Tempustransposition
4.4 Gegenwart des Bewusstseinsträgers
4.5 Vergangenheit des Bewusstseinsträgers
4.6 Zukunft des Bewusstseinsträgers
4.7 Tempustransposition und Referenzzeitbewegung
4.8 Zusammenfassung
5 Tempora im Polnischen
5.1 Das polnische Aspekt-Tempus-System
5.2 Tempusgebrauch in indirekter Rede
5.3 Tempusgebrauch in erlebter Rede
5.4 Zusammenfassung
6 Abschließende Bemerkungen
7 Literatur

Citation preview

Linguistische Arbeiten

485

Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Klaus von Heusinger, Ingo Plag, Beatrice Primus und Richard Wiese

Anna Socka

Sprachliche Merkmale der erlebten Rede im Deutschen und Polnischen

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-30485-5

ISSN 0344-6727

© Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2004 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Einband: Digital PS Druck AG, Birkach

Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist eine geringfügig Uberarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im November 2002 an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln eingereicht habe. Das Rigorosum fand im Februar 2003 statt. Allen voran möchte ich mich bei meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Heinz Vater, für die Anregung der Dissertation und die engagierte Betreuung, die über die Belange der Arbeit weit hinausging, bedanken. Mein Dank gilt auch der Zweitgutachterin, Frau Prof. Dr. Ursula Stephany, die bereits in der Entstehungsphase große Teile der Arbeit gelesen und mit ausführlichen Kommentaren versehen hat. Für hilfreiche Gespräche danke ich Dr. Manfred Consten und Dr. Björn Wiemer, für das sorgfältige Korrekturlesen umfangreicher Teile des Manuskripts Stephan und Joanna Göbel. Der Redaktion der Reihe „Linguistische Arbeiten" danke ich für die Annahme zur Veröffentlichung. Mein Dissertationsvorhaben und Promotionsstudium an der Universität zu Köln wurden zeitweise durch Stipendien des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, der GFPS e.V. und der Viktor-Jaeger-Stiftung gefördert. Bei allen diesen Organisationen möchte ich mich herzlich bedanken. Für ihre effiziente Hilfe danke ich ferner Frau Margret Kunert von der Universitätsverwaltung. Andreas Jablonski stellte mir für lange Monate seinen Laptop zur Verfügung und Frau Hedwig Pauly das Dachgeschoss in ihrem Haus. Beiden sei herzlich gedankt. Zu danken habe ich schließlich Maciej, Joanna, Alina, Magdalena sowie meinen Eltern. Köln, im September 2003

Anna Socka

Inhalt

Abkürzungsverzeichnis 0 Einführung 0.1 Der Gegenstand 0.1.1 Ein Beispiel 0.1.2 Redewiedergabe 0.1.3 Merkmale der erlebten Rede 0.2 Ziele und Vorgehensweise 1 Zur Definition der erlebten Rede 1.1 Definitionsansätze 1.1.1 Terminologische Vielfalt 1.1.2 Die Toblersche Sichtweise: Erlebte Rede als eine Form der Redewiedergabe 1.1.3 Die Kalepkysche Sichtweise: Erlebte Rede im narrativen Text 1.1.4 Erlebte Rede in Grammatiken 1.2 Erlebte Rede im Spektrum der Redewiedergabeformen 1.2.1 Syntaktische Autonomie 1.2.1.1 Syntaktische Autonomie als ein konstitutives Merkmal der erlebten Rede 1.2.1.2 Zur Syntax und Semantik indirekter Rede 1.2.1.3 Syntaktischer Zusammenhang mit der Redeeinleitung 1.2.1.3.1 Erlebte Rede mit Schaltsatz und Parenthese 1.2.1.3.2 Erlebte Rede nach vorangehender indirekter Rede 1.2.1.3.3 Merkmale der erlebten Rede in syntaktisch indirekter Rede 1.2.1.3.4 Zum Polnischen 1.2.1.3.5 Zusammenfassung 1.2.1.4 Weitere Grenzfälle: Erlebte Rede in Teilsätzen 1.2.2 Verbformen 1.2.2.1 Erlebte vs. berichtete Rede im Deutschen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 1.2.2.2 Tempus- vs. Modustransposition als Kennzeichnung der Wiedergabe 1.3 Indikatoren der erlebten Rede 1.3.1 Externe Indikatoren 1.3.1.1 Klassifizierung 1.3.1.2 Innere Zustände 1.3.1.3 Symptomereignisse 1.3.2 Interne Indikatoren 1.3.2.1 Klassifizierung

XII 1 1 1 2 4 9 13 13 13 13 16 19 22 22 22 24 27 27 28 29 31 32 33 34 34 37 38 38 38 40 41 42 42

vin 1.3.2.2 Starke interne Indikatoren im Deutschen 1.3.2.2.1 Antwortpartikeln 1.3.2.2.2 Inteijektionen 1.3.2.2.3 Modalwörter 1.3.2.2.4 Abtönungspartikeln 1.3.2.3 Schwache interne Indikatoren im Deutschen 1.3.2.4 Starke interne Indikatoren im Polnischen 1.3.2.4.1 Antwortpartikeln 1.3.2.4.2 Inteijektionen 1.3.2.4.3 Abtönungspartikeln 1.3.2.4.4 Modalwörter 1.3.2.4.5 Verblose Sätze 1.3.2.5 Schwache interne Indikatoren im Polnischen 1.3.2.6 Präsens und Futur im Polnischen 1.4 Erlebte Rede in geschriebener und gesprochener Sprache 1.4.1 Erlebte Rede in der Schriftsprache 1.4.2 Erlebte Rede in der gesprochenen Sprache 1.5 Zusammenfassung 2 Theoretische Grundlagen 2.1 Deixis und Anaphora 2.1.1 Demonstratio ad oculos und erster Hauptfall der Deixis am Phantasma (analogische Deixis) 2.1.2 Demonstratio ad oculos in nicht kanonischen Äußerungssituationen 2.1.3 Situationsenthebung vs. Anaphora 2.1.4 Zweiter Hauptfall der Deixis am Phantasma (imaginative Deixis) 2.1.5 Dritter Hauptfall der Deixis am Phantasma 2.1.6 Deixis vs. Anaphora, Exophora vs. Endophora 2.1.7 Andere Egozentrika 2.2 Sekundäres subjektives Zentrum 2.2.1 Dekomposition des Sprecherkonzepts 2.2.1.1 Von Roncador (1988) 2.2.1.2 Gather (1994) 2.2.2 Kontextualisierung der Satzbedeutung 2.2.2.1 Satzbedeutung in erlebter Rede 2.2.2.2 Origo kontextrelativer Ausdrücke in erlebter Rede 2.3 Transposition 2.3.1 Terminologie 2.3.2 Transposition als Transformation aus direkter Rede 2.3.3 Transposition als Origowechsel 2.3.4 Referenzverschiebung nach von Roncador (1988) 2.3.5 Transposition als Indikator erlebter Rede 2.3.6 Bereiche der Transposition 2.4 Narrativität 2.4.1 Quaestio 2.4.2 Vordergrund und Hintergrund

43 43 44 45 46 47 48 48 49 50 51 51 53 53 56 56 58 62 65 65 65 67 68 70 73 74 77 77 77 77 79 81 81 83 85 85 86 88 89 91 92 94 94 96

IX 2.4.3 Aktuelle Referenzzeit und referenzielle Bewegung 2.5 Zusammenfassung 3 Adverbiale im Deutschen und Polnischen 3.1 Allgemeines zu Temporal- und Lokaladverbialen 3.2 Temporaladverbiale 3.2.1 Deiktische und anaphorische Temporaladverbiale 3.2.2 Deiktische Temporaladverbiale vs. erlebte Rede 3.2.3 Jetzt vs. Kalenderdeiktika in gegenwärtiger Trivialliteratur 3.2.4 Kalenderdeiktika bei Theodor Fontane 3.2.5 Morgen abend ging erst das Schiff. Anaphora oder Versetzungsdeixis?.. 3.2.5.1 Anaphora 3.2.5.2 Versetzungsdeixis 3.2.6 Temporaladverbiale und Referenzzeitbewegung 3.2.6.1 Posteriore Temporaladverbiale 3.2.6.2 Anteriore Temporaladverbiale 3.2.6.3 Simultane Temporaladverbiale 3.2.7 Zum Polnischen 3.2.7.1 Kalenderdeiktika 3.2.7.2 Teraz 'jetzt' 3.2.7.3 Temporaladverbiale und Referenzzeitbewegung 3.2.8 Zusammenfassung 3.3 Positionale Lokaladverbiale 3.3.1 Deiktische vs. anaphorische Verwendung 3.3.2 Die deiktische Relation 3.3.3 Deixis und Anaphora zugleich 3.3.4 Endophorisch gebrauchte Lokaldeiktika ohne Antezedensorte 3.3.5 Interferenz von Zeigfeldern 3.3.6 Diskurssemantik 3.3.6.1 Zwischen reiner Anaphora und imaginativer Deixis 3.3.6.2 Dort 3.3.6.3 Hier 3.3.7 Zusammenfassung 3.4 Dimensionale Lokaladverbiale 3.4.1 Dimensionale Ausdrücke im Deutschen und Polnischen 3.4.2 Dimensionsbezogene Denotatsorte 3.4.3 Deiktische Verwendung dimensionaler Adverbiale: Ausschnitt einer Umgebung des Bewusstseinsträgers 3.4.4 Intrinsische Verwendimg dimensionaler Adverbiale: Ausschnitt des Eigenortes des Rektums 3.4.5 Der Bewusstseinsträger als sekundäre Origo: Deixis und Intrinsik zugleich? 3.4.6 Dort hinten in der ersten Reihe Strukturierung des Sichtfeldes im Deutschen 3.4.7 Zusammenfassung

98 101 105 105 108 108 111 113 116 119 119 120 121 121 124 125 126 126 130 131 134 135 135 136 138 140 141 142 142 143 144 145 146 146 146 147 148 150 151 154

χ 4 Tempora im Deutschen 4.1 Grammatische und lexikalische Zeitausdrücke 4.1.1 Das Tempussystem des Deutschen 4.1.2 Aktionsarten 4.2 Tempussemantik 4.2.1 Aktzeit, Sprechzeit, Betrachtzeit 4.2.2 Situatuationszeit (TSit), Äußerungszeit (TU), Topikzeit (TT) 4.2.3 Ereigniszeit (E), Sprechzeit (S), Referenzzeit (R) 4.2.4 Das Perfekt-Dilemma 4.2.5 Ereigniszeit (E), Orientierungszeit (O), Referenzzeit (R) 4.2.6 Die Präsensbedeutung 4.2.7 Drei Tempus-Modus-Systeme 4.2.8 Zwei Tempusgruppen 4.2.9 Episches Präteritum und erzählende Tempora 4.2.10 Absoluter vs. relativer Tempusgebrauch 4.3 Tempustransposition 4.3.1 Tempustransposition und consecutio temporum 4.3.2 Tempusgebrauch in indirekter Rede - Erklärungsmodelle 4.3.2.1 Absolute Tempusformen 4.3.2.2 Formale consecutio-temporum-R.ege\ 4.3.2.3 Relative Tempusformen 4.3.3 Tempora in indirekter Rede im Deutschen 4.3.3.1 Relativer Tempusgebrauch und das deutsche Tempussystem 4.3.3.2 Untransponierte Tempora (Relative Tempora im Sinne Comries) 4.3.3.3 Absolute Tempora 4.3.3.4 Tendenzen der Tempustransposition in deutscher indirekter Rede 4.3.4 Tempusgebrauch in erlebter Rede 4.3.4.1 Formale consecutio-temporum-Regel 4.3.4.2 „Jetzt in der Vergangenheit" 4.4 Gegenwart des Bewusstseinsträgers 4.5 Vergangenheit des Bewusstseinsträgers 4.5.1 Plusquamperfekt als Transpositionstempus 4.5.2 Doppelplusquamperfekt als Transpositionstempus 4.5.3 Ausbleiben der Transposition 4.6 Zukunft des Bewusstseinsträgers 4.6.1 Zukunftstempora im Deutschen 4.6.2 Die Stellung von würde*Infinitiv im verbalen Paradigma 4.6.3 Austauschbarkeit des Präteritums mit der wwrde-Konstruktion 4.6.3.1 Zukunftsbezug im Kontext 4.6.3.2 Zukunft des wiedergebenden Sprechers 4.6.4 Obligatorik der wwrí/e-Konstruktion 4.6.4.1 Sicherung des Zukunftsbezugs 4.6.4.2 Hauptsätze 4.6.4.3 Komplement- und Relativsätze

155 155 155 157 160 160 163 165 169 175 177 178 183 184 186 191 191 192 192 193 194 197 197 199 200 201 203 203 205 208 209 209 212 216 220 220 224 229 229 230 231 231 232 235

XI 4.6.4.4 Zukunftsbezug außerhalb indirekter und erlebter Rede 4.6.5 Die wm/e-Konstruktion als analytischer Konjunktiv II in kontrafaktiven Kontexten 4.6.6 Obligatorik des zukunftsbezogenen Präteritums 4.6.7 Konjunktiv Π 4.6.8 Futur Präteritum II, zukunftsbezogenes Plusquamperfekt 4.6.8.1 Futur Präteritum II 4.6.8.2 Zukunftsbezogenes Plusquamperfekt 4.7 Tempustransposition und Referenzzeitbewegung 4.7.1 Referenzzeitbewegung 4.7.2 Formale Beschreibung der Tempustransposition in erlebter Rede 4.8 Zusammenfassung

236 237 241 242 246 246 249 250 250 251 254

5 Tempora im Polnischen 5.1 Das polnische Aspekt-Tempus-System 5.1.1 Zur Grammatikalität von Tempus und Aspekt im Polnischen 5.1.2 Zur Semantik des polnischen Aspekts 5.1.3 Aspekt vs. Aktionsarten 5.1.4 Iterativität 5.1.5 Aspekt vs. Tempus 5.2 Tempusgebrauch in indirekter Rede 5.2.1 Untransponierte Tempora (Relative Tempora im Sinne Comries) 5.2.2 Imperfektives Präteritum als Transpositionstempus 5.2.3 Beschränkungen 5.3 Tempusgebrauch in erlebter Rede 5.3.1 Tempustransposition und das polnische Tempussystem 5.3.2 Gegenwart des Bewusstseinsträgers 5.3.2.1 Imperfektives Präsens 5.3.2.2 Imperfektives Präteritum als Transpositionstempus 5.3.2.3 Perfektives Präsens 5.3.3 Vergangenheit des Bewusstseinsträgers 5.3.3.1 Imperfektives Präteritum 5.3.3.2 Perfektives Präteritum 5.3.3.3 Plusquamperfekt 5.3.4 Zukunft des Bewusstseinsträgers 5.3.4.1 Imperfektives Präsens und imperfektives Präteritum 5.3.4.2 Perfektives Präsens 5.3.4.3 Futur 5.4 Zusammenfassung

259 259 259 262 263 265 266 269 269 271 276 276 276 277 277 282 285 286 286 288 289 291 291 295 298 302

6 Abschließende Bemerkungen

305

7 Literatur

309

Abkürzungsverzeichnis

1/2/3 AKK DAT DEL DUR F FUT GEN IMP INDEF INF INST IPF IT KONJ LOK M Ν PART PM PF PL PLU PRS PRT PTL RES RG SG Tadv

1 . / 2 . / 3 . Person Akkusativ Dativ deliminativ durativ Femininum Futur Genitiv Imperativ indefinit Infinitiv Instrumental imperfektiv iterativ Konjunktiv Lokativ Maskulinum Neutrum Partizip Personalmaskulinum perfektiv Plural Plusquamperfekt Präsens Präteritum Partikel resultativ Restgenus Singular Temporaladverbial(e)

0 Einführung

0.1

D e r Gegenstand

0.1.1 Ein Beispiel Vor ungefähr einem Vierteljahrhundert war ich zu einem Vortrag an einem English Department auf den britischen Inseln eingeladen. [...] Unter anderem versuchte ich meinen Zuhörern an einem damals bei uns vielzitierten und mir daher wohlvertrauten Beispiel ER [Erlebte Rede; A. S.] zu illustrieren. Ich bemühte mich auch dieses Beispiel [...] >Tomorrow was Christmas< in einen entsprechenden narrativen Kontext einzubinden. Die Reaktion meines als Gastgeber füngierenden Kollegen war etwas überraschend. Er meinte >Tomorrow was Christmas, that's simply bad English!< (Stanzel 2001:165) Die im obigen Zitat geschilderte Reaktion kommt der Verfasserin der vorliegenden Arbeit nicht unbekannt vor - auch ihre Zuhörer neigten dazu, die entsprechenden deutschen und polnischen Beispiele zuerst als inkorrekt abzutun, bis sie darin „die Wiedergabe von Gedanken oder eventuell von Rede" (Kurt 1999:13) erkannten und sie dann akzeptierten. Bei dem kursiv gedruckten Teil des Textes (0-01) handelt es sich um eine - „in einen entsprechenden narrativen Kontext" eingebundene - erlebte Rede. 1 (0-01)

(a) Im Schaufenster der Bäckerei erblickte der Clochard sein Spiegelbild: ein viel zu weiter Filzmante! umgab ihn wie ein Ofenschirm, lange Bartstoppeln standen ihm wie Kaktusstacheln aus dem Gesicht. Er dachte an früher, (b) Früher hatte er jeden Morgen frische Brötchen auf seinem Frühstückstisch gehabt, (c) Immer diese Erinnerungen an früher! (d) Er war selbst schuld, er hätte nicht ins Gefängnis kommen dürfen, (e) Verdammte Bettelei! (f) Aber morgen war Sonntag, und von irgend etwas mußte er heut ' und morgen leben, (g) Die dicke Bäckersfrau da drin sah nicht unsympathisch aus, von der würde er sicher was bekommen (von der bekam/bekäme er sicher was), (h) Frauenpersonen wie die waren rauh, geizig waren sie nicht. (Kaufmann 1976:152)

In Beispiel (0-02) werden dieselben Gedanken des Clochards in Form der direkten Rede wiedergegeben, in (0-03) in Form der indirekten Rede. (0-02)

1

(a) Im Schaufenster der Bäckerei erblickte der Clochard sein Spiegelbild: ein viel zu weiter Filzmantel umgab ihn wie ein Ofenschirm, lange Bartstoppeln standen ihm wie Kaktusstacheln aus dem Gesicht. (b) „Früher hab ich jeden Morgen frische Brötchen auf meinem Frühstückstisch gehabt", dachte er. (c) „Immer diese Erinnerungen an früher! (d) Bist selbst schuld, hättest nicht ins Gefängnis kommen dürfen, (e) Verdammte Bettelei! (f) Aber morgen ist Sonntag, und von irgend etwas muss ich heut' und morgen leben, (g) Die dicke Bäckersfrau da drin sieht nicht unsympathisch aus, von der bekomme ich sicher was. (h) Frauenpersonen wie die sind rau, geizig sind sie nicht".

Wenn nicht anders vermerkt stammen alle Hervorhebungen in Belegen und Zitaten von der Verfasserin. Der Kursivdruck in Belegen markiert die erlebte Rede.

2 (0-03) (a) Im Schaufenster der Bäckerei erblickte der Clochard sein Spiegelbild: ein viel zu weiter Filzmantel umgab ihn wie ein Ofenschirm, lange Bartstoppeln standen ihm wie Kaktusstacheln aus dem Gesicht. (b) Er dachte (daran), dass er früher jeden Morgen frische Brötchen auf seinem Frühstückstisch gehabt hatte. (c) Er dachte, *dass immer diese Erinnerungen an früher! / dass er nicht immer diesen Erinnerungen an früher nachhängen durfte (/darf). (d) Er wusste, dass er selbst schuld war und dass er nicht ins Gefängnis hätte kommen dürfen. (e) Er dachte, *dass verdammte Bettelei!/ Er dachte, dass Betteln eine verdammte Sache war (/ist). (f) Er überlegte, dass der nächste Tag Sonntag war und dass er von irgendetwas die beiden nächsten Tage leben musste (/muss). (g) Er stellte fest, dass die dicke Bäckersfrau hinter der Theke nicht unsympathisch aussah (/?aussieht), dass er von dieser sicher was bekommen würde (/bekam/bekäme/? bekommt). (h) Er wusste, dass Frauenpersonen wie diese rau waren (sind); *dass geizig sie nicht waren/ dass sie nicht geizig waren (sind).2 Nach einigen einleitenden Anmerkungen zur Redewiedergabe im Allgemeinen (0.1.2) wird die erlebte Rede in ihren wesentlichen Merkmalen charakterisiert (0.1.3).

0.1.2 Redewiedergabe Die erlebte Rede ist, wie die direkte und die indirekte Rede, eine Form der Redewiedergabe.3 Der deutsche Terminus Redewiedergabe ist irreführend, da es sich nicht ausschließlich um tatsächlich stattgefundene mündliche oder schriftliche Äußerungen handeln muss.4 Im

2 Beispiele (0-01) und (0-02) übernehme ich von Kaufmann (1976:151f.). (0-03) ist meine Modifikation des Textes von Kaufmann, den ich im Folgenden anführe. (o-i) Im Schaufenster der Bäckerei erblickte der Clochard sein Spiegelbild: ein viel zu weiterFilzmantel umgab ihn wie ein Ofenschirm, lange Bartstoppeln standen ihm wie Kaktusstacheln aus dem Gesicht. (b) Früher habe er jeden Morgen frische Brötchen auf seinem Frühstückstisch gehabt, dachte er. (c) Er dürfte nicht immer diesen Erinnerungen an früher nachhängen, ermahnte er sich, (d) Er sei selbst schuld, er hätte nicht ins Gefängnis kommen dürfen, (e) Daß Betteln eine verdammte Sache ist, wußte er nur zu gut. (f) Aber, überlegte er, der nächste Tag war Sonntag, und von irgend etwas müsse er die beiden nächsten Tage leben, (g) Die dicke Bäckersfrau hinter der Theke sehe nicht unsympathisch aus, stellte er fest, von der werde er sicher was bekommen, (h) Frauenpersonen wie die seien rauh, geizig seien sie nicht. 3

4

Allgemeines zur Redewiedergabe vgl. z. B. in von Roncador (1988), Coulmas (1986a), Kaufmann (1976). Die polnischen Termini reprodukcja 'Reproduktion' und przytoczenie 'Anführung' sind in dieser Hinsicht neutral. Wóycicki (1946) benutzt den Terminus przytoczenie, ohne ihn explizit zu definieren, in Bezug auf alle drei kanonischen Wiedergabeformen (direkte, indirekte und erlebte Rede). Górny (1966) prägt, in Anlehnung an Heinermann (1931), den Sammelterminus reprodukcja und spricht von przytoczenie nur in Bezug auf verschiedene Varianten der direkten Rede (die er als reprodukcja bezpoárednia 'direkte Reproduktion' bezeichnet). Dieser Gebrauch von przytoczenie scheint sich in der Polonistik durchgesetzt zu haben. Andererseits kommt sie meistens ohne eine

3 Gegenteil - insbesondere bei der erlebten Rede liegt in den meisten Fällen keine Rede in diesem Sinne vor, sondern es handelt sich - wie in (0-01) - eher um Gedanken, Wahrnehmungen oder andere Bewusstseinsinhalte. Wenn im Folgenden vom „Sprecher" und der „Äußerungssituation" die Rede ist, sollen darunter mutatis mutandis auch denkende bzw. wahrnehmende Personen resp. deren Denk- und Wahrnehmungssituationen mit verstanden werden. In kommunikativ-pragmatischer Sicht liegt Redewiedergabe nur dann vor, wenn es zwei isolierbare Äußerungssituationen gibt, die miteinander verknüpft sind. So wird sie in Fabricius-Hansen (1989:161) folgendermaßen definiert: Redewiedergabe ist die Wiedergabe von Äußerungen, Reflexionen oder anderen Bewußtseinsinhalten einer Person Ρ zu einer Zeit Ζ durch eine andere Person P' oder die gleiche Person zu einer anderen Zeit Z'. 5

Ich benutze in dieser Arbeit folgende Bezeichnungen: Originalsprecher (für die Person P), wiedergebender Sprecher (für die Person P'), Original(äußerungs)zeit (für die Zeit Z), Wiedergabezeit (für die Zeit Z'). Analog dazu unterscheide ich zwischen der originalen Äußerungssituation und der Wiedergabesituation. Im prototypischen Fall geht die Originalzeit der Wiedergabezeit voraus. In der Forschungsliteratur herrscht allerdings Einigkeit darüber, dass auch habituelle, zukünftige, hypothetische, imaginäre und nicht stattgefundene Äußerungen „wiedergegeben" werden können.6 Handelt es sich bei der wiedergebenden Äußerung um einen Erzähltext, so ist der Originalsprecher eine Figur (ein Protagonist) der Erzählung, und die Originalzeit ist ein Punkt der Zeitachse, an dem die Figur spricht, denkt oder wahrnimmt. Eine Figur, deren Äußerungen, Gedanken oder Wahrnehmungen wiedergegeben werden, bezeichne ich im Folgenden als Bewusstseinsträger (vgl. von Roncador 1988:183). Der wiedergebende Sprecher ist ein Erzähler, und zwar oft ein solcher, der selbst nicht als Figur in der dargestellten Welt auftritt. Die wiedergebende Äußerung referiert auf die Originaläußerung. Die Redewiedergabeformen unterscheiden sich in der Art und Weise, wie das getan wird, voneinander (vgl. Wunderlich 1969). Direkte, indirekte und erlebte Rede sind in dieser Hinsicht nur relativ

5

6

allgemeine Bezeichnung für die Redewiedergabe aus (vgl. ζ. B. Kozarzewska 1992, Luczak 1997, Mayenowa 1979). Demnach handelt es sich bei explizit performativen Äußerungen (Hiermit gebe ich bekannt, dass sich meine Tochter gestern verlobt hat) und eingeleiteten unmittelbaren Mitteilungen eigener Reflexionen u. Ä. (Dazu kann ich nur sagen, dass dieser Plan niemals die Zustimmung des Vorstandes finden wird)) nicht um eine Redewiedergabe (vgl. Kaufmann 1976:22, Fabricius-Hansen 1989:161, Gather 1994:105, Breslauer 1996:17). Vgl. z.B. Gather (1994:106), Fabricius-Hansen (1989:162), Breslauer (1996:14), Górny (1966:300), Klimajówna (1966:38). (o-ii) Meine Oma sagt immer: „Kind, das wirst du bereuen." (o-iii) Andrerseits, wenn er den Jungen einfach zurückschickte...? Wer weiß - es könnte einen ungünstigen Eindruck machen, man würde vielleicht reden, Gerüchte könnten entstehen: Baldini sei unzuverlässig geworden, Baldini bekomme keine Aufträge mehr, Baldini könne nicht mehr zahlen... (Süskind 1985:88) (o-iv) Und warum hast du mir nicht gesagt: „Hanna, wir dürfen diesen Menschen nicht betrügen"?

4 prototypische Instanzen innerhalb eines breiteren Spektrums. Jede von ihnen lässt sich als eine Kombination von semantischen und syntaktischen Merkmalen charakterisieren. Die semantischen Merkmale betreffen die Orientierung von Sprecher- und sprechsituationsabhängigen Ausdrücken (vgl. Plank 1986). In einer wiedergebenden Äußerung lässt sich zwischen der wiedergegebenen Rede (dem Zitat) und einer Redeeinleitung (Redekennzeichnung) unterscheiden. Die Redeeinleitung kann der wiedergegebenen Rede vorangestellt, ihr nachgestellt oder in sie eingeschoben sein. So ist ζ. B. in (0-02b) „Früher hab ich jeden Morgen frische Brötchen auf meinem Friihstückstisch gehabt" - die wiedergegebene Rede und dachte er - die Redeeinleitung. Die syntaktischen Merkmale der einzelnen Wiedergabeformen beziehen sich auf das Vorhandensein einer Redeeinleitung sowie auf den syntaktischen Zusammenhang zwischen ihr und der wiedergegebenen Rede. Ich meine im Folgenden mit direkter, indirekter bzw. erlebter Rede immer nur die wiedergegebene Rede und nur gelegentlich, wenn es auf die Differenzierung nicht ankommt, die ganze Konstruktion von Redekennzeichnung und wiedergegebener Rede (so auch von Roncador 1988:32).

0.1.3 Merkmale der erlebten Rede 0.1.3.1 Folgende Merkmale teilt die erlebte Rede mit der indirekten Rede: •

Orientierung personaldeiktischer Ausdrücke (Personal- und Possessivpronomina) am Standpunkt des wiedergebenden Sprechers, d. h. ihre Transpositon relativ zur (voraussetzbaren) Originaläußerung; (b) Früher hab ich jeden Morgen frische Brötchen auf meinem Frühstückstisch gehabt. (d) Bist selbst schuld, hattest nicht ins Gefängnis kommen dürfen.



Früher hatte er jeden Morgen frische Brötchen auf seinem Frühstückstisch gehabt. Er war selbst schuld, er hätte nicht ins Gefängnis kommen dürfen.

Transposition der Tempora;7 (b) Früher hab ich jeden Morgen frische Brötchen auf meinem Frühstückstisch gehabt. (Perfekt)

Früher hatte er jeden Morgen frische Brötchen auf seinem Frühstückstisch gehabt (Plusquamperfekt)

(h) Frauenpersonen wie die sind rau, geizig sind sie nicht. (Präsens)

Frauenpersonen wie die waren rau, geizig waren sie nicht. (Präteritum)

(g) [...] von der bekomme ich sicher was. (Präsens mit Zukunftsbedeutung)

von der würde er sicher was bekommen (von der bekam/bekäme er sicher was). (würrfe-Form/Präteritum/Konjunktiv II)

Zu beachten ist, dass die referenziellen Gegebenheiten im personaldeiktischen und temporalen Bereich mit denjenigen der umgebenden Erzählung übereinstimmen. Daher bleibt die Personentransposition aus, wenn der Erzähler (wiedergebender Sprecher) mit dem Be7

Die Tempustransposition ist ein Merkmal, das in der deutschen indikativischen indirekten Rede mindestens fakultativ realisiert wird (vgl. Fabricius-Hansen 1989 und unten 4.3.3).

5

wusstseinsträger identisch ist. Die Tempustransposition bleibt aus, wenn im Präsens erzählt wird. Die Transpositionen in erlebter Rede werden unten in 2.3, 4.3 - 4.7, 5.3.2.2 und 5.3.3.3 ausführlich behandelt. 0.1.3.2 Einige Merkmale hat die erlebte Rede mit der direkten Rede gemeinsam. Dazu gehören: •

Orientierung temporal- und lokaldeiktischer Ausdrücke am Standpunkt des Originalsprechers; (f) Aber morgen war Sonntag, und von irgend etwas musste er heut' und morgen leben.

Er überlegte, dass der nächste Tag Sonntag war und dass er von irgendetwas die beiden darauf folgenden Tage leben musste.

(g) Die dicke Bäckersfrau da drin sah nicht unsympathisch aus.

Er stellte fest, dass die dicke Bäckersfrau hinter der Theke nicht unsympathisch aussah.

Demgegenüber werden Temporal- und Lokaldeiktika in der indirekten Rede, so die gängige Meinung,8 transponiert, d. h. am Standpunkt des wiedergebenden Sprechers orientiert, oder es werden nichtdeiktische Ausdrücke gebraucht. In Kapitel 3 wird jedoch gezeigt, dass die Wahl der Origo deiktischer Adverbiale (bzw. die Wahl zwischen deiktischen und nichtdeiktischen Ausdrücken) nicht so sehr mit dem Unterschied zwischen indirekter und erlebter Rede, sondern vielmehr mit dem Grad der Situationsgebundenheit sowie mit der „Erzählsituation" der wiedergebenden Äußerung zu tun hat.9 Syntaktische Autonomie, die es ermöglicht, z. B. verblose Ausrufe und Topikalisierungen in der Wiedergabe beizubehalten; (c) Immer diese Erinnerungen an früher!

Er dachte, *dass immer diese Erinnerungen an früher!

(e) Verdammte Bettelei!

Er dachte, *dass verdammte Bettelei!

(h) Frauenpersonen wie die waren rau, geizig waren sie nicht.

Er wusste, 'dass geizig waren sie nicht,

Demgegenüber ist die indirekte Rede in einen redeeinleitenden Satz eingebettet, hat eine Nebensatzform (Endstellung des finiten Verbs) und kann daher diese Konstruktionen nicht enthalten.

» Vgl. z.B. Duden (19844:165, 19986:779), Banfield (1982:23, 58), Coitine (1985:266, 273),Wunderlich (1972:206), Kaufmann (1976:17). 9 Dies bemerkt eigentlich auch schon Kaufmann (1976:69), wenn er schreibt: „Nehmen wir nun an, dass S2 [d. h. der wiedergebende Sprecher, A. S.] Autor eines Romans, einer Novelle oder einer Erzählung ist, der Reden der handelnden Figuren in indirekter Rede erwähnt; er selbst bleibt im Hintergrund, sein Standort ist nicht lokalisierbar. Unter diesen Bedingungen wird das Bezugs-Hier häufig in das Zentrum des Geschehens verlegt, d.h. die Wahl der raumdeiktischen Ausdrücke bestimmt sich aus der Perspektive der handelnden Figuren, deren Rede referiert wird." In Bezug auf analoge Beispiele für Temporaldeiktika bemerkt er, dass hier die Redeerwähnungen „filr Leser bestimmt [sind], die diese Redeerwähnungen zu nicht festlegbaren späteren Zeitpunkten lesen werden." (Kaufmann 1976:71)

6 In 1.2.1 werden allerdings einige syntaktische Übergangsfälle besprochen. Im Folgenden führe ich einige weitere Textstellen an, anhand derer ich anschließend (in 0.1.3.3 - 0.1.3.8) auf weitere Merkmale der erlebten Rede hinweise. (0-04) [...] der Bischof [...] schwelgte nun zum ersten Mal in seinem Leben in religiösem Entzücken, denn ein Wunder war geschehen vor allen Augen, der Herrgott höchstpersönlich war den Henkern in den Arm gefallen, indem er den als Engel offenbarte, der vor der Welt als Mörder schien - o daß dergleichen noch geschah im 18. Jahrhundert. (Stlskind 1985:302) (0-05) Er warf das Taschentuch auf den Tisch und ließ sich gegen die Sessellehne zurückfallen. Das Parfum war ekelhaft gut. Dieser miserable Pélissier war leider ein Könner. Ein Meister, Gott sei's geklagt, auch wenn er tausendmal nichts gelernt hatte! Baldini wünschte, es wäre von ihm, dieses „Amor und Psyche ". Es war keine Spur ordinär. Absolut klassisch, rund und harmonisch war es. Und trotzdem faszinierend neu. Es war frisch, aber nicht reißerisch. Es war blumig, ohne schmalzig zu sein. Es besaß Tiefe, eine herrliche, haftende, schwelgerische, dunkelbraune Tiefe - und war doch kein bißchen überladen oder schwülstig. Baldini stand fast ehrfürchtig auf und hielt sich das Taschentuch noch einmal unter die Nase. (Süskind 1985:79) (0-06) Man erkundigte sich nach den Plänen der jungen Herrschaften, Plänen, die sogar die Hochzeitsreise betrafen... Sie gedachten an die Riviera zu gehen, nach Nizza und so weiter. Sie hatten Lust dazu - und warum also nicht, nicht wahr? ... Auch der jüngeren Kinder wurde erwähnt, und der Konsul sprach mit Behagen und Wohlgefallen von ihnen, leichthin und mit Achselzucken. Er selbst besaß fünf Kinder und sein Brüder deren vier: Söhne und Töchter... Ja, danke sehr, sie waren alle wohlauf. Warum sollten sie übrigens nicht wohlauf sein nicht wahr? Kurzum, es ging ihnen gut. Und dann kam er wieder auf das Anwachsen der Familie und die Enge in seinem Haus zu sprechen... (Mann, Buddenbrooks, 603) (0-07)

[Tomaschewski plant, eine Bank zu überfallen und befindet sich auf dem Weg dorthin.] Er bog nach links ab, um über Tegel nach Hermsdorf zu fahren. Wenn er diesen Weg wählte, brauchte er wohlfünf Minuten länger bis zum Ziel. Eine Galgenfrist... Warum durfte er nicht anhalten und aussteigen, in die nächste Kneipe gehen und alles vergessen? Was trieb ihn voran? Er wußte es nicht. Wenn man es oberflächlich besah, gab es schon Gründe, sicher. Heute war Dienstag, und wenn er im Laufe dieser Woche nicht an die hunderttausend Mark an seine Gläubiger zurückzahlte, dann konnte er Konkurs anmelden. Dann war er pleite. Trotzdem... Das Ungewöhnliche, das Aberwitzige seines Vorhabens gab ihm einen Teil seiner Kraft zurück. Plötzlich bewunderte er sich. Mein Gott, er war doch ein Mann, der alles auf eine Karte setzte, der Kopf und Kragen riskierte, ein Glücksritter! Er überholte gerade einen Doppeldeckerbus der BVG. (Horst Besetzky, Zu einem Mord gehören zwei-, zit. in Breslauer 1996:149)

(0-08) Ach ja, Samstag, morgen, ein Mähsamstag, morgen, gutgut, er wird mähen, morgen, gern, Anna. (Martin Walser, Jagd\ zit. in Gather 1994:518). (0-09) Der Priester setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und versuchte, sich auf seine Predigt zu konzentrieren. Er wußte, er würde sie mitreißen können. Selbst von der Kanzel sprach er von Mensch zu Mensch. Er überzeugte, weil er aus eigener Erfahrung sprach. Und wie oft war er armer Sünder der Versuchung erlegen! Wer wußte es besser als er? Aber wenn es über ihn kam, konnte er sich einfach nicht beherrschen. Hinterher bereute er, fühlte sich elend, schmutzig, verderbt und unwürdig. Was die Kinder wohl zuhause erzählen würden? Und doch hatte Gottes Ruf ihn armes, verlorenes Schaf immer wieder erreicht. Gott vergibt.

7 Hatte er ihm hilflosen Bündel von Schuld nicht wieder und wieder vergeben? (R. Kemp, Wir Linguisten - zur engen Apposition, Vortrag im Linguistischen Arbeitskreis, Köln 1996) (0-10) Andy war wieder zu Hause. Und sein Plappermündchen hatte nicht still gestanden. Er mußte seiner Marni ja erzählen, was er alles mit Oma unternommen hatte. Burgen hatte er gebaut, groß wie ein Haus, (de Groot 1990:55) (0-11) Der Konsul ging, die Hände auf dem Rücken, umher und bewegte nervös die Schultern [...]. Sie sollte sich gedulden und sich gefälligst nochßnfzigmal besinnen. (Mann, Buddenbrooks, 391) (0-12)

Frau Stuht aus der Glockengießergasse hatte wieder einmal Gelegenheit, in den ersten Kreisen zu verkehren, indem sie Mamsell Jungmann und die Schneiderin am Hochzeitstage bei Tonys Toilette unterstutzte. Sie hatte, strafe sie Gott, niemals eine schönere Braut gesehen, lag, so dick sie war, auf den Knien und befestigte mit bewundernd erhobenen Augen die kleinen Myrtenzweiglein auf der weißen moiré antique... (Mann, Buddenbrooks, 162)10

(0-13) Jetzt konnte er gar nichts mehr riechen, kaum noch atmen. Wie von einem schweren Schnupfen zugelötet war die Nase, und in seinen Augenwinkeln sammelten sich kleine Tränen. Gott im Himmel sei Dank! Nun konnte er guten Gewissens ein Ende machen. Nun hatte er seine Pflicht getan, nach besten Kräften, nach allen Regeln der Kunst, und war, wie schon so oft, gescheitert. Ultra posse nemo obligatur. Feierabend. Morgen früh würde er zu Pelissier schicken um eine große Flasche »Amor und Psyche« und damit die spanische Haut für den Grafen Verhamont beduften, wie bestellt. Und danach würde er sein Köfferchen nehmen, mit den altmodischen Seifen, Sentbons, Pomaden und Sachets, und seine Runde machen durch die Salons greiser Herzoginnen. Und eines Tages würde die letzte greise Herzogin gestorben sein und damit seine letzte Kundin. Und dann würde er selbst ein Greis sein und würde sein Haus verkaufen müssen, an Pelissier oder an irgendeinen anderen dieser aufstrebenden Händler, vielleicht bekäme er noch ein paar tausend Livre dafür. Und würde ein, zwei Koffer packen und mit seiner alten Frau, wenn die bis dahin noch nicht tot war, nach Italien reisen. Und wenn er die Reise überlebte, würde er sich ein kleines Häuschen auf dem Lande bei Messina kaufen, wo es billig war. Und dort würde er sterben, Giuseppe Baldini, einst größter Parfumeur von Paris, in bitterster Armut, wann immer Gott es gefiel. Und so war es gut. (SUskind 1985:82f.) (0-14) „Um so besser", murmelte Gabriele vor sich hin. „Dann kommt er eben nicht, und ich kann mir einen netten, gemütlichen Tag machen". Doch in allerletzter Minute vor Ablegen der 'Goldnixe' kam dann doch noch der junge Blomhardt an Bord. Er mußte es wohl sein, alles sprach dafür. Gabriele hatte ihn noch nie gesehen, kannte jedoch seinen Vater. Der Sohn war ebenso blond und breitschultrig, wirkte auf den ersten Blick sogar etwas derb [...]. „Ihr Vater ist... Nein, ich habe ihn doch vor ein paar Monaten selbst noch getroffen. Sind Sie am Ende gar nicht der Sohn von Dr. Blomhardt?" „Da muß ich Sie enttäuschen, diesen Namen höre ich heute zum ersten Mal." (Balden 1990:4)

0.1.3.3 Zu den nicht einbettbaren Ausdrücken, die nur in direkter und erlebter Rede, nicht aber in Komplementsätzen möglich sind, gehören ferner: - direkte Fragesätze (vgl. (0-06): Warum sollten sie übrigens nicht wohlauf sein [...]?; (0-07): Warum durfte er nicht anhalten und aussteigen, in die nächste Kneipe gehen und alles vergessen? Was trieb ihn voran?, (0-09): Hatte er ihm hilflosen Bündel von Schuld nicht wieder und wieder vergeben?) 10

Zu diesem Beispiel vgl. Lerch (1914:470f.), Steinberg (1971:1).

8 - Exklamativsätze (vgl. (0-04):- o daß dergleichen noch geschah im 18. Jahrhundert.) - verblose, unvollständige Sätze (vgl. (0-07): Eine Galgenfrist ..., Trotzdem ...; (0-08): Samstag, morgen, ein Mähsamstag, morgen ...) - Interjektionen (vgl. (0-07): Mein Gott) - Antwortpartikeln, question tags (vgl. (0-06): Ja, danke sehr, sie waren alle wohlauf. Warum sollten sie übrigens nicht wohlauf sein - nicht wahr?·, (0-08): Ach ja, gutgut...) 0.1.3.4 Die erlebte Rede kann mit der direkten Rede (bzw. mit der Originaläußerung) in der Orientierung referierender Ausdrücke an dem (sozialen, epistemischen usw.) Standpunkt des Originalsprechers übereinstimmen. Besonders sichtbar ist dies bei evaluativen Nominalphrasen (wie Dieser miserable Pélissier in (0-05)) bzw. bei Verwandtschaftsbezeichnungen (wie Marni, Oma in (0-10)). 0.1.3.5 Die Transpositionen im temporalen und personaldeiktischen Bereich haben zur Folge, dass in der erlebten Rede folgende Konstruktionen möglich sind: - Kookkurrenzen von Vergangenheitstempora und gegenwarts- bzw. zukunftsbezogenen temporaldeiktischen Adverbialen (vgl. (0-03): Morgen war Sonntag; (0-07): Heute war Dienstag); - enge Appositionen mit den Pronomina der 3. Person (vgl. (0-09): er armer Sünder, ihn armes, verlorenes Schaf, ihm hilflosen Bündel von Schuld)·, - transponierte Pronomina in idiomatischen Wendungen (vgl. (0-12): strafe sie Gott). 0.1.3.6 Imperative, Vokative und Sprechaktadverbiale (z. B. unter uns gesagt) sind für die direkte Rede typische Strukturen, die in der erlebten Rede grundsätzlich nicht vorkommen können. Dies resultiert aus den Transpositionen im personaldeiktischen Bereich. Da die genannten Ausdrücke einen Adressaten implizieren, sind sie in Kontexten, in denen alle Vorkommen des Pronomens der 2. Person in die 3. Person verschoben sind, nicht möglich. Imperative werden im Deutschen gewöhnlich mit Modalverben umschrieben (vgl. Sie sollte sich gedulden und sich gefälligst noch fünfzigmal besinnen in (0-11)). 0.1.3.7.Zum Schluss sei eine Gruppe von Merkmalen erwähnt, die keine grammatischen Charakteristika der erlebten Rede darstellen, sondern als Indikatoren der erlebten Rede im narrativen Kontext fungieren. Es handelt sich hier um emotive, expressive und ähnliche Elemente, wie z. B. die folgenden: 1. syntaktische Muster, die die Spontaneität der gesprochenen Sprache imitieren, z. B.: - koordinierende Konjunktionen am Satzanfang, Repetitionen (vgl. (0-13)); - parataktische Ketten von Synonymen oder anderweitig semantisch verwandten Wörtern (vgl. (0-09): Hinterher bereute er, fühlte sich elend schmutzig, verderbt und unwürdig.) 2. lexikalische Signale der Expressivität, z. B. Abtönungspartikeln und Modalwörter (vgl. schon, wohl, sicher, doch in (0-07)). 0.1.3.8 Auch inhaltliche Faktoren (z. B. logische Inkohärenz bzw. Kontradiktion zwischen dem erzählenden und dem wiedergegebenen Teil) können als Indikatoren der erlebten Rede dienen. Vgl. dazu (0-14), wo die referierende Nominalphrase {der junge Blomhardt) eine falsche Überzeugung des Bewusstseinsträgers (Gabriele) widerspiegelt.

