Sprachethik im Neuen Testament: Eine Analyse des frühchristlichen Diskurses im Matthäusevangelium, im Jakobusbrief und im 1. Petrusbrief: 394 ... Untersuchungen zum Neuen Testament 2. Reihe) 3161523989, 9783161523984

Susanne Luther gibt in ihrer Studie zur Sprachethik im Neuen Testament einen Überblick über sprachethische Weisungen in

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Sprachethik im Neuen Testament: Eine Analyse des frühchristlichen Diskurses im Matthäusevangelium, im Jakobusbrief und im 1. Petrusbrief: 394 ... Untersuchungen zum Neuen Testament 2. Reihe)
 3161523989, 9783161523984

Table of contents :
Cover
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1: Einleitung
1. Zum Thema
1.1 Fragestellung
1.2 Definitionen
1.2.1 Ethik
1.2.2 Sprache und Sprechen
1.2.3 Sprachethik
1.3 Gegenstand der Untersuchung und Auswahlkriterien
1.4 Fragestellung der Studie
2. Zum Stand der Forschung
2.1 Sprachethik in Gesamtentwürfen zur neutestamentlichen Ethik
2.2 Sprachethik in monographischen Abhandlungen
2.3 Sammelbände zu Sprache und Ethik
2.4 Desiderate der Forschung
3. Zur Methodik
3.1 Einführung
3.2 Zur Verwendung des Diskursbegriffs
3.3 Forschungsgeschichte: Die Diskurstheorie Michel Foucaults
3.4 Applikationsorientierte Diskurstheorien im Anschluss an Michel Foucault
3.5 Die Historische Diskursanalyse nach Achim Landwehr
3.6 Die Kritische Diskursanalyse nach Siegfried Jäger
3.7 Der hermeneutische Mehrwert der diskursanalytischen Methodik
3.8 Zur Methodik der vorliegenden Untersuchung
4. Die Bedeutung des Kontexts für die Diskursanalyse
4.1 Die Kontextanalyse als Methodenschritt der Diskursanalyse
4.2 Die Kontextanalyse neutestamentlicher Schriften
4.3 Möglichkeiten und Grenzen der neutestamentlichen Kontextanalyse
Kapitel 2: Der Zorn. Die Sprache im Zorn und die Intention des Sprechenden
1. Der diskursive Kontext
2. Sprachethik in Mt 5,21–26
2.0 Vorbemerkungen zur Struktur der Antithesenreihe
2.1 Übersetzung
2.2 Exegetische Beobachtungen
2.2.1 Argumentationsstrukturen
2.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen
2.2.3 Ideologischer Rahmen
2.2.4 Sprachethische Aspekte
3. Sprachethik in Jak 1,19–27
3.1 Übersetzung
3.2 Exegetische Beobachtungen
3.2.1 Argumentationsstrukturen
3.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen
3.2.3 Ideologischer Rahmen
3.2.4 Sprachethische Aspekte
4. Sprachethik, Zorn und die Intention des Sprechens
Kapitel 3: Die ‚Kontrolle der Zunge‘. Affektkontrolle und das kontrollierte Sprechen
1. Der diskursive Kontext
2. Sprachethik in Jak 3,1–18
2.1 Übersetzung
2.2 Exegetische Beobachtungen
2.2.1 Argumentationsstrukturen
2.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen
2.2.3 Ideologischer Rahmen
2.2.4 Sprachethische Aspekte
3. Sprachethik in 1 Petr 3,8–12
3.1 Übersetzung
3.2 Exegetische Beobachtungen
3.2.1 Argumentationsstrukturen
3.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen
3.2.3 Ideologischer Rahmen
3.2.4 Sprachethische Aspekte
4. Sprachkontrolle oder Schweigeethik?
Kapitel 4: Das falsche Sprechen. Inadäquate Formen und Intentionen des Sprechens
1. Der diskursive Kontext
2. Sprachethik in Mt 12,31–37 par./Mt 7,15–23
2.1 Übersetzung
2.2 Exegetische Beobachtungen
2.2.1 Argumentationsstrukturen
2.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen
2.2.3 Ideologischer Rahmen
2.2.4 Sprachethische Aspekte
3. Sprachethik in Katalogen und katalogischen Reihungen
3.1 Übersetzung
3.2 Exegetische Beobachtungen
3.2.1 Argumentationsstrukturen
3.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen
3.2.3 Ideologischer Rahmen
3.2.4 Sprachethische Aspekte
4. Sprachethik in paränetischen Einzelmahnungen
4.1 Übersetzung
4.2 Exegetische Beobachtungen
4.2.1 Argumentationsstrukturen
4.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen
4.2.3 Ideologischer Rahmen
4.2.4 Sprachethische Aspekte
5. Formen der Sprache und inadäquate Formen der Sprache
Kapitel 5: Das Schwören. Sprechakte und die Wahrhaftigkeit der Sprache
1. Der diskursive Kontext
2. Sprachethik in Mt 5,33–37
2.1 Übersetzung
2.2 Exegetische Beobachtungen
2.2.1 Argumentationsstrukturen
2.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen
2.2.3 Ideologischer Rahmen
2.2.4 Sprachethische Aspekte
3. Sprachethik in Jak 5,12
3.1 Übersetzung
3.2 Exegetische Beobachtungen
3.2.1 Argumentationsstrukturen
3.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen
3.2.3 Ideologischer Rahmen
3.2.4 Sprachethische Aspekte
4. Die Wahrhaftigkeit der Sprechakte und die Integrität der Person
Kapitel 6: Der gespaltene Mensch. Die Integrität der Person und das Sprechen
1. Der diskursive Kontext
2. Sprachethik in Mt 21,28–32
2.1 Übersetzung
2.2 Exegetische Beobachtungen
2.2.1 Argumentationsstrukturen
2.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen
2.2.3 Ideologischer Rahmen
2.2.4 Sprachethische Aspekte
3. Sprachethik in Mt 15,10f. 15–20
3.1 Übersetzung
3.2 Exegetische Beobachtungen
3.2.1 Argumentationsstrukturen
3.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen
3.2.3 Ideologischer Rahmen
3.2.4 Sprachethische Aspekte
4. Sprachethik in Jak 1,26f.
4.1 Übersetzung
4.2 Exegetische Beobachtungen
4.2.1 Argumentationsstrukturen
4.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen
4.2.3 Ideologischer Rahmen
4.2.4 Sprachethische Aspekte
5. Sprachethik in Jak 3,9–12
5.1 Übersetzung
5.2 Exegetische Beobachtungen
5.2.1 Argumentationsstrukturen
5.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen
5.2.3 Ideologischer Rahmen
5.2.4 Sprachethische Aspekte
6. Die Integrität des Herzens und die reine Sprache
Kapitel 7: Vom Richten zur Zurechtweisung. Die Sprache in der Verantwortung des Menschen
1. Der diskursive Kontext
2. Sprachethik in Mt 7,1–5
2.1 Übersetzung
2.2 Exegetische Beobachtungen
2.2.1 Argumentationsstrukturen
2.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen
2.2.3 Ideologischer Rahmen
2.2.4 Sprachethische Aspekte
3. Sprachethik in Jak 4,11f.
3.1 Übersetzung
3.2 Exegetische Beobachtungen
3.2.1 Argumentationsstrukturen
3.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen
3.2.3 Ideologischer Rahmen
3.2.4 Sprachethische Aspekte
4. Sprachethik in Mt 18,15–18
4.1 Übersetzung
4.2 Exegetische Beobachtungen
4.2.1 Argumentationsstrukturen
4.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen
4.2.3 Ideologischer Rahmen
4.2.4 Sprachethische Aspekte
5. Sprachethik in Jak 5,19f.
5.1 Übersetzung
5.2 Exegetische Beobachtungen
5.2.1 Argumentationsstrukturen
5.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen
5.2.3 Ideologischer Rahmen
5.2.4 Sprachethische Aspekte
6. Der Mensch in seiner Verantwortung vor dem Nächsten und vor Gott
Kapitel 8: Diskursanalyse. Der Diskursstrang der Sprachethik im Neuen Testament
1. Rekonstruktion der Diskurspositionen
1.1 Sprachethik im Matthäusevangelium
1.2 Sprachethik im Jakobusbrief
1.3 Sprachethik im 1 Petrusbrief
1.4 Weitere Diskursfragmente im Neuen Testament und in der frühchristlichen Literatur
1.5 Resümee: Die Diskurspositionen im Vergleich
2. Rekonstruktion des neutestamentlichen Diskursstrangs
3. Diskurskritik
4. Ausblick
Anhang: Das Gesetz im Jakobusbrief
Bibliographie
Abkürzungen
1. Quellen und Übersetzungen
2. Hilfsmittel (Lexika, Konkordanzen, Grammatiken etc.)
3. Kommentare
4. Monographien, Aufsätze, Artikel etc.
Stellenregister
1. Altes Testament
2. Pagane antike Schriften
3. Schriften des Josephus und des Philo von Alexandrien
4. Literatur des antiken Judentums (atl. Apokryphen, jüdisch-hellenistische Texte, Qumrantexte etc.) und Rabbinica
5. Neues Testament
6. Frühchristliche Schriften
Personenregister
Sachregister

Citation preview

Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament · 2. Reihe Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) · James A. Kelhoffer (Uppsala) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL) · Tobias Nicklas (Regensburg) J. Ross Wagner (Durham, NC)

394

Susanne Luther

Sprachethik im Neuen Testament Eine Analyse des frühchristlichen Diskurses im Matthäusevangelium, im Jakobusbrief und im 1. Petrusbrief

Mohr Siebeck

Susanne Luther, geboren 1979; Studium der Evangelischen Theologie und Anglistik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen und der Universität Durham (GB); 2004 M. A. an der Universität Durham (GB); 2012 Promotion; derzeit Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

e-ISBN PDF 978-3-16-152676-3 ISBN 978-3-16-152398-4 ISSN 0340-9570 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2015 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Nehren auf alterungbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.

Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2012 von der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Promotionsschrift angenommen. Für den Druck wurde sie geringfügig überarbeitet. Von den vielen Menschen, die die Abfassung der Arbeit begleitet und unterstützt haben, können nur wenige an dieser Stelle Erwähnung finden. Besonderer Dank gilt meiner Doktormutter Frau Prof. Dr. Oda Wischmeyer, die bereits im Studium mein Interesse an der neutestamentlichen Exegese geweckt und gefördert hat und mir eine inspirierende theologische Lehrerin war. Sie hat diese Untersuchung angeregt und ihren Entstehungsprozess mit kritischem Interesse und Geduld unterstützt und begleitet. Für die Erstellung des Zweitgutachtens und weiterführende Anregungen für die Drucklegung danke ich Herrn Prof. Dr. Lukas Bormann. Ferner danke ich Herrn Prof. Dr. Loren Stuckenbruck für anregende Diskussionen während eines Forschungsaufenthalts am Princeton Theological College im Sommer 2010 sowie für die Erstellung des auswärtigen Gutachtens. Das Erlanger neutestamentliche Doktorandenkolloquium sowie die Mainzer Neutestamentliche Sozietät boten die Gelegenheit, verschiedene Aspekte des Themas vorzustellen und zu diskutieren. Für konstruktive Kritik und weiterführende Impulse sei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern herzlich gedankt. Wichtige Hinweise verdanke ich zudem der kritischen Diskussion meines Promotionsprojektes in der Nachwuchs-Sektion der Jahrestagung der Rudolf-Bultmann-Gesellschaft für hermeneutische Theologie in Hofgeismar 2010, im Rahmen eines Workshops zum Thema Diskurstheorie, Diskursanalyse und Diskursgeschichte mit Prof. Dr. Achim Landwehr an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 2010 sowie in der Session zu Speech and Talk auf dem Society of Biblical Literature Annual Meeting in San Francisco 2011. Besondere Erwähnung verdienen zudem die wertvollen Hinweise zum diskursiven Kontext des neutestamentlichen Diskursstrangs, die ich Herrn Prof. Dr. Dieter Zeller † verdanke. In ganz besonderer Weise gilt mein Dank Herrn Prof. Dr. Ruben Zimmermann, der mir während meiner Tätigkeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl seit 2009 stets Ermutigung und Förderung zukommen ließ und durch die äußerst angenehme Arbeitsatmosphäre sowie

VI

Vorwort

die vielen Freiräume für meine eigene wissenschaftliche Arbeit die Fertigstellung der Promotionsschrift ermöglicht hat. Für unermüdliches und gründliches Korrekturlesen und sowie viele anregende Diskussionen gilt mein besonderer Dank Dipl.-Theol. Markus Lau, Jörg Röder und Dr. Elke Morlok. Für die Unterstützung mit den Korrekturen sowie für die Mitwirkung bei der Erstellung der Register danke ich Dr. rer. nat. Julia Luther, Jakobine Eisenach, Lydia Vöhl und Leonie Licht. Darüber hinaus möchte ich noch denjenigen danken, von deren Seite ich während der Promotionsphase in vielfältiger Weise Unterstützung und Ermutigung erfahren habe und die dadurch Wesentliches zum Gelingen dieses Projekts beigetragen haben – insbesondere Frau Prof. Dr. Carola Jäggi und Sr. Margaret Cathcart ASSP †. Ganz herzlich danke ich an dieser Stelle auch meinen Eltern, Hermann und Karin Luther, die meinen Weg stets mit Interesse und umfassender Unterstützung begleitet haben. Schließlich danke ich Herrn Prof. Dr. Jörg Frey für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament (2. Reihe). Herrn Dr. Henning Ziebritzki, Frau Katharina Stichling, Herrn Simon Schüz und Herrn Matthias Spitzner vom Verlag Mohr Siebeck danke ich für die Unterstützung und stets geduldige Betreuung bei der Erstellung der Druckfassung. Mainz, im März 2015

Susanne Luther

Inhaltsverzeichnis Vorwort ........................................................................................................... V

Kapitel 1: Einleitung .................................................................................. 1 1. Zum Thema ................................................................................................. 1 1.1 Fragestellung......................................................................................... 1 1.2 Definitionen ......................................................................................... 3 1.2.1 Ethik ............................................................................................ 3 1.2.2 Sprache und Sprechen ................................................................. 7 1.2.3 Sprachethik ................................................................................. 9 1.3 Gegenstand der Untersuchung und Auswahlkriterien ....................... 11 1.4 Fragestellung der Studie .................................................................... 15 2. Zum Stand der Forschung ......................................................................... 15 2.1 Sprachethik in Gesamtentwürfen zur neutestamentlichen Ethik ....... 16 2.2 Sprachethik in monographischen Abhandlungen .............................. 17 2.3 Sammelbände zu Sprache und Ethik ................................................. 21 2.4 Desiderate der Forschung .................................................................. 22 3. Zur Methodik ............................................................................................ 23 3.1 Einführung ......................................................................................... 23 3.2 Zur Verwendung des Diskursbegriffs ................................................ 25 3.3 Forschungsgeschichte: Die Diskurstheorie Michel Foucaults ........... 26 3.4 Applikationsorientierte Diskurstheorien im Anschluss an Michel Foucault ............................................................................................. 30 3.5 Die Historische Diskursanalyse nach Achim Landwehr ................... 32 3.6 Die Kritische Diskursanalyse nach Siegfried Jäger ........................... 35 3.7 Der hermeneutische Mehrwert der diskursanalytischen Methodik ... 40 3.8 Zur Methodik der vorliegenden Untersuchung .................................. 43 4. Die Bedeutung des Kontexts für die Diskursanalyse ................................ 47 4.1 Die Kontextanalyse als Methodenschritt der Diskursanalyse ........... 47 4.2 Die Kontextanalyse neutestamentlicher Schriften ............................. 48 4.3 Möglichkeiten und Grenzen der neutestamentlichen Kontextanalyse .................................................................................. 64

VIII

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 2: Der Zorn. Die Sprache im Zorn und die Intention des Sprechenden ........................................................................................ 67 1. Der diskursive Kontext ............................................................................. 68 2. Sprachethik in Mt 5,21–26 ........................................................................ 82 2.0 Vorbemerkungen zur Struktur der Antithesenreihe ........................... 82 2.1 Übersetzung ....................................................................................... 84 2.2 Exegetische Beobachtungen .............................................................. 84 2.2.1 Argumentationsstrukturen ........................................................ 84 2.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen ............... 95 2.2.3 Ideologischer Rahmen .............................................................. 99 2.2.4 Sprachethische Aspekte .......................................................... 102 3. Sprachethik in Jak 1,19–27 ..................................................................... 110 3.1 Übersetzung ..................................................................................... 110 3.2 Exegetische Beobachtungen ............................................................ 110 3.2.1 Argumentationsstrukturen ...................................................... 110 3.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen ............. 120 3.2.3 Ideologischer Rahmen ............................................................ 126 3.2.4 Sprachethische Aspekte .......................................................... 130 4. Sprachethik, Zorn und die Intention des Sprechens ............................... 132

Kapitel 3: Die ‚Kontrolle der Zunge‘. Affektkontrolle und das kontrollierte Sprechen ........................................................................... 135 1. Der diskursive Kontext ........................................................................... 135 2. Sprachethik in Jak 3,1–18 ....................................................................... 145 2.1 Übersetzung ..................................................................................... 145 2.2 Exegetische Beobachtungen ............................................................ 146 2.2.1 Argumentationsstrukturen ...................................................... 146 2.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen ............. 159 2.2.3 Ideologischer Rahmen ............................................................ 164 2.2.4 Sprachethische Aspekte .......................................................... 167 3. Sprachethik in 1 Petr 3,8–12 ................................................................... 171 3.1 Übersetzung ..................................................................................... 171 3.2 Exegetische Beobachtungen ............................................................ 171 3.2.1 Argumentationsstrukturen ...................................................... 171 3.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen ............. 175 3.2.3 Ideologischer Rahmen ............................................................ 179 3.2.4 Sprachethische Aspekte .......................................................... 183 4. Sprachkontrolle oder Schweigeethik? .................................................... 185

Inhaltsverzeichnis

IX

Kapitel 4: Das falsche Sprechen. Inadäquate Formen und Intentionen des Sprechens .................................................................... 187 1. Der diskursive Kontext ........................................................................... 187 2. Sprachethik in Mt 12,31–37 par./Mt 7,15–23 ......................................... 202 2.1 Übersetzung ..................................................................................... 202 2.2 Exegetische Beobachtungen ............................................................ 202 2.2.1 Argumentationsstrukturen ...................................................... 202 2.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen ............. 207 2.2.3 Ideologischer Rahmen ............................................................ 213 2.2.4 Sprachethische Aspekte .......................................................... 214 3. Sprachethik in Katalogen und katalogischen Reihungen ....................... 220 3.1 Übersetzung ..................................................................................... 220 3.2 Exegetische Beobachtungen ............................................................ 221 3.2.1 Argumentationsstrukturen ...................................................... 221 3.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen ............. 228 3.2.3 Ideologischer Rahmen ............................................................ 230 3.2.4 Sprachethische Aspekte .......................................................... 232 4. Sprachethik in paränetischen Einzelmahnungen .................................... 234 4.1 Übersetzung ..................................................................................... 234 4.2 Exegetische Beobachtungen ............................................................ 235 4.2.1 Argumentationsstrukturen ...................................................... 235 4.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen ............. 236 4.2.3 Ideologischer Rahmen ............................................................ 239 4.2.4 Sprachethische Aspekte .......................................................... 243 5. Formen der Sprache und inadäquate Formen der Sprache ..................... 245

Kapitel 5: Das Schwören. Sprechakte und die Wahrhaftigkeit der Sprache ............................................................................................... 247 1. Der diskursive Kontext ........................................................................... 247 2. Sprachethik in Mt 5,33–37 ...................................................................... 256 2.1 Übersetzung ..................................................................................... 256 2.2 Exegetische Beobachtungen ............................................................ 256 2.2.1 Argumentationsstrukturen ...................................................... 256 2.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen ............. 262 2.2.3 Ideologischer Rahmen ............................................................ 268 2.2.4 Sprachethische Aspekte .......................................................... 271 3. Sprachethik in Jak 5,12 .......................................................................... 273 3.1 Übersetzung ..................................................................................... 273 3.2 Exegetische Beobachtungen ............................................................ 273

X

Inhaltsverzeichnis

3.2.1 Argumentationsstrukturen ...................................................... 273 3.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen ............. 274 3.2.3 Ideologischer Rahmen ............................................................ 278 3.2.4 Sprachethische Aspekte .......................................................... 279 4. Die Wahrhaftigkeit der Sprechakte und die Integrität der Person .......... 279

Kapitel 6: Der gespaltene Mensch. Die Integrität der Person und das Sprechen .................................................................................... 281 1. Der diskursive Kontext ........................................................................... 281 2. Sprachethik in Mt 21,28–32 .................................................................... 295 2.1 Übersetzung ..................................................................................... 295 2.2 Exegetische Beobachtungen ............................................................ 295 2.2.1 Argumentationsstrukturen ...................................................... 295 2.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen ............. 306 2.2.3 Ideologischer Rahmen ............................................................ 310 2.2.4 Sprachethische Aspekte .......................................................... 314 3. Sprachethik in Mt 15,10f. 15–20 ............................................................ 315 3.1 Übersetzung ..................................................................................... 315 3.2 Exegetische Beobachtungen ............................................................ 315 3.2.1 Argumentationsstrukturen ...................................................... 315 3.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen ............. 319 3.2.3 Ideologischer Rahmen ............................................................ 325 3.2.4 Sprachethische Aspekte .......................................................... 327 4. Sprachethik in Jak 1,26f. ......................................................................... 328 4.1 Übersetzung ..................................................................................... 328 4.2 Exegetische Beobachtungen ............................................................ 328 4.2.1 Argumentationsstrukturen ...................................................... 328 4.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen ............. 330 4.2.3 Ideologischer Rahmen ............................................................ 333 4.2.4 Sprachethische Aspekte .......................................................... 336 5. Sprachethik in Jak 3,9–12 ....................................................................... 337 5.1 Übersetzung ..................................................................................... 337 5.2 Exegetische Beobachtungen ............................................................ 338 5.2.1 Argumentationsstrukturen ...................................................... 338 5.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen ............. 339 5.2.3 Ideologischer Rahmen ............................................................ 340 5.2.4 Sprachethische Aspekte .......................................................... 342 6. Die Integrität des Herzens und die reine Sprache ................................... 342

Inhaltsverzeichnis

XI

Kapitel 7: Vom Richten zur Zurechtweisung. Die Sprache in der Verantwortung des Menschen ...................................................... 345 1. Der diskursive Kontext ........................................................................... 345 2. Sprachethik in Mt 7,1–5 .......................................................................... 361 2.1 Übersetzung ..................................................................................... 361 2.2 Exegetische Beobachtungen ............................................................ 361 2.2.1 Argumentationsstrukturen ...................................................... 361 2.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen ............. 366 2.2.3 Ideologischer Rahmen ............................................................ 370 2.2.4 Sprachethische Aspekte .......................................................... 371 3. Sprachethik in Jak 4,11f. ......................................................................... 373 3.1 Übersetzung ..................................................................................... 373 3.2 Exegetische Beobachtungen ............................................................ 373 3.2.1 Argumentationsstrukturen ...................................................... 373 3.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen ............. 376 3.2.3 Ideologischer Rahmen ............................................................ 378 3.2.4 Sprachethische Aspekte .......................................................... 379 4. Sprachethik in Mt 18,15–18 .................................................................... 380 4.1 Übersetzung ..................................................................................... 380 4.2 Exegetische Beobachtungen ............................................................ 380 4.2.1 Argumentationsstrukturen ...................................................... 380 4.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen ............. 386 4.2.3 Ideologischer Rahmen ............................................................ 390 4.2.4 Sprachethische Aspekte .......................................................... 394 5. Sprachethik in Jak 5,19f. ......................................................................... 397 5.1 Übersetzung ..................................................................................... 397 5.2 Exegetische Beobachtungen ............................................................ 397 5.2.1 Argumentationsstrukturen ...................................................... 397 5.2.2 Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen ............. 400 5.2.3 Ideologischer Rahmen ............................................................ 401 5.2.4 Sprachethische Aspekte .......................................................... 402 6. Der Mensch in seiner Verantwortung vor dem Nächsten und vor Gott ............................................................................................ 403

Kapitel 8: Diskursanalyse. Der Diskursstrang der Sprachethik im Neuen Testament .............................................................................. 405 1. Rekonstruktion der Diskurspositionen .................................................... 406 1.1 Sprachethik im Matthäusevangelium .............................................. 407 1.2 Sprachethik im Jakobusbrief ............................................................ 414

XII

Inhaltsverzeichnis

1.3 Sprachethik im 1 Petrusbrief ........................................................... 422 1.4 Weitere Diskursfragmente im Neuen Testament und in der frühchristlichen Literatur ................................................................. 428 1.5 Resümee: Die Diskurspositionen im Vergleich ............................... 429 2. Rekonstruktion des neutestamentlichen Diskursstrangs ......................... 430 3. Diskurskritik ........................................................................................... 437 4. Ausblick .................................................................................................. 438

Anhang: Das Gesetz im Jakobusbrief .................................................441 Bibliographie ............................................................................................... 455 Stellenregister ...............................................................................................531 Personenregister ...........................................................................................563 Sachregister ..................................................................................................564

Kapitel 1

Einleitung 1. Zum Thema Ermahnungen zu sorgfältigem Sprechen und die ethische Reflexion über die Art und Weise sowie den Inhalt und die Motivation sprachlicher Äußerungen finden sich in der antiken Literatur in vielfältigen Variationen. Der gängige antike Topos, der die Sprache als Spiegel des menschlichen Charakters versteht,1 verdeutlicht die Notwendigkeit ethischer Weisung, die zunächst auf die Sprache selbst, zugleich aber auch auf die Intention und das moralische Bewusstsein des Menschen abhebt. Denn die Ethik eines Individuums, einer Gruppe oder Gesellschaft offenbart sich maßgeblich in deren Sprachverwendung. Gleichzeitig ist Ethik sprachlich konstituiert, d.h. sie wird durch Sprache vermittelt und findet in Texten ihren Niederschlag. Beide Aspekte fanden bislang in der neutestamentlichen Forschung erstaunlich wenig Berücksichtigung, obgleich die Schriften des Neuen Testaments eine dezidierte Teilnahme am antiken Diskurs zum angemessenen Sprechen, seinen Bedingungen und den Folgen des Missbrauchs von Sprache erkennen lassen.2 1.1 Fragestellung Sowohl in den Evangelien als auch in der neutestamentlichen Briefliteratur tritt das Interesse des frühen Christentums an der Vermittlung von ethischen Regeln des sorgfältigen Sprechens im Bereich der alltäglichen zwischenmenschlichen, sprachlichen Kommunikation zutage. Unter der Perspektive der Sprachethik3 vereint die vorliegende Untersuchung folgende drei Aspekte: Das sprachethische Interesse der vorliegenden Studie gilt erstens dem frühchristlichen Diskurs, der aus den neutestamentlichen Diskurspositio1 Vgl. die Zusammenstellung bei HULTIN, Ethics of Obscene Speech, 67–78. Zur Charakterbildung vgl. zudem DE W AAL DRYDEN, Theology and Ethics und ROSKAM , Path to Virtue; vgl. weiterhin M ÖLLER, Talis Oratio – qualis vita; SARSILA, Being a Man; W ALTERS, Perfection. 2 Vgl. ZIMMERMANN/LUTHER, Moral Language, 2f. Vgl. dazu bereits die Ansätze von z.B. STEVENSON, Ethics and Language und HARE, Language of Morals. 3 Zur Definition des Begriffs vgl. 1.2.3.

2

Kapitel 1. Einleitung

nen in Bezug auf die Thematik ethisch adäquater Verwendung von Sprache zu erheben ist. Die neutestamentlichen Diskurspositionen sind dazu profiliert darzustellen, im Verhältnis zueinander zu bewerten und auf eventuelle Parallelen oder Entwicklungslinien zu befragen. Zudem ist eine Einordnung in den Kontext der frühchristlichen Lehre und Unterweisung vonnöten, um literarische und traditionsgeschichtliche Interdependenzen zu erschließen. Aus den Ergebnissen lässt sich der neutestamentliche Diskursstrang zur Sprachethik erheben, der den Beitrag des frühen Christentums zum antiken Diskurs des rechten Sprechens darstellt. Die Arbeit widmet sich zweitens der Frage der Einbindung des neutestamentlichen Diskurses in den antiken Gesamtdiskurs zur Ethik des rechten Sprechens sowie seiner Verflechtung mit angrenzenden antiken Diskursen, z.B. zum Diskurs der Charakterbildung. Dazu wird der neutestamentliche Diskurs im Rahmen der dem Neuen Testament zeitgenössischen4 philosophisch-ethischen Zusammenhänge positioniert,5 um aufgrund frühchristlicher Spezifika des sprachethischen Diskursstrangs den Ort der frühchristlichen Literatur im Kontext des antiken sprachethischen Diskurses aufzuzeigen. Die vieldiskutierten Fragen nach dem Entstehungsmilieu der neutestamentlichen Schriften, nach der Struktur und Anlage sowie nach dem theologischen und ethischen Kontext der Texte werden vor diesem Hintergrund neu in den Blick genommen.6 Drittens wendet sich die Studie den Wirkungen der Sprache zu, insbesondere ihrem Potential, bestehende Diskurse zu lenken und neue Diskurse anzuregen. Dieser Aspekt der Untersuchung ist der Verwendung sprachethischer Normen in der Diktion der neutestamentlichen Schriften gewidmet und richtet den Blick daher auf die Sprache, in der der Diskurs geführt wird. Hier wird auf synchroner intra- und intertextueller Ebene nach den in Diktion und Argumentation der neutestamentlichen Texte aufgenommenen Aspekten der Sprachethik gefragt. Außerdem richtet sich das Interesse auf anthropologische7 und theologische Prämissen, die dem jeweiligen Text 4

Der Begriff ‚zeitgenössisch‘ bezeichnet ab Kapitel 2 der vorliegenden Studie soweit nicht anderweitig spezifiziert dem Neuen Testament zeitgenössische Texte und Kontexte. 5 Vgl. dazu v.a. ROSKAM , Path to Virtue; W ALTERS, Perfection. 6 Vgl. dazu den Ansatz der Forschergruppe um VAN DE SANDT (in DERS., Matthew and the Didache und DERS./ZANGENBERG, Matthew, James, and Didache), der das Matthäusevangelium, die Didache, den Jakobusbrief und eventuell den 1. Petrusbrief als Textgruppe zu verstehen und in demselben frühchristlich-jüdischen Milieu zu verorten sucht. 7 In dieser Studie wird der Begriff ‚Anthropologie‘ für die sich in den antiken Texten spiegelnden Menschenbilder vermieden, das Adjektiv ‚anthropologisch‘ jedoch wird als moderne Kategorie zur Beschreibung und Kategorisierung von Aussagen verwendet, die sich mit der Frage nach der menschlichen Konstitution befassen. Vgl. FREVEL, Frage nach dem Menschen, bes. 35–37, zu einer Standortbestimmung der biblischen Anthropologie in der Forschung sowie der Problematisierung der Thematik im biblischen Bereich.

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zugrunde liegen und als argumentative Basis der Darstellung rechter sprachlicher Kommunikation dienen, d.h. den Diskurs motivieren und lenken.8 Die Arbeit ist klar strukturiert: Nach einer terminologischen und methodischen Vorverständigung werden die in den Schriften des Neuen Testaments vertretenen Diskurspositionen hinsichtlich der Voraussetzungen, Möglichkeiten und Folgen der Verwendung von Sprache analysiert. Die vorliegende Studie setzt es sich zum Ziel, die Spezifika jeder Schrift im Blick auf das Feld der Sprachethik zu erheben, Verknüpfungen mit dem antiken Diskurs zur Sprachethik zu eruieren und die neutestamentlichen Positionen im Gesamtdiskurs des frühen Christentums sowie der Antike zu verorten.9 Unter dieser Zielsetzung bietet sich als methodischer Zugang die historische Diskursanalyse10 an, die es ermöglicht, die spezifischen Positionen der neutestamentlichen Schriften zum Diskurs der Sprachethik zu erfassen und im Kontext des frühchristlichen Diskursstrangs, wie er sich in den Schriften des Neuen Testaments spiegelt, zu profilieren. Der diskursanalytische Ansatz kann für diese Themenstellung sein Potential entfalten, weil er einen Rahmen schafft, um die jeder Schrift inhärenten Formen der Vermittlung sprachethischer Unterweisung sowie ihre je spezifische Diktion zu beschreiben und narrative wie argumentative Texte unter dem Fokus der Sprachethik in methodisch einheitlicher Weise zu untersuchen. 1.2 Definitionen 1.2.1 Ethik Der Begriff Ethik geht auf Aristoteles zurück, der hvqikh. qewri,a (APo. 89b) als die Grundlage des Lebens in der Polis bestimmt, die auf der richtigen

8 Vgl. dazu RIGOTTI, Rhetoric, 242–258. Vgl. grundsätzlich KONRADT/SCHLÄPFER, Anthropologie und Ethik, vf.: „ethische Orientierungen [sind] in weltanschauliche Grundüberzeugungen eingebettet und daher nur dann adäquat zu verstehen […], wenn sie als integraler Bestandteil der jeweiligen Konstruktion der Wirklichkeit analysiert und interpretiert werden. Die Korrelation von Antropologie und Ethik verdient dabei besondere Aufmerksamkeit. Ethischen Orientierungen liegen – in den frühjüdischen wie neutestamentlichen Texten häufig implizit bleibende – anthropologische Prämissen zugrunde: Die Plausibilität und damit die Affirmationsattraktivität ethischer Überzeugungen hängen ganz wesentlich davon ab, ob diese durch ein entsprechendes Menschenbild getragen und unterstützt werden oder nicht“. 9 Vgl. dazu MCDONALD, Christian Morality, 1–5, der zwischen einer diachronen (historischen) und einer synchronen (thematischen) Herangehensweise an neutestamentliche Ethik unterscheidet. Der hier gewählte Ansatz verbindet die beiden Zugänge. 10 Vgl. dazu die Ausführungen von LANDWEHR, Historische Diskursanalyse, zur Adaption des Ansatzes auf die Fragestellung sowie zu der in dieser Studie verwendeten diskursanalytischen Terminologie.

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Kapitel 1. Einleitung

Erziehung und Gewöhnung beruht.11 Dieser Tradition gemäß wird Ethik als eine systematisch-theoretische, rationale Analyse von (gelebter) Moral (Ethos) definiert. Ethik ist insofern ein „Theorieunternehmen“,12 „das zur Philosophie gehört und aus deskriptiven, narrativen und definitorischen Sätzen (Seins-Aussagen) präskriptive Sätze (Sollens-Aussagen) ableitet“.13 Nun ist unbestritten, dass „nirgends im NT eine Ethik im Sinne einer Theorie des menschlichen Handelns entfaltet wird, die von bestimmten explizit begründeten sittlichen Prinzipien aus argumentativ rational entwickelt und in systematisch reflektierter Weise dargeboten wird“.14 In der Forschung wird deshalb häufig der Begriff neutestamentliche Ethik vermieden. Stattdessen wird von einem Ethos gesprochen, das auf den Normen und Konventionen einer Gesellschaft basiert.15 Das Ethos bezeichnet „einen Kanon institutionalisierter Handlungen, die innerhalb eines bestimmten sozialen Systems in Geltung stehen“, und erfüllt die Funktion, „die überindividuelle Identität einzelner Individuen, die zu einer Gruppe oder einem sozialen System gehören und die ihre Identität über diese Zugehörigkeit definieren, unverwechselbar zu repräsentieren und zur Anschauung zu bringen“.16 Jan van der Watt bietet eine weiter gefasste Definition: Gegenüber Ethik als „motivated ‚rules/principles/basic exhortations/ethical pointers‘ presented in a particular document […], which are based upon and related to the identity of a person“ zeigt Ethos an, „how the rules (ethics) are interpreted and translated into concrete action by a particular group with a particular identity within everyday situations“.17 Obgleich van der Watt somit kein 11 Vgl. dazu insbesondere den Kommentar von WOLF, Aristoteles’ Nikomachische Ethik, 67f., die die aristotelische Trennung zwischen der dianoetischen avreth,, die durch Belehrung erworben wird (EN 1103a), und der ethischen avreth,, die durch Gewöhnung erworben wird (EN 1103a.b), betont. Auf diese Vorstellung des Aristoteles wird in den folgenden Kapiteln vertieft eingegangen werden. 12 HERMS, Art. Ethik, 1598. 13 WOLTER, Ethische Identität, 61. Zum Ethosbegriff vgl. auch KECK, Ethos, 19–21. 14 KONRADT, Erzähltes Ethos, 9. Vgl. dazu die forschungsgeschichtliche Übersicht zu den neutestamentlichen Hermeneutiken seit den 1970er Jahren, unter 2.1. 15 Vgl. z.B. STEGEMANN, Kontingenz und Kontextualität, 167f. 16 Zitate aus W OLTER, Ethische Identität, 61. 62; vgl. auch DERS., Ethos und Identität in paulinischen Gemeinden, 430–444; DERS., Let no one seek his own, 199–217; vgl. zudem SCHMELLER , Neutestamentliches Gruppenethos, 120–134. Zimmermann vermerkt in dieser Hinsicht, dass Ethos im Bereich des Neuen Testaments immer historisch und immer aus den neutestamentlichen Texten rekonstruiert ist; er spricht daher von „erinnertem Ethos“, denn „it must […] be communicated and reflected within the group in order to have an identity-building function“, ZIMMERMANN, Ethics in the New Testament, 20f. 17 Zitate aus VAN DER W ATT, Preface, vii. In der Zusammenfassung des Sammelbands korreliert Identität mit Ethos: „Sharing identity with the people of God, his family, requires the modelling of behavior in accordance with that identity“, DERS., Tentative Remarks, 617.

