Sprache Und Kommunikation (Enzyklopadisches Handbuch Der Behindertenpadagogik, 8) 9783170196377, 3170196375

In diesem Band des Enzyklopadischen Handbuchs wird zum ersten Mal im deutschen Sprachraum ubergeordnet zu klassischen so

118 60 184MB

German Pages 718 Year 2012

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Sprache Und Kommunikation (Enzyklopadisches Handbuch Der Behindertenpadagogik, 8)
 9783170196377, 3170196375

Table of contents :
Titel
Inhaltsverzeichnis
Vorwort der Gesamtherausgeber
Einleitung und Fachsystematik
Geschichte
I Relationen der Sprache
Behinderung und Vulnerabilität
Norm und Differenz
Person und Sprache
Intersubjektivität und Kommunikation
II Sprachwissenschaftliche Gegenstandsdimensionen
Zeichen und Semiose
Sprache und Wahrnehmung
Sprache und Sprechen
Kognition und Emotion
Sprache und Gehirn
Spracherwerb und Sprachverlust
Hören und Sprechen
Lesen und Schreiben
Sehen und Gebärden
III Beeinträchtigungen der Sprache
Klassifikation
Entwicklungsbedingte Sprachstörungen
Psychoreaktive Redestörungen
Aussprachestörungen
Hörstörungen
Stimmstörungen
Neurologische Sprach- und Sprechstörungen
Schluckstörungen
Beeinträchtigung der Lesefähigkeit
IV Fachpraktische Reflexionsebenen
Professionalisierung
Unterrichts- und Therapieforschung
Qualitätsentwicklung
V Zentrale Kategorien der Sprachdidaktik
Sprachdidaktiktheorie
Bildung und Erziehung
Lehren und Lernen
Frühe Kommunikation
Prävention
Frühdiagnostik
Interdisziplinäre Diagnostik
Unterricht
Sprachtherapie
Medien
Beratung
Unterstützte Kommunikation
Institutionen
VI Unterricht, Therapie und Förderung
Interkulturalität und Mehrsprachigkeit
Deutsch
Deutsch als Zweitsprache
Frühenglisch
Sachunterricht
Ästhetische Kommunikation
Musiktherapie
Psychomotorik
VII Übergänge zwischen den Förderschwerpunkten
Förderschwerpunkt Hören
Förderschwerpunkt Lernen
Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung
Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung
Förderschwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung
Sachregister
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
Unbenannt
Unbenannt

Citation preview

Behinderung, Bildung, Partizipation Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik Herausgegeben von Iris Beck, Georg Feuser, Wolfgang Jantzen, Peter Wachtel Gesamtherausgeber: Wolfgang Jantzen Band 8

Otto Braun & Ulrike Lüdtke (Hrsg.)

Sprache und Kommunikation

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außer­ halb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und straf­ bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung in elektronische Systeme. Alle Rechte vorbehalten © 2012 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany ISBN 978-3-17-019637-7

Vorwort der Gesamtherausgeber

Das Enzyklopädische Handbuch der Behin­ dertenpädagogik „Behinderung, Bildung, Par­ tizipation“ ist ein Lexikon in Stichwörtern, die jedoch nicht alphabetisch, sondern thema­ tisch in 10 Bänden strukturiert wurden. Ins­ gesamt wurden ca. 20 Haupt-, 100 mittlere und 300 kleine Stichwörter erarbeitet. Sie su­ chen zum einen in ihrer Gesamtheit einen Zu­ sammenhang des Fachwissens herzustellen, in dem jedes Stichwort und zugleich jeder Band verortet ist. Zum anderen aber bilden die Ein­ zelbände aufeinander bezogene thematische Einheiten. Somit ist das Gesamtwerk in zwei Richtungen lesbar und muss zugleich auch so gelesen werden: als Bestand aufeinander ver­ weisender zentraler Begriffe des Fachs zum ei­ nen und als thematischer Zusammenhang in den Einzelbänden zum anderen, der aber je­ weils auf die weiteren Bände verweist und mit ihnen in engstem Zusammenhang steht. Dem­ entsprechend wurden Verweise sowohl inner­ halb der Einzelbände als auch zwischen den Bänden vorgenommen, wobei einzelne Über­ schneidungen unvermeidbar waren. Der Anspruch, das Gesamtgebiet der Be­ hindertenpädagogik darzustellen, kann an­ gesichts der Differenzierung und Speziali­ sierung der Einzelgebiete und ihrer schon je komplexen Wissensbestände nicht ohne Ein­ schränkung vorgenommen werden. So ging es uns nicht darum, diese Komplexität al­ ler Theorien, Methoden, Handlungsansätze und Einzelprobleme in Theorie und Praxis einzufangen, sondern den Wirklichkeits- als Gegenstandsbereich der wissenschaftlichen Behindertenpädagogik hinsichtlich seiner konstitutiven Begriffe, Aufgaben und Pro­ blemstellungen zu erfassen. Dabei sollte der grundlegende, auf aktuellen Wissensbestän­ den beruhende und der zugleich erwartbar zukunftsträchtige nationale und internatio­ nale Forschungs- und Entwicklungstand im Sinne einer synthetischen Human- und So­