9 0.1.3.9 Das folgende Beispiel zeigt, dass in der erlebten Rede im Polnischen generell keine Tempustransposition stattfindet: Auch innerhalb einer Erzählung im Präteritum werden Präsenstempora gebraucht." (0-15) Lig zato2yi sw^podobn^domaczugi rçkç w tyi glowy i Lygier leg:PF:PRT:3SG:M seine ähnliche zu Keule:GEN Hand an Hinterkopf und poczql mrucz^c pocieraé kark ζ wielkim zaklopotaniem. beginn:PF:PRT:3SG:M murr:PART:IPF kraul:INF:IPF Nacken mit großer Verlegenheit Onprzecie musi jqodebraé...[...] Bçdzie siç starai, ile er doch müss:IPF:PRS:3SG sie befrei:INF:PF bemüh:IPF:FUT:3SG:M sich soviel bçdzie mògi. Ale jakby siç zdarzyio könn:IPF:FUT:3SG:M aber wenn:KONJ-PTL sich ereign:PF:PRT:3SG:N niechcqcy? Przecie musi jq odebrac! [...] unabsichtlich doch müss:PRS:IPF:3SG sie befrei:INF:PF I wielkie rozczulenie odmalowalo siç na jego twarzy, [...] Und große Rührung abmal:PF:PRT:3SG:N sich auf seinem Gesicht (Sienkiewicz 1961:98) Der Lygier legte seine keulenförmige Hand an den Hinterkopf und begann murrend den Nacken in großer Verlegenheit zu kraulen. Er mußte sie doch retten, und er wollte sich in acht nehmen, so gut es ging. Aber wenn es unabsichtlich geschah, was dann? Er mußte sie doch retten! Auf seinen Zügen malte sich heftige Rührung ab, [...] (Sienkiewicz/ Übs. Lorenz 1978:46)

0.2 Ziele und Vorgehensweise

Im Zentrum des Interesses steht in der vorliegenden Arbeit die Raum- und Zeitreferenz in erlebter Rede. Am Beispiel zweier Sprachen, des Deutschen und des Polnischen, wird der Gebrauch von Lokal- und Temporaladverbialen (Kap. 3) sowie von Tempora (Kap. 4 und 5) untersucht. Zu diesem Zweck wird zuerst (Kap. 1) der doppelte Charakter der erlebten Rede, einerseits Redewiedergabe, andererseits ein textuelles Phänomen, das eines „entsprechenden narrativen Kontextes" (vgl. das obige Zitat von Stanzel 2001) bedarf, ausführlich beleuchtet. Um bei der Behandlung von Raum- und Zeitreferenz diesem doppelten Charakter gerecht zu werden, wird anschließend (Kap. 2) eine Deixiskonzeption ausgearbeitet sowie die 11

Polnische Belege, in denen es auf den Gebrauch von Aspekt-Tempus-Formen ankommt, werden im Folgenden mit einer interlinearen Übersetzung versehen. Aus Platzgründen werden nur Verben durchgehend morphologisch charakterisiert (Abkürzungsverzechnis siehe S. XII). Bei Nomen, Adjektiven und Pronomen wird nur dann auf Kasus, Genus oder Numerus hingewiesen, wenn dies aus Gründen der Kongruenz oder besserer Verständlichkeit erforderlich erscheint. Auslassungen werden durch Punkte angedeutet. Zur Morphologie und Semantik der polnischen Tempora und Aspekte siehe 5.1.

10 Transposition theoretisch erfasst. Dadurch sollen Grundlagen u. a. für die Beschreibung von Kookkurrenzen posteriorer deiktischer Temporaladverbiale mit Vergangenheitstempora (wie in Aber morgen war Sonntag) sowie von Vorkommen deiktischer Lokaladverbiale mitten in einem narrativen Text (wie in Die dicke Bäckersfrau da drin ...) geschaffen werden. Entscheidend dabei ist, dass in beiden Fällen dem Rezipienten keine Äußerungssituation zugänglich ist, deren Umstände (Ort und Zeit) zur Interpretation der Deiktika beitragen könnten. Von dieser „Situationsenthebung" ausgehend wird das Konzept der sog. endophorischen Deixis entwickelt. Auf dieser Grundlage werden in Kapitel 3 Temporaladverbiale sowie positionale (hier, da, dort) und dimensionale Lokaladverbiale (rechts, links, oben, unten) behandelt. Dabei soll ausdrücklich auch auf weniger prototypische und problematische Fälle eingegangen werden. In Kapitel 4 soll der Gebrauch von Tempora in erlebter Rede vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der Tempustransposition behandelt werden. Nach einer kritischen Darstellung einiger der zahlreichen Beschreibungen des deutschen Tempussystems ist zu zeigen, dass die regelmäßigen Transpositionen durch dieses ausdifferenzierte Tempussystem ermöglicht werden. Diese Vorgehensweise trägt wesentlich dazu bei, dass das Deutsche in der Untersuchung mehr Platz einnimmt als das Polnische. Während der Gebrauch von zeitreferenziellen Mitteln in erlebter Rede im Russischen von Kovtunova (1953), PaduCeva (1996) und vor allem Kurt (1999) behandelt wurde, liegt zum Polnischen außer dem Aufsatz von Krukowska (1994) keine vergleichbare Arbeit vor. Kapitel 5 stellt einen Versuch dar, diese Lücke zu schließen. Außerdem sollen durch die Heranziehung des Polnischen die Verhältnisse im Deutschen verdeutlicht werden. Kovtunova (1953:21) bemerkt in Bezug auf das Russische, dass ein plötzlicher Übergang vom Präteritum zum Präsens im Erzähltext ein Erkennungsmerkmal der erlebten Rede darstellen kann. Auch im Polnischen wird auf die Gegenwart des Bewusstseinsträgers typischerweise im imperfektiven Präsens referiert (vgl. (0-15)). Mit anderen Worten findet also bei der Umformung der (anzunehmenden) Originaläußerung in die Wiedergabeform erlebte Rede typischerweise keine Tempustransposition statt. In Kapitel 5 wird zu zeigen sein, dass es sich auch in indirekter Rede nicht anders verhält und dass beides durch die Eigenschaften des polnischen Aspekt-Tempus-Systems bedingt ist. Ferner soll deutlich gemacht werden, dass das Polnische dennoch von der Tempustransposition Gebrauch macht, wenn auch seltener als das Deutsche. Auch dies ist mit Rückgriff auf sein Aspekt-Tempus-System zu erklären. Die Datenbasis der Untersuchung bilden neben einigen autobiographischen Erzählungen (Grzimek 1959, Berland 1992, Zeromska 1996) vor allem Romane, die in der Tradition des „modernen psycho-realistischen Romans von Jane Austen bis Thomas Mann" (Genette 1994:227) stehen. Die erlebte Rede ist in diesen Romanen ein bevorzugtes Mittel der „indirekten Fokussierung" (ebd.) bzw. der „personalen Erzählsituation" (Stanzel 19956), einer psychologisierenden Darstellung der Innenwelt von Protagonisten. Betrachtet man den ganzen Roman, so ist die Erzählsituation prototypischerweise „auktorial-personal" (ebd. 19), d. i. durch den Wechsel zwischen Erzählerbericht und erlebter Rede gekennzeichnet.12 12

Diese Erzählsituation scheint zurzeit vor allem in Jugendromanen und in Trivialromanen (z. B. „den Prototyp" (Stanzel 19956:19) darzustellen. Zum ersteren Romantyp gehört Musierowicz (1998), zum letzteren Dolçga-Mostowicz (1998) sowie Balden, Bolten, Garner, de Groot, Torwegge, Weyden (alle 1990) (siehe Literaturverzeichnis).

11 Bewusst wurde in der vorliegenden Arbeit auf einen minuziösen Übersetzungsvergleich verzichtet - eine Methode, die Kurt (1999) in ihrer Analyse der zeitreferenziellen Mittel in russischer und französischer erlebter Rede gewählt hat. Nach Kurt (1999:14) gebe „die Übersetzung [...] Auskunft über das, was in einer Sprache spontan als angemessenes Ausdrucksmittel empfunden" wird. Demgegenüber wird hier die Meinung vertreten, dass der Originaltext die Wahl der Ausdrucksmittel in der Zielsprache maßgeblich beeinflussen kann. Um diese Interferenzgefahr zu minimieren, müsste - wie auch bei Kurt (1999) - ein Korpus erstellt werden, in dem beide zu vergleichenden Sprachen sowohl als Ausgangs- als auch als Zielsprache vorkommen. Ferner müssten sowohl Originaltexte verschiedener Autoren als auch mehrere Übersetzungen ein und desselben Originaltextes berücksichtigt werden. Die letzte Bedingung erweist sich jedoch, zumindest was deutsche Übersetzungen polnischer Literatur betrifft, als kaum erfüllbar. In Kapitel 1 wird gezeigt, dass die erlebte Rede auch in gesprochenen Texten vorkommt (vgl. Kovtunova 1953, Günthner 2000). Die Erstellung und Aufarbeitung eines entsprechenden Korpus der gesprochenen Sprache würde jedoch den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen und muss späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben.

1 Zur Definition der erlebten Rede

1.1 Definitionsansätze

1.1.1 Terminologische Vielfalt One of the problems in discussing FID [free indirect discourse] is defining the object of inquiry. Not that there is much difficulty in recognising FID in a text, but rather that critics don't seem to agree on how to define it. (Ginsburg 1982:133)

Die Verschiedenheit von Ansätzen zu dem hier in Rede stehenden Phänomen schlägt sich bereits in der Fülle konkurrierender Termini nieder, mit denen es bezeichnet wird.1 Wie die meisten Autoren gehe ich davon aus, dass sich bei den Denotaten von Termini wie style (discours) indirect libre, free indirect speech (discourse), represented speech and thought, narrated monologue, mowa pozornie zalezna, nesobstvenno pr 'amaja reè um das gleiche Phänomen (in seinen spezifischen einzelsprachlichen Ausprägungen) handelt. Den Terminus von Lorck (1921) erlebte Rede, der sich im Deutschen eingebürgert hat, verwende ich im Folgenden als einen Terminus technicus, ohne Lorcks Ansichten (dass der Autor oder der Erzähler das Gesagte oder Gedachte miterlebt) zu Ubernehmen. Der polnische, von Wóycicki (1946) eingeführte Terminus mowa pozornie zalezna 'scheinbar abhängige Rede' ist nicht weniger irreführend. Denn falls zalezna hier im Sinne von 'syntaktisch subordiniert' verstanden werden soll, so ist es die erlebte Rede nicht einmal scheinbar, vielmehr gehört die syntaktische Autonomie zu ihren definitorischen Merkmalen (vgl. 1.2.1). Soll dagegen zalezna so viel bedeuten wie 'nicht direkt', d. h. die Person der Pronomina und finiter Verben der Originaläußerung transponierend, so ist sie es nicht scheinbar, sondern tatsächlich.2 In der Fülle der Definitionsansätze lassen sich zwei generelle Tendenzen unterscheiden, die im Folgenden mit den Namen der beiden Autoren, bei denen sie zuerst ausformuliert wurden, bezeichnet werden.3

1.1.2 Die Toblersche Sichtweise: Erlebte Rede als eine Form der Redewiedergabe Das Genus proximum einer Definition der erlebten Rede im Rahmen der Toblerschen Sichtweise bildet die Redewiedergabe. Die erlebte Rede wird meistens als ein „third kind" (Coulmas 1986:6), und zwar als eine „Zwischenform" (von Roncador 1988:127) neben den 1

2

3

Ausführliche Listen dieser Termini sind z. B. in Steinberg (1971:111-118), Coulmas (1986a:8), Fónagy (1986:301), Van de Locht (1994:22-23) und Kurt (1999:20) zu finden. Górny (1966:296) vermutet, dass sich Wóycicki auf die vermeintliche Eigenschaft der indirekten Rede (mowa zalezna) bezog, lediglich den propositionalen Inhalt der Originaläußerung wiederzugeben. Die erlebte Rede enthält ebenfalls transponierte Personenformen, behält aber expressive Elemente, ist mimetisch, also nur „scheinbar indirekt". Zu zwei gegensätzlichen Auffassungen der erlebten Rede vgl. auch Strauch (1974).

14

beiden kanonischen Wiedergabeformen direkte Rede und indirekter Rede aufgefasst. Die Definition erfolgt durch Auflistung von grammatischen Merkmalen, die die erlebte Rede jeweils mit den beiden anderen Formen teilt.4 Im Folgenden seien die viel zitierte Definition von Tobler (1887) sowie zwei neuere Definitionen angeführt: [...] eigentümliche Mischung indirekter und direkter Rede, die von jener das Tempus und die Person des Verbums, von dieser die Wortstellung und den Ton nimmt (Tobler 1887:437) Briefly, what demarcates sentences of free indirect discourse is the presence of features of direct speech (direct questions, exclamations, fragments, repetitions, deictics, emotive and conative words, overstatements, colloquialisms) reported in the fashion of indirect speech, i.e., with thirdperson pronouns and shifted tenses, but normally without the characteristic inquit formulas such as 'X said/thought that..., wondered why...' (Fleishman 1980:227f.) Der freie indirekte Stil ist ein eigenständiger grammatischer Typus, der mit der indirekten Rede das Tempus und die Pronominalformen und mit der direkten Rede die syntaktische Unabhängigkeit - die Unterordnung unter ein verbum dicendi bzw. ein verbum sentiendi fehlt - und das Vorhandensein kolloquialer sowie impulsiver und expressiver Sprachformen gemeinsam hat. (Müller 1984:206)

In dem einflussreichen Aufsatz von Charles Bally (1912) wird das Phänomen als eine syntaktisch selbständige Variante der indirekten Rede angesehen, nämlich „un style indirect libre non conjonctionnel, analogue à celui de l'allemand" (Bally 1912:550).5 Dieser style indirect libre wird im Hinblick auf die spezifischen Tempusformen (imparfait, imparfait du futur) sowie auf die syntaktischen Zwischenstufen zwischen Subordination und völliger Satzautonomie charakterisiert, die in ihm vorkommen können. In Ballys späteren Aufsätzen (Bally 1914, 1930) wird streng zwischen der erlebten Rede als einem „procédé grammatical (plus exactement: grammaticalisé)" (Bally 1930:331) und der sog. „figure de pensée" (d. h. Textteilen die nur durch den Inhalt und Kontext als Wiedergabe fremder Rede gekennzeichnet werden) unterschieden (vgl. Steinberg 1971:72). Zu den prominentesten Vertretern dieser Sichtweise zählt in neuerer Zeit Ann Banfield, die den Versuch unternimmt, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen erlebter, direkter und indirekter Rede im theoretischen Rahmen einer Phrasenstrukturgrammatik zu erfassen (Banfield 1973,1982). Banfield (1982) nimmt zwei syntaktische Kategorien S' {sentence) und E (expression) an, die sich voneinander vor allem in der Rekursivität unterscheiden: Während S' rekursiv und einbettbar ist, ist E per definitionem nicht einbettbar (ebd. 38).

4

5

Adamson (1994b) spricht vom ,,'Bally's paradigm' in which discussion of the form of SIL [style indirect libre] begins from the syntax of subordination and the discussion of its function begins from the representation of speech." (ebd. 193). Die Annahme, dass das Phänomen die formalen und funktionalen Eigenschaften der oratio recta und oratio obliqua miteinander kombiniert, kommt zum Ausdruck in Ballys Terminus style indirect libre. Tobler (1887) hat diesen Weg allerdings noch vor Bally eingeschlagen, indem er das noch namenlose Phänomen als „eine eigentümliche Mischung der direkten und der indirekten Rede" analysierte. Gemeint ist die sog. berichtete Rede (vgl. unten 1.2.2.1 ).

15

In indirekter Rede stellt der redeinleitende Satz mit einem Kommunikations- oder Bewusstseinsverb6 ein E, der wiedergegebene eingebettete Komplementsatz ein S' dar. Bei direkter Rede bilden die Redeeinleitung und das Zitat zwei verschiedene Es. Expressive Konstruktionen wie Wurzeltransformationen,7 verblose Ausrufe, Exklamativsätze, Wiederholungen und Verzögerungen, verblose Sätze, Imperative u. a. können nicht eingebettet werden, sondern müssen unter einem Ε-Knoten generiert werden. Daher sind sie in indirekter Rede verboten (ebd. 41). (1-01) *Lily asked where were her paints. (Banfield 1982:28) ( 1 -02) 'Miss Brill laughed that no wonder, (ebd. 31 ) (1-03) "Laura exclaimed that oh, how extraordinarily nice workmen were. (ebd. 31 ) ( 1 -04) "Egbert protested that but, but - he was almost the unnecessary party, (ebd. 32) (1-05) *Mr Chubb repeated that to excuse him. (ebd. 33)

Lexikalische expressive Elemente (qualitative Nomina - fool, bastard, the idiot of a doctor, evaluative Adjektive - poor, dirty, Verwandtschaftsbezeichnungen - Daddy, Uncle X) können zwar in einer eingebetteten indirekten Rede vorkommen, werden dann aber immer als Ausdruck der Einstellung des wiedergebenden Sprechers (und nicht der des Originalsprechers) interpretiert. ( 1 -06) John said that the idiot of a doctor was a genius, (ebd. 54)

Um das zu erklären, führt Banfield das folgende Prinzip ein: 1E/1I: For every expression (E) there is a unique referent of I (the SPEAKER), to whom all expressive elements are attributed [...] (Banfield 1982:57)

Da eine wiedergebende Äußerung wie (1-06) nur ein E enthält, sind expressive Elemente auf den wiedergebenden Sprecher bezogen. Anders verhält es sich bei der direkten Rede: Das Zitat und die Redeeinleitung stellen zwei verschiedene Es dar. Daher ist ein „shift to [a] new referent for I" möglich (ebd. 58). Sätze der erlebten Rede sind Es und können die meisten der expressiven Konstruktionen enthalten, die in der direkten, nicht aber in der indirekten Rede erlaubt sind. Da jedoch die expressiven Elemente nicht dem wiedergebenden Sprecher (d. h. einem Erzähler), sondern einem in der Erzählung erwähnten Bewusstseinsträger (SELF in Banfields Terminologie) zugeschrieben werden, muss das IE/11-Prinzip auf folgende Weise modifiziert werden.

6

7

Unter Kommunikationsverben (communication verbs) versteht Banfield (1982:23) die verba dicendi der traditionellen Grammatik, deren Subjekt den Sprecher und deren (evtl. fakultatives) indirektes Objekt den Adressaten der wiedergegebenen Äußerung bezeichnet (z. B. say, ask, request, command, declare, confess). Kommunikationsverben können als eine Klasse von Bewusstseinsverben (consciousness verbs) angesehen werden. Andere Klassen bilden Verben des Denkens, Fühlens und Wahrnehmens (z. B. believe, think, realize, be happy) (ebd. 35). Wurzeltransformationen sind Transformationen, die nicht Struktur erhaltend sind und nur innerhalb von Wurzelsätzen (root sentences) applizieren, wobei ein Wurzelsatz S definiert ist als „an S that is not dominated by a node other than S" (Emonds 1976:2; vgl. Gather 1994:316, Anm. 12). Banfield (1982:28-30) gibt Beispiele für die Subjekt-Auxiliar-Inversion, Rechts- und Linksdislokationen, die Voranstellung eines direktionalen Adverbs.

16 a. 1 E/1 SELF: For every node E, there is at most one referent, called the 'subject of consciousness' or SELF, to whom all expressive elements are attributed. That is, all realizations of SELF in an E are coreferential. b. Priority of SPEAKER. If there is an I, I is coreferential with the SELF. In the absence of an I, a third person pronoun may be interpreted as SELF. (Banfield 1982:93)

Im 1E/1SELF-Prinzip gründet Banfields These von der „Erzählerlosigkeit" der erlebten Rede: Der Vorrang des Sprechers macht die Abwesenheit eines Ich zur Vorbedingung für ein Bewusstseinssubjekt in der 3. Person (vgl. ebd. 94). Vor allem wegen dieser kontroversen These zählt Banfield (1984) für Stanzel (2001:153) zu den Monographien, die „die gegenwärtige Diskussion über ER [erlebte Rede - A. S.] beherrschen". Aus linguistischer Sicht stellt der Ansatz von Banfield allerdings eher ein Beispiel für die heute längst überholte generativistische Tendenz zur Syntaktisierung von Phänomenen dar, die eigentlich in den Bereich der Semantik, Pragmatik oder Textlinguistik gehören.

1.1.3 Die Kalepkysche Sichtweise: Erlebte Rede im narrativen Text Unter dem Stichwort „Kalepkysche Sichtweise" möchte ich alle Ansätze zusammenfassen, die in der Definition der erlebten Rede von einem narrativen Text ausgehen. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen hier nicht abstrakte Muster des Sprachsystems, sondern die Wahrnehmbarkeit der erlebten Rede im narrativen Kontext. In der Toblerschen Sichtweise stellt die erlebte Rede einen syntaktischen Rahmen dar, der einige für die direkte Rede typische Ausdrücke „zulässt". Hier hingegen wird mit dem Terminus erlebte Rede auf Textteile referiert, in denen die Perspektive („Stimme", „Point of view" usw.) einer Figur evoziert wird. Anders als ζ. B. bei Bally und Banfield wird der transphrastische, textuelle Charakter des Phänomens betont.8 Als Beispiel sei die Definition von Cohn (1978) zitiert: Narrated monologue [...] may be most succinctly defined as the technique for rendering a character's thought in his own idiom while maintaining the third-person reference and the basic tense of narration. (Cohn 1978:100)

Der Kalepkyschen Sichtweise sind narratologische Ansätze (ζ. Β. Cohn 1978, McHale 1978, 1983, Genette 1994, Hernandi 1972 u. a.), die Theorie der textuellen Polyphonie von Pérennec (1994) sowie Arbeiten aus dem Bereich der Sprachverarbeitungsforschung (Wiehe 1990, Galbraith 1995, Bruder/Wiebe 1995) und der formalen Diskurssemantik (Dören 1990, 1991; Palacas 1993) verpflichtet. In seinem auf Tobler (1887) bezogenen Aufsatz charakterisiert Kalepky (1899) die erlebte Rede (er selbst spricht von einer „verschleierten Rede") wie folgt: Sie wird, sofern ihre sprachliche Form allein in Betracht kommt, überhaupt nicht als "Rede" im Sinne der Wiedergabe der Äußerungen anderer Personen gelten können, sondern vielmehr nur als eine eigene Äußerung des Erzählers, Schriftstellers, von der aber der Leser aufgrund des Tenors, des Zusammenhangs oder ausdrücklicher Angaben sofort fühlt, daß sie als Meinungsausdruck jener Personen zu deuten ist. Man wird sie daher ganz wohl als verhüllte [...] Rede [...] bezeichnen 8

Ähnlich charakterisiert Stanzel (19956:247) den Unterschied zwischen der sprachwissenschaftlichen und der literaturwissenschaftlichen Betrachtungsweise. Die Kalepkysche Sichtweise umfasst freilich nicht nur rein literaturwissenschaftliche Ansätze.

17 können, d. h. als etwas was zwar in Wirklichkeit 'Rede' (anderer) ist, sich aber unter der Form, unter der Maske, Vermummung eigener Äußerungen des Erzählers präsentiert, und um richtig verstanden zu werden, erst seiner äußeren trügerischen Hülle entkleidet werden muß. (Kalepky 1899:506f.)

Während Bally (1912) den style indirect libre als ein grammatisches Verfahren betrachtet, scheint Kalepky die Existenz von konstitutiven grammatischen Merkmalen des Phänomens zu leugnen. Die Interpretation einer Textstelle als erlebte Rede erfolgt demnach lediglich aufgrund kontextueller und inhaltlicher Indikatoren. Die erlebte Rede ist, um mit Ballys Worten zu sprechen, kein „procédé grammatical", sondern eine „figure de pensée". Diese extreme Ansicht wurde in Anschluss an Kalepky in der Vossler-Schule (ζ. Β. E. Lerch 1914, 1928; G. Lerch 1922, Lorck 1921) vertreten und hat die spätere Forschung im deutschsprachigen Raum entschieden beeinflusst. Ihre Nachwirkungen können sogar in Grammatiken des Deutschen beobachtet werden (vgl. unten 1.1.4). Die Ansicht Kalepkys, dass in der erlebten Rede „der Autor die Gedanken und Meinungen seiner Personen gleichsam auf eigene Rechnung übernimmt" (Kalepky 1913:614), führte zudem zu der psychologisierenden Auffassung, in der erlebten Rede komme es zur Identifikation des Erzählers mit seiner Figur. So wird die erlebte Rede ζ. B. in Hoffmeister (1965), (unter Berufung auf Bally, aber in völligem Widerspruch zu dessen Erörterungen in Bally 1914), folgendermaßen charakterisiert: Die erlebte Rede wird mit Bally als 'figure de pensée' aufgefaßt, deren formalgrammatische Kennzeichen die des Berichts sind, deren subjektive, expressive und emotionale Qualitäten in der spezifischen Erzählhaltung, der Identifizierung des Erzählers mit seiner Figur, begründet sind. Die besonderen sprachlichen Merkmale der erlebten Rede sind solche des „stilistischen Überbaus", welcher der Berichtform aufsitzt. (Hoffmeister 1965 (im Klappentext); zit. nach Steinberg 1971:78)

Steinberg (1971:83) unterscheidet hingegen die erlebte Rede von der „Erzählerrede" aufgrund von sog. „kritischen Formen". Es handelt sich dabei um grammatische „Formen, die der Erzähler im Bericht (oder im Kommentar) mit Erzähltempora gar nicht, nur ausnahmsweise oder nur selten verwendet" (ebd.). Zu den „kritischen Formen" der erlebten Rede zählen nach Steinberg transponierte Futurformen (wönfe+Infinitiv im Deutschen, wouW+Infinitiv im Englischen, die mit dem Konditional homomorphe Formen des futur du passé im Französischen). Auch die Kookkurrenz von Vergangenheitstempora und posterioren bzw. anterioren kalendarischen Temporaldeiktika (morgen/domain/tomorrow; gestern/hier/yesterday) sei, so Steinberg (1971:242), „weitgehend auf Rededarstellungen, vor allem E.R. [Erlebte Rede], und auf verwandte personale Erzählsituationen beschränkt und kann so ein Signal gegenüber dem auktorialen Bericht bilden." Über die grammatischen Merkmale hinaus werden in narratologischen Arbeiten oft mehrere weitere Phänomene aufgelistet, die die Interpretation einer Textstelle als erlebte Rede auslösen bzw. begünstigen können (vgl. z. B. McHale 1978:264-273, Hagenaar 1992). Neben den oben unter 0.1.3.7 erwähnten Indikatoren der Subjektivität wird zum Beispiel auf umgangssprachliche sowie dia-, sozio- oder idiolektale Eigentümlichkeiten hingewiesen, die einen Code-switching-Eïïe\A zwischen dem erzählenden und dem wiedergebenden Textteil hervorrufen können. Die bisher ausführlichste und präziseste Beschreibung von sprachlichen Indikatoren der erlebten Rede enthält Wiebe (1990), eine computerlinguistische Arbeit zur Verarbeitung

18 von narrativen Texten. 9 Die potenziellen Indikatoren werden dort in vier Gruppen unterteilt. Die Elemente einer Gruppe haben das gleiche Subjektivitätspotenzial, d. h. ihre jeweilige textuelle Umgebung muss die gleichen Bedingungen erfüllen, damit sie tatsächlich als Indikatoren fungieren (vgl. unten 1.3). Inhaltliche Faktoren (ζ. B. logische Inkohärenz bzw. Kontradiktion zwischen dem erzählenden und dem wiedergegebenen Teil) blieben als Indikatoren der erlebten Rede lange Zeit von der Forschung unbeachtet. Erst seit Anfang der neunziger Jahre gibt es theoretische Ansätze (die Theorie der sprachlichen Welten von Palacas 1993, propositionale Netzwerke in Wiebe 1990, den situationssemantischen Ansatz von Doron 1990, 1991), in denen sie adäquat beschrieben werden können. In zahlreichen, nicht nur narratologischen Arbeiten wird die „Zweistimmigkeit" (seit Pascal 1977 spricht man gemeinhin v o m Dual- Fo/ce-Charakter), d. h. die Vermengung der „Stimme" des Erzählers mit der „Stimme" der Figur, als ein konstitutives Merkmal der erlebten Rede angesehen. Als Beispiele seien die folgenden Zitate aus zwei neueren Aufsätzen angeführt: das wesentliche strukturelle Element der E.R., der wahrnehmbare Wechsel zwischen Erzählerbericht und Figurenrede, oder genauer, die wahrnehmbare Überlagerung der Figurenrede durch die Erzählerrede. Das gilt analog filr die Gedankenwiedergabe. Für mich ist und bleibt dies der literarisch signifikanteste Aspekt der E.R.: ihr "Dual Voice"Charakter, um den von Roy Pascal geprägten Begriff aufzunehmen, die ganz einzigartige, äußerst variable Spannung zwischen Erzählerrede und Figurenrede bzw. Erzählergedanken und Figurengedanken. (Stanzel 1994:18) Free indirect discourse does appear in both [i. e. in oral and literary language], fundamentally constituted as well in both by a dialogic mixture of the character's discourse [...] and the narrator's discourse such that the mixture is perceived as reportative repetition. (Hardy 1996:102) Als eine präzise Ausformulierung der Dual-Voice-Position versteht Doron (1991) ihre Definition der erlebten Rede in Termini der Situationssematik: φ is interpreted as FID [free indirect discourse] iff it is interpreted such that p*d [...] the narrator voice "emanates" from d [discourse situation], and the character's voice from ρ [point of view]." (Doron 1991:58,60; vgl. unten 2.2.2) Die „Stimmen-Metapher" wird in Pascal (1977) auf folgende Weise erörtert: But SIL [style indirect libre] always embodies a narratorial element, clearly proclaimed in the first place through the verbal tense and the pronominal forms. The narratorial presence is communicated in three main ways: through the vocabulary and the idiom; through the composition of the sentences and longer passages and through the context [...] It is pre-eminently for these reasons that we hear in 'style indirect libre' a dual voice, which, through vocabulary, sentence structure, and intonation subtly fuses two voices of the character and the narrator. (Pascal 1977:25f.)

9

Das Thema von Wiebe ( 1990) ist das Erkennen subjektiver Sätze in Er-Erzählungen ohne einen als Figur in der dargestellten Welt fungierenden Erzähler. Subjektive Sätze werden als Sätze definiert, die den psychologischen Standpunkt einer Figur repräsentieren. Represented thought, d. h. Gedankenwiedergabe in Form der erlebten Rede, ist einer der von Wiebe berücksichtigten Typen der subjektiven Sätze.

19 Der Dual-Voice-These steht die Auffassung von der „Erzählerlosigkeit" erlebter Rede gegenüber, die vor allem von Banfîeld (1982) vertreten wurde. Als Versuch einer Integration der beiden Sichtweisen können m. E. Ansätze verstanden werden, in denen die erlebte Rede zwar als eine Zwischenform der Redewiedergabe behandelt wird, die Beschreibung aber über die syntaktisch-grammatische Ebene hinausgeht. Die grammatischen Merkmale erhalten eine semantische bzw. pragmatische Interpretation. Zu solchen Ansätzen gehören das Modell der Verschiebung pragmatischer Eigenschaften von von Roncador (1988) und die Theorie der Äußerungsinstanzen von Gather (1994). Sie werden in Kapitel 2 referiert.

1.1.4 Erlebte Rede in Grammatiken Der Unterschied zwischen der grammatisch-syntaktischen Beschreibungstradition von Bally einerseits und der stilistisch-psychologischen von Kalepky und der Vossler-Schule andererseits wird beim Vergleich von Grammatiken des Französischen und des Deutschen sichtbar (vgl. Gehnen 1992). Grammatiken des Französischen besprechen den discours indirect libre meistens in einem der Syntax von komplexen Sätzen gewidmeten Kapitel (so z. B. Chevalier et al. 1964:122) bzw. in einem gesonderten Unterkapitel über die Formen der Redewiedergabe (z. B. Grevisse 198612:685, Wagner/Pinchon 1962:36-8). Oft wird das Phänomen, ganz im Sinne von Bally (1912), als ein vom Subjunktor que befreiter discours indirect aufgefasst, fìlr den jedoch dieselben Regeln der Transposition von Personalpronomina und der Tempuskonkordanz gelten wie für den discours indirect lié (vgl. Grevisse 1986 12 :679-81, 685). Auch Weinrich (1982) teilt die indirekte Rede in „gebundene" und „freie" auf, wobei er allerdings feststellt, „daß die freie indirekte Rede strukturell zwischen der gebundenen indirekten Rede und der direkten Rede steht". Mit der gebundenen indirekten Rede hat die freie indirekte Rede gemeinsam, daß die zitierte Meinung nicht wörtlich wiedergegeben wird. Sie wird, wie jene in den Gesprächsrollen und im Tempus-Register an die Zitatquelle angepaßt. Hier gelten die Anpassungsregeln der gebundenen indirekten Rede [...] auch für die freie indirekte Rede. Mit der direkten Rede hat die freie indirekte Rede die syntaktische Unabhängigkeit gemeinsam, d. h. sie bildet für gewöhnlich nicht mit der Zitatquelle zusammen eine Junktion. Aus der direkten Rede übernimmt sie ferner häufig verschiedene syntaktische und semantische Signale der Direktheit und Spontaneität, die als zusätzliche Zitiersignale dienen. (Weinrich 1982:801)

Auch in anderen Grammatiken des Französischen wird der discours indirect libre, als eine „case intermédiaire" (Chevalier et al. 1964:122) zwischen der direkten und der indirekten Rede betrachtet. Oft werden ausführliche Listen der jeweils gemeinsamen Merkmale präsentiert (vgl. Haas/Tanc 19872:216, Wagner/Pinchon 1962:36-8, Togeby 1982:321f.). In deutschen Grammatikbüchern findet die erlebte Rede relativ wenig Beachtung. Von elf von Gehnen (1992) durchgesehenen Grammatiken des Deutschen ließen sechs die erlebte Rede völlig außer Acht.· 0

10

Es handelt sich um Schulz/Griesebach (1970 8 ), Eichler/Bünting (1978 2 ), Engel (1982 2 ), Erben (1984) und Heidolph/Flämig/Motsch et al. (1984 2 ). Das Gleiche gilt für Eisenberg (1994 3 ). In Ei-

20 Wird die erlebte Rede behandelt, so geschieht das meistens nicht im Zusammenhang mit anderen Arten der Redewiedergabe, sondern in einem dem Verb gewidmeten Kapitel und zwar unter Bezug auf das Tempus Präteritum. Es wird auf die erlebte Rede als einen der Kontexte hingewiesen, in denen die Vergangenheitsbedeutung des Präteritums neutralisiert wird (vgl. Engel 1988:417, Erben 198012:93). Das Präteritum fungiert „als Stilmittel, [...] um gegenwärtige Sachverhalte zu kennzeichnen" (Helbig/Buscha 19725:127, 19981S:149). Es sei „zum mindesten im präteritalen Kontext (der die Regel ist)", „nicht gegen andere Verbformen austauschbar" (Engel ebd.). Unverkennbar ist hier der Einfluss der Theorie des epischen Präteritums von Hamburger (1953 u. ö.; vgl. unten 4.2.9). In Erben (1980l2:93) werden Hamburger (1953) und Stanzel (1959) sogar explizit zitiert. Einige der Definitionen der erlebten Rede seien hier exemplarisch angeführt: Wiedergabe des unformulierten Bewußtseinsstroms (einer Romangestalt) in der dritten Person (Hamburger 1953:346; zit. in Erben 1980 12 :93) Unter erlebter Rede versteht man Wiedergabe früherer Reden oder Gedanken eines Dritten, wobei die Perspektive des Autors (d. h. des jetzt und hier Redenden oder Schreibenden) und die des besagten Dritten miteinander verschmelzen. Dieser Dritte wird immer in der 3. Person genannt. (Engel 1988:417) In der erlebten Rede werden innere Vorgänge einer Person (Selbstgespräche, Gedankengänge u. a.) in der Perspektive der handelnden Person wiedergegeben. Die erlebte Rede hat die Hauptsatzform, die Perspektive der handelnden Person und in der Regel den Indikativ (wie die direkte Rede), aber die dritte Person (wie die indirekte Rede). (Helbig/Buscha 1972 5 :127)

In jeder der Definitionen wird die Verwendung der erlebten Rede inkorrekterweise eingeschränkt: bei Engel auf die 3. Person, bei Heibig und Buscha auf die Gedankenwiedergabe,11 bei Erben auf beides. In Duden (19844) wird die erlebte Rede in einem „Zusatz: Erlebte Rede und Innerer Monolog" abgehandelt, der, innerhalb eines Kapitels über den Konjunktiv, auf die Beschreibung der „Umwandlung der direkten Rede in die indirekte Rede" folgt. In Duden (19986) ist die Beschreibung in das Kapitel „Der zusammengesetzte Satz" verlegt. Die erlebte Rede wird explizit als eine Form der Wiedergabe neben der direkten und der indirekten Rede aufgefasst, zugleich aber auf „unausgesprochene Gedanken und Empfindungen des Protagonisten" eingeschränkt. Sie wird ferner als eine von der direkten Rede mittels „Transformationen" abgeleitete Form charakterisiert.12

11

12

senberg (1999 4 :23) wird die erlebte Rede im Zusammenhang mit der würde-Konstruktion kurz erwähnt. Helbig/Buscha (1998 l e :149) differenzieren „zwischen erlebter Rede (tatsächlich Gesprochenes) und erlebter Reflexion (nur Gedachtes)". Die oben zitierte Charakteristik wird beibehalten und auf beide Formen bezogen. Nach der in der Forschung gängigen Auffassung handelt es sich beim inneren Monolog um eine direkte Wiedergabe „der stummen, den Innenraum des Bewußtseins einer Person nicht transzendierenden Gedanken- oder Gefühlsprozessen" (Borchmeyer/ZmegaC 1994 2 :208) innerhalb (literarischer) Erzähltexte, bei der weder Personen noch Tempora transponiert werden. Die vermittelnde Instanz des Erzählers scheint dabei völlig eliminiert zu sein (vgl. ebd.). Die Definition des indirekten Monologs im Duden (1984 4 :173f., 1998 s :786) weicht von dieser Auffassung erheblich ab und wurde deshalb von Suzuki (1988) zu Recht kritisiert.

21 Die Pronomen und Tempora werden gemäß der Perspektive des Erzählers transformiert: Die 1. Pers. wird in die 3. Pers. umgewandelt, Präsens und Perfekt in Präteritum bzw. Plusquamperfekt, Präsens und Futur I mit Zukunfìsbezug werden vorzugsweise durch die würde-Form wiedergegeben. Sonst wird der Modus nicht transformiert, d. h. der Indikativ und Konjunktiv werden beibehalten. Ebenso werden räum- und zeitbezügliche Angaben nicht umgeformt. (Duden 19844:173, 19986:786)

Die „transformationeile" Beschreibungsweise stellt eine Neuerung gegenüber einer früheren Auflage dar (vgl. Duden 19733:114) und ist vermutlich auf Steinberg (1971:4f.) zurückzuführen, der allerdings von „Transpositionen" spricht. Dass sich die erlebte Rede nicht als ein Derivat einer direkten Rede im Sinne der generativen Transformationsgrammatik analysieren lässt, hat bereits Banfield (1973,1982) gezeigt. Auch in Zifonun et al. (1997) wird erlebte Rede im Verbmoduskapitel in Anschluss an den Referatskonjunktiv abgehandelt. Sie diene der Wiedergabe dessen, „was einer Person, dem Reflektierenden, durch den Kopf geht. Dies können auch eigene oder fremde Gesprächsbeiträge sein - gefiltert durch das Bewußtsein des Reflektierenden" (ebd. 1775). Im Allgemeinen wird erlebte Rede charakterisiert als eine Mischform oder hybride Form zwischen Behauptung (aus der Autorenperspektive = Autorenrede) und Gedankenwiedergabe (aus der Perspektive der Person, über die erzählt wird). (Zifonun et al. 1997:1775)

Dementsprechend werden sprachliche Mittel jeweils dem Autor bzw. dem „Reflektierenden" als ihrer Bezugsinstanz zugeschrieben. In erlebter Rede/erlebtem Denken wird die Personen- und Tempusmarkierung aus der Autorenperspektive festgelegt. Zeitadverbialia hingegen ebenso wie andere Kontextadverbialia werden aus der Perspektive des Reflektierenden festgelegt. Fragen sowie nicht-fmite Äußerungen können in erlebter Rede/erlebtem Denken erhalten bleiben. Befehle werden in der Regel beschrieben. Ausgedrückte Wertungen und Einstellungen (Abtönungspartikeln) sind in der Regel dem Reflektierenden zuzuschreiben. Da die erlebte Rede primär dazu eingesetzt wird, um Reflexionen, aber auch Empfindungen, Wahrnehmungen und Emotionen wiederzugeben, finden sich in erlebtem Denken häufig expressive Ausdrucksmittel sowie Diskursphänomene wie Anakoluthe oder Wiederholungen. (ebd. 1776)

Die einzigen mir bekannten Grammatiken des Deutschen, die die erlebte Rede zusammen mit der direkten und der indirekten Rede in einem gesonderten Kapitel zur Redewiedergabe behandeln, sind Jung (19848) und Weinrich (1993). In Jung (1984®) werden die grammatischen Merkmale der erlebten Rede vor allem mit denen des umgebenden Erzählertextes verglichen: [Es] werden weitgehend die grammatischen Merkmale des die erlebte Rede umgebenden Kontexts beibehalten, also meist 3. Person, Indikativ, Präteritum oder historisches Präsens. (Jung 1984': 128)

Die erlebte Rede wird zudem eher stilistisch-funktional als „ein Stilmittel" definiert, „in dem sich der Autor mit der Person oder der Gruppe von Personen [identifiziert], deren Rede oder Gedanken er anführt" (ebd.). Weinrich (1993) charakterisiert die erlebte Rede durch das Fehlen einer Wiedergabekennzeichnung und die formale Gleichheit mit dem umgebenden Erzählertext. Dadurch wird sie, als eine freie nicht direkte Wiedergabe, den anderen Wiedergabeformen gegenübergestellt und gleichzeitig in ihren textuellen Eigenschaften adäquat beschrieben.

22

Das ist eine Form der indirekten Rede, die auf die Signalwirkung von Inhalts-Junktoren und konjunktivischen Verbformen verzichtet. Es wird statt dessen, formal betrachtet, die gleiche Sprache gesprochen wie im Bericht des Erzählers. Das unterscheidet die erlebte Rede als Form der indirekten Rede deutlich vom inneren Monolog als einer Form der direkten Rede. Im Unterschied zum inneren Monolog ist die erlebte Rede vom Erzählerbericht nur durch feine Abgrenzungssignale getrennt. Lediglich aus den gelegentlichen (oft mit makrosyntaktischem Skopus) auftretenden Referenzsignalen und einigen anderen auffälligen Signalen der Authentizität und Spontaneität kann man nämlich entnehmen, daß nun nicht mehr der Erzähler spricht, sondern die Gedanken oder Gefühle einer erzählten Person >erlebt< werden. (Weinrich 1993:909) Trotz der etwas unklaren Anspielung auf den deutschen Terminus erlebte Rede ist es die beste von allen hier besprochenen Definitionen der erlebten Rede in den Grammatiken des Deutschen. In Grammatiken des Polnischen wird die erlebte Rede (mowa pozornie zalezna) nicht behandelt, auch nicht in denjenigen, die der direkten und der indirekten Rede einige Seiten widmen und literarische Beispiele anführen (vgl. ζ. B. B^k 19934:465f.). Auch in Engel et al. (1999:99-115), wo direkte und indirekte Redewiedergabe als „Textschichtung" ausführlich beschrieben werden, wird die erlebte Rede nicht erwähnt. In der wissenschaftlichen Grammatik von Grochowski/ Karolak/ Topolinska (1984) wird im Zusammenhang mit der Parenthese kurz auf die Redeerwähnung (przytoczenie) als ein noch zu erforschendes Gebiet der Textgrammatik hingewiesen (vgl. ebd. 247). Im Syntaxband einer älteren Ausgabe der Grammatik des Russischen Akademija (1960) wird die erlebte Rede (nesobstvenno pr 'amaja re¿) relativ ausführlich im Zusammenhang mit den beiden anderen kanonischen Formen der Redewiedergabe beschrieben. Es werden Merkmale genannt, die sie jeweils mit der direkten und der indirekten Rede teilt (das Beibehalten von lexikalischen, prosodischen und syntaktischen Eigenschaften der Originaläußerung; die Transposition von Personalpronomina und Verbpersonen). Da die Verbtempora in der Regel nicht transponiert werden, sei eine Verschiebung im Text zwischen dem Präteritum der Erzählerrede und dem Präsens der Wiedergabe typisch. Dennoch wird die erlebte Rede eher als eine Erzählerrede aufgefasst, in der der Autor die Äußerungen oder Gedanken seiner Figur nicht einfach wiedergibt, sondern an ihrer Stelle äußert bzw. denkt (vgl. ebd. 428-432).