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„complete general set of ethical rules or complete system“18 der Ethik in den neutestamentlichen Schriften erkennen kann, macht er doch geltend, dass die neutestamentlichen Schriften Ethik enthalten. Dies legt bereits Wolfgang Schrage folgendermaßen dar: „Wenngleich das Neue Testament also keine systematische Ethik entwickelt hat, so darf man sich das Handeln der Urchristenheit doch auch nicht zu punktuell und aktionistisch und die neutestamentliche Ethik nicht zu situations-ethisch und dezisionistisch vorstellen. Findet sich auch kein geschlossenes System ethischer Reflexionen und keine rational konzipierte Ethik, so ist doch der hohe Stellenwert von Vernunft und Vernunfterkenntnis gerade innerhalb der neutestamentlichen Ethik nicht zu übersehen. […] Trotz der unübersehbaren Bedeutung der Vernunft bleibt es auch dabei, daß neutestamentliche Ethik nicht systematisch ist, sondern konkret, modellhaft, situationsbezogen, auf eine bestimmte Zeit berechnet, wobei man allerdings sofort hinzufügen muß, daß Verhaltensparadigmen und Modelle nicht beliebig und unverbindlich sind“.19

Insofern ist durchaus – aufgrund einer von der antiken Tradition abweichenden Definition des Begriffs20 – von Ethik im Neuen Testament zu sprechen21 und zwischen Ethos und Ethik zu differenzieren.22 18 VAN DER W ATT, Tentative Remarks, 629. Vgl. auch Z IMMERMANN, Ethics in the New Testament, 22: „Even if no systematic synopsis of these meta-reflections on norms for actions are to be found in the New Testament writings, implicit and sometimes explicit reasons as well as the argumentative recourse to certain ethical maxims and norms underlie the individual paraenesis“. Vgl. ebenso auch HORN, Art. Ethik, bes. 1608f. 19 SCHRAGE, Ethik, 14. 15f.; vgl. auch a.a.O., 10: „Nun ist das Neue Testament gewiß kein Handbuch oder Kompendium christlicher Ethik mit allgemeingültigen Regeln oder einem detaillierten Verhaltenskatalog. Es enthält weder eine philosophieähnliche Normen- oder Tugendlehre noch naturrechtlich u.ä. begründete Definitionen und Legitimationen […]. Nirgendwo oder kaum findet sich ein Interesse an allgemeingültigen sittlichen Prinzipien, zeitlos geltenden Wesensaussagen über die gerechte soziale oder staatliche Ordnung, über das Verhältnis der Geschlechter zueinander oder Programme und griffige Handlungsanweisungen für andere ethische Problemfelder“. 20 Vgl. SCHRAGE, Ethik, 14: „Meint Ethik nicht eo ipso wissenschaftlich explizierte und methodisch überprüfbare Ethik, sondern das Bedenken des Handelns, kann man cum grano salis durchaus von neutestamentlicher Ethik sprechen“. Schrage führt „das Fragmentarische und Unsystematische der neutestamentlichen Ethik“ auf deren „Situationsbezogenheit“ zurück; weiterhin: „Neutestamentliche Ethik ist kontextuelle Ethik, Ethik im Kontext bestimmter Situationen“, a.a.O., 13. 21 ZIMMERMANN, Ethics in the New Testament, 23, spricht vor dem Hintergrund des aristotelischen Ethik-Begriffs von ‚impliziter Ethik‘: „This ‚ethics should be called implicit because the New Testament authors themselves render no systematic account for norms of action and context of reason – similar perhaps to the ethics of Aristotle. We, however, can retrospectively derive, from individual motives, an ‚ethical superstructure underlying them and at the same time put the mosaic stones together into a complete picture“. Vgl. dazu auch Z IMMERMANN, Jenseits von Indikativ und Imperativ, 272–274; DERS ., ‚Implicit Ethics‘ of New Testament Writings, 398–422. 22 Vgl. dazu ZIMMERMANN, Ethics in the New Testament, bes. 20–28; vgl. auch HERMS, Art. Ethos, 1649f.; vgl. auch STRANGE, Moral World, 6: „[E]thical and ethics

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Kapitel 1. Einleitung

Neutestamentliche Ethik wird auf unterschiedliche Weise sprachlich gefasst: Einerseits liegen explizite Imperative, ethische Gedankengänge und Argumentationen vor, andererseits wird häufig auf implizite Formen der Vermittlung zurückgegriffen.23 Neutestamentliche Ethik arbeitet sowohl mit expliziten spezifischen Regeln und Maximen im Sinne konkreter, imperativischer Handlungsanweisungen als auch mit allgemein gehaltenen ethischen Weisungen, die in Begründungszusammenhänge eingebettet und häufig durch Beispiele angereichert sind, die ein Interesse an der Reflexion ethischer Zusammenhänge sowie an der Handlungsintention und deren Folgen erkennen lassen. Ethische Unterweisung zielt folglich zum einen auf konkretes Ethos, zum anderen auf eine bleibende Veränderung der Disposition der Adressaten. Die Ausbildung der rechten inneren Disposition wird als Voraussetzung für rechtes Handeln und Sprechen betrachtet, denn die Konversion per se führt keine Veränderung des menschlichen Handelns oder der Disposition herbei.24 Der antike Topos der Charakterbildung und die Ausformung der inneren Disposition werden im Neuen Testament weder explizit reflektiert noch ist die Thematik terminologisch greifbar.25 Dennoch lässt die neutestamentliche Ethik oftmals ein dezidiert protreptisches26 Interesse erkennen, das der Formung der inneren Disposition eine zentrale Stellung zuerkennt und diese als die Voraussetzung des

identify second-order reflection on right behavior, while moral and morality refer to firstorder instruction in what is right and wrong. Ethics has to do with rules for right behavior derived by rational argumentation, while morality finds its warrant in authority“. 23 Vgl. VAN DER W ATT, Tentative Remarks, 619: „[E]thical material […] is conveyed through narrative events, parables, symbols, proverbs, metaphors, images, statements, arguments, theological allusions (to the Old Testament), and the like“. Vgl. dazu auch die Zusammenstellung bei ZIMMERMANN, Jenseits von Indikativ und Imperativ, 274–276, der insbesondere auf die Sprachform, die Normen und Maximen, die Traditionsgeschichte einzelner Normen/Moralinstanzen, die Wertelogik bzw. -hierarchie, die ethische Argumentation bzw. Begründung, die ethischen Urteilsträger, das gelebte Ethos bzw. die Wirkung und den Geltungsbereich verweist. Vgl. auch ZIMMERMANN, Pluralistische Ethikbegründung. 24 Anders als z.B. in TestHiob 46–51, wo das Anlegen der (Zauber-)Gürtel die Sprache der Töchter Hiobs schlagartig verändert, bedarf es in Bezug auf die neutestamentliche (Sprach-)Ethik der wiederholten Ermahnung und Unterweisung. Vgl. dazu DE WAAL DRYDEN, Theology and Ethics, 196f.: „[M]oral instructions serve not only to define ethical norms but also to aid growth in character and discernment, both in terms of intellectual development and affective reorientation“, „[for] reforming one’s character does not happen in an instant“. Vgl. dazu auch W OLTER, Ethische Identität, 67–69; LUTHER, Protreptic Ethics, bes. 330–333. 25 Vgl. z.B. T ALBERT, Character Formation, 53. 26 Vgl. zur Begrifflichkeit BERGER, Formgeschichte, 217. 219; W OLTER, Ethische Identität, 63. Ähnlich: AUNE, Logos Protreptikos, 95; STOWERS, Letter Writing, 92; MALHERBE, Moral Exhortation, 122–124.

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rechten Handelns und Sprechens betrachtet.27 Für eine Ethik des rechten Sprechens ist dieser Aspekt grundlegend, da sich in der Sprache des Menschen traditionell dessen innere Disposition widerspiegelt. Die vorliegende Studie fragt primär nach Aussagen zur Ethik des rechten, sorgfältigen Sprechens, nach deren theologischer Motivation und Begründung sowie nach deren Darlegung in Form konkreter Weisungen. Damit kommt dem historischen Aspekt der Nachzeichnung neutestamentlicher ethischer Lehre zentrale Bedeutung zu.28 Nicht der historischen Entwicklung (diachrone Untersuchung) urchristlicher Ethik gilt dabei das vorrangige Interesse, sondern dem distinktiven Profil der einzelnen sprachethischen Positionen (synchrone Untersuchung).29 Weiterhin steht die praktische Verwirklichung ethischer Normen, d.h. das aus den Texten zu erhebende Ethos, auf der Ebene des Verfassers und der Adressaten ebenso im Blickfeld der Studie wie die intertextuellen Einflüsse der sprachethischen Unterweisung der antiken Umwelt.30 1.2.2 Sprache und Sprechen Der Terminus Sprache wird im Linguistischen Wörterbuch als primäres System von Zeichen, als ein „Werkzeug des Denkens und Handelns und das wichtigste Kommunikationsmittel“31 definiert. Rede ist dagegen abge-

27 Dabei ist die Differenzierung von S WANCUTT, Paraenesis in Light of Protrepsis, 126f. von Bedeutung: „protrepsis […] was used to train adherents’ mind and behaviours, to prevent error and to habituate believers in the good by reforming their convictions and character. […] Protreptic exhortation was not a call to philosophy but to virtue; and it did so for different ends, including to strengthen adherents’ resolve to practice advanced forms of a discipline“. Protrepsis diente somit der Charakterbildung (hvqopoii,a) und galt nicht nur Konvertiten. 28 Vgl. dazu HAYS, Mapping the Field, bes. 4–6; die historische Darstellung richtet sich darauf aus, „the ethical ideas and teachings of the New Testament“ zu beschreiben, „rather than to examine the actual practices of the early Christians“, a.a.O., 5. 29 Vgl. dazu die Ansätze von MATERA, New Testament Ethics und HAUERWAS, Community of Character; DERS., Unleashing the Scripture, die ähnlich akzentuieren. 30 „Darum ist die traditions-, kultur-, sozial- und religionsgeschichtliche Fragestellung sowie die Inblicknahme ethischer Theorie und Praxis der Umwelt bei der Erklärung der ethischen Weisungen des Neuen Testaments oft wichtiger als die Frage nach den Adressaten. Das gilt umso mehr, als die neutestamentliche Ethik in weitem Umfang das Erbe der antiken Ethik aufgegriffen und verarbeitet hat, auch wenn man daneben die Differenzen in der Motivation, aber auch die Handlungsalternativen im Inhalt nicht übersehen sollte“, SCHRAGE, Ethik, 17. Zu einem kurzen, beispielhaften Abriss möglicher hellenistischer wie alttestamentlich-frühjüdischer Einflüsse auf die neutestamentliche Ethik vgl. ZELLER, Konkrete Ethik im hellenistischen Kontext, 215–228, und die überarbeitete Auflage des Beitrags in BEUTLER, Der neue Mensch, 82–98. 31 LEWANDOWSKI, Art. Sprache, 994.

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Kapitel 1. Einleitung

grenzt als 1. eine „[s]yntaktische Variante der Aussage bzw. Äußerung“32 (direkte, indirekte, auktoriale, erlebte Rede), 2. „[i]m Sinne von parole, Sprechakt, Sprechhandlung“33 und 3. als „[h]öchste Einheit bzw. Ebene der Sprache“,34 d.h. eine kohärente Einheit. Kommunikation wird definiert als „[z]wischenmenschliche Verständigung, reflexives sprachliches Handeln, intentionales Mitteilen von Zeichen, v.a. durch Sprache als […] fundamentale Form sozialer Interaktion; absichtsgelenktes und zielgerichtetes, auf das Bewußtsein von Partnern einwirkendes und eigenes Bewußtsein veränderndes Handeln; Übertragung und Verarbeitung von Informationen, die in der Erzeugung von Bedeutung und Sinn sowie in Arten und Weisen des Verstehens realisiert wird“.35 Diese Definitionen machen deutlich, dass ‚Kommunikation‘ ein zu weit gefasster Terminus für die zu bezeichnenden alltäglichen sprachlichen Äußerungen ist, die in dieser Studie untersucht werden sollen, während ‚Rede‘ als gebundenes System (z.B. Predigt, Vortrag) ebenfalls außerhalb des behandelten Bereichs liegt. Als Objekt dieser Studie ist daher die Sprachethik zu benennen. Die Begriffswahl intendiert keine Kontrastierung von Sprache und Handeln. Sprachtheorien, die Sprache als Handeln definieren,36 werden im Rahmen der Arbeit rezipiert.37 Vielmehr zielt die Begrifflichkeit der Studie auf eine Differenzierung zwischen primär sprachlichem Handeln und primär nicht-sprachlichem Handeln im Sinne einer Unterscheidung zwischen einer ‚Bereichsethik‘ des rechten Sprechens und einer ‚Bereichsethik‘ des rechten Handelns. Letztere bezieht sich im neutestamentlichen Kontext z.B. auf konkrete ethische Anweisungen wie Ehegebote, Almosen, Fasten oder Wundertun, ebenso aber auf allgemeine ethisch reflektierte Gebote wie die Nächsten- und Feindesliebe und wird im Folgenden – im Gegenüber zur Sprachethik – mit dem Begriff Tatethik bezeichnet. Obgleich nicht impliziert werden soll, dass sprachfreie Bereiche existieren, denn auch gelebte Nächstenliebe kann sich auf sprachlichem Wege äußern, las32

LEWANDOWSKI, Art. Rede, 851. LEWANDOWSKI, Art. Rede, 852. DE SAUSSURE (Cours de linguistique générale, 37) bezeichnet mit langue das einer Gesellschaft verfügbare und für jeden Einzelnen erlernbare System einer Sprache, während parole sich auf die konkrete Realisation von Sprache, d.h. auf die sprachlichen Äußerungen bezieht. Vgl. dazu auch P AZ, Einleitung, 14f. 34 LEWANDOWSKI, Art. Rede, 852. 35 LEWANDOWSKI, Art. Kommunikation, 551. 36 Vgl. z.B. die Speech Act Theory nach John L. Austin und John R. Searle. Vgl. dazu AUSTIN, Zur Theorie der Sprechakte; SEARLE, Speech Acts; DERS., Indirect Speech Acts; vgl. zudem B AICCHI, Speech Act Theory, bes. 216f. 37 Zu Sprachtheorien des 20. Jh. vgl. KRÄMER, Sprache, Sprechakt, Kommunikation; weiterhin P ETERSEN, Sprache als wissenschaftlicher Gegenstand, 64–85. Vgl. auch BORSCHE , Art. Sprache, 1437–1454, wo vier Themenbereiche im Bezug auf Sprache in der Antike aufgeführt werden: Erkenntnistheorie, Rhetorik, Hermeneutik und Dialektik. Die Beziehung zwischen Sprache und Ethik wird nicht in den Blick genommen. 33

1. Zum Thema

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sen diese ethischen Weisungen keinen expliziten Bezug auf die Sprache erkennen. Die Unterscheidung zwischen einer Ethik des Sprechens und einer Tatethik scheint m.E. insbesondere in Bezug auf die neutestamentlichen Schriften in Hinsicht auf die in der ethischen Unterweisung sich manifestierende Dichotomie zwischen dem Handeln primär durch Worte (d.h. dem ‚bloßen‘ Reden) und dem Handeln primär ohne Worte (d.h. durch Werke) gerechtfertigt. Im ethischen Referenzrahmen des Neuen Testaments, der sich auf die sprachliche wie auf die nicht-sprachliche Dimension bezieht, konvergieren diese beiden Aspekte der Ethik. 1.2.3 Sprachethik Als ‚personal speech-ethics‘ bezeichnet William Baker in Ermangelung eines adäquaten Terminus das Phänomen, das er in seiner 1995 erschienenen Monographie in antiken Texten untersuchte: die ethische Unterweisung in sprachlicher Kommunikation. Die dort in den Blick genommenen paränetischen Anweisungen in Bezug auf die Sprache berücksichtigen einerseits die Beziehung zwischen Menschen, andererseits zwischen Menschen und Gott. Baker definiert den Terminus, der im Deutschen durch den Begriff ‚Sprachethik‘ zu übertragen ist, wie folgt: „The term ‚personal speech-ethics‘ is my own attempt to capture the idea of ethics or morality as applied to interpersonal communication. Simply put, it is the rights and wrongs of utterance. It involves when to speak, how to speak, and to whom to speak, as well as when, how, and to whom not to speak. It includes to a certain extent the process of human speech and its relationship to thoughts and actions. Only to a very limited extent does formal speaking relate to it“.38

Im Rahmen der vorliegenden Studie soll der Begriff ‚Sprachethik‘ definitorisch konkreter gefasst werden. Grundsätzlich werden die neutestamentlichen Aussagen zum ‚richtigen‘ und ‚falschen‘ Sprechen im Zentrum stehen, jedoch soll der Begriff nicht allein paränetische oder pädagogische Einzelaussagen bezeichnen. Vielmehr soll Sprachethik auch ethische Aussagen zum sprachlichen Handeln (Meta-Ethos), d.h. Versatzstücke theologisch-anthropologischer bzw. philosophisch-anthropologischer Diskurse einbeziehen, die im Zusammenhang mit der Ermöglichung und Begründung39 des rechten oder falschen Gebrauchs von Sprache im zwischen-

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BAKER, Speech-Ethics, 2. Vgl. die Definition von neutestamentlicher Ethik bei SCHULZ, Neutestamentliche Ethik, 5: „Sache einer neutestamentlichen Ethik ist es, die Ermöglichung und Begründung urchristlichen Handelns zu erfragen wie darzustellen, um dieses Potential für die Übersetzung in unseren Gegenwartshorizont bereitzustellen“ (Hervorhebung S.L.). Menschliche Rede ist nicht durch die Wahrheitswerte der klassischen Sprachphilosophie (wahr-falsch) zu bestimmen, sondern durch die ethischen Maximen ‚gut-schlecht . 39

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Kapitel 1. Einleitung

menschlichen Kontext stehen.40 Zudem ist der Aspekt der Reflexion der Folgen sprachlichen Handelns für den Sprechenden selbst zu berücksichtigen. Der Terminus bezieht sich auf den Bereich der alltäglichen zwischenmenschlichen verbalen Kommunikation, und schließt öffentliche Rede oder Predigt im Sinne von rhetorisch strukturiertem Vortrag,41 Gebet42 und Glossolalie43 nicht ein. Des Weiteren werden literarische Strategien wie z.B. Polemik,44 ritualisierte Sprache45 sowie durch Figurenrede in narrativen Texten vermittelte ethische Normen46 nicht berücksichtigt. 40 Vgl. dazu T IETZ, Art. Sprache, 1612; W OLBERT, Ethische Argumentation und Paränese, 53f. 41 Vgl. zum rhetorischen Vortrag im politischen Bereich z.B. CONNOLLY, State of Speech; vgl. zu sprachlichen Strategien im Kontext von Reden SMITH, Rhetoric of Interruption. 42 Vgl. dazu z.B. OSTMEYER, Kommunikation; KLEIN, Gebet im Neuen Testament. 43 Zu Glossolalie, inspirierter Sprache oder Prophetie vgl. z.B. FORBES, Prophecy and Inspired Speech; P OIRIER, Tongues of Angels; KLAUCK, Mit Engelszungen, 145–167; DERS ., Kassandra, 119–144; T HEISSEN, Glossolalia, 219–225; DERS., Psychologische Aspekte, 269–340; JOHNSON, Religious Experience, 105–136. 44 Vgl. W ISCHMEYER/SCORNAIENCHI, Polemik. Oda Wischmeyer weist darauf hin, dass Polemik, obgleich eine in literarischer und gesprochener Sprache vorkommende Stilform, nicht Gegenstand der Rhetoriklehre sei, sondern dort nur als ein Teilaspekt des Tadels zur Sprache kommt (a.a.O., 4): „Polemik ist auch keine eigene literarische Gattung oder Form, wohl aber hat Polemik auch eigene literarische Formen hervorgebracht, v.a. die Streitschrift und das Streitgespräch. Die vielfältige Szene der literarischen Aggression – Scheltrede, Invektive, Tadel, Verleumdung, Schmähung, Kritik, Spottschrift, Pamphlet, Ironie, Satire, Persiflage – in ihren kulturellen und historischen Erscheinungsformen und Transformationen kann hier nur ins Gedächtnis gerufen werden“. Es wird deutlich gemacht, „dass sich die frühchristliche Polemik im Fadenkreuz antiker öffentlicher Rhetorik, Philosophie und griechisch-römischer Literatur wie prophetischer und weisheitlicher Literatur des Judentums und rabbinischer Schriftdiskussion entwickelt und eben damit per se eine kommunikative Funktion erfüllt“ (a.a.O., 5). Vgl. dort insbesondere die Beiträge von Lorenzo Scornaienchi und Boris Repschinski zu den Streitgesprächen in der synoptischen Tradition, einem literarischen Stilmittel der strategischen Argumentation, vergleichbar dem avgw.n lo,gwn (vgl. REPSCHINSKI, Streitgespräche, 428– 430), sowie von Eve-Marie B ECKER (Streitgespräche, bes. 458–460), die von einer Streitkultur spricht, die sich in den neutestamentlichen Texten in verschiedener Form widerspiegelt. Da Polemik in den neutestamentlichen Schriften zwar verwendet, aber nicht unter sprachethischer Perspektive reflektiert wird, kann die Thematik im Rahmen dieser Studie unberücksichtigt bleiben. 45 Vgl. dazu z.B. HABINEK, Roman Song, bes. 58–109. 46 Hier ist jedoch zu unterscheiden zwischen einerseits narrativen Texten wie z.B. Beispielerzählungen oder Gleichnissen, denen als ethische Lehrtexte eine bedeutende Rolle in der Vermittlung von Sprachethik zukommt und die im Rahmen dieser Studie thematisiert werden, und andererseits narrativen Passagen z.B. im Plot des Evangeliums, die von Dialogen durchzogen sind, die im Kontext der Narration die Verwendung von Sprache aufzeigen, diese jedoch nicht explizit thematisieren oder ethisch reflektieren.

1. Zum Thema

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In formaler Hinsicht muss sich eine Untersuchung der Sprachethik gegenüber wissenschaftlichen Fragestellungen abgrenzen, die sich mit der Beziehung der die Sprache ausmachenden Zeichen untereinander beschäftigen (Grammatik), die die Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem reflektieren (Sprachphilosophie) oder sich mit der Wirksamkeit der vermittelten Botschaft befassen (Rhetorik). Gegenstand der vorliegenden Studie sind daher Paränesen zur rechten Verwendung von Sprache im zwischenmenschlichen Kontext, die in unterschiedlichen Formen und Textgattungen des Neuen Testaments vermittelt werden, sowie deren ethisch reflektierte Begründungs- und Motivierungsstrategien. 1.3 Gegenstand der Untersuchung und Auswahlkriterien Die vorliegende Studie nimmt die kanonischen Schriften des Neuen Testaments unter der Perspektive der Sprachethik in den Blick. Dabei wird primär von denjenigen Schriften ausgegangen, die sich thematisch einschlägig zur Sache äußern, d.h. die engere Auswahl der neutestamentlichen Textbasis erfolgt aufgrund diskursorientierter Kriterien: Alle Schriften, die ein Interesse an der sprachethischen Thematik – im oben definierten Sinn – zeigen, werden in die Untersuchung einbezogen.47 Es handelt sich dabei um Texte aus dem Matthäusevangeliums, dem Jakobusbrief, dem 1. Petrusbrief, den Pastoralbriefen und den Deuteropaulinen (Epheser- und Kolosserbrief) sowie aus dem Judasbrief.48 Einen Überblick über die relevanten Textpassagen bietet die folgende Tabelle:49

Letztere Texte werden – obgleich den Figuren und somit auch der Figurenrede z.B. in Hinsicht auf die imitatio unter ethischer Perspektive Vorbildfunktion zukommen kann – in der vorliegenden Studie nicht berücksichtigt. Dieses umfangreiche Textmaterial muss in einer separaten Studie in den Blick genommen werden. Vgl. zu den Auswahlkriterien für die im Folgenden untersuchten Texte auch die Ausführungen unter 1.3. 47 Die Zugehörigkeit eines Textes zum Sprachethik-Diskurs lässt sich aufgrund der breiten terminologischen Variation nicht anhand semantischer Fragestellungen klären. Das ausgewählte Corpus kann als ‚Dossier‘ angesehen werden: „Als D[ossier] wird ein Corpus bezeichnet, das einen ganzen Diskursstrang nicht vollständig abdeckt, sondern aus Gründen, die dem Gegenstand oder auch pragmatischen Bedingungen der Projektdurchführung geschuldet sind, wohlbegründet reduziert wird“, J ÄGER , Art. Dossier, 55. 48 „Bei der Zusammenstellung des Archivs bzw. des Corpus für einen Diskursstrang zeigen sich bestimmte Häufungen und Verteilungen, die nicht völlig uninteressant sind: Sie lassen Aussagen über Trends und Schwerpunktsetzungen zu“, J ÄGER , Art. Vollständigkeit, 122 (Kursivierung im Original). 49 Zum Judasbrief vgl. Vv. 8–10. 15f.; vgl. dazu NEYREY, 2 Peter, Jude, 69. 82. In der folgenden Tabelle sind diejenigen Verse und Passagen angezeigt, die für eine Untersuchung der neutestamentlichen Sprachethik relevant erscheinen. Die Tabelle erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll primär das Spektrum der im Neuen Testament rezipierten sprachethischen Topoi aufzeigen.

12 Mt

Kapitel 1. Einleitung

Jak

1 Petr

Past

Eph/Kol

ovrgh, (Jak 1,19f.)

ovrgi,loj (Tit 1,7) ovrgh, (1 Tim 2,8)

stena,zw (Jak 5,9)

mh. avpodido,ntej … loidori,an avnti. loidori,aj (1 Petr 3,9; vgl. 1 Petr 2,22f.)

ovrgh, (Eph 4,31) ovrgi,zw (Eph 4,26) qumo,j( ovrgh, (Kol 3,8)

mh. calinagwgw/n glw/ssan auvtou/ (Jak 1,26)

… a;neu lo,gou … (1 Petr 3,1)

… avllV ei=nai evn h`suci,a|) (1 Tim 2,12)



th.n de. glw/ssan ouvdei.j dama,sai du,natai avnqrw,pwn (Jak 3,7)

… pausa,tw th.n glw/ssan avpo. kakou/ kai. cei,lh tou/ mh. lalh/sai do,lon (1 Petr 3,10)

blasfhme,w (Jak 2,7)

blasfhme,w (1 Petr 4,4)

blasfhmi,a (1 Tim 6,4)

blasfhmi,a (Eph 4,31)

blasfhme,w (1 Tim 1,20; Tit 2,5; 3,2)

blasfhmi,an( aivscrologi,an evk tou/ sto,matoj u`mw/n (Kol 3,8)

Zorn/Schimpfworte: ovrgi,zw (Mt 5,22; Applikation: Mt 23,17 u.ö.) Kontrolle der Sprache: – (vgl. Kontrolle des Zorns [Mt 5,21–26] und Einschränkung der Worte im Gebet: battaloge,w( polulogi,a [Mt 6,7]) Blasphemisches Sprechen: blasfhmi,a (Mt 12,31f. 36f.) evk ga.r th/j kari,aj evxe,rcontai dialogismoi. ponhroi,( fo,noi( moicei/ai( pornei/ai( klopai,( yeudomarturi,ai( blasfhmi,ai) (Mt 15,19) Inadäquates Sprechen: Beschimpfen: ovneidi,zw (Mt 5,11) kakologe,w (Mt 15,4) Schlechtes sagen: … kai. ei;pwsin pa/n ponhro.n kaqV u`mw/n … (Mt 5,11) Lügen: yeu,domai (Mt 5,11)

bla,sfhmoj (2 Tim 3,2)

Verleumden: katalale,w (Jak 4,11)

Betrügen: do,loj (1 Petr 2,1. 22)

Verleumden: dia,boloj (1 Tim 3,11; 2 Tim 3,3; Tit 2,3)

Lügen: mh. … yeu,desqe kata. th/j avlhqei,aj (Jak 3,14)

Beschimpfen: ovneidi,zw (1 Petr 4,14) loidore,w (1 Petr 2,23; 3,9) katalalia, (1 Petr 2,1) katalale,w (1 Petr 2,12; 3,16)

Beschimpfen: ovneidi,zw (1 Tim 3,7) loidore,w (1 Tim 5,14)

Gespaltenheit: … evk tou/ auvtou/ sto,matoj evxe,rcetai euvlogi,a kai. kata,ra) ouv crh,… (Jak 3,10)

Prahlen: avlazw,n (2 Tim 3,2) Betrügen: go,hj (2 Tim 3,13) (leeres) Geschwätz: flu,aroi kai. peri,ergoi( lalou/sai ta. mh. de,onta (1 Tim 5,13; vgl. 4,7) kenofwni,a (1 Tim 6,20; 2 Tim 2,16) mataiologi,a (1 Tim 1,6) Lügen: yeu,sthj (1 Tim 1,10) Widersprechen: avntile,gw (Tit 2,9)

Geschwätz: … pa/j lo,goj sapro.j evk tou/ sto,matoj u`mw/n mh. evkporeue,sqw( avlla. ei; tij avgaqo.j pro.j oivkodomh.n th/j crei,aj … (Eph 4,29) … kai. aivscro,thj kai. mwrologi,a h' euvtrapeli,a( a] ouvk avnh/ken( avlla. ma/llon euvcaristi,a) (Eph 5,4) Schändliche Rede: aivscrologi,a (Kol 3,8) Lügen: yeu/doj (Eph 4,25) yeu,domai (Kol 3,9)

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1. Zum Thema

Mt

Jak

1 Petr

Past

Eph/Kol

evriqei,a (Jak 3,14) ma,ch (Jak 4,1) ma,comai (Jak 4,2) stena,zw (Jak 5,9)

goggusmo,j (1 Petr 4,9)

a;macoj (1 Tim 3,3; Tit 3,2), avntile,gw (Tit 2,9) diaparatribh,( logomaci,a (1 Tim 6,4f.) ma,comai (2 Tim 2,24) plh,kthj (Tit 1,7)



Glaubwürdig: e;stw de. o` lo,goj u`mw/n nai. nai,( ou' ou;) (Mt 5,37)

Glaubwürdig: h;tw de. u`mw/n to. nai. nai. kai. to. ou' ou;) (Jak 5,12)



Glaubhaft: pisto,j evn pa/sin (1 Tim 3,11)

… ei; tij avgaqo.j pro.j oivkodomh.n th/j crei,aj( i[na dw/| ca,rin toi/j avkou,ousin (Eph 4,29)

Worte werden gegeben: … doqh,setai ga.r u`mi/n evn evkei,nh| th/| w[ra| ti, lalh,shte) (Mt 10,19)

Sich in Worten (nicht) verfehlen: … evn lo,gw| ouv ptai,ei … (Jak 3,2)

Streit/Murren: –

Adäquates Sprechen:

Vorbild im Wort: tu,poj gi,nou […] evn lo,gw| (1 Tim 4,12) Wie es sich gehört: la,lei a] pre,pei (Tit 2,1)

Loben: euvlogi,a (Jak 3,10)

lalei/te avlh,qeian (Eph 4,25) euvcaristi,a (Eph 5,4; vgl. Kol 3,17) o` lo,goj u`mw/n pa,ntote evn ca,riti( a[lati hvrtume,noj( eivde,nai pw/j dei/ u`ma/j e`ni. e`ka,stw| avpokri,nesqai (Kol 4,6)

Schwören/Schwur: evpiorke,w (Mt 5,33) o[rkoj (Mt 5,33) mh. ovmo,sai o[lwj (Mt 5,34; vgl. Mt 23,18–22) Doppelzüngigkeit:

o[rkoj (Jak 5,12) mh. ovmnu,ete (Jak 5,12)



evpi,orkoj (1 Tim 1,10)



o` de. avpokriqei.j ei=pen\ ouv qe,lw( u[steron de. metamelhqei.j avph/lqen) […] o` de. avpokriqei.j ei=pen\ evgw,( ku,rie( kai. ouvk avph/lqen) (Mt 21,29)

avnh.r di,yucoj (Jak 1,8)



di,logoj (1 Tim 3,8)



o` katalalw/n avdelfou/ h' kri,nwn to.n avdelfo.n autou/ katalalei/ no,mou kai. kri,nei no,mon) (Jak 4,11; vgl. V. 12)



Anklage: kata. presbute,rou kathgori,an mh. parade,cou( evkto.j eiv mh. evpi. du,o h' triw/n martu,rwn (1 Tim 5,19)

Anklage: momfh, (Kol 3,13)

evpistre,fw (Jak 5,19f.)



evpiplh,ssw (1 Tim 5,1f.) evle,gcw (1 Tim 5,20; Tit 1,9. 13; 2,15) paideu,w (2 Tim 2,25) evle,gcw, evpitima,w, parakale,w (Tit 1,9; 2 Tim 4,2) nouqesi,a (Tit 3,10f.)

evle,gcw (Eph 5,11) nouqesi,a (Eph 6,4) nouqete,w (Kol 3,16)

… mh. calinagwgw/n gnw/ssan auvtou/ avlla. avpatw/n kardi,an auvtou/ (Jak 1,26) … evk tou/ auvtou/ sto,matoj evxe,rcetai euvlogi,a kai. kata,ra) ouv crh,… (Jak 3,10)

Richten: mh. kri,nete( i[na mh. kriqh/te\ evn w|- ga.r kri,mati kri,nete kriqh,sesqe (Mt 7,1f.) Ermahnung: evle,gcw (Mt 18,15)

14

Kapitel 1. Einleitung

Die jeweils den thematischen Kapiteln voranstehende Darstellung des diskursiven Kontexts,50 greift auf die sprachethischen Aussagen der ethischphilosophischen und theologischen Schriften der antiken Literatur zurück. Herangezogen werden beispielhaft51 antike Autoren wie Plato, Aristoteles, Plutarch, Seneca und Epiktet sowie Pseudo-Phokylides, Sextus u.a.,52 die alttestamentliche und frühjüdische Literatur wie z.B. Philo von Alexandrien sowie die Schriften der dxy-Gemeinschaft von Qumran.53 Der Versuch der Erfassung eines antiken Diskurses bzw. antiker Diskursstränge auf der Basis antiker Literatur kann daher prinzipiell nicht dem Kriterium der Vollständigkeit, sondern allein der Relevanz, Repräsentativität und Validität unterliegen.54 Der diskursive Kontext erhebt somit weder hinsichtlich der einbezogenen Autoren noch der herangezogenen Werke einen Anspruch auf Vollständigkeit, der aufgrund des immensen Spektrums an Aussagen zur Sprachethik nicht einlösbar wäre. Vielmehr bietet die Darstellung ein Panorama der zur Entstehungszeit der neutestamentlichen Texte vorliegenden Texte und thematischen Konzepte.55 Direkte Abhängigkeit oder Intertextualität der neutestamentlichen Schriften von den Texten des antiken literarischen Kontexts wird nicht vorausgesetzt, die herangezogenen themengebundenen Diskursfragmente der antiken Literatur bilden 50

Zur Bedeutung dieser Terminologie vgl. Kapitel 3.6. Die ausgewählten Autoren und Schriftencorpora wurden aufgrund des sich in ihren Schriften erweisenden Interesses an der sprachethischen Thematik ausgewählt. Es könnten zudem weitere Autoren, z.B. Isokrates, Cicero, Quintilian u.a. angeführt werden, jedoch ist der Anspruch des diskursiven Kontextes lediglich der, einen beispielhaften Überblick über den umfassenden Diskurs zur Sprachethik in der antiken Literatur zu bieten, der eine Bewertung des neutestamentlichen Diskursstranges erlaubt. Eine Diskursanalyse des gesamten antiken Diskurses zur Sprachethik ist im Rahmen dieser Studie nicht möglich und nicht angestrebt. 52 Ausführungen zur Datierung der einbezogenen antiken Werke ist im Rahmen der Diskursanalyse nicht vorgesehen, da der diskursive Kontext der Darstellung eines Panoramas an dem Neuen Testament zeitgenössischen Parallelen dient, nicht aber eine Untersuchung literarischer Abhängigkeiten im Blick hat. 53 Hinsichtlich der Literatur aus Qumran sind primär die Schriften der dxy-Gemeinschaft im Blick; dxy fungiert in diesen Schriften als „zentrale Selbstbezeichnung der Qumrangemeinschaft“, REGEV, Art. dx;y :, ja ad, 122. Die rabbinische Literatur wird nur am Rande berücksichtigt, da sich die Darstellung auf einen Überblick über den Diskurs zum rechten Sprechen im literarischen Kontext der neutestamentlichen Schriften beschränkt. 54 Vgl. JÄGER, Art. Vollständigkeit, 121f. 55 Vgl. insbesondere DOWNING, A bas les aristos, bes. 25–40, zur Relevanz und dem Einfluss dem Neuen Testament zeitgenössischer Autoren im Hinblick auf den „public character of cultural and intellectual life“ (a.a.O., 29) und die „intertexture of people’s discourse“ (a.a.O., 40). Eine Darstellung möglicher intertextueller Einflusswege und Traditionslinien (in Bezug auf die Weisheitsliteratur) findet sich bei VON LIPS, Weisheitstraditionen, 75–98. 51

2. Zum Stand der Forschung

15

vielmehr einen Ausschnitt derzeit vorhandener Ideen und textueller Versatzstücke ab, die z.T. Parallelen zu den Aussagen in den neutestamentlichen Schriften erkennen lassen. 1.4 Fragestellung der Studie Die vorliegende Studie setzt es sich zum Ziel, mit Hilfe der Methodik der historischen Diskursanalyse die in den Schriften des Neuen Testaments vermittelten Aussagen zur Sprachethik zu untersuchen und im Rahmen der jeweiligen Schrift zu verorten. Das Interesse richtet sich auf die Analyse der in den neutestamentlichen Schriften sich spiegelnden ethischen Reflexion über sprachliche Verhaltensnormen und deren theologische und anthropologische Implikationen. Die individuellen neutestamentlichen Diskurspositionen werden zueinander in Beziehung gesetzt und im literarischen Kontext des antiken sprachethischen Diskurses situiert. Gefragt wird nach den Gründen, dem Verfahren und den Wirkungen der Referenznahme bzw. deren Verweigerung in den neutestamentlichen Schriften in Bezug auf den Sprachethik-Diskurs der Antike. Die erzielten Befunde dienen der Würdigung der Beteiligung des frühen Christentums am dem Neuen Testament zeitgenössischen sprachethischen Diskurs.