zialwissenschaft berücksichtigt werden. Re­ flexives Wissen bereit zu stellen ist also die wesentliche Intention. Dies gelingt nur, wenn aus anderen Wissenschaften resultierende Forschungsstände und Erkenntnisse mög­ lichst breit und grundlegend verfügbar ge­ macht werden. Aufgrund der komplexen bio­ psychosozialen Zusammenhänge sowohl von Behinderung als auch von Persönlichkeits­ entwicklung und Sozialisation müssen das gesamte humanwissenschaftliche Spektrum Berücksichtigung finden und insbesonde­ re Philosophie, Psychologie und Soziologie, aber auch Medizin und Neurowissenschaften einbezogen werden. Gerade der neurowissen­ schaftliche Bezug, der selbstverständlich äu­ ßerst kritisch betrachtet wird, ist notwendig, um gegen neue Formen der Biologisierung die entsprechenden Argumente für Vielfalt und Differenz auf jeder Wissenschaftsebene, also auch auf der neurowissenschaftlichen, in die Debatte führen zu können. Vorrangig mit Blick auf die disziplinäre Verortung ist jedoch die Erziehungswissenschaft, Behindertenpä­ dagogik ist eines ihrer Teilgebiete. Für die Konzeption ist ein Bildungsver­ ständnis tragend, das Bildung als Möglich­ keit zur selbst bestimmten Lebensführung, zur umfassenden Persönlichkeitsentwick­ lung und gesellschaftlichen Teilhabe be­ trachtet; mit Wolfgang Klafki: Entwicklung der Fähigkeiten zur Selbstbestimmung, Mit­ bestimmung und Solidarität, entwicklungs­ psychologisch mit Wolfgang Stegemann als Entwicklung auf höheres und auf höherem Niveau. Die erziehungswissenschaftliche Be­ gründung von Bildungs- und Erziehungszie­ len muss über gesellschaftliche Erwartungen, wie sie sich in Forderungen nach einem Wis­ senskanon als Zurüstung auf die berufliche Eingliederung niederschlagen können, not­ wendigerweise hinausreichen und die Lebens­ bewältigung insgesamt umfassen. Bildung

6 

Vorwort der Gesamtherausgeber

und Erziehung eröffnen Optionen für die Le­ bensgestaltung, und das bedeutet, die eigene Identität nicht nur schicksalhaft oder einzig von außen determiniert zu erleben, sondern auch über Möglichkeiten der Selbstverwirkli­ chung und der Auswahl von Handlungsmög­ lichkeiten zu verfügen, Zwänge und Grenzen ebenso wie Handlungs- und Veränderungs­ möglichkeiten erkennen und nutzen zu kön­ nen. Nicht in jedem Fall, in dem diese Mög­ lichkeiten nicht per se aufscheinen, ist diese Problematik begrifflich quasi automatisch mit Behinderung zu fassen. Umgekehrt heißt Bildung aber auch, solche Strukturen und Prozesse zu gestalten, die „Bildung für alle, im Medium des Allgemeinen“, unabhängig von Kriterien, ermöglichen. Behinderungen im pädagogischen Sinn liegen dort vor, wo die Teilhabe an Bildung und Erziehung gefährdet oder erschwert ist oder wo Ausgrenzungspro­ zesse drohen oder erfolgt sind, und zwar auf­ grund eines Wechselspiels individueller, so­ zialer und ökonomischer Bedingungen. Hier tritt die Frage der Ermöglichung von Partizi­ pation in den Vordergrund. „Wo Menschen aus ihren Lebenszusammenhängen herausge­ stoßen werden, da wird lernender und wissen­ der Umgang mit bedrohter und gebrochener Identität zur Lebensfrage“ (Oskar Negt) und ebenso die Ermöglichung von Lebenschan­ cen. Damit werden zugleich eine Abgrenzung zu sozial- oder bildungsrechtlichen Definitio­ nen und eine weite Begriffsbestimmung von Behinderung vorgenommen, im Bewusstsein der Problematik, die diese mit sich bringt. Doch fasst auch der schulrechtliche Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs, der wiederum nur partiell deckungsgleich mit dem sozialrechtlichen Behinderungsbegriff ist, äußerst heterogene, darunter auch rein sozial bedingte Benachteiligungsprozesse zu­ sammen. Pädagogik heißt für uns somit auch nicht einseitige und ständige Förderung. Emil E. Kobi hat dies in der Gegenüberstellung ei­ ner ,Pädagogik des Bewerkstelligens‘, der es immer um den Fortschritt geht, die sich nur auf den Defekt richtet und das So-Sein nicht anzuerkennen in der Lage ist, und einer ‚Pä­