1.2 Erlebte Rede im Spektrum der Redewiedergabeformen

1.2.1 Syntaktische Autonomie 1.2.1.1 Syntaktische Autonomie als ein konstitutives Merkmal der erlebten Rede Die syntaktische Autonomie wird in fast allen Untersuchungen zur erlebten Rede als ihr konstitutives Merkmal betrachtet (vgl. z. B. Bally 1912:554, Strauch 1984 und Banfield 1982:71). Unter der syntaktischen Autonomie versteht man das Fehlen der Subordination unter einen redeeinleitenden Satz. Die Subordination liegt im Deutschen vor, so die traditionelle Betrachtungsweise (vgl. Breslauer 1996:80), wenn der wiedergegebene Teil mindestens

23 eines der folgenden „formalen Kennzeichen" aufweist, und/oder der redeeinleitende Satz eine syntaktische Ergänzung fordert: (i) Subjunktor (dass, ob, wie) (ii) Nebensatzform (Verbendstellung) (iii) Konjunktiv.13 Daraus folgt, dass die erlebte Rede nicht die obligatorische Ergänzung eines transitiven redeeinleitenden Ausdrucks darstellen darf. Deshalb muss der wiedergegebene Satz in (1-07) als erlebte Rede,14 derjenige in (1-08) jedoch als („gelockerte") indirekte Rede betrachtet werden (vgl. Steinberg 1971:92).15 (1-07) Esch stutzte: also der Bertrand war in Amerika! War ihm zuvorgekommen, war früher drüben in der leuchtenden Freiheit. (Broch, Die Schlafwandler, zit. in Steinberg 1971:89) (1-08) K. erkannte: hier, wenn irgendwo, war der Durchbruch möglich. (Kafka, Der Prozeß; zit. in Steinberg 1971:92) Dieses mit Bezug auf das Französische formulierte Kriterium (vgl. Bally 1912:553, Lips 1926:52) wird, wie Steinberg (1971:90) zeigt, problematisch im Falle von deutschen redeeinleitenden Verben, bei denen eine Ergänzung fakultativ ist (ζ. B. schreien). Breslauer (1996:164) entscheidet sich dafür, auch in diesem Fall von erlebter Rede zu sprechen. Demgegenüber scheint Banfield (1982:71) anzunehmen, dass auf jede Redeeinleitung, die eine Ergänzung verlangt oder zulässt, sowohl eine indirekte als auch eine erlebte Rede folgen kann. Der Unterschied zwischen der Einbettung und der Nicht-Einbettung manifestiere sich nur in der Intonation. Steinberg (1971:92) hält das intonatorische Kriterium für unzuverlässig. In Bezug auf die hier behandelten schriftlichen Texte ist es natürlich irrelevant. Das Polnische besitzt nicht die Möglichkeit, die Subordination des Nebensatzes durch die Wortstellung zu kennzeichnen: Die Position des finiten Verbs ist im Nebensatz die 13

14

15

In neueren Arbeiten wird eher davon ausgegangen, „daß der Konjunktiv den semantischen Bezug der Proposition aufs Prädikat, nicht den syntaktischen Bezug des sie ausdrückenden Satzes signalisiert." (Reis 1997:125). Vgl. auch 1.2.2 unten. Breslauer (1996:163-166) spricht in Fällen, in denen vor dem Doppelpunkt ein redekennzeichnender Ausdruck steht, der keine syntaktische Ergänzung fordert, von „erlebter Rede mit Eröffnungssatz". Generell ist wohl Górny (1966:298) zuzustimmen, der ein analoges polnisches Beispiel mit einem transitiven Verb als „indirekte Wiedergabe mit merkwürdiger Interpunktion" bezeichnet. In der Tat ist der Doppelpunkt zur Trennung von Redeeinleitung und wiedergegebener Rede eher für die direkte Rede typisch. Dadurch unterscheidet sich die erlebte Rede nach Steinberg (1971) und Breslauer (1996:56) auch von der eingeleiteten direkten Rede. In einer wiedergebenden Äußerung wie etwa: K. erkannte: „Hier, wenn irgendwo, ist der Durchbruch möglich " sei die direkte Rede dem transitiven Verb der Redeeinleitung subordiniert und somit in den redeeinleitenden Satz eingebettet. Bei dieser Betrachtungsweise kann aber nicht erklärt werden, warum der eingebettete Satz trotzdem alle Hauptsatzphänomene zulässt (vgl. auch von Roncador 1988:37-44). Nach Banfield (1982) ist die direkte Rede nicht eingebettet, sondern mit einem anaphorischen Objekt in der Redeeinleitung koreferent, das in der Oberflächenstruktur getilgt ist. Die obige wiedergebende Äußerung wäre demnach auf folgende Weise zu paraphrasieren: Hier, wenn irgendwo, ist der Durchbruch möglich. Das erkannte K. Der Status direkter Rede als eines Phänomens an der Grenze zwischen Satz und Text wurde in der polnischen Linguistik im Anschluss an die Arbeit von Górny (1966) diskutiert (vgl. Brajerski 1966).

24 gleiche wie im selbstständigen Satz. Der Subjunktor (ze 'dass', czy ' o b \ j a k 'wie') stellt das einzige Kennzeichen der Subordination dar und ist obligatorisch, unabhängig von der Valenz des redeeinleitenden Ausdrucks. Im folgenden Abschnitt wird die indirekte Rede unter syntaktischen Gesichtspunkten kurz vorgestellt. Anschließend (Abschnitt 1.2.1.3) werden Fälle besprochen, die im Hinblick auf das Merkmal der syntaktischen Autonomie problematisch sind.

1.2.1.2 Zur Syntax und Semantik indirekter Rede Bei indirekter Rede handelt es sich in den meisten Fällen um Satzkomplexe, deren Nebensätze als Komplementsätze (d. h. Argumente von Prädikatsausdrucken) fungieren (vgl. Zifonun et al. 1997:1449, 2253). 16 Eine differenziertere Bestimmung kann m. E. in Anlehnung an die Prototypentheorie (vgl. Kleiber 1991) erfolgen, d. h. ausgehend von der Annahme, dass es einen „harten Kern" der Kategorie sowie Konstruktionen gibt, die weniger prototypische Vertreter sind. Zum „harten Kern" gehören vor allem Satzkomplexe mit einem Verb des Sagens im Hauptsatz und einem durch den Subjunktor dass bzw. ob eingeleiteten Objektsatz (im Deutschen handelt es sich meistens um Akkusativ- oder Präpositivkomplemente). Es sind auch subjunktorlose Verbzweitsätze möglich.17 Bei dem subjunktiven Element kann es sich ferner um ein W-Element handeln (das einen sog. propositionsfundierten W-Nebensatz einleitet18); dies ist eine etwas weniger prototypische Variante indirekter Rede. (1-09)

16

17

18

Dort wies er zum Erstaunen der Versammelten seinen Gesellenbrief vor, machte seinen Mund auf und erzählte in ein wenig kollernden Worten [...], daß er auf seiner Wanderschaft von Räubern überfallen, verschleppt und sieben Jahre lang in einer Höhle gefangengehalten worden sei. (Süskind 1985:176)

Komplementsätze stellen eine Unterklasse der Gliedsätze dar. Nach Reis (1997:126) besetzen Gliedsätze je bestimmte phrasale Positionen der Projektion des Kopfes des Hauptsatzes und „tragen bestimmte Relationen zu ihm (Adjunktsätze zur Ereignisvariable des Kopfes, Komplementsätze zu seinem Thetaraster)". Der Hauptsatz kann auch ein Korrelat (z. B. es) enthalten; in diesem Fall ist der Komplementsatz syntaktisch weniger stark integriert, da der Hauptsatz auch ohne ihn ein grammatisch vollständiger Satz bleibt (Ich bezweifle es, daß du morgen kommst. -> Ich bezweifle es.; Zifonun et al. 1997:2251). Der syntaktische Status dieser Sätze ist umstritten: Einige Autoren betrachten sie als Komplementsätze, andere - so z. B. Engel et al. (1999:382) - als (abhängige) Hauptsätze. Zu einem kleinen Überblick vgl. Reis (1997:121, Anm. 1), s. auch 1.2.1.3.3 unten. Propositionsfundierte Nebensätze (indirekte Fragesätze; vgl. Ich weiß nicht, was sie gesagt hat.) werden essenziell (d. h. nicht referenziell) gebraucht, was der Wahrheitsunbestimmtheit der ausgedrückten Proposition entspricht. Sie liefern „Angaben über einen Suchbereich [...], der bei der anstehenden Evaluation der noch wahrheitsunbestimmten Proposition - also z. B. bei der Beantwortung einer Frage, der Herbeiführung einer Entscheidung, der Klärung eines Sachverhaltes abzuarbeiten und mit den entsprechenden Werten zu versehen ist." (Zifonun et al. 1997:2266). Demgegenüber werden die sog. gegenstandsfùndierten W-Sätze (freie Relativsätze; vgl. Was sie gesagt hat, ist bezeichnend.) meistens referenziell gebraucht (vgl. auch Zifonun et al. 1997:22642275, Engel et al. 1999:382-384).

25 (1-10) Manche sagten, er sei gar kein richtiger Mensch, sondern eine Mischung aus einem Menschen und einem Bären, eine Art Waldwesen. (Süskind 1985:176) Als weniger prototypisch sind auch Satzgefüge mit Verben des Denkens im Hauptsatz anzusehen. (1-11) Er selbst aber fand. daD er stinke, ganz widerwärtig stinke. (Süskind 1985:194) (1-12) Er glaubte, mit Hilfe des Alambics könne er diesen Stoffen ihren charakteristischen Duft entreißen, wie das bei Thymian, bei Lavendel und beim Kümmelsamen möglich war. (Süskind 1985:129) (1-13) Er wollte wissen, was da dahintersteckte. (Süskind 1985:95) Verben wie denken, meinen, vermuten, glauben, hoffen, fürchten, träumen, sich einbilden, sich vorstellen, für (unwahrscheinlich halten charakterisieren - so Zifonun et al. (1997:1465) - eine „(kognitive oder evaluative) Einstellung von Personen zu Sachverhalten in nicht-faktisch fundierter Sehweise". Damit ist gemeint, dass die als ihr Argument fungierende Proposition einen Sachverhalt denotiert, der zunächst nur in Welten existiert, die damit vereinbar sind, was ein Bewusstseinsträger denkt, meint, hofft etc. Dagegen sind Verben wie ahnen, fühlen, merken, empfinden, entdecken, erfahren, erkennen, feststellen, (darüber) nachdenken, überlegen „faktisch fundierend", d. h. sie lokalisieren das Denotat ihrer Argumentproposition in der sog. „realen Welt" (womit allerdings noch nichts über dessen Wahrheitswert oder gar Wahrheitsbestimmtheit ausgesagt ist) (vgl. Zifonun et al. 1997:1465, 2257; Reis 1977). Diese ontologisch etwas problematische Unterteilung geht auf syntaktische Unterschiede zurück: Faktisch fundierende Verben des Denkens können mit dass-, ob- und W-Sätzen gebraucht werden, nichtfaktisch fundierende lassen nur Ej & Temp(x)cDIST(Ej)) (Ehrich 1992:113)

Die Ausgangsvariable (Ej) kann dabei, je nach Äußerungskontext, durch ein vorerwähntes Zeitintervall beliebiger Art besetzt werden, oder durch ein Äußerungszeitintervall, das entweder sprachlich oder außersprachlich fixiert ist. Im ersteren Fall liegt eine anaphorische Verwendung vor, im letzteren eine deiktische. Hàndelt es sich bei dem kontextuell festgelegten Wert der Ausgangsvariable um eine im Diskurs vorerwähnte Äußerungszeit i. w. S., so spreche ich von imaginativer bzw. endophorischer Deixis. Endophorisch nenne ich den Gebrauch eines referenzvariablen Ausdrucks, bei dem der Wert von mindestens einer der in seiner lexikalischen Bedeutung enthaltenen Variablen durch den vorangehenden Diskurs festgelegt wird. Werden hingegen die Werte von allen Variablen durch den außersprachlichen (situativen) Kontext der Äußerung (das reale Zeigfeld im Sinne Bühlers) geliefert, so spreche ich vom exophorischen Gebrauch.14 Während die Anaphora eine per definitionem endophorische Gebrauchsweise ist, kann Deixis sowohl endophorisch als auch exophorisch sein (vgl. Tab. 2.1). In der vorliegenden Arbeit gilt mein Interesse vorwiegend der endophorischen Deixis. Tab. 2.1: Exophora und Endophora Endophorisch: mindestens ein Bezugspunkt im sprachlichen Kontext

Exophorisch: Bezugspunkt im außersprachlichen (situativen) Kontext

Anaphora: (evtl. abgeschwächte) Identi- Deixis: 'deiktische Relation' (Nah-/Fern; Auto-/Hetero-, tätsrelation von zwei sprachlichen AusInklusion/Exklusion) zu einer Origo; Default: Sprecher drücken (Referenzidentität, Sinnidenti(-zeit, -ort), Bewusstseinsträger (-zeit, -ort) tät) Anaphora + Deixis am Phantasma: der häufigste Fall in situationsenthobenen Texten mit Bewusstseinsträger Anaphora + Demonstratio ad oculos (= Esophora)

13

14

Deixis am Phantasma II HF (endophorische Deixis): Origo im sprachlichen Kontext Demonstratio ad oculos (exophorische Deixis): Origo im außersprachlichen Kontext

In der Formel (2-14) ist diese Relation in die Richtungskomponente ('Ej zeitlich vorausliegend') und die topologische Komponente ('von Ej weit entfernt') zerlegt, was hier jedoch nicht relevant ist. Die hier eingeführten Termini endophorischer vs. exophorischer Gebrauch sind, soweit ich sehe, extensional deckungsgleich mit endophora und exophora in Halliday/Hassan (1976:32-37). Unter endophora verstehen die Autoren „textual reference (refering to a thing as identified in the surrounding text)", unter exophora - „situational reference (referring to a thing as identified in the context of situation)." Die Endophora wird zusätzlich in Anaphora und Kataphora unterteilt. Auf die endophorische Deixis sowie die Esophora gehen die Autoren nicht ein.

77

2.1.7 Andere Egozentrika Neben den oben behandelten referenzvariablen Bezeichnungen von Personen, Orten und Zeiten gibt es weitere kontextrelative Ausdrücke, die nur mit Bezug auf eine Origo interpretiert werden können. Für alle benutze ich, in Anlehnung an PaduCeva (1996), die allgemeine Bezeichnung Egozentrika. PaduCeva (1996:258) übernimmt von Russell (1940:134) den Terminus egocentric particulars, verwendet ihn aber in einem weiteren Sinne, d. h. nicht nur in Bezug auf Deiktika, sondern auch auf Indikatoren der sog. subjektiven Modalität, d. h. auf Sätze mit expliziter illokutiver Funktion, Modalwörter und Abtönungspartikeln u. a. Sie zitiert Jakobson (1960) als denjenigen, der deiktische und modale Elemente als erster in einer gemeinsamen Kategorie der sog. shifters, d. h. der Ausdrücke, für die der Bezug auf die jeweilige Kommunikationssituation obligatorisch ist, zusammengefasst hatte. Von Roncador (1988:83) nennt Ausdrücke, die sich auf das „emotionale Erlebnis" des Sprechers beziehen, „Expressiva". Fludemik (1991) spricht von der shifter- Verwendung einiger Relationsprädikate wie Verwandtschaftsbezeichnungen [Vater, Oma, Kind) sowie Feind und Haus, wenn sie ohne ein explizites Possessivpronomen - den Vater usw. des jeweiligen Sprechers meinen. Eine davon abgeleitete Verwendung von Verwandtschaftsbezeichnungen liegt vor, wenn man mit Vati den Vater des (jugendlichen) Adressaten meint, wobei eine Art „tuzentrische Deixis" vorliegt. Verwandtschaftsbezeichnungen können auch als Eigennamen innerhalb einer Familie gebraucht werden. In diesem Fall sind sie m. E. den Semideiktika im Sinne von Harweg (1975) zuzurechnen: Im Rahmen ihres „Reviers" (so nennt Harweg eine kontextuell vorgegebene Bezugsgröße) fungieren sie wie absolute Ausdrücke, d. h. sie bezeichnen ihren Referenten définit und ohne Bezugnahme auf irgendeine andere Instanz; das Revier selbst wird jedoch relativ zu einem Bezugspunkt festgelegt. Von diesen referenzvariablen Ausdrücken zu unterscheiden sind kontextvariable (origobezogene) nicht referierende Ausdrücke, wie Interjektionen und Abtönungspartikeln, die jedoch im Folgenden weitgehend außer Betracht gelassen werden.

2.2 Sekundäres subjektives Zentrum

2.2.1 Dekomposition des Sprecherkonzepts 2.2.1.1 Von Roncador (1988) Eine angemessene Beschreibimg der Referenz- und Expressivitätsphänomene in der erlebten Rede erfordert als ihre Grundlage eine Theorie, in der sich die Bühlersche Metapher der Versetzung zur Protagonistenorigo präzise erfassen lässt. In einer solchen Theorie wird davon ausgegangen, dass verschiedene Funktionen, die der Sprecher normalerweise in sich vereinigt, unter Umständen getrennt realisiert werden können. Im Folgenden seien die Konzeptionen von von Roncador (1988) und Gather (1994) dargestellt.

78 Von Roncador (1988) unterscheidet im Hinblick auf den Gebrauch von kontextrelativen Ausdrücken folgende drei Aspekte der Sprecherinstanz. 1. Die Person des Sprechers stellt ein „Bewußtseinszentrum [dar], auf das die subjektive Orientierung in Raum und Zeit sowie die Expressivität der Äußerung zu beziehen ist" (von Roncador 1988:76), also eine Origo für deiktische und sonstige egozentrische Ausdrücke. Von Roncador spricht hier von „Objektbezug". 2. Deiktika sind zeichenreflexiv („token-reflexive") im Sinne von Reichenbach (1947), d. h. ihre Referenten können jeweils über das individuelle Zeichenvorkommen definiert werden. The word Ί ' ... means the same as 'the person who utters this token'; 'now' means the same as 'the time at which this token is uttered'; 'this table' means the same as 'the table pointed to by a gesture accompanying this token'. (Reichenbach 1947:284)

Folglich referiert der Sprecher, indem er das Zeichen ich gebraucht, zeichenreflexiv auf sich selbst. Gleichzeitig identifiziert er sich selbst als Produzenten seiner Äußerung. Dazu ist anzumerken, dass dieser „Zeichenbezug", so die Bezeichnung in von Roncador (1988:76), insbesondere in situationsgebundenen Äußerungen, z. B. in kanonischen Äußerungssituationen zum Tragen kommt. 3. Das Wort ich hat darüber hinaus eine nicht referenzielle, rollentheoretische Interpretation: Es bezeichnet die Sprecherrolle und definiert den aktuellen Sprecher als Partner in einem Kommunikationsereignis, zu dem ferner sein Adressat und eine Mitteilung gehören. Auch dieser Aspekt (von Roncador (ebd.) spricht von „Interpretantenbezug") liegt prototypischerweise in kanonischen Äußerungssituationen vor. Erlebte Rede ist nach von Roncador dadurch gekennzeichnet, dass mit der gesetzten Origo eines Protagonisten nur der Objektbezug, aber kein Zeichenbezug und kein Interpretantenbezug verbunden ist. Relativ zu ihr werden Lokal- und Temporaldeiktika sowie Expressive gebraucht, nicht aber Personaldeiktika: „in erlebter Rede [können] keine neuen Referenten für die erste und zweite Person eingeführt werden" (von Roncador 1988:152). Aus seinen weiteren Ausführungen geht hervor, dass der Zeichenbezug nicht an tatsächliches Vorkommen des Personalpronomens ich gebunden ist. Vielmehr ist er der Meinung, dass für jede Äußerung ein Sprecher anzunehmen ist. „In einem literarischen Werk" ist er bereits „durch den Erzählakt definiert" (von Roncador 1988:169). Sich einer gängigen façon de parier anpassend, nennt er diese Instanz, der das literarische Werk (direkte Reden von Figuren ausgenommen) zuzuschreiben ist, den „Erzähler" (ebd. 143). Für den Objektbezug gilt dagegen, dass er sich über bestimmte sprachliche Mittel (referenzvariable Lokal- und Zeitbestimmungen, expressive Ausdrücke) manifestieren muss. Ein Erzähltext, in dem „dem durch den Erzählakt definierten Zeichenbezug kein Objektbezug entspricht", nennt von Roncador die „unpersönliche Erzählung" (ebd. 169). Enthält ein solcher Text eine erlebte Rede, so treten „zwei verschiedene Instanzen gleichzeitig auf: ein nur durch den Zeichenbezug gegebener Erzähler und ein nur im Objektbezug als Person gegebenes Bewußtseinszentrum" (ebd.). Zum Interpretantenbezug äußert sich von Roncador zu knapp, als dass man erkennen könnte, ob er in narrativen Texten nur dann anzunehmen ist, wenn sie bestimmte Ausdrücke (etwa Anreden an den Leser) enthalten, oder ob generell von einem Kommunikationsmodell der Sprache ausgegangen wird, in dem jeder Äußerung eine kommunikative Absicht und folglich auch die damit verbundenen Sprecher- und Hörerrollen (im fiktionalen Erzähltext etwa ein „impliziter Leser" als kommunikatives Pendant des Erzählers) zuzuschreiben ist. Sicher ist, dass von Roncador die erlebte Rede an sich außerhalb dieses Mo-

79 dells situiert, da in ihr der Protagonist lediglich als Origo und niemals in der kommunikativen Sprecherrolle fungiert. Dort also, wo Äußerungen (ζ. B. Redebeiträge in einem Dialog) in Form erlebter Rede wiedergegeben werden, muss er zu der etwas künstlichen Annahme greifen, dass es sich de facto um Wiedergabe der Wahrnehmung jener Äußerungen durch irgendeinen (evtl. vom Originalsprecher verschiedenen) Protagonisten handelt (vgl. von Roncador 1988:143,147, 156,167f., 169., 230f., 233f., 240f.).

2.2.1.2 Gather (1994) Etwas differenzierter als von Roncador zerlegt Gather (1994:470f.) in Anlehnung an Ducrots Theorie der Polyphonie (Ducrot 1984) das Sprecherkonzept in fünf „Äußerungsinstanzen", die verschiedenen Aspekten der Produktion einer Äußerung entsprechen. 1. Das kognitiv-produktive, pragmatische und realisierende Subjekt organisiert und realisiert die Äußerung in toto, d. h. es ist für die Auswahl der zu kommunizierenden Inhalte, die lautliche oder graphische Produktion sowie für den Vollzug eines spezifischen illokutionären Aktes verantwortlich. 2. Die Sprecherinstanz konstituiert den Äußerungsakt (d. h. sie kontrolliert personaldeiktische Elemente) und legt die illokutionäre Rolle einer Äußerung fest. 3. Der Enunziator kontrolliert expressive sowie lokal- und temporaldeiktische Ausdrücke und ist bis zu einem gewissen Grade ebenso wie die Sprecherinstanz SI für das illokutionäre Potenzial einer Äußerung verantwortlich.15 Unter dem illokutionären Potenzial einer Äußerung versteht Gather (1994:456) die Merkmale einer syntaktisch autonomen Äußerung (z. B. Wortstellung, Verbmodus, Intonation), die sie zum Vollzug eines illokutionären Akts befähigen. 4. Der Gedächtnisträger ist für den propositionalen Gehalt der Äußerung verantwortlich. 5. Der Identifikator ist für die konzeptuelle und sprachliche Identifikation der denotierten Individuen und Sachverhalte verantwortlich, d. h. ihm sind die verwendeten definiten Bezeichnungen zuzuschreiben. In einer einfachen Äußerung ist das Subjekt an jeder Stelle mit allen weiteren Instanzen identifizierbar. Anders verhält es sich in komplexen Äußerungen, z. B. in Redewiedergaben. Hier haben wir es stets mit zwei Äußerungen, der wiedergebenden und der originalen, zu tun.16 Dementsprechend gibt es zwei Sprecher, also auch zwei Mengen von Äußerungsinstanzen. Ein Charakteristikum jeder Redewiedergabe ist, so Gather (1994:472), dass unter den beteiligten Äußerungsinstanzen Elemente von beiden Mengen sind, d. h. einige der den Originalsprecher konstituierenden Instanzen werden auch in der wiedergegebenen Rede beibehalten. Modi der Redewiedergabe unterscheiden sich voneinander im Hinblick darauf, welche Instanzen des Originalsprechers für die wiedergebende Äußerung relevant sind. In direkter 15

16

In Bezug auf den Enunziator merkt Gather (1994:471) allerdings an, dass er, anders als die übrigen Instanzen, „nicht so sehr eine durch eigene, spezielle Eigenschaften markierte Instanz, als eine gegenüber der Sprecherinstanz durch ein 'weniger an Sprechereigenschaften' gekennzeichnete Größe" ist. Die Originaläußerung ist dabei immer in die wiedergebende Äußerung eingebettet. Daher wird sie in einer reduzierten Form realisiert. Häufig stellt sie nur ein anhand der aktuellen (wiedergebenden) Äußerung konzipierbares begriffliches Konstrukt dar (vgl. Gather 1994:472).

80 Rede sind es alle Instanzen außer dem Subjekt (denn selbst die personalreferenziellen Elemente der Originaläußerung bleiben unverändert und ihr illokutionäres Potenzial unangetastet). In indirekter Rede ist es nur der Gedächtnisträger, der für den propositionalen Gehalt verantwortlich zeichnet. Demgegenüber stehen personal-, temporal- und lokaldeiktische sowie expressive Elemente und definite Bezeichnungen unter der Kontrolle des wiedergebenden Sprechers und das illokutionäre Potenzial der Originaläußerung ist infolge der Subordination beseitigt (vgl. Gather 1994:475). Die Besonderheit der erlebten Rede besteht darin, dass in ihr die Sprecherinstanz (verantwortlich für die Personendeixis) dem wiedergebenden Sprecher gehört, während von den sonstigen Instanzen des Originalsprechers sowohl der Gedächtnisträger (verantwortlich für den propositionalen Gehalt) als auch der Enunziator (verantwortlich für Lokal- und Temporaldeiktika sowie Expressive) und (meistens) der Identifikator (verantwortlich für nominale Referenz) erhalten bleiben. So muss z. B. im folgenden Text der propositionale Gehalt der Äußerung „Buddenbrook"... jetzt sagte er „Buddenbrook"... dem Enunziator Hanno Buddenbrook zugeschrieben werden, dessen panische Befürchtungen sich dann doch nicht bewahrheiten {„Edgar!" sagte Doktor Mantelsack). Als Enunziator ist er auch verantwortlich für die Temporaldeiktika (jetzt, gleich) und als Identifikator für die nominale Referenz (ein Skandal, eine laute schreckliche Katastrophe). Exklamativsätze in erlebter Rede zeigen, dass auch das illokutionäre Potenzial der Originaläußerung teilweise beibehalten werden kann. (2-15)

Nun kreuzte Doktor Mantelsack im Stehen die Beine und blätterte in seinem Notizbuch. Hanno Buddenbrook saß vornübergebeugt und rang unter dem Tisch die Hände. Das B, der Buchstabe Β war an der Reihe! Gleich würde sein Name ertönen und er würde aufstehen und nicht eine Zeile wissen, und es würde einen Skandal geben, eine laute schreckliche Katastrophe, so guter Laune der Ordinarius auch sein mochte... Die Sekunden dehnten sich martervoll. „ Buddenbrook "... jetzt sagte er „ Buddenbrook "... „Edgar!" sagte Doktor Mantelsack, [...] (Mann, Buddenbrooks, 725f.)

Der wiedergebende Sprecher ist im Falle der erlebten Rede der Erzähler des betreffenden Textes. Er ist mit den beiden Instanzen organisierendes Subjekt und Sprecherinstanz zu identifizieren. Als Anzeichen seiner Präsenz gelten Verbtempora sowie (soweit sie vorkommen) Personalpronomina, gelegentlich auch die Wortwahl (vgl. der Ordinarius)17 und die Satzkomposition. Die Funktionen des Enunziators und des Gedächtnisträgers fallen hingegen immer dem im Text eingeführten Protagonisten zu (s. Gather 1994:490f.). Gather (1994) liefert eine begrifflich präzise Typologie der Redewiedergabeformen, vor deren Hintergrund die Koexistenz von Erzähler und Protagonist in erlebter Rede klar erfasst werden kann. Ein zusätzlicher Vorteil gegenüber dem Ansatz von von Roncador (1988: Kap. 4) besteht darin, dass hier in Bezug auf erlebte Reden, die Äußerungen wiedergeben, keine zusätzlichen Annahmen nötig sind (vgl. ebd. 507). Für die Beschreibung der erlebten Rede allein im Hinblick auf die Referenzphänomene im temporalen und lokalen Bereich erweisen sich seine Begriffe jedoch als schwerfällig. Daher wird im Folgenden auf sie ver17

Die in einer erlebten Rede verwendeten deskriptiven Nominalphrasen können der Identifikatorinstanz entweder des Protagonisten oder des Erzählers zugeschrieben werden. Ersteres ist am ehesten in Wiedergaben von Wahrnehmungen, Letzteres in Wiedergaben von Rede der Fall. Fungiert der Protagonist als Identifikator, so können auch seine „falschen", d. h. zu Gegebenheiten der dargestellten Welt in Widerspruch stehenden Überzeugungen ausgedrückt werden (vgl. oben 0.1.3.8).

81 ziehtet. Ferner bin ich, anders als Gather, der Meinung, dass der Tempusgebrauch in deutscher erlebter Rede sowohl die Perspektive des Erzählers, als auch die des Protagonisten (Bewusstseinsträgers) reflektiert (vgl. unten Kap. 4).

2.2.2 Kontextualisierung der Satzbedeutung 2.2.1.1 Satzbedeutung in erlebter Rede Im Ansatz von Doron (1990, 1991) wird das Nebeneinander von Erzähler und Bewusstseinsträger in erlebter Rede im theoretischen Rahmen der Situationssemantik von Barwise/Perry (1983) beschrieben. Grundlegende Entitäten ihrer Theorie sind Situationen. Individuen, Eigenschaften, Relationen und Lokalisierungen (in Raum und Zeit) stellen Konstituenten von Situationen dar. Zu den wichtigsten Klassen von Situationen gehören Zustände, Ereignisse und Ereignistypen (ebd. 49-50).18 Wie Barwise und Perry begreift Doron die Bedeutung [[φ]] eines indikativischen Satzes φ als eine Relation u[[(p]]e zwischen den Äußerungssituationen u und den in φ beschriebenen Situationen e. Bemerkenswert ist hier die explizite Berücksichtigung des Äußerungskontextes. Die kontextuelle Komponente u kann weiter zerlegt werden in die Diskurssituation d und die Funktion c. Die Diskurssituation d enthält einen eindeutig bestimmten Sprecher a¿ und findet in einem raumzeitlichen Gebiet lj statt. Die Funktion c bildet referierende Ausdrücke α in ihre Referenten c(a) ab. Die Interpretation einer Äußerung, d. h. die beschriebene Situation e, ergibt sich also aus dem sprachlichen Ausdruck φ selbst, der Diskurssituation d und der Referenzfunktion c. In einer an Berwise/Perry (1983) angelehnten Schreibweise: (2-16)

d,c[[derived< by applying a set of informal >transformations< to the DD [direct discourse] version [...]. Just as ID may be described in terms of its >derivation< from DD, so FID [free indirect discourse] may be described in terms of a set of "transformations" applied to the ID version.

Bauer (1996:79) beseitigt mögliche Missverständnisse, indem sie explizit erklärt: I am using direct speech here as a point of reference; this does not imply that indirect speech goes back to underlying direct speech.

Es gibt allerdings auch eine Reihe von Arbeiten der generativen Transformationsgrammatik, die die indirekte (oder erlebte) Rede als ein Derivat der direkten Rede ansehen.35 Dagegen lassen sich einige prinzipielle Argumente vorbringen (vgl. Gather 1994:247-255).

32

33

34

35

An einer anderen Stelle unterscheidet Steinberg (1971) explizit zwischen „originaler" und „zitierender direkter Rede" (S. 357). Vgl. auch kritische Anmerkungen von Gallagher (1970:81, 87f.), Fludernik (1993:74), Gather (1994:242). In Grammatiken des Französischen ist oft Ähnliches zu finden, man vergleiche z. B. „transformation du discours direct en discours indirect" (Grevisse 1986:679, 408), „transposition" (Chevalier 1964:122), „Umsetzung" (Haas/Tanc 1987:214). Diese Darstellungskonvention hat natürlich eine lange Tradition. Bolkenstein (1996) referiert „the general rule for converting direct speech (oratio recta) into indirect speech (oratio obliqua) in classical Latin, as described in standard grammars". In der letzten Zeit nimmt man aber selbst in Grammatiken zunehmend Abstand von der Konvention. So ist in Helbig/Buscha (1998 18 ) an der entsprechenden Stelle nicht mehr von der „Verwandlung" die Rede, sondern es heißt: „Gegenüber der direkten Rede wird in der indirekten Rede oftmals eine Personenverschiebung notwendig." (ebd. 198). Vgl. z. B. Ohmann (1964:434-436), Kuno (1972).

88

Eines davon betrifft die Verbendstellung von Komplementsätzen im Deutschen. Nimmt man an, dass auch die Basisstruktur die Verbendstellung hat, so bedeutet das für die Ableitung der indirekten von der direkten Rede, daß zunächst eine Basissstruktur mit Verb-Endstellung, wie sie bereits charakteristisch für den DI [discours indirect] ist, in eine Struktur mit Verb-Zweit-(oder Erst-)Stellung transformiert würde und anschließend das Ergebnis dieser Transformation im Zuge der DI-Transformation wieder rückgängig gemacht würde. (Gather 1994:254)

Auch die semantisch-pragmatischen Modifikationen der indirekten Rede durch den Modusgebrauch (Indikativ, Konjunktiv I, Konjunktiv II) lassen sich kaum mit der Derivationsthese vereinbaren. Den verschiedenen Modusversionen eines Satzes wie (2-26) würde nämlich die gleiche direkte Rede zugrunde liegen, und es ist unklar, wie die zusätzliche Information über die Sprechereinstellung während der Derivation hinzukommen sollte (vgl. Gather 1994:254f.). (2-26)

Peter hat gesagt, daß Paul drei Jahre im Gefängnis gewesen sei/wäre/ist. (Gather 1994:254)

Nicht nur für das Deutsche, sondern generell gilt das sog. „Transparenzproblem": Einer indirekten Rede liegen potenziell unendlich viele direkte Reden zugrunde (ebd. 249). Zum Beispiel können Pronomina der 1. und 2. Person in einer indirekten Rede auf beliebige referierende Ausdrücke in der entsprechenden direkten Rede zurückgehen, gleichgültig ob Pronomina oder nicht pronominale NPs (vgl. (2-27)). Im letzteren Fall würde die Derivation zusätzlich eine Tilgung der NP implizieren, was eine Verletzung der recoverability condition (vgl. Chomsky 1986:70f.) darstellen würde. (2-27)

Smith remarked that I was a writer of your caliber. Smith remarked, you/Dorothy/the author are/is a writer of his/Sam's/that idiot's caliber. (Banfield 1982:26)

Das Argument lässt sich analog für Zeit- und Ortsangaben sowie für NPs mit transparenter Lesart formulieren (vgl. Banfield 1982:26-28, Gather 1994:247-249).

2.3.3 Transposition als Origowechsel Eine Derivationsbeziehung zwischen der indirekten Rede und der Originaläußerung ist hingegen, wie Gather (1994:243) bemerkt, in einem technischen Sinne mit streng definierten Konzepten von zugrunde liegender und abgeleiteter Struktur völlig ausgeschlossen, da beide Strukturen völlig verschieden sind und selbst einem so weit als möglich gefaßten Paraphrasekriterium nicht genügen.

Autoren, die sich mit dem „Verhältnis zwischen einer Originaläußerung und einer auf sie bezogenen indirekten Redewiedergabe" (Zifonun et al. 1997:1756) befassen, versuchen auch gar nicht, eine Derivationsbeziehung herzustellen.36 Stattdessen wird betont, dass die feststellbaren Regularitäten durch die Existenz von zwei verschiedenen Äußerungssituationen, der Original(äußerungs)situation und der Wiedergabesituation, bedingt sind. Durch

M Vgl. z . B . Engel (1988:110-116), Engel et al. (1999:99-115), Zifonun et al. (1997:1756-1764), Klein/ Kleinedam (1983:275-277).

89 den Wechsel zwischen den Situationen ändert sich nämlich die Origo, mit Bezug auf welche mithilfe referenzvariabler Ausdrücke referiert wird, und infolge dessen müssen U. U. auch die betreffenden Ausdrücke ausgetauscht werden. Ein solcher Austausch von sprachlichen Ausdrücken ist gemeint, wenn von einer „Pronominalverschiebung", „Adverbialverschiebung", „Tempusverschiebung", „Verschiebung von Lokal- und Temporalbestimmungen", „Modusverschiebung", „Personenverschiebung"37 die Rede ist. Die Tempusverschiebung bedeutet dabei meistens den Wechsel zwischen zwei Tempora, die sich dadurch unterscheiden, dass das eine die Bedeutungskomponente „Gegenwart" (Referenzzeit überlappt mit der Äußerungszeit) und das andere die Bedeutungskomponente „Vergangenheit" (Referenzzeit vor Äußerungszeit) hat. Es handelt sich also gleichsam um eine RückVerschiebung (back-shift) auf einer Zeitskala.38 Der Terminus „Verschiebung" bekommt also in Bezug auf Tempora eine zusätzliche Motivation. Engel (1988:112, 114) und Engel et al. (1999:11 If.) sprechen etwas unpräzise von der „Verschiebung der Referenz", während Wigger (1997) folgendermaßen formuliert:39 In dem Maße, wie zwischen der beschriebenen und der Sprechsituation Unterschiede hinsichtlich Personen, Raum und Zeit bestehen, verschiebt sich die Deixis, so daß alle indexikalischen Ausdrücke, die diesen Kategorien angehören, angepaßt werden müssen, (ebd. 975) Mit Plank (1986:260) lässt sich von den "Verschiebungen des Bezugsrahmens für [...] deiktische Ausdrücke" sprechen, im Sinne vom „Wechsel vom Originalsprechakt auf den Wiedergabe-Akt als Origo Sprecher- und sprechsituationsabhängiger Ausdrücke" (FabriciusHansen 1989:163).

2.3.4 Referenzverschiebung nach von Roncador ( 1988) Eine ganz andere Bedeutung hat der Terminus Referenzverschiebung bei von Roncador (1988): Referenzverschiebung liegt dann vor, wenn deiktische und expressive Ausdrücke jeweils gleichen Typs bei gleichbleibender Äußerungssituation verschiedene Referenzen haben, und/oder (als teilweise Umkehrung) dann, wenn deiktische Elemente verschiedenen Typs gleiche Referenz haben, (ebd. 56) Eine Verschiebung der Referenz des Pronomens der 1. Person Singular liegt also z. B. vor, wenn es, wie im folgenden Beispiel (2-28), im wiedergegebenen Teil einer direkten Rede eine andere Person als den wiedergebenden Sprecher bezeichnet. (2-28) Mensch, stell dir¡ vor, sagt der Typj doch glatt zu mirk: „Hej, mußt duk unbedingt auf meinenj Füßen rumstehen?" (ebd.)

37

38 39

Vgl. z.B. Duden (19844:167-9, 19986:164f., 779-783), Helbig/Buscha (1972:164, 1998,e:164), Jung (1984:127), Eisenberg (19943:132, 19994:118f.), Klein/Kleinedam (1983:275f.), Hardy (1991:37), Kiefer (1986:201). Die Tempusverschiebung (Tempustransposition) wird unter 4.3 ausführlicher besprochen. Vgl. Auch "referential shift of pronomina and R-expressions" (Fludernik 1993:110),"deictic shift [which] concerns personal pronouns, local and temporal adverbs, and tense" (ten Cate 1996:190).

90 Die Referenzverschiebung ist also durch den Origowechsel im laufenden Text bedingt.40 In dieser Sichtweise ist die direkte Rede diejenige Wiedergabeform, in der die meisten Verschiebungen stattfinden, während die indirekte Rede durch ein Minimum an Verschiebungen gekennzeichnet ist. Andere Wiedergabeformen, darunter die erlebte Rede, lassen sich nach von Roncador auf einer Skala abnehmenden Verschiebungsumfangs einordnen. In demselben Sinne benutzt Perridon (1996:174, 184) den Terminus deictic shift. Den Vorteil eines solchen Verschiebungsmodells sieht von Roncador (1988:55) darin, dass es erlaubt, die Redewiedergabe zu beschreiben, ohne dabei eine tatsächliche oder virtuelle Originaläußerung voraussetzen zu müssen. Dabei betont er, dass das Modell der Referenzverschiebung eine Interpretation als Eingliederung fremder Rede [...] nicht ausschließt]. Statt aber von der Frage auszugehen, welche Modifikationen die fremde Äußerung bei der Eingliederung in eine andere Äußerung erfahren kann und welche Modifikationen die eingliedernde Äußerung dazu benötigt, setzt das Modell keine rekonstruierbare fremde Äußerung voraus, sondern fragt danach, welche Voraussetzungen und Komponenten der Sprechsituation innerhalb eines Redebeitrags verändert werden können, (von Roncador 1988:85) Gather (1994:123-126) zeigt jedoch, dass das Modell de facto sehr wohl zwei voneinander verschiedene Äußerungssituationen voraussetzt. Bereits um zwischen dem Sprecherwechsel im Dialog und der direkten Rede zu unterscheiden, verweist von Roncador implizit auf die Originaläußerungssituation. Wenn zwischen zwei Teiläußerungen Referenzverschiebung auftritt und der eine Teil implizit oder explizit die Situation kennzeichnet, auf die die verschobenen Ausdrücke des anderen Teils zu beziehen sind, dann handelt es sich um eine Referenzverschiebung im engeren Sinne, (von Roncador 1988:58). Außerdem gerät das Modell in Schwierigkeiten, wenn in einer direkten Rede der Originalsprecher und der wiedergebende Sprecher (sowie - analog dazu - evtl. andere relevante Bestandteile der Äußerungssituation wie Hörer, Zeit, Ort) identisch sind. In (2-29) ist lediglich die Illokution verschoben. Dies ist aber nach von Roncador gerade das Definitionskriterium indirekter Rede. (2-29) Ich habe dir gerade gesagt: „Ich kann dich heute abend hier nicht mehr treffen". (Gather 1994:126) Generell ist also Gather zuzustimmen, wenn er feststellt, dass das Modell keine Erklärung dafür liefert, warum die Referenz verschoben (oder nicht verschoben) wird. Eine solche Erklärung ist nur dann möglich,

40

Den Terminus Referenzverschiebung benutzt von Roncador nicht nur in Bezug auf Deiktika im üblichen Sinne, sondern auch in Bezug auf expressive Ausdrücke, „da sie ebenso wie Deiktika als Ausdrücke mit variabler Referenz aufgefasst werden können" (ebd. 55). Etwas weiter ist der Begriff der Verschiebung der pragmatischen Eigenschaften, der neben der Referenzverschiebung auch die Verschiebungen der Illokution, der Referenzverantwortung sowie des Kodes und Stils umfasst (ebd. 85). Mit der Verschiebung der Illokution ist gemeint, dass wer in einer Redewiedergabe fremde (oder eigene frühere) Sprechakte wiedergibt, keine Verpflichtungen übernimmt, die mit den betreffenden illokutionären Akten (Behauptungen, Fragen, Aufforderungen, Versprechen) verbunden sind. Diese Verschiebung ist allen Redewiedergabeformen gemeinsam und grenzt sie gleichzeitig von sog. expliziten performativen Sätzen ab. Im Hinblick auf die Beschreibung der erlebten Rede ist vor allem die Kode- und Stilverschiebung von Interesse.