2. Zum Stand der Forschung In der neutestamentlichen Forschung richtet sich das Augenmerk primär auf linguistische (Rhetorik, Semantik, Argumentationstheorie), pragmatische (Speech Act Theory, Leserperspektive, Kommunikationsvorgänge) und ästhetische (Gattung, Stil) Aspekte der Sprache. Die ethische Perspektive wird dabei meist unter die allgemeine Ethik des Handelns subsumiert. Nur vereinzelt verweisen Kommentare und Monographien auf die ethische Bedeutung der Sprache in den einzelnen neutestamentlichen Schriften.56

56 Der Begriff ‚Sprachethik‘ gilt in der Forschungsliteratur bislang nicht als Fachterminus; dennoch werden einige sprachethische Aspekte thematisiert, z.B. in Bezug auf Jak 3 in den Kommentaren von FRANKEMÖLLE, Jakobus, 478–495. 499–521; DIBELIUS, Jakobus, 232–249; B AUCKHAM, James, 203–205; MAIER, Jakobus, 89 (der den Jakobusbrief als „Brief über christliches Reden“ tituliert; vgl. a.a.O., 146f. auch den Überblick über die Thematik des „menschlichen Redens im NT“); in Bezug auf den 1. Petrusbrief vgl. z.B. FELDMEIER, Petrus, 42, Anm. 54. Die wenigen bislang vorliegenden Monographien, die sich explizit der ethischen Valenz von Sprache widmen, werden im Folgenden einzeln aufgeführt.

16

Kapitel 1. Einleitung

2.1 Sprachethik in Gesamtentwürfen zur neutestamentlichen Ethik Seit den 1970er Jahren wird der neutestamentlichen Ethik ein eigenständiger Status in einer gewissen Unabhängigkeit von der neutestamentlichen Theologie zuerkannt. Ethische Fragen wurden nicht mehr lediglich im Kontext der neutestamentlichen Theologie, sondern im Kontext von Gesamtentwürfen neutestamentlicher Ethik behandelt. Dabei liegt der Fokus vorrangig auf der historischen Genese der neutestamentlichen Ethik, auf zentralen ethischen Themen sowie auf traditionsgeschichtlichen Fragestellungen.57 Dieser Paradigmenwechsel nahm seinen Anfang mit der Publikation der Ethik des Neuen Testaments von Heinz-Dietrich Wendland (1970)58 und zeichnete sich im Folgenden in den ethischen Entwürfen von Wolfgang Schrage,59 Rudolf Schnackenburg,60 Siegfried Schulz,61 Eduard Lohse62 und Willi Marxsen63 ab.64 Diese Entwürfe befassen sich z.B. mit den aus den neutestamentlichen Schriften ersichtlichen Aspekten und Strukturen der Ethik, mit konkreten ethischen Themenbereichen und mit den Entwicklungslinien der frühchristlichen Ethik von der Jesusüberlieferung bis zu den Spätschriften des Neuen Testaments.65 Ähnlich verfahren ethische Entwürfe außerhalb des deutschsprachigen Bereichs.66 Die Durch57

Vgl. ZAGER , Neutestamentliche Ethik, 3. Vgl. WENDLAND, Ethik des Neuen Testaments (erschienen 1970; 31978). 59 Vgl. SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments (erschienen 1982; 21989); vgl. auch DERS ., Art. Ethik IV: NT. 60 Vgl. SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft (erschienen 1986/1988). 61 Vgl. SCHULZ, Neutestamentliche Ethik (erschienen 1987), der Sprache als Teilaspekt der Reinheitsthematik aufnimmt. 62 Vgl. LOHSE, Theologische Ethik (erschienen 1988): Ethik wird in § 28 als das dem Glauben korrespondierende, rechte Handeln ohne Verweis auf Sprachethik definiert. 63 Vgl. MARXSEN, „Christliche“ und christliche Ethik im Neuen Testament (erschienen 1989). 64 Vgl. zu einem Überblick auch HORN, Ethik 1982–1992, bes. 32–64. 65 Vgl. dazu CHANG, Neuere Entwürfe zur Ethik des Neuen Testaments, der eine Abgrenzung mit dem Jahr 1970 vornimmt, ab dem sich die großen, neueren Entwürfe neutestamentlicher Ethik finden. Vor dieser Zäsur nennt er Johannes Weiß, Wilhelm Bousset, Albert Schweitzer, Paul Wernle, Rudolf Bultmann, Hans Windisch, Martin Dibelius, Alfred Juncker, Ernst Sommerlath, Hans von Soden, Heinrich Greeven, Herbert Preisker, Rudolf Liechtenhan, Hans von Campenhausen, Richard Völkl, Hans-Joachim Degenhardt, Willfried Joest, Wolfgang Nauck, Niklaus Gäumann, Kurt Niederwimmer, Otto Merk, Georg Eichholz, Herbert Braun, Hans-Joachim Wachs und Jürgen Heise, die im Rahmen dieser Darstellung zur neueren Forschungsliteratur nicht einzeln berücksichtigt werden. 66 Vgl. z.B. MEEKS, Moral World; SANDERS, Ethics in the New Testament; COLLANGE , De Jésus à Paul; SEGALLA, Introduzione all’etica biblica; M ATERA, The Legacies of Jesus and Paul; HAYS, Moral Vision; die spätere Zeit des frühen Christentums und die Alte Kirche berücksichtigen z.B. OSBORN, Ethical Patterns; OGLETREE, Use of the Bible; GERHARDSSON, The Ethos of the Bible; zur Applikation der Ethik in der Gegenwart vgl. 58

2. Zum Stand der Forschung

17

sicht dieser repräsentativen ethischen Entwürfe zum Neuen Testament aus den letzten Jahrzehnten zeigt, dass die Ethik der rechten Sprache – wenn überhaupt – nur marginale Beachtung erfährt.67 Seit den 1990er Jahren wurden verstärkt Teilaspekte der neutestamentlichen Ethik behandelt sowie die ethischen Schwerpunkte einzelner Schriften betont.68 Zudem entwickelte sich ein besonderer Fokus auf den antiken Kontext der neutestamentlichen Ethik, insbesondere auf den Einfluss jüdischer, griechisch-hellenistischer und kaiserzeitlicher Ethik auf das Neue Testament.69 Des Weiteren kamen die Strategien der Vermittlung neutestamentlicher Ethik in den Blick, rhetorische und hermeneutische Fragestellungen stehen neben Versuchen der Applikation biblisch-ethischer Paränese auf gegenwärtige Sachverhalte oder Debatten.70 Die Sprachethik wird im Rahmen dieser Neuansätze z.T. auch in monographischem Umfang berücksichtigt. 2.2 Sprachethik in monographischen Abhandlungen William R. Baker widmet sich in seiner 1995 vorgelegten traditionsgeschichtlichen Untersuchung Personal Speech-Ethics in the Epistle of James der Thematik in umfassender Weise.71 Baker untersucht die Weisheitsliteratur des Nahen Ostens, Texte des Alten Testaments, der Apokryphen und Pseudepigraphen, die Schriften von Qumran, die rabbinischen Schriften und die griechisch-römische Literatur, Philos Werk sowie die Schriften des Neuen Testaments und stellt ein Inventar der traditionsgeschichtlichen Hintergründe des verwendeten Materials aus den mediterranen Kulturen z.B. HOULDEN, Ethics and the New Testament; DALY, Christian Biblical Ethics; B IRCH/RASMUSSEN, Bible and Ethics. 67 Vgl. z.B. SCHULZ, Neutestamentliche Ethik, 642–657, der Aspekte einer Ethik der Sprache benennt, ohne jedoch auf die eigenständige Bedeutung der Ethik der Sprache zu verweisen. 68 Vgl. z.B. CARTER, Servant-Ethic; DE W AAL DRYDEN, Theology and Ethics. Vgl. dazu HORN, Ethik 1982–1992, 68–72; DERS., Ethik 1993–2009, bes. Teil II, 180–221. 69 Vgl. HORN, Ethik 1993–2009, Teil I, 18–26. Einen umfassenden Überblick zur Forschungsgeschichte gibt zudem M ALHERBE, Hellenistic Moralists. Vgl. dazu die Arbeiten der context group, z.B. MALINA, New Testament World; DERS./P ILCH, Handbook; weiterhin die Beiträge in BEUTLER, Der neue Mensch; zudem auch die gattungsgeschichtlichen Diskussionen zur Paränese in STARR /ENGBERG-PEDERSEN, Paraenesis. 70 Vgl. HORN, Ethik 1993–2009, Teil I, 11–18; dazu z.B. B URRIDGE, Imitating Jesus, der biblische Ethik im kritischen Rückblick auf die Interpretation der Bibel während der Zeit der Apartheid reflektiert. Vgl. auch MAHLANGU, Familial Metaphorical Language, 297–413, der die Problematik der Stigmatisierung an Aids Erkrankter reflektiert. Vgl. zudem die vielfältigen Publikationen zu Sexualethik, Ökoethik etc. 71 Vgl. B AKER , Speech-Ethics. Vgl. die Rezensionen von M. KARRER in ThLZ 121 (1996), 828–831; D. MOO in JETS 41 (1998), 501f. und V. L. W IMBUSH in TS 57 (1996), 343f.

18

Kapitel 1. Einleitung

der Antike zusammen, um diese mit den sprachethischen Aussagen des Jakobusbriefes in Beziehung zu setzen und die dezidiert ‚christlichen‘ Charakteristika der im Jakobusbrief erfolgten sprachethischen Unterweisung sowie die Eigenleistung des Verfassers zu eruieren. Baker zieht dabei die Kategorien rudiments of speech-ethics, evil of the tongue, speech in inter-human relationships, speech in human-divine relationships und relationship of speech to truth heran, um das sprachethische Material der Antike zu gliedern und die im Jakobusbrief rezipierten Aspekte traditionsgeschichtlich zu kontextualisieren. Die Studie nimmt den Umfang und die Diversität des antiken Diskursstrangs zur Sprachethik detailliert in den Blick und fokussiert dabei auf inhaltliche praktisch-paränetische Aspekte, nicht auf rhetorische Strategien der Vermittlung von Sprachethik, den Texten implizite Ideologien und Machtkonstellationen oder ethische Argumentationsstrukturen. Aufgrund des dezidiert traditionsgeschichtlichen Interesses wird die jakobeische Interaktion mit dem antiken Diskurs nicht in Hinsicht auf Rezeption, Interaktion und Leerstellen erfasst. Nichtsdestoweniger bleibt es das Verdienst der Studie, auf die Bedeutung sprachethischer Themen in der antiken Literatur und insbesondere im Jakobusbrief mit Nachdruck hingewiesen zu haben. In der 2008 erschienenen Monographie The Ethics of Obscene Speech in Early Christianity and Its Environment72 erörtert Jeremy F. Hultin ausgehend von einer Analyse des Begriffsverständnisses in den Schriften Platos und Aristoteles’ sowie in einigen Bereichen, in denen in der Antike obszöne Sprache belegt ist (slander/abuse, religious rites, comedy, comic drama etc.), das Phänomen, die Verwendung von foul language sowie deren Funktion. Hultin hebt zunächst auf den Zusammenhang von Sprache, Charakter und Identität ab, fokussiert dabei auf den stoischen Bereich, bevor er die Untersuchung unter der Perspektive der Relation von speech and Christian identity auf alttestamentliche, frühjüdische und frühchristliche Schriften ausweitet. Dabei werden der matthäische Jesus, der Jakobusbrief, die Didache und die paulinische Briefliteratur in den Blick genommen. Die Untersuchung konzentriert sich im Folgenden v.a. auf die deuteropaulinischen Briefe und differenziert zwischen der Funktion der sprachethischen Unterweisung im Epheser- und Kolosserbrief im Kontext von Identitätsbildung und Selbstdefinition: Während die Paränese in Kol auf die durch Sprache verursachte Außenwirkung zielt, thematisiert Eph die Wirkung der Sprache im Blick auf die Heiligkeit der Gemeindeglieder. Hultin legt dar, dass die Wurzeln der in den neutestamentlichen Schriften vertretenen Ethik in Bezug auf verwerfliche Sprache im Kontext der weisheitlichprophetischen Tradition des Alten Testaments liegen, das sich als Sprach72 Vgl. HULTIN, Obscene Speech. Vgl. die Rezension von S. W ITETSCHEK in RBL (27.11.2009), http://www.bookreviews.org/pdf/6707_7268.pdf (Zugriff am 10.03.2014).

2. Zum Stand der Forschung

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norm jedoch erst in den frühjüdischen Schriften findet und sich auch in den frühchristlichen Schriften, z.B. im Matthäusevangelium niederschlägt. Im Zentrum der Studie steht das sprachliche Register, d.h. die Konnotationen und Kontexte der verwendeten vile language, sowie deren Bewertung durch die Verfasser der untersuchten Schriften. Die Rezeption durch Clemens von Alexandrien rundet das Bild ab. Hultins Studie widmet sich den Aussagen zu foul language im Neuen Testament und seinem Kontext, die einen Teilbereich des antiken Diskurses zur rechten Sprache darstellen, kommt dabei jedoch zu dem Ergebnis, dass die Thematik der obszönen Sprache für die neutestamentliche Ethik keine zentrale Rolle spielt.73 Einen weiteren Teilbereich der Sprachethik untersucht Marianne Bjelland Kartzow in ihrer 2009 veröffentlichten Monographie Gossip and Gender.74 Die Studie arbeitet mit Methoden des socio-rhetorical criticism auf der Basis der Erkenntnisse der Gender- und gossip-Forschung, um die den Texten eingeschriebenen ideologischen Strategien zu eruieren. Zunächst wird der gossip-Diskurs der Antike in Hinsicht auf die Vielfalt an Inhalten, Funktionen und Wirkungen skizziert; eine semantische Analyse der Wurzel flu,ar-, die beispielhaft an antiken Autoren durchgeführt wird (z.B. Plutarch, Epiktet, Philo, Josephus bis zu Johannes Damaszenus), zeigt die breite Variabilität der Wortbedeutungen und Verwendungskontexte auf. Kartzow zeigt anhand von Beispielen aus der griechischen, lateinischen und hebräischen Literatur auf, dass die Beziehung zwischen gossip und gender sich äußerst komplex gestaltet: Die negative Konnotation des Klatsches in Verbindung mit der Sprache der Frauen lässt sich in der gesamten antiken Literatur aufweisen. Vor allem die Folgen des Klatsches, die Störung der Ordnung des oi=koj und der sozialen Ordnung durch den counterdiscourse der Frauen wird häufig als Stereotyp verwendet. Während gossip gewöhnlich mit weiblicher Sprache identifiziert wurde, führt die rhetorische Verwendung des gossip-Stereotyps in Bezug auf männliche Sprecher zu einer Abwertung ihrer Männlichkeit, Glaubhaftigkeit und Autorität. Im Gegenüber zur antiken Literatur werden daraufhin einzelne Passagen der Pastoralbriefe analysiert, in denen die Gender-Perspektive auf den gossip-Diskurs eine Rolle spielt. Dabei kommt Kartzow zu dem Ergebnis, dass auch die Pastoralbriefe auf die stereotype Darstellung zurückgreifen und Frauen aufgrund dessen im Gemeindekontext diskreditie73 Hultin schließt aus der geringen Anzahl der explizit auf foul language Bezug nehmenden Belegstellen: „There was so clearly a sense of propriety about the matter that it did not often need to be addressed“, a.a.O., 236. Daraus folgert er: „it would certainly be a mistake to suggest that foul language constituted one of the burning ethical questions faced by early Christianity“, ebd. 74 Vgl. KARTZOW, Gossip and Gender. Vgl. die Rezension von K. ZAMFIR in RBL (10.07.2011), http://www.bookreviews.org/pdf/7637_8354.pdf (Zugriff am 10.03.2014).

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Kapitel 1. Einleitung

ren. Eine enge Verbindung wird in den Pastoralbriefen zwischen gossip und Irrlehre konstruiert und die negative Konnotation des Klatsches in Verbindung mit der rhetorischen Technik des othering dazu genutzt, Gegner zu diffamieren, indem ihre Männlichkeit und damit ihre Autorität als Lehrer negativ konnotiert wird. Die Studie analysiert die Aufnahme eines Teilgebiets des sprachethischen Diskurses in das neutestamentliche Schriftencorpus und nimmt eine Verortung des neutestamentlichen Diskursstrangs im Gossip-Diskurs der antiken Literatur vor.75 Eine narratologische Analyse des Lukasevangeliums unter der Perspektive von Sprache und Schweigen bietet Michal Beth Dinkler in ihrer Studie Silent Statements (2013).76 Sie untersucht „the Lukan characters’ communications with one another through words and through silences. […T]his includes the narrator’s communication with the reader through what is said and through what remains unsaid in the telling of the tale, including gaps, delays, ambiguities, etc.“.77 Die Studie untersucht auf narratologischer Ebene die Verwendung und rhetorische Funktion des Schweigens in der Figurenrede (Jesus, Jünger, religiöse Autoritäten).78 Chronologische Lücken in der Erzählung werden ebenso berücksichtigt wie Schweigegebote, die Verweigerung von Dialog, intentionales, ‚beredtes‘ Schweigen der Figuren in der Erzählung oder des Erzählers. Schweigen wird als narratologische Strategie gewertet, die multivalent und deutungsoffen als wirkungsvolles rhetorisches Mittel fungiert, um unterschiedlichen theologischen Themen Bedeutung zuzuschreiben, z.B. der menschlichen Reaktion auf Gottes Plan, der Erlösung, dem Hören und Tun. Dinklers Untersuchung nimmt dabei unter ethischer Perspektive Aspekte in den Blick, die in der vorliegenden Studie nicht vertieft werden: der Sprachverwendung der Figuren in der Narration – hier des Lukasevangeliums – sowie der Verwendung und Bedeutung von Sprache und Schweigen unter narratologischer Fragestellung.79

75 Vgl. auch den narratologischen Ansatz zur gossip-Thematik bei DANIELS, Gossiping Jesus. 76 Vgl. DINKLER, Silent Statements. 77 DINKLER, Silent Statements, 43. 78 „A character’s patterns of speech and silence are key aspects of the narrator’s rhetorical strategies – not incidental instances of language, but integral tools in the narrator’s persuasive arsenal“,DINKLER, Silent Statements, 207. 79 Vgl. auch den narratologischen Ansatz zur Interpretation der ‚gaps‘ und ‚silences‘ in der lukanischen Narration bei LONGENECKER, Hearing the Silence.

2. Zum Stand der Forschung

21

2.3 Sammelbände zu Sprache und Ethik Der von John T. Fitzgerald zusammengestellte Sammelband Friendship, Flattery, and Frankness of Speech,80 der Beiträge der Annual Meetings der Hellenistic Moral Philosophy and Early Christianity-Group der SBL von 1992 und 1993 präsentiert, fragt nach der in der hellenistischen Literatur und den neutestamentlichen Schriften verwendeten friendship language. Die Beiträge des ersten Teils des Bandes behandeln die in der antiken hellenistisch-römischen Literatur verwendete Sprache der Freundschaft, die des zweiten Teils analysieren die paulinische Rhetorik (v.a. in Bezug auf Phil 4) im Vergleich zur antiken Kategorie des Freundschaftsbriefes und versuchen, die Terminologie des Topos ‚Freundschaft‘ aufzuzeigen. Die Aufsätze des dritten Teils richten den Blick auf die Freiheit und Offenheit der Rede im Kontext der philosophischen Konventionen freundschaftlicher Rhetorik (parrhsi,a) in den Schriften des Neuen Testaments. Das Hauptaugenmerk liegt somit auf dem neutestamentlichen Gebrauch der Sprache der Freundschaft sowie dem der hellenistisch-römischen Philosophie entlehnten Konzept der Freundschaft im Kontext der antiken Rhetorik und Philosophie, der Fokus liegt weder auf sprachethischer Reflexion oder Paränese noch auf der Theorie des Sprechens im Rahmen antiker ethischer Konventionen. Ein für die vorliegende Untersuchung vielversprechender Ansatz ist die den Linguistic Turn81 in den theologischen Disziplinen rezipierende Perspektive der Moral Language. Dieser Ansatz richtet das Augenmerk auf die implizite Ethik der neutestamentlichen Texte, d.h. auf deren Sprachform, auf leitende Handlungsmaximen und Normen, auf den traditionsgeschichtlichen und zeitgeschichtlichen Kontext der genannten Normen, auf die Gewichtung der Normen und mögliche Wertehierarchien, auf die ethische Argumentation und argumentative Begründungsformen, auf das ethische Subjekt, die Wirkung der vermittelten Ethik im korrespondierenden Ethos sowie auf den Geltungsbereich der Normen und Maximen.82 Grundlegend aber ist die sprachliche Form der neutestamentlichen ethischen Aussagen: Die Fragestellung zielt somit auf explizite und implizite ethische Direktiven, d.h. auf die Form der sprachlichen Vermittlung von Ethik im Neuen Testament. Zwei Aufsatzbände legen bereits erste Forschungsergebnisse vor: Der 2009 von Friedrich Wilhelm Horn und Ruben Zimmermann herausgegebe80

Vgl. FITZGERALD, Frankness of Speech. Vgl. die Besprechungen von O. WISCHin ThLZ 123 (1998), 473–476; T. SCHMELLER in BZ 42 (1998), 155–157. 81 Vgl. dazu RORTY, Linguistic Turn; W ARNKE, Art. Linguistic Turn, 364f.; vgl. weiterhin zu den durch den linguistic turn angestoßenen Entwicklungen in den Kulturwissenschaften B ACHMANN-MEDICK, Cultural Turns. 82 Vgl. ZIMMERMANN, Jenseits von Indikativ und Imperativ, 274–276. MEYER

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Kapitel 1. Einleitung

ne Band Jenseits von Indikativ und Imperativ83 hinterfragt die übliche Beschreibung der Ethik in neutestamentlichen Schriften anhand der Kategorien ‚Indikativ‘ und ‚Imperativ‘. Die Beiträge des Bandes versuchen Begründungsmuster der Ethik jenseits von Indikativ und Imperativ zu erfassen und dabei Vernetzungen mit ethischem Denken im Umfeld des Neuen Testaments wahrzunehmen. Im Zentrum der Untersuchungen stehen die ethischen Begründungsformen in einzelnen neutestamentlichen Schriften und der Alten Kirche. Es wird deutlich, dass das rechte ethische Handeln im Neuen Testament differenziert und auf unterschiedliche Weise begründet wird und nur ein über das dualistische Kategorienschema hinausgehender, komplexer methodischer Zugang der Nachzeichnung der Argumentationen und Begründungsmuster der neutestamentlichen Texte gerecht wird. Der zweite Sammelband Moral Language in the New Testament. The Interrelatedness of Language and Ethics in Early Christian Writings84 wurde 2010 von Ruben Zimmermann und Jan G. van der Watt herausgegeben. Die Beiträge dieses Bandes widmen sich der Frage, wie moralische Normen in den neutestamentlichen Texten sprachlich vermittelt werden. Neben explizit ethischen Aussagen wird die Bedeutung implizit moralischer Sprache geltend gemacht und auf intratextueller Ebene (mit linguistischen und analytisch-philosophischen Methoden hinsichtlich der syntaktischen Form, dem Stil und der Logik), auf textueller oder intertextueller Ebene (z.B. mit Methoden der Formkritik und Diskursanalyse) und auf extratextueller Ebene (mit Hilfe z.B. der Speech Act Analyse oder dem Reader-Response Criticism) analysiert. Im Blick sind z.B. die linguistische und rhetorische Art und Weise der Vermittlung neutestamentlicher Ethik, die Bedeutung des Genres, die Traditionshintergründe und die Einflüsse von Prä- und Intertexten sowie die mögliche Wirkung von ethischen Texten auf die Adressaten. Der in diesen beiden Sammelbänden vorgelegte Ansatz ist für die vorliegende Studie von Relevanz, insofern auch im Folgenden sprachliche Analysen der neutestamentlichen Texte Einblick in den frühchristlichen Diskurs zur Ethik rechter Sprache geben und die Verwendung sowie die Wirkung der Vermittlungsstrategien von Sprachethik im Neuen Testament untersucht werden. 2.4 Desiderate der Forschung Bereits die geringe Anzahl der hier aufgeführten Monographien und Ansätze lässt erkennen, dass die ethische Dimension der Sprache bzw. der Sprachverwendung erst in den letzten Jahren in der neutestamentlichen 83 84

Vgl. HORN/ZIMMERMANN, Jenseits von Indikativ und Imperativ. Vgl. VAN DER W ATT/ZIMMERMANN, Moral Language in the New Testament.

3. Zur Methodik

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Wissenschaft Berücksichtigung gefunden hat. Die umfassende Darstellung einer Sprachethik des Neuen Testaments wurde bislang weder auf synchroner noch auf diachroner Ebene geleistet. Eine diskurskritische Untersuchung der neutestamentlichen sprachethischen Unterweisung im Kontext der antiken Literatur wurde bislang nicht vorgelegt und die Bedeutung des sprachethischen Diskurses, der erst im späten ersten Jahrhundert in den neutestamentlichen Schriften als bedeutendes Thema figuriert, für die Interpretation der neutestamentlichen Schriften blieb bislang in der überwiegenden Zahl der Kommentare und Monographien unberücksichtigt. Die vorliegende Studie versucht, diese Desiderate der Forschung aufzunehmen.

3. Zur Methodik 3.1 Einführung Eine geeignete, differenzierte, umfassende Methodik, die der Disparität der einzelnen neutestamentlichen Texte Rechnung trägt, bietet die historische Diskursanalyse. Obgleich die ethische Themenstellung dieser Studie und der Diskursbegriff den methodischen Ansatz der Diskursethik nahelegen mögen, ist die Methodik der historischen Diskursanalyse als problemspezifische und gegenstandsbezogene Zuspitzung der Methodik historisch-kritischer Exegese zu würdigen und gegenüber der Diskursethik abzugrenzen. Wenn auch rhetorische Kunstgriffe wie z.B. rhetorische Fragen, diatribischer Stil oder narrative Passagen die weitgehend monologisch-narrative oder argumentativ-paränetische Form der neutestamentlichen Texte variieren und dadurch quasi-diskursive Textstrukturen schaffen,85 wird durch die meist explizit vertretenen autoritativen Ansprüche der Verfasser neutestamentlicher Texte ein Dialog, wie ihn die Diskursethik voraussetzt,86 verhindert. Aus den neutestamentlichen Texten lässt sich jedoch erschließen, inwieweit die Verfasser durch Intertextualität und Argumentation auf den sprachethischen Diskurs der Zeit Bezug nehmen, diesen beeinflussen oder lenken und sich aktiv daran beteiligen. Die historische Diskursanalyse beruft sich auf die diskursanalytischen Textbetrachtungen Michel Foucaults und basiert auf deren methodischer Weiterentwicklung in der kritischen Diskursanalyse durch Siegfried Jäger, die sprach- und literaturwissenschaftliche sowie historisch-kritische Methoden der allgemeinen Textanalyse aufnimmt und diskursanalytisch ein-

85

Vgl. dazu ARENS, Kommunikative Handlungen, 357–359. Vgl. dazu HABERMAS, Moralbewußtsein; DERS., Diskursethik, 31–115; APEL, Diskurs und Verantwortung; weiterhin GOTTSCHALK-M AZOUZ, Diskursethik. 86

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Kapitel 1. Einleitung

bindet.87 Sie dient im Rahmen dieser Studie dazu, ein Inventar sprachethisch relevanter Aussagen zu erstellen und dieses anhand der Kategorien der inhaltlichen Aussage, der Pragmatik und des spezifischen Beitrags einzelner Diskursfragmente – sowie einzelner Diskurspositionen – zu analysieren und im Kontext des Diskursstrangs im Neuen Testament zu positionieren. Dadurch kann aufgezeigt werden, welche Aspekte der neutestamentliche Diskursstrang thematisiert und welche Aspekte des antiken Diskurses im neutestamentlichen Diskursstrang aufgegriffen werden bzw. wo sich Leerstellen ergeben. Die Analyse von Äußerungen (Performanzen88) führt zur Eruierung themengebundener Aussagen.89 Analysen des Aussagegehalts, der Textpragmatik und der Textstrategie einzelner Diskursfragmente decken die Diskursposition eines Verfassers auf, die daraufhin im Kontext des gesamten Diskursstrangs verortet und gegenüber anderen Diskurspositionen und Diskurssträngen im Gesamtdiskurs abgegrenzt werden kann:

87

Vgl. LANDWEHR, Diskursanalyse, 112–126. Hier ist der Begriff ‚Performanz‘ im Rahmen der diskursanalytischen Terminologie verstanden als der uns vorliegende Text, der in seiner inhaltlichen wie sprachlichen Form und rhetorischen Strategie untersucht werden kann, vgl. dazu WAMPER, Art. Aussage/Äußerung, 29–31. 89 Vgl. dazu FOUCAULT, Archäologie des Wissens, 157: „Man sieht insbesondere, daß die Analyse der Aussagen keine totale, erschöpfende Deskription der ‚Sprache‘ oder dessen, ‚was gesagt worden ist‘, zu sein vorgibt. In der ganzen durch die sprachlichen Performanzen verflochtenen Dichte stellt sie sich auf eine besondere Ebene, die von anderen gelöst, im Verhältnis zu ihnen charakterisiert und abstrahiert werden muß. Insbesondere nimmt sie nicht den Platz einer logischen Analyse der Propositionen, einer grammatischen Analyse der Sätze, einer psychologischen oder kontextuellen Analyse der Formulierungen ein: sie stellt eine andere Weise dar, die sprachlichen Performanzen in Angriff zu nehmen, ihre Komplexität aufzulösen, die Termini zu isolieren, die sich darin überkreuzen, und die verschiedenen Regelmäßigkeiten aufzufinden, denen sie gehorchen“. Hier wird zwischen der Oberflächenstruktur des Texts (Performanz) und den Aussagen unterschieden. Um die Aussagen eruieren und interpretieren zu können, ist eine Analyse der Performanz, d.h. konkret der Texte, notwendig, da die Wirkung und Wirksamkeit der Diskursfragmente durch die sprachliche Form und Struktur erwirkt wird (vgl. J ÄGER , Art. Sprache[n], 113f.): „Wenn z.B. der Versuch gemacht wird, von Äußerungen zu Aussagen vorzudringen, wird man die genannten Oberflächenmerkmale berücksichtigen müssen“ (a.a.O., 114). Als ‚Aussagen‘ werden zentrale „homogene Inhalte“ bezeichnet; es ist ein zentrales Anliegen der kritischen Diskursanalyse, „Aussagen anhand von Positivitäten (Äußerungen) zu erfassen […] und so jeweilige Sagbarkeitsfelder zu beschreiben“, so W AMPER , Art. Aussage/Äußerung, 29. „Die Beziehung zwischen Aussagen und Äußerungen ist wechselseitig. Während Aussagen auf ein Wissen verweisen, welches bestimmte Äußerungen ermöglicht und andere zurückweist, lassen sich Äußerungen zu Aussagen verdichten“, a.a.O., 30. 88

3. Zur Methodik Inhalt

Pragmatik und Strategie Diskursposition92

Diskursstrang

25

Zunächst wird der Aussagegehalt der einzelnen Diskursfragmente (Textpassagen) mit sprach- und literaturwissenschaftlichen Methoden analysiert; ein Diskurs wird immer über gesellschaftlich relevante, d.h. „brisante“ Themen,90 geführt – der Inhalt des Diskurses lässt daher Rückschlüsse auf zeitgenössisch aktuelle Themen sowie auf die Art und Dimension der Beteiligung Einzelner am Diskurs zu. Daraufhin wird nach der Pragmatik (Textintention, Taktik,91 Leserlenkung) sowie den rhetorisch-ideologischen Strategien im historischen und sozialgeschichtlichen Kontext gefragt. Aus diesen Analysen wird die Position des Gesamttexts (einer neutestamentlichen Schrift) im Rahmen des Diskursstrangs ermittelt. Schließlich werden die Diskurspositionen der verschiedenen neutestamentlichen Schriften im Diskursstrang des Neuen Testaments zueinander in Beziehung gesetzt und in ihrem traditionsgeschichtlichen Kontext verortet.