dagogik der Daseinsgestaltung‘ beschrieben, die anerkannte Lebensbedingungen zwischen gleichberechtigten und als gleichwertig aner­ kannten Subjekten und eine befriedigende Le­ bensführung auch bei fortbestehenden Beein­ trächtigungen zu schaffen vermag. In diesem pädagogischen Verständnis von Behinderung liegt eine Begründung für die Beibehaltung des Begriffes der Behindertenpädagogik. Wir respektieren Benennungen wie Förder-, Reha­ bilitations-, Sonder-, Heil-, Integrations- und Inklusionspädagogik; der Begriff der Behin­ derung hebt jedoch wie kein anderer nicht nur die intransitive Sicht des behindert Seins, sondern auch die transitive Sicht des behin­ dert Werdens hervor und lässt sich pädago­ gisch sinnvoll begründen. Ebenso entgeht er Verengungen mit Blick auf den Gegenstands­ bereich; behindertenpädagogisches Handeln greift weit über den Bereich der institutiona­ lisierten Erziehung und Bildung hinaus und findet lebensphasen- und lebensbereichsüber­ greifend statt; auch innerhalb des schulischen Bereiches ist das Handeln weitaus vielfältiger als allein unterrichtsbezogene Tätigkeiten; gleichwohl bleiben diese prominente Aufga­ ben. Behindertenpädagogik, in diesem weiten Sinne intransitiv verstanden, ist zwar einer­ seits Teilgebiet der Erziehungswissenschaft, andererseits trägt sie in transitiver Hinsicht zu deren Grundlagen bei. Denn behindert werden und eingeschränkt zu sein sind all­ täglich und schlagen sich keineswegs nur in der sozialen Zuschreibung von Behinderung nieder. Entgegen der noch vorfindbaren Glie­ derung nach Arten von Beeinträchtigun­ gen bzw. schulischen Förderschwerpunkten und einer institutionellen Orientierung ist für uns ein an den Lebenslagen und an der Lebenswirklichkeit der Adressaten von Bil­ dungs- und Erziehungsangeboten orientier­ tes Verständnis pädagogischen Handelns lei­ tend. Diese Perspektive auf den individuellen Bedarf an Unterstützung für eine möglichst selbst bestimmte Lebensführung ist der Be­ zugspunkt der personalen Orientierung, aber dieser Bedarf impliziert immer auch den Be­ darf an Überwindung der sozialen Folgen,