91 wenn man auf das Konzept zweier voneinander zu differenzierenden Äußerungsakte mit jeweils eigenen Origines, an denen deiktische Elemente ausgerichtet werden, rekurriert. (Gather 1994:124)

Denn was sich in (2-28) ändert (und in (2-29) nicht), ist eigentlich die Origo, mit Bezug auf welche die Referenz von Deiktika ermittelt wird. Andererseits sind die Origines, zu denen verschoben wird, oft gerade nicht an eine typische Originaläußerungssituation gebunden, die auch Bühler (1934) im Sinne hatte, als er den Begriff der Origo prägte. Gerade im Falle der erlebten Rede ist das, was wiedergegeben wird, oft nicht Äußerungsinhalt, sondern es sind Gedanken, von denen der Leser vielleicht noch erfährt, dass sie diffus und kaum versprachlicht waren.41 Die Grenze zur bloßen „erlebten Wahrnehmung" ist fließend und letzten Endes irrelevant, denn auch hier lässt sich von einer Verschiebung der Origo (von der aktuellen Erzähl- oder Lesesituation zur Wahrnehmungssituation des Bewusstseinsträgers) sprechen. Das von Gather zurecht postulierte „Konzept zweier voneinander zu differenzierenden Äußerungsakte" muss also mitunter sehr weit aufgefasst werden. Es ist aber mit dem von Roncadorschen Modell durchaus vereinbar. Ein solches Modell der Origoverschiebung gleicht weitgehend dem mit Bezug auf Bühler (1934) ausgearbeiteten Konzept der Origo(ver)setzung in der Redewiedergabe (vgl. oben 2.1.4). Beide sind an Referenzphänomenen innerhalb einer einzigen komplexen Äußerung (eines Textes) interessiert und können deshalb der Kalepkyschen Sichtweise zugeordnet werden. Die Transposition ist hingegen ein Begriff, der auf den Vergleich verschiedener Äußerungen (einer nicht direkten Redewiedergabeform und der entsprechenden direkten Rede bzw. der Originaläußerung) abzielt und deshalb zur Toblerschen Sichtweise gehört (vgl. oben 1.1).«

2.3.5 Transposition als Indikator erlebter Rede In manchen Beschreibungen der erlebten Rede werden Transpositionen von Pronomina, Tempora und Adverbialen als ihre „indices" betrachtet (so z. B. in Hardy 1991:40). Dies ist unzutreffend, wenn mit „indices" das Gleiche gemeint ist, was oben in 1.3 „Indikatoren" der erlebten Rede heißt, d. h. sprachliche Elemente, die innerhalb eines narrativen Textes die Interpretation eines Satzes als erlebte Rede hervorrufen. Transpositionen stellen aber gerade eine Anpassung des Zitats an die narrative Umgebung (bzw., im Falle der indirekten

41

42

Vgl. z. B. die folgende Textstelle: (ii-iii) Probably his good work would take the form of building pagodas. Four pagodas, five, six, seven - the priests would tell him how many - with carved stonework, gilt umbrellas and little bells that tinkled in the wind, every tinkle a prayer. [...] All these thoughts flowed through Po Kyin's mind swiftly and for the most part in pictures, (zit. in Jahn 1992:351) Auf beide Konzepte (Referenzverschiebung nach von Roncador 1988 und Transposition) greifen Zifonun et al. (1997:1761) zurück, wenn sie feststellen: „Somit ist die indirekte Redewiedergabe gegenüber der Originaläußerung potentiell deiktisch umgesetzt/verschoben, die direkte Redewiedergabe ist gegenüber dem aktuellen Sprecher/Sprecherkontext potentiell deiktisch umgesetzt/verschoben."

92 Rede, an den redeeinleitenden Hauptsatz) dar und tragen dadurch zur Verwischung der Grenze zwischen beiden bei. Fónagy (1986) macht auf diese Schwierigkeit aufmerksam, indem er, mit Bezug auf das Französische, bemerkt: Shifts of mood and tense, while they are conspicuous to the writer or speaker, do not always guarantee unambiguous decoding. In order to interpret the encoded message correctly we have to be aware of the respective shifts in person, tense and mood. Such an awareness is enforced only in the case of syntactic incompatibility: when the use of moods and tenses clashes with the grammar of narrative prose within the given context. (Fónagy 1986:284)

Im Deutschen fungiert die Modustransposition als ein zuverlässiger Indikator der Redewiedergabe (vgl. oben 1.2.2), nicht aber die Tempustransposition, da das Deutsche über kein Äquivalent der Opposition von passé simple und imparfait verfügt. Die Transpositionen unterscheiden dagegen nicht direkte Redewiedergabeformen von der direkten Rede. In diesem Sinne werden sie manchmal, wie im folgenden Zitat von Weinrich (1993), als Indikatoren bezeichnet.43 Bei der indirekten Redewiedergabe zitiert der Sprecher eine Äußerung nicht in ihrer Originalfassung, sondern in einer abgewandelten, an den Kontext angepaßten Form. Ein Referenzsignal ist natürlich bei der indirekten Rede ebenso erforderlich wie bei der direkten Rede. Der Unterschied zwischen beiden beruht auf der syntaktischen Anpassung, die sich folgender Indikatoren bedienen kann: - Inhalts-Junktoren (daß, ob) - Formen des Konjunktivs - Transposition der Gesprächsrollen - Temporale Transpositionen -Transpositionen situativer Indikatoren. (Weinrich 1993:903)

2.3.6 Bereiche der Transposition Von einer Transposition lässt sich sowohl in Bezug auf deiktische als auch auf andere egozentrische (kontextabhängige) Ausdrücke sprechen. Deixis wird in der vorliegenden Arbeit als eine Art der Referenz aufgefasst, die darin besteht, dass eine außersprachliche Entität aufgrund ihrer Relation zur Äußerungssituation (genauer: zum Sprecher/ Bewusstseinsträger oder zum Äußerungsort oder zur Äußerungszeit) (evtl. uneindeutig) identifiziert wird. Mittels Tempora und deiktischer Temporaladverbiale kann auf Zeitintervalle referiert werden, mittels Lokaladverbialen auf Orte. Da die Transposition von Tempora unten (4.3) ausführlich besprochen wird, lasse ich sie hier außer Acht. In Bezug auf Adverbiale spreche ich von Transposition, wenn ein deiktisches Adverbial durch ein anderes deiktisches (vgl. (2-30)), ein deiktisches durch ein anaphorisches ersetzt wird oder umgekehrt (vgl. (2-31), (2-31')) und wenn ein absolutes Adverbial durch ein deiktisches ersetzt wird oder umgekehrt (vgl. (2-32), (2-32')).44 (2-30)

a. „Hazy Osterwald spielt morgen hier".

« Vgl. auch Engel (1988:112), Coulmas (1986a:14). 44 Zur Unterteilung von kontextabhängigen Adverbialen in deiktische und anaphorische, s. unten 3.1.

93 b. Vico telegraphierte mir (gestern) (aus Uzwil nach Oberuzwil), dass Hazy Osterwald heute dort spielt. (2-31 ) a. „Hary Osterwald spielt morgen hier". b. Vico telegraphierte mir (eines Tages) (aus Uzwil nach Oberuzwil), dass Hazy Osterwald dort am nächsten Tag spielt. (2-31') a. „Hazy Osterwald spielt am 1. Mai 2000 in Oberuzwil. Am darauf folgenden Tag tritt er im benachbarten Dorf auf." b. Vico schreibt, dass Hazy Osterwald heute hier spielt. Und morgen tritt er sogar drüben auf. (2-32) a. „Hazy Osterwald spielt am 1. Mai 2000 in Oberuzwil". b. Vico telegraphierte mir (vorgestern) (aus Uzwil nach Oberuzwil), dass Hazy Osterwald hier heute spielt. (2-32') a. „Hazy Osterwald spielt morgen hier". b. Vico telegraphierte mir (vorgestern) (aus Uzwil nach Oberuzwil), dass Hazy Osterwald am 1. Mai 2000 in Uzwil spielt. Transposition kann also immer dann vorliegen, wenn in der Originaläußerung und in der wiedergebenden Äußerung mit Bezug auf verschiedene Origines deiktisch referiert wird, oder wenn in einer der Äußerungen deiktisch und in der anderen nichtdeiktisch referiert wird.45 Deiktische Referenz via Bezug auf den Sprecher besteht in der Zuweisung einer der drei Sprechaktrollen Sprecher, Adressat oder Sprechaktunbeteiligter (vgl. Plank 1985:113). Eine Transposition liegt folglich vor, wenn ein Referent in der Redewiedergabe eine andere Sprechaktrolle hat als in der Originaläußerung. Die Ausdrucksform der semantischen Kategorie Sprechaktrolle ist im Wesentlichen die sprachliche Kategorie Person, die im Deutschen und Polnischen im System der Personalund Possessivpronomina sowie der Verbendungen kodiert ist. Auf Sprechaktunbeteiligte kann zudem mit nicht pronominalen NPs referiert werden. Typische Fälle von Personentransposition sind also (2-33) (Transposition Sprecher Sprechaktunbeteiligter), (2-34) (Transposition Sprechaktunbeteiligter -> Adressat) und (2-35) (Transposition Adressat Sprechaktunbeteiligter). (2-33) a. „Ich bin krank." b. Er hat gesagt, dass er krank ist. (2-34) a. „Er/Hans ist krank". b. Ich habe dem Lehrer gesagt, dass du krank bist. (2-35) a. „Du bist krank." b. Ich habe ihm/Hans gesagt, dass er krank ist. Das Deutsche verfügt über zwei deiktische Adressatenbezeichnungen, du und Sie, deren Gebrauch sich nach der sozialen Distanz zwischen Sprecher und Adressat(en) richtet. In

45

„Eine Substitution deiktischer Ausdrücke in einem direkten Zitat durch andere deiktische oder anaphorische Ausdrücke in der entsprechenden Form der indirekten Rede ist also das, was in der traditionellen Grammatik unter den Begriff der Verschiebung fällt." (Rauh 1978:297)

94 (2-36a) findet also, im Gegensatz zu (2-36b) und (2-36c), keine Transposition im Sinne des Wechsels von Sprechaktrollen statt.46 (2-36)

a. „Sie haben geläutet?" b. Der Zimmerkellner fragte, ob du geläutet hast. c ob er geläutet hast. d ob Rainer geläutet hat.

Es gibt auch Fälle, in denen die morphosyntaktische Markierung nicht der tatsächlichen Rollenzuweisung im Sprechakt folgt (vgl. Plank 1985:119). So wird in (2-37a) eine sprechereinschließende Form gewählt, obwohl eigentlich nur der Angesprochene gemeint ist. Bei einer Redewiedergabe wie (2-37b) findet also eine Transposition statt. In (2-38a) wird mit der NP der Verfasser auf den Sprecher referiert. Folglich liegt in (2-3 8b) keine Transposition vor, da die Sprechaktrolle die gleiche ist. Analoges gilt für (2-39): Sowohl die NP der Herr in der Originaläußerung als auch das Pronomen du in der wiedergebenden Äußerung sind Adressatenbezeichnungen. Im Polnischen wird die soziale Distanz durch NPs angezeigt, die die 3. Person des fmiten Verbs regieren (pan 'der Herr', pani 'die Dame', panstwo 'die Herrschaften'). Sie entsprechen dem deutschen Sie (vgl. (2-39')). (2-37)

a. „Wie geht es uns denn heute?" b. Die Schwester hat gefragt, wie es mir heute geht.

(2-38)

a. „Der Verfasser ist überzeugt...". b. Ich habe geschrieben, dass ich überzeugt bin....

(2-39)

a. Was wünscht der Herr? b. Der Kellner hat gefragt, was du wünschst.

(2-39') a. Czego pan sobie ¿yczy? Was Herr sich wünsch:IPF:PRS:3SG b. Keiner pytal, czego sobie zyczysz. Kellner frag:IPF:PRT:3SG:M was sich wünsch:IPF:PRS:2SG [Übersetzung s. (2-39)]

2.4 Narrativität

2.4.1 Quaestio Eine charakteristische Eigenschaft situationsenthobener Äußerungen besteht darin, dass kontextrelative Ausdrücke nicht aufgrund der Äußerungssituation, sondern durch den sprachlichen Kontext entvariabilisiert werden (vgl. oben 2.1.3). In narrativen Texten spielen dabei Bezeichnungen für zeitliche Konzepte eine entscheidende Rolle. Narrative Texte bestehen aus temporal verbundenen Äußerungen: Ein minimaler narrativer Text ist nach Labov (1972:360) „a sequence of two clauses which are temporally ordered". Die Reihenfolge der einzelnen Informationen im narrativen Text entspricht im Regel-

46

Die soziale Distanz ist eine egozentrische (sprecherabhängige) Kategorie, die hier aber, anders als etwa in Plank (1986:287), nicht zur Deixis gerechnet wird.

95 fall „der chronologischen Abfolge der Geschehnisse in der Weif (von Stutterheim 1997:31) - was zuerst geschah, wird als Erstes erzählt. Klein/von Stutterheim (1987)47 haben gezeigt, dass jeder wohlgefoimte Text als Antwort auf eine einleitende Frage, die Quaestio, zu verstehen ist. Die Quaestio von Erzählungen lässt sich als eine Fragefunktion q¡ betrachten, wobei t„+x Zeitintervalle sind und jede Frage einer Äußerungsfrage entspricht: >Was passierte (dir) zu t„?< >Was passierte (dir) zu t„+i?< >Was passierte (dir) zu t„+2?< >Was passierte (dir) zu t„+3?< (von Stutterheim 1997:38)

Äußerungen, die Antworten auf diese „was passierte"-Fragen darstellen, indem sie Ereignisse spezifizieren, bilden die sog. Hauptstruktur des Erzähltextes. Alle sonstigen Äußerungen gehören dagegen zur heterogenen Gruppe der Nebenstrukturen. Für die Hauptstruktur einer Erzählung gilt daher Folgendes: [1.] Jede Äußerung spezifiziert ein singuläres Ereignis, das ein bestimmtes Zeitintervall tj auf der Zeitachse besetzt. [2.] Das Zeitintervall tj, zu dem das erste Ereignis ei stattfindet, und die Welt w k , in der die Ereignisse stattfinden, wird explizit angegeben (bzw. sind kontextuell eingeführt); alle weiteren Ereignisse folgen chronologisch, d. h. das Intervall t„, das dem Ereignis e„ entspricht, liegt vor dem Intervall V i i das dem Ereignis e n+1 entspricht, (ebd. 28)

Es ist also die Konzeptdomäne der Zeit, die die strukturelle Vorgabe ñlr die Linearisierung der in Äußerungen gefaßten propositionalen Einheiten [liefert]. Auf die Menge des zu dem angesprochenen Sachverhalt gespeicherten Wissens wird auf der Grundlage der temporalen Struktur zugegriffen, (ebd. 102)

Andere Konzeptdomänen (d. h. Klassen von elementaren Entitäten, auf die mit sprachlichen Ausdrücken Bezug genommen wird: Personen/Objekte, (Ereignis-)Prädikationen, Orte und Modalitäten) spielen dagegen für den Aufbau von Erzähltexten eine untergeordnete Rolle. Aus der sequenziellen (chronologischen) Anordnung der Informationen resultiert jedoch eine wichtige Beschränkung für die Besetzung der Prädikatdomäne: Zur Hauptstruktur gehören grundsätzlich nur Äußerungen, in denen auf Situationen referiert wird, die sich in eine zeitliche Folgerelation einordnen können, d. h. auf Übergänge von einem Zustand in einen anderen (sog. resultative Situationen; vgl. unten 4.1.2). Zustands- und Eigenschaftsangaben scheiden dagegen in der Regel als Besetzungen der Prädikatsstelle in Erzählungen aus. Die entsprechenden Äußerungen gehören zur Nebenstruktur (von Stutterheim 1997:105).

47

Vgl. auch Klein/von Stutterheim (1992), von Stutterheim/Klein (1989), von Stutterheim (1994), von Stutterheim (1997).

96 Für jeden narrativen Text lässt sich ein Quaestio-bedingtes setting ausmachen, d. h. eine mehr oder weniger genaue (Rahmen-)Besetzung einiger Konzeptdomänen, die konstant bleibt. So führt die Frage „Was hast du gestern im Café Vetter gemacht?" die Besetzung der Raumdomäne („im Café Vetter"), der Zeitdomäne („gestern") und der Personendomäne („du") [...] ein. (von Stutterheim 1997:39) Eine weitere Klasse von Nebenstrukturen zeichnet sich dadurch aus, dass sie das vorgegebene setting verlassen und zum direkten Bezug auf Bestandteile der Äußerungssituation zurückkehren. Es handelt sich um „Kommentare, Bewertungen, metatextuelle Bemerkungen" (von Stutterheim 1997:116). Ein Beispiel dafür ist der hervorgehobene Satz in (2-40), mit drei referenzvariablen Ausdrücken (uns, heute, Präsens), die exophorisch in der Äußerungssituation (bzw. im „metadeiktischen Rahmen", dem Verfassernamen und der Jahresangabe auf der Titelseite des Buches) verankert sind. Ein weiteres Beispiel ist (2-06) oben. (2-40) Er destillierte Messing, Porzellan und Leder, Korn und Kieselsteine. Schiere Erde destillierte er. Blut und Holz und frische Fische. Seine eigenen Haare. Am Ende destillierte er sogar Wasser, Wasser aus der Seine, dessen eigentümlicher Geruch ihm wert schien, aufbewahrt zu werden. Er glaubte, mit Hilfe des Alambics könne er diesen Stoffen ihren charakteristischen Duft entreißen, wie das bei Thymian, bei Lavendel und beim Kümmelsamen möglich war. Er wußte ja nicht, daß die Destillation nichts anderes war als ein Verfahren zur Trennung gemischter Substanzen in ihreflüchtigenund weniger flüchtigen Einzelteile und daß sie für die Parfumerie nur insofern von Nutzen war, als sie das flüchtige ätherische Öl gewisser Pflanzen von ihren duftlosen oder duftarmen Resten absondern konnte. Bei Substanzen, denen dieses ätherische Öl abging, war das Verfahren der Destillation natürlich völlig sinnlos. Uns heutigen Menschen, die wir physikalisch ausgebildet sind, leuchtet das sofort ein. Für Grenouille jedoch war diese Erkenntnis das mühselig errungene Ergebnis einer langen Kette von enttäuschenden Versuchen. (Süskind 1985:129f.) Die Quaestio führt nach von Stutterheim (1997:102) auch „eine Perspektive auf den darzustellenden Sachverhalt" ein. Die Darstellung der Ereignisse kann der Perspektive entweder des Erzählers oder eines von ihm verschiedenen Protagonisten folgen. Die Perspektiven können in verschiedenen Referenzbereichen unterschiedlich sein (man denke z. B. an eine erlebte Rede in 3. Person und praesens historicum). Sie können auch in einem einzigen Referenzbereich vermengt sein: so in präteritaler erlebter Rede, wo die Tempuswahl sowohl die Perspektive des Erzählers als auch die des Protagonisten widerspiegelt (s. unten Kapitel 4), die Temporaladverbiale jedoch nur die des Protagonisten (s. Kapitel 3). Die Anwendung des Quaestio-Ansatzes von Klein/von Stutterheim (1987 u. ö.) und von Stutterheim (1997 u. ö.) auf die Perspektivierungsphänomene steht noch aus und muss einer gesonderten Untersuchung vorbehalten bleiben.

2.4.2 Vordergrund und Hintergrund Mit dem Konzept der Haupt- vs. Nebenstruktur ist die Unterscheidung zwischen dem Vordergrund und Hintergrund von Erzählungen verwandt: It is evidently a universal of narrative discourse that in any extended text an overt distinction is made between the language of the actual story line and the language of supportive material which does not itself naiTate main events. I refer to the former - the parts of the narrative which relate

97 events belonging to the skeletal structure of the discourse - as Foreground and to the latter as Background. (Hopper 1979:213) Von Stutterheim (1997:28) kritisiert an der Vorgehensweise Hoppers, dass er formale und funktionale Kriterien vermengt und deshalb zirkulär argumentiert (vgl. auch Reinhart 1984:799). Es wird angenommen, dass Vordergrundäußerungen: [a] als perfektiv markiert sind [...] [b] Hauptsätze sein müssen [...] [c] gegebenenfalls eine besondere Wortstellung aufweisen148' [d] nicht negiert und nicht modalisiert sein dürfen, (ebd.) Dass die Kriterien Schwierigkeiten bereiten, zeigt ζ. B. Couper-Kuhlen (1989:9, 12): So stellt der unterstrichene Nebensatz eine Antwort auf die „was passierte dann?"-Frage dar und ist folglich Teil des narrativen Vordergrunds, während der Hauptsatz eher einer genaueren Lokalisierung in der Zeit dient. (2-41) I promised to drop in and returned to the dining room and my meal. I had just finished eating when I heard myself being paged, (ebd. 12) Entgegen der Behauptung von Hopper können im Englischen Hintergrundsätze simplepast-Formen enthalten und Vordergrundsätze progressive-? ormtn (vgl. ebd. 13-15). Das Deutsche verfügt über keine morphologische Aspektkategorie, die eine sekundäre Funktion in Erzähltexten übernehmen könnte. Um so wichtiger sind für die Zuordnung zum Vorderbzw. Hintergrund die Aktionsarten. Der Beitrag der Aktionsarten kann jedoch seinerseits durch Überlegungen, die auf dem Weltwissen basieren, modifiziert werden (s. unten 2.4.3). Ohne formale Kriterien der oben genannten Art anzunehmen, verstehe ich im Folgenden unter dem Vordergrund eines narrativen Textes eine Sequenz von Sätzen dieses Textes, die chronologisch geordnet sind, d. h. deren Reihenfolge der zeitlichen Reihenfolge der denotierten Ereignisse entspricht (vgl. Dry 1983:48, Reinhart 1984:781). Die Termini Vordergrund (vs. Hintergrund) und Hauptstruktur (vs. Nebenstruktur) verwende ich synonym. Über Ereignisse, auf die mit den Vordergrundsätzen referiert wird, sage ich, dass sie auf der Hauptzeitachse des Textes lokalisiert sind.49 Neben der Hauptzeitachse kann eine Erzählung sekundäre Zeitachsen enthalten, die Sequenzen von chronologisch geordneten Sätzen außerhalb des narrativen Vordergrunds, ζ. B. in flashbacks (vgl. 2-42) oder in Voraussagen von zukünftigen Ereignissketten ((2-43)), entsprechen. (2-42) Hermine Kleefeld, [...] erfuhr unter dem Siegel der Verschwiegenheit dies und das, was sie unter demselben Siegel im ganzen Hause verbreitete. [...] Ferner stellte sich heraus, daß Ellen von jung auf, wenn auch in größeren Zeitabständen Erscheinungen gehabt hatte, - sichtbare und unsichtbare. - Was denn das heißen solle: unsichtbare Erscheinungen? - Zum Beispiel so. Sie hatte als sechzehnjähriges Mädchen allein im Wohnzimmer ihres Elternhauses gesessen, [...] am hellen Nachmittag und neben ihr auf dem Teppich hatte ihres Vaters Dogge, die Hündin Freia, gelegen. Der Tisch war mit einer bunten Decke, einem [...] türkischen Schal, bedeckt gewesen: übereck, mit kurz hängenden Zipfeln hatte er auf der Platte gelegen. Und plötzlich hatte Ellen gesehen, wie der Zipfel ihr gegenüber sich langsam aufgerollt hatte: still, sorgfältig und regelmäßig war er aufgerollt 48

49

Nach Hopper (1979) haben im Altenglischen alle Hintegrundsätze die Wortstellung SVO und alle Vordergrundsätze SOV oder VSO. Damit weiche ich von Reinhart (1984) ab, für die die Termini main time line und foreground synonym sind (vgl. 781).

98 worden, [...] so daß die Rolle schon ziemlich lang gewesen war; und während dies geschehen, hatte Freia [...] sich auf die Keulen gesetzt, war heulend ins Nebenzimmer gestürzt, unter das Sofa gekrochen und dann ein volles Jahr nicht zu bewegen gewesen, einen Fuß ins Wohnzimmer zu setzen. (Mann, Der Zauberberg, 63f.) (2-43) Chénier nahm den Platz hinterm Kontor ein, stellte sich genauso hin, wie zuvor der Meister gestanden hatte, und schaute mit starrem Blick zur Türe. Er wußte, was in den nächsten Stunden passieren würde: nämlich gar nichts im Laden, und oben im Arbeitszimmer Baldinis die übliche Katastrophe. Baldini würde seinen blauen, von Frangipaniwasser durchtränkten Rock ausziehen, sich an den Schreibtisch setzen und auf eine Eingebung warten. Diese Eingebung würde nicht kommen. Er würde hierauf an den Schrank mit den Hunderten von Probefläschchen eilen und aufs Geratewohl etwas zusammenmixen. Diese Mischung würde mißraten. Er würdefluchen,das Fenster aufreißen und sie in den Fluß hinunterwerfen. Er würde etwas anderes probieren, auch das würde mißraten, er würde nun schreien und toben und in dem schon betäubend riechenden Zimmer einen Heulkrampf bekommen. Er würde gegen sieben Uhr abends elend herunterkommen, zittern und weinen und sagen: »Chénier, ich habe keine Nase mehr, ich kann das Parfum nicht gebären, ich kann die spanische Haut fur den Grafen nicht liefern, ich bin verloren, ich bin innerlich tot, ich will sterben, bitte, Chénier, helfen Sie mir zu sterben!« Und Chénier würde vorschlagen, daß man zu Pèlissier schickte um eine Flasche »Amor und Psyche«, und Baldini würde zustimmen unter der Bedingung, daß kein Mensch von dieser Schande erführe, Chénier würde schwören, und nachts würden sie heimlich das Leder fur den Grafen Verhamont mit dem fremden Parfum bedufïen. So würde es sein und nicht anders, und Chénier wünschte nur, er hätte das ganze Theater schon hinter sich. (Süskind 1985:66)

2.4.3 Aktuelle Referenzzeit und referenzielle Bewegung Partee (1984) und Hinrichs (1986) prägten den für die Beschreibung vom narrativen Vorder- und Hintergrund zentralen Terminus aktuelle Referenzzeit. Es handelt sich dabei um ein Zeitintervall, das auf der Zeitachse nach der Zeit des letzten Ereignisses liegt, wie das folgende Zitat klar macht. [...] each new past-tense event sentence is specified to occur within the then-current reference time, and it subsequently causes the reference time to be shifted to a new reference time which follows the just-introduced event. States and processes are required to include the current reference time but need not overlap the event that led to the introduction of that reference time. Intuitively, the reference time introduced by an event-sentence is located 'just after' that event [...] (Partee 1984:254) Grundlegend ist auch hier die Unterscheidung zwischen Ereignissen (events, resultativen Situationen) und Zuständen {states, nichtresultativen Situationen). Sie weisen ein unterschiedliches Verhalten in Bezug auf die aktuelle Referenzzeit auf: Ereignisse sind in der zuletzt eingeführten Referenzzeit enthalten und führen zugleich eine neue Referenzzeit ein, die die alte ersetzt. Zustände inkludieren die vorgefundene Referenzzeit.50 Daher hat eine Sequenz von Ereignisse denotierenden Sätzen in der Regel eine sukzessive Lesart: Die Ereignisse folgen aufeinander, die aktuelle Referenzzeit wird „nach vorne geschoben" 50

„A simple sentence with a past tense is interpreted with respect to a reference time; if it is a state or process sentence, the corresponding state or process must hold or go on at the current reference time, while if it is an event sentence, the event must occur within that reference time, and a new reference time following the event is introduced." (Partee 1984:256)

99 ((2-44)). Denotiert ein Satz ein Ereignis und der nächste einen Zustand, so liegt die assoziative Lesart nahe, es findet keine Verschiebung der Referenzzeit statt ((2-45)). (2-44) Dann raffte er sich auf, ging ins Wohnzimmer zurück, trat ins Speisezimmer und erleuchtete auch dies. Er machte sich am Büffet zu schaffen, trank [...] ein Glas Wasser und ging dann rasch [...] weiter in die Tiefe des Hauses hinein. (Mann, Buddenbrooks, 400) (2-45) Der Konsul beugte sich mit einer etwas nervösen Bewegung im Sessel vornüber. Er trug einen zimmetfarbenen Rock mit breiten Aufschlägen und keulenförmigen Ärmeln [...] (Mann, Buddenbrooks, 9) Weitere Forschungen haben ergeben, dass es zahlreiche Abweichungen von diesen Regelfällen gibt, wobei der Beitrag der Aktionsarten durch pragmatische und kontextuelle Faktoren eingeschränkt und modifiziert werden kann. Ehrich (1992) formuliert das folgende pragmatische Sukzessionsprinzip: Eine Abfolge von Verben (Vj, V j + n ) muß sukzessiv gedeutet werden, wenn ei+n nur unter der Voraussetzung stattfinden kann, daß der Resultatzustand eyrcs von e¡ erreicht ist. Ist diese Bedingung nicht gegeben, sind beide Deutungen, die inklusive und die sukzessive möglich, (ebd. 161, Hervorhebung dort; vgl. auch Couper-Kuhlen 1989:23) Demnach ist die sukzessive Deutung obligatorisch in der Satzsequenz (2-46) (und zwar trotz der nichtresultativen Aktionsart des dritten Satzes), jedoch nicht in (2-47). (2-46) Ich nahm den Schlüssel aus der Tasche, öffnete die Tür und stand im dunklen Flur. (Jurek Becker, Bronsteins Kinder; zit. in Ehrich 1992:163) (2-47) Hans ging in den Garten. Er rauchte eine Zigarette, (ebd. 162) Mutatis mutandis gilt das Sukzessionsprinzip für Wahrnehmungsinhalte. Die wahrgenommenen Zustände werden zeitlich erst nach ihrem Eintritt ins Gesichtsfeld des Bewusstseinsträgers lokalisiert, auch wenn sie schon davor existiert haben. Couper-Kuhlen (1989:26) zählt Sätze, die wahrgenommene Zustände denotieren, zum Vordergrund, soweit die Zustände durch den Wahrnehmungsakt kontextuell eingegrenzt sind und somit die Referenzzeit bewegen. (2-48) After a five minutes Guild called: [...] There was no answer. We went into the bedroom. It was empty. (Dashiell Hammett, The Thin Man, zit. in Couper-Kuhlen 1989:26) Man könnte annehmen, dass dies noch mehr als für die Wahrnehmungsinhalte für Denkinhalte in Form der erlebten Rede gilt. Allerdings scheint z. B. in (2-49) nicht der Inhalt der Überlegungen Baldinis zwischen den beiden eindeutigen Ereignissen [er seine Hand zurückzieh-] 51 und [er sich umdreh-] zu liegen, sondern lediglich ein nicht explizit benannter Denkakt. Die Denkinhalte selbst gehören aufgrund der geänderten Perspektive und Modalität (die man als kontrafaktisch bezeichnen kann) nicht zur Hauptzeitachse und die entsprechenden Sätze folglich nicht zum Vordergrund. (2-49) Er zog seine Hand zurück. Rührend sah der Tisch aus: wie alles bereit lag; Es war, als schliefen die Dinge nur, weil es dunkel war, und als würden sie morgen wieder lebendig. Vielleicht sollte er den Tisch mitnehmen nach Messina? [...] Man saß und arbeitete gut an diesem Tisch [...]- und ein Vermögen würde es kosten, ihn nach Messina zu bringen. Selbst mit dem Schiff! Und darum wird er verkauft der Tisch, morgen wird er verkauft, und alles,

51

Zur Notation vgl. unten 4.2.4.

100 was darauf, darunter, und daneben ist, wird ebenfalls verkauft! Denn er, Baldini, hatte zwar ein sentimentales Herz, aber er hatte auch einen starken Charakter, und deshalb würde er, so schwer es ihm fiel, seinen Entschluß durchführen; mit Tränen in den Augen gab er alles weg, aber er würde es trotzdem tun, denn er wußte, daß es richtig war, er hatte ein Zeichen bekommen. Er drehte sich um, um zu gehen. (Süskind 1985:91f.)

Steube (1988:200) und Couper-Kuhlen (1989:23-26) haben darauf hingewiesen, dass es das durch die Diskurslokalisierung resultativer Situationen enkodierte Merkmal [+begrenzt] ist, das für die Referenzzeitverschiebung (und somit die Sukzessivität) von Bedeutung ist. Steube (1988:201) versteht unter Begrenzung (Grenzbezogenheit) einer Situation das Vorhandensein eines markierten Zeitpunktes, der die linke/rechte Grenze der betreffenden Ereigniszeit darstellt. Neben der resultativen Aktionsart bewirken folgende grammatische und lexikalische Mittel die Grenzbezogenheit einer Situation (vgl. Steube 1988:202): 1. sog. resultative Verwendungsvarianten der Perfekttempora, deren temporale Lokalisierungen rechts mit einer kontextuell etablierten Zeit enden; (2-50)

Er hatte die „Berliner Börsenzeitung" vor sich ausgebreitet und las [...] (Mann, Buddenbrooks, 382).

2. temporale Subjunktoren der Vor- und Nachzeitigkeit; (2-51)

Sobald er den Rest seines Erbes in den Händen hatte, liquidierte (er) [...] (Mann, Buddenbrooks, 199)

3. Adverbiale wie plötzlich, (2-52)

die eine punktuelle Interpretation hervorrufen.

Terrier lächelte und kam sich plötzlich sehr gemütlich vor. (Süskind 1985:22)

Posteriore Temporaladverbiale bewirken generell einen Sprung zu einer neuen Referenzzeit, wie das folgende Beispiel von Couper-Kuhlen (1989:26) zeigt.52 (2-53)

She looked at him, smiling. Then she was in his arms and he was kissing her... (ebd. 27)

Das Konzept der Referenzzeit ist auch grundlegend für die Auffassung der sog. temporalen Anaphora in Partee (1984). Geht man davon aus, dass Tempora (bzw. Tempusformen enthaltende Sätze) auf Zeitintervalle referieren, so lässt sich sagen, dass sie sich wie Anaphern verhalten, indem sie auf bereits im vorausgehenden Kontext etablierte Referenten verweisen. Ein Vorgängersatz fungiert dabei als Antezendens des aktuellen Satzes. Die Referenzidentität ist, anders als bei nominaler Anaphora, eher selten (vgl. Zifonun 2001:319). Zustandssätze referieren in der Regel auf Zeitintervalle, die den Referenten ihres Antezedens inkludieren. Ereignissätze referieren dagegen in der Regel auf Zeitinitervalle, die auf den Referenten ihres Antezendens folgen (vgl. Partee 1984:256). Hinrichs (1986:63f.) zeigt, dass auch Temporaladverbiale und temporale Subjunktoren (bzw. Temporalsätze) anaphorische Ausdrücke in diesem Sinne sind: Sie identifizieren ihren Referenten durch den Bezug zu einem Antezendens und fungieren selbst als Antezendenzien für weitere Zeitausdrücke (vgl. (2-53), (2-54)). (2-54)

52

They ordered two Italian salads and a bottle of Frascati. When the waiter brought the wine, they noticed that they had forgotten their check book. (ebd. 63)

Für eine ausführlichere Darstellung der Rolle von Temporaladverbialen für die Referenzzeitbewegung s. u. 3.2.6.

101 An der in den 70er und 80er Jahren entwickelten Konzeption der temporalen Anaphora wurde in den folgenden Jahren mehrmals Kritik geübt, und es wurden weitere Differenzierungen vorgenommen (s. ζ. B. Zifonun 2001:318-321). Klein/von Stutterheim (1987) führen den etwas weiteren Begriff der referenziellen Bewegung ein. Darunter verstehen sie „die Art und Weise, wie sich die Information von einem Satz zum nächsten entfaltet" (von Stutterheim 1997:62). Die referenzielle Bewegung findet in jedem Texttyp statt und bezieht sich auf alle Konzeptdomänen (Person/Objekt, Prädikat, Zeit, Raum, Modalität). Nehmen wir an, daß S1 und S2 zwei aufeinanderfolgende Sätze sind, wobei sowohl in S1 wie in S2 jede konzeptuelle Domäne [...] je einmal vertreten ist. Dann gilt für S2, daß für jede Domäne die Besetzung entweder gleich wie die jeweilige Besetzung in S1 oder verschieden von ihr ist, d.h. die Person/Objektreferenz ist beibehalten oder neu, die Zeit ist beibehalten oder neu, usw. (von Stutterheim 1997:62)

Zu den grundlegenden Formen der referenziellen Bewegung gehören Neueinführung, Erhalt und Wiederaufnahme eines Referenten, der nicht in einer „unmittelbar vorausgehenden, sondern in einer früheren Äußerungseinheit im Text bereits eingefilhrt war" (ebd. 63). Der Erhalt bedeutet die assoziative Relation (Gleichzeitigkeit) von erzählten Ereignissen. Eine weitere Form der referenziellen Bewegung, die Eingrenzung, liegt nach von Stutterheim (1997:64) vor, „wenn eine bestimmte Menge von Referenten eingeführt ist und nur eine Teilmenge davon beibehalten wird". So wird in (2-55) ein bereits eingeführtes Zeitintervall feiner aufgegliedert. Alle beteiligten Sätze werden dabei zur Hauptstruktur gezählt (vgl. ebd. 111). (2-55)

Vater schnitt eine seltsame Grimasse, er saugte die Lippen tief in den Mund und kniff die Augen zu. (Becker, Bronsieins Kinder; zit. in Ehrich 1992:164)

Für die Konzeptdomänen Zeit und Raum ist jedoch ein weiterer Relationstyp spezifisch, nämlich die Verschiebung, die vorliegt, wenn ein neuer Referent durch explizite Anbindung an einen bereits genannten eingefilhrt wird. Dieser Fall ist besonders typisch für die konzeptuellen Domänen Raum und Zeit, etwa bei Ausdrücken wie „danach, davor" oder „darauf, dahinter". Dabei wird also gleichzeitig ein Referent beibehalten (in den Beispielen ausgedrückt durch das anaphorische Element ,,da(r)-") und ein neuer eben das neue Zeitintervall oder der neue Ort - eingefilhrt. (von Stutterheim 1997:64)

Das Zitat macht deutlich, dass die Verschiebung in der temporalen Domäne sowohl „nach vorn" als auch „nach hinten" erfolgen kann. Nur die erstere Relation konstituiert jedoch die Hauptstruktur (den Vordergrund) narrativer Texte; sie wird oft gar nicht explizit gekennzeichnet, weil sie sich aus dem ikonischen Prinzip der chronologischen Anordnung automatisch ergibt (vgl. Klein/von Stutterheim 1987:177).

2.5

Zusammenfassung

In 2.1 wurde das Konzept der endophorischen Deixis skizziert. Die von Bühler (1934) beschriebenen Referenzmodi demonstratio ad oculos und analogische Deixis („erster

102

Hauptfall der Deixis am Phantasma") zeichnen sich durch eine hochgradige Situationsgebundenheit aus: Die Referenz erfolgt durch Bezug auf Bestandteile der Äußerungssituation (Sprecher, Äußerungszeit oder -ort - von Bühler zusammenfassend Origo genannt). Im Idealfall liegt dabei die kanonische Äußerungssituation vor: Sprecher und Hörer können einander sehen und verfügen Uber einen gemeinsamen Wahrnehmungsraum, in dem sich oft auch die Referenten der benutzten referenzvariablen Ausdrücke befinden (2.1.1). In Äußerungssituationen wie Telefongespräch oder Brief ist der gemeinsame Wahrnehmungsraum dagegen reduziert bzw. beseitigt. Der Referent eines referenzvariablen Ausdrucks (ζ. B. hier) ist für den Rezipienten U. U. nur dann identifizierbar, wenn er mittels eines kontextunabhängigen Ausdrucks (ζ. B. auf Mallorca) bezeichnet wird (2.1.2). Zwischen den Ausdrücken hier (der Anapher) und auf Mallorca (dem Antezedens) besteht eine intratextuelle Relation der Koreferenzialität, die eine Spielart der Anaphora darstellt. Anaphorische Relationen machen den Bezug auf die Origo überflüssig und tragen dadurch zur Situationsenthebung von Äußerungen bei (2.1.3). Ein weiterer Referenzmodus - die imaginative Deixis („zweiter Hauptfall der Deixis am Phantasma") - zeichnet sich wie die Anaphora dadurch aus, dass die Äußerungssituation für die Identifizierung des Referenten irrelevant ist; die dazu benötigte Situation wird vielmehr sprachlich vermittelt (ich spreche in diesem Fall von Endophora; 2.1.6). Bei der Anaphora erfolgt dies (im einfachsten Fall) durch eine explizite Nennung des Referenten. Bei der imaginativen Deixis wird hingegen mit sprachlichen Mitteln eine sekundäre Origo konstituiert, in der Regel, indem ein Bewusstseinsträger und eventuell Zeit und Ort des Bewusstseinsaktes (der Äußerung i. w. S.) genannt werden (2.1.4). Die imaginative Deixis liegt beim Gebrauch von Temporal- und Lokaladverbialen sowie von Tempora in erlebter Rede vor. Nimmt man mit Rauh (1984a u. ö.) an, dass sich dabei der Erzähler in die Origines der Figuren (und bei Tempora zusätzlich der Verfasser in die Origo des Erzählers) „versetzt", bietet sich der ebenfalls von Bühler (1934) geprägte Terminus Versetzungsdeixis an. Eine reine imaginative Deixis ist selten; meistens tritt eine anaphorische Relation hinzu, denn, da der Leser den Wahrnehmungsraum (das „Zeigfeld") des Bewusstseinsträgers nicht teilt, benötigt er meistens einen Antezedensausdruck, um zu wissen, worauf referiert wird (2.1.6). In 2.2 wurden drei theoretische Beschreibungen des endophorischen Bezugs auf eine sekundäre Origo (des Bewusstseinsträgers) sowie dessen Vermengung mit dem Bezug auf die primäre Origo (des Sprechers bzw. Erzählers) dargestellt: von Roncador (1988), Gather (1994) und Doron (1990, 1991). Da es im Folgenden - anders als bei von Roncador und Gather - nicht um eine Typologie verschiedener Redewiedergabeformen geht, und - anders als bei Doron - vorwiegend temporale und lokale Referenz behandelt wird, greife ich nur gelegentlich auf diese Theorien zurück. In 2.3 wurde der insbesondere für die Beschreibung des Tempusgebrauchs in nicht direkten Redewiedergaben (vgl. Kap. 4 und 5) zentrale Begriff der Transposition erörtert. Unter einer Transposition verstehe ich den regelmäßigen Unterschied im Gebrauch referenzvariabler Ausdrücke in einer Originaläußerung und ihrer nicht direkten Wiedergabe. Der Unterschied resultiert daraus, dass die referenzvariablen Ausdrücke jeweils mit Bezug auf verschiedene Origines (die der Originaläußerung und die der wiedergebenden Äußerung) gebraucht werden. Während nicht direkte Wiedergaben (indirekte, berichtete, erlebte Rede) in unterschiedlichem Ausmaß von Transpositionen betroffen sind, finden in der direkten Rede keine Transpositionen statt. Einige Autoren sprechen von einer Transposition aus der direkten Rede in die jeweilige nicht direkte Redewiedergabe. Dies ist unzulässig,

103 falls damit Transformationen im Sinne der generativen Transformationsgrammatik gemeint sind. Andererseits kann dadurch die Abhängigkeit der Referenz von zwei Origines auf einfache Weise verdeutlicht werden (2.3.2 - 2.3.3). In Bezug auf Temporal- und Lokaladverbiale spreche ich bei Origowechsel von einer Transposition, wenn ein deiktisches Adverbial durch ein anderes deiktisches oder durch ein anaphorisches ersetzt wird oder umgekehrt, und wenn ein absolutes Adverbial durch ein deiktisches ersetzt wird oder umgekehrt. Für die Personentransposition ist der Wechsel der Sprechaktrolle (z. B. vom Sprecher zum Sprechaktunbeteiligten) ausschlaggebend (2.3.6). In der Kalepkyschen Sichtweise stellt die erlebte Rede ein textuelles Phänomen dar. Bei der Behandlung von Temporaladverbialen und Tempora wird sich zeigen, dass sie in erlebter Rede in einer Weise verwendet werden, die spezifische Muster der referenziellen Bewegung erzeugt. Deshalb wurden in 2.4 das Konzept der referenziellen Bewegung in narrativen Texten (2.4.3) sowie die Unterscheidung von Haupt- und Nebenstruktur (2.4.1) bzw. Vorder- und Hintergrund (2.4.2) einleitend besprochen.