3.2 Zur Verwendung des Diskursbegriffs Angesichts der Pluralität in der Begriffsverwendung ist es notwendig, einen Diskursbegriff zu entwickeln, der in dieser Studie verwendet werden soll. Je nachdem, ob im Alltagsgebrauch oder in einer Spezialdisziplin gebraucht, ob im Deutschen, Englischen (discourse) oder Französischen (discours), eignen dem von lat. discurrere („auseinanderlaufen“, „sich ausbreiten“, „hin- und herlaufen“) abgeleiteten Terminus spezifische Konnotationen.93 Das auch für die Verwendung des Begriffs im Rahmen der histori90

JÄGER, Art. Brisante Themen, 34, und DERS., Art. Thema, 118f. Vgl. J ÄGER , Art. Diskurstaktik, 46: „Als D[iskurstaktik]en sind Versuche zu bezeichnen, Richtung und Inhalte eines Diskursstrangs im eigenen Interesse und/oder unter Verfolgung bestimmter Ziele zu verändern, indem man bestimmte Tricks anwendet“. 92 „Der Autor eines Diskursfragmentes/Textes ist immer auch selbst in die Diskurse verstrickt, die ihm in seinem Denken und daher auch Sprechen vorausgesetzt sind. Er schließt sich ihnen an, ohne von ihnen grundsätzlich determiniert zu sein. Er kann Kritik üben, Widerstand gegen die ihn umgebenden Diskurse leisten, sich ihnen aber auch mehr oder minder unterwerfen“, J ÄGER, Art. Autor (1), 31. Damit ist der Autor bzw. Verfasser einer Diskursposition nicht deren Urheber, sondern ein am Diskurs beteiligter und diesen in einer spezifischen Form aufnehmender, darin verstrickter Teilnehmer, der durch den diskursiven Kontext determiniert ist, jedoch seine Diskursmächtigkeit durch seine Äußerungen erweist und erweisen muss, vgl. JÄGER , Art. Autor (2), 31. Vgl. dazu auch STICKDORN, Art. Deutung(skämpfe), 36f. 93 KÄMPER , Art. Diskurs, 669–675. Zur Definition und zum Gebrauch des Terminus vgl. M ILLS, Diskurs, 1–14; zu den unterschiedlichen Bedeutungen des Diskursbegriffs in verschiedenen Disziplinen vgl. SAWYER , Archäologie des Diskursbegriffs, 48–62. Vgl. zur Charakterisierung der amerikanischen sowie besonders der in dieser Studie vertretenen französischen Richtung der Diskursanalyse ANGERMÜLLER, Diskursanalyse, 7–21. 91

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Kapitel 1. Einleitung

schen Diskursanalyse zentrale und einende Element all dieser Differenzierungen ist seine „analytische Funktion“ als „heuristisches Modell zur Beschreibung fachrelevanter Phänomene“.94 Achim Landwehr schlägt folgende definitorische Eingrenzung vor: „Aussagen, die sich hinsichtlich eines bestimmten Themas systematisch organisieren und durch eine gleichförmige (nicht identische) Wiederholung auszeichnen, formieren einen Diskurs“.95 Weiterhin sind „Diskurse […] nicht einfach nur Ausdruck oder Widerspiegelung einer bestimmten Entwicklung oder gewisser Zustände, sondern Diskurse sind tatsächlich bewirkende Kräfte, die zur Konstitution von Verhältnissen jeder Art beitragen“.96 Folglich werden „[a]ls Diskurse […] geregelte und untrennbar mit Machtformen verknüpfte Ordnungsmuster verstanden, in denen diese Konstruktionsarbeit [d.h. die Konstruktion soziokultureller Wirklichkeiten, S.L.] organisiert wird. […] Diskurse wirken dabei sowohl produktiv als auch restriktiv, sie sind strukturiert und bringen ihrerseits Strukturen hervor“.97 Im Hinblick auf die sprachethische Thematik dieser Untersuchung ist einerseits die Sprache von Bedeutung, mit der das frühe Christentum thematische Diskurse führt und sich in zeitgenössische Diskurse integriert, d.h. die Analyse der Verwendung der Sprache im vorliegenden Diskurs. Ebenso zentral ist jedoch die Thematisierung einer ethischen Verwendung der Sprache, die die Fähigkeit hat, weiterführende Diskurse unterschiedlicher Thematiken zu initiieren und zu führen; unter dieser Perspektive ist die ethische Unterweisung hinsichtlich der Sprache im Blick. Die Methodik der diskursanalytischen Untersuchung legt sich daher sowohl aufgrund der behandelten Thematik als auch aufgrund des vorliegenden Textcorpus neutestamentlicher paränetischer und lehrender Literaturformen nahe. 3.3 Die Diskurstheorie Michel Foucaults Dem Werk Michel Foucaults kommt eine entscheidende Bedeutung für die Entwicklung verschiedener Richtungen diskurstheoretischer Ansätze zu. Es kann hier nicht darum gehen, die foucaultsche Diskursanalyse im Detail zu beschreiben. Vielmehr sollen diejenigen Aspekte benannt werden, die für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung sind. 94

SCHOLZ, Ideologien des Verstehens, 55. LANDWEHR, Diskursanalyse, 92f. 96 LANDWEHR, Diskursanalyse, 96. 97 LANDWEHR, Diskursanalyse, 98f. Geordnet werden nicht nur Themenwissen, sondern auch Erfahrungswissen, Wissens-Praktiken. Das heißt sowohl die in den frühchristlichen Schriften aufgenommenen Traditionen inhaltlicher Art zählen zum Wissen als auch rhetorische und pragmatische Vermittlungsstrategien, unterbewusste Konzeptionen und Annahmen der Verfasser sowie Vorkenntnisse (auch wenn nicht reflektiert). 95

3. Zur Methodik

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Foucault definiert Diskurs als „Gesamtheit der Aussagen, die das Subjekt der Diskurse (ihr eigenes Subjekt) zum ‚Objekt‘ gewählt haben“,98 d.h. die Aussagen sind produktiv. In Die Ordnung der Dinge versucht er dies als ein „positives Unterbewußtes des Wissens“99 zu fassen, welches ein den Texten zugrundeliegendes und damit dem Diskurs teilhaftes, jedoch nicht explizit dargelegtes Konzept bezeichnet. Dieser Ebene soll auch in der vorliegenden Untersuchung das Interesse gelten, wenn dem Diskurs zugehörige Texte untersucht und im Blick auf Aussagen zur sprachethischen Thematik befragt werden, um sodann die dem neutestamentlichen Diskurs zugrundeliegenden anthropologischen und theologischen Voraussetzungen zu eruieren. Diskurse basieren auf bestimmten Ordnungsstrukturen – „Formationsregeln“100 – wie sozialen und institutionellen Kontexten, dem sich äußernden Subjekt, der Organisationsstruktur der Aussagen und Vermittlungsstrategien, die „den mit diesem Diskurs vertrauten Subjekten das gemeinsame Denken, Sprechen und Handeln erlaubt“.101 In diesem Sinne lassen sich Diskurse als institutionalisierte Ordnungen begreifen, anhand derer die Entwicklung des Diskurses durch Veränderungen der regelhaften Struktur indiziert wird, welche wiederum eine wissenschaftliche Untersuchung der Aussagen ermöglicht. Dabei ist nicht das im Diskurs sich äußernde Individuum im Fokus, sondern die vermittelte Diskursposition und deren historisch zu verortende Aussage.102 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die foucaultsche Diskurstheorie die Existenz von Subjekten leugnet; das handelnde und deutende Subjekt agiert „im Rahmen eines wuchernden Netzes diskursiver Beziehungen und Auseinandersetzungen. Dies bedeutet denn auch nicht, dass das Subjekt den Diskursen schlicht ausgesetzt ist, von ihnen in seiner Subjektivität/Identität schlicht determiniert wird“103 – vielmehr sind die diskursiven Bedingungen Grundlage und Voraussetzung dafür, dass sich verschiedene Subjektpositionen herausbilden können, die 98

FOUCAULT, Archäologie des Wissens, 46. Diskurse werden nicht nur als „Gesamtheiten von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken“ behandelt, die „systematisch Gegenstände abbilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muß man ans Licht bringen und beschreiben“ (a.a.O., 74). Vgl. dazu MILLS, Diskurs, 18: „In diesem Sinne ist ein Diskurs eher etwas, das etwas anderes produziert (eine Äußerung, ein Konzept, einen Effekt)“. Zur Schwierigkeit und Veränderlichkeit der foucaultschen Terminologie vgl. LANDWEHR, Diskursanalyse, 66. 99 FOUCAULT, Die Ordnung der Dinge, 11. 100 FOUCAULT, Archäologie des Wissens, 58. 101 LANDWEHR, Diskursanalyse, 67–69 (Zitat a.a.O., 67). 102 Vgl. FOUCAULT, Archäologie des Wissens, 42f. 178. 103 JÄGER /J ÄGER, Diskurs als „Fluss von Wissen durch die Zeit“, 22.

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sich der Problematik zu stellen haben, ihren Ort in der Gesellschaft zu finden und sich durchzusetzen, um Machtbeziehungen zu realisieren und aktiv und steuernd in den Verlauf des Diskurses einzugreifen.104 Neutestamentliche Diskurse finden ihr Subjekt in dem am Diskurs beteiligten Verfasser einer Schrift, der durch die Weitergabe der Tradition oder Neuorientierung den Diskurs weitertreibt. In seiner Inauguralvorlesung Die Ordnung des Diskurses beschäftigt sich Foucault mit der Beziehung von Diskurs und Macht und mit der sozialen Einbettung von Diskursen.105 Diskurse sind immer mit Macht gekoppelt, da einerseits der Diskurs der Kontrolle der gesellschaftlichen Macht unterworfen ist, die den Diskurs schafft und seine Regeln ständig aktualisiert, da andererseits aber der Diskurs eine Wahrheit schafft und dadurch befähigt wird, gesellschaftliche Macht auszuüben. Diskurs und Macht bedingen sich gegenseitig, sie „üben als ‚Träger‘ von (jeweils gültigem) ‚Wissen‘ Macht aus; sie sind selbst ein Machtfaktor, indem sie Verhalten und (andere) Diskurse induzieren. Sie tragen damit zur Strukturierung von Machtverhältnissen in einer Gesellschaft bei“.106 Dies ist die Grundlage dafür, dass Diskurse bewahrende Funktion haben, indem sie gesammeltes Wissen ordnen und fixieren. Gleichzeitig üben sie eine verändernde Wirkung aus, indem sie dem tradierten Wissen neue Bedeutung zuweisen.107 104 Vgl. J ÄGER/ZIMMERMANN, Netz der Begriffe der KDA, 13. Dabei ist zu betonen, dass Einzelne den Diskurs nicht bestimmen: „Der Diskurs ist überindividuell. Alle Menschen stricken zwar am Diskurs mit, aber kein einzelner und keine Gruppe bestimmt den Diskurs oder hat genau das gewollt, was letztlich dabei herauskommt“, a.a.O., 14. Vgl. auch NEUMANN, Art. Diskurs und Subjekt, 50f. 105 Vgl. FOUCAULT, Ordnung des Diskurses. Zur Unterscheidung von Macht und Herrschaft vgl. JÄGER , Kritische Diskursanalyse, 129f.: „Der Unterschied zwischen Macht und Herrschaft besteht darin, daß Macht die gesamte Gesellschaft wie ein Netz überzieht, so daß man sagen kann, daß alle Menschen in einer Gesellschaft über Macht verfügen, und sei ihr Anteil daran noch so gering; von Herrschaft ist dagegen zu sprechen, wenn aufgrund der ungleichen Verteilung von Macht Menschen über Menschen bestimmen und sie z.B. ausgrenzen und ausbeuten können etc.“. Vgl. dazu auch COHEN, Classical Rhetoric, 80. Zu einer Ausdifferenzierung der Theorie Foucaults vgl. DETEL, Macht, 13–75, bes. 13–39. Detel geht insbesondere auf die Analyse der durch Sprache vermittelten Macht ein – dazu muss untersucht werden, „von welcher Art von Dingen gesprochen wird; mit welcher Art von Prädikaten über Dinge gesprochen wird; welche Arten von Sätzen mit Wahrheitswerten belegt werden; welche Machtformen mit den Sprachformen intrinsisch verbunden sind; welche Wissensformen und Rationalitätsstandards verwendet werden; welche Art des Selbstverhältnisses mit dieser Sprachpraxis verbunden ist; in welche globalen Machtdispositive sich die Sprachpraxis strukturell einordnet; welche Vorstellungen vom guten Leben assoziiert sind“, a.a.O., 33. 106 JÄGER /ZIMMERMANN, Netz der Begriffe der KDA, 11 (Kursivierung im Original). 107 Vgl. LANDWEHR, Diskursanalyse, 73f. Der foucaultsche Wissensbegriff ist weit gefasst: Er ist nicht auf Faktenwissen begrenzt, sondern schließt das Wissen ein, das über eine Person aggregiert wird, sowie Fähigkeiten und Vermittlungsstrategien, Erfahrungs-

3. Zur Methodik

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Es geht der Diskursanalyse nicht darum, „zu beschreiben, was Wissen ist und was Macht ist und wie das eine das andere unterdrückt oder mißbraucht, sondern es geht darum, einen Nexus von Macht-Wissen zu charakterisieren, mit dem sich die Akzeptabilität eines Systems […] erfassen lässt“.108 Die foucaultsche Diskursanalyse dekonstruiert die Vorstellung der Universalität von Wissen und betrachtet dessen Vermittlung vielmehr als Produkt von gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen und Machtgefügen. Dies impliziert, dass Diskurse Kontrollmechanismen unterworfen sind, die Foucault als externe Prozeduren der Ausschließung (z.B. Verbote), interne Kontrollmechanismen (z.B. Kommentar) und die Verknappung der sprechenden Subjekte klassifiziert.109 Die analytische Kategorie des Diskurses soll aufzeigen, „wie, warum und in welchen historischen Kontexten bestimmte Wissensformen hervorgebracht wurden und warum ausgerechnet diese sich konkretisierten und keine anderen“.110 Es wird daher untersucht, welche Machtwirkungen in der Strukturierung, Lenkung und Kontrolle des Diskurses eine Rolle spielen. Macht wird „diskursiv transportiert und durchgesetzt“,111 zugleich jedoch wird im Gegenüber zur Macht immer auch Widerstand diskursiv vermittelt.112 „Es handelt sich um ein komplexes und wechselhaftes Spiel, in dem der Diskurs gleichzeitig Machtinstrument und -effekt sein kann, aber auch Hindernis, Gegenlager, Widerstandspunkt und Ausgangspunkt für eine entgegengesetzte Strategie“.113 Im Rahmen dieser Untersuchung gilt es, die Machtwirkungen des im Christentum des ersten Jahrhunderts geführten Diskurses offenzulegen sowie die spezifische Art der ‚Macht‘-Strukturen einer noch nicht an der ‚Herrschaft‘ teilhabenden neuen religiösen Gruppierung zu definieren, durch die sich der frühchristliche Diskursstrang in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs integriert und mit Gegendiskursen und Interdiskursen ver-

wissen und Unbewusstes. Vgl. zu einer Darstellung des Wissensbegriffs FOUCAULT, Archäologie des Wissens, 258–262. Vgl. zur Voraussetzung des Wissens für das Funktionieren von Machtmechanismen KAJETZKE, Wissen im Diskurs, 33–52. Zum Wissensbegriff in der Diskursanalyse vgl. J ÄGER , Art. Kritik, 73–76. 108 FOUCAULT, Was ist Kritik?, 32f. Vgl. dazu auch GASCH, Art. Macht-WissensKomplex, 80f. 109 Vgl. FOUCAULT, Ordnung des Diskurses, 10–30. 110 LANDWEHR, Diskursanalyse, 77. Zur Bedeutung des historischen und literarischen Aspekts der foucaultschen Diskurstheorie vgl. KAMMLER, Historische Diskursanalyse, 32–56. 111 JÄGER /ZIMMERMANN, Netz der Begriffe der KDA, 11. 112 Vgl. FOUCAULT, Der Wille zum Wissen, 116: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht“. Zur Macht ausführlich a.a.O., 113–118. 113 FOUCAULT, Der Wille zum Wissen, 122; vgl. auch J ÄGER/ZIMMERMANN, Netz der Begriffe der KDA, 12.

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netzt.114 Konkret bezieht sich dies sowohl auf die sich im Text spiegelnden Machtverhältnisse,115 als auch auf die durch den Text vermittelten Verhaltensstrategien gegenüber der herrschenden Macht.116 3.4 Applikationsorientierte Diskurstheorien im Anschluss an Foucault Die Diskurstheorie Michel Foucaults wurde umfassend rezipiert und diskutiert.117 Da jedoch „[d]ie Diskursanalyse Foucaults […] nicht als Verfahren zur Beschreibung oder gar Deutung einzelner literarischer Texte konzipiert“118 wurde, ist eine „literaturtheoretische Ausarbeitung der Diskursanalyse […] von vorneherein dazu gezwungen, über Foucault hinauszugehen“.119 Obgleich sich das Problem der konkreten Umsetzung der Theorie in dem bislang geringen Umfang methodischer Anwendungen deutlich abzeichnet,120 wurden inzwischen in verschiedenen Disziplinen applikationsorientierte diskursanalytische Verfahren erarbeitet: Die sozialwissenschaftliche Diskursanalyse (Reiner Keller),121 die kulturtheoretische Diskursanalyse (Rainer Diaz-Bone),122 die Interdiskursanalyse (Jürgen Link),123 die kritische Diskursanalyse (Siegfried Jäger)124 und die Wiener Kritische 114 Vgl. z.B. T HEISSEN, Gesetz und Goldene Regel, 237–254, der die Macht der ‚Geringsten‘, der Machtlosen, im frühchristlichen Ethikdiskurs betont. Vgl. dazu auch W INK, The Powers; GINGERICH/GRIMSRUD, Transforming the Powers. 115 Hier ist die Kategorie der ‚Pastoralmacht‘ von Bedeutung, die Macht beschreibt, deren Ziel und Sorge der Einzelne ist und die vom Machthabenden auch die Aufopferung für die ihm Anvertrauten fordern kann. Dennoch ist von Macht zu sprechen, denn „[d]er Hirte kann die Leute dazu verpflichten, alles zu tun, was für ihr Heil nötig ist, und er ist in der Lage […] gegenüber den Menschen eine ständige Überwachung und Kontrolle auszuüben“, FOUCAULT, Dits et Ecrits, 709. Vgl. GASCH, Art. Pastoralmacht, 93f. 116 Vgl. J ÄGER , Art. Diskursmacht, 44f.: Grundsätzlich ist „davon auszugehen, dass der Diskurs überindividuell und überinstitutionell ist, allerdings können einzelne Personen oder Institutionen eine gewisse Diskursmächtigkeit besitzen und stärker Einfluss auf die Gestaltung von Diskurssträngen nehmen, als dies üblicherweise der Fall ist“. Vgl. dazu SCOTT, Domination; HORSLEY, Hidden Transcripts. 117 Vgl. B UBLITZ, Wuchern der Diskurse; KELLER, Diskursforschung; JÄGER /J ÄGER , Deutungskämpfe. 118 KAMMLER, Historische Diskursanalyse, 32. 119 GEISENHANSLÜKE, Einführung in die Literaturtheorie, 121–141. 120 Vgl. dazu SCHOLZ, Ideologien des Verstehens, 61–63. 121 Vgl. KELLER, Diskursanalyse; DERS. ET AL., Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. 122 Vgl. DIAZ-B ONE, Probleme und Strategien; DERS., Kulturwelt; DERS., Diskursanalyse und Populärkultur. 123 Vgl. LINK, Elementare Literatur; DERS., Versuch über den Normalismus; DERS., Literaturanalyse als Interdiskursanalyse; vgl. dazu JÄGER /ZIMMERMANN, Netz der Begriffe der KDA, 9f. 124 Vgl. J ÄGER, Königsweg; DERS., Kritische Diskursanalyse; DERS., Diskurs und Wissen; DERS./ZIMMERMANN, Lexikon Kritische Diskursanalyse. Weiterentwickelt z.B. von

3. Zur Methodik

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Schule (Ruth Wodak et al.)125 sowie die historische Diskursanalyse (Achim Landwehr)126 seien exemplarisch genannt. Die vorliegende Untersuchung wird sich auf eine Kombination der diskursanalytischen Methodiken von Siegfried Jäger und Achim Landwehr stützen. Die Applikation der Diskursanalyse in der Exegese neutestamentlicher Texte „beschreibt Mechanismen, Strategien und Techniken ihrer diskursiven Anordnung und rekonstruiert mögliche Reaktionen der Erstadressaten […]“ sowie „die sozialen Relationen und Aktionen der auftretenden Handlungsträger“, „deren Interaktionen und Dependenzen, Autorisierungen oder Degradierungen“.127 Es wird „auf sprachlicher Ebene untersucht, an welche Aktanten Machteffekte gebunden sind und wie Hierarchien sprachlich ausgedrückt werden. […] Gleichzeitig formuliert die ntl. D[iskursanalyse], wie situativ zu erwartende bzw. geforderte diskursive Strategien unterwandert werden“.128 Obgleich diskursanalytische Ansätze in der neutestamentlichen Wissenschaft rezipiert wurden, ist dieses notwendige Aufgabenspektrum bislang noch in sehr geringem Umfang anhand konkreter neutestamentlicher Texte bearbeitet worden.129 Vor allem der Ansatz der historiMAAS, Sprache im Nationalsozialismus und z.B. im englischsprachigen Bereich, vgl. dazu den Überblick bei P ÖLLABAUER, Dolmetschen bei Asylanhörungen, 143–147. 125 Vgl. dazu W ODAK ET AL., Unschuldige Täter; DIES./CHILTON, New Agenda; die Wiener Kritische Schule steht nicht in der Tradition Foucaults, sondern orientiert sich an hermeneutisch-interpretativen Ansätzen und an den cognitive sciences. 126 Vgl. LANDWEHR, Historische Diskursanalyse; zur Rezeption der Diskursanalyse in der Geschichtswissenschaft vgl. SARASIN, Geschichtswissenschaft, bes. 10–60. Vgl. auch B OGDAL, Untersuchungen zu einer ‚Historischen Diskursanalyse der Literatur‘. 127 Zitate aus SCHOLZ, Art. Diskursanalyse, 136. 128 SCHOLZ, Art. Diskursanalyse, 136; vgl. auch ebd.: „Weiterhin bleibt die ntl. D[iskursanalyse] nicht bei der Interpretation der ntl. Texte stehen, sondern befragt ebenso deren Wirkungsgeschichte nach diskursiven Praktiken, etwa der instrumentellen Vereinnahmung ntl. Normtexte in der Kirchen- und Profangeschichte. Schließlich lässt sich der ntl. Wissenschaftsbetrieb selbst diskursanalytisch als wechselseitiges Kräftespiel aufeinander einwirkender, sich gegenseitig legitimierender und ausschließender Machtverhältnisse darstellen“. 129 Vgl. z.B. die diskursanalytischen Arbeiten von T IEDEMANN, Erfahrung des Fleisches; SCHÜSSLER F IORENZA, Buch der Offenbarung; CASTELLI, Imitating Paul (dt. Fassung: DIES., Paulus nachahmen). Die Monographien stützen sich vorwiegend auf die Theorien Foucaults. Vgl. weiterhin die großenteils konzeptionellen Sammelbände von P ORTER/REED, Discourse Analysis and the New Testament und P ORTER/CARSON, Discourse Analysis and Other Topics in Biblical Greek. Insbesondere der Beitrag in letztgenanntem Sammelband PORTER, Discourse Analysis and New Testament Studies, 14–35, gibt einen sehr differenzierten Überblick der verschiedenen Schulen der Diskursanalyse. Vgl. auch REED, New Testament Hermeneutic, 223–240; ZIMMERMANN, Geschichtstheorien, 6–8. Anwendung findet die Diskursanalyse z.B. bei REED, Philippians; WESTFALL, Hebrews; REINMUTH, Sprachereignis, 550–557. SNYMAN, Semantic Discourse Analysis, wendet eine in Südafrika entwickelte Methode der Diskursanalyse (colon analysis) an. Dass die Methodik noch nicht in der neutestamentlichen Wissenschaft verankert ist, zeigt

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schen Diskursanalyse ist für die Texte des 1. Jh. maßgeblich, m.E. in Kombination mit Aspekten des methodischen Instrumentariums der kritischen Diskursanalyse von Siegfried Jäger, das in vielem mit der linguistischen und literaturwissenschaftlichen sowie historisch-kritischen Methodik in der neutestamentlichen Exegese koinzidiert. 3.5 Die historische Diskursanalyse nach Achim Landwehr Achim Landwehr erarbeitete eine Methodik für die historische Diskursanalyse, die zur konkreten Analyse sozialer und historischer Verhältnisse beitragen soll. Sein Ansatz gründet in der Diskurstheorie Michel Foucaults, will aber „mit Foucault (und anderen) über Foucault hinaus […] denken“.130 Daher greift Landwehr auf die diskursanalytischen Ansätze von Pierre Bourdieu sowie Ernesto Laclau und Chantal Mouffe zurück.131 Bourdieu wird herangezogen, da in seinen Arbeiten zur Konstitution gesellschaftlicher Wirklichkeit sowie zur Bedeutung von Sprache die Untersuchung dessen, was Foucault als Diskurs bezeichnet, eine zentrale Stellung einnimmt.132 Dabei ist für die historische Diskursanalyse v.a. sein Werk zur Analyse der sprachlich vermittelten Machtwirkungen im politischen Diskurs von Bedeutung, denn „[s]ymbolische Macht ist die Macht, Dinge mit Wörtern zu schaffen“,133 d.h. politisches Handeln bezeichnet nach Bourdieu das mit Hilfe von symbolischer Macht erwirkte Erschaffen und Manipulieren von Strukturen der Gesellschaft.134 Hinsichtlich der Analyse historischer Quellen ist die Bedeutung des Aspekts der manipulativen und machtorientierten Konstruktion von Wirklichkeit durch den Diskurs offensichtlich. Der konstruktivistische Ansatz von Laclau und Mouffe beruft sich auf Foucault, vertritt aber einen offeneren Diskursbegriff: „[wir] bezeichnen […] als Artikulation jede Praxis, die eine Beziehung zwischen Elementen so etabliert, daß ihre Identität als Resultat einer artikulatorischen Praxis modifiziert wird. Die aus der artikulatorischen Praxis hervorgehende strukturierte Totalität nennen wir Diskurs“.135 Diskurstheorie betrifft unter diesich deutlich am geringen Umfang der Rezeption der Methodik in wissenschaftlichen Untersuchungen und monographischen Darstellungen im neutestamentlichen Bereich sowie am Fehlen des Ansatzes z.B. in den gängigen Methodenbüchern zur Exegese. 130 LANDWEHR, Diskursanalyse, 78. 131 Vgl. zu Umfang und Begründung der Rezeption dieser Ansätze LANDWEHR, Diskursanalyse, 79–99. 132 Vgl. bes. BOURDIEU, Rede und Antwort; DERS., Über die symbolische Macht; weiterhin auch B OURDIEU, Was heißt sprechen?; DERS., Sozialer Sinn; DERS., Soziologische Fragen; DERS., Zur Soziologie symbolischer Formen; DERS., Praktische Vernunft. 133 BOURDIEU, Rede und Antwort, 153. 134 Vgl. dazu auch LANDWEHR, Diskursanalyse, 84. 135 LACLAU/MOUFFE, Hegemonie, 141 (Kursivierungen im Original).

3. Zur Methodik

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ser Definition die Formen gesellschaftlicher Wirklichkeit in ihrer Totalität. Soziale Objektivität – im Grunde jede Form von Wirklichkeit – basiert demnach auf Machthandlungen und wird durch diskursive Praktiken produziert: Während die Diskurselemente keine bestimmte Bedeutung tragen, erlangen sie diese durch die Beziehung zu anderen Elementen, wobei diese konstruierte Bedeutung nicht fixiert und nicht fixierbar ist. Daher ist die Bedeutung von Diskursen als grundsätzlich instabil zu betrachten.136 Von Bedeutung für die historische Diskursanalyse ist zudem die Forschung zur diskursiven Konstitution der Wirklichkeit, aber auch der offene Diskursbegriff: Der Ansatz der historischen Diskursanalyse setzt einen Diskursbegriff voraus, der in Rechnung stellt, dass Wirklichkeit „nie an sich erfahrbar [ist], sondern immer nur für uns“.137 Diskursen kommt daher die Aufgabe zu, Wissen und Wirklichkeit, die bereits strukturiert vorgegeben und in Sinnmuster eingebunden sind, „in einer historisch entzifferbaren Weise […] zur Verfügung zu stellen“.138 Diskurse bringen durch ihre unaufhebbare Koppelung an Machtstrukturen Wirklichkeit hervor, die vorwiegend durch Sprache vermittelt und dadurch analysierbar ist. Als Aufgabe und Ziel der historischen Diskursanalyse formuliert Achim Landwehr: „Die historische Diskursanalyse geht grundsätzlich vom Konstruktionscharakter soziokultureller Wirklichkeiten aus und fragt vor diesem Hintergrund nach den Arten und Weisen, mit denen im historischen Prozess Formen des Wissens, der Wahrheit und der Wirklichkeit hervorgebracht werden“.139 Die Kernfrage der historischen Diskursanalyse zielt darauf, „welche Aussagen zu welchem Zeitpunkt an welchem Ort auftauchen. Davon ausgehend, dass dieses Erscheinen bestimmter Aussagen kein Zufall, keine Laune der Natur und auch kein Ergebnis göttlichen Wirkens ist, zielt das Interesse der historischen Diskursanalyse darauf, warum ausgerechnet diese Aussagen und keine anderen (grammatikalisch möglichen) aufgetreten sind“.140 Weitergehend ist „ihr Anspruch […] insofern weit gefasst, als sie versucht, den Zugang zu einer Geschichte der Wahrheit, der Wirklichkeit und des Wissens zu ermöglichen. Dabei zielt die historische Diskursanalyse nicht nur auf die explizit gemachten Wissensbestände […], sondern hat auch und v.a. das selbstverständliche Wissen, die nicht formu136

Vgl. dazu die Ausführungen bei LANDWEHR, Diskursanalyse, 84–90. LANDWEHR, Diskursanalyse, 91. 138 LANDWEHR, Diskursanalyse, 91. 139 LANDWEHR, Diskursanalyse, 98f. „Will man jedoch den diskursiven Fragmenten sozial konstruierter Wirklichkeiten auf den Grund gehen, bleibt kein anderer Weg als der historische – einfach deswegen, weil Diskurse keinen anderen ‚Grund‘ haben als ihre eigene Geschichte“, a.a.O., 97. Wirklichkeit ist sozial konstruiert – durch Sprache, vgl. B ERGER/LUCKMANN, Konstruktion der Wirklichkeit, bes. 39–42; vgl. auch ADAM, Reading Matthew as Cultural Criticism, 251–272. 140 LANDWEHR, Diskursanalyse, 92. 137

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Kapitel 1. Einleitung

lierte Wahrheit, die allgemein akzeptierte Wirklichkeit im Blick, über die man sich nicht weiter verständigen muss“.141 Zentrale Kategorien sind (1) Macht – die beeinflussenden Machtwirkungen, durch die Wirklichkeiten geschaffen werden, (2) das Subjekt – einerseits die Möglichkeit individueller Positionierungen im Diskurs, andererseits die Fremdbestimmung des sprechenden Subjekts durch den Diskurs, und (3) die Sprache – das Medium und die Handlung, durch die diskursive Wirklichkeit und dadurch Machtstrukturen vermittelt werden. Anhand dieser Kategorien werden „Wahrnehmungen der Wirklichkeit“ und aufgrund sich verändernder sprachlicher Bedeutungsmuster der „Wandel sozialer Realitätsauffassungen“ untersucht.142 Die von Achim Landwehr vorgeschlagene Methodik143 verweist explizit darauf, dass lediglich die groben Eckpunkte einer historischen Diskursanalyse aufgezeigt werden, die jedoch auf die jeweilige Fragestellung hin individuell zu spezifizieren bzw. pragmatisch zu kombinieren und zu selektieren sind: Auf die Themenfindung und die Erstellung eines Corpus144 folgt die Kontextanalyse, die sich auf den situativen (Wer? Wann? Wo?), den medialen (Medienform?), den institutionellen (Aufbau und Funktionsweise der sozialen und politischen Institutionen?) und den historischen (politische, gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Gesamtsituation?) Kontext bezieht. Daraufhin sind die einzelnen diskursformierenden Aussagen ausfindig zu machen, d.h. die den Diskurs konstituierenden Elemente. Methodisch geschieht dies, indem die relevanten Texte des Corpus zunächst im Rahmen einer Analyse der Makrostruktur auf Thema, Textur, graphische und gestalterische Form, Einteilung in Abschnitte, Verfasser und das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit hin befragt werden. Zudem werden Darstellungsprinzipien und mögliche Leerstellen analysiert, um zu einer Bestimmung zu gelangen, welche Aussagen der jeweiligen Texte den Diskurs konstituieren und charakterisieren. In einem weiteren Schritt wird die Mikrostruktur der Texte in Bezug auf Argumentation, Stilistik und Rhetorik auf Satz- wie auf Wortebene untersucht. Dies schließt lexikalische wie parasprachliche Beobachtungen ein. Auf diese 141

LANDWEHR, Diskursanalyse, 96. Zitate aus LANDWEHR, Diskursanalyse, 96. 143 Vgl. LANDWEHR, Diskursanalyse, 91–131. 144 Dabei differenziert Landwehr ein „imaginäres Korpus“, das die Gesamtheit der Äußerungen zum Diskurs bezeichnet, von dem meist nicht alles erhalten ist, ein „virtuelles Korpus“ der Beiträge zum Diskurs, die davon erhalten sind, und ein „konkretes Korpus“, das sich auf die Beiträge bezieht, die letztlich zur Analyse ausgewählt werden, LANDWEHR, Diskursanalyse, 102f. Es ist zu betonen, dass Landwehr spezifisch auf nichtsprachliche Quellen verweist und diese in seine diskursanalytische Methodik einbezieht. Aufgrund der Textgebundenheit der vorliegenden Untersuchung kann dieser Aspekt jedoch hier ausgeklammert werden, vgl. dazu aber LANDWEHR, Diskursanalyse, 124–126. 142

3. Zur Methodik

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allgemeine Textanalyse hin erfolgt die eigentliche Diskursanalyse auf der Basis der diachronen Analyse der einzelnen Textaussagen zum Themenkomplex des Diskurses. Dabei kommt es v.a. „auf die Frage nach den Grenzziehungen und nach der Etablierung einer legitimen Weltsicht im zeitlichen Wandel an. Anhand hervorstechender Merkmale, die in der Einzelanalyse des Materials eruiert wurden (Argumentationen, Unterscheidungen, Differenzierungen, Konzepte, Worte etc.), können Linien durch das gesamte Corpus gezogen werden: Wie verändern sich diese Merkmale? Wie werden sie eingesetzt? Kommen neue hinzu oder fallen alte weg? Aber auch die Frage nach dem Auftauchen und dem Verschwinden von Diskursen ist von besonderer Bedeutung. Gerade in historischer Perspektive bietet sich die wichtige Möglichkeit, auf das Vergessen, Verdrängen, Unterdrücken oder Beschweigen von Diskursen zu achten“.145

Die Diskursanalyse zielt darauf, „den Wahrnehmungskategorien, Bedeutungskonstruktionen und Identitätsstiftungen in ihrer historischen Veränderung auf den Grund zu gehen“ und dadurch „die Erkenntnisgrundlagen einer Zeit und einer Kultur zu beleuchten“.146 Weiterhin ist darauf zu achten, wann ein Diskurs ‚naturalisiert‘ ist, d.h. wann die Diskursthematik als common sense betrachtet wird. Es kann zwischen logisch stabilisierten Diskursen (z.B. technische Fachdiskurse mit komplexem und spezialisiertem Entwicklungsgrad, die wenig Variation erlauben) und nichtstabilisierten Diskursen (z.B. hermeneutische Diskurse, die nicht institutionalisiert sind) differenziert werden, weiterhin ist auf intradiskursive und interdiskursive Zusammenhänge zu achten. 3.6 Die kritische Diskursanalyse nach Siegfried Jäger Siegfried Jäger orientiert sich an den Grundgedanken der Diskursanalyse Foucaults, stützt sich aber ebenso auf den diskurstheoretischen Ansatz von Jürgen Link. Zur Begriffsbestimmung von Diskurs schreibt er: „Ich schlage vor, Diskurs von vornherein als geregelt zu definieren: Der Diskurs ist, ganz allgemein formuliert, ja nichts anderes als der ‚Fluß von ‚Wissen‘ durch die Zeit‘“.147 Der Diskurs konstruiert durch Machtwirkungen die wahrnehmbare Wirklichkeit, ist zu einem gewissen Grad bereits schon strukturiert und konventionalisiert; jedoch hat der Diskurs die Möglichkeit, die beeinflussenden Institutionen und Regelungen, das ‚Wissen‘, zu kritisieren, zu problematisieren und infrage zu stellen. Jäger verfolgt das Ziel, „Grundlagen zu schaffen für ein Verfahren der Diskursanalyse, mit dessen Hilfe empirische Analysen durchgeführt werden können“.148 Dazu gliedert er den Diskurs in Aufnahme von Link in 145

LANDWEHR, Diskursanalyse, 128. Zitate aus LANDWEHR, Diskursanalyse, 128. 129. 147 JÄGER, Kritische Diskursanalyse, 129. 148 JÄGER, Kritische Diskursanalyse, 120. 146

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Kapitel 1. Einleitung

Spezialdiskurse (naturwissenschaftliche, humanwissenschaftliche und ‚interdiskursiv dominierte‘; zu letzterer Kategorie zählt z.B. die Theologie), Interdiskurs (selektives Allgemeinwissen) und Gegendiskurs, äußert sich jedoch kritisch gegen Links strikte Trennung von wissenschaftlichen und alltäglichen Diskursen hinsichtlich ihrer gegebenen Reglementierung. Dagegen setzt er: „Die verschiedenen Diskurse bzw. Diskursstränge sind eng miteinander verflochten und miteinander verschränkt; sie bilden in dieser Verschränktheit das erwähnte ‚diskursive Gewimmel‘, das zugleich im ‚Wuchern der Diskurse‘ resultiert und das Diskursanalyse zu entwirren hat; dabei ist darauf zu achten, wie sich die verschiedenen Diskursstränge beeinflussen, welche Überschneidungen, Überlappungen und Verschränkungen sich dabei ergeben und welche Effekte dabei hervorgerufen werden“.149

Abbildung: Die Verflechtung der Diskurse bzw. Diskursstränge150

149

JÄGER, Kritische Diskursanalyse, 132. Die Abbildung ist geringfügig adaptiert entnommen aus JÄGER, Kritische Diskursanalyse, 133. 150

3. Zur Methodik

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Ebenso von Links Theorie rezipiert er die Kategorien (1) des diskursiven Ereignisses, welches einen Diskurs auslösen oder vorantreiben kann, (2) der Kollektivsymbolik,151 d.h. kultureller Topoi,152 deren kollektive Deutungsraster einen Diskurs zwischen verschiedenen Individuen erst ermöglichen, (3) der Macht,153 die den sozialen Diskurs konstituiert, damit gesellschaftliche Wirklichkeit konstruiert, diskursiv transportiert und perpetuiert wird, und (4) des Subjekts, das durch den Diskurs und seine Machtfaktoren konstituiert ist, während der Diskurs überindividuell zu betrachten ist. Um die prinzipielle Struktur des Diskurses zu erkennen und den Diskurs analysierbar zu machen, schlägt Jäger verschiedene gliedernde Analysekategorien vor:154 Diskursfragmente sind Texte oder Textteile, die stringent ein einziges Thema behandeln; da die meisten Texte aber verschiedene Themen enthalten, ist ‚Diskursfragment‘ nicht einfach mit ‚Text‘ gleichzusetzen, vielmehr finden sich meist in einem Text mehrere Diskursfragmente; Themenüberlagerungen verschiedener Diskursstränge in einem Text, d.h. Schnittstellen verschiedener Themen, werden diskursive Verschränkungen genannt. In Diskursfragmenten ist häufig ein Thema vorherrschend, während auf andere, eindeutig verschiedene Themen mehr oder weniger stark Bezug genommen wird. Die Analyse von Diskursfragmenten, d.h. von Äußerungen zu einem bestimmten Thema, führt zu themenbezogenen Aussagen.155 Diskursfragmente sind Produkte einzelner Individuen.156 Diskursstrang bezieht sich auf mehrere Diskursfragmente und wird durch ein einheitliches Thema konstituiert, wobei das Thema den Kern einer Aussage bezeichnet; er kann mit anderen Diskurssträngen verschlungen sein, die sich gegenseitig beeinflussen (Diskursstrangverschränkung bzw. diskursive Knoten); Diskurssträngen ist eine synchrone („was zu einem bestimmten […] Zeitpunkt […] ‚gesagt‘ wurde bzw. sagbar ist bzw. war“) und eine diachrone („[t]hematisch einheitliche Wissensflüsse durch die Zeit“) Dimension eigen.157 151

Vgl. JÄGER, Kritische Diskursanalyse, 133–142. Topoi sind Bestandteile des diskursiven Wissens, sind Voraussetzung des Textverstehens und lassen Rückschlüsse hinsichtlich des kollektiven Wissens der Adressaten zu, vgl. WENGELER , Topos und Diskurs, 165. 167. 153 Vgl. JÄGER, Kritische Diskursanalyse, 142–157. 154 Vgl. J ÄGER, Kritische Diskursanalyse, 158–169; vgl. auch DERS./ZIMMERMANN, Netz der Begriffe der KDA, 15–18. 155 FOUCAULT, Archäologie des Wissens, 115–171, unterscheidet zwischen Äußerungen und Aussagen, wobei erstere zufällige Form aufweisen, letztere die zentralen, den Diskurs konstituierenden Elemente darstellen; vgl. dazu J ÄGER /ZIMMERMANN, Netz der Begriffe der KDA, 16; vgl. auch JÄGER , Art. Gesamt(gesellschaftlicher) Diskurs, 59f. 156 Vgl. TONKS, Art. Diskursfragment, 39f. 157 Zitate aus J ÄGER , Kritische Diskursanalyse, 160. 152

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Kapitel 1. Einleitung

Alle Diskursstränge zusammen ergeben den gesamtgesellschaftlichen Diskurs, den ‚Fluß von Wissen durch die Zeit‘; er schließt wissenschaftliche Spezialdiskurse ebenso ein wie den Interdiskurs.158 Diskursstränge operieren auf verschiedenen diskursiven Ebenen, z.B. Wissenschaft, Medien, Politik, Erziehung, Alltag etc. Diskursebenen können auch als ‚soziale Orte‘ bezeichnet werden, die parallel, aber nicht unabhängig voneinander verlaufen, sich vielmehr aufeinander beziehen und einander beeinflussen.159 Die Diskursebene dieser Untersuchung erstreckt sich vorwiegend auf die innergemeindlich vermittelte theologische Ethik. Diskurspositionen sind die ideologischen Positionen der am Diskurs beteiligten Individuen oder Institutionen;160 sie sind innerhalb eines Diskurses meist homogen, abweichende Diskurspositionen lassen sich einem Gegendiskurs zuordnen. Obgleich alle Ereignisse diskursive Wurzeln aufweisen, werden als diskursive Ereignisse diejenigen Ereignisse bezeichnet, die die Qualität oder die Ausrichtung des Diskurses grundlegend beeinflussen. So könnte z.B. das Christusereignis als das diskursive Ereignis bezeichnet werden, das den ethischen Diskurs im Neuen Testament zentral determiniert. Gleichermaßen könnte es, da es nur in mündlichen und literarischen Traditionen überliefert ist, selbst als Diskurs bezeichnet werden, der u.a. in den ethischen Diskurs eng verschlungen ist. Die Bedeutung von diskursiven Ereignissen ergibt sich aus ihrer Gesamtheit, die den diskursiven Kontext markiert, auf den sich ein Diskursstrang bezieht.161 Die konkrete Analyse der Diskursfragmente nach Jäger bezieht sich auf schriftlich fixierte und bewusst komponierte Texte oder Textteile und geht von einem nach bestimmten Kriterien festgelegten Corpus aus, welches gemäß den folgenden Schritten analysiert wird: 158

Der Begriff ‚Wissen‘ soll in der Diskursanalyse des Neuen Testaments im Sinne von ‚Wissen um Tradition‘ aufgegriffen werden und wird im Rahmen intertextueller und interdiskursiver Analysen zum Tragen kommen. In diesem Verständnis unterliegt Wissen, d.h. Wissen um literarische und ethische Tradition(en), der ethischen Urteilsbildung im frühen Christentum und stellt eine zentrale Komponente frühchristlicher Ethik dar. 159 Vgl. TONKS, Art. Diskursebene, 38f. 160 Zur Problematik der Eisegese aufgrund der eigenen Prägung hinsichtlich der Eruierung der den Texten unterliegenden Ideologie vgl. ADAM, Matthew’s Readers, 435–449. 161 Der diskursive Kontext schließt auch die Diskursgemeinschaft ein, die äquivalent zur Interpretationsgemeinschaft steht. Die Diskursgemeinschaft besteht aus Subjekten, die sich „den in den D[iskursgemeinschaft]en vorherrschenden Diskurspositionen unterwerfen [müssen], [sie] können diese jedoch gleichzeitig auch in gewisser Weise mitbestimmen oder in Frage stellen“ (STICKDORN, Art. Diskursgemeinschaft, 40). Die Existenz oder Absenz von Widerständen lässt sich auch in den neutestamentlichen Texten z.T. anhand der Argumentationsstrukturen der einzelnen Diskurspositionen eruieren. Vgl. hier auch SEELIGER, Art. Interpretationsgemeinschaft(en), 296–299.