Vorwort der Gesamtherausgeber   7

also der behindernden Bedingungen des Um­ feldes. Traditionell wird der Lebenslauf- und Lebenslagenbezug der Pädagogik durch die Gegenstandsbezeichnungen der einzelnen Teildisziplinen angezeigt (Pädagogik, Andra­ gogik, Geragogik einerseits; Sozial-, Berufs-, Freizeitpädagogik usw. andererseits). Hiermit können aber auch Abgrenzungen und Ab­ schottungen einhergehen, so dass der Bezug zur Lebenslage als Ganzer und zum Lebens­ lauf in seiner biographischen Gewordenheit verloren geht. Lebenslagen- und Lebenslauf­ orientierung stellen demgegenüber die not­ wendige Gesamtsicht her, die allerdings in ihrer Bezugnahme auf die Chancen und Grenzen selbstbestimmter Lebensführung einer Pädagogisierung im Sinne der andau­ ernden intentionalen Erziehung entgehen muss. Sie hebt die spezifischen Gegenstands­ bestimmungen und Handlungskonzepte der erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen nicht auf, sondern wird als konzeptionelle und methodische Leitperspektive tragend. Ebenso hat jedes Verständnis von individueller Teil­ habe- und Bildungsplanung die Deutungsho­ heit der auf Unterstützung und pädagogisches Handeln angewiesenen Menschen zu respek­ tieren und zentral von politischer Mitwir­ kung und der Gewährleistung der Menschenund Bürgerrechte auszugehen. Dies verlangt die Demokratisierung und Humanisierung der Handlungsprozesse und Strukturen in Theorie und Praxis sowie die Auseinander­ setzung mit Ethik, Moral und Professiona­ lität. Die aus diesem Verständnis von Bildung, Behinderung und Partizipation resultieren­ den Fragen lassen sich zusammenfassen in die nach dem Verhältnis von Ausschluss und Anerkennung, Vielfalt und Differenz, Indivi­ duum und Gesellschaft, Entwicklung und So­ zialisation, System und Lebenswelt, Instituti­ on und Organisation, über die Lebensspanne hinweg und immer bezogen auf die Grund­ frage nach Bildung und Partizipation ange­ sichts behindernder Bedingungen. Von diesen Grundgedanken ausgehend wurde die Konzeption und Anlage der Stich­

wörter von Iris Beck und Wolfgang Jant­ zen erarbeitet und dann durch das Team der Bandherausgeber kritisch überprüft und er­ gänzt. Es ergibt sich folgende Gesamtanlage: die Bände 1 und 2 dienen der wissenschaftli­ chen Konstitutionsproblematik mit Blick auf die wissenschaftstheoretische Begründung des Fachs einschließlich der erziehungswis­ senschaftlichen Verortung und dem Verhält­ nis von Behinderung und Anerkennung. Die Bände  3 bis 6 repräsentieren Aufgaben und Probleme der Bildung und Erziehung im Le­ benslauf mit den Kernfragen nach Bildung, Erziehung, Didaktik und Unterricht zum ei­ nen, Lebensbewältigung und gleichberechtig­ ter Teilhabe am Leben in der Gemeinde zum anderen. Die Bände  7 bis 10 behandeln Ent­ wicklung und Lernen, Sprache und Kommu­ nikation, Sinne, Körper und Bewegung so­ wie Emotion und Persönlichkeit. Sie stellen grundlegende pädagogische Auseinanderset­ zungen über Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisation angesichts behindernder und be­ nachteiligender Bedingungen dar, und zwar in übergreifender Sicht, die zugleich die not­ wendigen speziellen und spezifischen As­ pekte zur Geltung bringt. Allgemeines und Besonderes sind insgesamt, über alle Bän­ de hinweg, vielfach aufeinander bezogen und haben gleichsam ihre Bewegung anein­ ander. Dort, wo sich gemeinsame Proble­ me quer zu speziellen Gebieten stellen, sind diese auch allgemein und mit der Absicht der Grundlegung behandelt, auch um Re­ dundanzen zu vermeiden. Dort, wo ohne Spe­ zifizierung zu grobe Verallgemeinerungen und damit unzulässige Reduktionen erfolgt wären, sind die Besonderheiten aufgenom­ men. Angesichts der zahlreichen Publika­ tionen, die spezielle und spezifische Fragen en detail und mit Blick auf Einzelproble­ me behandeln, ist diese Entscheidung auch vor dem Hintergrund einer ansonsten nicht zu gewährleistenden Systematik getroffen worden. Wir sind uns bewusst, dass dieser Versuch der Systematik nicht ohne Lücken, Wider­ sprüche und Redundanzen auskommt. Die

8 

Vorwort der Gesamtherausgeber

allfällige Kritik hieran verstehen wir im Sinne des „Runden Tisches“, als den wir die Zusam­ menarbeit unter den Herausgebern und Auto­ ren verstehen, als Motivation zu neuen Fragen und neuer Forschung.