3 Adverbiale im Deutschen und Polnischen

3.1 Allgemeines zu Temporal- und Lokaladverbialen

Eines der anerkanntesten Merkmale der erlebten Rede stellt die auf den Bewußtseinsträger bezogene Standortbestimmung durch temporale und lokale Adverbialausdrücke dar. (von Roncador 1988:227f.)

Manche Autoren betonen, dass es sich bei Temporal- und Lokaladverbialen um deiktische Ausdrücke handelt, und sprechen von der „Deixis aus der Figurenperspektive" (z. B. Steube 1985:394, Rauh 1978:286f.).· Andererseits zeigen z. B. Steinberg (1971:240) und Pascal (1977:83), dass der Gebrauch von deiktischen, d. h. auf das hic et nunc eines Protagonisten bezogenen Adverbialen keine notwendige Bedingung für das Vorliegen der erlebten Rede ist: In Passagen, die durch andere Indikatoren als erlebte Rede ausgewiesen sind, können auch anaphorische Adverbiale vorkommen.2 Dass auch - umgekehrt - deiktische Adverbiale in narrativen Texten außerhalb der erlebten Rede auftreten können, zeigen z. B. Kalepky (1899:498), Dillon/Kirchhoff (1976:434), Steinberg (1971:241) und Pascal (1977:90). Im Folgenden wird deutlich, dass in dieser Hinsicht zwischen verschiedenen Gruppen von Adverbialen differenziert werden muss. In anderen Arbeiten wird darauf hingewiesen, dass in der erlebten Rede dieselben Ausdrücke gebraucht werden wie in der entsprechenden direkten Rede (z. B. Banfield 1973:33, Cohn 1966:97). Es handelt sich um Ausdrücke, die sich „auf die Kommunikationssituation des ursprünglichen Sprechers" beziehen (Breslauer 1996:151), anders als in der durch Subjunktoren eingeleiteten indirekten Rede, wo sie auf die „Kommunikationssituation" des wiedergebenden Sprechers bezogen sind.3 Im Folgenden werden zunächst einige terminologische Differenzierungen eingeführt; danach werden die Temporaladverbiale (3.2) sowie die positionalen und die dimensionalen Lokaladverbiale (3.3, 3.4) behandelt. Zunächst muss zwischen absoluten und kontextrelativen (referenzvariablen) Temporalund Lokaladverbialen unterschieden werden. Während bei den ersteren die Referenz definitiv festliegt (z. B. in München, im Jahre 1780), hängt sie bei den letzteren von dem jeweiligen sprachlichen oder außersprachlichen Kontext ab.4 Im Zusammenhang mit der erlebten Rede sind nur kontextrelative Adverbiale relevant. Sie denotieren Zeitintervalle bzw. Orte relativ zu einer durch den sprachlichen oder außer-

1

2

3

In literaturwissenschaftlichen Arbeiten wird die adverbiale Referenz in der erlebten Rede als ein Stilmittel „for locating the viewpoint in the psyche of the character" (Cohn 1966:97) betrachtet. Bei Temporaladverbialen verfügt insbesondere das Französische - anders als z. B. das Deutsche und Englische - über die lexikalisierten anaphorischen Kalenderdeiktika le lendemain und la veille (vgl. von Roncador 1988:229). Zuweilen wird behauptet, dass die erlebte Rede im Französischen hinsichtlich der Orts- und Zeitangaben der indirekten Rede entspreche (vgl. Grevisse 1980":1409f.). Dass dies keineswegs immer zutrifft, hat für das Deutsche u. a. Plank (1986) gezeigt.

106 sprachlichen Kontext bereitgestellten Bezugszeit bzw. einem solchen Bezugsort. Im Folgenden werden sie zu einem „Bezugspunkt" zusammengefasst. Das Denotat eines Adverbials kann mit dem Bezugspunkt überlappen (ζ. B. bei hier, jetzt, heute) oder von ihm dissoziiert sein (ζ. B. bei daneben, später, morgen). Auf diese Unterscheidung beziehen sich Begriffspaare wie Auto- vs. Heterodeixis (Sennholz 1985), Origoinklusion vs. -exklusion (Diewald 1991), Nah- vs. Ferndeixis (Fillmore 1972:150, Bltlhdorn 1995:113) Je nachdem, ob die Denotatszeit eines Temporaladverbials der Bezugszeit vorangeht, nachfolgt oder mit ihr überlappt, unterscheide ich - Ehrich (1992:108) folgend - zwischen anterioren, posterioren und simultanen Temporaladverbialen. Je nach der Art und Weise, wie die Denotatszeit strukturiert ist, lassen sich Temporaladverbiale in kalendarische (auf konventionalisierter Zeitmessung basierende) und topologische Angaben unterteilen (ebd.).5 Anteriore und posteriore topologische Temporaladverbiale können zusätzlich nach dem Grad der Entfernung der Denotatszeit von der Bezugszeit klassifiziert werden. Ehrich (1992) unterscheidet drei Entfemungsstufen: die proximale, die periphere und die distale Umgebung der Bezugszeit (vgl. Abb. 3.1). Einige topologische Temporaladverbiale können mit metrischen (kalendarischen) Entfernungsangaben kombiniert werden (2 Jahre früher).

4

5

Darüber hinaus gibt es Ausdrücke wie am Donnerstag, drei Tage nach Ostern, zu Hause, in der Stadt, die als Semideiktika bezeichnet werden (vgl. Harweg 1975, 1990). Im Rahmen ihres „Reviers" (so der Harwegsche Terminus für die kontextuell vorgegebene Ortschaft, Jahr, Woche usw.) fungieren sie wie absolute Ausdrücke, d. h. sie bezeichnen einen Ort oder ein Zeitintervall définit und ohne Bezugnahme auf irgendeine andere Instanz; das Revier selbst wird jedoch relativ zu einem Bezugspunkt (im Default-Fall: zur Äußerungszeit bzw. zum Äußerungsort) festgelegt. Zu topologischen Konzepten zählen u. a. Nachbarschaft, Überlappung, Enthaltensein. Man geht davon aus, dass der Raum und die Zeit, auf die wir uns mit natürlichsprachlichen Ausdrücken beziehen, eine einfache topologische Struktur haben, d. h. jeder als begrenzt vorgestellte Ort bzw. jedes solche Zeitintervall hat eine Nachbarschaft und kann in anderen Orten (Zeitintervallen) enthalten sein (vgl. Becker 1994:5).

107 Abb. 3.1: Temporaladverbiale (nach Ehrich 1992:113f.) DIST(E)

PER(E)

früher einst

DIST(E)

PROX(E)

kürzlich neulich

IMM(E)

vorhin eben

E

sofort gleich anschließen

PER(E)

bald demnäclh st danach

später einst schließlich

gerade, eben momentan jetzt gegenwärtig zugleich, gleichzeitig da

Lokaladverbiale lassen sich nach Ehrich (1992) grundsätzlich in positionale (topologische) und dimensionale einteilen, wobei die positionalen zusätzlich nach ihrer Entfernung vom Bezugsort weiter unterteilt werden können. Vereinfacht lässt sich sagen, dass das Deutsche mittels der Adverbien hier, da und dort zwischen drei Entfernungsstufen (proximale/periphere/distale Umgebung des Bezugsortes) unterscheidet. Die dimensionalen Lokaladverbiale spezifizieren den Denotatsort mit Bezug auf eine der Dimensionen des Raumes: Man stelle sich ein Koordinatensystem bestehend aus sechs Halbachsen mit dem Nullpunkt im Bezugsort und der Richtung von ihm weg vor. Jede der Halbachsen bestimmt das Denotat eines dimensionalen Lokaladverbials: einen oberen/unteren, vorderen/hinteren, linken/rechten Ausschnitt des Bezugsortes (oder einen oberen/unteren, vorderen/hinteren, linken/rechten Sektor seiner Umgebung). Einige dimensionale Lokaladverbiale können mit metrischen Entfernungsangaben kombiniert werden (2 Meter weiter links). Ich spreche im Folgenden von endophorischem Gebrauch eines Adverbials, wenn sein Bezugspunkt in dem fraglichen Diskurs vorerwähnt ist bzw. daraus rekonstruiert werden kann. Wird der Bezugspunkt hingegen durch den außersprachlichen (situativen) Äußerungskontext geliefert, so liegt exophorischer Gebrauch vor. Ein prototypischer Äußerungstyp, in dem der exophorische Gebrauch möglich ist, ist ein mündliches Gespräch, bei dem Sprecher und Adressat einander sehen können und über ein gemeinsames Wahrnehmungsfeld verfügen. Dies gewährleistet, dass ihnen Informationen

108

wie Äußerungszeit und Äußerungsort zugänglich und für beide gleich sind und dass auf sinnlich wahrnehmbare Entitäten mit Zeiggesten (oder ihren Äquivalenten) hingewiesen werden kann. Wenn alle diese Bedingungen erfüllt sind, liegt eine kanonische Äußerungssituation im Sinne von Lyons (1977) vor (vgl. oben 2.1.2). Eine solche Äußerungssituation bietet die besten Voraussetzungen für Äußerungen, die situationsgebunden und zugleich kommunikativ geglückt sind. Demgegenüber sind schriftliche narrative Texte ohne eine sich sprachlich manifestierende Erzählerinstanz ein Äußerungstyp, der sich durch ein hohes Äusmaß an Situationsenthebung auszeichnet und in dem folglich kontextrelative Ausdrücke vor allem endophorisch gebraucht werden. Kontextrelative Temporal- und Lokaladverbiale lassen sich, je nach ihren Gebrauchsmöglichkeiten, in drei Gruppen einteilen (vgl. z. B. Fabricius-Hansen 1986:177): • Gruppe I: Adverbiale, für die der exophorische Gebrauch primär und der endophorische nur unter bestimmten Bedingungen möglich ist (z. B. vorhin, demnächst, heute, morgen)·, • Gruppe II: Adverbiale, die beide Gebrauchsweisen zulassen (z. là. früher, bald, dort)· • Gruppe III: Adverbiale, die nur endophorisch gebraucht werden können (z. B. unterdessen, vorher, daneben, davor, dahinter). Die Adverbiale der letzten Gruppe werden oft anaphorische Adverbiale genannt. Ich schließe mich dieser Gepflogenheit an. Mit Bezug auf die beiden ersten Gruppen spreche ich im Folgenden von deiktischen Temporal- und Lokaladverbialen.

3.2

Temporaladverbiale

3.2.1 Deiktische und anaphorische Temporaladverbiale Die folgenden Tabellen zeigen für das Deutsche und das Polnische die Einteilung der Temporaladverbiale (im Folgenden: Tadv) in deiktische (I, II) und anaphorische (III) im oben definierten Sinne.6 Mein Interesse gilt im Folgenden dem endophorischen Gebrauch deiktischer Tadv und zwar insbesondere derjenigen der Gruppe I.

6

Die Einteilung basiert auf Vorschlägen von Kaufmann (1976:70-78), Fabricius-Hansen (1986:174-180), Ehrich (1992:108f.), Grzegorczykowa (1975:105-114) und Smith (1980:363). Man vergleiche auch Schöpf (1984:294f., 310f). [+K] steht fllr kalendarisch, [-K] für nicht kalendarisch (topologisch).

109 Tab. 3.1: Kontextrelative Temporaladverbiale im Deutschen anterior

simultan

vor χ Sekunden, Minuten, Viertelstunden, Stunden, Tagen, Wochen, Monaten, Jahren +K

-K

I

II

vergangene, letzte, vorige Woche, vergangenen, letzten, vorigen Monat, vergangenes, letztes, voriges Jahr, in der vergangenen, letzten, vorigen Woche, im vergangenen, letzten, vorigen Monat/Jahr

diese Woche, diesen Monat, kommende, nächste Woche, dieses Jahr, kommenden, nächsten Monat in dieser Woche, in diesem kommendes, nächstes Jahr, Monat/Jahr in der kommenden, nächsten Woche, im kommenden, nächsten Monat/Jahr

heute

morgen, übermorgen

vorhin, neulich, kürzlich, eben, einst

zurzeit, heutzutage

demnächst, einst

soeben, eben, gerade, früher

jetzt, nun, gerade

gleich, sofort, bald, später, nachher

am vorangegangenen Tag, am Tag zuvor, tags zuvor III

in χ Sekunden, Minuten, Viertelstunden, Stunden, Tagen, Wochen, Monaten, Jahren

vorgestern, gestern

vorher, zuvor, davor

+K

posterior

in diesem Augenblick, da, indes- dann, anschließend, danach, sen, unterdessen, derweil, schließlich, endlich zugleich, gleichzeitig, im gleichen Augenblick, damals, zu der Zeit, in jener Zeit an dem Tag

am folgenden/nächsten Tag, am Tag darauf, tags darauf

in der vorhergehenden, in der/jener Sekunde, Minute, in derfolgenden Woche, vorangegangenen Woche, Viertelstunde, Stunde, Woche, in im folgenden Monat/Jahr, im vorhergehenden, vodem/jenem Monat, Jahr die Woche, den Monat, das rangegangenen MoJahr darauf, nat/Jahr, in der Woche, in dem Modie Woche, der Monat, das nat/Jahr darauf Jahr zuvor, in der Woche, in dem Monat/Jahr zuvor χ Sekunden, Minuten, Viertelstunden, Stunden, Tage, Wochen, Monaten, Jahre zuvor, früher, vorher

χ Sekunden, Minuten, Viertelstunden, Stunden, Tage, Wochen, Monaten, Jahre später, darauf danach

110 Tab. 3.2: Kontextrelative Temporaladverbiale im Polnischen anterior

simultan

przed χ dniami, tygodniami, miesiqcami, laty 'vor χ Sekunden, Minuten, Stunden, Tagen, Wochen, Monaten, Jahren' χ dni, tygodni, miesiçcy, lat temu 'x Tage, Wochen, Monate, Jahre vorhin' +K

I

dawniej kiedys niedawno ostatnio II

'früher' 'einst' 'neulich' 'kürzlich'

wczesniej 'früher' przedtem, poprzednio 'vorher/vorhin'

III

+K

za χ sekund, minut, godzin, dni, tygodni, miesiçcy, lat 'in χ Sekunden, Minuten, Stunden, Tagen, Wochen, Monaten, Jahren'

*w tym dniu '*an diesem Tag' w przysziym tygodniu, miesiqw zeszfym (ubiegtym) cu, roku tygodniu, miesiqcu, roku w tym tygodniu, miesiqcu, roku 'in kommender Woche / in 'in dieser Woche/ in diesem 'in vergangener Woche / kommendem Monat, Jahr' Monat, Jahr' in vergangenem Monat, Jahr' przedwczoraj 'vorgestern' wczoraj 'gestern'

-K

posterior

poprzedniego dnia 'vorangegangenen Tages' w przeddzien 'am Vortag'

dzisiaj (dzis) 'heute'

jutro 'morgen' pojutrze 'übermorgen'

obecnie, aktualnie, na razie 'zurzeit'

za chwilç 'gleich' niediugo 'bald' kiedys 'einst' nieprçdko 'erst später'

teraz 'jetzt' w tym momencie, w tej chwili 'momentan'

natychmiast 'sofort' zaraz 'gleich', niebawem/ wkrótce 'bald' potemlpózniej 'später'

ve tym czasie 'indessen', przez ten czas 'unterdessen', wtedy, wtenczas, wówczas, 'da, damals' w owym czasie 'in jener Zeit'

nastçpnie 'anschließend'

tego / owego dnia 'diesen / jenen Tages' w tym / owym dniu 'an diesem / jenem Tag'

nastçpnego dnia 'nächsten Tages' nazajutrz 'am Tag darauf

w poprzednim tygodniu, w tej / owej sekundzie, minucie, w nastçpnym tygodniu, miesimiesiqcu, roku 'in vogodzinie qcu, roku rangegangener Woche/ 'in dieser / jener Sekunde, Minu'in nächster Woche / in vorangegangenem te, Stunde' in nächstem Monat, Jahr' Monat, Jahr', χ dni, w tym / owym tygodniu, miesiq- χ dni, tygodni, miesiçcy, lat tygodni, miesiçcy, lat cu, roku pözniej wczesniej 'x Tage, Wo'in dieser / jener Woche, in 'x Tage, Wochen, Monate, chen, Monate, Jahre diesem/jenem Monat, Jahr' Jahre später' früher'

Ill

3.2.2 Deiktische Temporaladverbiale vs. erlebte Rede In manchen Arbeiten, insbesondere zur Deixistheorie oder zur Adverbialsemantik, wird der endophorische Gebrauch von deiktischen Tadv mit dem Etikett „erlebte Rede" versehen. So werden ζ. B. Sätze wie (3-0 lb) in Smith (1980), einer Untersuchung zur temporalen Verkettung in Diskursen, als „reported speech", d. h. als Äußerungswiedergabe in Form der erlebten Rede interpretiert. (3-01)

(a) We invited Tom to join us but he couldn't come, (b) He had eaten dinner an hour ago. (Smith 1980:365)

Smith stellt generell fest: Sentences with re-anchored deictics are in the mode of reported speech, and are dependent temporally [...] Thus I shall say that re-anchored deictics signal a consciousness at the time of reanchoring, whether or not such a time is associated on the surface with a CC verb, (ebd.) 7 In den meisten Fällen werden erlebte Rede und deiktische Tadv unter dem Gesichtspunkt der Kookkurrenz des Präteritums mit simultanen und posterioren Tadv wie heute oder morgen (aber auch jetzt) in Verbindung gebracht (vgl. z. B. Herbermann 1988:58). Manche Autoren scheinen das Phänomen unter die erlebte Rede zu subsumieren: Besonders kompliziert sind die Formen der sog. erlebten Rede, sie stellen - auch deiktisch gesehen - äußerst hybride Gebilde dar. Dies zeigt sich in erster Linie bei den Temporaldeiktika. Einige typische Formen der erlebten Rede sind: (18) Morgen ging das Flugzeug, das ihn nach Kanada bringen sollte. (19) Er saß den ganzen Abend traurig da; er hatte heute zwei Hiobsbotschften erhalten. (20) Jetzt schlug er zu. In all diesen Fällen ist das Zeitadverbialdeiktikon versetzungsdeiktisch zu interpretieren und das Tempus(morphem)deiktikon nicht. (Sennholz 1985:234) Wird - wie in dem Satz [Morgen schrieb sie einen Brief] - ein Präteritum mit einem Adverbial der Zukunft kombiniert, ergibt sich die sogenannte „erlebte Rede", bei der ebenfalls zwei Origines anzusetzen sind. Das Präteritum ist auf die reale Sprechzeit hin geordnet, ist also realdeiktisch, das Adverbial auf die erzählte, imaginäre Origo hin, d.h. es ist Deixis am Phantasma. Als "erlebte Rede", d.h. mit Deixis am Phantasma für das Adverb, müssen auch einige Verbindungen von Vergangenheitstempora und nicht-kalendarischem origoinklusivem Adverb gewertet werden, wie Sennholz (1985:132) für sein Beispiel „Jetzt schlug er zu" (1985:131) zu Recht anmerkt. (Diewald 1991:186) Die Behauptung, eine solche Kookkurrenz sei auf die erlebte Rede beschränkt und daher ihr identyfing feature, findet sich auch in Banfield (1982). Only in represented speech and thought are the present and future time deictics - now, today, this morning, tomorrow and so on - not cotemporal with the present and future tense. Nor are these deictics understood to refer to the time and place of speaker's speech act. Like its third person point of view this is an identyfing feature of this style. (Banfield 1982:98)

7

Mit CC verbs sind verbs of communication and consciousness wie etwa say, announce, realize gemeint.

112 Auf Kookkurrenzen von Präteritum und nicht anterioren Tadv hat als erste Hamburger (1953,1977 3 ) aufmerksam gemacht. Ihr zufolge stellen sie einen Beweis für die Neutralisierung der Vergangenheitsbedeutung des Präteritums in ñktionalen Texten dar und treten daher ausschließlich in ebensolchen Texten auf. Diese Auffassung wurde bereits von Stanzel (1959) dahin gehend korrigiert, dass nicht die Fiktion, sondern vielmehr die sog. personale Erzählsituation die Bedingung für diese Kookkurrenz ist. Herr X war in Amerika... Morgen ging sein Flugzeug, das ihn nach Canada bringen sollte. Eine solche Verbindung eines zukunftsweisenden Adverbs mit einem Praeteritum kann nämlich nur dort eintreten, wo die sprachliche Formulierung, die Darstellung vom Standpunkt des Erlebenden, Betroffenen oder einer am Geschehen aktiv oder als Zuschauer teilnehmenden Gestalt erfolgt; [...] Es ist für uns gleichgültig, ob diese Form der Darstellung, die den Nullpunkt der zeitlichen Orientierung des Lesers in die Handlungsgegenwart verlegt, erlebte Rede, substitutionary narration oder personale Erzählsituation genannt wird. Obwohl der Bedeutungsumfang dieser drei Begriffe sich nicht vollkommen deckt, schließen sie alle drei den hier vorliegenden Sachverhalt mit ein. Ich habe den letzten Begriff eingeführt, um die Erscheinung der erlebten Rede in jenen größeren Zusammenhang einzuordnen, in welchem sie im modernen Roman ihre größte Verbreitung und eigentliche Wirkung erreicht. (Stanzel 1959:4) Da Stanzel (1959) an dieser Stelle die Relation zwischen der erlebten Rede und der personalen Erzählsituation nicht weiter erläutert, 8 behauptet Bronzwaer (1970) Folgendes: He [Stanzel 1959] equates such narrative situations [d. i. "personale Erzählsituationen"] with free indirect speech or thought, concluding that only in free indirect style can adverbs with future or present time-sphere reference be used to modify preterite tense forms. (Bronzwaer 1970:46) Damit wird die Kookkurrenz von Präteritum mit simultanen und posterioren Tadv zum „identifying feature" der erlebten Rede im Sinne Banfields. Da Bronzwaer (1970) auch now zu den betreffenden Tadv zählt, muss er die erlebte Rede nicht nur in den von Stanzel behandelten literarischen, sondern auch in anderen, etwa geschichtlichen Texten diagnostizieren, j a sogar in wissenschaftlichen Aufsätzen, in denen der Gang einer Argumentation referiert wird (vgl. das folgende Beispiel) (3-02)

So the conclusion was now drawn that what we call a 'poetic' effect does not necessarily depend on any kind of special heightened language, the kind normally thought of as 'poetic', but often on 'prosaic' utterances which nevertheless become emotionally highly charged because of their context. (P. Edwards, Meaning and Context: An Exercise in Practical Stylistics. English Language Teaching, XXII, 3; May 1968; zit. in Bronzwaer 1970:48)

Alle Vorkommen des endophorischen now in präteritalen Kontexten bewirken nach Bronzwaer (1970:48) auf Seiten des Rezipienten Empathie, d. h. „this kind of involvement, 8

Vgl. jedoch ebd. S. 7. Genauere Auskunft hierzu geben spätere Arbeiten von Stanzel (vgl. Stanzel 1994, 19956), in denen als „das wesentliche strukturelle Element der erlebten Rede der wahrnehmbare Wechsel zwischen Erzählerbericht und Figurenrede, oder genauer, die wahrnehmbare Überlagerung der Figurenrede durch die Erzählerrede" gesehen wird (Stanzel 1994:18). Daher stellt die erlebte Rede eine „charakteristische Übergangsform der Rede- und Gedankendarstellung zwischen auktorialer und personaler ES [Erzählsituation - A. S.]" dar (Stanzel 19956:242). Und umgekehrt: „Nimmt ER [erlebte Rede - A. S.] in einer Erzählung an Umfang so zu, daß durch sie die eindeutig auktorialen Äußerungen mehr oder weniger ganz verdrängt werden, dann stellt sich in dieser Erzählung eine personale ES ein. Die personale ES kann auch als eine auf einen längeren Erzähltext ausgedehnte ER verstanden werden." (Stanzel 19956:25 5)

113 which always works through identification with and adopting the perspective of an 'Aussagesubjekt' that is not identical with the narrator, author or speaker of the text concerned". Bei dem, Aussagesubjekt" handelt es sich in allen von Bronzwaer analysierten Belegen um mehr oder weniger explizit genannte oder erschließbare menschliche Individuen. Dass dies jedoch keine notwendige Bedingung für den endophorischen Gebrauch von jetzt ist, zeigt die folgende Stelle aus einem Text über eine Periode der Erdgeschichte, in der es noch keine Menschen gab.9 Hier kann allenfalls noch von einer „Verlegung des Betrachtungsstandpunktes auf den Handlungsschauplatz" die Rede sein, die für die personale Erzählsituation charakteristisch ist (vgl. Stanzel 1959:4). (3-03)

Die dritte Phase begann, als der Meeresspiegel ganz am Ende des Perms wieder stieg, was sich in die frühe Trias hinein fortsetzte. Jetzt wurden trockene küstennahe Gebiete überflutet - und zwar mit wahrscheinlich sauerstoffarmem Wasser. (Spektrum der Wissenschaft 9 (1996):78).

Derartige Beispiele scheinen die Unterteilung der sog. deiktischen Tadv in zwei Gruppen zu rechtfertigen, wobei die These, dass nur in der erlebten Rede simultane und posteriore deiktische Tadv mit Präteritum kookkurrieren können, auf die Tadv der Gruppe I einzuschränken ist. Diesen Weg gehen ζ. B. Kamp/Rohrer (1983), bei denen allerdings nicht die scheinbar paradoxe Kombination von Vergangengenheitstempus und nicht anteriorem Tadv im Mittelpunkt steht, sondern der Beitrag von verschiedenen zeitreferenziellen Mitteln zur temporalen Verkettung im Diskurs. In dieser Hinsicht verhält sich nach Kamp und Rohrer auch das anteriore franz. hier nicht anders als demain und aujourd'hui. It seems in fact that where demain, aujourd'hui, hier are accompanied by past tense they always form part of reported speech. (Kamp/Rohrer 1983:266)10

Ein weiteres Argument für die Unterscheidung beider Gruppen kann aus einem zahlenmäßigen Vergleich gewonnen werden.

3.2.3 Jetzt vs. Kalenderdeiktika in gegenwärtiger Trivialliteratur Die empirische Basis der Untersuchung bilden 6 Trivialromane von je 64 Druckseiten (vgl. TL im Literaturverzeichnis). Die Tabellen 3.3 und 3.5 zeigen die Distribution der betreffenden Tadv in eindeutigen Redewiedergabekontexten: direkte Rede (DR), freie direkte Rede (FDR), berichtete Rede (BR), und im übrigen Text („Erzählung"). Die letzte Gruppe umfasst 33 Vorkommen von Kalenderdeiktika und 89 Vorkommen von jetzt. Die dazugehörigen Belege werden je nach dem Kontext, in dem sie auftreten, weiter klassifiziert (Tab. 3.4 und 3.6). 9

10

Vetters (1994:206) bringt ein Beispiel für maw/enantf-Imparfait innerhalb einer Beschreibung von menschenloser Landschaft in Zolas „Germinal". Dass mit reported speech das Phänomen gemeint ist, das im Deutschen den Namen erlebte Rede trägt, wird nicht nur aufgrund der von Kamp/Rohrer (1983) analysierten klassischen Beispiele aus Romanen von Flaubert und Thomas Mann klar, sondern es geht auch aus dem folgenden Zitat hervor: „In order to distinguish between the function of aujourd'hui in contrast to maintenant it is necessary to introduce a personal perspective or the perspective of the protagonist(s). This perspective is, we believe, also what distinguishes reported speech (erlebte Rede, discours indirect libre) from direct and indirect discourse." (ebd. 269)

114 Tab. 3.3: Deiktische kalendarische Tadv in TL11 Gesamt 126 31 44 3 2 5

heute gestern morgen übermorgen vorgestern heutig* gestrig* morgig* Gesamt

BR 1

Erzählung 20 7 3

Anderes 2 'heutzutage*

2

DR 102 24 38 3 1 3

3

171

3

FDR 1

1 2

% Erzählung 15,8 27,2 6,8 0,0 50,0 40,0 0,0 0,0 15,4

1

-

211

1

33

Tab. 3.4: Deiktische kalendarische Tadv in der Erzählung in TL ER gesamt

22 (67%) IR 6(18%)

mit starken internen Indikatoren mit ausschließlich schwachen internen Indikatoren mit externen Indikatoren Erzählerbericht gesamt 5 (15%)

IZ-Bericht 1

+



+

+

-

+ + 1 16(48%) 3 mit nur handelndem Protagonisten 4

+ 2

Tab. 3.5: Jetzt in TL jetzt

Gesamt 286

Erzählung 89

DR 197

% Erzählung 31,1

Tab. 3.6: Jetzt in der Erzählung in TL ER gesamt

55 (62%) IR 7 (8%)

mit starken internen Indikatoren mit ausschließlich schwachen internen Indikatoren mit externen Indikatoren Erzählerbericht IZ-Bericht gesamt 27 (30%) 10

IZ-Bericht mit anschließender ER 8

+



+

-

+ + + 32 (36%) 17 6 Protagonist nur handelnd oder nicht eingeführt 9

Im Folgenden sollen die in den Tabellen 3.4 und 3.6 unterschiedenen Klassen kurz charakterisiert werden. a) ER (erlebte Rede). In den Tabellen wurde die Einteilung von Indikatoren der erlebten Rede in externe und interne berücksichtigt (vgl. 1.3 oben). Die internen Indikatoren untergliedere ich in starke und schwache. Zu den starken gehören gesprochensprachliche, emotive und expressive Elemente, wie direkte Fragesätze, Exklamativsätze, Wiederholungen, unvollständige und verblose Sätze, Antwort- und Abtönungspartikeln, Interjektionen, Modalwörter (vgl. (3-04)). Zu den schwachen zählen sprachliche Elemente, die nur im geeigne-

11

Abkürzungen: BR - berichtete Rede, FDR - freie direkte Rede, DR - direkte Rede, ER - erlebte Rede, IR - indirekte Rede, IZ-Bericht - Bericht über inneren Zustand.

115 ten Kontext, also etwa zusammen mit externen und starken internen Indikatoren ein zuverlässiges Signal der erlebten Rede darstellen: ζ. B. Modalverben, Finalsätze (vgl. (3-05)), Kausalsätze, das Plusquamperfekt. (3-04)

„Wird das nicht zu lange dauern? Das Entwerfen der Modelle, das Anfertigen..." Ach, sie •wußte ja gar nicht, wie lange das Märchen mit Niels dauern würde. Vielleicht war es morgen schon vorbei. "Sie werden mit uns zufrieden sein, Madame. Wenn es nötig ist, können wir auch zaubern, ich verbürge mich dafür." (Weyden 1990:36)

(3-05)

Sie schwamm eine halbe Stunde im Bodensee, dann ging sie zurück zu dem Hauszelt, um heute einmal allein das Frühstücksgeschirr zu spülen. (Torwegge 1990:50)

b) IR (indirekte Rede). Hierzu zählen Komplementsätze der indirekten Rede i. e. S. sowie Objektsätze wie in (3-06) und (3-07), die von Verben des Denkens, Fühlens, Wahrnehmens oder vergleichbaren Nominal- bw. Adjektivphrasen abhängig sind. (3-06)

Nun erinnerte sie sich, daß Niels gestern mit einer schnellen Bewegung den Vorhang geschlossen hatte. (Weyden 1990:24)

(3-07)

Niels fühlte, was jetzt in dem anderen vorgehen mußte, und er dankte wie noch nie in seinem Leben dem Himmel [...] (Weyden 1990:55)

c) Erzählerbericht. Während in den bisher besprochenen Passagen die betreffenden Tadv in Sätzen bzw. Satzteilen enthalten sind, in denen der Inhalt von Rede, Gedanken oder Wahrnehmungen wiedergegeben wird, handelt es sich hier um Sätze oder Satzteile, in denen Aktivitäten oder Zustände von Protagonisten berichtet werden. Sind es kognitive, perzeptive oder emotionale Aktivitäten oder Zustände, liegt ein IZ-Bericht vor. Hierzu zählen auch die als subjektive Sätze auffassbaren Berichte über Symptomereignisse.12 (3-08)

Sie brachte ihn nach dem Frühstück zur Gondel und winkte ihm nach, solange sie ihn sah. Jetzt nahm sie auch die Stangen zu beiden Seiten der Treppe wahr, an der die Gondeln befestigt werden konnten. (Weyden 1990:35)

Andernfalls handelt es sich um einen lediglich handelnden Protagonisten (vgl. Wiebe 1990:56). (3-09)

Da das Wetter heute noch sommerlich schön war, zog Delia ihm ein niedliches kariertes Hemd zu Jeans an, die mit lustigen bunten Flicken verziert waren, (de Groot 1990:24)

In einigen Fällen gibt es in der dargestellten Szene gar keine Protagonisten. (3-10)

Im März war die Macht des Winters vorbei. Die Sonne zeigte sich wieder und strahlte Uber Gorenkamp. Jetzt begann die Arbeit in den Weinbergen. Die Erde mußte gehackt und von Unkraut gesäubert werden. Eine mühselige Arbeit bei diesen abschüssigen Hängen, (de Groot 1990:50)

Aus den Tabellen 3.4 und 3.6 ist ersichtlich, dass jetzt doppelt so oft wie Kalenderdeiktika im Erzählerbericht auftritt (30% gegenüber 15%). Während die Kalenderdeiktika in 48% 12

Zu der IZ-Klasse zähle ich auch den einzigen in dem benutzten Korpus enthaltenen Beleg mit einem Sprechaktbericht. (iii-i)Sie gingen in den kleinen Salon, der mit altdeutschen Möbeln gemütlich eingerichtet war. Nebenan befand sich Olga Gorenkamps Nähzimmer, die Tür war nur angelehnt. Jetzt besprachen sie eingehend die neue Situation, (de Groot 1990:23)

116 der Fälle in einer durch externe und starke interne Indikatoren gekennzeichneten erlebten Rede vorkommen, beträgt der entsprechende Anteil für jetzt 36%. Wie erwartet, zeigen also Kalenderdeiktika eine etwas stärkere Affinität zur erlebten Rede als das Tadv jetzt. Andererseits wird hier aber auch deutlich, dass der endophorische Gebrauch von Kalenderdeiktika keineswegs auf die erlebte Rede beschränkt ist. In immerhin 5 von 33 Fällen treten sie im Erzählerbericht auf. Es handelt sich dabei u. a. um die folgenden Vorkommen von heute. (3-11)

Nach der letzten guten Ernte konnte Tim optimistisch in die Zukunft blicken. Es war eine große Erleichterung für ihn, keine finanziellen Sorgen mehr zu haben. Seinen Absatz besorgte die Winzergenossenschaft. Die besonders edlen Weine bewahrte er für seine treuen Privatkunden auf, die ihm für den hervorragenden Wein gute Preise zahlten. Heute war Frau Olga mit Andy durch die Weinberge spazierengegangen. Sie hatte Andy in der Kinderkarre geschoben. Er war noch zu schwach, um lange zu laufen. Dünn war der Kleine geworden, und blaß sah er aus. "Andy braucht dringend Luftveränderung", sagte sie zu Delia, als sie Andy am Spätnachmittag abholen wollte, (de Groot 1990:51)

(3-12)

Die alte Dorfkirche war an diesem Samstagabend gut besucht. In der ersten Kirchenbank hatten die Degenhardts ihren Stammplatz. Die Gorenkamps hatten ihre private Kirchenbank auf der linken Seite. Hinter ihnen hatten die Angestellten vom Weingut Platz genommen. Nur Tim Gorenkamp fehlte heute in der Reihe. Er saß neben Inge bei den Degenhardts, (de Groot 1990:8)

In beiden Fällen werden lediglich Handlungen von Protagonisten dargestellt. In (3-11) steht das Tadv am Anfang eines Absatzes, in dem ein Referentenwechsel stattfindet, d. h. ein Protagonist wieder eingeführt wird. In (3-12) ist die Zuschreibung des deiktischen heute zum Standpunkt des handelnden Protagonisten zusätzlich dadurch erschwert, dass das Prädikat fehlen eine gewisse Außenperspektive nahe legt. Ähnliche Beispiele für endophorisch gebrauchte Kalenderdeiktika findet man häufig, wie der folgende Abschnitt zeigt, in älteren Erzähltexten, ζ. B. bei Theodor Fontane.

3.2.4 Kalenderdeiktika bei Theodor Fontane Gezählt wurden Kalenderdeiktika in Fontanes Roman „Irrungen, Wirrungen", der 1888 zum ersten Mal veröffentlicht wurde. In der Reclam-Taschenbuchausgabe umfasst er 136 Textseiten. Die Lektüre von anderen Romanen Fontanes vermittelt den Eindruck, dass die hier feststellbaren Tendenzen auch für jene anderen Werke gelten.

117 Tab. 3.7: Deiktische kalendarische Tadv in „Irrungen, Wirrungen" heute gestern morgen übermorgen vorgestern heutig* gestrig* morgig* Gesamt

Gesamt Erzählung 41 13 1 13 17 2 0 3 0 1 0 76 16

BR 1

FDR

DR 26 12 15

Anmerkung auch heute wieder - 6

% Erzählung 31,7 7,6 11,7

3 1 1

57

21,3

Tab. 3.8: Deiktische kalendarische Tadv in der Erzählung in „Irrungen, Wimingen" ER gesamt

3(18,75%) IR 1 (6,25%)

mit starken internen Indikatoren mit ausschließlich schwachen internen Indikatoren mit externen Indikatoren Erzählerbericht gesamt 12(75%)

+ + +

1 initial im IZ-Bericht 4

+

1 1 Protagonist nur handelnd 8

Lexikalisierte Kalenderdeiktika kommen in dem Roman 16-mal in narrativer Umgebung vor. Davon lassen nur 3 Belege die Interpretation als erlebte Rede zu; zwei davon sind die beiden Vorkommen des posterioren Tadv morgen in der folgenden Textpassage. (3-13) Und so, die Mütze samt Schirm ins Gesicht gezogen, stand er auch heute wieder, am Tage nach dem zwischen Frau Dörr und Frau Nimptsch geführten Zwiegespräche, vor einer an das vordere Treibhaus sich anlehnenden Blumenestrade, verschiedene Goldlack- und Geraniumtöpfe beiseiteschiebend, die morgen mit auf den Wochenmarkt sollten. Bs waren sämtlich solche, die nicht im Topf gezogen, sondern nur eingesetzt waren, und mit einer besonderen Genugtuung und Freude ließ er sie vor sich aufmarschieren, schon im voraus über die »Madams« lachend, die morgen kommen, ihre herkömmlichen fünf Pfennig abhandeln und schließlich doch die Betrogenen sein würden. Es zählte das zu seinen größten Vergnügungen und war eigentlich das Hauptgeistesleben, das er führte. (Fontane, Irrungen, 6) Demgegenüber werden in 8 Fällen nur Handlungen von Protagonisten geschildert und das dabei gebrauchte Kalenderdeiktikon ist heute. Das Tadv scheint den Übergang von einer Schilderung typischer (habitueller) Zustände oder Handlungen zur Erzählung einer partikulären Szene auf der Hauptzeitachse zu markieren. (3-14) Mit einem Mal aber sah die Alte, deren Auge bis dahin immer in derselben Richtung gegangen war, von ihrem Herdfeuer auf und erschrak, als sie der Veränderung in Lenens Gesicht gewahr wurde. „Lene, Kind, was hast du? Lene, wie siehst du nur aus?" Und so schwer beweglich sie sonsten war, heute machte sie sich im Umsehn von ihrer Fußbank los und suchte nach dem Krug, um die noch immer wie halbtot Dasitzende mit Wasser zu besprengen. (Fontane, Irrungen, 87)

118 Auch bei den 4 lexikalisierten Kalenderdeiktika, die in „Irrungen, Wirrungen" in IZBerichten vorkommen, handelt es sich in 3 Fällen um ein heute. Nur in einem Fall ist es das anteriore gestern. (3-15)

Lene nickte, war aber nur halb dabei, denn ihr Interesse galt auch heute wieder dem Wassersteg, freilich nicht den angeketteten Booten, die gestern ihre Passion geweckt hatten, wohl aber einer hübschen Magd, die mitten auf dem Brettergange neben ihrem Küchen- und Kupfergeschirr kniete. (Fontane, Irrungen, 61)

Man vergleiche auch die folgende Stelle: (3-16)

Das Diner war zu sechs Uhr festgesetzt [...] Einige der befreundeten Fabrikbesitzer aus der Köpnicker Straße lösten in ihren Chaisen mit niedergeschlagenem Verdeck die, wie es schien, noch immer sich besinnende Vogelsangsche Droschke rasch und beinahe gewaltsam ab; dann kam Corinna samt ihrem Vetter Marceil Wedderkopp (beide zu Fuß) und schließlich fuhr Johann, der Kommerzienrat Treibeische Kutscher, vor, und dem mit blauem Atlas ausgeschlagenen Landauer - derselbe, darin gestern die Kommerzienrätin ihren Besuch bei Corinna gemacht hatte - entstiegen zwei alte Damen, die von Johann mit ganz besonderem und beinahe überraschlichem Respekt behandelt wurden. (Fontane, Frau Jenny Treibet, 212)

Im Gegensatz zu einigen seiner Zeitgenossen gebraucht Fontane die Technik der erlebten Rede nur selten. Dennoch kommen in seinen Texten lexikalisierte Kalenderdeiktika wie heute, gestern, morgen vor, und zwar meistens im Erzählerbericht ohne irgendwelche Indikatoren der Wiedergabe von Bewusstseinsinhalten der Protagonisten. Insoweit lässt sich die These, dass sie nur in der erlebten Rede mit Präteritum kookkurrieren bzw. endophorisch gebraucht werden können, nicht aufrechterhalten. Darüber hinaus wurde klar, dass zwischen den drei lexikalisierten Kalenderdeiktika selbst deutliche Unterschiede bestehen. Heute scheint die schwächste, morgen die stärkste Affinität zur erlebten Rede zu besitzen. Mit anderen Worten sind mit morgen die meisten Restriktionen bezüglich seiner narrativen Umgebung verbunden: Wie es scheint, muss ein geeigneter Bewusstseinsträger eingeführt sein. Dies lässt sich mit Stanzel (1959:7) dadurch erklären, dass die Verbindung eines Verbums im Praeteritum mit einem zukunftsweisenden Adverb nur bei solchen Ereignissen möglich ist, die Gegenstand oder Inhalt des Planens, des Erwartens, des Wünschens, des Wollens usw. einer Romangestalt sein können, oder, mit anderen Worten, Teil seines Bewußtseinsinhaltes an seinem 'heute' sind. Die oben genannte These muss also wahrscheinlich auf morgen und eventuell andere posteriore Deiktika (in χ Stunden, Tagen, Jahren usw.) eingeschränkt werden. 13 Nicht klar ist 13

Als Gegenbeweis könnte vielleicht der folgende Hörbeleg dienen: „Die Frau eines Emigranten erzählte mir, wie ihr Mann von einem Uhrmacher um seine Taschenuhr betrogen wurde. Er war bedroht, bereitete seine Flucht ins Ausland vor und mußte kurz vorher seine Uhr in Reparatur geben. Der Uhrmacher kannte seine Notlage und verzögerte die Rückgabe unter Vorwänden, vertröstete den nervösen Besitzer von Tag zu Tag und sagte ihm immer: »Morgen wird die Uhr bestimmt da sein«. Die Erzählerin wurde sehr erregt an dieser Stelle, sie erzählte mit Empörung, wie der Uhrmacher immer wieder morgen sagte, auch noch am Abend vor der unaufschiebbaren Flucht. Und sie fügte hinzu: »Aber morgen war es schon zu spät, morgen war er schon weg.«" (Rasch 1961:73). Allerdings scheint hier morgen eher eine ironische Echoäußerung der empörten Sprecherin darzustellen.

119 dabei, warum gestern und andere anteriore Tadv offenbar nicht so stark auf die Wiedergabe von Bewusstseinsinhalten (Erinnerungen) eingeschränkt sind.