3. Zur Methodik Institutioneller Rahmen Text-Oberfläche

Sprachlichrhetorische Mittel

Inhaltlichideologische Aussagen164 Interpretation

39

Medium, rhetorische Situation,162 Textsorte/Gattung, Verfasser,163 eventuelle Ereignisse, Anlässe, ‚Quellen des Wissens‘ (Traditionen) Inhaltsangabe, Ziel/Textintention/Wirkabsicht, graphische Gestaltung, Sinneinheiten, Themen, thematische Verschränkungen mit anderen Diskurssträngen, Unterthemen, Sprechhandlungen, Redundanzen Kontext (Anfänge und Schlüsse), Gliederung, Argumentationsstrategien, Logik und Komposition, Verweise auf Vorwissen, Hinweise auf die soziale Gruppe von Verfasser und Adressaten, Implikate und Anspielungen, Kollektivsymbolik/Bildlichkeit, Redewendungen, Sprichwörter, Wortschatz, Stil, Akteure, Referenzbezüge, Normen und Werte, Bedeutungsfelder, sprachlichsyntaktische sowie lexikalisch-semantische Analyse, sprachliche Besonderheiten Menschenbild, Gesellschaftsverständnis, Zukunftsvorstellung etc. (z.B. unterliegende anthropologische oder theologische Konzepte) systematische Darstellung in Analyse und Interpretation mit besonderem Fokus auf die Wirkung des Diskursfragments (nicht einer Rekonstruktion der Autorenintention); Darstellung der ‚Botschaft‘, der Vermittlungsstrategien, Charakterisierung der Zielgruppe, Wirksamkeit im bzw. Verhältnis zum Diskursstrang oder Gesamtdiskurs, diskursiver Kontext, gesellschaftliche Bedingungen, Bezug auf diskursive Ereignisse

162 Vgl. zur Analyse der rhetorischen Situation biblischer Texte T HURÉN, Argument and Theology, 86f.; die Studie untersucht textinterne linguistische Indikatoren (Anreden, Stil, Vokabular, Argumentationsniveau) wie textexterne sozialgeschichtliche (Diasporasituation, Sozialstruktur, Gemeindeorganisation) Indikatoren, um Rückschlüsse auf die Situation des Schreibens, die Adressaten sowie auf die generelle Intention des Verfassers und seinen Autoritätsanspruch zu ermöglichen; vgl. auch STAMPS, Entextualization, 193– 198: Die historische Situation der historisch-kritischen Methode wird im Rahmen des rhetorical criticism im Sinne der rhetorischen Situation untersucht. Dabei wird jedoch die Problematik (bzw. Unmöglichkeit) der Analyse der im Text „inscribed rhetorical situation“ (a.a.O., 209) bzw. der „textual representation of the rhetorical situation“ (a.a.O., 219), d.h. des Kontexts, m.E. nur verschoben. 163 Zum Verfasser: Diskursfragmente sind Produkte bestimmter Individuen, jedoch ist es Ziel der Diskursanalyse, Texte als Bestandteile eines Diskursstrangs oder Gesamtdiskurses zu betrachten. Die Frage nach der Wirkabsicht der Texte muss also auf die Wirkungen des Diskurses insgesamt bezogen werden, vgl. JÄGER, Kritische Diskursanalyse, 173. Dies ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchung aufgrund der pseudepigraphen Zuschreibungen der meisten Texte vorteilhaft. 164 Zur Definition von Ideologie vgl. SCHOLZ, Ideologien des Verstehens, 38; die Definition von Ideologie, die hier zugrunde gelegt wird, bezeichnet eine sinnstiftende und der Orientierung dienende Größe, die ein Corpus von Ideen und Theorien umfasst, welche Ethik begründen und motivieren können, die aber auch dezidiert Machtpotentiale bergen.

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Kapitel 1. Einleitung

Der Fokus der kritischen Diskursanalyse geht vom einzelnen Diskursfragment über den Diskursstrang zum Diskurs als Ganzen. Ziel der Analyse ist es, die verschiedenen Diskurspositionen Diskurssträngen zuzuordnen und diese wiederum, da sie im Gesamtdiskurs mit anderen Diskurssträngen verwoben sind, zu entwirren.165 Diskurse werden zugleich kritisiert, indem „man sie analysiert, ihre Widersprüche und Fluchtlinien aufzeigt, die Mittel deutlich werden lässt, durch die die Akzeptanz nur zeitweilig gültiger Wahrheiten herbeigeführt wird“.166 Die Diskursanalyse erwirkt durch die Analyse von Äußerungen (Performanzen)167 eine repräsentative Darstellung der themenbezogenen Aussagen einer Gruppe bzw. Gesellschaft, zugleich aber eine kritische Evaluierung der inhaltlichen Aussagen, der sprachlich-rhetorischen Darstellungsweise, der pragmatischen Intention wie der Vermittlungsstrategien. Basierend auf der Analyse der Aussagen beansprucht Diskursanalyse, sowohl die Funktion der Darstellung als auch die der Interpretation eines empirisch zu erfassenden Diskurses zu erfüllen. Zudem sind Ausblicke auf die Wirkungen des Diskurses zu wagen – einerseits auf das individuelle Bewusstsein und die individuelle Prägung sowie umfassender auf die kollektive Ausformung der Wirklichkeit, andererseits hinsichtlich der Machtwirkungen, die durch sprachliche Form, Argumentationsstrukturen und Inhalte vermittelt werden. 3.7 Der heuristische Mehrwert der diskursanalytischen Methodik Der historische Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit, die Sprachethik, ist in der Antike in die gesamtgesellschaftliche Debatte des Gebrauchs von Sprache eingebettet, die sich durch ein weitverzweigtes Netz verschiedenster Spezialdiskurse – wie z.B. über Sprachphilosophie, Rhetorik, Erziehung und Ethik – konstituiert. Aufgrund ihrer alltäglichen Relevanz wurden diese Diskurse zugleich im Interdiskurs rezipiert. Obgleich der Diskurs über Sprachethik in der Antike auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen geführt wurde, so z.B. im hellenistischen Judentum, in der Stoa und im Christentum, soll der Gegenstand dieser Untersuchung enger gefasst und der Fokus auf den spezifischen Diskursstrang der Sprachethik im Neuen Testament gerichtet werden. Dabei ist insbesondere auf die applizierten Machtpotentiale und die Diskurspositionen der Verfasser der frühchristlichen Schriften abzuheben. Wie Jäger von der Analyse einzelner Diskursfragmente ausgeht und über eine Synthese des Diskursstrangs auf die Rekonstruktion des gesamtgesellschaftlichen Diskurses zielt, so wird diese Untersuchung ausgehend von den Diskursfragmenten 165

Vgl. dazu JÄGER /ZIMMERMANN, Netz der Begriffe der KDA, 15–18. JÄGER /ZIMMERMANN, Netz der Begriffe der KDA, 20 (Kursivierung im Original). 167 Vgl. WAMPER, Art. Aussage/Äußerung, 29–31, und JÄGER , Art. Interpretation, 69. 166

3. Zur Methodik

41

der einzelnen neutestamentlichen Texte über die Diskurspositionen der Verfasser die Synthese des frühchristlichen Diskursstrangs zur Sprachethik zu rekonstruieren versuchen.168 Die phänomenologische Herangehensweise geht von der Evidenz sprachethischer Diskursfragmente in den neutestamentlichen Texten aus und fragt nach dem Zusammenhang der dem Text unterliegenden Konzeption dieser ethischen Thematisierung von Sprache und dem vorausgesetzten und tradierten Wissen. Die Diskursanalyse soll im Rahmen der vorliegenden Studie als eine die historisch-kritische Exegese erweiternde Methodik dienen. Der diskursanalytische Ansatz kann sein Potential auf verschiedenen Ebenen entfalten: – Der Ansatz schafft einen Rahmen, narrative wie argumentative Texte unter der spezifischen Fragestellung der Sprachethik mit der gleichen Methodik vergleichend zu analysieren. Die einzelnen Diskursfragmente werden zunächst mithilfe textanalytischer Fragestellungen untersucht, in einem zweiten Schritt erfolgt die eigentliche Diskursanalyse. Anhand hervorstechender Merkmale, die in der Einzelanalyse des Materials eruiert werden, können thematische Linien durch das gesamte Textmaterial gezogen werden. Dabei ist v.a. nach der Etablierung einer Weltsicht durch Diskurse und deren zeitlichem Wandel zu fragen.169 – Für eine Eruierung des Diskurses ist ein umfangreiches Textcorpus vonnöten. Die diskursanalytische Fragestellung, die gerade nach dem Verhältnis der Diskurspositionen der Verfasser der neutestamentlichen Schriften zueinander sowie nach dem Wandel der Positionen fragt, kann sich weder auf ein singuläres Diskursfragment noch auf eine einzelne Diskursposition richten. Vielmehr wird ein umfangreiches Textcorpus auf den durch die Fragestellung vorgegebenen Aspekt der Sprachethik hin untersucht und in den Rahmen des Fragehorizonts gestellt werden. – Die Diskursanalyse bietet die Möglichkeit einer innovativen Fragestellung, indem sie sich dadurch auszeichnet, bereits Etabliertes neu zu hinterfragen: Eine Durchsicht der in den letzten Jahrzehnten erschienenen Entwürfe zur neutestamentlichen Ethik erweist, dass die Sprachethik nie 168 Vgl. BOGDAL, Neue Literaturtheorien, 8: „Die sukzessive Beschreibung komplexer historischer Diskursformationen, der Referenten der Aussage, der Aussagen selbst, der in ihnen eingenommenen Subjektpositionen und der ihnen eigenen Materialität und Medialität erlaubt es, eine Epoche (und ihre Transformation) in ihrer Besonderheit zu erfassen. Sie gibt zugleich den Blick frei für die Möglichkeiten, die in einer konkreten historischen Konstellation präsent waren“. 169 Thematische, nicht identische Wiederholungen in Texten zeigen an, dass ein Diskurs Form angenommen, ein Thema sich etabliert hat. Der Diskurs bezeichnet dabei keine Entität, sondern ist als analytischer Begriff, als Werkzeug einer übergreifenden Textinterpretation zu betrachten, als wissenschaftstheoretischer und etymologischer Zugriff darauf, dass Wissen zu bestimmter Zeit und an einem bestimmten Ort eine Regelmäßigkeit hat.

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Kapitel 1. Einleitung

als eigenständiges Thema betrachtet wurde – sie wurde immer im Kontext der allgemeinen Ethik verhandelt. Die Diskursanalyse bietet hier die Möglichkeit, dieser ‚etablierten Vernachlässigung‘ entgegenzuwirken und die innovative Frage nach der Bedeutung der Bereichsethik zum rechten Sprechen zu stellen. Die Diskursanalyse fragt zudem insbesondere nach dem durch den Text implizit Ausgedrückten, nach dem Text unterliegenden, impliziten Präsuppositionen und der Bedeutung des Einflusses von Verschränkungen mit anderen Diskurssträngen. Vor diesem Hintergrund können Struktur, Anlage und theologischer Kontext der neutestamentlichen Schriften neu in den Blick genommen werden. Die Diskursanalyse fragt nach dem Wissen des Diskurses. Der Diskurs wird dabei verstanden als „Lagerhalle des Wissens und Austragungsort der Kämpfe um Deutungen“.170 Bei Foucault ist Wissen nicht das Wissen des Akteurs, sondern das Wissen des Diskurses, d.h. das Wissen über das Individuum. „Das Subjekt stellt sich als Quelle und Folge gesellschaftlichen Wissens heraus“.171 Dieses Wissen wird existent in Diskursen, unterliegt ständigem Wandel und fortlaufender Anwendung und manifestiert sich in den am Diskurs teilhabenden Texten. Zudem richtet die Diskursanalyse den Fokus auf Machtstrukturen, auf die Frage nach der Rezeption von bzw. der Resistenz gegen Wissensund Traditionselemente, nach dem was in den Diskurs aufgenommen und was verschwiegen wird. Die Sprachethik ist in der Antike in die gesamtgesellschaftliche Debatte über den Gebrauch von Sprache eingebettet, die sich durch ein weitverzweigtes Netz verschiedenster Spezialdiskurse konstituiert. Die Fragestellung richtet sich also insbesondere auf den Grad der Einbindung des frühchristlichen Diskursstrangs in den sprachethischen Diskurs der Antike. Damit kommt auch die vieldiskutierte Frage nach der Kommunikations- bzw. rhetorischen Situation und dem Entstehungsmilieu der neutestamentlichen Schriften erneut in den Blick. Der neutestamentliche Diskursstrang der Ethik des rechten Sprechens ist mit unterschiedlichen Diskurssträngen vernetzt. Die Untersuchung wird aufzeigen, welche Rolle z.B. dem Diskurs, der von dem theologisch als ‚Christusereignis‘ bezeichneten Phänomen ausgeht und der die Grundlage der frühchristlichen Ethik und der frühchristlichen Weltsicht bzw. des frühchristlichen Weltverständnisses ist, zukommt. Die vorliegende Untersuchung wird in diskursanalytischem Interesse danach fragen, was

170 171

KAJETZKE, Wissen im Diskurs, 156. KAJETZKE, Wissen im Diskurs, 155.

3. Zur Methodik

43

wann, wie und warum gesagt wurde und wie das frühe Christentum dadurch seine Wirklichkeit organisierte und konstituierte.172 Die Diskursanalyse bringt weiterführende, innovative epistemologische Fragestellungen in die Exegese ein und bietet ein terminologisches und methodisches Spektrum, das der historisch-kritischen Exegese als wertvolle Ergänzung und Erweiterung dienen kann.173 Die historische Diskursanalyse zeichnet sich im Rahmen dieser Studie durch das Interesse aus, die neutestamentlichen Diskursfragmente zur Sprachethik innerhalb der jeweiligen Schriften sowie innerhalb des Neuen Testaments in einen Zusammenhang zu stellen, sie als Diskurspositionen im Diskursstrang des Neuen Testaments und im antiken Gesamtdiskurs zu positionieren. 3.8 Zur Methodik der vorliegenden Untersuchung In einer Kombination von Methoden der historischen sowie der kritischen Diskursanalyse, der linguistischen und literaturwissenschaftlichen Textanalyse und der historisch-kritischen Exegese legt sich das folgende methodische Instrumentarium nahe:174 A. Analyse der Diskursfragmente (Textanalyse) 1. Analyse des Kontexts175 und der Makrostruktur176 der Texte – Kontext: Untersucht wird der situative, mediale, institutionelle und historische Kontext der Schriften. – Gliederung: Die Gliederung der jeweiligen Gesamttexte erlaubt eine spätere Kontextualisierung der analysierten Diskursfragmente (Textpassagen) innerhalb der Struktur der jeweiligen Schrift und ist Voraussetzung für die Rekonstruktion der Diskursposition der Schrift.

172

Vgl. SARASIN, Geschichtswissenschaft, 58f.: „Diskurse definieren Räume des Sprechens – Räume mit ihren Grenzen, ihren Übergängen zu anderen Diskursen und mit ihren Subjektpositionen. Dies ermöglicht es, strukturelle Voraussetzungen für Sinn und Handeln zu beschreiben, und zwar gleichsam wie layers, wie halbtransparente Folien, die in konkreten historischen Situationen diskontinuierlich übereinandergelagert sind und die Komplexität solcher Situationen zu erklären erlauben. Sie zeigen v.a., von wo aus und unter welchen diskursiven Voraussetzungen ein historisches Subjekt spricht. Sie zu rekonstruieren bedeutet in erster Linie, das Sprechen dieser Subjekte nicht von ihren Intentionen her verstehen zu wollen, sondern von den diskursiven Mustern aus, in die dieses Sprechen eingeschrieben ist“. 173 Vgl. auch die Aufnahme des Ansatzes bei SCHNELLE, Johannesbriefe. Vgl. auch DERS ., Ethical Theology in 1 John, 321–339. 174 Vgl. generell dazu ROBBINS, Tapestry; vgl. zudem TONKS, Art. Strukturanalyse, 115. Zur Ideologie vgl. E LLIOTT, Home for the Homeless, 267–288. 175 Vgl. NIDA, The Role of Context, 20–27. 176 Zu mikro- und makrostruktueller Argumentationsanalyse vgl. KOPPERSCHMIDT, Argumentation, 386.

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Kapitel 1. Einleitung 2. Analyse der Mikrostruktur177 der sprachethisch relevanten Textpassagen – Diskursiver Kontext: Begriffs- und motivgeschichtliche sowie Topos-orientierte Analysen basieren auf Beobachtungen zum semantischen Inventar sowie der sprachlichen Präsentation ethischer Thematiken. Sie dienen dazu, den Bedeutungsgehalt bestimmter Lexeme und Kollokationen im Kontext der ethischen Argumentation einer Schrift, insbesondere aber in Hinsicht auf die Aufnahme oder Umprägung traditionellen Materials im innerneutestamentlichen Vergleich sowie in Bezug auf die Verortung im Rahmen der dem Neuen Testament zeitgenössischen Literatur evaluieren zu können. Es ist in diesem Zusammenhang zu betonen, dass der diskursive Kontext in dieser Studie nicht nach historischer Abhängigkeit, sondern nach sachlichen Parallelen fragt. – Argumentationsstrukturen:178 Die Argumentations- bzw. narratologische Analyse, die auf Untersuchungen der Syntax sowie der Pragmatik der Aussagen basiert, zeichnet die sprachliche Darlegung des ethischen Diskurses des jeweiligen Diskursfragments (bzw. der jeweiligen neutestamentlichen Schrift) nach und charakterisiert Vermittlungsstrategien. – Intertextualität179 und Diskursstrangüberschneidungen: Traditionsgeschichtliche Analysen fragen nach den ‚Quellen dieses Wissens‘, nach möglichem Vorwissen der Rezipienten, nach Hinweisen auf die soziale Gruppe von Verfasser und Zielgruppe, nach Referenzbezügen, Bedeutungsfeldern und thematischen Verschränkungen mit anderen Diskurssträngen. Die Tradition bildet den Intertext, aus dem Fragmente aufgenommen, umgeformt und mit einer spezifischen Bedeutung im Kontext der Schrift versehen werden, d.h. über die traditionsgeschichtliche Fragestellung hinausgehend wird nach möglichen, im Text indizierten, intertextuellen Verweisen,180 deren Sinneffekten und theologischer Wertung im Rahmen der neu-

177

Vgl. KOPPERSCHMIDT, Argumentation, 389–395. Vgl. dazu auch JÄGER , Art. Argumentations-Strategie(n), 27f.; auf die Bedeutung der Argumentationsstrategien zur Analyse eines Diskurses verweist auch PETTER, Argumentationsstrategien, bes. 104; P LETT, Rhetorische Textanalyse. 179 Hier wird eine weite Definition von Intertextualität vorausgesetzt, die „oralscribal, historical, social, cultural or ideological data“ (ROBBINS, Tapestry, 238) als Intertext annimmt und damit nicht auf Inter-Texte und Intertextualität im linguistischen Sinn eingeschränkt ist. Vgl. dazu die Literatur bei SCHNEIDER /HUIZENGA, Matthäusevangelium, 20–29; zum Matthäusevangelium bes. LUZ, Intertexts, 119–137, der zwischen bewusster und unbewusster Intertextualität durch den Verfasser unterscheidet und die Bedeutung der Thora als Intertext hervorhebt; zu einem grundlegenden Überblick zu den Grundfragen der Intertextualität vgl. P LETT, Intertextualities, 3–29; MAI, Bypassing Intertextuality, 30–59; im Bereich der biblischen Texte vgl. KONRADT, Rezeption der Schrift, 919–932; HUIZENGA, New Isaac, 43–74; weiterhin vgl. PFISTER, Konzepte der Intertextualität, 1–30, und ALKIER, Intertextualität – Annäherungen, bes. 12–16. 18. Für diese Studie ist insbesondere Alkiers Hinweis auf die Bedeutung der im Text angelegten Intertextualitätsindikatoren, auf deren Wirkungspotential im Rezeptionsprozess sowie auf die – dem Verfasser wie dem Leser – oft unbewusst bleibenden intertextuellen Bezüge relevant. Vgl. hierzu auch MALHERBE, Soziale Ebene. 180 Zu der komplexen Frage nach den Kriterien zur Identifizierung von Intertextualität vgl. HAYS, Echoes, 29–32, und HUIZENGA, New Isaac, bes. 58–65. Als Kriterien werden – mit unterschiedlicher Betonung – angeführt: availability, volume (Umfang der Intertextualität), recurrence/clustering (Häufigkeit der Rekurrenz auf einen Intertext), thematic 178

3. Zur Methodik

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testamentlichen Schrift und unter dem Aspekt der Sprachethik gefragt.181 Dabei ist auch auf das Profil der Quellenverwendung und -gebundenheit abzuheben. Es geht nicht darum, literarische Abhängigkeiten aufzuzeigen. Vielmehr soll dargelegt werden, dass die Verfasser neutestamentlicher Schriften ein Interesse am antiken Diskurs zur Sprachethik zeigten, die Aussagen ihrer Texte überschneiden sich häufig mit den dem Neuen Testament zeitgenössischen Diskurssträngen oder nähern sich ihnen an. Bereits das Interesse an den Diskursen ermöglicht eine Einordnung der Verfasser und Rezipienten in den Kontext der antiken Literatur und Philosophie.182 – Ideologischer Rahmen:183 Die Frage nach dem ideologischen Rahmen zielt auf die Rekonstruktion der dem Text unterliegenden theologischen und soziologischen wie ideologischen Konzepte sowie auf ethische Normen und Werte und auf die Textintention bzw. Wirkabsicht des Textes.184 Dabei bezieht sich dieser Analyseschritt auch auf die Art und Weise, in der sich der Kontext konkret, ihn affirmativ

coherence (zwischen Text und Intertext), historical plausibility (bzgl. Intention des Verfassers und Verständnis der Leser), history of interpretation, satisfaction (Frage nach gerechtfertigter Eruierung von Intertextualitätsindikatoren). Für die Ausführung dieser Studie scheint die Bestimmung der Kriterien von Hays praktikabler; availability ist dabei eine entscheidende Größe, die jedoch im historischen Kontext kaum zu bestimmen ist. 181 Vgl. dazu SCHNEIDER /HUIZENGA, Matthäusevangelium, bes. 28; CASTELLI, Imitating Paul, 33, beklagt, dass Tradition üblicherweise als „monolithic, univocal, and almost preordained“ betrachtet wird, „rather than as an ideological construct or a contested terrain“. Der Aspekt der z.T. implizit vertretenen Ideologie hinter der Verwendung von Traditionen soll in dieser Untersuchung hervorgehoben werden. 182 Obgleich nicht nachgewiesen werden kann, ob und in welchem Umfang die Verfasser der neutestamentlichen Schriften auf literarische Traditionen der Umwelt rekurrierten, so lässt sich doch die individuelle Position der jeweiligen neutestamentlichen Schrift im Kontext der ihr zeitgenössischen Ideen und Positionen aufzeigen. Daher wird die antike Literatur nicht als direkte Quelle der neutestamentlichen Schriften betrachtet, deren Gebrauch im Rahmen von Zitaten oder direkten Allusionen zu untersuchen ist, sondern als Materialressource: Die allgemeine Bekanntheit der antiken Positionen wird in gewissem Rahmen vorausgesetzt, nicht die Kenntnis der einzelnen Schriften. Vgl. dazu KLOPPENBORG, Hellenistic Psychagogy, 38f. 70. 183 Vgl. ELLIOTT, Home for the Homeless, 268, der Ideologie definiert als „an integrated system of beliefs, assumptions and values, not necessarily true or false, which reflects the needs and interests of a group or class at a particular time in history“. Es geht somit um mehr als lediglich theologische oder ideelle Fragmente innerhalb eines Texts – es geht darum, aus diesen Fragmenten ein unterliegendes umfassendes Konzept an kognitiven und ethischen Aspekten zu eruieren, die sich in der Argumentation bzw. Narration der neutestamentlichen Texte spiegeln; SCHOLZ, Art. Ideologie/Ideologiekritik, 277f., beschreibt dies zutreffend unter der dritten Ausführung; vgl. auch ROBBINS, Tapestry, 144–236. Zur Kategorie der Ideologie im Kontext der Diskursanalyse – die den Ideologiebegriff different zur hier vorgelegten Definition verwendet – vgl. KAYA, Art. Ideologie/Ideologiekritik, 65–68. 184 Der Begriff ‚Ideologie‘ soll dabei möglichst neutral verwendet werden und in deskriptiver Weise die Konstruktion ideologischer Konzepte, Vorstellungen etc. in Texten wiedergeben, vgl. dazu B ATTEN, Ideological Strategies, 8f.; EAGLETON, Ideology, 33–61; YEE, Art. Ideological Criticism, 534–537.

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Kapitel 1. Einleitung oder kritisch infrage stellend, in den Texten niederschlägt. Da der konkrete Kontext nicht definitiv eruiert werden kann, ist mit übergreifenden Theorien zu arbeiten, die auf den Kontext der Mittelmeerwelt im 1. Jh. n. Chr. anwendbar sind.185 Hier ist zudem nach Machtpotentialen sowie nach der Sprecherautorität in den Texten zu fragen. – Sprachethische Aspekte: Die für die Analyse der Diskursposition relevanten sprachethischen Aussagen der Diskursfragmente werden zum Ende jeder Einzeltextanalyse pointiert zusammengefasst.

B. Rekonstruktion der Diskurspositionen und des Diskursstrangs (Diskursanalyse) 1. Analyse der Diskurspositionen – Die Auswertung erfolgt auf einer ersten, synchronen Stufe der Diskursanalyse hinsichtlich der sprachethischen Ausrichtung der Texte im Gesamtkontext des Schreibens: Die Aussagen der einzelnen Diskursfragmente, die ‚atomaren‘ Bestandteile der Einzelpositionen, sollen sich zu Diskurspositionen der jeweiligen Einzelschriften formieren. – Zudem sind die propositionalen Gehalte der Aussagen zu erheben, wobei besonders auf diskursive Verschränkungen mit Thematiken über die Sprachethik hinaus zu achten ist. 2. Analyse des Diskursstrangs – Auf einer weiteren, diachronen Stufe ist eine Diskursanalyse anzustreben, die sich auf das gesamte Diskursfeld der neutestamentlichen Literatur erstreckt und den Diskursstrang zur Sprachethik im Neuen Testament erhebt. – Im Rahmen einer Diskurskritik soll v.a. nach der Homogenität der Diskurspositionen innerhalb des frühchristlichen Diskursstrangs sowie nach einem eventuellen zeitlichen oder traditionsbedingten Wandel gefragt werden. Von Bedeutung sind zudem die Überlappung mit anderen Diskurssträngen und der Bezug zum Interdiskurs. – Im Hinblick auf Machtstrukturen stellt sich die Frage, wie Diskurse geregelt – verdrängt, unterdrückt, verstärkt – werden, sowie die Frage nach der Wirksamkeit der Diskurspositionen im Verhältnis zum Diskursstrang.186 – Eine Darstellung der Diskursverschränkungen bzw. behandelten Themen zeigt Machtpositionen auf und verweist auf extra-diskursive Einflüsse. Hier ist die Frage zu stellen, warum die Thematik gerade an diesem Ort und auf diese Weise behandelt wird.

Diese methodische Konzeption schlägt sich indirekt in der strukturellen Gliederung der Studie nieder. Den Textanalysen voraus steht in Kap. 1 ein Unterkapitel (4.), das die Problematik einer Bereitstellung des Kontexts für die historische Diskursanalyse der neutestamentlichen Schriften thematisiert. Die folgenden Textanalysen sind thematisch ausgerichtet und untersuchen die neutestamentlichen Aussagen zum Sprechen im Zorn (Kap. 2), 185

Vgl. dazu die Ausführungen unter 4. in diesem Kapitel. Fragmente eines solchen Diskursstrangs finden sich in den neutestamentlichen Texten, in dieser Hinsicht betreibt die Diskursanalyse Rekonstruktion. Dem Leser muss jedoch bewusst sein, dass jede Rekonstruktion aus heutiger Perspektive ein Produkt diskursanalytischer Wirklichkeitsgenese und damit Konstruktion ist. Dies kann nicht umgangen werden. 186

4. Die Bedeutung des Kontexts für die Diskursanalyse

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zur Kontrolle über das Sprechen (Kap. 3), zu inadäquatem Sprechen in unterschiedlichen Formen (Kap. 4),187 zum Schwören und der Wahrhaftigkeit (Kap. 5), zur Doppelzüngigkeit und der Bedeutung der personalen Integrität für das rechte Sprechen (Kap. 6) sowie die Thematik des Richtens und Ermahnens (Kap. 7). Jedem Kapitel steht eine Einführung in den diskursiven Kontext voraus, die den einzelnen Textanalysen als Einbettung in den dem Neuen Testament zeitgenössischen literarischen Kontext dient. Die Analysen der einzelnen Diskursfragmente werden jeweils in vier Schritten – Argumentationsstrukturen, Intertextualität und Diskursstrangüberschneidungen, ideologischer Rahmen und sprachethische Aspekte – durchgeführt. Diese Mikroanalysen lassen die Interpretation einzelner Textpassagen, d.h. der Diskursfragmente, zu und dienen der Rekonstruktion der Diskurspositionen, die anhand einer Synopse der Mikroanalysen und der Struktur- bzw. Makroanalyse im 8. Kapitel erfolgt: Auf der Basis dieser synchronen Darstellung der sprachethischen Positionen des Neuen Testaments anhand der einzelnen Diskurspositionen erfolgt die eigentliche Diskursanalyse, welche die Positionen zueinander und zum Diskurs des antiken literarischen Kontexts in Beziehung setzt.

4. Die Bedeutung des Kontexts für die Diskursanalyse 4.1 Die Kontextanalyse als Methodenschritt der Diskursanalyse Kontext, ein Terminus aus den Text- und Geschichtswissenschaften, von lat. contextere (dt. „zusammenweben“, „zusammenflechten“) bezeichnet grundlegend die Umgebung des betrachteten Gegenstands.188 Der Terminus ist v.a. in der Kommunikationsforschung,189 zudem im Rahmen der Literatur- und Sprachwissenschaften etabliert.190 Im Bereich der neutestamentlichen Forschung bezeichnet der Kontext meist die Gesamtheit der die Textentstehung begleitenden und umgebenden Umstände, insbesondere das aus den literarischen Quellen erhobene Umfeld eines neutestamentlichen Texts. Bei der Kategorie des Kontexts handelt es sich um eine synchron wie diachron ausgerichtete Kategorie, d.h. sie fragt nach der aktuellen kontextuellen Situation und deren Entwicklung, thematisiert dabei aber nicht (primär) deren Wirkung auf die neutestamentlichen Texte.

187

Dieses Kapitel analysiert unterschiedliche Aussagen zu inadäquater Sprache, zu blasphemischer Sprache und Streit, vgl. dazu die Tabelle S. 12f. der vorliegenden Studie. 188 Vgl. MIEGE, Art. Kontext, 1642f. 189 Vgl. dazu SCHLEHUBER, Art. Kontext, 359. 190 Vgl. zur Literaturwissenschaft MÜLLER, Art. Kontext, 379f.; zur Linguistik GLÜCK, Art. Kontext, 360; ASCHENBERG, Sprechsituation und Kontext, 435–444.