Wir danken allen Bandherausgebern und Autoren für ihre konstruktive Arbeit, die in Zeiten der Arbeitsverdichtung und Effizienz­ steigerung nicht mehr selbstverständlich er­ wartet werden kann. Iris Beck Georg Feuser Wolfgang Jantzen Peter Wachtel

Inhaltsverzeichnis

Einleitung und Fachsystematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Geschichte (Otto Braun). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

I  Relationen der Sprache Behinderung und Vulnerabilität (Julia Kristeva & Charles Gardou) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norm und Differenz (Jürgen Jaspers). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Person und Sprache (Ulrike Lüdtke). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intersubjektivität und Kommunikation (Colwyn Trevarthen). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39 49 60 82

II  Sprachwissenschaftliche Gegenstandsdimensionen Zeichen und Semiose (Winfried Nöth). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache und Wahrnehmung (Horst Ruthrof ). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache und Sprechen (Edda Weigand). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognition und Emotion (Ad Foolen, Ulrike Lüdtke & Monika Schwarz-Friesel). . . . . . . . Sprache und Gehirn (Eckart Rupp). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spracherwerb und Sprachverlust (Christina Kauschke, Walter Huber & Frank Dohmas). Hören und Sprechen (Anja Fiori, Dirk Deuster & Antoinette G. am Zehnhoff-Dinnesen). Lesen und Schreiben (Claudia Osburg & Renate Valtin). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sehen und Gebärden (Horst Ebbinghaus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161 177 202 213 230 246 277 290 305

III  Beeinträchtigungen der Sprache Klassifikation (Roswitha Romonath) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungsbedingte Sprachstörungen (Iris Füssenich). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychoreaktive Redestörungen (Katja Subellok & Nitza Katz-Bernstein). . . . . . . . . . . . . . Aussprachestörungen (Anja Fiori & Antoinette G. am Zehnhoff-Dinnesen). . . . . . . . . . . . Hörstörungen (Anja Fiori & Antoinette G. am Zehnhoff-Dinnesen). . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stimmstörungen (Anja Fiori & Dirk Deuster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurologische Sprach- und Sprechstörungen (Ernst G. de Langen). . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schluckstörungen (Eva Ojeda). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beeinträchtigungen der Lesefähigkeit (Barbara Bental). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

321 331 338 347 364 378 390 397 419

IV  Fachpraktische Reflexionsebenen Professionalisierung (Alfons Welling). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterrichts- und Therapieforschung (Christian W. Glück) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätsentwicklung (Barbara Giel). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

427 433 442

10 

Inhaltsverzeichnis

V  Zentrale Kategorien der Sprachdidaktik Sprachdidaktiktheorie (Ulrike Lüdtke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildung und Erziehung (Ulrich von Knebel). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lehren und Lernen (Reiner Bahr). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frühe Kommunikation (Erwin Breitenbach). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention (Waldemar von Suchodeletz). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frühdiagnostik (Hildegard Heidtmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interdisziplinäre Diagnostik (Ulrich von Knebel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterricht (Heiko Seiffert). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachtherapie (Nitza Katz-Bernstein & Katja Subellok) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medien (Gregor Dupuis). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beratung (Claudia Iven & Bernd Hansen). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterstützte Kommunikation (Gregor Dupuis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Institutionen (Gerhard Homburg). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

449 492 497 503 507 515 523 529 536 542 550 556 564

VI  Unterricht, Therapie und Förderung Interkulturalität und Mehrsprachigkeit (Annette Kracht). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch (Brigitte Ernst, Angela Cornelissen & Anke Thummes). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch als Zweitsprache (Karla Röhner-Münch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frühenglisch (Anja Blume & Karla Röhner-Münch). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachunterricht (Hildegard Mönter). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetische Kommunikation (Elfi Quieram-Jurkiewicz & Christel Rittmeyer). . . . . . . . . . Musiktherapie (Benjamin Schögler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychomotorik (Birgit Lütje-Klose). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

577 582 588 596 603 608 623 630

VII  Übergänge zwischen den Förderschwerpunkten Förderschwerpunkt Hören (Klaus-B. Günther) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Förderschwerpunkt Lernen (Birgit Lütje-Klose). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung (Clemens Hillenbrand). . . . . . Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung (Bodo Frank & Ulrike Lüdtke) . . . . . . . . . . . . . Förderschwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung (Helen Marwick). . . . . . .