3.2.5 Morgen abend ging erst das Schiff: Anaphora oder Versetzungsdeixis? 3.2.5.1 Anaphora In der linguistischen Literatur gibt es keine Einigkeit darüber, ob der endophorische Gebrauch von deiktischen Tadv (insbesondere von Tadv der Gruppe I) der Deixis oder der Anaphora zuzuordnen ist. Die Entscheidung hängt von der jeweils zugrunde liegenden Konzeption der Deixis ab. Eine Möglichkeit besteht darin, dass man - anders als in der vorliegenden Arbeit (vgl. 2.1.6) - den Begriff der Deixis auf exophorische Verwendungen beschränkt und sie den endophorischen Verwendungen, die dann oft mit der Anaphora gleichgesetzt wird, kontrastiv gegenüberstellt. In dieser Sichtweise handelt es sich bei dem uns hier interessierenden Phänomen um einen Spezialfall der Anaphora. So definiert Fillmore (1982:35) Deixis als „uses of items and categories of lexicon and grammar that are controlled by certain details of the interactional situation in which the utterances are produced". Natürliche Sprachen verfügen - so Fillmore weiter - über Klassen von Wörtern und grammatischen Kategorien, deren primäre Funktion darin besteht, ihre Denotate in Relation zu Bestandteilen der aktuellen Sprechsituation zu bestimmen. Diese prototypisch deiktischen Elemente können jedoch auch nichtdeiktisch verwendet werden. Einen „transferred use" in diesem Sinne demonstriert Fillmore (1982:38) am Beispiel des Adverbs ago. Der nichtdeiktische Gebrauch von prototypisch deiktischen Elementen hat nach Fillmore den Effekt von „taking point of view" eines vom faktischen Sprecher verschiedenen Protagonisten, zu dem das deiktische Zentrum verschoben („transferred") wurde (ebd. 35, 38). Für Sitta (1991) stellt die Bezogenheit auf eine ungenannte Origo eine conditio sine qua non des Phänomens Deixis dar. Anaphora liege hingegen vor, „wenn die Referenz eines Ausdrucks nur über den Bezug auf eine explizit genannte Größe herstellbar ist" (Sitta 1991:61 f.). Verwendungen von Tadv mit Bezug auf im Text vorerwähnte Zeiten sind folglich zur Anaphora zu rechnen (vgl. ebd. 9f., 97). Bei den Zeiten, in denen die betreffenden Tadv verankert sind, kann es sich sowohl um adverbial spezifizierte Zeitintervalle (ζ. B. drei Wochen später - heute in (3-17)) als auch um Ereigniszeiten vorerwähnter Situationen handeln (ζ. B. Sie ging zurück zu dem Hauszelt-heute in (3-05)). (3-17) Drei Wochen später war eine Trauung in der Jakobikirche, deren kreuzgangartiger Vorhof auch heute von einer dichten und neugierigen Menschenmenge, meist Arbeiterfrauen, einige mit ihren Kindern auf dem Arm, besetzt war. Aber auch Schul- und Straßenjugend hatte sich eingefunden. Allerlei Kutschen fuhren vor, und gleich aus einer der ersten stieg ein Paar, das, solang es im Gesichtskreise der Anwesenden verblieb, mit Lachen und Getuschel begleitet wurde. (Fontane, Irrungen, 136) Da Sitta (1991) alle endophorischen Vorkommen von deiktischen Tadv zur erlebten Rede bzw. zum inneren Monolog rechnet (vgl. ebd. 92, 98), liegt genau genommen in solchen Fällen, wie in anderen Formen der Redewiedergabe, die sog. Metadeixis vor. Unter Metadeixis versteht er allerdings, in Anlehnimg an Tschauder (1990), eine endophorische Bezie-

120 hung zwischen einem referenzvariablen Ausdruck in der eingebetteten wiedergegebenen Äußerung und einem Antezedens im Rahmentext. Die Metadeixis lässt sich also als ein Spezialfall der Anaphora i. w. S. betrachten (vgl. Sitta 1991:80f.). Auch Fabricius-Hansen (1986) nennt den endophorischen Gebrauch von deiktischen Tadv anaphorisch. Sie vertritt dabei ein relativ weites, auf Arbeiten von Partee (1984) und Hinrichs (1986) zurückgehendes Konzept der temporalen Anaphora (vgl. oben 2.4.3). Demnach besteht eine temporalanaphorische Relation in der Verankerung eines Temporalausdrucks in einem der Zeitintervalle, die durch vorangegangene TemporalausdrUcke in die Diskurswelt eingeführt wurden.14 Der anaphorische Gebrauch von Adverbialen unserer Gruppe I ist allerdings, so Fabricius-Hansen (1986:177f.), auf Fälle beschränkt, in denen die vorerwähnte Bezugszeit des Tadv „als Sprech- oder 'Denkzeit' einer im Kontext erwähnten Person charakterisiert oder wenigstens so auffaßbar" ist. Fabricius-Hansen spricht in solchen Fällen ebenfalls von erlebter Rede oder - in Anlehnung an Kamp/Rohrer (1983:266f.) - von der Einführung einer „Personenperspektive" (vgl. Fabricius-Hansen 1986:93, 134, 178).

3.2.5.2 Versetzungsdeixis Die Zuordnimg des endophorischen Gebrauchs von Tadv der Gruppe I und II zur Deixis geht oft mit der von Bühler (1934) übernommenen Deixiskonzeption einher, der zufolge die Anaphora (das „syntaktische Zeigen") neben der demonstratio ad oculos (dem „sachlichen Zeigen" in einer aktuellen Sprechsituation) und der Deixis am Phantasma (dem Zeigen „im Bereiche der ausgewachsenen Erinnerungen und der konstruktiven Phantasie"; ebd. 123) einen der drei Modi des Zeigens bildet, die die Deixis ausmachen. Der endophorische Gebrauch von deiktischen Tadv wird als ein Fall der Deixis am Phantasma verstanden. So greifen mehrere Autoren den Bühlerschen Begriff der Versetzung auf, die dem zweiten Hauptfall der Deixis am Phantasma zugrunde liegt (vgl. Btlhler 1934:135), und sprechen von der Versetzungsdeixis. Sie besteht, so Rauh (1982/3,1982:32), darin, dass der Sprecher seine reale Origo aufgibt und sich in eine imaginäre Origo versetzt, die dann zum Orientierungszentrum für deiktische Beziehungen wird. In diesem Sinne versetzt sich nach Rauh (1982/3) der reale Verfasser in die Origo eines fiktionalen Erzählers, was den Gebrauch des Vergangenheitstempus Präteritum in fiktionalen Erzählungen ermöglicht (denn nur für den Erzähler sind die geschilderten Ereignisse tatsächlich vergangen). Ferner ist die Versetzung in eine weitere imaginäre Origo, nämlich diejenige der Figur möglich, auf die dann die Temporal- und Lokaladverbiale bezogen werden. Während in einer kanonischen Äußerungssituation der Sprecher (und seine Lokalisierung in Raum und Zeit) die einzige Origo für die verwendeten deiktischen Ausdrücke bildet, können in einem narrativen Text mehrere Origines relativ willkürlich gesetzt werden (Rauh 1982/3; 1982:36). Daher kann es zu einer „Interferenz von Zeigfeldern" kommen

14

Eine ähnliche Auffassung finden wir bei Ehrich (1992). Demgegenüber versteht z. B. Rauh (1978:90-92) unter einer anaphorischen Beziehung ein paradigmatisches und syntagmatisches Substitutionsverhältnis, welches nur zwischen einem Antezedens (z. B. einer temporalen Präpositionalphrase) und einer mit ihm koreferenten Proform (z. B. einem Temporaladverb) bestehen kann (vgl. oben 2.1.6).

121 (Rauh 1978:145), ζ. Β. dann, wenn sich Tempus und Tadv in ein und demselben Satz an zwei verschiedenen Origines orientieren. Auf eine ähnliche Weise wird die endophorische Verwendung deiktischer Tadv von Herbermann (1988:58) und Sennholz (1985:234, vgl. oben 3.2.2) behandelt. 15 Auch Ehrich (1992) zählt alle drei Zeigmodi zur Deixis. Die Anaphora und die imaginative Deixis fasst sie zusätzlich unter dem Begriff der Diskursdeixis zusammen (ebd. 9). Die beiden letztgenannten Modi stehen einander in Ehrichs Konzeption recht nah: Bei beiden wird von der Lokalisierung des aktuellen Sprechers abgesehen und von sekundären, im Diskurs etablierten Origines aus referiert. Während jedoch bei der imaginativen Deixis „der in die Erzählsituation verlegte Standpunkt des Protagonisten eine fiktive Sprechzeit E* abtgibt], die als Bezugspunkt fungiert", spielt bei der Anaphora „allein der Bezug auf die im Diskurs etablierte Antezedenszeit eine Rolle" (ebd. 128). Ehrich gibt aber auch zu, dass die Entscheidung darüber, welcher der beiden Modi vorliegt, in einem konkreten Fall schwierig oder gar unmöglich sein kann, so ζ. B. beim Gebrauch von jetzt in Kombination mit dem Präteritum, das bereits aufgrund seiner Semantik „einer situationsinternen Perspektive Ausdruck gibt" (ebd. 130) (s. auch 3.2.6.3 unten). In der vorliegenden Arbeit wird die Anaphora zwar nicht zur Deixis gerechnet, es wird aber behauptet, dass die beiden Arten der Entvariabilisierung der Bedeutung referenzvariabler Ausdrücke einander nicht ausschließen, sondern gleichzeitig auftreten können. Da der zeitreferenzielle Ausdruck Tempus im Deutschen eine obligatorische Flexionskategorisierung am Verb ist, 16 stellt (fast) jeder Text Antezedensausdrücke bereit, auf die sich Tadv anaphorisch beziehen lassen. Sind im sprachlichen Kontext zusätzlich Indikatoren einer textinternen Origo vorhanden, ist auch von einer Deixis am Phantasma auszugehen.

3.2.6 Temporaladverbiale und Referenzzeitbewegung 3.2.6.1 Posteriore Temporaladverbiale Narrative Texte bestehen aus temporal verbundenen Sätzen: Die Ereigniszeit des Vorgängersatzes etabliert eine Antezedenszeit, auf die sich die Ereigniszeit des jeweiligen nachfolgenden Satzes anaphorisch bezieht (vgl. Ehrich 1992:162). 17 Im Regelfall findet die sog. Referenzzeitbewegung statt: Jede neue Referenzzeit ist relativ zur vorigen nachzeitig. Die entsprechende Satzsequenz bildet den sog. Vordergrund des Textes (vgl. oben 2.4).

15

16 17

Sennholz (1985:7) definiert die Deixis als „eine an bestimmte Ausdrücke gebundene Eigenschaft der Sprache, einen Sachverhalt mit Hilfe einer zweistelligen, gerichteten Relation so zu lokalisieren, dass diese Relation in der Äußerungssituation [...] verankert ist". Während die Anaphora folglich nicht zur Deixis gerechnet wird, bildet die Versetzungsdeixis eine der „Sonderformen der Deixis", bei der, anders als im Regelfall, die Origo nicht mit dem faktischen Äußerungsort, der Äußerungszeit und dem Sprecher zusammenfällt, sondern mit den entsprechenden Gegebenheiten einer von „wenigstens einem der Deixispartner zu imaginierenden Situation" (ebd. 226). Siehe Vater (19943:6) sowie unten 4.1.1. Den Terminus Antezedenszeit benutzt Ehrich (1992) in Anlehnung an die Konzeption der temporalen Anaphora in Partee (1973) und (1984). Fabricius-Hansen (1986, 1991:748) spricht von einer „zeitlichen Verankerung".

122 Der Unterschied zwischen deiktischen und anaphorischen Tadv besteht vermutlich in der Art und Weise, wie sie zur referenziellen Bewegung in narrativen Texten beitragen. Am deutlichsten ist er bei posterioren Ausdrücken. Man beachte die folgenden Satzfolgen (3-18) und (3-19).'8 (3-18) Am Donnerstag packte Hans seinen Koffer (el). Am nächsten Tag fuhr er nach Paris (e2). Drei Tage darauf flog er nach Tokio (e3). Er war froh (e4). (3-19) Am Donnerstag packte Hans seinen Koffer (el). Morgen fuhr er nach Paris (e2). In drei Tagen flog er nach Tokio (e3). Er war froh (e4).

Die anaphorischen Tadv am nächsten Tag und drei Tage darauf in (3-18) nehmen die jeweils letzte vorerwähnte Zeit als ihre Antezedenszeit an. Die aktuelle Referenzzeit verschiebt sich dabei jeweils um einen bzw. um drei Tage. Der dritte Satz von (3-18) ist wahr, wenn zwischen El und E3 insgesamt vier Tage liegen, also wenn Hans am Montag nach Tokio fliegt. Auch am Montag, bei seinem Flug, muss Hans froh sein, d. h. die Ereigniszeit E4 (des Zustandes e4) überlappt mit der Referenzzeit, die durch die Ereigniszeit E3 gesetzt ist (Abb. 3.2). Abb. 3.2: Zeitliche Lokalisierung durch posteriore anaphorische Tadv 3 Tage

', ' » El Do. '

^ '>

i E2

\

E4

*

E3

am nächsten Tag

Anders verhält es sich in (3-19): Hier scheinen die beiden durch morgen und in drei Tagen denotierten Zeitintervalle im Donnerstag-Intervall (bzw. in der Ereigniszeit El) verankert zu sein. Es besteht folglich keine temporale Verknüpfung zwischen den Situationen e2 und e3. Der dritte Satz ist wahr, wenn Hans' Flug nach Tokio am Sonntag stattfindet (bzw. beginnt). Anders als in (3-18) wird die Referenzzeit auf der Hauptzeitachse nicht verschoben, sondern sie ist am Ende des Textes immer noch durch El (die Zeit des Kofferpackens) gegeben. Mit dieser Zeit fällt E4 (die Zeit, zu der Hans froh ist) zusammen (Abb. 3.3).

18

In Anlehnung an Ehrich (1992) benutze ich im Folgenden den kleinen Buchstaben e als Variable für Situationen (sowohl Ereignisse als auch Zustände, Prozesse und Aktivitäten, vgl. unten 4.1.2) und den großen Buchstaben E ('Ereigniszeit') für ihre jeweiligen Lokalisierungen auf der Zeitachse.

123 Abb. 3.3: Zeit] iche Lokalisierung durch posteriore deiktische Tadv E4

/ Do.

1

\

El 1

'

1

E2 •1

morgen h *

1 3 Tage

L

1

E3 > 1 • 1

*

In (3-20) folgt das anaphorische Tadv drei Tage später auf das deiktische morgen. Hier scheint die Interpretation, der zufolge der Flug nach Tokio am Montag stattfindet, d. h. das Denotat von morgen (bzw. die Ereigniszeit E3) als die Bezugszeit (Antezedenszeit) des anaphorischen drei Tage später fungiert (Abb. 3.4), zumindest möglich zu sein. (3-20) Am Donnerstag packte Hans seinen Koffer (el ). Morgen fuhr er nach Paris (e2). Drei Tage später flog er nach Tokio (e3). Er war froh (e4). Abb. 3.4: Zeitliche Lokalisierung durch morgen und drei Tage später (I Interpretation) El

E4

Do.

E2 morgen^

3 Tage

E3 4 -

/

Nicht ausgeschlossen ist aber auch die Verankerung des Tadv drei Tage später im Donnerstag-Intervall (bzw. in der Ereigniszeit El). In diesem Fall gehört E3 zur Hauptzeitachse (Abb. 3.5). Abb. 3.5: Zeitliche Lokalisierung durch morgen und drei Tage später (II Interpretation) E4

\

El

3 Tage

E3

E2

Do. morgeft

Die Beispiele erlauben folgende Schlüsse im Hinblick auf das Verhalten des posterioren Kalenderdeiktikons morgen:

124 1. Morgen verhindert die Lokalisierung der beschriebenen Situation auf der Hauptzeitachse. 2. Die Ereigniszeit einer durch morgen modifizierten Situation kann den Anfang einer sekundären Zeitachse bilden. Beides hat eine Analogie im Verhalten von Futurtempora (vgl. Kamp/Rohrer 1983:264). 1 9

3.2.6.2 Anteriore Temporaladverbiale Ähnlich verhalten sich anteriore Tadv. Da in den folgenden Beispielen (vgl. Ehrich 1992:129) die jeweils drei ersten Sätze nicht chronologisch im Sinne des ikonischen Prinzips geordnet sind, kann keine sekundäre Zeitachse etabliert werden (vgl. 2.4.3). (3-21)

Am Donnerstag kam Hans in Köln an (el). Am Tag vorher war er aus Singapur abgeflogen (e2). Drei Tage davor hatte er das Flugzeug in Shanghai bestiegen (e3). Er war froh (e4).

Abb. 3.6: Zeitliche Lokalisierung durch anteriore anaphorische Tadv

_ 1

•E2

El ,1

» Do.

• E4...

E3 î

(3-22)

19

3 Tage '

Tag vorher

1

Am Donnerstag kam Hans in Köln an (el). Gestern war er aus Singapur abgeflogen (e2). Vor drei Tagen hatte er das Flugzeug in Shanghai bestiegen (e3). Er war froh (e4).

Als ein Argument für die Unterscheidung der Modi Anaphora und imaginative Deixis führt Ehrich (1992:130) den Umstand an, dass sich deiktische Tadv, im Gegensatz zu den anaphorischen (Gruppe III), nicht in einer relativ zur aktuellen Sprechzeit zukünftigen Antezedenszeit verankern lassen. Mit anderen Worten kann kein „Standpunkt des Protagonisten" in der Zukunft etabliert werden. Vgl. Am nächsten Donnerstag trifft sich Hans mit seiner Freundin. Vorher (*vorhin) geht erzürn Friseur (Ehrich 1992:130). Dazu muss angemerkt werden, dass das Präsens hier einen Zukunftsbezug hat, der durch das Tadv am nächsten Donnerstag (soweit es äußerungszeitrelativ gebraucht wird) zustande kommt. Ein geeigneter „Zwischentext" lässt allerdings den Zukunftsbezug „vergessen", so dass das Präsens wie ein Erzähltempus wirkt und die zeitliche Inkohärenz nicht gleich auffällt. Es scheint jedoch, dass die Vorzeitigkeit relativ zu einem neuen „Zeitpunkt des Protagonisten" zusätzlich durch das Tempus (hier: das Perfekt) signalisiert werden muss (vgl. (3-21)-(3-22)). (iii-ii) Am nächsten Donnerstag trifft sich Hans mit seiner Freundin. Er freut sich riesig auf den Tag. Er nimmt sich schon um drei Uhr frei, um die vereinbarte Uhrzeit nicht zu versäumen. Natürlich ist er mehr als eine halbe Stunde zu früh vor dem Café. Er streicht sich unsicher über seinen Hinterkopf. Vorhin ist er noch zum Friseur gegangen.

125 Anders als in (3-21) oben scheinen in (3-22) sowohl El als auch E3 eine geeignete Antezedenszeit für den letzten Satz darzustellen. Fällt E4 mit der Ereigniszeit E3 zusammen, kann der Zustand des Frohseins (e4) als Erinnerungsinhalt (von Hans) aufgefasst werden, genauso wie die Situationen e2 und e3. Abb. 3.7: Zeitliche Lokalisierung durch anteriore deiktische Tadv i E2 E4

E3

c 3 Tage

El Do. gestern

3.2.6.3 Simultane Temporaladverbiale Kamp/Rohrer (1983:264) stellen hinsichtlich der simultanen Temporaladverbiale Folgendes fest: the difference between dans deux heures and deux heures après is paralleled by that between the adverb maintenant and à ce moment-ci. Anders als im Falle der posterioren und anterioren Tadv lässt sich dieser Unterschied bei den simultanen Tadv jedoch nicht auf verschiedene Verankerungseigenschaften zurückführen: Sowohl maintenant als auch à ce moment-ci referieren im Text auf Zeitintervalle, die mit einer vorerwähnten Referenzzeit (zumindest teilweise) Uberlappen. Um die beiden Typen zu unterscheiden, führen Kamp und Rohrer den Begriff der temporalen Perspektive ein. Modes of verbal presentation may differ in respect of the perspective from which they present the information they provide. The perspective may be either from the point of speech or from a temporal reference point that has been established by antecedent discourse, (ebd. 268) Die Bindung der Perspektive an einen im Diskurs etablierten Referenzpunkt reiche jedoch, so Kamp/Rohrer (1983), zur Erklärung des endophorischen Gebrauchs von Kalenderdeiktika wie hier, demain und aujourd'hui nicht aus. Sie signalisieren jedesmal das Vorliegen der Personenperspektive {personal perspective), d. h. einer Wiedergabe von Bewusstseinsinhalten eines Protagonisten (also der erlebten Rede). Kamp/Rohrer (1983) lassen freilich in der Rolle des Protagonisten neben partikulären Figuren auch Konstrukte wie „common conscience" von mehreren Personen oder gar einen anonymen Beobachter zu, „whom one imagines to have been on the scene and subject to the same epistemological limitations as the characters he is supposed to have been watching" (ebd. 268).

126 Das Konzept des anonymen Beobachters bei Kamp/Rohrer (1983) ist fast identisch mit demjenigen des personalisierten Erzählers bei Stanzel (1995 6 :253-8). 20 Die Tatsache, dass derartige Konzepte nötig sind, um Fälle zu erklären, in denen der Kontext keinen (eindeutigen) Bewusstseinsträger samt seiner „Denkzeit" bereitstellt, zeigt, dass die Grenze zwischen der bloß an einer Antezedenszeit festgemachten Perspektive einerseits und der Personenperspektive andererseits unscharf ist. Nach Ehrich (1992:130) können die beiden Perspektiven filr das endophorisch gebrauchte jetzt nicht sinnvoll unterschieden werden.21 Analoges scheint, vor allem in älteren Texten, für heute zu gelten. Insbesondere in (3-12), (3-14) und (3-17) kann nur unter Zuhilfenahme des Beobachterkonstrukts von einer Personenperepektive die Rede sein. Man beachte auch die beiden folgenden Belege, in denen jetzt bzw. heute in keiner vorerwähnten Zeit verankert sind, sondern vielmehr in Sätzen auftreten, die eine neue Referenzzeit mittels einer absoluten Zeitangabe etablieren. (3-23) Die Verhaftung Hradschecks erfolgte zehn Tage vor Weihnachten. Jetzt war Mitte Januar, aber die Ktlstriner Untersuchung rückte nicht von der Stelle [...] (Fontane, Unterm Birnbaum, zit. in Vuillaume 1996:217) (3-24) [Absatzanfang] Das war im Mai, daß der alte Stechlin diese Worte zu seinem Freunde Kortschädel gesprochen hatte. Heute aber war dritter Oktober, und ein wundervoller Herbsttag dazu. Dubslav, sonst empfindlich gegen Zug, hatte die Türen aufmachen lassen, und von dem großen Portal her zog ein erquicklicher Luftstrom bis auf die mit weißen und schwarzen Fliesen gedeckte Veranda hinaus. (Fontane, Stechlin, 579)

3.2.7 Zum Polnischen 3.2.7.1

Kalenderdeiktika

Die folgenden Tabellen zeigen die Distribution von Kalenderdeiktika in den Romanen Musierowicz (1998), Dolçga-Mostowicz (1998; 19391) und D^browska 1996; 19311).

20

21

Eine nicht unwesentliche Rolle spielt ein ähnlicher Beobachterbegriff in der Deixistheorie von Apresjan ( 1986 u. ö.) sowie, in seiner Nachfolge, in der „Erzählsemantik" von PaduCeva ( 1996). „Allein bei den SIM- [simultanen, A. S.] Adverbien in Kombination mit dem Präteritum fallen die imaginative und die anaphorische Deixis zusammen. Für die 'erzählte Gegenwart* verschwimmt die Grenze zwischen der Protagonisten- und der Erzählerperspektive. Das ist aus dem Wechselspiel zwischen Tempus und Adverbien zu erklären: Das Präteritum gibt - da es die Referenzzeit grundsätzlich mit der Ereigniszeit assoziiert - als solches schon einer situationsinternen Perspektive Ausdruck. Temporaladverbien modifizieren in Kombination mit dem Präteritum die mit der jeweiligen Themasituation verknüpfte Referenzzeit und heben damit die Trennung zwischen der erzählten und der aktuellen Rede auf." (Ehrich 1992:130)

127

Tab.3.9: Deiktische kalendarische Tadv in Musierowicz (1998)

dzis/dzisiaj 'heute' wczoraj 'gestern' jutro 'morgen' pojutrze 'übermorgen' przedwczoraj 'vorgestern' dzisiejsz* 'heutig*' wczorajsz* 'gestrig*' jutrzejsz* 'morgig*' Gesamt

Gesamt 22 15 8

Erzählung 13 11 2

FDR

DR 6 4 6

Anderes 3 'heutzutage'

% Erzählung 71,4 75,0 25,0 0,0 0,0

1 'heutzutage'

0,0 0,0 0,0 62,5

1

1 1 1

1

48

27

4

17

Tab. 3.10: Deiktische kalendarische Tadv in der Erzählung in Musierowicz (1998) ER gesamt

20 (74%) IR 4 (14,8%)

+

+

mit starken internen Indikatoren mit ausschließlich schwachen internen Indikatoren mit externen Indikatoren

+

+



+ 1 5 Protagonist nur handelnd 2 -

10(37%) Erzählerbericht gesamt 3(11,2%)

-

+

IZ-Bericht 1

+ 4

Tab. 3.11: Deiktische kalendarische Tadv in Dolçga-Mostowicz (1998)

dzis/dzisiaj 'heute' wczoraj 'gestern' jutro 'morgen' pojutrze 'übermorgen' przedwczoraj 'vorgestern' dzisiejsz* 'heutig*' wczorajsz* 'gestrig*' jutrzejsz* 'morgig*' Gesamt

Gesamt 67 12 45 2 1

Erzählung 8 4 2

FDR

DR 58 8 43 2 1

13 5

3 4

10 1

145

21

123

Anderes 1 'heutzutage'

% Erzählung 11,9 33,3 4,4 0,0 0,0 23,1 80,0 0,0 14,5

1

Tab. 3.12: Deiktische kalendarische Tadv in der Erzählung in Dolçga-Mostowicz (1998) ER gesamt

13(61,9%) IR 5 (23,8%)

mit starken internen Indikatoren mit ausschließlich schwachen internen Indikatoren mit externen Indikatoren Erzählerbericht gesamt 3 (14,3%)

IZ-Bericht

+

+



+ + 1

+

+ 1 3 Protagonist nur handelnd 3

-

-

+ 8

128 Tab. 3.13: Deiktische kalendarische Tadv in D^browska (1996) dzis/dzisiaj 'heute' wczoraj 'gestern' jutro 'morgen' pojutrze 'übermorgen' przedwczoraj 'vorgestern' dzisiejsz* 'heutig*' wczorajsz* 'gestrig*' jutrzejsz* 'morgig*' Gesamt

Gesamt 38 12 28 11

Erzählung 11 4 7 2

FDR

DR Anderes 25 2 'heutzutage' 8 19 2'Zukunft' 9

7

1

6

1 97

1 26

67

% Erzählung 28,9 33,3 26,9 18,2 0,0 14,3 0,0 100,0 27,4

4

Tab. 3.14: Deiktische kalendarische Tadv in der Erzählung in D^browska (1996) ER gesamt

16(61,5%) IR 5 (19,2%)

+ starke interne Indikatoren ausschließlich schwache interne Indikatoren + externe Indikatoren 4 Erzählerbericht gesamt IZ-Bericht 5 (19,2%) 4

+

-

-

+

+

-

+

-

+

1 11 Protagonist nur handelnd 1

Wie im Deutschen ist der endophorische Gebrauch von Kalenderdeiktika keineswegs auf die erlebte Rede beschränkt. In 11,1% (in Musierowicz 1998), 14,3% (in DoiçgaMostowicz 1998) bzw. gar 19,2% der Fälle (in D^browska 1996) treten sie im Erzählerbericht auf. Die Daten enthalten insgesamt 6 Belege für Kalenderdeiktika in Kontexten, in denen nur Handlungen von Protagonisten geschildert werden. In 3 davon handelt es sich bei dem Deiktikon um das Adjektiv wczorajszy 'gestrig' (vgl. (3-25)). (3-25) Wczeánie ániadano w mfynie Prokopa Mielnika. Mieszkali tu ludzie pracy, a wiadomo, ze do pracy sil trzeba, których znik^d, jak tylko ze strawy, nie weimiesz. Totei zanim jeszcze mlody Witalis poszedl podnieáé zastawç, a stary Prokop obudzil syna, baby, postçkuj^c i drapi^c siç po odle¿atych bokach, ziewaj^c i siqkaj^c nosami, krz^taly siç przy wielkim piecu. Zonia rozdmuchiwala wczorajsze wçgle, [...]. (Dolçga-Mostowicz 1998:128) Man frühstückte früh in der Mühle von Prokop Mielnik. Ihre Bewohner arbeiteten schwer, und die Kraft zum Arbeiten kommt ja nur vom Essen. Deshalb, noch bevor Witalis den Bock hob, und der alte Prokop seinen Sohn weckte, machten sich die Weiber, stöhnend, gähnend, sich kratzend und schnäuzend, am Herd zu schaffen. Zonia pustete auf die Kohlen von gestern, [...] [Übersetzung A. S.] In Musierowicz (1998) kommen Kalenderdeiktika meistens in Passagen der erlebten Rede vor, die sowohl durch externe als auch durch starke interne Indikatoren gekennzeichnet sind (vgl. (3-26)). In den beiden Romanen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, D^browska (1996, 19311) und Dolçga-Mostowicz (1998, 19391), treten Kalenderdeiktika am zahlreichsten in Kontexten, die nur durch externe Indikatoren als erlebte Rede gekennzeichnet sind, oder in Berichten über innere Zustände, z. B. Wahrnehmungen auf (vgl. (3-27)).

129

(3-26)

- Nie wiem... - wyznata bezradnie, spodziewaj^c siç najgorszego i czuj^c, ie pan Jankowiak ju2 uznal za osobç niepowa¿n% wyrodn^ matkç i w ogóle monstrum A takja mile wczoraj pochwalii za wychowanie dzieci! Rzucila rozpaczliwe spojrzenie na Pyzç i Tygiyska. (Musierowicz 1998:85) „Ich weiß nicht", gab sie ratlos zu. Sie ahnte Schlimmes und filhlte, dass Herr Jankowiak sie bereits für eine unseriöse Person, eine Rabenmutter, ein Monstrum hielt. Und gestern hatte er doch noch ihre Kindererziehung so nett gelobt! Sie warf Pyza und Tygrysek einen verzweifelten Blick zu. [Übersetzung A.S]

(3-27)

Pani Barbara [...] [z]budzila sie o pi^tej, wstala i wyszla przed ganek, zeby siç upewnió co do tego, ¿e jest w istocie pi^ta i te nie przespali owego aktu u rejenta. Wiatr usta! ju2 zupetnie, kolo domu panowala cisza peina szczebiotu ptaków. Daleko za ogrodem pomrukiwaly opieszale ostatnie grzmoty. Pachnialo deszczem i piorunami. Pod rynn^ swiergotala woda kapi^ca wciai jeszcze do podstawionej wczoraj wieczorem balii. Mokra zielen chlodzila oczy. Krzaki, stoj^ce w smudze sloñca, iskrzyly siç gdzieniegdzie. (D^browska 1996:430) Um fünf Uhr erwachte sie [Frau Barbara], stand auf und ging vors Haus, um sich zu vergewissern, daß es wirklich fünf Uhr war und daß sie die Unterzeichnung beim Notar nicht verschlafen hatten. Der Wind hatte sich schon völlig gelegt, um das Haus herrschte Stille, voll Vogelgezwitscher. Weit hinter dem Garten grollten träge die letzten Donner. Es roch nach Regen und Gewitter. Unter der Dachrinne klang das feine Plätschern des Wassers, das immer noch in das gestern daruntergestellte Waschfaß tropfte. Die in einem Sonnenstreifen stehenden Sträucher funkelten da und dort auf. (Dombrowska/Übs. Lasinski 1974:399)

Die folgende Textstelle zeigt, dass Kalenderdeiktika auch innerhalb einer Erzählung über sich wiederholende Ereignisse gebraucht werden können: jutro ' m o r g e n ' bezeichnet hier den jeweils nächsten Tag, an dem Agnieszka unterrichtet wird. Die Iterativität wird durch die Adverbien zwykle 'gewöhnlich' und zawsze 'immer' sowie durch den imperfektiven Aspekt des Verbs wstawac 'sich erheben' ausgedrückt. 2 2 (3-28)

Panna Celina siedziala zwykle przez cal^ lekcjç nieprzenikniona, zarysowuj^c kreskami i kóleczkami skrawek papieru, i Agnisia miala zawsze uczucie, 2e jej w tym zajçciu przeszkadza. [...] - Otwórz dyktando. No, dobrze. - No, wiçc dalej. Dok^d bylo na dzisiaj? - oto byly jedyne rzeczy, które moina bylo od niej przy lekcji uslyszeó. A po paru godzinach tej nudy - ostatni znak paznokciem, do jakiego miejsca nauczyé siç na jutro, i obie wstawaly. (D^browska 1996:300f.) Fräulein Celina saß gewöhnlich während der ganzen Stunde mit undurchdringlichem Gesicht da und zeichnete auf einem Streifen Papier Striche und Kreise, und Agnieszka hatte immer das Gefühl, sie dabei zu stören. [...] „Mach das Diktatheft auf! Na, gut! Na, also weiter! Bis wohin war heute auf!" Das waren die einzigen Dinge, die man während der Stunde von ihr zu hören bekam. Nach ein paar Vormittagsstunden solcher Langeweile das mit dem Daumen eingedrückte Zeichen, bis zu welcher Stelle für morgen gelernt werden sollte, und beide erhoben sich. (Dombrowska/Übs. Lasinski 1974:276)

22

Zur Relation zwischen Imperfektivität und Iterativität im Polnischen siehe unten 5.1.4.

130 3.2.7.2 Teraz 'jetzt' Die folgenden Tabellen zeigen die Distribution des Tadv teraz 'jetzt' im 1998 erschienenen Jugendroman „Dziecko pi^tku" (,Das Freitagskind') von M. Musierowicz. Tab. 3.15: Teraz 'jetzt' in Musierowicz (1998) teraz

Gesamt 116

Erzählung

83

°/ύ Erzählung 74,5

DR 33

Tab. 3.16: Teraz 'jetzt' in der Erzählung in Musierowicz (1998) ER gesamt

mit starken internen Indikatoren mit ausschließlich schwachen internen Indikatoren mit externen Indikatoren

51 (62,8%) IR Erzählerbericht gesamt 6 (7,3%) 26(31,7%)

+ +



+





-

+

— + + + 4 15 19 (23,2%) 11 2 IZ-Bericht mit IZ-Bericht Protagonist nur handelnd oder anschließender ER nicht eingeführt 10 8 8

Aus den Tabellen 3.10 und 3.16 ist ersichtlich, dass teraz mehr als doppelt so oft wie Kalenderdeiktika im Erzählerbericht auftritt (31,7% gegenüber 11,1%). Während die Kalenderdeiktika in 37% der Fälle in einer durch externe und starke interne Indikatoren gekennzeichneten erlebten Rede vorkommen, beträgt der entsprechende Anteil für teraz 23,2%. Auch im Polnischen zeigen also Kalenderdeiktika eine etwas stärkere Affinität zur erlebten Rede als das Tadv teraz. Wie bereits oben in 1.3.2.6 gezeigt, ist filr die erlebte Rede im Polnischen charakteristisch, dass sie oft durch den Wechsel vom Präteritum zum Präsens indiziert wird (vgl. Kapitel 5). So weist der Übergang zum Präsens in (3-29) die folgende Passage als eine Wiedergabe von Gedanken des vorher eingeführten Protagonisten aus. Teraz bezeichnet ein Zeitintervall, das mit seiner Denkzeit überlappt. (3-29)

Osuszyl twaiz, wtari w skôrç wodç koloñsk^„Praemyslawka" - [...] Teraz abtrockn:PF:PRT:3SG:M Gesicht einreib:PF:PRT:3SG:M in Haut RasierwasserF „Przanysiawka" jetzt juz nie moina jej dostac, widocznie fabryka splajtowala schon nicht könn:IPF:PRS:3SG sie bekomm:INF:PF anscheinend Fabrik Pleite_mach:PF:PRT:3SG:F albo wykupii jq kapital zagraniczny. Ha, pewnie sobie myslq, oder aufkauf:PF:PRT:3SG:M sie Auslandskapital ha sicher sich:DAT denk:IPF:PRS:3PL ze on bçdzie wyrzucac pieniqdze na kosmetyki Adidasa... dass er hinausschmeiß:IPF:FUT:3SG Geld für Kosmetika Adidas:GEN (Musierowicz 1998:56) Er [Jankowiak] trocknete sein Gesicht ab, rieb es mit dem Rasierwasser „Przemyslawka" ein - noch aus alten Vorräten. Jetzt gibt 's das nicht mehr zu kaufen, die Fabrik ist anscheinend pleite oder vom ausländischen Kapital aufgekauft. Ha, die glauben wohl, er würde sein Geld für Kosmetika von Adidas hinausschmeissen ... [Übersetzung A. S.]

131 3.2.7.3 Temporaladverbiale und Referenzzeitbewegung Auch im Polnischen verhindern deiktische posteriore Tadv die Verschiebung der aktuellen Referenzzeit, wie in Abb. 3.3 dargestellt. Zu berücksichtigen ist dabei das Zusammenspiel von Adverbial- und Aspektsemantik. Posteriore Kalenderdeiktika können mit dem imperfektiven Präteritum, nicht aber mit dem perfektiven Präteritum kookkurrieren. Offenbar lässt sich die Verbindung aus Vergangenheitsbedeutung des Präteritums und Ganzheitlichkeitsbedeutung des perfektiven Aspekts (vgl. 5.1.2) nicht mit dem Vorschaueffekt der Deiktika vereinbaren. (3-30)

W czwartek Jan (s)pakowal walizkç. Jutro jechal do ParyZa. Am Do. J. pack:I(PF):PRT:3SG:M Koffer. Morgen fahr:IPF:PRT:3SG:M nach Paris. Za trzy dni lecial do Tokio. Cieszyt siç. In drei Tagen flieg:IPF:PRT:3SG:M nach Tokio. Freu:IPF:PRT:3SG:M sich.

(3-31)

W czwartek Jan (s)pakowaf walizkç. Jutro *pojechal do Paryia. Am Do. J. pack:I(PF):PRT:3SG:M Koffer. Morgen fahr:PF:PRT:3SG:M nach Paris. Za trzy dni *polecial do Tokio. Cieszyt siç. In drei Tagen flieg:PF:PRT:3SG:M nach Tokio. Freu:IPF:PRT:3SG:M sich. 'Am Donnerstag packte Hans seinen Koffer. Morgen führ er nach Paris. In drei Tagen flog er nach Tokio. Er war froh.'

Ein Übergang vom Präteritum des einleitenden Satzes zum Präsens in den Sätzen mit den beiden Kalenderdeiktika stellt einen weiteren Indikator der erlebten Rede dar. Kalenderdeiktika sind sowohl mit dem imperfektiven als auch mit dem perfektiven Präsens kombinierbar. (3-32)

W czwartek Jan (s)pakowai walizkç. Jutro jedzie do ParyZa. Am Do. J. pack:I(PF):PRT:3SG:M Koffer. Morgen fahr:IPF:PRS:3SG nach Paris. Za trzy dni leci do Tokio. Cieszyt siç. In drei Tagen flieg:IPF:PRS:3SG nach Tokio Freu:IPF:PRT:3SG:M sich.

(3-33)

W czwartek Jan (s)pakowal walizkç. Jutro pojedzie do ParyZa. Am Do. J. pack:I(PF):PRT:3SG:M Koffer. Morgen fahr:PF:PRS:3SG nach Paris. Za trzy dni poleci do Tokio. Cieszyt siç. [Übersetzung s. oben] In drei Tagen flieg:PF:PRS:3SG nach Tokio. Freu:IPF:PRT:3SG:M sich.

Anaphorische posteriore Tadv können ohne weiteres sowohl mit dem imperfektiven als auch mit dem perfektiven Präteritum kookkurrieren ((3-34), (3-35)). Die aktuelle Referenzzeit des Textes wird dabei zu dem durch das jeweilige anteriore Tadv bezeichneten Zeitintervall verschoben (Abb. 3.2). Der aspektuelle Unterschied lässt sich als Berücksichtigung vs. Nicht-Berücksichtigung der Grenzen der adverbial lokalisierten Situationen auffassen. (3-34)

W czwartek Jan (s)pakowal walizkç. Nastçpnego dnia Am Do. J. pack:I(PF):PRT:3SG:M Koffer. Am nächsten Tag. jechal do Paryia. Trzy dni póiniej lecial do Tokio. fahr:IPF:PRT:3SG:M nach P. Drei Tage später flieg:IPF:PRT:3SG:M nach Tokio. Cieszyt siç. Freu:IPF:PRT:3SG:M sich.

132 (3-35) W czwartek Jan (s)pakowat walizkç. Nastçpnego dnia Am Do. J. pack:I(PF):PRT:3SG:M Koffer. Am nächsten Tag. pojechal do Paryza. Trzy dni póíniej polecial do Tokio. fahr:PF:PRT:3SG:M nach P. Drei Tage später flieg:PF:PRT:3SG:M nach Tokio. Cieszyl siç. Freu:IPF:PRT:3SG:M sich. ,Am Donnerstag packte Hans seinen Koffer. Am nächsten Tag fiihr er nach Paris. Drei Tage später flog er nach Tokio. Er war froh.' Kookkurrieren posteriore anaphorische Tadv mit dem imperfektiven Präsens und treten im Kontext keine weiteren Indikatoren der Bewusstseinsträgerperspektive auf, so liegt es nahe, die ganze Passage als ein praesens historicum aufzufassen. Auch im letzten Satz wäre dann das Präsens zu erwarten (Cieszy siç. 'Er freut sich.'), da Jans Freude mit seinem Flug nach Tokio gleichzeitig ist. (3-36) W czwartek Jan (s)pakowal walizkç. Nastçpnego dnia Am Do. J. pack:I(PF):PRT:3SG:M Koffer. Am nächsten Tag. jedzie do Pary¿a. Trzy dni póiniej leci do Tokio. fahr:IPF:PRS:3SG nach P. Drei Tage später flieg:IPF:PRS:3SG nach Tokio. Cieszy siç. Freu:IPF:PRS:3SG sich. Das perfektive Präsens hat dagegen meistens auch ohne posteriore deiktische Kontextelemente Zukunftsbezug (vgl. 5.3.4.2). Wie das historische Futur (vgl. 1.3.2.6) erzeugt es den Vorschaueffekt, ohne dass erlebte Rede vorliegen muss. (3-37) W czwartek Jan (s)pakowal walizkç. Nastçpnego dnia Am Donnerstag Jan pack:I(PF):PRT:3SG:M Koffer. Am nächsten Tag. pojedzie do Paryfca. Trzy dni pózniej poleci do Tokio. fahr:PF:PRS:3SG nach Paris. Drei Tage später flieg:PF:PRTS:3SG nach Tokio. Cieszyl siç. Freu:IPF:PRT:3SG:M sich. 'Am Donnerstag packte Hans seinen Koffer. Am nächsten Tag wird er nach Paris fahren. Drei Tage später wird er nach Tokio fliegen. Er war froh.' In (3-38) ist m. E. die in Abb. 3.4 dargestellte Interpretation möglich, d. h. das posteriore anaphorische Tadv trzy dni pózniej 'drei Tage später' ist im Denotat des Tadv jutro 'morgen' verankert. Eine Interpretation wie in Abb. 3.5 entsteht beim Tempuswechsel ((3-39)). Der präsentische Satz mit dem Kalenderdeiktikon jutro wird dann als Jans erlebte Rede empfunden; der präteritale Satz mit dem anaphorischen Tadv trzy dni pózniej als Fortsetzung des Vordergrunds des Erzählerberichtes. (3-38) W czwartek Jan (s)pakowal walizkç. Am Donnerstag Jan pack:I(PF):PRT:3SG:M Koffer. Jutro jedzie/pojedzie/jechal do Paryia. Morgen fahr:IPF:PRS/PF:PRS/IPF:PRT:3SG:M nach Paris.

133

Trzy dni póíniej leci/poleci/leciai do Tokio. 3 Tage später flieg:IPF:PRS/PF:PRS/IPF:PRT:3SG:M nach Tokio. Cieszyl siç. Freu:IPF:PRT:3SG:M sich. (3-39)

W czwartek Jan (s)pakowal walizkç. Am Donnerstag Jan pack:I(PF):PRT:3SG:M Koffer. Jutro jedzie/pojedzie do Paryia. Morgen fahr.IPF:PRS/PF:PRS:3SG nach Paris. Trzy dni póiniej lecial/polecial do Tokio. 3 Tage später flieg:IPF:PRT/PF:PRT:3SG:M nach Tokio. Cieszyl siç. Freu:IPF:PRT:3SG:M sich. 'Am Donnerstag packte Hans seinen Koffer. Morgen fuhr er nach Paris. Drei Tage später flog er nach Tokio. Er war froh.'