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Kapitel 1. Einleitung

Die Kontextanalyse ist – neben Themenfindung, Corpusbildung, Analyse der Aussagen, Analyse der Texte und eigentlicher Diskursanalyse – einer von sechs Untersuchungsschritten der diskursanalytischen Methodik. Im Gegensatz zu der in den Geschichtswissenschaften ansonsten üblichen Methodik der Erschließung der historischen Situation durch die Analyse historischen Materials strebt die historische Diskursanalyse danach, die Wechselwirkungen zwischen Text und (historischem) Kontext zu eruieren, fragt nach den (von den kontextuellen Bedingungen ausgehenden) Machtwirkungen auf den Text und erforscht den Diskurs aus seinem jeweiligen zeitgenössischen Kontext heraus. Die epistemologische Fragerichtung wird damit umgekehrt, indem diskursanalytische Untersuchungen nicht von einer Beobachtung des Kontexts ausgehen, die durch das Heranziehen von geeigneten Texten analysiert wird, sondern indem ausgehend vom Auftreten bestimmter Phänomene bzw. Themen in Texten nach deren Bedeutung für die Konstruktion der Wirklichkeit gefragt wird.191 Trotz dieser primären Konzentration auf den Text ist der Kontext im Rahmen der historischen Diskursanalyse nicht zu vernachlässigen, da eine Situierung der Texte in ihrem jeweiligen Kontext, v.a. im Hinblick auf gesellschaftliche, institutionelle und politische Machtwirkungen auf den Text, vonnöten ist. Die historische Diskursanalyse unterscheidet dabei zwischen verschiedenen Ebenen des Kontexts: dem situativen, dem medialen, dem institutionellen und dem historischen Kontext.192 Dabei ist konstitutiv, dass die Kontextanalyse sich auf die Entstehungsbedingungen des Texts hinsichtlich dessen Situierung im Rahmen der historischen kontextuellen Situation bezieht und diese deskriptiv darzulegen sucht, die Einflüsse des Kontexts und die Machtwirkungen der Kontextbedingungen in ihrem konkreten Bezug auf den Text jedoch nicht primär im Blick hat. Letzteren Aspekt nimmt erst die eigentliche Diskursanalyse auf, die eine synoptische evaluative Analyse der Einzelergebnisse der Kontextanalyse sowie der Analyse der Aussagen und Texte bietet.193 4.2 Die Kontextanalyse neutestamentlicher Schriften Analog zur Methodik der Geschichtswissenschaften wird in der neutestamentlichen Forschung häufig der Ansatz vertreten, die historische Situation, z.B. die Einleitungsfragen oder der historische Kontext einer Schrift, sei aus dem Text zu erhellen. Das historische, den Diskurs tragende Material in Form der neutestamentlichen Texte dient dazu, Rückschlüsse auf die 191 Vgl. LANDWEHR, Diskursanalyse, 105f. Vgl. auch SARASIN, Geschichtswissenschaft, 10–60. 192 Vgl. für die Geschichtswissenschaft LANDWEHR, Diskursanalyse, 106–110. 193 Vgl. die Darstellung der Vorgehensweise bei der Kontextanalyse in LANDWEHR, Diskursanalyse, 105–110.

4. Die Bedeutung des Kontexts für die Diskursanalyse

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historische Situation zu ziehen. Dass dieses Vorgehen grundsätzlich legitim und für die Auslegung der Texte von Bedeutung ist, sei hier unbestritten. Die Inanspruchnahme der Resultate eines auf diese Weise erschlossenen, selbstverständlich hypothetischen Kontexts für die historische Diskursanalyse ist m.E. jedoch nicht weiterführend. Daher sollen in der vorliegenden Studie lediglich diejenigen kontextuellen Aspekte Berücksichtigung finden, die durch Quellen außerhalb des neutestamentlichen Textcorpus ‚verifizierbar‘ sind, d.h. konkret diejenigen Faktoren, die die generelle Situation zum Ende des 1. Jh. n. Chr. im Osten des Imperium Romanum beleuchten. Im Folgenden sollen grundlegend die Möglichkeiten und Grenzen des Verfahrens der diskursanalytischen Kontextbestimmung im Rahmen einer neutestamentlichen Fragestellung am Beispiel des Matthäusevangeliums dargelegt werden.194 Es ist aufzuzeigen, welche Aspekte der für die Methodik der historischen Diskursanalyse geforderten Kontextanalyse gegebenenfalls auf die Analyse neutestamentlicher Schriften appliziert werden können, welche Faktoren hingegen in Anbetracht der mangelhaften Quellenlage vernachlässigt werden müssen und wo grundlegende Positionierungen, z.B. hinsichtlich der Einordnung der Schriften in den größeren zeitlichen und lokalen Kontext, nicht sinnvoll zu umgehen sind. Der situative Kontext fragt nach der Datierung, der Lokalisierung, den Adressaten und dem Verfasser sowie nach dem sozialen und gesellschaftlichen Hintergrund der beteiligten Personen. Für das Matthäusevangelium ist keine dieser Kategorien unumstritten. Obgleich sie dadurch schwerlich als kontextuelle Voraussetzung für eine neutestamentliche Diskursanalyse dienen können, ist eine Stellungnahme notwendig, um die Texte in ihrem Kontext situieren zu können. Die Zuschreibung des Evangeliums an den Verfasser Matthäus beruft sich einerseits auf textexterne Faktoren – die Papiastradition (Euseb, h.e. 3,39), die durch EbEv fr 4 und die Überschrift kata. Maqqai/on aus dem 2. Jh. bestätigt werden;195 andererseits zieht man die mehrfache redaktionelle bzw. sekundäre namentliche Erwähnung des Matthäus im matthäischen Evangelientext (9,9; 10,2–4) in Betracht.196 Sowohl der textinterne Aspekt der Identifizierung des Evangelisten mit dem Jünger Jesu197 als auch das der frühchristlichen 194 Obgleich das Matthäusevangelium im Folgenden als Beispiel dient, gelten die grundsätzlichen Divergenzen in der Beurteilung der sogenannten ‚Einleitungsfragen‘ und die hypothetische Natur jedweder Vorannahmen in diesem Feld analog für alle weiteren in diese Studie einbezogenen Schriften. 195 Vgl. HENGEL, Die Evangelienüberschriften, bes. 14–22; DERS., Studies in the Gospel of Mark, 81f.; DERS., Literary, Theological, and Historical Problems, 232–238. 196 Vgl. dazu SCHNELLE, Einleitung, 262. Die altkirchlichen Traditionen in Verbindung mit den textinternen Indizien werden noch immer als wichtige Belege angeführt, so z.B. JAROŠ, Das Neue Testament, 59–72, mit ausführlicher Argumentation. 197 Vgl. z.B. LUZ, Matthäus I, 104f.

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Kapitel 1. Einleitung

Tradition entnommene Argument 198 werden in der Forschung als nicht notwendig tragend erachtet. Zum Verfasser kann zunächst lediglich festgehalten werden, dass er sich wahrscheinlich als Lehrer seiner Gemeinde verstand (Mt 13,52; 23,34),199 der dem Judentum nahe stand.200 Zur geographischen Lokalisierung der matthäischen Tradition wurde auf Alexandria,201 Edessa,202 Caesarea Maritima, 203 Palästina204 und andere Orte205 verwiesen, die aufgrund der unsicheren Beweislage jedoch zu vernachlässigen sind. Die Mehrheit der Forschung nimmt als wahrscheinlichstes Entstehungsgebiet den syrischen Raum an, eventuell sogar Antiochia.206 Diese These basiert auf textinternen Hinweisen wie der Einflechtung der syrischen Bezeichnung für Christen (Nazwrai/oj, 2,23), der Hervorhebung Syriens in 4,24f., eventuell auf Syrien verweisende Traditionen (17,24–27; sowie die Petrustradition Mt 16,17–19) wie auch der Befürwortung der Heidenmission, deren frühes Zentrum wohl in Syrien, speziell in Antiochia lag (vgl. Apg 11,19–26). Diese Verortung könnte auch den starken Einfluss der Logienquelle auf das Matthäusevangelium begründen.207 Weiterhin wird die frühe Rezeption der Schrift v.a. in der Didache sowie in den Ignatiusbriefen als Beleg herangezogen.208 Die Meinungen bezüglich der Entstehung in urba198

Vgl. z.B. KEENER, Matthew, 38–41, mit ausführlicher Argumentation. Diese These geht zurück auf STENDAHL, The School of St. Matthew. Stendahl spricht von der schriftgelehrten Arbeit einer Gruppe. Negativ dazu SCHMELLER , Schulen, 1–6, bes. 6; vgl. weiterhin LUZ, Matthäus I, 104f.; HENGEL, Zur matthäischen Bergpredigt, 342f., Anm. 28; GNILKA, Matthäusevangelium II, 532. 200 Der überwiegende Konsens in der aktuellen Forschung rechnet mit einem anonymen Verfasser mit judenchristlichem Hintergrund, vgl. dazu auch die aktuellen Lehrbücher P OKORNÝ/HECKEL, Einleitung, 477f.; SCHNELLE, Einleitung, 264; EBNER, Matthäusevangelium, 140f.; vgl. weiterhin den Forschungsüberblick bei HAGNER, Matthew, 264. Für einen heidenchristlichen Verfasser plädiert in der Folge der Forschungsmeinung von STRECKER, Weg der Gerechtigkeit, 76, und anderen z.B. noch immer MEIER, Art. Matthew, 622–641. Für einen heidenchristlichen Kontext bzw. für das Matthäusevangelium als ein heidenchristliches Evangelium votiert auch SCHMIDT, Gesetzesfreie Heilsverkündigung, 30f. Zum judenchristlichen Hintergrund vgl. VERHEYDEN, Jewish Christianity, 123–135 (Lit!). Eine ausführliche Übersicht über die Positionen geben DAVIES/A LLISON, Matthew I, 7–58, und jetzt auch SIM , Current State of Research, 33–48. 201 Vgl. z.B. BRANDON, Jesus and the Zealots, 290f.; VAN T ILBORG, Jewish Leaders in Matthew, 172. 202 Vgl. z.B. B ACON, Studies, 18–23; OSBORNE, Provenance, 220–235. 203 Vgl. z.B. VIVIANO, Where was the Gospel according to St Matthew Written?, 533– 546; DERS., Matthew and His World, 9–23; TOMSON, Transformations of Post-70 Judaism, 118. 204 Vgl. z.B. OVERMAN, Church and Community in Crisis, 16–19. 159 (bes. Sepphoris oder Tiberias; Overman neigt zu ersterer Lokalisierung). 205 Vgl. die Zusammenstellung bei LUZ, Matthäus I, 102. 206 Diese These geht zurück auf STREETER, The Four Gospels, 150. Ein Schwachpunkt, der dieser These vorgehalten wird, ist die lokale Entfernung Antiochias von Galiläa, wo sich ein Konflikt der matthäischen judenchristlichen Gruppe mit dem ‚formative Judaism‘ besser situieren ließe, vgl. SIM, Social and Religious Milieu, 21. 207 Vgl. LUZ, Matthäus I, 78–82. 208 Vgl. die Ausführungen bei CARTER, Matthew and Empire, 36f.; vgl. zur Rezeption vor Ignatius KÖHLER, Rezeption; zur Didache vgl. a.a.O., 19–56. 199

4. Die Bedeutung des Kontexts für die Diskursanalyse

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nem oder ländlichem Gebiet sind geteilt – die Annahme der Entstehung im syrophönizischen ruralen Raum würde einer gewissen Nähe zu Galiläa oder der Dekapolis Rechnung tragen.209 Überwiegend wird jedoch auf allgemein historisch-soziologische Annahmen rekurriert: Die besten Voraussetzungen für eine schnelle und weitflächige Verbreitung einer derartigen Publikation sind in einem urbanen Kontext gegeben.210 Obgleich die Lokalisierung folglich höchst unsicher ist, werden verschiedentlich – auf einer hypothetischen Verortung basierend – sogar Versuche unternommen, die Geschichte und den sozialen Kontext z.B. der antiochenischen Gemeinde zu rekonstruieren.211 Im Hinblick auf die vorliegende Untersuchung kann jedoch lediglich festgehalten werden, dass in der Forschung die Entstehung des Matthäusevangeliums im östlichen Imperium Romanum mehrheitlich postuliert wird. Für die Datierung des Evangeliums lassen sich zwei grundlegende Ansätze unterscheiden: Während einige Forscher die Entstehung vor dem Jahr 70 n. Chr. annehmen, 212 interpretiert die Mehrheit der Forscher die textinternen (z.B. Mt 22,7) und auf literarischer Abhängigkeit (vom Markusevangelium) basierenden Argumente dahingehend, dass der Text nach 70 n. Chr. entweder in den späten 70er213 oder den 80er Jahren214 entstanden ist. Die Hauptargumente hierfür sind die Thematik des Pharisäismus, die für die syropalästinischen Gemeinden besonders in der Zeit nach 70 n. Chr. einen dominanten Gegenpol bildeten, die große Nähe der matthäischen Weltsicht zu der des rabbinischen Judentums, die Aufnahme der Thematik des Jüdischen Krieges in Mt 22,1–10 und die literarische Abhängigkeit vom Markusevangelium, die einen terminus post quem bietet. Die Wirkungsgeschichte zeigt eine Rezeption matthäischer Traditionen in den Ignatiusbriefen, die meist in die ersten Jahrzehnte des 2. Jh. datiert werden, wodurch ein terminus ante quem gesetzt ist.215 Eine Datierung in die 90er Jahre216 wird als eher unwahrscheinlich betrachtet, da das Evangelium bereits im frühen 2. Jh. einen hohen Bekanntheitsgrad hatte.217 Die mehrheitliche Forschungsmeinung scheint den 80er Jahren des

209 Vgl. WHITE, Crisis Management, 211–247; RUNESSON, Building Matthean Communities, 381f., und den Überblick der Positionen und Argumente ebd. 210 Vgl. hier u.a. GOPPELT, Existence of the Church, 198; HENGEL, Acts and the History of Earliest Christianity, 98; DAVIES/ALLISON, Matthew I, 138–147; SCHWEIZER, Matthew’s Church, 149f. 211 Vgl. MEIER, Antioch, 22–26; SIM, Gospel of Matthew; vgl. auch SLEE, Church in Antioch; WEREN, History and Social Setting, 51–62; ZETTERHOLM, Didache, 73–90. 212 Vgl. z.B. GUNDRY, Matthew, 599–609; HAGNER, Matthew, lxxiv u.a. 213 Vgl. z.B. KEENER, Matthew, 42–44. 214 Vgl. z.B. DAVIES/ALLISON, Matthew I, 127–138; GNILKA, Matthäus II, 520; LUZ, Matthäus I, 104 u.a. 215 In der neueren Forschung wird z.T. die Pseudonymität und damit eine Spätdatierung der Ignatiusbriefe vertreten – vgl. z.B. H ÜBNER, Thesen zur Echtheit, 44–72; LECHNER , Ignatius Adversus Valentinianos? –, die in der Folge eine Spätdatierung des Matthäusevangeliums z.B. in das frühe 2. Jh. erlaubt; in dieser Zeit scheint ein Konflikt mit dem „formative Judaism“ wahrscheinlicher als im 1. Jh. Eine Datierung des Matthäusevangeliums in die 20er oder 30er Jahre des 2. Jh. schlägt z.B. SIM (Social and Religious Milieu, 19) vor. 216 Vgl. z.B. W HITE, Crisis Management, 241 (um die Zeit des Todes von Agrippa II.); vgl. auch BROER, Einleitung, 118–121 (80–100 n. Chr.). 217 Vgl. hierzu STANTON, Gospel for a New People, 256–277.

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Kapitel 1. Einleitung

1. Jh. n. Chr. als Entstehungszeit die größte Wahrscheinlichkeit zuzubilligen.218 Im Hinblick auf die historische Diskursanalyse des für diese Studie erstellten Corpus neutestamentlicher Texte ist festzuhalten, dass – in Übereinstimmung mit der Mehrheit der Forschungspositionen – eine Datierung des Matthäusevangeliums in das letzte Viertel des 1. Jh. n. Chr. als wahrscheinlich anzusehen ist. Eine exakte Datierung der Schriften scheint für die diskursanalytische Fragestellung von geringerer Bedeutung zu sein, da die diskursanalytische Kontextanalyse auf die weitgreifenden zeitgeschichtlichen Faktoren abhebt, also insbesondere eine Datierung vor oder nach 70 n. Chr. bedeutenden Einfluss auf die Textinterpretation hat.219 Die Frage nach den Adressaten des Evangeliums wurde in der Forschung lange Zeit mit der Frage nach dem Entstehungskontext des Evangeliums gleichgesetzt, da angenommen wurde, dass der Evangelist für seine Gemeinde schreibe.220 Durch dem Text entnommene Hinweise wurde daraufhin versucht, deren sozialen Kontext zu eruieren. In diesem Referenzrahmen dienten z.B. der Verweis auf Städte (9,1; 10,5. 11. 15. 23; 11,1), die Erwähnung von Währungen, Gold, Silber und Talenten sowie die positive Charakterisierung reicher Personen (die drei Weisen, Joseph von Arimathaea) dazu, die matthäische Gemeinde als wohlhabend zu charakterisieren. Andererseits ließen sich ebenso Indikatoren aufzeigen, die auf eine ökonomische Krise schließen ließen.221 Dagegen setzte Richard Bauckham222 die These, dass sich die kanonischen Evangelien nicht an einzelne Lokalgemeinden richteten, sondern dass in ihnen mündliche Gemeindetraditionen verschriftlicht seien, die Evangelienschriften sich jedoch an die gesamte Gesellschaft des antiken Mittelmeerraums wandten.223 Dabei argumentiert Bauckham gegen die als Konsens postulierte Annahme, dass die Adressatengemeinde mit der Gemeinde der Entstehungssituation identisch sei, d.h. dass der Verfasser des Matthäusevangeliums im Kontext seiner Gruppe für dieselbe schrieb.224 Seine zentrale These 218

Als Gründe wären anzuführen: die Referenzen auf die Zerstörung Jerusalems in Mt 22; die bereits entwickelte Distanz zum orthodoxen Judentum; die wiederholte Auseinandersetzung mit den Pharisäern. 219 Vgl. dazu BECKER, Dating Mark and Matthew, 123–143, die die Problematik einer Datierung der Evangelien betont und gleichzeitig die Bedeutung der Datierung für die Exegese hervorhebt. Vgl. zudem HAGNER, Determining the Date of Matthew. 220 So die in der Forschung vorwiegend vertretene Hypothese, vgl. dazu z.B. EBNER, Matthäusevangelium, 141–145; SCHNELLE, Einleitung, 265–267. Vgl. dazu auch VINE, Audience of Matthew. 221 Mit Verweis auf Mt 19, die Heilungen an Bedürftigen, Voraussagen auf Verfolgungen und die Betonung des Vertrauens auf Gott sowie das spirituelle Verständnis vieler Textpassagen (z.B. Seligpreisungen), vgl. dazu CROSBY, House of Disciples, 39–43. 222 Vgl. B AUCKHAM, For Whom, 9–48. Fast gleichzeitig und unabhängig HENGEL, Four Gospels and the One Gospel, 106–115. In Kritik dazu siehe: SIM, Gospels for All Christians, 3–27; M ITCHELL, Patristic Counter-Evidence, 36–79. Weiterhin ESLER, Community and Gospel, 235–248; SPROSTON NORTH, John for Readers of Mark?, 449– 468. Vgl. auch die Diskussion in KLINK, Audience of the Gospels. 223 Vgl. BURRIDGE, About People; ALEXANDER , Ancient Book Production, 90. 224 Vgl. BAUCKHAM, For Whom, 15. Jedoch ist m.E. die Bestreitung dieses Konsenses letztlich auch von Bauckham zu weit geführt, wenn er die diversen Einflüsse auf den sich im frühchristlichen Netzwerk zwischen mehreren Gemeinden bewegenden Evangelisten als so vielfältig bewertet, dass „the way in which a creative writer is influenced by and responds to his or her context is simply not calculable. The chances of being able to de-

4. Die Bedeutung des Kontexts für die Diskursanalyse

53

besagt, dass die Evangelien keine spezifische Adressatenschaft im Blick hatten, sondern für „the members of any and every Christian community of the late first century to which that Gospel might circulate“225 bestimmt waren. In Analogie zu den Schriften verwandter Gattungen (z.B. bi,oj) muss von einer Literatur ausgegangen werden, die die gesamte griechischsprachige Gesellschaft des antiken Mittelmeerraums adressierte. Aus den Evangelientexten ist daher lediglich eine „target audience or market niche“226 zu erschließen. Die für die vorliegende Untersuchung zentrale These Bauckhams lautet: „The Gospels have a historical context, but that context is not the evangelist’s community. It is the early Christian movement in the late first century“.227 Dieser (umstrittene) Paradigmenwechsel hat Auswirkungen auf die hermeneutische Frage nach der Adressatenschaft, die aus dem Evangelium den Empfängerkontext zu rekonstruieren sucht. Es stellt sich nunmehr nicht die Frage nach einer bestimmten Adressatengemeinde, sondern nach einer ‚target audience‘, die zu bestimmten Themen informiert werden wollte und innerhalb bestimmter Diskurse aktiv war. Die Evangelien sprechen Themen an, die nicht in jeder Gemeinde relevant, die aber weitverbreitet genug waren, um das Interesse zahlreicher Gemeinden zu wecken, und die damit zur Rezeption des Evangeliums führten. Die Verfasser schrieben mit einer umfassenderen Perspektive, als bislang von der Mehrheit der Exegeten wahrgenommen wird. Während daher die Adressatenschaft eine offene Kategorie ist, d.h. sie ist „indefinite rather than specific“,228 richtet sich der Fokus nun wiederum auf den Verfasser. Denn die Diversität der Evangelien trägt nicht dem Umstand Rechnung, dass sie an verschiedene Adressaten gerichtet waren, sondern zeigt vielmehr, dass jeder Verfasser „wished to propagate his own distinctive theological rendering of the Gospel story among whatever readers it might

duce from an author’s work what the influences on the author were, if we have only the work to inform us, are minimal. Hence the enterprise of reconstructing an evangelist’s community is […] doomed to failure. But, much more importantly, it is in any case of no hermeneutical value, since the Gospels were not addressed to or intended to be solely understood by such a community. […] This, not what we may or may not be able to guess about the evangelist’s community, is the hermeneutically relevant fact. Thus any reader who finds the argument of this chapter convincing should cease using the terms Matthean community, Markan community […]“, a.a.O., 45. 225 BAUCKHAM, For Whom, 45, nennt dies „an indefinite readership“ (a.a.O., 45). 226 BURRIDGE, About People, 141; vgl. auch B AUCKHAM , For Whom, 24: „An evangelist might well address features of Christian life and social circumstances he knew to be fairly widespread in his time, without supposing his Gospel would therefore have no appeal or use in churches lacking some of these features. […] [T]he four canonical Gospels survived precisely because within a fairly short space of time they did prove relevant enough to most churches to come to be used very widely“; vgl. auch STANTON, Gospel for a New People, 98. 227 BAUCHKAM , For Whom, 46 (Kursivierung S.L.); die vorliegende Studie wird im Folgenden trotzdem die Bezeichnungen matthäische Gemeinde bzw. Gruppe beibehalten, und zwar in dem Sinne, dass der Evangelist der Exponent einer bestimmten Gruppierung im frühen Christentum war, der jedoch vielleicht nicht nur in seiner Ursprungsgemeinde, sondern in verschiedenen Gemeinden seine Theologie vertreten hat und literarisch vertreten wollte. Für eine diskursanalytische Arbeit von Bedeutung ist nicht die Adressatenschaft, sondern die Diskursposition des Verfassers, des Exponenten einer Gemeindetradition. 228 BAUCKHAM, For Whom, 46.

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Kapitel 1. Einleitung

reach“. 229 Obgleich die Texte wahrscheinlich zunächst in der eigenen Gemeindetradition rezipiert wurden,230 kristallisiert sich doch der Verfasser als der Exponent seiner Gemeindetradition heraus.231 Eine Untersuchung des Kontexts kann daher nicht auf die Adressaten rückschließen, jedoch in gewissem Maße auf den bzw. die Verfasser als Exponenten einer Gemeinde, dessen (bzw. deren) Position dem Text zu entnehmen ist. Obgleich eine Lokalisierung der matthäischen Gemeindetraditionen sowie die Eruierung der sozialen Situation eines spezifischen Adressatenkreises nicht möglich oder sinnvoll ist, kann doch über die Frage nach dem Verfasser auch nach dem generellen sozialen und religiösen Kontext gefragt werden, d.h. nach den kontextbezogenen Entstehungsbedingungen des Matthäusevangeliums, die sich in der matthäischen Darstellung niedergeschlagen haben.232

Der mediale Kontext erörtert den Einfluss der medialen Vermittlung des thematischen Diskurses. „Medien sind nicht nur formale und informierende Vermittlungsträger, sondern konstruierende und aktionale Gegenstandsbereiche. Sie beeinflussen oder erzeugen Arten der Raum-, Zeit- und Gegenstandswahrnehmung“.233 Daher sind Gattung, Ausrichtung und Rezeptionsform der neutestamentlichen Texte für die Interpretation ihrer Aussage und Wirkung von großer Bedeutung.

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BAUCKHAM, For Whom, 47. Vgl. dazu z.B. den Ansatz von RUNESSON, Building Matthean Communities. 231 Vgl. LUZ, Matthäus I, 82–84. So mit M ITCHELL, Patristic Counter-Evidence, 78: „[W]e do well to move beyond these questionable and extreme dichotomies […] and recognize that the hermeneutical implications of these narratives – even if they arose on local soil and hence were in some measure […] coloured by the experiences and needs of the Christian congregation most intimately known to the authors – were such that these texts by their very nature were open to a wider readership, whether or not that was their authors’ intentions“. Zur Rezeption des Matthäusevangeliums vgl. STANTON, Early Reception, 42–61; SIM, Gospels for all Christians, 14; KÖHLER, Rezeption. 232 Die Ansicht Sims, dass „[t]he challenge to the consensus view of ‚the Matthean community by Richard Bauckham and others has the potential to bring to an abrupt halt all inquiry into the Gospel’s social and religious context“ (DERS., Social and Religious Milieu, 13), übersieht m.E. die Präzisierung der Frage nach dem Entstehungsmilieu des Matthäusevangeliums einerseits und nach dem Milieu der Adressaten andererseits. Ersteres kann auch in Aufnahme der These Bauckhams legitim im Text eruiert werden. Vgl. dazu jetzt auch RUNESSON, Building Matthean Communities, 379–408, der für eine spezifische Gemeindeanbindung plädiert; vgl. zu dieser Diskussion auch W ISCHMEYER, Forming Identity, 355–378, die ergebnisoffen (in Bezug auf das Markusevangelium) formuliert: „From the point of view of literary communication the Gospel of Mark is addressed to a general and non-specific audience. The author chooses to forgo any form of direct communication, thereby leaving himself and the audience hidden. This literary strategy requires a broader audience of Christ-believing communities and individual persons [...]“ (a.a.O., 376). Dies gilt m.E. analog für das Matthäusevangelium. 233 LANDWEHR, Diskursanalyse, 107. 230

4. Die Bedeutung des Kontexts für die Diskursanalyse

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„Über die Gattung des Mt gibt es keinen Konsens“.234 Das Matthäusevangelium ist weder eindeutig in die Gattungsschemata der römisch-hellenistischen antiken Literatur einzuordnen noch ist zu seiner Entstehungszeit eine frühchristliche Gattung des euva gge,lion soweit etabliert, dass sie ein formales Strukturschema auferlegen könnte, welchem das Matthäusevangelium zuzuordnen wäre.235 Grundsätzlich ist jedoch eine enge Beziehung der Evangelienform zum antiken hellenistischen bi,oj zu verzeichnen, da es sich um die expositionelle und paränetische Präsentation eines beispielhaften Lebens handelt.236 Daher liegt eine gattungsgeschichtliche Verortung des Evangeliums im Kontext der antiken Gattung der Biographie nahe.237 Jedoch wird Jesus nicht als moralisch vorbildlicher, sondern als einmaliger Mensch dargestellt; zudem sind dem antiken bi,oj Referenzen auf die Schrift, Genealogien und große Redekompositionen fremd, die gerade das Matthäusevangelium charakterisieren und in der alttestamentlich-jüdischen Literatur Parallelen finden. Der Aspekt dieser Kombination von explizit jüdischen Sprach- und Gattungsformen238 und hellenistisch-römischer Rhetorik und Gattungseinflüssen239 zeichnet das Matthäusevangelium als eigene Gattung aus, die sich vorwiegend auf das Markusevangelium bezieht.240 Die dort zuerst vorliegende literarische Gattung euva gge,lion (Mk 1,1) ist trotz aufweisbarer literarischer und gattungsspezifischer Analogien als Gattung sui generis mit distinktiver Form und Intention zu bewerten.241 Dennoch ergaben sich Form und Funktion dieser frühchristlichen Literaturform aus den Formen und Gattungen der anti-

234 LUZ, Art. Matthäusevangelium, 917. Zur Struktur des Matthäusevangeliums vgl. auch B ORING, Convergence, 587–611. 235 Zum Evangelienbegriff und der Funktion der Gattung Evangelium vgl. AUNE, New Testament, 17–76; DERS., Genre Theory, 145–175; FRICKENSCHMIDT, Evangelium als Biographie; DORMEYER , Evangelium als literarische und theologische Gattung; SCHNELLE , Einleitung, 173–185; EBNER , „Evangelium“, 112–124. Zur Problematik der Zuordnung der neutestamentlichen Schriften zu antiken Literaturgattungen vgl. C LASSEN, Antike Rhetorik, bes. 31–33. 236 Vgl. z.B. STANTON, BIBLOS, 89–103. 237 Zur Forschungsdiskussion hierzu vgl. DORMEYER, Markusevangelium als Idealbiographie; DERS., Evangelium als literarische und theologische Gattung; DERS., Markusevangelium; DERS., Das Neue Testament im Rahmen der antiken Literaturgeschichte; FRANKEMÖLLE, Evangelium; FRICKENSCHMIDT, Evangelium als Biographie; aus dem Bereich der Altphilologie vgl. DIHLE, Die Evangelien und die griechische Biographie, 383–411, der eine Parallelität erkennt, jedoch die Unterschiede explizit herausstellt; vgl. weiterhin B ECKER, Markus-Evangelium; B URRIDGE, What are the Gospels?; KÖSTER, Ancient Christian Gospels; DERS., Art. Evangelium, 1735–1741; MOMIGLIANO, Development of Greek Biography; SHULER, A Genre for the Gospels; T HEISSEN, Entstehung des Neuen Testaments; WÖRDEMANN, Der bios nach Plutarch; sowie AUNE, Genre Theory and the Genre-Function, bes. 170–173. 238 Vgl. LUZ, Matthäus I, 52f. 239 Vgl. KEENER, Matthew, besonders das Einleitungskapitel „Matthew and GrecoRoman Rhetoric“ (xxv–l) zeigt dies in aller Deutlichkeit auf. Vgl. aber auch schon VAN DER HORST, Jews and Christians. 240 Vgl. dazu KOESTER, Art. Evangelium, 1739f. 241 So B ECKER, Markus-Evangelium, 410–412; vgl. daneben auch E BNER, „Evangelium“, 121: Aus den Selbstbezeichnungen der Evangelien geht nicht hervor, dass die Evangelisten ihre Werke einer eigenen Gattung zuschrieben – der Verfasser des Matthäusevangeliums z.B. nennt sein Werk bi,bloj.

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Kapitel 1. Einleitung

ken Literatur, die den Bedürfnissen der Zeit angepasst waren.242 Keener betont die „essential historical intention“ des Verfassers des Matthäusevangeliums, der – m.E. zutreffend – als „historian-biographer and interpreter“ des Markus charakterisiert wird.243

Der historische Kontext schließlich beleuchtet die „politische, gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Gesamtsituation“244 des Entstehungskontexts. Soweit diese Gesamtsituation auf außerneutestamentlichen Quellen basiert oder durch diese gestützt werden kann, ist sie für die Diskursanalyse von Nutzen und kann der Erklärung kontextueller Einflüsse auf die zu analysierenden Texte dienen.245 Die oben angezeigte Datierung stellt das Matthäusevangelium in das letzte Viertel des 1. Jh. und damit in einen politischen Kontext, der gekennzeichnet ist durch die Folgen und Konsolidierungsbestrebungen nach dem Sieg der römischen Armee im 1. Jüdischen Krieg und der Zerstörung Jerusalems.246 Nach dem Jüdischen Krieg wurde die bis dahin als prokuratorischer Verwaltungsbezirk unter dem syrischen Legaten stehende unabhängige Provinz Judäa von Syrien abgetrennt, in den Status der Abhängigkeit von Rom ge-

242 Vgl. AUNE, New Testament, 17–76. Aune schreibt: „An analysis of the constituent literary features of the Gospels situates them comfortably within the parameters of ancient biographical conventions in form and function. They constitute a subtype of GrecoRoman biography primarily determined by content, reflecting Judeo-Christian assumptions. The Gospels […] have connections with both Jewish and Greco-Roman literary traditions […]. Adaptation, not wholesale borrowing, was the rule“ (a.a.O., 46). 243 Vgl. KEENER, Matthew, 23f.; Zitate a.a.O., 24. 23. Vgl. auch D ORMEYER, Evangelium als literarische und theologische Gattung, bes. 161–190, und DERS./FRANKEMÖLLE, Evangelium als literarische Gattung, 1543–1705. Die Kombination von biographischen und historiographischen Erzählelementen in den Evangelien, besonders im Hinblick auf das Markusevangelium, betont auch B ECKER, Markus-Evangelium, bes. 20. Koesters Ansicht, das Matthäusevangelium sei „durch das Zurücktreten der Passionsgeschichte […] zu einer Gemeinde- und Kirchenordnung“ geworden (so DERS., Art. Evangelium, 1740), ist m.E. zu eng gefasst, obwohl moralisch-pädagogische, paränetische und lehrende Elemente im Matthäusevangelium gerade auch im Hinblick auf die Sprache nicht zu vernachlässigen sind. Luz hingegen betrachtet die Schrift als am Markusevangelium orientierte rewritten Bible in Analogie zu den für die Zeit interpretierten Geschichtsbüchern des Alten Testaments in den Chronikbüchern, vgl. LUZ, Art. Matthäusevangelium, 917. Diese literarische Applikation der Jesusgeschichte auf die matthäische Gemeinde wurde als ‚inclusive story‘ gedeutet, d.h. die Erfahrungen der matthäischen Gemeinde in Analogie zum Konflikt Jesu mit seinen Gegnern, insbesondere den jüdischen Autoritäten, fanden im Evangelientext ihren Niederschlag. Vgl. HOWELL, Matthew’s Inclusive Story. 244 LANDWEHR, Diskursanalyse, 108. 245 Einflüsse beobachten z.B. FELDMAN, Jew and Gentile in the Ancient World, 18– 31; CARTER, Roman Empire; DERS., Roman Imperial Context; DERS., Imperial-Critical Reading, 296–324; CASSIDY, Christians and Roman Rule, bes. 5–36; OAKES, Rome in the Bible and the Early Church. 246 Vgl. dazu KOLLMANN, Neutestamentliche Zeitgeschichte, 112–126; T OMSON, Transformations of Post-70 Judaism, 91–121.

4. Die Bedeutung des Kontexts für die Diskursanalyse

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stellt und von einem legatus Augusti pro praetore senatorischen Rangs verwaltet.247 Dieser residierte in Caesarea Maritima und war zugleich Oberbefehlshaber der ständig bei Jerusalem stationierten legio X Fretensis.248 Die Provinz dehnte sich vom Karmel bis Raphia aus, umfasste Idumäa, Judäa, Samaria, Gebietsanteile Galiläas, Peräas, einige zur Dekapolis gehörende Städte sowie später auch das Gebiet Agrippas II.249 Die ökonomische Situation der Juden nach dem Jüdischen Krieg war verheerend, da große Teile des Landes verwüstet und bevölkerungsarm waren250 und die Bauern zu abhängigen Pächtern des römischen Staates geworden waren.251 Zudem wurde für die Juden im gesamten römischen Reich der fiscus Judaicus eingeführt, der die vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels übliche Tempelsteuer ersetzte und von Juden beiderlei Geschlechts sowie in der Altersspanne von drei bis zweiundsechzig Jahren entrichtet werden musste.252 Auch die einstige wirtschaftliche Bedeutung des Jerusalemer Tempels ist nicht zu unterschätzen, d.h. mit seiner Zerstörung gingen auch große ökonomische Einbußen einher.253 Der gesellschaftliche bzw. religiöse Kontext der neutestamentlichen Schriften nimmt die Situation der Juden nach der Zerstörung des Tempels um 70 n. Chr. in den Blick. Während des Krieges war die jüdische Bevölkerung Palästinas wahrscheinlich etwa um ein Drittel dezimiert worden, viele Ortschaften waren zerstört.254 Die Zerstörung des Tempels, dessen Kult das Zentrum des jüdischen Lebens gewesen war, bedeutete auf religiöser Ebene einen Bruch und eine völlige Neuausrichtung auf eine Gottesverehrung ohne Tempel sowie auf gesellschaftlicher Ebene die verstärkte Zerstreuung in die Diaspora.255 Wenn auch die matthäische Gemeinde nicht als Adressat des Evangeliums in den Blick kommen soll, so ist sie doch in Hinsicht auf den Kontext des Verfassers – als

247 Vgl. DONNER, Geschichte 2, 498. Vgl. auch SCHNEIDER , Palästina unter römischer Herrschaft, 184–188. 248 Vgl. SCHÜRER/VERMES, History II, 514–521. Zudem M AIER, Zwischen den Testamenten, 187f. 249 Vgl. DONNER, Geschichte 2, 498f.; vgl. weiterhin die Sektion „Historische Kontexte“ in: Neues Testament und Antike Kultur, bes. 143–198; zudem B ERNETT, Kaiserkult in Judäa; MILLAR, Roman Near East; DERS., Greek World; OPPENHEIMER, Between Rome and Babylon; E CK, Rom und Judaea; W ILKER , Rom und Jerusalem; direkt auf den neutestamentlichen Kontext bezogen vgl. P ILHOFER, Das Neue Testament; CARTER, Matthew and Empire; RICHES/SIM, Gospel of Matthew. 250 STEMBERGER, Judentum, 15, geht davon aus, dass die jüdische Bevölkerung durch den Krieg um ein Drittel dezimiert wurde. 251 Vgl. Josephus, BJ 7,216f.; vgl. SCHÜRER/VERMES, History II, 512. 252 Vgl. Josephus, BJ 7,218; weiterhin: KOLLMANN, Neutestamentliche Zeitgeschichte, 118f.; vgl. dazu auch die neueste Publikation zum Thema: HEEMSTRA, Fiscus Judaicus, der den fiscus in engsten Zusammenhang mit dem ‚parting of the ways‘ stellt. 253 Vgl. ALKIER, Wirtschaftsleben, 185: „Der Tempel war bis zu seiner Zerstörung zugleich Bethaus, Kultstätte, Schatzkammer, Großgrundbesitzer und ‚Börse‘ und als solcher der größte Arbeitgeber in Judäa“. Vgl. dazu auch: ÅDNA, Jerusalemer Tempel; weiterhin: HANSON/OAKMAN, Palestine in the Time of Jesus; SAFRAI, Economy. 254 Vgl. dazu SCHÄFER, Geschichte der Juden, 157–159. 255 Vgl. dazu B ARCLAY, Jews in the Mediterranean Diaspora; SCHIMANOWSKI, Jüdische Diaspora, 198–214; zudem B ARCLAY, Diaspora in Antiochia, 204–206. Zu Aspekten der Gesellschaftsordnung im römischen Reich vgl. ALFÖLDY, Sozialgeschichte, bes. 85– 132.