639 646 653 658 680

Sachregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

689

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

710

   Einleitung und Fachsystematik

Einleitung und Fachsystematik

Als Herausgeber freuen wir uns, mit „Sprache und Kommunikation“ den achten Band des „Enzyklopädischen Handbuches der Behin­ dertenpädagogik“ vorlegen zu können. Zum ersten Male im deutschen Sprachraum wird hier übergeordnet zu klassischen sonderpäd­ agogischen Fachrichtungen eine umfassende Gesamtdarstellung zentraler Theorien, Kon­ zeptansätze und Inhalte der Bereiche Sprache und Kommunikation mitsamt ihren anwen­ dungsorientierten Fragestellungen präsentiert. Diese reichen vom Laut- und Schriftsprach­ erwerb über Gebärdensprache und Unter­ stützte Kommunikation bis hin zu Mehrspra­ chigkeit und Deutsch als Zweitsprache (DaZ). Dank der gemeinsamen Bemühungen von mehr als 50 nationalen und internationalen Fachexperten der Semiotik, Linguistik, Neu­ rowissenschaften, Entwicklungspsychologie, Phoniatrie und Pädaudiologie sowie Fach­ vertretern der Allgemeinen Schulpädagogik, Sprachdidaktik, der spezifischen Sprachheil­ pädagogik sowie Diagnostik und Sprachthe­ rapie, einen komprimierten Überblick über den aktuellen Stand des Wissens, der For­ schung und wegweisender Innovationen zu geben, repräsentiert dieses Buch die Breite, Tiefe und Pluralität, die unserem fachlichen Gegenstand und vor allem den beteiligten Personen in den vielfältigen pädagogisch-the­ rapeutischen Aufgabenbereichen gebührt.

Einordnung in Fachgeschichte Dieser Band „Sprache und Kommunikation“ erscheint ca. drei Jahrzehnte nach den lange Zeit wegweisenden Publikationen „Pädago­ gik der Sprachbehinderten“ (1980) von Gerda Knura und Berthold Neumann – dem siebten Band des damaligen „Handbuchs der Sonder­

pädagogik“ – sowie dem „Lehrbuch der Lo­ gopädie“ (1971) von Klaus-Peter Becker und Miloŝ Sovák. In Anbindung, Würdigung und Fortführung dieser Fachsystematiken der ehe­ maligen BRD und DDR werden die theoreti­ schen, konzeptuellen, terminologischen und anwendungsbezogenen Veränderungen, Re­ formen, Neuerungen und Weiterentwicklun­ gen reflektiert, welche die Sonderpädagogik und ihre wissenschaftstheoretischen Bezugs­ größen insgesamt, aber auch speziell die Sprachbehindertenpädagogik und ihre Nach­ bar- und Bezugsdisziplinen seitdem durchlau­ fen haben. Die heutige Zeit ist geprägt von Postmo­ derne und Globalisierung, von PISA-Schock und Ökonomisierung von Bildung und Ge­ sundheit, von Phasen des intensives Strebens nach gesellschaftlicher Integration und Par­ tizipation behinderter oder beeinträchtigter Menschen, in denen zugleich eine Desintegra­ tion des klassischen institutionellen Gefüges sonderschulischer und klinischer Versorgung um sich greift. Dieser Heterogenität und den damit verbundenen fachlichen Herausforde­ rungen muss Rechnung getragen werden, in­ dem spezifische Schwerpunktsetzungen auf pädagogische oder medizinisch-rehabilitative Zugangsweisen überwunden und integriert werden. Eine dem entsprechende zeitgemäße und nachhaltige Perspektive sehen wir zum einen in einer stärkeren Fokussierung des inhalt­ lichen Kerns unseres Faches: dem zentralen Gegenstand „Sprache und Kommunikation“, der deshalb im ersten Teil dieses Bandes um­ fassend und interdisziplinär beleuchtet wird. Zum anderen plädieren wir aus dieser Veran­ kerung heraus für eine disziplinäre Öffnung, so dass sich die bisherigen fachlichen Grenzen ausweiten und überschritten werden können. Ziel dieser Herausgabe, die sich an Studie­ rende, Praktiker und Wissenschaftler zu­

14 

Einleitung und Fachsystematik

gleich wendet, ist daher, eine möglichst um­fassende, aktuelle und fachrichtungsüber­ greifende Darstellung des Kenntnisstandes von Sprache und Kommunikation zu geben, die gegenwärtigen Möglichkeiten der da­ mit verbundenen pädagogisch-therapeuti­ schen Aufgabenstellungen zu umreißen und zu weiterführenden, konstruktiven und zu­ kunftsfähigen Überlegungen, Forschungen, Konzeptbildungen und Praxisideen anzure­ gen.