Anteriore polnische Tadv verhalten sich wie deutsche. In (3-40) liefert (wie in (3-21)) das Tadv w czwartek 'am Donnertag' die Antezedenszeit für das Tadv dzien wczesniej 'einen Tag vorher', das wiederum die Antezedenszeit für trzy dni przedtem 'drei Tage davor' vorgibt. Es liegt die in Abb. 3.6 dargestellte Konstellation vor. (3-40)

W czwartek Jan przyleciai do Kolonii. Poprzedniego dnia Am Donnerstag Jan ankomm:PF:PRT:3SG:M in Köln. Am Tag vorher odleciat/odlatywat abflieg:PF:PRT/IPF:PRT:3SG:M

ζ Singapuru. Trzy dni przedtem aus Singapur. Drei Tage davor

wsiadl/wsiadal do samolotu w Szanghaju. Cieszyl siç. einsteig:PF:PRT/IPF:PRT:3SG:M in Flugzeug in S. Freu:IPF:PRT:3SG:M sich. 'Am Donnerstag kam Hans in Köln an. Am Tag vorher war er aus Singapur abgeflogen. Drei Tage davor hatte er das Flugzeug in Shanghai bestiegen. Er war froh.' In (3-41) sind (wie in (3-22)) die Deiktika wczoraj 'gestern' und przed trzema dniami 'vor drei Tagen' in der durch w czwartek 'am Donnerstag' bezeichneten Zeit verankert (vgl. Abb. 3.7). (3-41 ) W czwartek Jan przyleciai do Kolonii. Wczoraj Am Donnerstag Jan ankomm:PF:PRT:3SG:M in Köln. Gestern odlecial/odlatywal ζ Singapuru. Przed trzema dniami abflieg:PF:PRT/IPF:PRT:3SG:M aus Singapur. Vor drei Tagen wsiadt/wsiadal do samolotu w Szanghaju. Cieszyl siç. einsteig:PF:PRT/IPF:PRT:3SG:M in Flugzeug in S. Freu:IPF:PRT:3SG:M sich. 'Am Donnerstag kam Hans in Köln an. Am Tag vorher war er aus Singapur abgeflogen. Vor drei Tagen hatte er das Flugzeug in Shanghai bestiegen. Er war froh.' In der polnischen Erzählprosa des 19. Jahrhunderts wird das simultane kalendarische Tadv dzis 'heute' nicht selten ohne weitere Indikatoren der Protagonistenperspektive gebraucht. Im folgenden Beispiel aus einem 1887 veröffentlichten Roman signalisiert der Satz a nie

134

znac bylo na niej strudzenia 'doch Müdigkeit war ihr nicht anzusehen' die Perspektive eines von der Protagonistin (Marta Korczyñska) verschiedenen Beobachters. (3-42) W jadalnej sali dookota duiego stolu citóko krzqtala siç Marta Korczyñska, która przed kilkoma zalcdwie minutami wrócila ze swej dalekiej przechadzki. [...] Przyrz^dzala salaty i kompoty, przynosiia butelki ζ winem, co chwila wybiegaia, a powróciwszy, ζ brzçkiem kluczy otwierala szuflady kredensowej szafy i urz^dzajqc, ustawiaj^c, przyozdabiaj^c wszystko, pantoflami wyszytymi w czerwone ró2e gloáno klapala o podlogç. [...] Cztery wiorsty uszla dziá tarn i na powrót, nie odpoczywala ani minuty, a nie znaé bylo na niej strudzenia. Chrz^kala, kaszlala, gderala [...] (Eliza Orzeszkowa, Nad Niemnem, 40) Im Speisesaal an dem langen Tisch war Marta Korczyñska geschäftig, die erst vor einigen Minuten von ihrem langen Spaziergang zurückgekehrt war [...]. Sie bereitete Salate und Kompotte zu, brachte Weinflaschen, rannte immer wieder hinaus, und wenn sie zurück war, öffnete sie mit raschelnden Schlüsseln die Schubladen eines Kredenzschranks. Sie richtete ein, stellte hin, schmückte und ihre mit roten Rosen bestickten Pantoffeln klapperten dabei laut auf dem Fußboden. [...] Sie war heute vier Wersten hin und zurück gegangen, ruhte keine Minute, doch Müdigkeit war ihr nicht anzusehen. Sie räusperte sich, hustete, nörgelte [...] [Übersetzung A. S.]

3.2.8 Zusammenfassung Unterkapitel 3.2 war dem Zusammenhang von erlebter Rede und sog. deiktischen Tadv gewidmet. Deiktische Tadv sind Tadv, die exophorisch verwendet werden können, d. h. eine durch den außersprachlichen Kontext gelieferte Äußerungszeit kann als ihre Bezugszeit fungieren. Alle deiktischen Tadv lassen sich jedoch auch endophorisch, also mit einer im Text vorerwähnten Zeit (Antezedenszeit) als ihrer Bezugszeit, gebrauchen. Mit dem Zusammenhang von endophorisch gebrauchten deiktischen Tadv und erlebter Rede beschäftigte die Forschung sich bereits in den Anfängen der Untersuchung der erlebten Rede. Es wurde darauf hingewiesen, dass die in erlebter Rede verwendeten Tadv auf den „Standpunkt" der Protagonisten bezogen sind, deren Äußerungen, Gedanken, Wahrnehmungen etc. wiedergegeben werden, d. h. auf die im Text fixierbare Zeit, zu der sie sprechen, denken oder etwas wahrnehmen. Damit wird aber nicht behauptet, dass erlebte Rede keine anaphorischen (d. h. nur endophorisch verwendbaren) Tadv enthalten kann.23 In der Literatur begegnet man allerdings auch der strengeren These, der zufolge deiktische Tadv nur innerhalb der erlebten Rede endophorisch gebraucht werden können. Dieser These liegt meistens die Annahme zugrunde, dass deiktische Tadv eine Äußerungszeit als ihre Bezugszeit verlangen. Werden sie endophorisch gebraucht, so ist dies deshalb möglich, weil eine fingierte/sekundäre Äußerungszeit vorliegt, und das ist bekanntlich in der erlebten Rede der Fall. Oft ist mit dieser These ein sehr weiter Begriff der erlebten Rede verbunden. Die Ergebnisse des Unterkapitels lassen sich in den folgenden Punkten zusammenfassen: (i) Die strengere These (endophorisch gebrauchte deiktische Tadv nur in erlebter Rede) ist auf keinen Fall haltbar, wenn man die hier angenommenen Kriterien der erlebten Rede

23

Und es ist daher ein Missverständnis, wenn sich Weinrich (1985 4 :242) genötigt fühlt, eine solche Behauptung zu widerlegen.

135 zugrunde legt. Insbesondere ältere narrative Texte liefern zahlreiche Belege für Textpassagen, die diese Kriterien nicht erfüllen. (ii) Verschiedene Deiktika zeigen eine verschieden starke Affinität zur erlebten Rede. Es erscheint daher sinnvoll, mindestens zwei Gruppen von deiktischen Tadv zu unterscheiden. (iii) Allerdings lassen sich Grade der Affinität auch innerhalb einer Gruppe feststellen, ja selbst die drei lexikalisierten Kalenderdeiktika heute, gestern, morgen lassen sich auf folgende Weise auf einer Skala der abnehmenden Affinität anordnen: morgen>gestern>heute. (iv) Unter Zugrundelegung der Konzeptionen der temporalen Anaphora und der Referenzzeitbewegung in narrativen Texten lassen sich die oben erwähnten Unterschiede zum Teil auf den unterschiedlichen Beitrag zur Referenzzeitbewegung zurückführen. (iv.a) Anaphorische posteriore Tadv (am nächsten Tag) verschieben die Referenzzeit auf der Zeitachse zu dem Zeitintervall, welches sie denotieren. Deiktische posteriore Tadv 0morgen) verhindern diese Verschiebung und verursachen dadurch einen Vorschaueffekt. (iv.b) Anteriore Tadv, gleichgültig ob anaphorische (am Tag davor) oder deiktische (gestern), kehren die Richtung der Referenzzeitbewegung um. Die Hauptzeitachse wird verlassen, eine Nebenzeitachse kann etabliert werden. (iv.c) Simultane Tadv, sowohl anaphorische (an diesem Tag) als auch deiktische (heute), führen (meistens) ein Zeitintervall ein, welches mit der bereits festgelegten Referenzzeit überlappt und (noch) zur Hauptzeitachse gehört. (v) Das oben Gesagte gilt entsprechend für das Polnische, wobei der Beitrag der Adverbialsemantik durch die Aspektsemantik modifiziert werden kann.

3.3 Positionale Lokaladverbiale

3.3.1 Deiktische vs. anaphorische Verwendung Die Ausführungen in diesem Unterkapitel beziehen sich auf die positionalen Adverbien hier, da, dort im Deutschen sowie tu (tutaj) 'hier' und tarn 'dort' im Polnischen. Die Adverbien gehören zu den oben (3.1) erwähnten Ausdrücken, die sowohl exophorisch als auch endophorisch gebraucht werden können. Ich bezeichne sie im Folgenden als Lokaldeiktika.24 Hier soll zunächst zwischen der deiktischen und der anaphorischen Verwendung von Lokaldeiktika unterschieden werden. Bei der anaphorischen Verwendung wird mithilfe der Lokaldeiktika auf Orte verwiesen, die im Text (mehr oder weniger explizit) vorerwähnt wurden. Zum Beispiel verweist im folgenden polnischen Beispiel das Adverb tarn 'dort' unter Rekurs auf den Antezedensausdruck w salipokoscielnej Ryman Auditorium 'im ehemaligen Kirchensaal Ryman Auditorium* auf den in Rede stehenden Ort (den Antezedensort). » Vgl. z. B. Ehrich (1992:9), von Stechow (1982).

136 (3-43) Od 1925 r. ζ Nashville nadawana jest na cal^ Amerykç audycja radiowa, bezpoárednio ze áwi^tyni muzyki country - Grand Ole Opry. Kiedyá koncerty te odbywaty siç w pokoácielnej sali Ryman Auditorium. Obecnie jest tam muzeum, a od czasu do czasu odbywaj^ siç specjalne wystçpy i nagrania. (Pacuda 1997:95) (3-43*) Seit 1925 wird aus Nashville eine Radiosendung ausgestrahlt, live aus dem Tempel der Country-Musik: Grand Ole Opry. Früher fanden diese Konzerte in einem ehemaligen Kirchensaal, dem Ryman Auditorium, statt. Zurzeit befindet sich dort ein Museum, manchmal finden auch Konzerte und Aufnahmen statt. [Übersetzung A. S.]

Die lokale Anaphora ist per definitionem endophorisch.25 Im Falle der deiktischen Verwendung wird der Denotatsort des betreffenden Ausdrucks über den Bezug auf eine Origo mittels der Opposition von Nähe und Ferne (bzw. Inklusion und Exklusion) bestimmt (vgl. Blühdorn 1995, Rauh 1984, Diewald 1991). Der exophorische Gebrauch von Lokaldeiktika ist, soweit ich sehe, immer deiktisch. Als Origo fungiert dabei normalerweise der Ort des Sprechers26 zur Äußerungszeit (vgl. z. B. (3-44)); aber auch der Ort eines Stellvertreters des Sprechers kann diese Funktion übernehmen (vgl. (3-45)).27 (3-44)

[in einer kanonischen Äußerungssituation] Hier sitzt man bequemer als dort. (vgl. Klein 1978:22)

(3-45)

[Schild an einem Müllbehälter] Hier nur Papier.

Der Denotatsort von hier fällt mit der Origo zusammen, derjenige von dort ist von ihr räumlich dissoziiert. Im Folgenden soll auf die deiktische Relation zwischen Origo und Denotatsort genauer eingegangen werden.

3.3.2 Die deiktische Relation Die Bedeutung von Lokaldeiktika wird oft folgendermaßen charakterisiert: Other elements which include a component of deixis are adverbials of place [...] as here and there ('in the vicinity of the speaker': 'not in the vicinity of the speaker'). (Lyons 1971:275)28

Eine differenziertere Spezifizierung der deiktischen Bedeutungskomponente aufgrund eines Metasystems von sechs universellen Kategorien nimmt Rauh (1984:43f.) vor. Eine „topologisch präzisierte Variante" der Theorie vonRauh gibt Ehrich (1992:16-22). Ehrich unterscheidet zwischen der unmittelbaren Umgebung des Sprecherortes IMM(Lo) und seiner proximalen Umgebung PROX(Lo). Bei der letzteren handelt sich um den Zugriffsbereich des Sprechers (d. h. um sein Wahrnehmungs- oder Handlungsfeld).29 Die un25

26

27

28 29

Anderer Auffassung sind, aufgrund von unterschiedlichen terminologischen Setzungen, z. B. Cornish (1996) und Canisius/Sitta (1991). Mit dem Terminus Sprecher sollen hier Produzenten von sowohl schriftlichen als auch mündlichen Texten umfasst werden. Fälle wie (3-45) werden in Sitta (1991:189-224) als „Beschriftungsdeixis" abgehandelt. Vgl. auch Blühdorn (1995:127), Paduöeva (1990:238f.). Man vergleiche auch z. B. Fillmore (1972:150), Blühdorn (1995:130-136). Bereits Bühler (1934: lOOf.) benutzte den Begriff des „gerade in Rede stehenden räumlichen Aktionsbereichs des Sprechers" zur Charakterisierung der Bedeutung von Lokaldeiktika.

137 mittelbare Umgebung ist in der proximalen enthalten. Der Teil der proximalen Umgebung, der außerhalb der unmittelbaren Umgebung liegt, gehört zur peripheren Umgebung PER(Lo). Schließlich bildet die distale Umgebung DIST(L 0 ) die Komplementärregion von PROX(Lo). Die topologischen Relationen zwischen den Umgebungen sind in Abbildung 3.8 dargestellt. Abb. 3.8: Topologische Regionen und Präferenzwerte der Lokaldeiktika (nach Ehrich 1992:16,22) DIST(Lo)

PER(Lo)

PROX(Lo)

Hier kann sowohl auf die unmittelbare Umgebung des Sprecherortes referieren (vgl. (3-44)) als auch auf seine proximale Umgebung (ζ. B. in (3-46a): auf ein ganzes Museum) bzw. auf einen Ort, der im Schnittbereich von seiner proximalen und peripheren Umgebung enthalten ist (ζ. B. in (3-46a): auf eine Wand, an der das Bild hängt). Im letzten Fall handelt es sich um das sog. heterodeiktische hier, dessen Verwendung üblicherweise von einer Zeiggeste begleitet wird (vgl. Sennholz 1985:50). (3-46a) Hier hängt mein Lieblingsbild. (Ehrich 1992:14) Alle Interpretationsvarianten sind mit der Bedeutungsfestlegung von hier auf die proximale Umgebung verträglich: λχ (Loc(x) ç PROX(Lo)) (vgl. Ehrich 1992:17). Dort referiert auf Orte, die außerhalb des jeweiligen Zugriffsbereiches des Sprechers, d. h. in Ehrichs Terminologie: in seiner distalen Umgebung DIST(Lo) liegen (λχ (Loc(x)cDIST(Lo)); ebd.). Daher ist (3-46b) angemessen, wenn ζ. B. ein sich im Museum befindender Sprecher auf einen anderen Saal zeigt. (3-46b) Dort hängt mein Lieblingsbild. Das deutsche Lokaldeiktikon da wird in der Literatur oft als ein „distanzvariables" (Bltlhdom 1995:113) bzw. ein „Archideiktikon" (Diewald 1991:155) behandelt, das, je nach Kontext, sowohl auf Orte referieren kann, die den Sprecherort einschließen, als auch auf solche, die von ihm getrennt und beliebig weit entfernt sind. Wenn es mit hier oder dort kontrastiert wird, nimmt es den jeweils oppositionellen Wert an.30 Nach Ehrich (1992:20f.) steht da zu den beiden anderen Lokaldeiktika in schwachem semantischem Kontrast, d. h. es ist neutral bezüglich der Dimensionen, in welchen hier und dort jeweils positiv markiert sind. Daraus folgert sie aufgrund einer generalisierten konversationeilen Implikatur die Lokalisierung in der peripheren Umgebung des Sprecherortes als den Präferenzwert von da (vgl. Abb. 3.8). Da die periphere Umgebung teilweise mit der 30

Diewald (1991:155) weist ferner daraufhin, dass sich die lokaldeiktische Verwendung nicht immer von der grundlegenden Funktion von da als Präsentativ, d. h. als sprachliches Element zur „Fokussierung der Aufmerksamkeit aufkontextuell Exisitierendes" (ebd.) unterscheiden lässt.

138 proximalen Umgebung Überlappt, die als der Zugriffsbereich des Sprechers verstanden wird, sei der „Museumssatz" (3-46c) ζ. B. in Verbindung mit einer Zeiggeste in Richtung der betreffenden Wand angemessen.31 (3-46c) Da hängt mein Lieblingsbild.

Wenn man wie Lyons (1971) die deiktische Relation als einen Bestandteil der lexikalischen Bedeutung der betreffenden Ausdrücke betrachtet, hat dies Konsequenzen für die Beschreibung ihrer anaphorischen Verwendung. Entweder muss man wie BlUhdorn (1995:132f.) und Ehrich (1992:26, 28) annehmen, dass bei jeder anaphorischen Anknüpfung zugleich ein Bezug auf irgendeine (evtl. irrelevante) Origo stattfindet, oder man sieht in der Anaphora einen „Sonderfall" der Deixis (so Rauh 1984:78f.), bei dem die deiktische Bedeutungskomponente suspendiert ist. Irrelevant ist für die Anaphora (und hierin liegt ihre Eigenart) der Teil der symbolischen Bedeutung deiktischer Ausdrücke, der ihre deiktische Determination umfaßt. Es gilt daher, daß die anaphorische Verwendung deiktischer Ausdrücke nicht egozentrisch-lokalistisch ist. (Rauh 1984:79)

Diese Schwierigkeiten ergeben sich jedoch nicht, wenn man die deiktische Relation als eine Eigenschaft nicht von Lexemen, sondern von deren Verwendung betrachtet (vgl. Grzegorczykowa 1975:115, Paduòeva 1996:270, implizit auch schon Bühler 1934).

3.3.3 Deixis und Anaphora zugleich Wird in einer situationsgebundenen Äußerung auf einen im Diskurs vorerwähnten Ort anaphorisch verwiesen, so wird das Lokaladverb unter Berücksichtigung des Äußerungsortes gewählt. Ζ. B. ist hier in einer Äußerung wie (3-47) nur dann angemessen, wenn sich der Ort, an dem die Äußerung gemacht wird, in Bochum befindet, dort dagegen, wenn er außerhalb von Bochum liegt.32 (3-47)

Ich lebe jetzt schon seit sechs Jahren in Bochum und ich muss sagen, ich fühle mich hier/dort ganz wohl. (Canisius/Sitta 1991:147)

In (3-47) liegt sowohl ein anaphorischer Verweis über einen (koreferenten) Antezedensausdruck als auch die für die deiktische Verwendung konstitutive Relation zwischen der Origo (hier: dem Äußerungsort) und dem Denotatsort vor. Man kann deshalb denjenigen Autoren zustimmen, die in derartigen Fällen vom gleichzeitigen Vorliegen von Deixis und Anaphora sprechen (vgl. Lyons 1977:676, Rauh 1982:40-42, Ehrich 1982:57, 61; 1992:27, Lenz 1997:55).33 31

32

33

In diesem Kontext steht also da in einem paradigmatischen Substitutionsverhältnis zu dem heterodeiktischen hier. Nach Ehrich (1983:210, 1992:26) fungiert da als eine „reine Anapher", d.h. es kann hier gebraucht werden unabhängig davon, ob sich der Sprecher zur Sprechzeit in Bochum aufhält oder nicht. Diese Ansicht wird von den meisten der von mir befragten Muttersprachler nicht geteilt: da verhalte sich hier vielmehr genau so wie dort. Allerdings wird Deixis ζ. B. in Lyons (1977) anders definiert als hier und fällt mit der Exophora im oben dargestellten Sinne weitgehend zusammen. Gegen diese Auffassung ist die im Folgenden angeführte Argumentation von Canisius gerichtet.

139

Handelt es sich aber um einen exophorischen oder einen endophorischen Gebrauch der Lokaldeiktika? Mit Canisius lässt sich dahin gehend argumentieren, dass hier keine Exophora stattfindet (vgl. Canisius/Sitta 1991:147, Sitta 1991:40-43), weil es zur Identifizierung des Denotatsortes keines Rekurses auf den außersprachlichen Kontext bedarf: Vielmehr ist er durch den anaphorischen Verweis eindeutig bestimmt. 34 Wenngleich der Text somit nicht auf die Situation verweist, so hinterläßt doch die Situation Spuren im Text: Situationselemente fließen in den Text ein und steuern die Auswahl zwischen verschiedenen zur Verfügung stehenden Wiederaufhahmeformen. (Sitta 1991:42) Für diese Verwendungsweise schlägt Canisius die Bezeichnung Esophora vor. In situationsenthobenen Äußerungen, etwa in schriftlich fixierten Erzählungen ohne personale Erzählerinstanz, ist der tatsächliche Äußerungsort irrelevant.35 Tritt in diesen Fällen ein hier auf, so kennzeichnet es nach Ehrich (1992:27) „den Antezedensort als fiktiven Äußerungsort" bzw. „den Standpunkt eines Protagonisten", „auf den aus der Sicht der erzählten Situation und nicht aus der Sicht der aktuellen Redesituation verwiesen wird". Es liegt imaginative Deixis vor. 36 So befindet sich der Protagonist in (3-48) an einem Ort, der den Antezedensort von tu 'hier' darstellt. (3-48)

Wyszli ζ cmentarza i nawet siç nie obejrzeli. [...] Ale j u i nazajutrz przyszedl tu sam rankiem, tak aby gdzies pójsc, przejsc siç i jak sentymentalna panienka nazrywal po drodze biawatköw, aby je potozyc na tym grobie... (Iwaszkiewicz, Panny ζ Wilka, 49) Sie verließen den Friedhof, ohne sich nur einmal umzusehen. Aber schon am nächsten Morgen kam er hierher allein, einfach so, um irgendwo hinzugehen. Und wie ein sentimentales Fräulein hatte er unterwegs ein paar Blumen gepflückt, um sie auf das Grab zu legen ... [Ubersetzung A. S.]

Ebenso kann ein imaginativdeiktisch gebrauchtes hier einen Ausschnitt aus dem Schnittbereich von proximaler und peripherer Umgebung des Protagonisten bezeichnen (vgl. (3-49)). (3-49)

Sandy hatte schon eine morsche Tür geöffnet, die am Ende des Ganges lag, und leuchtete in einen Raum, der sich nach beiden Seiten hin in der Dunkelheit verlor, aber nur vier oder fünf Meter gegenüber einen gemauerten Torbogen und in den Fels gehauene Wände erkennen ließ. Sonderbarerweise war der Fußboden hier nicht aus Erde oder rauhem Gestein, er war mit Holzplanken bedeckt. (Balden 1990:59)

34

Einer ähnlichen Meinung scheint Ehrich (1992:26) zu sein: „Die Sprechsituation spielt sehr wohl eine Rolle, wenn auch nur eine sekundäre, der primäre Bezugspunkt wird durch die vorangehende Adverbialphrase gesetzt, hier und dort teilen also in diesen Verwendungen die phorischen Eigenschaften der Anaphern." (ebd. Fn. 12). Die genau entgegengesetzte Auffassung vertritt Gather (1994). Für ihn sind das Deiktikon und der Vorgängerausdruck lediglich koreferent, es findet jedoch kein anaphorischer Verweis statt: „Aufgrund der Koreferenz mit einer lexikalischen NP, in diesem Fall einem Eigennamen, hört der Ausdruck nicht auf, deiktisch zu sein." (ebd. 387; vgl. auch Vuillaume 1996).

35

Neben diesem prototypischen Fall gibt es Mischformen, ζ. B. autobiographische Texte, in denen sich der Autor sowohl auf Ort und Zeit der Niederschrift als auch auf Ort und Zeit der erzählten Gegebenheiten beziehen kann (vgl. Grzimek 1959, Zeromska 1996), sowie Ich-Erzählungen, in denen eine analoge Relation zwischen der zeitlichen und räumlichen Situierung des erzählenden und des erlebenden Ich besteht (vgl. Böll 1963). Nach Bühler (1934:138) handelt es sich um den zweiten Hauptfall der Deixis am Phantasma, also um eine Versetzung des Lesers an den fiktiven Ort des erzählten Geschehens.

36

140 Bei dort unterscheidet Ehrich (1992) zwischen dem imaginativdeiktischen und dem anaphorischen Gebrauch. Verweist es auf einen Antezedensort, der vom „Standpunkt des Protagonisten" dissoziiert ist (besteht also, m. a. W., die für dort charakteristische deiktische Relation), haben wir es mit der imaginativdeiktischen Verwendung zu tun (vgl. (3-50)). Fallen hingegen der „Standpunkt des Protagonisten" und der Antezedensort von dort (bzw. tarn) wie in (3-51) zusammen, ist der Verweis anaphorisch.37 (3-50) Er [Cates] schritt langsam zum Feuer zurück. Dabei kam er an der Postkutsche vorbei. Als er sich ihr bis auf wenige Schritte genähert hatte, vernahm er Geräusche aus dem Inneren des Wagens. Es klang, als ob dort drinnen zwei Menschen miteinander kämpften. [...] Cates warf einen Blick zum Feuer hinüber. Dort saß Major Castain, mit dem Rücken zur Kutsche. (Garner 1990:24) (3-51) Poci^gnçla go za rçkç w gfyb, do sqsiedniego pokoju, gdzie palila siç ju2 lampa, mimo 2e na dworze byte jasno. Tarn otoczylo go mnóstwo kobiecych ramion, nagich i ciepfych, ktos go nawet pocalowal. Wolano: „Gdzie mama? Gdzie mama? Mamo, Wiktor przyjechat!" (Iwaszkiewicz, Panny ζ Wilka, 42) Sie nahm ihn an der Hand und zog ihn ins Nachbarzimmer, wo schon die Lampe brannte, obwohl es draußen noch hell war. Dort umschlangen ihn viele Frauenarme, nackt und warm, irgendjemand küsste ihn sogar. Man rief: „Wo ist Mutter? Wo ist Mutter? Mutti, Viktor ist gekommen!" [Übersetzung A. S.] Aus den Ausführungen von Ehrich (1992:27) geht hervor, dass da nicht imaginativdeiktisch verwendet werden kann, da es keinen Bezug auf den „Standpunkt des Protagonisten" zulässt. Allerdings findet man unschwer Belege, die sich dahin gehend interpretieren lassen, dass der Denotatsort des Adverbs in der peripheren Umgebung des Protagonistenortes enthalten ist. Es besteht also die für da charakteristische deiktische Relation. Da referiert auf einen Ausschnitt aus dem Zugriffsbereich des Protagonisten, nicht aber auf eine ihn unmittelbar einschließende Region. In dem folgenden Beispiel (3-52) wird die geringe Entfernung zwischen dem Protagonistenort und dem Denotatsort mit lexikalischen Mitteln zum Ausdruck gebracht (direkt... vor dem Blumengeschäft). (3-52) Vor dem Blumengeschäft konnte er direkt parken. Zufällig blickte er durchs Fenster, während die Floristin die Sträuße band. Nanu, ein paar Menschen standen um seinen Wagen herum. Und er glaubte, Kindergeschrei zu hören. Was war da bloß los? Hatte er etwa falsch geparkt? (de Groot 1990:32)

3.3.4 Endophorisch gebrauchte Lokaldeiktika ohne Antezedensorte Die Anaphora scheint den einfachen und grundlegenden Modus des endophorischen Verweises darzustellen, der sowohl bei der esophorischen als auch bei der imaginativdeiktischen Verwendung immer mit gegeben ist. In den beiden letztgenannten Fällen kommt lediglich eine weitere Komponente hinzu, nämlich der Bezug auf den aktuellen Äußerungsort resp. auf einen mit sprachlichen Mitteln etablierten Ort des Protagonisten in der fiktiven (oder erinnerten) Diskurswelt. Allerdings gibt es Belege, in denen zwar der Protagonistenort 37

Demgegenüber betrachtet Bühler (1934:138) Textpassagen wie (3-51) als Beispiele für seinen dritten Hauptfall der Deixis am Phantasma: Die deiktische Relation besteht hier zwischen dem Ort des Lesers und dem davon entfernten Ort desfiktivenGeschehens.

141 mehr oder weniger präzise im vorangehenden Diskurs erwähnt ist, nicht aber die Antezedensorte der Lokaldeiktika. (3-53) Macalem rçkoma - co to jest? - beton - a to? - kabel - ach, to hala montazowa. Ale skqdja siç tu wziqiem? [...] Hala byla pusta, zdaje siç? Swiatlo gubilo siç - ogromne pokraczne cienie skakaty po scianach. Co ta za ciemny twór, tam, moie to...By} to Gedevani. Le2al na wznak, jak upadl - [...]. (Lem 1996:108f.) Ich tappte im Dunkeln - was ist das? - Beton - und das? - Kabel - ach, das war die Montagehalle. Die war leer, oder? Riesige, monströse Schatten flackerten an den Wänden. Was war das für eine dunkle Gestalt, da, vielleicht... Es war Gedevani. Er lag auf dem Rücken, so wie er gefallen war. [Übersetzung A. S.] (3-54) Ein paar Tage später soll ich eine halbe Stunde lang 3000 Meter hoch oben bleiben. Da muß man aufpassen, daß man nicht Verkehrsflugzeugen in die Quere gerät, die zum großen Frankfurter Flughafen niedergehen. Dort liegt Frankfurt, und da hinten schon Mainz und Wiesbaden - wie dicht sitzen hier die Menschen aufeinander. Ein plombiertes Gerät auf dem Sitz hinter mir verzeichnet genau, ob ich etwa tiefer oder höher gehe. (Grzimek 1959:15) In beiden Fällen lassen sich die Sätze, die die Lokaldeiktika enthalten, als erlebte Rede betrachten: Es werden hier Gedanken der Protagonisten wiedergegeben.38 Sitta (1991:22) spricht in Bezug auf derartige Fälle vom Verlust der indexikalischen Bedeutung der Deiktika, deren Denotate hier mangels Antezedensausdrücken nicht identifiziert werden können. Was bleibt, sei lediglich ihre lexikalische Bedeutung, d. h. der Verweis auf eine entsprechende Umgebung des Protagonisten. Diese Auffassung ist jedoch dahin gehend einzuschränken, dass die Denotatsorte der Deiktika auch in den obigen Beispielen durch den Protagonistenort und die verwendeten Prädikate über die deiktische Relation hinaus näher spezifiziert werden. Übrigens ist auch die Referenz von exophorisch gebrauchten Deiktika auf eine analoge Weise unbestimmt für einen Hörer, der die betreffende Äußerungssituation (insbesondere die verwendeten Zeiggesten) nicht sehen kann (vgl. Halliday/Hasan 1976:34).

3.3.5 Interferenz von Zeigfeldern In (3-55) bezieht sich das Adverb hier imaginativdeiktisch auf den Protagonistenort (in der Blechhütte in Afrika). Das dort lässt sich dagegen auf zweierlei Weise auffassen: entweder als reine Anapher, die auf den Antezedensort (in Afrika) verweist, oder als esophorisch auf den Schreibort des Autors bezogen, der folglich außerhalb von Afrika liegen muss. Im letzteren Fall würde eine „Interferenz von Zeigfeldern" (Rauh 1978:147) von Autor und Protagonisten vorliegen. Ein analoges polnisches Beispiel ist (3-56). (3-55) Myles Turner hat nämlich unsere große Blechhütte, etwa einen Kilometer von seinem Haus entfernt, aus ein paar Dutzend numerierten Aluminiumtafeln zusammen-geschraubt. [...] Daß er den richtigen Platz gewählt hat, merke ich schon in der ersten Nacht. Ich liege in Afrika oft wach, denn die Nächte dauern dort das ganze Jahr hindurch zwölf Stunden. [...] So höre ich ganz dicht bei unserer HUtte die Löwen brüllen. Das klingt sehr heimatlich, denn ich 38

Es handelt sich um erlebte Rede ohne Personentransposition. In (3-54) liegt auch keine Tempustransposition vor, deshalb unterscheidet sich die kursiv gedruckte Stelle formal nicht von der freien direkten Rede und dem inneren Monolog.

142 wohne ja in Frankfurt auch im Zoo, aber hier sind sie näher, und das Brüllen dröhnt viel mehr, weil die Wände aus dünnem Blech sind und die Fenster offenstehen. (Grzimek 1959:63) (3-56) Nastepna nasza podrói morska, takie "Koáciuszk^", byla do Angiii, Szkocji, Belgii i znów Danii. [...] Londyn podobal mi siç po stokroc bardziej ni¿ Paryt. [...] Wszystko mi siç w tym mieácie podobalo, mySlç, it moglabym tarn mieszkaé przez jakis czas, nie tçskni^c. Nakupilam sobie tam färb, pçdzli, chociai wszystko to mialam w Warszawie, tu te sklepy byty takie piçkne. (Zeromska 1996:153) Unsere nächste Seereise, auch mit der „Koáciuszko", war nach England, Schottland, Belgien und wieder Dänemark. London gefiel mir tausendmal besser als Paris, alles gefiel mir in dieser Stadt, ich denke, dort könnte ich eine Zeit wohnen, ohne Heimweh zu haben. Ich kaufte mir dort Farben, Pinsel, obwohl ich all das auch in Warschau hatte, hier waren die Geschäfte so schön. [Übersetzung A. S.] Beide Beispiele sind schriftlichen nicht fiktionalen (autobiographischen) Texten entnommen, die insoweit situationsenthobene Äußerungen darstellen, als Autor und Leser kein gemeinsames Wahrnehmungsfeld teilen: Schreibort und Rezeptionsort fallen gewöhnlich auseinander. Ein Autor, der deiktische Ausdrücke auf seinen eigenen Ort bezieht, muss diesen daher auch „nennwortmäßig angeben" (Sitta 1991:89), und zwar entweder im Text selbst oder im „metadeiktischen Rahmen" (z. B. auf dem Buchdeckel, im Vorwort o. Ä., ebd. 90). Analoges lässt sich aber auch bezüglich des Erzählerortes in fiktionalen Texten feststellen. In den „Ansichten eines Clowns" lassen sich das „erzählende Ich" (der Erzähler) und das „erlebende Ich" (der Protagonist) nicht immer klar unterscheiden. Es liegt nahe, den Ort des Erzählers in Bonn zu lokalisieren. Folglich ist das dort in (3-57) ambig zwischen der rein anaphorischen und einer gleichsam esophorischen Interpretation. Im letzteren Fall besteht eine deiktische Relation zwischen dem Erzählerort (in Bonn) als Origo und dem Antezedensort (in Osnabrück). (3-57) [...] vor ein paar Monaten fing es an, als ich mich weigerte, nach Bonn zu fahren, obwohl ich fünf Tage lang hintereinander keine Vorstellung hatte. Ich wollte nicht nach Bonn. Ich hatte Angst vor dem Kreis, hatte Angst Leo zu begegnen, aber Marie sagte dauernd, sie müsse noch einmal "katholische Luft" atmen. [...] Ich [...] schlug ihr vor, ins Kino zu gehen, zu tanzen, Mensch-ärgere-dich-nicht zu spielen, aber sie schüttelte den Kopf und fuhr dann allein nach Bonn. Ich kann mir unter katholischer Luft nichts vorstellen. Schließlich waren wir in Osnabrück und so ganz unkatholisch konnte die Luft dort nicht sein. (Böll 1963:127)

3.3.6 Diskurssemantik 3.3.6.1 Zwischen reiner Anaphora und imaginativer Deixis Als ein vorläufiges Fazit sei festgehalten, dass es zwischen dem rein anaphorischen und dem imaginativdeiktischen Gebrauch von Lokaldeiktika keine scharfe Grenze, sondern eher ein Spektrum möglicher Übergänge gibt. Für die Position in diesem Spektrum sind folgende Aspekte relevant: a) Anaphorischer Verweis Die Skala reicht von einer syntagmatischen Substitution und Referenzidentität zwischen Antezedensausdruck und Deiktikon (wpokoscielnej sali Ryman Auditorium 'im ehemaligen

143 Kirchensaal R. Α.' - tarn 'dort') bis zu Fällen, in denen der Kontext keine Antezedensausdrilcke sensu stricto liefert, sondern nur gewisse Ausdrücke, die die Interpretation des Deiktikons indirekt steuern (sog. Anker, vgl. Schwarz 1997:449). Die Festlegung des Denotatsortes verlangt dann vom Textrezipienten meistens einen Prozess der Weltwissensaktivierung (vgl. dazu vor allem die Beispiele (3-55) und (3-56)). b) Kontextuelle (Vor)Erwähnung eines Orientierungsortes Lo, der - analog zum Äußerungsort in exophorischer Verwendung - als die Origo einer entsprechenden deiktischen Relation interpretiert werden kann.39 Mit anderen Worten muss zwischen dem Orientierungsort Lo und dem Denotatsort des Deiktikons (und somit auch dem Antezedensort L¡) eine für das betreffende Deiktikon charakteristische deiktische Relation bestehen (dies ist ζ. B. bei dort die Relation der räumlichen Dissoziierung. Vgl. in (3-56):... kam er an der Postkutsche (Lo) vorbei -... warf einen Blick zum Feuer (L¡) hinüber - Dort saß Major Castain ...). Die sprachlichen Ausdrücke, die den Orientierungsort festlegen, sind meistens Anker in dem oben angedeuteten Sinne. In den meisten Fällen handelt es sich bei dem Orientierungsort um den Ort eines singulären Protagonisten. Daher ist dieser Aspekt mit dem folgenden eng verbunden. c) Kontextuelle (Vor)Erwähnung eines Protagonisten.40 d) Sprachliche Indikatoren der zeitlichen, perzeptiven, epistemischen usw. Perspektive des Protagonisten, darunter die Indikatoren der erlebten Rede (vgl. oben 1.3). In den obigen Beispielen sind dies u. a.: (i) externe Indikatoren: Verben des Denkens, Wahrnehmens und Fühlens sowie andere kontextuelle Hinweise auf perzeptive und mentale Prozesse des Protagonisten (vgl. (3-51), (3-52), (3-53)); (ii) Ausdrücke der epistemischen Modalität (sonderbarerweise); (iii) gesprochensprachliche, expressive und ähnliche Elemente in Syntax und Lexik, z. B. direkte Fragesätze ( Was war da bloß los?), Exklamativsätze (wie dicht sitzen hier die Menschen aufeinander...), abgebrochene Sätze (moie to... 'vielleicht [ist] das ...'), Partikeln {bloß) und Inteijekionen (nanu).

3.3.6.2 Dort In der imaginativdeiktischen und der esophorischen Verwendung hat das Adverb dort zwei Bezugspunkte: zum einen die Origo (Lo), in deren distaler Umgebung sich der Denotatsort von dort befindet; zum anderen den Antezedensort (L¡), mit dem der Denotatsort (mindestens teilweise) überlappt. Somit scheint dort das lokale Pendant des Temporaladverbs damals darzustellen. Seine Bedeutung kann in Analogie zu der von damals auf folgende Weise spezifiziert werden. (3-58)

damals: λχ (Temp(x) çEj & Temp(x) da vorne > da (oder dort) > da hinten > da ganz hinten

Auch in dieser Bedeutung scheinen jedoch die Adverbien Bewusstseinsträger als ihre Bezugspunkte zu verlangen.

3.4.7 Zusammenfassung Der Beitrag von dimensionalen Adverbialen zur Evozierung der Protagonistenperspektive wurde bisher, außer in Harweg (1975) und Stanzel (19956:238f.), kaum berücksichtigt. In diesem Unterkapitel wurden einige Aspekte ihrer endophorischen Verwendung untersucht. Zunächst wurde der Begriff des Relatums definiert. Das Relatum ist ein Objekt, dessen Eigenort den Bezugsort eines dimensionalen Ausdrucks bildet. Denotatsorte dimensionaler Adverbiale werden durch Halbachsen, mit dem Nullpunkt im Relatum und der Richtung von ihm weg, determiniert. Bei sog. intrinsisch gerichteten Relata liegen die Richtungen der Dimensionsachsen bereits fest. Das Relatum kann insbesondere ein menschliches Individuum sein. Für die hier analysierten Texte erwies sich der Unterschied zwischen zwei Typen von Denotatsorten dimensionaler Adverbiale als wesentlich. Handelt es sich bei dem Denotatsort um einen Ausschnitt des Eigenortes eines nicht menschlichen, intrinsisch gerichteten Relatums, so liegt intrinsische Verwendung des dimensionalen Ausdrucks vor (z. B. vorne im Auto - Vordersitze) (3.4.4).46 Ist hingegen der Denotatsort ein Ausschnitt der Umgebung eines menschlichen Relatums, haben wir es mit deiktischer Verwendung zu tun (vorne 'vor mir') (3.4.3). Relativ oft kommt es aber in narrativen Texten vor, dass sowohl ein intrinsisch gerichtetes Objekt als auch ein Protagonist gegeben sind, also zwei mögliche Relata, und somit zwei mögliche Interpretationen bestehen (3.4.5). Charakteristisch für das Deutsche ist ferner, dass hinten und vorne sowohl die Umgebungsausschnitte eines menschlichen Relatums, die durch seine intrinsische Horizontale determiniert sind ('hinter mir' vs. 'vor mir'), als auch den weiter vs. weniger weit entfernten Teil seiner Umgebung bezeichnen können. Folglich sind Sätze wie Hinten leuchteten zwei Lichter auf potenziell ambig. Da die Bedeutung der Adverbien jedoch in beiden Fällen eine subjektive (auf einen Bewusstseinsträger bezogene) Komponente enthält, können sie als einer der Indikatoren der Protagonistenperspektive betrachtet werden (3.4.6).

46

Als Relata können nicht nur Objekte, sondern auch vertikal oder horizontal gerichtete Regionen fungieren.

4 Tempora im Deutschen

4.1 Grammatische und lexikalische Zeitausdrücke

4.1.1 Das Tempussystem des Deutschen Tempus lässt sich mit Comrie (1985:9) als „grammaticalized expression of location in time" definieren. Tempora referieren, wie Temporaladverbiale, auf Zeitintervalle. Alle Tempora sind dabei kontextrelative Ausdrücke, d. h. das betreffende Zeitintervall wird relativ zu einer durch den sprachlichen oder außersprachlichen Kontext bereitgestellten Bezugszeit bestimmt. Bei (zumindest) einigen Tempora müssen sogar zwei oder mehr Bezugszeiten angenommen werden. Nimmt man an, dass jeder Satz eine Situation bezeichnet, die innerhalb eines Zeitintervalls oder mehrerer Zeitintervalle stattfindet, so besteht die referenzielle Funktion des Tempus darin, dass es die Position dieses Intervalls (dieser Intervalle) relativ zu einem (oder mehreren) Bezugszeitintervallen spezifiziert oder dass es die Situation in der Zeit lokalisiert (vgl. Ehrich 1992:64f., Zeller 1994:19). Mit anderen Worten liefert das Tempus „eventuell im Verbund mit anderen sprachlichen Mitteln, ein oder mehrere Zeitintervall(e), relativ zu denen die Proposition wahr sein muß, wenn die entsprechende Äußerung des tempushaltigen Satzes wahr sein soll" (Zifonun 2000:315). Im Gegensatz zu Temporaladverbialen sind Tempora grammatikalisierte Ausdrücke. Im Deutschen ist das Tempus eine der Kategorisierungen im verbalen Paradigma (vgl. Eisenberg 1999:100-102).1 Zusammen mit dem Verbmodus zählt es zu den sog. inhärenten Verbkategorisierungen, im Gegensatz zu den Kongruenzkategorisierungen Person und Numerus und dem Genus verbi, das eine relationale Kategorisierung darstellt (vgl. Andersson 1985, Thieroff 1992, 1994b). Die Tempusmarkierung tritt als Affix am Verbstamm auf oder wird durch ein Auxiliar+Infinitiv oder Partizip periphrastisch gebildet. Nach Comrie (1985:10) zeichnen sich Tempora qua grammatikalisierte Ausdrücke prototypischerweise u. a. dadurch aus, dass die Markierung mittels eines gebundenen Morphems erfolgt. Unter den Formen, die man traditionellerweise zu den Tempora des Deutschen zählt, ist freilich nur das Präteritum der schwachen Verben (das durch ein gebundenes Mor1

Jede finite Verbform des Deutschen wird traditionell nach fünf Kategorisierungen, nämlich nach Person, Numerus, Tempus, Modus und Genus verbi, charakterisiert. Jede Kategorisierung ist eine Menge von mindestens zwei Kategorien (z. B. hat die Kategorisierung Person drei Kategorien: 1. Ps., 2. Ps., 3. Ps.). Kategorisierungen.und Kategorien haben folgende Eigenschaften: „I. Jede finite Verbform weist alle 5 Kategorisierungen auf, d.h. jede finite Verbform kann nach Person und nach Numerus, nach Tempus und nach Modus und nach Genus verbi kategorisiert werden. II. Jede finite Verbform weist genau eine Kategorie jeder Kategorisierung auf, d.h. Kategorien einer Kategorisierung schließen einander aus. III. Jede Kategorie einer Kategorisierung kann mit jeder beliebigen Kategorie jeder anderen Kategorisierung kombiniert werden." (Thieroff 1994b: 120). Die terminologische Gepflogenheit, die Bezeichnung Kategorisierungen für Klassen zu verwenden und die Bezeichnung Kategorien für ihre Elemente, wurde von Eisenberg eingeführt (vgl. z. B. Eisenberg 1999:18) und von Thieroff (1992,1994, 1995a) übernommen.