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Exponent seiner Gemeinde verstanden – von Bedeutung. Nimmt man an, dass die matthäische als judenchristliche Gruppe im Zusammenhang mit dem Krieg zwischen 66–70 n. Chr. aus Palästina nach Syrien fliehen musste, so mögen sich Erinnerungen an Ablehnungen und Verfolgungen durch die jüdischen Gegner, v.a. die Pharisäer, in der matthäischen Tradition widerspiegeln (z.B. 5,11f.; 10,16–23; 23,34–36).256 Dem gesellschaftlichen und kulturellen, v.a. religiösen Entstehungskontext des Evangeliums wurde in der Forschung der letzten Jahrzehnte vielfach Beachtung geschenkt.257 Die Diskussion betrifft dabei vorwiegend die Frage nach einem juden- oder heidenchristlichen Hintergrund des Matthäusevangeliums.258 Die Vorschläge reichen von einer Ansiedlung des Evangeliums im Bereich des Judenchristentums, das noch mit der jüdischen Gemeinde im Dialog ist, bis zu einer bereits vom Judentum abgetrennten frühchristlichen Gemeinde mit dezidiertem Identitätsanspruch. Diese Fragestellung259 wurde zunächst in den Studien von G. Bornkamm, 260 G. Barth261 und H. J. Held262 behandelt, die die traditionelle Auffassung vertreten, das Matthäusevangelium sei im judenchristlichen Umfeld des syrisch-phönizischen Bereichs zu lokalisieren. Diesen Ansatz fortführend und gegen W. D. Davies argumentierend, der herausstellte, dass die matthäische Bergpredigt einen Versuch einer Antwort auf Jamnia von Seiten des frühen Christentums darstellte,263 vertrat R. Hummel die Verwurzelung des Matthäusevangeliums im synagogalen Judentum. 264 Dagegen stand die Annahme von z.B. W. Trilling265 und G. Strecker,266 der Hintergrund des Evangeliums sei im Heidenchristentum zu suchen. 267 Die exegetischen Arbeiten der 1970er Jahre folgten der erstgenannten Annahme und betonten die Nähe des Matthäusevangeliums zum Alten Testament und zu frühjüdischen Traditionen.268 Auch im englischsprachigen Bereich entstanden Arbeiten, die sich insbesondere mit der Beziehung des Evangeliums zur Synagoge befassten.269 In Arbeiten, die in den 1980er und 1990er Jahren erschienen, und in den

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Vgl. LUZ, Art. Matthäusevangelium, 918f.; vgl. auch HARE, Jewish Persecution. Für die vorangegangene Zeit vgl. STANTON, Origin and Purpose. Vgl. allgemein SENIOR, Directions in Matthean Studies. 258 Beide Annahmen lassen sich aus dem Evangelium belegen, vgl. die umfassende Zusammenstellung der Argumente bei SCHNELLE, Einleitung, 263f. Zur Problematik des Begriffs ‚Judenchristentum‘ vgl. P AGET, Jews, 24–33 (Lit!); vgl. auch J ACKSONMCCABE, What’s in a Name, 7–38; BOYARIN, Rethinking Jewish Christianity, 7–36; zum Matthäusevangelium auch CARTER, Matthew’s Gospel, 155–179. 259 Vgl. STANTON, Origin and Purpose, bes. 30–43. 260 Vgl. BORNKAMM , Enderwartung und Kirche im Matthäusevangelium, 13–47. 261 Vgl. BARTH, Gesetzesverständnis des Evangelisten Matthäus, 54–154. 262 Vgl. HELD, Matthäus als Interpret der Wundergeschichten, 155–287. 263 Vgl. DAVIES, The Setting of the Sermon on the Mount, 315; dies basierte auf der Annahme, dass sich die matthäische Gemeinde als separate Einheit unabhängig von der jüdischen Gemeinde wahrnahm (vgl. z.B. „ihre Synagogen“, 4,23; 9,35; 10,17). 264 Vgl. HUMMEL, Auseinandersetzung zwischen Kirche und Judentum, bes. 28–33. 265 Vgl. TRILLING, Das wahre Israel, 192. 266 Vgl. STRECKER, Weg der Gerechtigkeit, 15–35, bes. 29. 267 Vgl. CLARK, Gentile Bias, 165–172; zuletzt MEIER, Art. Matthew, 622–641. 268 Vgl. dazu SAND, Gesetz und Propheten; FRANKEMÖLLE, Jahwebund; SCHWEIZER, Christus und die Gemeinde, 9–68; LUZ, Erfüllung des Gesetzes, 141–171; DERS., Matthäus I–IV. 269 Vgl. GOULDER, Midrasch; COPE, Matthew. 257

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Kommentaren von U. Luz, H. Frankemölle und J. Gnilka ist der judenchristliche Hintergrund bereits allgegenwärtig.270 Obwohl die betonte Vereinigung von hellenistischheidnischen und jüdischen Traditionen im Matthäusevangelium zu berücksichtigen ist,271 scheint die Verortung des Evangeliums im Kontext des Judentums,272 v.a. aufgrund der Prägung durch jüdische Literatur- und Sprachformen, aufgrund des matthäischen Gesetzesverständnisses und der Wirkungsgeschichte der Schrift im judenchristlichen Bereich sinnvoll.273 Dass es jedoch einen eindeutigen Paradigmenwechsel im Gegenüber zu den jüdischen Strömungen der Zeit widerspiegelt, scheint insbesondere aufgrund des matthäischen Gesetzesverständnisses gegeben, das anstatt der Thora deren Interpretation durch Jesus ins Zentrum rückt, sowie aufgrund seiner Christologie.274 In den letzten Jahren ist die Forschung v.a. im anglophonen Bereich und unter Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Analysemethoden zu einem neuen Ansatz in der Matthäusforschung gekommen. Er zielt darauf, die matthäische Gruppe als deviante Gruppe innerhalb des Judentums zu situieren275 und sieht die zentrale Frage darin, ob im Hinblick auf den matthäischen Hintergrund von ‚Jewish Christianity‘ oder besser von ‚Christian Judaism‘ zu sprechen sei.276 Diesbezüglich können vier Perspektiven herausgestellt werden:277 G. N. Stanton geht v.a. aufgrund exegetischer Textbeobachtungen (z.B. von Mt 23,34; 10,23) davon aus, dass die matthäische Gemeinde sich bereits vom Judentum getrennt hatte und sich – in Analogie zu der in den Texten aus Qumran genannten dxy-Gemeinschaft 278 – als sektiererische Gruppe in Abgrenzung zum dominierenden Judentum der Zeit definierte, indem sie sich eine eigene, separate Identität und innere Struktur schuf.279 Eine differente Positionierung begegnet in den Schriften A. J. Saldarinis, der das Evangelium innerhalb des Judentums verortet und als Ausdruck einer

270 Zu einem Überblick über die Forschungsgeschichte vgl. WIEFEL, Matthäus, 14–22; weiterhin: FRANKEMÖLLE, Evangelium und Wirkungsgeschichte. 271 Vgl. besonders WONG, Interkulturelle Theologie, 125–154. 272 Ob bereits in Separation von der jüdischen Gemeinde oder nicht, wurde gerade in den letzten Jahren intensiv diskutiert. Vgl. zur Diskussion um ‚the parting of the ways‘ DUNN, Jews and Christians; B AUCKHAM, The Parting of the Ways; T OMSON, The Wars against Rome; GOODMAN, Judaism in the Roman World, 175–185; B OYARIN, Border Lines, 30. Vgl. dagegen aber LIEU, Christian Identity, 306; DIES., Parting, 11–29. Ebenfalls kritisch steht dem Modell des ‚Parting of the Ways‘ der Sammelband von B ECKER/ REED, Ways that Never Parted, gegenüber. Einen Überblick über die Forschungslage gibt z.B. REINHARTZ, A Fork in the Road, 280–295. 273 Vgl. z.B. LUZ, Matthäus I, 103f.; STANTON, Introduction, 1–26. 274 Vgl. HAGNER, Matthew, 266–271. Vgl. auch HARE, How Jewish, 264–277. 275 Einen Überblick über diese Forschungsrichtung gibt FOSTER, Community, 22–77; vgl. auch FREYNE, Jewish Contexts, 179–203; SENIOR, Matthew at the Crossroads, 6–15. 276 Vgl. HAGNER, Christian Judaism, 263–283; DERS., Apostate, 193–209. 277 Eine detailliertere Darstellung des aktuellen Forschungsfeldes findet sich bei FOSTER, Community, 22–79; G URTNER, From Stanton to Present, 23–31; vgl. auch die Problematisierung des Ansatzes bei TUCKETT, Social and Historical Context, bes. 99–108. 278 Vgl. STANTON, Gospel for a New People, 85–107. 279 Stanton spricht von einer „sectarian community“ im Gegenüber zum „parent body“ des dem Neuen Testament zeitgenössischen Judentums, vgl. STANTON, Gospel for a New People, 103. Vgl. auch die kritische Weiterführung des Ansatzes bei RUNESSON, Judging Gentiles. Vgl. zudem HEEMSTRA, Fiscus Judaicus, 190, der den fiscus als entscheidendes Kriterium für die Trennung zwischen Judentum und frühem Christentum betrachtet.

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Kapitel 1. Einleitung

innerjüdischen Auseinandersetzung betrachtet.280 Laut Saldarini lag die matthäische Gruppe281 im Konflikt mit der jüdischen Orthodoxie, da beide die rechte Auslegung der mosaischen Tradition beanspruchten. Sie versuchte ihre eigene Gemeinschaft gegenüber der dominierenden Synagogengemeinschaft zu konsolidieren.282 In diesen Rahmen fügt sich J. A. Overmans weiterführende These.283 Overman nimmt an, dass das sich neu formierende Judentum nach der Tempelzerstörung ebenso wie das frühe Christentum des späten 1. Jh. zwei rivalisierende Strömungen waren, die sich gleichzeitig etablierten. Die antagonistischen Tendenzen, die sich auch im Matthäusevangelium widerspiegeln, seien nach Overman darauf zurückzuführen, dass beide Strömungen sich auf die gleichen jüdischen Wurzeln beriefen und jeweils den Anspruch erhoben, die einzig legitime, jedoch nicht mit der anderen kompatible Auslegung der gemeinsamen Traditionen zu vertreten. D. C. Sims Studie The Gospel of Matthew and Christian Judaism284 führt die vorangegangenen Studien fort, erkennt jedoch eine Trennung der matthäischen Gruppierung von der lokalen Synagogengemeinde, die nicht mit dem Übergang vom Judentum zum Christentum gleichzusetzen ist. Auch wenn eine Distanzierung von der Synagoge stattgefunden hat und in der Folge die Etablierung einer eigenen Identität nach sich zog, so verstand sich die matthäische Gemeinde doch als sektiererische Gruppe innerhalb des Judentums. 285 Im Rahmen dieser Forschungslage ist es problematisch, die vorliegende Arbeit zu positionieren: Dem Evangelium ist eine große Nähe des Verfassers zum Judentum zu entnehmen, jedoch lassen sich zugleich Evidenzen für eine Distanzierung des Verfassers und seiner Gruppe von der lokalen Synagoge wahrnehmen. Aufgrund mangelhafter Quellenlage ist es m.E. unmöglich, das Selbstverständnis des Matthäusevange-

280 Vgl. SALDARINI, Matthew’s Christian-Jewish Community; vgl. auch DERS., Gospel of Matthew and Jewish-Christian Conflict. Vgl. auch DERS., Boundaries, zur These, dass die matthäische Polemik gegenüber Israel in der Hoffnung gründet, Einfluss auf die Haltung der Juden zu Jesus nehmen zu können. 281 Zur Definition des neutralen Begriffs ‚group vgl. SALDARINI, Matthew’s Christian-Jewish Community, 85–87. Vgl. auch LUOMANEN, The ‚Sociology of Sectarianism‘ bezüglich der Einordnung und Bezeichnung der matthäischen Gruppe – Luomanen plädiert für eine Charakterisierung als „cult movement“, a.a.O., 130. 282 Die Position Saldarinis wurde breit rezipiert, vgl. GIELEN, Konflikt Jesu. Zur Kritik an Saldarinis Position vgl. FOSTER, Community, 36–46; LUZ, Matthäus I, 89–99; IV, 451. 283 OVERMAN, Matthew’s Gospel and Formative Judaism, spricht von „fraternal twins“, a.a.O., 155. 160. Vgl. auch DERS., Church and Community. 284 Vgl. SIM, Gospel of Matthew and Christian Judaism; DERS., Gospel of Matthew and the Gentiles. 285 Vgl. dagegen REPSCHINSKI, Controversy Stories, 343–349, der die matthäische Gemeinde zwar im Judentum verankert, sie jedoch gerade aufgrund der Heidenmission von dieser unterscheidet. Die Spannung zwischen einer Verankerung im Judentum und der Aufforderung zur Heidenmission, die Repschinski nicht auflöst, versucht FOSTER, Community, dadurch zu lösen, dass er zur Zeit der Entstehung des Matthäusevangeliums von einem „recent and decisive break from its synagogue heritage“ spricht (a.a.O., 259). Vgl. weiter SIM, Gospel of Matthew and the Gentiles; DERS., Christianity and Ethnicity.

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liums und seines Gemeindekontexts zu erschließen;286 es muss offen bleiben, wann es zu einer wirklichen Trennung der beiden Strömungen gekommen ist.287

Während grundlegende Aspekte zur politischen und ökonomischen Situation der Zeit den außerbiblischen Quellen zu entnehmen sind288 und zu einem gewissen Maße eine Situierung der neutestamentlichen Schriften erlauben, bringen genauere Eingrenzungen der Kontextfaktoren in Bezug auf einzelne Schriften Probleme mit sich. Jeder Versuch einer Definition des sozialen, gesellschaftlichen wie religiösen Kontexts des Matthäusevangeliums beruht allein auf textinternen Indikatoren, bleibt daher hypothetisch und kann nicht die Grundlage für eine diskursanalytische Untersuchung darstellen. Die politischen und sozialen Rahmenbedingungen und deren Funktion und Konstellation im Hinblick auf das Entstehen der Texte wird auf der Ebene des institutionellen Kontexts untersucht. Der institutionelle Kontext beschreibt die Machtstrukturen und Ideologien der politischen und sozialen Institutionen, in deren Zusammenhang das Zustandekommen eines Textes zu betrachten ist. In Anbetracht der sprachethischen Thematik der vorliegenden Studie sind v.a. zwei Ansätze der neueren Forschung von Bedeutung. Eine Perspektive auf die Machtverhältnisse, die sich in den neutestamentlichen Texten spiegeln, findet sich in den kulturanthropologischen und soziologischen Arbeiten Malinas. Laut seiner Definition ist Macht bzw. Autorität definiert als „the ability to exercise control over the behaviour of others […] a symbolic reality […] not to be confused with physical force“.289 Die Autorität kann einerseits auf Faktoren wie Stärke oder Reichtum basieren, andererseits auf Status innerhalb der Gruppe, Wahl, Thronfolge, Besitz oder sozialem Vermögen. Malina geht davon aus, dass in der antiken Welt angemessenem Verhalten, d.h. den von einer sozialen Gruppe akzeptierten Normen, ein höherer Wert zukam als dem Gewissen oder der Introspektion, denn Verhalten wird aufgrund des äußerlich Wahrnehmbaren und in Bezug auf seine soziale Funktion evaluiert. Malinas Thesen sind für die vorliegende Untersuchung in zweifacher Hinsicht von Bedeutung: Erstens muss die Autorität hinterfragt werden, die Anweisungen zur rechten Sprache gibt und die sich nicht nur auf den Evangelisten, sondern auch auf Gott bezieht; darüber hinaus sind die Autoritäten in der Darstellung auf ihre Sprache zu hinterfragen. Zweitens zeigen die folgenden Ausführungen, dass in Hinsicht auf sprachliches Verhalten zwei Dimensionen 286 Vgl. dazu DUNN, Question of Anti-semitism, 177–211 (besonders zur Unterscheidung zwischen Selbstdefinition und Außenperspektive). Vgl. auch KONRADT, Ausrichtung der Mission, 161. 287 So die Ergebnisse des Second Durham-Tübingen Research Symposium on Earliest Christianity and Judaism, Durham, September 1989, veröffentlicht in DUNN, Jews and Christians, 367f. Die Forschung der nachfolgenden Jahre hat m.E. noch keine weiterführenden Lösungen angeboten. Vgl. SIM, Social and Religious Milieu of Matthew, 31f.; vgl. auch DERS., Matthew’s Anti-Paulinism; ZETTERHOLM, Didache. 288 Zu den Quellen für die neutestamentliche Zeit- und Sozialgeschichte vgl. z.B. SCHRÖTER /ZANGENBERG, Texte; KOLLMANN, Neutestamentliche Zeitgeschichte, 10–15; ALKIER, Quellen, 60–142; SCHÜRER/VERMES, History I, 17–122. 289 MALINA, New Testament World, 31.

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Kapitel 1. Einleitung

von Bedeutung sind – sowohl die Relation zum menschlichen Gegenüber als auch der Status coram Deo; dadurch wird der Introspektion ein hoher Rang zuerkannt.290 In der neueren, v.a. englischsprachigen, Forschung wird eine zweite Perspektive fruchtbar gemacht: der geschichtliche und soziale Kontext des Matthäusevangeliums wird besonders in Bezug auf Indikatoren für den Konflikt mit der römischen Besatzungsmacht, die sich im Evangelium widerspiegeln, analysiert.291 Die Präsenz des römischen Statthalters, der Verwaltungsbeamten, des römischen Heeres in Jerusalem nach 70 (vgl. Mt 5,41), repräsentativer Architektur in den Städten des Imperiums, die Verbreitung römischer Münzen (vgl. z.B. die Judaea-Capta-Münzen), die Besteuerung der Provinz und zur Zeit der Entstehung des Matthäusevangeliums der fiscus Judaicus sowie die Dominanz römischer Tempel und Rituale lassen die politischen Machtstrukturen der Zeit deutlich werden.292 Der Text des Evangeliums rezipiert diese Realitäten des Lebens in einer Provinz des römischen Reiches in narrativer Form. Die Thematik der römischen Herrschaft über den Landbesitz (Mt 21,33–44), die Willkür und Zerstörung durch die Römer (Mt 22,1–10) sowie die Besteuerung (Mt 17,24–27) werden adressiert, die ethischen Anweisungen können als „sagacious and utilitarian counsel for surviving in [a] Roman provincial setting in the post-70 era“293 interpretiert werden. Im Text des Matthäusevangeliums lassen sich die unterliegenden Ideologien und Standpunkte der matthäischen Diskursposition eruieren,294 die auf inhaltlicher wie sprachlicher Ebene durch den Kontext des Imperium Romanum beeinflusst wurde. Wie in der jüdischen Literatur der zwischentestamentlichen Periode Rom und die Ereignisse zwischen dem Imperium und dem jüdischen Volk in der literarischen Darstellung in sprachlich verschlüsselter Form wiedergegeben werden, so auch in den neutestamentlichen Schriften.295 Untersuchungen 290 L. J. Lawrence arbeitet mit Hilfe des Honor-and-Shame-Modells die im Matthäusevangelium vermittelten Machtstrukturen heraus; dabei kommt insbesondere die Sprachverwendung der Figuren in narrativen Passagen in den Blick (Herodes: Mt 2,1–23; Herodes Antipas: Mt 14,1–12; Pilatus: Mt 27,11–26), vgl. LAWRENCE, Ethnography, bes. 115–141. Eine Analyse der Figurenrede unter explizit sprachethischer Perspektive wäre ebenfalls wünschenswert, ist aber im Rahmen dieser Untersuchung nicht zu leisten. 291 Vgl. CARTER, Matthew and Empire; DERS., Matthew: Empire, 285–308, und den Aufsatzband von R ICHES/SIM, Gospel of Matthew. Auf das gesamte Neue Testament bezogen OAKES, Rome in the Bible. Zu Methoden der Analyse vgl. DULING, Empire, 49– 74. Eine kritische Evaluation des Ansatzes bieten MCKNIGHT/MODICA, Jesus is Lord, Caesar is not. 292 Vgl. die Zusammenstellung bei CARTER, Matthew and Empire, 35–53, bes. 37–46, zudem die Verarbeitung in den matthäischen „counternarratives“, a.a.O., 93–168, am Beispiel von Mt 1,23; 4,15f.; 11,28–30; 17,24–27; 27,11–26; zudem R ICHES, Introduction, 7. Vgl. allgemein SEGAL, Rebecca’s Children. 293 OVERMAN, Problems with Pluralism, 263. Vgl. auch SCOTT, Weapons of the Weak; DERS ., Domination; zudem HEININGER , Soziale und politische Metaphorik, 205–227; KENNEDY, Cynic Rhetoric, 26–45; STROUP, Greek Rhetoric Meets Rome, 23–37. 294 Vgl. dazu die Untersuchungen von S IM, Rome in Matthew’s Eschatology; RICHES, Matthew’s Missionary Strategy; CARTER, Matthean Christology in Roman Imperial Key; OAKES, State of Tension. Vgl. zudem W EAVER, Thus you will know them, 107–127; DIES., Power and Powerlessness; S ENIOR , Between Two Worlds, bes. 14–18. 295 Vgl. z.B. die Darlegung bei ESLER , Rome in Apocalyptic and Rabbinic Literature, bes. 18–33. „The aristocratic empire that was Rome controlled this subject people with an iron grip, subjected it to heavy taxation and legitimated these processes in numerous ways, not least by the legends on many coins […]. Yet one of the marvels of the Israel-

4. Die Bedeutung des Kontexts für die Diskursanalyse

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dazu, wie die literarischen Codes im Einzelnen zu entschlüsseln sind und welche Implikationen sie für die Pragmatik des Texts bieten, richten das Augenmerk z.B. auf die römische Präsenz in den urbanen Kontexten des Imperiums, auf die Parallelen zwischen imperialer und frühchristlicher Theologie und Soteriologie (besonders in der Darstellung Jesu sowie hinsichtlich ideologietragender Metaphorik), auf die Steuerpflicht, auf die Antithetik und Machtkonstellation zwischen Gott und dem Imperium. Dabei erscheint das Matthäusevangelium in theologischer wie sozialer Hinsicht als Herausforderung für imperiale Ideologien, als kritischer Textbestand gegenüber Ideologie- und Machtstrukturen insgesamt, als Text, der den Widerstand gegen die herrschende Macht in narrativer Form zur Sprache bringt. Andererseits bilden die jüdischen Autoritäten einen Gegenpol zur imperialen Macht – durch das gesamte Evangelium zieht sich z.B. ein Diskursstrang, der den jüdischen Behörden einen zentralen Part in der Tötung Jesu zuschreibt.296 Trotz des Widerstands und der Abwehr gegenüber dem Imperium und dem Aufweis der Alternative des Reiches Gottes bedient sich das Evangelium jedoch der Machtstrukturen, ideologischen Konzepte und der ideologischen Sprache des Imperiums. 297 Daraus geht hervor, dass das Evangelium „has not lived up to its own critique“, denn „the violent language betrays the dominant paradigm“.298 Die negierten Verhaltensweisen und Ansprüche des Imperiums werden im Evangelientext wiederbelebt. Der Einbezug der Bedeutung und Nutzung der Sprache, der in der vorliegenden Studie in den Blick genommen wird, bleibt in diesen Untersuchungen bislang weitgehend ein Desideratum. 299 Insbesondere die Verwendung von Sprache als (implizites) Mittel des Widerstands, wie es in den Untersuchungen von J. C. Scott zum Tragen kommt, spielt eine prominente Rolle im Hinblick auf sprachethische Erwägungen. 300 Die Frage nach dem institutionellen Kontext ist im Zusammenwirken des historischen Wissens um den gesamten historischen, institutionellen Kontext mit den sich in den Texten spiegeln-

ites is that they produced such a vibrant array of discourse […] to counter that of Rome“ (a.a.O., 33). 296 Vgl. CARTER, Matthew and Empire. 297 Denn „[a]s much as the Gospel resists and exposes the injustice of Rome’s rule, as much as it points to God’s alternative community and order, as much as it glimpses something of the merciful inclusion of the non-elite in God’s love and life-giving reign for all, as much as it offers alternative economic practices, renounces violence, and promotes more egalitarian household structures, it cannot, finally, escape the imperial mindset. The alternative to Rome’s rule is framed in imperial terms. Salvation comprises membership in a people that embodies, anticipates, and celebrates the violent and forcible establishment of God’s loving sovereignty, God’s empire, over all, including the destruction of oppressive governing powers like imperial Rome. The Gospel depicts God’s salvation, the triumph of God’s empire over all things including Rome, with the language and symbols of imperial rule“, CARTER, Matthew and Empire, 171. 298 CARTER, Matthew and Empire, 176. 299 Carter bezieht die Sprache des Matthäusevangeliums immer wieder auf den Kontext der imperialen Herrschaft in Palästina und konstatiert z.B. für Mt 11,28–30 einen Sprachgebrauch, der zwar inhaltlich die Botschaft Jesu vom Römischen Reich absetzt, jedoch „the Gospel employs imperial language to express the Gospel’s rejecton of Roman imperial rule“, so CARTER, Matthew and Empire, 129. So erweist sich am Sprachgebrauch „how pervasive and deep-seated is the imperial paradigm“ (ebd.). 300 Vgl. dazu SCOTT, Domination, und zur Übernahme der Theorie in die Theologie vgl. HORSLEY, Hidden Transcripts.

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Kapitel 1. Einleitung

den Positionen des Verfassers und seines Gemeindekontexts zu eruieren. Die Situation der Kontextanalyse weicht unter diesem Aspekt von den vorhergehenden Ebenen der Kontextanalyse ab, da hier zwar ebenfalls Indizien aus dem Text entnommen werden, diese jedoch nicht dazu dienen, auf einen Kontext rückzuschließen, sondern auf der Ebene der Sprache – die im Fokus dieser Studie steht – Diskurspositionen zu erschließen und zu interpretieren.

Für diese Studie ergibt sich daraus: Während der situative, historische Kontext der einzelnen neutestamentlichen Schriften immer nur hypothetisch für eine einzelne Schrift spezifisch zu eruieren ist und daher zur Interpretation der Einzeltexte unter der Perspektive der Sprachethik nur bedingt beitragen kann, geben der allgemeine historische, soziale und religiöse Kontext des Neuen Testaments, d.h. die Situation im östlichen Imperium Romanum im 1. Jh. n. Chr. in ihrer Entwicklung und situativen Aktualität, ebenso wie der diskursive Kontext, der den sprachethischen Diskurs der Kontextliteratur nachzeichnet, in gewissem Maße die formalen Rahmenbedingungen der Entstehung der neutestamentlichen Texte vor. Der historische Kontext der neutestamentlichen Schriften kann in seinem generellen Rahmen erschlossen werden, nicht aber der exakte Entstehungskontext der einzelnen Schriften. Der diskursive Kontext kann in seinen Grundzügen aus den uns erhaltenen antiken Schriften eruiert werden. Von besonderer Bedeutung für diese Studie sind daher der allgemein-historische und der literarische Kontext, der thematisch auf den Diskurs der Sprachethik hin untersucht und jeweils zu Beginn der thematischen Kapitel in den Blick genommen werden soll, um dann – in der Diskursanalyse – themenbezogene Verweise und Referenzen aufweisen zu können. Text und Kontext sollen zunächst unabhängig analysiert und dargestellt werden, d.h. mögliche Relationen und Einflussnahmen zwischen Text und Kontext werden erst in einem zweiten Schritt – im Rahmen der eigentlichen Diskursanalyse – in den Blick genommen. Dabei wird der Fokus nicht nur auf den themengebundenen sprachethischen Traditionskontexten und Traditionsübernahmen liegen, sondern sich – wie die diskursanalytische Fragestellung vorgibt – der Ideologie und den Machtwirkungen in und zwischen den Texten widmen. 4.3 Möglichkeiten und Grenzen der neutestamentlichen Kontextanalyse Theorie wie Methodik der historischen Diskursanalyse sind vom Analysematerial abhängig und weitgehend auf die jeweilige Fragestellung hin adaptations- und konkretionsbedürftig. Im Hinblick auf die vorliegende Untersuchung ist dieser Umstand als Vorteil zu bewerten, denn die historische Diskursanalyse gibt einen theoretischen und methodischen Rahmen vor, der je nach Analysegegenstand zu konkretisieren ist. Sie ist damit auch ein methodologisches Angebot an die neutestamentliche Exegese, das

4. Die Bedeutung des Kontexts für die Diskursanalyse

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genügend Spielraum zur Veränderung in Bezug auf die exegetischen Erfordernisse lässt. Die in dieser Studie rezipierten methodischen Entwürfe von Landwehr und Jäger sind auf den spezifischen Kontext des Neuen Testaments bezogen zu adaptieren. Diese Tatsache legitimiert eine Anpassung der Fragestellungen an das neutestamentliche Textcorpus, die dem Problem Rechnung tragen muss, dass die üblicherweise im Rahmen der historischen Diskursanalyse wesentliche Analyse des Kontexts im Rahmen neutestamentlicher Untersuchungen aufgrund der begrenzten Informationen über das frühe Christentum nicht umfassend durchführbar ist.301 Wie aus obiger Zusammenstellung ersichtlich wird, ist es für diskursanalytische Untersuchungen neutestamentlicher Texte nicht möglich bzw. nicht sinnvoll, den Kontext mit den Fragestellungen der historischen Diskursanalyse zu eruieren.302 Vielmehr bedarf es der methodischen Konkretion hinsichtlich exakter, wissenschaftlich fundierter Fragestellungen, um eine gelungene Anwendung der diskursanalytischen Methodik auf neutestamentliche Diskurse zu gewährleisten. Somit ist von der gesetzten Problematik ausgehend eine textgenerierte Methodik zu entwickeln, die der diskursanalytischen Fragestellung in Bezug auf die Analyse neutestamentlichen Textmaterials dient. Grundsätzlich ist es hinsichtlich der sprachethischen Fragestellung daher m.E. legitim, den Fokus nicht auf die – wie aufgezeigt meist sehr umstrittenen und weitgehend hypothetisch rekonstruierten – Einleitungsfragen zu richten, sondern vielmehr generell den historischen Kontext des Imperium Romanum im späten 1. Jh. n. Chr. als Entstehungskontext der Schriften anzunehmen und auf dem Hintergrund dieser Kontextbedingungen den in den neutestamentlichen Texten reflektierten Diskurs zu untersuchen.303

301

Vgl. STANTON, Introduction, 23, wo Stanton bemerkt, dass das Matthäusevangelium sich sozialwissenschaftlichen und anthropologischen Ansätzen nicht so leicht zugänglich zeigt und der matthäische Kontext unklar bleiben muss. 302 Vgl. dazu B URRIDGE, Who writes, 100: „Yet despite two thousand years of tradition, research and speculation, it is important to stress at the outset that in fact we know practically nothing of who the original authors and audiences of these texts actually were“. Vgl. dazu auch T HEISSEN, Lokalkolorit, 304. 303 Vgl. KEENER, Matthew, 7: Bei der Rekonstruktion des Kontextes gilt: „[d]ependence on the widest possible range of sources seems the safest method for reconstructing Matthew’s general milieu (even if not always his local situation)“. Vgl. dazu einige zentrale, den Kontext der in dieser Studie behandelten Schriften betreffende Studien: BALCH, Social History of the Matthean Community; CROSBY, House of Disciples, bes. 21–48; HARTIN, Religious Context, 203–231; JEFFORD, Milieu of Matthew, 35–47; J OHNSON, Social World, 178–197; DERS., Brother of Jesus, Friend of God; LEVINE, Social and Ethical Dimensions; S IM, Reconstructing the Social and Religious Milieu of Matthew, 13–32; DERS ., Social Setting of the Matthean Community, 268–280; TER H AAR ROMENY, Hypotheses, 13–33; WEREN, History and Social Setting, 51–62; W ISCHMEYER, Reconstruc-

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Kapitel 1. Einleitung

Zudem ist eine spezifische Ausrichtung auf den literarisch vermittelten, ethischen, genauer den sprachethischen Kontext vorzunehmen.304 Den folgenden exegetischen Kapiteln geht jeweils ein Unterkapitel voraus, das der Analyse der neutestamentlichen Diskursfragmente entsprechende, der antiken Kontextliteratur entnommene Diskurspositionen beleuchtet, die zum sprachethischen Diskurs im 1. Jh. n. Chr. beitrugen. Diese Art der Kontextbestimmung unterscheidet sich von der Analyse des historischen Kontexts insofern distinktiv, als sie sich auf den unmittelbaren diskursiven Kontext bezieht. Für die Evaluation und Interpretation des Gehaltes wie der Bedeutung eines Diskursstrangs ist die Erhebung des diskursiven Kontexts, der die synchrone, diachrone wie auch zukünftige Dimension des Diskurses berücksichtigt, unerlässlich.305 Relevant und substanziell für die vorliegende Studie ist – im Rahmen der historischen Kontextbedingungen, soweit diese tragend erhellt werden können – primär der sprachethische diskursive Kontext, der jeweils themengebunden beigegeben wird.

ting the Social and Religious Milieu of James, 33–41; ZANGENBERG, Social and Religious Milieu. 304 Vgl. in diesem Zusammenhang grundlegend GARRISON, Graeco-Roman Context. 305 Vgl. dazu JÄGER , Art. Diskursiver Kontext, 42f.; dort auch der Verweis auf die Definition von BUSSE, Diskurslinguistik als Kontextualisierung, 82, der unter Kontext „den umfassenden epistemisch-kognitiven Hintergrund [subsumiert], der das Verstehen einzelner sprachlicher Zeichen(ketten) oder Kommunikationsakte überhaupt erst möglich macht“. Für die vorliegende Studie ist der sprachethisch-literarische Kontext als diskursiver Kontext zu identifizieren.