Entstehungsgeschichte Die Generierung der Schlüsselbegriffe, die Klä­ rung kontroverser terminologischer Grund­ satzfragen und die allmähliche Entwicklung einer Fachsystematik war ein langer und kon­ struktiver wissenschaftlicher Werdeprozess, der sich über mehrere Jahre erstreckte und auf einer anregenden Gesamtkonferenz in der Universität Hamburg im Februar 2007 mit den Herausgebern und den Autorinnen und Auto­ ren der anderen neun Bände des Enzyklopädi­ schen Handbuchs der Behindertenpädagogik abschließend diskutiert wurde. Grundlage bildete zunächst eine Stich­ wortrecherche in klassischen und aktuellen Standardwerken wie z. B. dem „Lehrbuch der Logopädie“ (Becker & Sovák 1979), der „Päda­ gogik der Sprachbehinderten“ (Knura & Neu­ mann 1982), „Language – the Unknown: An Initiation into Linguistics“ (Kristeva 1989), den „Grundlagen der Soziolinguistik“ (Ditt­ mar 1997), „The Cambridge Encyclopaedia of Language“ (Crystal 1997), dem „Handbuch der Semiotik“ (Nöth 2000), „An Introduc­ tion to Language“ (Fromkin et al. 2003), dem „Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Lo­ gopädie“ (Grohnfeldt 2000–2005), der „Ency­ clopedia of Language and Linguistics“ (Brown 2006) und dem „Lexikon der Sprachtherapie“ (Grohnfeldt 2007). Um größtmögliche Aktu­ alität zu gewährleisten, wurde parallel nach innovativen Termini, Themen und Trends

in den aktuellen Auflagen u. a. von „Sprach­ heilarbeit“, „Sprache-Stimme-Gehör“, „Neu­ rolinguistik“, „L.O.G.O.S Interdisziplinär“, der „Zeitschrift für Heilpädagogik“ und den Zeitschriften der ASHA (American Speech and Hearing Association), wie z. B. „Journal of Speech, Language, and Hearing Research“ und „Language, Speech, and Hearing Services in Schools“, recherchiert und mit dem gewon­ nenen Stichwort-Pool eine Themen-Cluste­ rung durchgeführt. Anschließend wurde versucht, auch die vielfach impliziten Kriterien der jeweiligen Autoren bzw. Herausgeber retrospektiv nach­ zuvollziehen und aus unserer Perspektive ein­ zuordnen. In Crystals „Cambridge Encyclopa­ edia of Language“ überzeugte beispielsweise die Darstellung des Phänomens Sprache in Form von komplementären Dimensionen  – z. B. „signing and seeing“ oder „speaking and listening“ – und die daraus resultieren­ de interdisziplinär-deskriptive Gesamtanlage. Und in Knura & Neumanns „Pädagogik der Sprachbehinderten“ beeindruckte die kon­ sequente Subjektorientierung am damaligen „Sprachbehinderten“ sowie die Gewichtung der Fachdidaktiken für die unterrichtliche Sprachförderung und die offene Einbeziehung der Perspektiven der anderen sonderpädago­ gischen Fachrichtungen, wie z. B. der klassi­ schen Lernbehinderten-, Geistigbehinderten-, Schwerhörigen- und Verhaltensgestörtenpä­ dagogik. Beide Vorbilder wurden neben vie­ len Anregungen aus anderen Werken über­ nommen. Diese Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Denkweisen und Fachsys­ tematiken unterstützte die Reflexion und Er­ arbeitung eigener Kriterien und Intentionen, die letztlich zur vorgenommenen StichwortFormulierung und -Hierarchisierung geführt hat. Das breite Spektrum der Autorinnen und Autoren, die hier ihr Wissen, ihren Erfah­ rungsschatz, ihr Engagement, auch ihre Ziele, Überzeugungen und Visionen unterbreiten, entspricht dabei der pluralen, interdiszipli­ nären Gesamtkonzeption: Es war unsere Ab­ sicht, international renommierte Forscher,



Struktur der Fachsystematik   15

innovative Nachwuchswissenschaftler und Fachexperten aus den Führungsebenen von Schulverwaltung, Studienseminaren und Be­ rufsverbänden um den gemeinsamen fachli­ chen Gegenstand zu versammeln und nach Möglichkeit gedanklich zu vernetzen.