156

phem -(e)t- bezeichnet wird) ein prototypisches Tempus in diesem Sinne.2 Beim Präteritum der starken Verben handelt es sich um eine Wurzelveränderung. Beim Präsens geht man von einem Nullmorphem aus. Die sog. periphrastischen Tempora sind syntaktische Fügungen: - die Verbindung aus haben/sein im Präsens und Partizip II als „Perfekt" und die Verbindung der beiden Hilfsverben im Präteritum als „Plusquamperfekt"; - die Verbindung aus werden und Infinitiv Präsens als "Futur" und aus werden und Infinitiv Perfekt als „Futur II" (Vater 19943:59).

Die morphosyntaktische (und semantische) Kompositionalität der sog. periphrastischen Tempusformen ist für Thieroff (1994a, 1995a) ein Grund dafür, Tempus als eine einfache Kategorisierung aufzugeben und an seiner Stelle drei getrennte Kategorisierungen Anteriorität, Futurität und Präterität anzunehmen.3 Die beiden letzteren bilden jeweils eine binäre Opposition der Kategorien futurisch [FUT] vs. unmarkiert hinsichtlich Futurität [ FUT] bzw. präterital [PRÄT] vs. unmarkiert hinsichtlich Präterität [-PRÄT]. Bei den markierten Kategorien handekt es sich um die jeweilige Futur- resp. Präteritummarkierung. Die Kategorisierung Anteriorität besteht aus drei Kategorien ([-PERF], [PERF] und [PERF2]), da im Deutschen auch eine doppelte Perfektmarkierung möglich ist. Die Kombinatorik der Kategorien ergibt - zusammen mit den beiden Kategorien Indikativ [IND] und Konjunktiv [KONJ] der vierten inhärenten Kategorisierung, des Modus - für das finite Verb im Deutschen das folgende Paradigma. Tab. 4.1: Das finite Verbparadigma im Deutschen nach Thieroff (1994b:130)

IND

KONJ

2

3

-PERF PERF

-PRÄT -FUT singt hat gesungen

PERF2

hat gesungen gehabt

-PERF PERF

singe habe gesungen

PERF2

habe gesungen gehabt

PRÄT FUT -FUT sang wird singen wird gesungen hatte gesungen haben ?wird gesungen hatte gesungen gehabt haben gehabt werde singen sänge werde gesungen hätte gesungen haben ?werde gesungen hätte gesungen gehabt haben gehabt

FUT würde singen würde gesungen haben ?würde gesungen gehabt haben würde singen würde gesungen haben ?würde gesungen gehabt haben

Auch ein weiteres Grammatikalisierungskriterium von Comrie (die Obligatorik der Tempusmarkierung) ist nicht immer erfüllt (man vgl. Sätze mit infinitem Verb oder ohne Verb, ζ. B. Alles aussteigen!, Achtung; Vater 19943:56). Die Termini preterity und futurity werden in Thieroff (1995b:3) vorgeschlagen. In früheren Arbeiten verwendet er für die erstere Kategorisierung die Bezeichnungen Distanz (distancé) und für die entsprechenden Kategorien: Entferntheit (remoteness) vs. Nicht-Entferntheit (non-remoteness) (vgl. Thieroff 1992:281-286, 1994a:5, 1994b: 126-129). Anstatt von Futurität sprach Thieroff früher von Posteriorität (posteriority) (Thieroff 1994b:129f.). Um die Verwirrung durch zu viele neue Termini zu vermeiden, kehrt Thieroff (1995b) zur gängigen Terminologie zurück, behält aber - mit Hinweis auf eine analoge Entscheidung in Bybee (1985) - den Terminus anteriority (Anteriorität) bei.

157 Verschiedene Grade der Grammatikalisierung sowie, im Falle der perípfarastíschen Formen, ihre aspektuellen (bei Perfekttempora) und modalen (bei Futurtempora) Bedeutungskomponenten und -Varianten haben zur Folge, dass die Angaben zur Anzahl der deutschen indikativischen Tempora schwanken, je nachdem, welche Formen man als temporal akzeptiert. So geht z. B. Fabricius-Hansen (1986, 1999) von einem sechsgliedrigen Tempussystem aus (Präsens, Präteritum, Perfekt, Plusquamperfekt, Futur, Futur II).4 Zeller (1994) schließt daraus das Präsens aus („da ein präsentisches Tempusmerkmal weder durch eine morphologisch in Erscheinung tretende Tempusform realisiert noch intentional eindeutig zu definieren ist", ebd. 115) und kommt so auf fünf Tempora. Vater (19943) und Ehrich (1992) nehmen (unter Ausklammerung der wenfen-Konstruktionen, die sie als primär modal betrachten) ebenfalls sechs Tempora an (Präsens, Präteritum, Perfekt, Plusquamperfekt, Doppelperfekt, Doppelplusquamperfekt). Nach ThierofF (1992, 1994b) haben alle (bis auf die mit Fragezeichen markierten5) Verbformen in Tabelle 4.1 zeitreferenzielle Bedeutungsbestandteile und gehören folglich zum Tempussystem des Deutschen, das somit aus zehn Tempora im Indikativ und zehn Tempora im Konjunktiv besteht. Die Tempusformen im traditionellen Sinne erweisen sich dabei als Kombinationen von 3 Kategorien.

4.1.2 Aktionsarten Aktionsarten können mit Sasse (2001:6) als „intrinsic types of temporal characteristics of situations" definiert werden. Die grundlegende temporale Eigenschaft ist dabei das Vorhandensein vs. Fehlen von Grenzen.6 The basic distinction is that between bounded and unbounded situations. Situations may be conceived of as including their starting point or end point or both or may be conceived of as persistent situations with no boundaries at all implied. (Sasse 2001:4)

Diese fundamentale Dichotomie findet sich schon bei Aristoteles: In der „Metaphysik" unterscheidet er zwischen Handlungen, die „auf ein Ziel gerichtet sind" (kinesis) und solchen, die nicht gerichtet sind (energeiai). Zu der ersteren Klasse gehören z. B. Entstehen und Genesen, zur letzteren - Sehen und Glücklichsein (Buch Θ, 1048b). Ehrich/Vater (1989:116) und Ehrich (1992:75) benutzen anstelle der Grenzbezogenheit das Merkmal der Resultativität [+/-RES], weil dadurch „der Gesichtspunkt der Zustandsveränderung und der Bezug zum Ergebnis dieser Veränderung deutlicher zum Ausdruck 4

5

6

Neben dem unmarkierten Tempussystem unterscheidet Fabricius-Hansen (1999) zwei markierte Tempussysteme (eines für die Kontrafaktivität und eines für die Redewiedergabe i. w. S.), die teilweise andere Tempora enthalten (vgl. unten 4.2.7). Zu Formen wie wird gesungen gehabt haben und würde gesungen gehabt haben bemerkt Thieroff (1994b: 130), dass sie „zwar rein schematisch gebildet werden können und [...] auch vereinzelt in der Literatur erwähnt werden [...], aber [...] im tatsächlichen Sprachgebrauch nicht vorkommen." In Anlehnung an die morphologisch orientierte Linguistik des 19. und frühen 20. Jhs. verstehen einige Autoren (z. B. Leiss 1992) unter Aktionsarten Modifikationen der lexikalischen Bedeutung eines Verbstamms (zuweilen Verbalcharakter genannt) durch Wortbildungsprozesse (vor allem Präfigierungen). Im Folgenden nehme ich in Übereinstimmung mit der angloamerikanischen Tradition (vgl. z. B. Vendler 1967) an, dass die Aktionsarten nicht von einer morphologischen Markierung abhängen (Sasse 2001:7f.).

158 kommt" (Ehrich ebd., Fn. 15). Sie ziehen zudem die zeitliche Dauer (Durativität) als ein weiteres Klassifikationskriterium hinzu ([+/-DUR]), so dass sich vier Situationsklassen ergeben (vgl. Tab. 4.2). Hinzu kommt die Klasse der Eigenschaften, die „zeitneutral" sind, d. h. „in ihrer Dauer unbegrenzt und allenfalls gebunden an die Lebensdauer des Individuums, welches sie charakterisieren" (ebd. 74). Tab. 4.2: Aktionsarten nach Ehrich/Vater (1989:116) Situationen t+RES.+DUR]

[+RES-DUR]

[-RES.+DUR]

[-RES,-DUR]

Aktionen (ein Haus bauen) Prozesse (genesen)

Akte (eintreten) Vorkommnisse (finden)

Aktivitäten (tanzen) Zustände (sitzen)

Akte (husten) Vorkommnisse (aufschrecken)

Eigenschaften blond sein

Anders als Aristoteles klassifiziert die linguistische Aktionsartenforschung nicht außersprachliche Situationen, sondern eher sprachlich vermittelte Darstellungen von Situationen7 und somit auch die entsprechenden sprachlichen Ausdrücke: Verben, Verbalphrasen oder Sätze. Es wurde mehrmals gezeigt (vgl. ζ. B. Ehrich 1992:73, Thieroff 1992:27-35, Riecke 2000:22), dass die Klassifizierung auf der Ebene der Verbstämme zu Schwierigkeiten führt, vor allem bei transitiven Verben: In manchen Fällen ändern hinzutretende fakultative Komplemente ihre temporalen Eigenschaften (essen, Kuchen essen bezeichnen nicht grenzbezo-

gene Situationen, den Kuchen essen dagegen eine grenzbezogene Situation). Ebenso kann ein indefinites Subjekt im Plural den Übergang von der Nichtdurativität zur Durativität bewirken (Den ganzen Tag kamen

Soldaten.).

Die Termini (nicht)durativ und (nicht)resultativ werden im Folgenden mit Bezug auf die

Ausdrücke benutzt, die die jeweilige Darstellungsweise kodieren. Wo Missverständnisse ausgeschlossen sind, rede ich zuweilen auch von (nicht)durativen und (nicht)resultativen Verben. Die Fachliteratur zu Aktionsarten zeichnet sich durch eine große terminologische Vielfalt aus. Die im mittlerweile klassischen Ansatz von Vendler (1967) sowie in den Ansätzen von Thieroff (1992) und Klein (1994) gebrauchten Termini fasst die untenstehende Tabelle zusammen.

7

In diesem Sinne wird der Terminus Situation im Folgenden, gleichsam abkürzend, benutzt (vgl. ζ. B. ThierofF 1992:29). Ehrich (1992:82-85) fasst die verschiedenen konzeptuellen Darstellungsweisen als sog. Diskurslokalisierungen auf: Durative Situationen sind in Intervallen lokalisiert (sequenziell), nichtdurative in Punkten (punktuell). Resultative Situationen zeichnen sich durch eine vollständige Diskurslokalisierung aus: Da ihre Wahrheitsintervalle inhärente Grenzen aufweisen, kann kein Teil eines Wahrheitsintervalls und keine Zeit aus dessen Umgebung ebenfalls eine Lokalisierung der betreffenden Situation darstellen. Nichtresultativität impliziert hingegen eine partielle Lokalisierung·. Teile von Wahrheitsintervallen sowie ihnen unmittelbar vorausgehende bzw. nachfolgende Intervalle können die Situation ebenfalls lokalisieren.

159 Tab. 4.3: Terminologie zu Aktionsarten Ehrich/Vater (1989)

Vendler (1967)

Thieroff (1992)

Klein (1994)

ein Haus bauen, genesen

[+RES.+DUR]

accomplishment

telisch

2-state-verbs

tanzen, sitzen

r-RES,+DURl

activity

atelisch

1-state-verbs

eintreten, finden

[+RES-DUR]

achievement

punktuell

2-state-verbs (punctuality is a part of the world knowledge)

husten, aufschrecken

[-RES,-DUR]

blond sein

Eigenschaften

state

statisch

O-state-verbs

Der Ansatz von Klein (1994) nimmt dabei eine besondere Stellung an. Klein hält das Konzept der Grenzbezogenheit für schwer verständlich und nicht operationalisierbar. Stattdessen klassifiziert er Sätze je nachdem, wie sich ihre Situationszeit (d. h. die Diskurslokalisierung der beschriebenen Situation) gegenüber einer Topikzeit (d. h. einem gegebenen Zeitintervall) verhalten kann. So gilt für zeitneutrale Eigenschaften (wie in Sätzen: Der Nil ist in Afrika, Der Stift war rot), dass ihre Situationszeit sowohl mit der Topikzeit als auch mit jedem beliebigen Zeitintervall davor oder danach überlappt. Klein spricht in diesem Fall von „0-state lexical contents" (ebd. 8If.). Davon zu unterscheiden sind zeitlich begrenzte Zustände und Aktivitäten („1 -state lexical contents": Peter schlief, Peter machte einen Handstand). Ihre Situations-

zeit ist zwar ein homogenes Zeitintervall, das eine geeignete Topikzeit vollständig inkludiert, es lassen sich jedoch davor und danach Zeitintervalle finden, die sich mit der Situationszeit gar nicht überschneiden. Zustandsveränderungen („2-state lexical contents": Peter schlief ein.) umfassen zwei Zustände, den Quellzustand (source state) und den Resultatszustand (target state), die in zwei benachbarten Intervallen lokalisiert sind. Eine Topikzeit kann entweder mit dem Quellzustand-lntervall überlappen oder mit dem Resultatszustand-Intervall oder mit beiden. Im Gegensatz zu Ehrich/Vater (1989) führen weder Vendler (1967) noch Thieroff (1992) die Semelfaktiva ([-DUR,-RES]) als eine eigene Klasse an, da sich diese Verben syntaktisch wie punktuelle Resultativa ([+DUR.-RES]) verhalten. Klein (1994) hält das Merkmal der Durativität generell für nicht relevant, « da es sich dabei seiner Meinung nach um einen Teil des Weltwissens und nicht der Verbsemantik handle (ebd. 88). Die Semantik eines Verbs wie finden sage nichts darüber aus, ob der Übergang zwischen dem Quell- und dem Resultatszustand plötzlich oder ausgedehnt sei. 8

Wenn die sog. punktuellen Verben mit Daueradverbialen inkompatibel sind (*erfand drei Stunden lang den Schlüssel), so liegt dies nach Klein (1994:194f.) daran, dass diese Adverbiale die Ausdehnung der Situationszeit anzeigen. Dies ist aber nur bei homogenen Situationszeiten möglich, wie sie für „1-state contents" charakteristisch sind (er schlief drei Stunden lang). Situationszeiten von Zustandsveränderungen sind dagegen inhomogen: Sie bestehen aus der Zeit des Quellzustandes und der Zeit des dazu konträren Zielzustandes. Ein einziges Daueradverbial kann sich nicht auf die beiden Zeiten zugleich beziehen.

160 4.2 Tempussemantik 4.2.1 Aktzeit, Sprechzeit, Betrachtzeit Partee (1973), Bäuerle (1977, 1979), Kratzer (1978) u. a. haben gezeigt, dass die sog. indefinite Tempusinterpretation, der zufolge z. B. das Präteritum auf irgendeine (durch einen Existenzquantor abgebundene) der Äußerungszeit vorausgehende Situationszeit verweist, inadäquat ist. Angenommen ich äußere irgendwann den Satz 'ich nieste'. Wenn ich dabei überhaupt eine Proposition ausdrücke, so wäre das diejenige Proposition, die in einer Welt w zu einer Zeit ζ genau dann wahr ist, wenn es eine Zeit z* gibt, die vor der Äußerungszeit liegt, so daß Angelika Kratzer in w zur Zeit z* niest. Diese [...] Proposition wäre also in unserer Welt, zu irgendeiner Zeit, schon dann wahr, wenn ich überhaupt irgendwann mal vor meiner Äußerung geniest habe. Das habe ich aber bei dieser Äußerung nicht im Sinn. Was hier gemeint ist, ist so etwas, daß ich zu einer Zeit geniest habe, von der gerade die Rede ist. (Kratzer 1978:69)

Diese Zeit, „von der mit der Äußerung eines Satzes in einem bestimmten Kontext die Rede ist - die in diesem Sinne betrachtete Zeit" (Fabricius-Hansen 1986:29) wird Betrachtzeit genannt. Sie muss neben der Sprechzeit als eine weitere Bezugszeit berücksichtigt werden, wenn die Tempusbedeutung angemessen beschrieben werden soll. Denn die Tempora stellen, so Bäuerle (1979:46), gar nicht die Relation zwischen Sprechzeit (so Bäuerles Terminus für die Äußerungszeit) und Aktzeit (Ereigniszeit/Situationszeit) her, sondern „einzig und allein eine Relation zwischen Sprechzeit und Betrachtzeit". Die Relation zwischen Sprechzeit und Aktzeit kommt nur indirekt, Uber die Betrachtzeit, zustande. Die Betrachtzeiten werden entweder durch ein Tadv (ζ. B. in (4-01) durch gestern, in (4-02) durch heute) oder durch den außersprachlichen Kontext geliefert.9 (4-01 )

Gestern spielte Hans Tennis. (Bäuerle 1979:46)

(4-02)

Heute schnitt sich Arnim in den Finger, (ebd. 55)

Von der Sprechzeit aus verweist das Tempus auf seine Betrachtzeit und bleibt dabei selbst redundant (wie in (4-01)), oder es schränkt die (adverbial bzw. kontextuell spezifizierte) Betrachtzeit ein (wie in (4-02), wo das Präteritum denjenigen Teil des durch heute bezeichneten Zeitintervalls spezifiziert, der vor der Sprechzeit liegt). Innerhalb des so fixierten Betrachtzeitintervalls muss mindestens eine Aktzeit vollständig enthalten sein, wenn der betreffende Satz wahr sein soll. So ist ζ. B. (4-02) wahr, wenn innerhalb des vergangenen Teils von heute mindestens ein Zeitintervall liegt, an dem sich Arnim in den Finger schnitt. Allgemein gesagt: Die Betrachtzeit jedes finiten Tempus bildet ein Rahmenintervall, das die Aktzeit(en) als sein(e) Teilintervall(e) inkludiert. „Tempus" ist dabei im Sinne von „Tempusoperator" zu verstehen. Zu den Tempusoperatoren, deren

9

Ein klassisches, auch in Bäuerle (1979:10) zitiertes Beispiel für eine durch den außersprachlichen Kontext gelieferte Betrachtzeit stammt von Partee (1973:602): J didn't turn off the stove. When uttered, for instance, halfway down the turnpike, such a sentence clearly does not mean either that there exists some time in the past at which I did not turn off the stove or that there exist no time in the past at which I turned off the stove. The sentence clearly refers to a particular time - [...] a definite time interval whose identity is generally clear from the extralinguistic context [...]."

161 Funktion in der „Finitisierung [...] infiniter Verbformen" besteht, zählt Bäuerle (1979:15) Präsens, Präteritum und Futur. Neben der Verwendung als Rahmenintervall erwähnt Bäuerle (1977:12, 1979:50f.) eine weitere Verwendungsweise der Betrachtzeit: als Evaluationszeit, d. h. als die Zeit, „von der aus gezählt wird"; sie ist allerdings nur für Temporaladverbiale und infinite Perfektpropositionen relevant. So fungiert in (4-03) das durch gestern spezifizierte Zeitintervall als eine Evaluationszeit für vor einer Woche und das daraus resultierende Intervall wiederum als eine Evaluationszeit für am Nachmittag. (4-03)

Hans kam gestern vor einer Woche am Nachmittag. (Bäuerle 1977:12)

Die finiten Verbformen Perfekt und Plusquamperfekt analysiert Bäuerle (1979:15f., 77-89) kompositionell als „Präsens + Perfekt" resp. „Präteritum + Perfekt". Die Evaluationszeit des infiniten Perfektausdrucks (ζ. B. gekommen sein) ist dabei im Rahmenintervall des finiten Tempus (Präsens resp. Präteritum) enthalten. In einem Satz wie Hans ist gekommen handelt es sich bei dem Rahmenintervall um eine dem Kontext zu entnehmende Zeit, die die Sprechzeit inkludiert. Enthält ein Perfektsatz hingegen ein anteriores Tadv, das eine der Sprechzeit vorausliegende Betrachtzeit spezifiziert, so hat das Perfekt reine Vergangenheitsbedeutung und ist als eine analytische Variante des Präteritums aufzufassen (so in Hans ist gestern gekommen). Das deutsche Perfekt ist also in der Auffassung von Bäuerle (1979) systematisch ambig. In der Bäuerleschen Tradition einer rahmenartigen Betrachtzeit arbeiten u. a. FabriciusHansen (1986), Ballweg (1988) und Zifonun et al. (1997). Fabricius-Hansen (1986) greift den Ansatz von Bäuerle (1979) auf und entwickelt ihn weiter. Für sie ergibt sich die Betrachtzeit einer Äußerung aus der Zusammenwirkung mehrerer Betrachtzeiten, die durch verschiedene Temporalausdrücke - darunter auch Tempora - lokalisiert werden, wobei die Skopusverhältnisse eine (mitunter entscheidende) Rolle spielen. Anders als Bäuerle geht sie davon aus, dass Temporaladverbiale im Skopus von Tempora stehen können. Der Temporalausdruck mit dem weitesten Skopus stellt die Betrachtzeit für seine Argumentproposition10 bereit. Diese Betrachtzeit wird gegebenenfalls durch den nächsten Temporalausdruck modifiziert (d. h. auf das Überlappungsintervall eingeschränkt) oder als eine Evaluationszeit benutzt. Handelt es sich dagegen bei dem Argument um die Basisproposition,11 kann die Betrachtzeit nach ihren Aktzeiten abgesucht werden, um den Wahrheitswert der Äußerung zu bestimmen.12

10

11

12

Argumentproposition eines Ausdrucks ist die Proposition, auf die der Ausdruck angewandt wird. Eine Proposition ist die Bedeutung eines Satzes bzw. einer Verbalphrase (offene Proposition); vgl. Fabricius-Hansen (1986:49,160). Basispropositionen sind in Fabricius-Hansens Terminologie die Bedeutungen von infiniten Sätzen ohne Temporalausdrücke irgendwelcher Art (Fabricius-Hansen 1986:50). Fabricius-Hansen (1991:722) nennt dieses Konstrukt den tempuslosen Restsatz, Zifonun et al. (1997:1690) - tempuslosen Satzrest, Klein (2000:368) - Satzbasis (vgl. unten 4.2.4). Liegen die durch das Tempus bereitgestellte und die kontextuell gelieferte Betrachtzeit ganz auseinander, ist der entsprechende Satz uninterpretierbar (vgl. *Nächstes Jahr findet ein Linguistenkongreß statt. Unter den Teilnehmern waren 3 Norweger. Fabricius-Hansen 1986:67)

162

Auf der Unterscheidung zwischen Betrachtzeit und Evaluationszeit basiert die Unterscheidung zwischen definiter und indefiniter Tempusverwendung (Fabricius-Hansen 1989:158-161). Bei indefiniter Verwendung drückt das Tempus aus, dass irgendeine Aktzeit in der filr das Tempus charakteristischen Relation zur Sprechzeit (oder einer anderen kontextuell vorgegebenen Evaluationszeit) steht. In isolierten Sätzen ohne Tadv und ohne einen relevanten Kontext ist nur die indefinite Tempusverwendung möglich. So ist ein Perfektsatz wie (4-04) als (4-04a) zu analysieren. (4-04)

Anna hat zweimal mit den Nachbarn gesprochen. (Fabricius-Hansen 1986:103)

(4-04a) 'PRÄS (PERF (Anna zweimal mit den Nachbarn sprechen))'

Der PERF-Operator weist der Argumentproposition die Vereinigung aller ganz oder überlappend vor der Sprechzeit liegenden Intervalle als den Rahmen zu, innerhalb dessen ihre Aktzeit enthalten sein muss (vgl. Abb. 4.1). Abb. 4.1: Indefinite Verwendung des Perfekts BZ



ä—•

• AZ,

AZ2

SZ (EvZ)

SZ - Sprechzeit, EvZ - Evaluationszeit, AZ h AZ2 - Aktzeiten, BZ - Betrachtzeit

Bei definiter Verwendung hat ein Temporalausdruck (ζ. B. ein Temporaladverbial), der die Betrachtzeit etabliert, den weitesten Skopus. Das Tempus leitet - wie in Bäuerle (1979) beschrieben - die Betrachtzeit an die infinite Basisproposition weiter und spielt allenfalls eine den Kontext restringierende Rolle. Ein Perfektsatz mit einem simultanen Temporaladverbial (vgl. (4-05)) kann entweder définit oder indefinit gedeutet werden. In der definiten Lesart fungiert der (Uberlappend) vor der Sprechzeit liegende Teil des Äußerungstages (heute) als die Betrachtzeit der Basisproposition ((4-05a), Abb. 4.2a; vgl. Fabricius-Hansen 1989:159). (4-05)

Heute hat Anna zweimal mit den Nachbarn gesprochen. (Fabricius-Hansen 1986:109)

(4-05a) 'Heute (PRÄS (PERF (Anna zweimal mit den Nachbarn sprechen)))' (ebd. 111)

Abb. 4.2 a: Definite Verwendung des Perfekts in Kookkurrenz mit heute BZ

r~

Β

Η AΖ,

Äußerungstag

zj Β AZ2



SZ (EvZ)

In der indefiniten Perfektlesart erlegt das Präsens seiner Argumentproposition die Bedingung auf, dass ihre Betrachtzeit die Sprechzeit enthalten oder ihr nachfolgen muss. Das ganze durch heute spezifizierte Intervall (der ganze Äußerungstag) erfüllt diese Bedingung. Daher wird der ganze Äußerungstag zur Evaluationszeit, vor der die Betrachtzeit für die

163 Basisproposition liegt ((4-05b)). In dieser Lesart ist also der Satz (4-05) nach FabriciusHansen (1989:110) synonym mit (4-05b'). (4-05b) 'PRÄS (heute (PERF (Anna zweimal mit den Nachbarn sprechen)))' (ebd. 111) (4-05b') Anna hat bis (einschließlich) heute (insgesamt) zweimal mit den Nachbarn gesprochen, (ebd.) Abb. 4.2 b: Indefinite Verwendung des Perfekts in Kookkurrenz mit heute BZ Β

;

Β AΖ,

AZj

EvZ (Äußerungstag) j Β SZ



Das sog. fiiturische Perfekt {Nächsten Mittwoch hat Anna zweimal mit den Nachbarn gesprochen.) lässt nur die indefinite Deutung zu. Wird das Perfekt hingegen mit einem anterioren Tadv kombiniert, so ist die definite Deutung die einzig mögliche 13 und „das Präsens Perfekt entspricht hier dem Präteritum, es ist kein 'echtes' Perfekt mehr" (Fabricius-Hansen 1986:116, (4-06), (4-06a)). Das „echte" und das mit dem Präteritum äquivalente Perfekt sind nach Fabricius-Hansen kontextbedingte Varianten, die auf einer einheitlichen Grundbedeutung basieren. (4-06) Letzten Mittwoch hat Anna zweimal mit den Nachbarn gesprochen. (4-06a) 'Letzten Mittwoch (PRÄS (PERF (Anna zweimal mit den Nachbarn sprechen)))' Während Präsens und Perfekt sowohl définit als auch indefinit gebraucht werden können, verlangt das Präteritum stets Verankerung in einer durch den Kontext gelieferten Betrachtzeit und somit die definite Verwendung (vgl. Fabricius-Hansen 1986:37, 97). 14

4.2.2 Situationszeit (TSit), Äußerungszeit (TU), Topikzeit (TT) Klein (1994 u. ö.) charakterisiert sein Konzept der Topikzeit (topic time) auf eine Weise, die an die Definition der Betrachtzeit bei Bäuerle (1977, 1979) erinnert: „the time for which a particular utterance makes an assertion" (Klein 1994:37). Jede deklarative Äußerung, so Kleins Ausgangspunkt, handelt von etwas, lässt sich als Antwort auf eine Frage begreifen, welche die Person oder Sache, die Zeit und den Ort usw. vorgibt, über die gesprochen werden soll. Diese vorgegebene Entitätenmenge bildet die Topikkomponente, deren Funktion darin besteht, den Fokus der Äußerung einzugrenzen.

13

14

Indefinit verwendetes Perfekt mit anterioren Temporaladverbial ist nur als das sog. historische Perfekt, d.h. als Teil größerer, im historischen Präsens verfasster Texte akzeptabel (vgl. Von 1978 bis 1985 lebt Friederike in einem Mietshaus in Köln. Am 2. April 1982 hat sie zweimal mit den Nachbarn gesprochen. Fabricius-Hansen 1986:119). Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Argumente zugunsten der definiten Tempusinterpretation meistens anhand des (deutschen oder englischen) Präteritums formuliert worden sind (vgl. Partee 1973:602, Kratzer 1978:69, Hamann 1987:46-52). Zur Kritik s. Declerck (1991:305f.).

164 A question like What happened to Peter in the disco? confines the focus component of the possible answer (or answers) to a set of possible incidents of a person (Peter) at some place (the disco) at some time (not explicitly specified - the time when he was in the disco). (Klein 1994:39)

Wie die Betrachtzeit bei Bäuerle (1979) und Fabricius-Hansen (1986) kann auch die Kleinsche Topikzeit mehr oder weniger präzise sprachlich (ζ. B. adverbial) spezifiziert werden, oder sie ergibt sich aus dem gemeinsamen Redehintergrund der Gesprächspartner. Wird einem Zeugen vor Gericht die Frage gestellt What did you observe when you entered the room?, so ist die Topikzeit seiner Antwort ziemlich präzise eingegrenzt (vorausgesetzt, dass es bereits klar ist, von welchem Raum und welchem Tag die Rede ist). Lautet die Frage What did you observe that day?, so wird sprachlich zuerst nur ein relativ weiter zeitlicher Rahmen abgesteckt, den der Zeuge vermutlich im Hinblick auf die Gricesche Maxime be relevant eingrenzen wird (vgl. Klein 1994:38). Ähnlich wie Bäuerle in Bezug auf die Betrachtzeit betont Klein, dass die Funktion der Tempora ausschließlich in der Lokalisierung der Topikzeit besteht: Tense is a relation between the time of utterance and the topic time. If anything can be said about the relation between the time of the situation [...] and the time of utterance, then it is only by inference: it depends on the relation between topic time and time of utterance, on the lexical content, and on the way in which this lexical content is linked to the topic time (that is, on aspect). (Klein 1994:226)

Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen ergeben sich vor allem im Hinblick auf die Relation zwischen der Aktzeit (resp. Situationszeit) und der Betrachtzeit (resp. Topikzeit). Für Bäuerle ist die Aktzeit immer vollständig in der Betrachzeit enthalten. Bäuerle (1979) analysiert isolierte Beispielsätze wie (4-01) und (4-02), bei denen das adverbial fixierte Betrachtzeitintervall größer ist, als eine durchschnittliche Einzelaktzeit der in der Basisproposition ausgedrückten Situation. Klein (1994) führt dagegen mit Vorliebe Beispiele an, in denen die Topikzeit wesentlich kürzer ist, als die (anzunehmende) Situationszeit, und folglich ihr Teilintervall bildet (vgl. (4-07a-c)). (4-07) Judge: What did you notice, when you entered the room? Witness: [a] A man was lying on the floor, [b] He was Chinese or Japanese, [c] He did not move, [d] A woman took a purse from his pocket, (vgl. ebd. 40)

Derartige Beispiele sind dafür geeignet, die eingrenzende Funktion von Tempora herauszustellen: Unabhängig von der typischen (und/oder im konkreten Kontext anzunehmenden) Ausdehnung der beschriebenen Situation ist die Topikzeit der einzige Abschnitt der Zeitachse, für den das Bestehen der Situation mit der Äußerung behauptet wird. Der Ansatz von Klein lässt aber auch andere Relationen zwischen TT und TSit zu: Die TT kann der TSit vorangehen oder folgen, sie kann die TSit enthalten oder in ihr völlig enthalten sein. Die gegenseitige Lokalisierung von TT und TSit ist dabei nach Klein (1994:124, 2000:364) nicht Teil der Tempusbedeutung, sondern sie fällt unter die semantische Kategorie des Aspekts (notional aspect category). Das Englische besitzt im progressive ein morphologisches Mittel zum Ausdruck der aspektuellen Relation „TT incl TSit" (vgl. 4-07a). Die einfache Form lokalisiert dagegen die Situationszeit als irgendwie überlappend mit der Topikzeit („TT at TSit"), wobei die Art der Überlappungsrelation nur aufgrund des lexikalischen Gehalts und des Weltwissens genauer spezifiziert werden kann (s. oben 4.1.2). Dies gilt

165 generell auch für das Deutsche, das (bis auf die rheinische Verlaufsform) keine morphologische Aspektkategorie besitzt. So haben im Deutschen die traditionell als Präsens, Futur I und Präteritum bezeichneten Verbformen die aspektuelle Bedeutung „TT at TSit". Sie unterscheiden sich in ihrer Tempusbedeutung, d. h. in der Relation zwischen TT und TU: Futur I Präsens Präteritum

TU before TT TU incl TT (bzw. TU not-after TT) TU after TT (Klein 1994:126)

Darüber hinaus gibt es finite Tempusformen wie das Plusquamperfekt und das Futur II, die die aspektuelle Relation „TT after TSit" ausdrücken. Klein (1994:131) analysiert sie als Kombinationen aus Tempus und Aspekt. Träger der Aspektbedeutung ist dabei das Perfektpartizip, während die Tempusbedeutung durch das finite Auxiliar beigesteuert wird. Plusquamperfekt Futur II

TU after TT and TT after TSit TU before TT and TT after TSit (ebd. 129)

Das deutsche Perfekt betrachtet Klein (1994:128f.) als ambig zwischen der Tempusbedeutung „TU after TT", in der es mit dem Präteritum synonym ist, und der (diachron gesehen früheren) Aspektbedeutung „TT after TSit", die in geeigneten Kontexten zum Vorschein kommen kann. In Klein (2000) wird hingegen gezeigt, dass es sich bei den beiden Perfektvarianten um zwei Lesarten handelt, welche aufgrund einer strukturellen Ambiguität zustande kommen, während das Perfekt eine einheitliche Bedeutung hat, die sich kompositionell aus der Interaktion seiner Bestandteile (der Finitheitsmarkierung, des Auxiliars und des Perfektpartizips) ergibt (s. unten 4.2.4).

4.2.3 Ereigniszeit (E), Sprechzeit (S), Referenzzeit (R) Die meisten modernen Theorien der Zeitreferenz gründen im Ansatz von Reichenbach (1947, 19662), dem zufolge zur Beschreibung der Bedeutung von Tempora drei Zeitvariablen benötigt werden: „point of speech" (S), „point of event" (E) und „point of reference" (R). Der Begriff des „point of reference" wird anhand des Plusquamperfektsatzes Peter had gone eingeführt, den Reichenbach folgendermaßen kommentiert: In the example the point of event is the time when Peter went; the point of reference is a time between this point and the point of speech, (ebd.)

Im Fall eines Plusquamperfekts ist R typischerweise - so Reichenbach weiter - die Zeit von vorerwähnten Ereignissen, die relativ zur Sprechzeit vergangen sind und auf die mit dem Präteritum referiert wird. Der „point of event" der Plusquamperfektform liegt diesem Referenzpunkt voraus: The series of events recounted [...] in the simple past determines the point of reference as lying before the point of speech. Some individual events [...] precede the point of reference and are therefore related in the past perfect, (ebd. 288)

Der Referenzpunkt kann auch durch ein Temporaladverbial lokalisiert werden, wie im folgenden Beispiel:

166 (4-08)

In 1678 the whole face of things had changed... eighteen years of misgovemment had made the [...] majority desirous to obtain security for their liberties at any risk. The fury of their returning loyalty had spent in its first outbreak. In a very few months they had hanged and halfhanged, quartered and embowered, enough to satisfy them. The Roundhead party seemed to be not merely overcome, but too much broken and scattered ever to rally again, (ebd. 289f.)

Reichenbach behauptet ferner, dass diese drei Punkte für alle Tempora relevant sind, wobei bei einigen Tempora zwei von ihnen zusammenfallen können. Darauf führt er den Bedeutungsunterschied zwischen Präteritum und Perfekt im Englischen zurück. In some tenses, two of the three points are simultaneous. Thus, in the simple past, the point of the event and the point of reference are simultaneous, and both are before the point of speech; the use of the simple past in the above quotation [(4-08)] shows this clearly. This distinguishes the simple past from the present perfect. [...] Much have I traveled in the realms ofgold, And many goodly states and kingdom seen; Round many western islands have I been Which bards in fealty to Apollo hold. Comparing this with the above quotations we notice that here obviously the past events are seen, not from a reference point situated in the past, but from a reference point which coincides with the point of speech. This is the reason that the words of Keats are not of a narrative type but affect us with the immediacy of a direct report to the reader." (ebd. 289)

Das Präteritum hat also die Bedeutung „E,R-S", das Perfekt: „E-R,S". 15 Durch die Unterscheidung zwischen „words of a narrative type" und „immediacy of direct report to the reader" deutet Reichenbach die Erklärungsrichtung an, der zufolge das Präteritum eine „Verankerung" in einer durch den sprachlichen Kontext i. w. S. vorgegebenen Referenzzeit verlangt (Fabricius-Hansen 1986) und insofern ein „anaphorisches Tempus" ist, während es sich beim englischen (und - in manchen Verwendungen - beim deutschen) Perfekt um ein „situatives Tempus" handelt (Ehrich 1992:100, s. auch Partee 1984:245 und unten 4.2.4). Die Theorie von Reichenbach und insbesondere seine Auffassung der Referenzzeit wurde von seinen Nachfolgern zahlreichen Umdeutungen und Verbesserungen unterworfen. Bäuerle (1979:49) hält den Referenzpunkt bei den „einfachen Tempora" Präsens, Präteritum und Futur für „schlicht redundant". Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass in seinem Ansatz (der - anders als Reichenbach 19662 - nicht mit Zeitpunkten, sondern mit Zeitintervallen arbeitet) die rahmenartige Betrachtzeit eine vergleichbare Funktion übernimmt. Dabei erkennt Bäuerle nicht den besonderen „anaphorischen" Charakter des Präteritums, das einen „Anker" im Kontext verlangt. Der Referenzpunkt hat für Bäuerle allenfalls Sinn bei den Perfekttempora, wo er mit seiner Evaluationszeit identisch sei. Es handelt sich also um die „Zeit, von der aus gezählt wird", genauer: von der aus gesehen die Ereigniszeit (der Argumentproposition des Perfektoperators) vergangen ist. Auch Comrie (1981, 1985) hält die Annahme eines mit E oder S zusammenfallenden Referenzpunktes für unnötig: Die Basis- bzw. absoluten Tempora 16 Präsens, Präteritum und Futur seien durch die Relation zwischen E und S („E,S", „E-S" bzw. „S-E") hinreichend 15

16

Bei den Relationen kann es sich entweder um ein Vorangehen oder um ein Zusammenfallen der beiden Punkte handeln, symbolisch dargestellt durch einen waagerechten Strich („X-Y") resp. ein Komma („X,Y"). Comrie (1981:28) spricht von basic tenses, Comrie (1985:122f.) von absolute tenses. Zur Unterscheidung von absoluten und relativen Tempora, siehe unten 4.2.10.

167 charakterisiert. Auch er verbindet diese Ansicht konsequenterweise mit der Ablehnung der Reichenbachschen Analyse von Präteritum und Perfekt als „E,R-S" vs. „E-R,S": However perfect differs from past, it is not simply the result of a difference in point of reference. (Comrie 1981:28)

Die Bedeutung des englischen Präteritums repräsentiert Comrie (1985:122) als „E before S". Die Relation „before" ist dabei definiert als „wholly (or: properly) before", d. h. als vollständiges Vorausliegen.17 An einer anderen Stelle bemerkt Comrie allerdings, dass die vollständige Anteriorität der betreffenden Situation relativ zur Sprechzeit nicht Teil der Bedeutung des Präteritums ist, sondern allenfalls eine konversationelle Implikatur. It should be noted that use of the past tense only locates the situation in the past, without saying anything about whether that situation continues to the present or onto the future, although here is often a conversational implicature that it does not continue to or beyond the future. (Comrie 1985:4 If.)

Genau die gleiche Beobachtung veranlasste Klein zur Annahme, dass das Präteritum nicht die Ereigniszeit (TSit) vollständig vor der Sprechzeit lokalisiert, sondern eine Topikzeit, mit der die Ereigniszeit überlappt (vgl. Klein 2000:364). Declerck (1986:313) zeigt, dass Comrie die Ereigniszeit E impräzise definiert. Einerseits wird E als „time point or interval which is occupied by the situation to be located in time" charakterisiert (Comrie 1985:122), was - wie bei Decklerck (1985) und Klein (1994) - als der gesamte Abschnitt der Zeitachse, den die Situation einnimmt, verstanden werden kann. In diesem Fall ist Comries Definition des Präteritums als „E before S" defizient. Eine andere Formulierung Comries, nämlich: E sei „the time at which the situation is located" (ebd.), lässt jedoch vermuten, dass mit E eher eine Art Topikzeit im Sinne Kleins gemeint ist. Auf die explizite Erwähnung der Überlappungsrelation zwischen dieser Topikzeit und der Gesamt-Ereigniszeit wird verzichtet. Mit einer solchen Interpretation lässt sich auch Comries informelle Beschreibung von Präteritum und Perfekt vereinbaren. Likewise, the concept past time reference is neutral as between the interpretation assigned to the following two English sentences; John was in Paris; John has been in Paris. The first implies the existence of a specific occasion on which John was in Paris, the ability to refer to which is shared by speaker and hearer; and of course allows that at other times in the past John need not have been in Paris; the second simply indicates that there is some time in the past, not necessarily further identifiable by speaker or hearer, at which a proposition John be in Paris held. (Connie 1985:441)

Comrie ist sich also offenbar der grundsätzlichen Definitheit/Anaphorizität des Präteritums im Gegensatz zur Indefinitheit des Perfekts bewusst. Allerdings betrachtet er diese Phänomene nicht als Teil der Tempusbedeutung. In den folgenden Ausführungen geht der für Reichenbach grundlegende Unterschied zwischen der Lokalisierung „at a time prior to the present moment" und „(simply) prior to the present moment/reference point" verloren. The past locates an event in time prior to the present moment. If one were to provide an analysis of the perfect analogous to that of the pluperfect and the future perfect, then one would say that the reference point for the perfect is simultaneous with the present moment [...] The situation in question would then be located in time prior to this reference point. In terms of location in time how-

17

„On the time line an interval X is before an interval Y (X before Y) if and only if each time point within X is to the left of each time point within Y." (Comrie 1985:122)

168 ever this would give precisely the same result as the past, which also locates a situation as prior to the present moment. Thus, however perfect differs from past, it is not in terms of time location, (ebd. 78)

Auch der Gebrauch „in Sequenz" findet nach Comrie keinen Niederschlag in der allgemeinen invariablen Tempusbedeutung (ebd. 35, 61). In Bezug auf die übrigen Tempora zeigt Comrie, dass es adäquater ist, ihre Bedeutung nicht als eine dreistellige Relation, sondern eher als eine Konjunktion von zwei zweistelligen Relationen „R...S" und „E...R" aufzufassen. So ist die Bedeutung vom Futur Π (Futurperfekt) {John will have finished his paper by tomorrow) „S-R and E-R". Hinsichtlich der Relation zwischen E und S ist das Tempus nicht ambig (wie es die von Reichenbach vorgeschlagenen drei verschiedenen Repräsentationen nahe legen), sondern es sagt darüber nichts aus (ebd. 26). Anders als Reichenbach lässt Comrie auch mehrere Referenzzeiten zur Beschreibung einer Tempusbedeutung zu. Zum Beispiel enthält die Bedeutungsrepräsentation des Futur Präteritum II (conditional perfect) zwei Referenzzeiten: „E-Ri, Rr-Ri, Rr-S" (ebd. 76, 126). In (4-09) ist R2 die Zeit, zu der John geht, R! die Zeit seiner Rückkehr. (4-09)

John left for the front; by the time he should return, the fields would have been burnt to stubble, (ebd. 76)

Ehrich/Vater (1989) und Ehrich (1992) ziehen - wie Reichenbach (19662) - die drei Zeitvariablen E, R, S zur Bedeutungsbeschreibung aller (deutschen) Tempora heran. Wie Comrie (1985) gehen sie bei drei Zeitvarariablen von je zwei zweistelligen Relationen aus: derjenigen zwischen E und R (sie wird die „intrinsische Komponente" genannt) und derjenigen zwischen R und S („kontextuelle Komponente"). Für das deutsche Tempussystem stellen sie die folgende Tabelle zusammen. Tab. 4.4: Intrinsische und kontextuelle Bedeutung der deutschen Tempora (Ehrich/Vater 1989:120, Ehrich 1992:68)18 kontextuelle Bedeutung

intrinsische Bedeutung

E,R E