Kapitel 2

Der Zorn Die Sprache im Zorn und die Intention des Sprechenden Ta, ka,kista tw/n paqw/n, oi-o,n evstin h` ovrgh,.1 Plutarchs negative Bewertung des Zorns stößt in der Antike nicht auf grundlegenden Konsens.2 Im Rahmen umfangreicher Traktate setzt sich die antike Philosophie mit der Thematik des Zorns auseinander. Dabei liegt der Fokus v.a. auf der Natur des Affekts, der Lehre zur Affektkontrolle sowie der kritischen Evaluation des menschlichen Umgangs mit dem Zorn.3 Auch das Motiv des göttlichen Zorns findet sich häufig in der antiken griechisch-römischen Literatur. Insbesondere im Rahmen des Vergeltungsdenkens wird betont, dass der Friede zwischen Menschen und Göttern durch rechtes Handeln stets zu erhalten ist, um den Zorn und die Strafe der Götter zu vermeiden.4 Das sprachethische Interesse dieser Studie erfordert v.a. die Berücksichtigung der Rolle der zwischenmenschlichen Sprache im Rahmen des antiken Diskurses über den Zorn.5 Sowohl in der antiken Literatur des diskursiven Kontexts wie in den neutestamentlichen Schriften liegt das Interesse der ethischen Reflexion nicht auf den konkreten sprachlichen Äußerungen im 1 Plutarch, Mor. 90 B, zitiert nach B ABBITT, Plutarch’s Moralia. Der Zorn galt in einigen Diskurssträngen der Antike als der schlimmste der Affekte, da er universell und unerwartet auftritt und anderen Affekten überlegen ist, vgl. Plutarch, Mor. 454 A; 455 C.D; Seneca, dial. IV,36,6; V,1,3–5; V,4,5. 2 Vgl. die umfassenden Sammelbände von BRAUND/GILL, Passions in Roman Thought and Literature; BRAUND/MOST, Ancient Anger; zur Auseinandersetzung mit dem Zorn in antiken Texten vgl. F ITZGERALD, Passions and Moral Progress, darin DERS., Introduction, 5–12; vgl. auch VERNEZZE, Moderation, 2–16. 3 Zur Definition von Affekt im Gegenüber zu Gefühl und Emotion vgl. W AGNER, Gefühl, Emotion und Affekt, 7–47, der als Affekt eine gesteigerte Form der Emotion versteht, die im Gegensatz zum Gefühl nach außen hin wahrnehmbar ist. 4 Vgl. dazu SPEYER, Religionen. 5 Vgl. HARRIS, Restraining Rage, bes. 3–31; Harris verweist neben Seneca und Plutarch auf die nur teilweise erhaltene, ca. zwischen 70–40 v. Chr. entstandene Schrift zum Zorn von Philodemus von Gadara (a.a.O., 4); zur antiken Terminologie vgl. a.a.O., 50–70. Vgl. auch VON GEMÜNDEN, Wertung, 103, Anm. 38, zu weiteren Belegen der Verknüpfung von Zorn und Sprache in der antiken Literatur, die hier nicht ausführlich behandelt werden können: Plato, Phdr. 254c; Cicero, ad Q. fr. 1,1,38; PsSal 16,10; Josephus, BJ 3,438f.; AJ 4,237f. u.ö.

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Kapitel 2. Der Zorn

Zorn, sondern auf der Intention,6 mit der die Äußerungen vorgebracht werden, die aus der Disposition des Sprechenden hervorgeht.7 Nur zwei Stellen im Neuen Testament – Mt 5,21–26 und Jak 1,19–27 – stellen den Zorn in den Kontext der Sprachethik. Im Folgenden werden diese beiden neutestamentlichen Aussagen zum Zorn und seinen sprachlichen Äußerungsformen analysiert, die sprachethische Reflexion der neutestamentlichen Texte auf ihre Aussage im Kontext des Sprachethikdiskurses befragt und im themenbezogenen Diskurs der Antike verortet.

1. Der diskursive Kontext Die Thematik des Zorns nimmt im antiken Diskurs der Affekte und der Affektkontrolle sowie auch im Sprachethikdiskurs einen bedeutenden Rang ein.8 Neben dem Zorn der Götter und dessen kultischer Sühnung9 thematisiert Plato den menschlichen Zorn: In Lg. 934e–935c stellt er disqualifizierende sprachliche Äußerungen wie Schmähungen und Beleidigungen in den Zusammenhang des Zorns (qumo,j) und setzt dem das allgemeine Verbot entgegen mhde,na kakhgorei,tw mhdei,j (Lg. 934e).10 Der Zorn wird entweder auf die reizbare Natur des Menschen oder auf mangelnde Erziehung (paidei,a) zurückgeführt (Lg. 934e; R. 430a.b), denn die rechte Erziehung kann die Fähigkeit zur Zornkontrolle gewährleisten (Lg. 935a; R. 431b.c). Zornige Rede soll per Gesetz verboten und harten Strafen unterstellt werden (Lg. 935b.c). Plato kennt zudem die Tradition der Verbindung von Zorn (qumo,j) und Mord und schreibt der sprachlichen Zornesäu-

6 Zum Begriff ‚Intention‘ vgl. Duden Bd. 5 (31999), 1961; dort wird ‚Intention‘ umschrieben mit „Absicht, Bestreben, Vorhaben“, eine intentionale Handlung als „mit einer Intention verknüpft, zweckbestimmt, zielgerichtet“. In diesem Sinn wird der Begriff in der vorliegenden Studie verwendet. Ebenso betont auch MAYORDOMO, Tugendethik, 251, dass die Handlungsmotive betont werden, „etwa wenn statt Mord bereits die Intention, Anderen zu schaden, Gegenstand richterlichen Urteilens wird“ (Kursivierung S.L.). THEISSEN, Gesetz und Goldene Regel, 240, bezeichnet die in dieser Studie mit dem Begriff der Intention bzw. Handlungsmotivation gefasste Größe als „innere Motivation“. 7 Vgl. NORTMEYER, Art. Disposition, 699–708, 701, zur Bedeutung des Begriffs Disposition im Sinne von „Einstellung, Geneigtheit, Verfassung, Anlage“. 8 Semantisch umfasst der Diskurs v.a. die Begriffe qumo,j ktl, ovrgh, ktl und colh, ktl sowie unterschiedliche Paraphrasen der Zornesthematik. 9 Vgl. z.B. Lg. 880d–881b. Vgl. dazu MARIN, L’ira divina. Terminologisch wird neben der im Griechischen üblichen Terminologie für den Zorn auch mh,nima bzw. mh/nij für den kultisch zu sühnenden Zorn der Götter verwendet, vgl. KLEINKNECHT, Art. ovrgh, ktl, 387. 10 „Niemand darf einen andern beleidigen“ (griechisch und deutsch zitiert nach E IGLER , Platon. Werke).

1. Der diskursive Kontext

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ßerung – im Gegenüber zum Totschlag, der spontan motiviert ist – eine bewusste Intention zu (Lg. 866d–867c).11 Nach Plato besteht die menschliche Seele aus drei Seelenteilen, dem vernünftigen (logistiko,n), dem begehrenden (avlo,gisto,n te kai. evpiqumhtiko,n) und dem eifrigen (qumoeide,j) Seelenteil (R. 435a–441c).12 Der vernünftige Seelenteil gibt das rechte Handeln vor, muss aber vom eifrigen – dem auch die Affekte unterliegen – unterstützt werden. Die Grundlagen dazu legt die rechte Erziehung (R. 440a–441a), die im idealen Staat im Rahmen der Kindererziehung durch die Wächter erfolgt. Sie werden durch Gesetze dazu angehalten, zornige Interaktionen zu verhindern, die Zurechtgewiesenen entsprechen aus Furcht und Scham den Vorgaben zum rechten Verhalten gegenüber dem Nächsten (R. 465a.b).13 Zugleich ergeht die Mahnung, den Zorn (ovrgh,) und die Zurechtweisung durch andere mit Gleichmut zu ertragen und anzunehmen (vgl. Lg. 879c). In seiner Nikomachischen Ethik unterscheidet auch Aristoteles drei seelische Phänomene: pa,qh, duna,meij und e[xeij (EN 1105b).14 Aufgrund seiner natürlichen Anlage ist der Mensch zu irrationalen Regungen, z.B. zum Zorn, fähig. Sie kommen ohne vorhergehende Entscheidung über den Menschen und sind daher vom sittlichen Handeln abgekoppelt zu betrachten, welches auf der inneren Grundhaltung des Menschen beruht; denn e[xeij de. kaq’ a]j pro.j ta. pa,qh e;comen eu= h' kakw/j (EN 1105b).15 Das ausschlaggebende Moment ist damit die rechte Grundhaltung (e[xij, Habitus), die sich der Mensch zunächst erwerben muss, um ethisch gerecht handeln zu können.16 Keine der menschlichen Handlungsweisen ist angeboren, sondern muss durch ‚Gewöhnung‘ erlangt, muss geformt werden,17 denn 11

Vgl. dazu MARIN, L’ira divina, 24f. Zitiert nach EIGLER, Platon. Werke. Vgl. M ARIN, L’ira divina, 17f. 13 Vgl. dazu MARIN, L’ira divina, 23. 14 DIRLMEIER, Aristoteles. Nikomachische Ethik, übersetzt die Phänomene als „irrationale Regungen, Anlagen und feste Grundhaltungen“. Vgl. dazu auch die Kommentierung von WOLF, Aristoteles’ Nikomachische Ethik, 69–71. Der griechische Text der EN wird zitiert nach RACKHAM , Aristotle. 15 Zitiert nach RACKHAM , Aristotle. „‚Feste Grundhaltung‘ ist etwas, kraft dessen wir uns den irrationalen Regungen gegenüber richtig oder unrichtig verhalten“ (zitiert nach D IRLMEIER, Aristoteles. Nikomachische Ethik). Als Entscheidungskriterium für rechtes Handeln wird der platonische Grundsatz des Handelns nach dem ovrqo.j lo,goj vorausgesetzt, Aristoteles bezieht hinsichtlich des Wissens um die rechte Mitte den göttlichen Einfluss mit ein; vgl. dazu JACOBI, Aristoteles, 26f. 52; BÄRTHLEIN, Der ‚ovrqo.j lo,goj‘; zur Entsprechung von ovrqo.j lo,goj und fro,nhsij vgl. W ÖRNER, Das Ethische, 366–375. 16 Vgl. WOLF, Aristoteles’ Nikomachische Ethik, 69f.: Die Tugenden gehören in den Bereich der e[xij (EN 1106a), die Affekte nicht. Der Terminus bezeichnet „eine Charakterdisposition […], eine andauernde Haltung, die sowohl die affektive wie die handelnde Reaktion auf Situationen bestimmt“ (a.a.O., 70). 17 Vgl. BURNYEAT, Lernen, 226f. 12

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Kapitel 2. Der Zorn

„aus gleichen Einzelhandlungen erwächst schließlich die gefestigte Haltung“ (EN 1103a.b), d.h. durch Erziehung und Übung wird die „sittliche Tüchtigkeit“ durch wiederholtes richtiges Handeln eingeübt und gemehrt.18 Durch wiederholtes falsches Handeln werden falsche Handlungsweisen eingeübt und die richtige Handlungsinitiative bleibend untergraben (vgl. EN 1105a). Aristoteles wertet den Zorn nicht per se negativ, sondern konstruiert eine Relation zwischen dem Affekt, der immer reaktiv auftritt, und seinem zweckbestimmten Gebrauch (vgl. EN 1116b); denn erregt etwas den Zorn des Menschen, so entscheidet dessen innere Disposition über die darauf folgende Handlung.19 Die Grundhaltung kann auf drei Weisen ausgelebt werden, „zwei fehlerhafte, durch Übermaß und Unzulänglichkeit gekennzeichnet, und eine richtige: die Mitte“ (EN 1108b, meso,thj).20 In Bezug auf den Zorn bedeutet dies: e;sti dh. kai. peri. th.n ovrgh.n u``perbolh. kai. e;lleiyij kai. meso,thj( scedo.n de. avnwnu,mwn o;ntwn auvtw/n to.n me,son pra/on le,gontej th.n meso,thta prao,thta kale,somen( tw/n d‘ a;krwn o`` me.n u``perba,llwn ovrgi,loj e;stw( h`` de. kaki,a ovrgilo,thj( o`` d‘ evllei,pwn avo,rghto,j tij( h`` d‘ e;l leiyij avorghsi,a (EN 1108a).21

Obgleich kein expliziter Bezug zwischen dem Zorn und seinen sprachlichen Äußerungsformen hergestellt wird, zeigt die Behandlung des Zorns und der daraus folgenden, allgemein benannten ‚Handlungen‘, dass der Affekt im Positiven durch den Einsatz der Vernunft zu einem guten Zweck genutzt werden kann (EN 1117a; vgl. EN 1106b; 1109a; 1126b).22 Das Ausleben des rechten Ausmaßes an Zorn wird z.B. als Basis der Tapferkeit betrachtet (EN 1116b)23 und das Abweichen von der rechten Mitte erst ab einem bestimmten Grad als falsch klassifiziert. Die Reaktion des Zorns auf eine vorausgehende provozierende Handlung kann also auch im Rahmen 18

Zitiert nach DIRLMEIER, Aristoteles. Nikomachische Ethik. Aristoteles definiert den Zorn über seine Ursachen, z.B. als Vergeltungsmaßnahme gegen widerfahrenes Unrecht (de An. 403a; Rh. 1378a), legt aber auch die physische Dimension des Affektes dar (de An. 403a.b). Vgl. KONSTAN, Aristotle on Anger, 99–120. 20 Zitiert nach DIRLMEIER, Aristoteles. Nikomachische Ethik; vgl. GUTHRIE, Greek Philosophy 4, 352–358. 21 Zitiert nach RACKHAM , Aristotle. „Auch in Hinsicht auf die Zornesregung gibt es ein Zuviel, ein Zuwenig und die Mitte. Besondere Namen gebraucht man dafür eigentlich nicht. Doch wollen wir den Mittleren als ruhig und die Mitte als ruhiges Wesen ansprechen. Bei der Benennung der Extreme wollen wir für den Maßlosen den Begriff jähzornig und für das entsprechende falsche Verhalten den Begriff Jähzorn prägen. Der Unzulängliche aber heiße phlegmatisch und das falsche Verhalten Phlegma“ (zitiert nach D IRLMEIER, Aristoteles. Nikomachische Ethik). 22 Vgl. dazu KONSTAN, Aristotle on Anger, 106f.; vgl. auch W OLF, Aristoteles’ Nikomachische Ethik, 71, zur aristotelischen Affektenlehre, insbesondere zum Zorn. Der Zorn wird als ein Affekt beschrieben, der „darauf antwortet, dass etwas für die Person oder ihre eudaimonia Schlechtes geschieht“ (a.a.O., 71). 23 Vgl. WOLF, Aristoteles’ Nikomachische Ethik, 70; B ÄUMER, Bestie Mensch, 17–40. 19

1. Der diskursive Kontext

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der Mesoteslehre als positiv betrachtet werden.24 Das richtige Verhalten unter Einfluss der Affekte wird im Bereich der Tugendethik angesiedelt, auffallendes Fehlverhalten führt zu zwischenmenschlichen Sanktionen, z.B. zu Tadel. Im rhetorischen Kontext stellt der Zorn eine wichtige Komponente in der überzeugenden Redeführung dar, da die gezielte Verwendung von Emotionen bzw. Affekten im Rahmen der symbuleutischen Redegattung nötig ist, um die Hörer in ihrer Urteilsfindung entscheidend zu beeinflussen (vgl. Rh. 1378a–1380a; Rh. 1391b).25 In der antiken Literatur zeichnet sich ein konsekutives Verständnis von Sprache bzw. Taten und Zorn im Sinne von Aktion und Reaktion ab, d.h. indem der Redner Taten und Worte gemeinsamer Gegner besonders negativ präsentiert, kann er die Zuhörer in einen Zustand des Zorns versetzen.26 Dem Zornaffekt ist die Sanftmut (prao,thj) entgegengesetzt,27 die ebenso (wie alle Affekte) in den Dienst der Rhetorik genommen werden kann (vgl. Rh. 1380a). Während Aristoteles den rhetorischen und vernunftgemäßen Einsatz von Zorn mit einer Ausrichtung auf das Gute positiv bewerten kann (vgl. Rh. 1378b; Po. 1455a), ist bei Seneca (De ira) und Plutarch (De cohibenda ira) der Affekt des Menschen im Staat und im Haus negativ konnotiert.28 Nach stoischem Verständnis können Affekte nur entstehen, wenn die Vernunft zurücktritt. Um dem vorzubeugen, ist der Mensch in seinem Verhalten durch Gewöhnung zu prägen.29 Im Hinblick auf den Zorn hingegen, der durch die Vernunft nicht zu bezwingen ist, strebt die Stoa eine vollständige Eliminierung an – sowohl hinsichtlich der Zornbewältigung als auch der Zornverarbeitung.30 24 Zur Mesoteslehre des Aristoteles und ihrer Rezeption vgl. z.B. VARDAKIS, Mesoteslehre; ANGIER, Techne; MAYORDOMO, Tugendethik, 226f.; WOLF, Mesoteslehre. 25 Zur Definition und den Ursachen des Zorns vgl. Aristoteles, Rh. 1378a–1380a. Vgl. dazu W ÖRNER, Pathos, 53–78. 26 Zur gezielten Anwendung des Zorns in der Rhetorik vgl. W ISSE, Art. Affektenlehre, 218–224; VON GEMÜNDEN, Wertung, 98f. Zu Aristoteles vgl. auch FORTENBAUGH, Aristotle and Theophrastus, 29–47. 27 Vgl. dazu RAPP, Aristoteles II, 597, der die Emotion der Sanftmut bei Aristoteles als „Gegenemotion zum Zorn“ bezeichnet: „an vielen Stellen scheint die Sanftmut sogar ganz im Sinn der Besänftigung eines zuvor vorhandenen Zorns gedacht zu sein. Ganz offensichtlich hat Aristoteles die Situation vor Augen, dass zürnende Richter in einen entgegengesetzten Zustand versetzt werden müssen“. 28 Vgl. z.B. Seneca, dial. V,3,1; Plutarch, Mor. 458 D.E.F; 459 A. Vgl. die präzise Zusammenstellung bei VON GEMÜNDEN, Umgang mit Zorn, 165–171; vgl. auch DIES., La gestion de la colère, 19–45 und DIES., Anger and aggression, 157–196. Vgl. zudem MCCARTHY, Divine Wrath and Human Anger, bes. 851–856. 29 Vgl. STEMPEL, Therapie der Affekte, 17–23. 123–137. 30 Vgl. VON GEMÜNDEN, Umgang mit Zorn, 164–171, die die beiden Aspekte des Zorns folgendermaßen beschreibt: „[D]as Verletzt-Werden verlangt vom Opfer einer

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Kapitel 2. Der Zorn

Seneca ist der Ansicht, dass Zorn Hass hervorrufe, die menschliche Natur hingegen auf Liebe ziele (vgl. dial. V,5,6; V,28,1). Da der Zorn eine allzu menschliche Eigenschaft sei (vgl. dial. III,1,3f.), werde der Mensch ständig auf seine Grenzen verwiesen (vgl. dial. IV,10; IV,28,1 u.ö.) und sei angehalten, den Zorn durch den Erwerb der rechten inneren Disposition, einer inneren Größe, zu überwinden (vgl. dial. V,5,8; V,6). Mit Hilfe von Beispielen sowie der drastischen Darstellung der negativen Aspekte des Zorns versucht Seneca, den Leser dieser Haltung zuzuführen (vgl. dial. V,5,1–8).31 Gegen das Ausleben des Zorns empfiehlt er eine stufenweise zwischenmenschliche Zurechtweisung: Ita legum praesidem ciuitatisque rectorem decet, quam diu potest, uerbis et his mollioribus ingenia curare, ut facienda suadeat cupiditatemque honesti et aequi conciliet animis faciatque uitiorum odium, pretium uirtutum; transeat deinde ad tristiorem orationem, qua moneat adhuc et exprobret; nouissime ad poenas et has adhuc leues, reuocabiles decurrat; ultima supplicia sceleribus ultimis ponat, ut nemo pereat, nisi quem perire etiam pereuntis intersit (dial. III,6,3).32

Zudem solle der Mensch seinen Wandel kontinuierlich eingehend prüfen, denn Zorn sei besser kontrollierbar, wenn das Verhalten regelmäßig vor dem strengen Selbstgericht bestehen müsse (vgl. dial. V,36,1f.). Als Ziel der Erziehung betrachtet Seneca nicht Mäßigung, d.h. Zornkontrolle, sondern die vollständige Ausrottung des Zorns. Er wertet den voluntativen Aspekt der Affekte auf und stellt deren Kontrolle in die Selbstverantwortlichkeit des Menschen (vgl. dial. II,1,1; II,2,2).33 Sowohl bei Seneca (vgl. dial. IV,31,6; V,4,3 u.ö.) als auch bei Plutarch (vgl. Mor. 460 C u.ö.) werden Beispiele und Metaphern zur Illustration verwendet: Der zornige Mensch wird mit dem Tier gleichgesetzt, das innere Größe vermissen lässt Aggression, dass es den erfahrenen Zorn verarbeitet, es erfordert also Zornverarbeitung. Das Zornigsein erfordert andererseits vom potentiellen Aggressor die Bewältigung seiner aggressiven Impulse, also Zornbewältigung“ (a.a.O., 164). Zur stoischen Affektkontrolle bei Arius Didymus und Epiktet vgl. auch KRENTZ, PAQH and APAQEIA, 122–135; insbesondere zu Philodem und der Stoa vgl. B ÄUMER , Bestie Mensch, 41–71. 31 Zur Funktion und Verwendung von Paradeigma und Exempla in der Antike vgl. die umfangreiche Studie von PRICE, Paradeigma. 32 „In der Weise versucht der Gesetzeshüter und der Staatslenker – das ist angemessen – so lange wie möglich mit Worten, und zwar mit sanfteren, die Menschen zu heilen, daß er ihnen Pflichten nachzukommen rät und ihnen Verlangen nach dem Ehrenhaften und Gerechten nahelegt und Haß auf Charaktermängel in ihnen erweckt, aber Wertschätzung sittlicher Vollkommenheit; er gehe darauf [erst] zu ernsterer Rede über, mit der er noch immer mahne und Vorhaltungen mache; schließlich schreite er zur Bestrafung, und vorläufig noch zu leichter und widerrufbarer; die schlimmsten Strafen lege er auf die schlimmsten Verbrechen, so daß niemand stirbt außer dem, dessen Sterben auch in seinem eigenen Interesse liegt“ (lateinisch und deutsch zitiert nach ROSENBACH, Seneca. Philosophische Schriften). 33 Vgl. ausführlich BÄUMER, Bestie Mensch, 72–129.

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und ohne Kontrolle über seine Affekte handelt (vgl. Mor. 456 B; 457 B).34 Explizit rekurriert Seneca auf die Beziehung zwischen Zorn und Sprache z.B. in dial. V,6,1–7,2, wo die fehlende Kontrolle über die Zunge um die fehlende Kontrolle über den ganzen Körper ergänzt wird. In dial. V,14,1–6 führt Seneca das Beispiel eines Vaters an, der auch angesichts der Ermordung seines Sohns kein falsches Wort im Zorn spricht, und will damit aufzeigen, dass der Affekt des Zorns bezwingbar und die Zornkontrolle zudem als vernunftgesteuertes Handeln zu betrachten ist: Potest dici merito deuorasse uerba; nam si quid tamquam iratus dixisset, nihil tamquam pater facere potuisset (dial. V,14,5).35 Obgleich auch Plutarch den Affekten Positives abgewinnen kann, sieht er die Überwindung des Zorns im Sieg der Vernunft über den Affekt, wodurch er die Problematik der Affektkontrolle durch völlige Eliminierung aller Affekte zu umgehen sucht (vgl. Mor. 453 C; 451 D.E).36 Er geht direkt auf die Zornesäußerung durch Worte ein: Im Gegensatz zum Meer, das sich durch aufwühlende Wellen und das Auswerfen von Tang etc. reinigt, wird der Mensch durch hervorbrechende zornige und bittere Worte verunreinigt, da durch den Zorn die Unreinheit der Seele offensichtlich wird (vgl. Mor. 456 C.D). Aufgrund der negativen Wirkungen zorniger Sprache ermahnt Plutarch dazu, die Zunge zu zügeln (vgl. Mor. 456 D.E), denn die Kontrolle des Zorns muss eingeübt werden, das Ziel ist jedoch die Eliminierung des Affekts (vgl. Mor. 459 B). Da Zorn v.a. durch enttäuschte Erwartungen hervorgerufen wird, kann Zornkontrolle auch z.B. durch die Annahme eines anspruchslosen Lebenswandels erfolgen (evqiste,on ou=n to. sw/ma di’ euvtelei,aj pro.j euvkoli,an au;tarkej e`autw/| gino,menon\ oi` ga.r ovli,gwn deo,menoi pollw/n ouvk avpotugca,nousin, Mor. 461 C).37 Zugleich gilt: ta. ga.r e;rga kai. ta. kinh,mata kai. ta. sch,mata mikro,thta pollh.n kai.

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Vgl. KLEINKNECHT, Art. ovrgh, ktl, 383: Dadurch wird die naturhafte Dimension des Begriffs betont. Vgl. dazu z.B. BORMANN, Zur stoischen Affektenlehre, 79–102. 35 „Es kann gesagt werden, mit Recht habe er heruntergewürgt die Worte; denn wenn er etwas wie ein Erzürnter gesagt hatte – nicht hätte er wie ein Vater tun können“ (lateinisch und deutsch zitiert nach ROSENBACH, Seneca. Philosophische Schriften). Zur stoischen Affektenlehre vgl. HALBIG, Affektenlehre, 30–68, bes. 60–68; FORSCHNER, Stoische Ethik, 114–141; weiterhin VOGT, Theorie. 36 Vgl. BETZ/D ILLON, De Cohibenda Ira, 171f. Vgl. auch a.a.O., 179, zur unterschiedlichen Bewertung des Zorns bei Plutarch und im frühen Christentum: Während die frühchristliche Literatur aufgrund der Forderung der imitatio Dei dem Zorn in gewissen Situationen eine Berechtigung zuerkennet, wird er bei Plutarch vollständig verdammt. 37 Der griechische Text wird zitiert nach BABBITT, Plutarch’s Moralia. „Daher muß man den Körper durch einfache Kost an Mäßigkeit gewöhnen, auf daß er sich selbst genügend wird. Denn wer Weniges bedarf, dem schlägt selten Etwas fehl“ (zitiert nach W EISE/VOGEL, Plutarch. Moralia).

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avsqe,neian kathgorei/ (Mor. 456 F),38 d.h. das Ausleben des Zorns ist Anzeichen für einen geringen Selbstwert und die ungefestigte innere Haltung des Menschen. Daraus folgt, dass der Zorn und seine Äußerungen eine zu vermeidende innere Haltung offenbaren, die dem Ziel entgegenstehen, welches Plutarch in Mor. 459 B als die Zähmung und Unterdrückung aller irrationalen und obstinaten Elemente der Seele beschreibt. Plutarch betont, dass Menschen, die durch äußere Bedingungen wie Alter, Krankheit, Schwäche oder Hunger angefochten sind, eher zu Zorn neigen, als seelisch wie körperlich Gefestigte (vgl. Mor. 457 B.C).39 Nach Epiktet40 geht das rechte Verhalten auf die richtige Einstellung zurück (vgl. Ench. 21).41 Der Mensch muss immer aufmerksam sein und jede Situation bewusst bewerten, um jeweils den Umständen entsprechend und angemessen handeln zu können (vgl. Diatr. 3,2–15; vgl. auch Diatr. 1,2).42 Im Hinblick auf den Zorn empfiehlt Epiktet folgendes Vorgehen: eiv ou=n qe,leij mh. ei=nai ovrgi,loj( mh. tre,fe sou th.n e[xin( mhde.n auvth/| para,balle auvxhtiko,n) th.n prw,thn h``su,cason kai. ta.j h``me,raj avri,qmei a]j ouvk wvrgi,sqhj) „kaq’ h``me,ran eivw,qein ovrgi,zesqai( nu/n par’ h``me,ran( ei=ta para. du,o( ei=ta para. trei/j)“ a'n de.

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Zitiert nach B ABBITT, Plutarch’s Moralia. Hier wird der Topos aufgegriffen, dass die Taten und sprachlichen Äußerungen eines Menschen auf seinen Charakter schließen lassen. Plutarch konstatiert, dass das Handeln und Auftreten des Menschen, der seinen Zorn offen auslebt, auf dessen schwachen und ungefestigten Charakter schließen lässt: „denn eben die Werke, Bewegungen und Haltungen [des Zornigen] verrathen seine große Schwäche und sein kleinliches Wesen“ (zitiert nach WEISE/VOGEL, Plutarch. Moralia). 39 Vgl. W RIGHT, Plutarch on Moral Progress, 136–150. Ähnliche Beobachtungen lässt Seneca erkennen, vgl. dial. V,9,3–5. Dieser Aspekt ist für die Untersuchung neutestamentlicher Texte von besonderer Bedeutung, deren Adressaten ein ähnliches Verhalten abverlangt wird wie den Adressaten der philosophischen Abhandlungen des Aristoteles oder Senecas, deren Ethik auf die männlichen Angehörigen der Oberschicht ausgerichtet ist, vgl. VON GEMÜNDEN, Umgang mit Zorn, 171; vgl. B ETZ/DILLON, De Cohibenda Ira, 181–197. 40 Zur Aufzeichnung der Lehre Epiktets durch Arrian vgl. B ADIAN, Art. Arrianos, 28f.; INWOOD, Art. Epiktetos, 1123–1125, bes. 1124; vgl. auch ROSKAM , Path to virtue, 104; HOCK, By the Gods, 121–142, bes. 121–125; NGUYEN, Christian Identity, 78–91. 41 Diese innere Einstellung basiert auf der proai,resij, der erlernten oder anerzogenen Möglichkeit, die rechte Wahl im Hinblick auf das rechte Verhalten zu treffen. Der Erwerb dieser Wahlmöglichkeit besteht aus drei Schritten: der Eliminierung der Affekte, dem rechten, angemessenen Handeln sowie der Annahme der rechten Haltung, die ein stets angemessenes Verhalten ermöglicht. Vgl. dazu ASMIS, Choice, bes. 392–406. 42 Vgl. SCHNELLE, Paulus und Epiktet, 151f.; vgl. auch a.a.O., 152: „Selbsteinsicht, Selbstbeobachtung und vor allem ständige Übung sind somit unabdingbare Voraussetzungen für das Gelingen eines solch anspruchsvollen Unternehmens: ein authentisches Leben in Freiheit“. Vgl. auch G ILL, Stoic Theory, 121.

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kai. tria,konta parali,ph|j ( evpi,quson tw/| qew/|/) h`` ga.r e[xij evklu,etai th.n prw,thn( ei=ta kai. pantelw/j avnairei/tai (Diatr. 2,18,12–14).43

Die Erziehung zu rechtem Verhalten erfolgt durch Gewöhnung und Einübung (vgl. Diatr. 1,1,25; 2,16,27; 4,1,111),44 zudem wird das Vermeiden von Situationen empfohlen, die zu falschem Verhalten verleiten (vgl. z.B. Diatr. 2,18,14). Das Ziel der Erziehung liegt in der Eliminierung der Affekte.45 Epiktet führt als Beispiel der angemessenen Sprache und des kontrollierten Zorns Sokrates an, der sich niemals erregen ließ, niemals ein beleidigendes Wort sprach, sondern Beleidigungen hinnahm und dadurch Konflikte beendete (Diatr. 2,12,14). Gegenüber falschem Verhalten anderer soll der Mensch keinen Zorn oder Hass zeigen, denn der Grund ihres Verhaltens liegt darin, dass sie in Bezug auf die Frage von Gut und Böse auf Irrwege geraten sind (pepla,nhntai peri. avgaqw/n kai. kakw/n, Diatr. 1,18,3).46 Daher sind Sanftmut (Diatr. 3,20,9) und Mitleid, die zur Zurechtweisung des Nächsten und zu dessen Einsicht und Erkenntnis führen, die rechte Reaktion (Diatr. 1,18,3f.; vgl. 1,28,1–9). Die hellenistisch-jüdische Philosophie rezipiert weitgehend die Affektenlehre der Stoa. So rechnet Philo von Alexandrien den Zorn zu den Affekten, die der Mensch zu überwinden versuchen soll, und vertritt das stoische Ideal der avpa,qeia (vgl. Spec.Leg. 2,100–102; 3,131. 140; Prov. 1,56. 66).47 Er vergleicht die Affekte mit wilden Tieren, die die Seele zerreißen (vgl. Spec.Leg. 2,11). In der Verknüpfung stoischer und alttestamentlichjüdischer Traditionen betrachtet er Gott als avpaqh,j (vgl. Imm. 52. 59; Sacr. 95f.; Abr. 202),48 sein Konzept der o``moi,wsij qew/| impliziert die Übertragung dieser ethischen Norm auf den Menschen. Dabei spielt die Stellung des nou/j über den irrationalen Bereich der Seele eine bedeutende Rolle (vgl. Spec.Leg. 4,220).49 Der Weise wird alle Leidenschaften mit den irrationalen Seelenteilen eliminieren (vgl. Migr. 67) – als Vorbild dient die 43

Griechischer Text zitiert nach OLDFATHER, Epictetus; deutsche Übersetzung zitiert nach N ICKEL, Epiktet: „Wenn du also nicht jähzornig sein willst, nähre deine Veranlagung nicht und gib ihr nichts, was sie verstärken könnte. Am ersten Tag halte dich zurück und zähle dann die folgenden Tage, an denen du nicht in Jähzorn gerätst. ‚Jeden Tag pflegte ich zornig zu werden, dann nur noch jeden zweiten Tag, dann alle drei, […]‘. Wenn du aber dreißig Tage ohne Zorn überstanden hast, dann bringe Gott ein Dankopfer dar. Denn deine Veranlagung wird zuerst geschwächt und dann vollständig beseitigt“. 44 Vgl. SEVENSTER, Education, 252–254. 45 Vgl. SALLES, Epictetus, 249–263, bes. 261f. zur Therapie gegen den Zorn. Zum Ideal der Affektlosigkeit vgl. WEBER, Distanz, 335f. 46 Zitiert nach OLDFATHER, Epictetus. 47 Zur Mittlerposition Philos zwischen griechischer und jüdischer Ethik vgl. T SO, Ethics in the Qumran Community, 38–42. 48 Vgl. dazu VAN DER HORST, Philo of Alexandria, 128–133. 49 Vgl. dazu KWETA, Sprache, Erkennen und Schweigen, bes. 43–83.

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Kapitel 2. Der Zorn

Gestalt des Mose (vgl. Spec.Leg. 3,128–159), der den Zustand der avpa,qeia erreichte. Ihm gegenüber steht Aaron, der, wie alle Menschen, noch den Affekten unterworfen und damit erst auf dem Weg der Vervollkommnung ist.50 Gleichzeitig aber greift Philo auf die jüdisch-weisheitliche Tradition zurück, die die positive Bedeutung der Affekte anerkennt (vgl. Spec.Leg. 2,8) und dem Menschen das Streben nach Vervollkommnung anrechnet (vgl. Som. 2,234–236; Fug. 202. 213).51 Von Philo ist keine umfangreiche Abhandlung speziell über den Zorn erhalten,52 aber er rekurriert mehrfach explizit auf die Diskrepanz zwischen der Bedeutung und Funktion des (z.B. im Zorn) Gesagten, d.h. der Intention (dia,noia) des Sprechenden einerseits, und dem sprachlichen Ausdruck andererseits: fi,lwn de. avno,qw| kai. avkibdh,lw| crwme,nwn euvnoi,a | tou/tV evsti.n e;rgon evleuqerostomei/n a;neu tou/ kakonoei/n. mhde.n ou=n mh,te tw/n eivj euvlogi,aj kai. euvca.j mh,te tw/n eivj blasfhmi,aj kai. kata,raj evpi. ta.j evn profora/| diexo,douj avnafere,sqw ma/l lon h' dia,noian( avfV h-j w[sper avpo. phgh/j e`ka,teron ei=doj tw/n lecqe,ntwn dokima,zetai (Migr. 116f.).53

Philo hebt die Bedeutung der Sanftmut54 der gegenseitigen Zurechtweisung hervor und führt sprachliche Aussagen auf die innere Disposition des Sprechenden zurück, die auf die Intention des Sprechens verweist. Im Alten Testament wird vorwiegend der Zorn Gottes thematisiert, der mit den Termini !Arx', @a;/@n:a' und ~[;z: beschrieben wird; @c,q, und hr'b.[, sowie @a;, hm'xe und @[;z: können für göttlichen wie menschlichen Zorn stehen, wobei der Zorn in seiner zwischenmenschlichen Dimension entweder als heiliger, gerechter Zorn gegenüber den Mitmenschen bzw. gesellschaftlichen oder sozialen Missständen beschrieben wird55 oder als Reaktion eines in seinem Rechtsanspruch verletzten Menschen, denn die Ursache des Affekts wird primär in Frustration und verletztem Stolz gesucht.56 Im alttes50

Vgl. WINSTON, Philo of Alexandria, 207–211. Vgl. W INSTON, Philo of Alexandria, 212; vgl. zu Philo auch K LEINKNECHT, Art. ovrgh, ktl, 382–392; ALMQVIST, Plutarch, 131. 52 Aus Spec.Leg. 3,319 lässt sich schließen, dass Philo evtl. eine Abhandlung über den Zorn verfasst hat, die jedoch nicht erhalten ist; vgl. W INSTON, Philo of Alexandria, 201. 53 Der griechische Text wird hier und im Folgenden zitiert nach COLSON/W HITAKER, Philo; „es ist aber gerade die Pflicht derer, die lautere und ehrliche Freundschaft pflegen wollen, offen sich auszusprechen, ohne üble Gesinnung. Daher sollen bei allem, was zum Segen oder zum guten Wunsch, zum Tadel oder zum Fluch gehört, nicht sowohl die vorgetragenen Äußerungen gewertet werden, als vielmehr die unausgesprochenen Gedanken; von dort aus kann, wie von einer reinen Quelle, jede der beiden Arten von Aussprüchen recht beurteilt werden“ (zitiert nach P OSNER, Abrahams Wanderung). 54 Vgl. Philo, Vit.Mos. 1,26; 2,279; Op. 103; Conf. 165; Spec.Leg. 1,145; vgl. auch Josephus, AJ 19,334; JosAs 23,10; vgl. dazu HAUCK/SCHULZ, Art. prau