Struktur der Fachsystematik Dieses Handbuch repräsentiert nicht nur viel­ fältigste Fachinformationen in verdichteter Form, sondern spiegelt auch durch Auswahl der mehr als 50 Schwerpunktthemen und de­ ren Systematik eine Reihe von wesentlichen Positionen und Überzeugungen der Heraus­ geber und Mitarbeiter wider. Ganz bewusst wurde auf die breite und ex­ plizite Darstellung von Störungsbildern so­ wie ihrer Diagnostik und Therapie verzich­ tet, da zu allen drei Themenbereichen bereits eine Reihe hervorragender Lehrbücher und Lexika existieren. Der hier verfolgte implizi­ te, quer liegende Zugang hat dafür die Mög­ lichkeit gegeben, den theoretischen Grund­ lagen von Sprache und Kommunikation den Raum einzuräumen, der für ein detailliertes und tiefes Verständnis der pädagogisch-the­ rapeutischen Anwendungsbezüge unverzicht­ bar ist und zugleich neben der derzeitigen zu­ nehmenden Fokussierung der individuellen Sprachtherapie in hoch-spezifischen, zeitlich begrenzten Einzel- und Kleingruppensettings auch der Bedeutsamkeit des sprachtherapeu­ tischen Unterrichts und damit der kommuni­ kativ-andauernden Gruppen- und Lebenssi­ tuationen wieder Gewicht zu geben. Oberstes Ziel bestand darin, im Sinne der gesamten Enzyklopädie eine Fachsystematik Sprache und Kommunikation mit einer grundsätzlich humanwissenschaftlichen Ori­ entierung vorzulegen (vgl. Abb. 1). Vor dem Hintergrund der Reflexion der fachlichen Geschichte belegen die beiden umfangreichen Leitbegriffe die Intention, vom ganzheit­ lichen kommunikativen Gesamtphänomen

ausgehend die einzelnen fachlichen Facetten nach und nach aufzufächern, und dement­ sprechend zuallererst in den vier Hauptstich­ wörtern die Innen- wie die Außendimension der Relationen der Sprache (I) wie z. B. das Verhältnis von „Person und Sprache“, „Inter­ subjektivität und Kommunikation“, „Behin­ derung und Vulnerabilität“ oder „Norm und Differenz“ als fachliche Ursprungskategorien zu beleuchten. Darauf basierend werden in den neun mittleren Stichwörtern wesentliche komple­ mentäre und sich ergänzende Sprachwissenschaftliche Gegenstandsdimensionen (II) des Phänomens Sprache wie z. B. „Zeichen und Semiose“, „Sprache und Gehirn“, „Kogni­ tion und Emotion“, „Sprachentwicklung und Sprachabbau“ oder „Sehen und Gebärden“ entwickelt. Die theoretischen Übersichten zeugen je von einem wertfrei-deskriptiven fachwissenschaftlichen Zugang und zeigen unsere Betonung eines zutiefst interdiszip­ linären Zugangs und eines pluralen Diskur­ ses ohne ideologische Ausgrenzungen oder schulbildende Einseitigkeit. Die sich in den kleinen Stichwörtern an­ schließende Darstellung Beeinträchtigungen der Sprache (III) wie z. B. „Entwicklungsbe­ dingte Sprachstörungen“, „Psychoreaktive Redestörungen“, „Stimm-, Schluck- und Aus­ sprachestörungen“, aber auch „Hörstörun­ gen“ und „Beeinträchtigungen der Lesefähig­ keit“ erfolgt dabei anhand einer Orientierung der Syndrom-Klassifikation an der interna­ tionalen Einteilung der WHO in körperliche „Strukturen und Funktionen“, „Aktivität“ und „Partizipation“. Vor dem Hintergrund der drei wesentli­ chen Fachpraktischen Reflexionsebenen (IV) „Professionalisierung“, „Unterrichts- und Therapieforschung“ sowie „Qualitätsent­ wicklung“ erfolgt anschließend eine Darstel­ lung Zentraler Kategorien der Sprachdidaktik (V) wie beispielsweise „Bildung und Erzie­ hung“, „Lehren und Lernen“, wobei hier ne­ ben den klassischen Feldern „Sprachthera­ pie“, „Unterricht“, „Medien“ und „Beratung“ dem vorschulischen Arbeitsbereich mit „Prä­

16 

Einleitung und Fachsystematik



    



…  ƒ  

 ­  

   

    

 



€

 

‚ 

  

 



 

€

 



 ­





„­

 

ƒ  

€­

‰Œ­

‹­

 ­­



­

­

­

 

    

‚ƒ„ 

…€

ƒ 

   

†‡





      †‡

   ‚



‚‡ 



 ˆ

ˆ

 

 ­   ­





†‡



Š



ˆ

‰ 

Abb. 1:  Fachsystematik ‚Sprache und Kommunikation‘

   € € ­ €



Dank   17

vention“ und „Frühdiagnostik“ besonderes Gewicht zukommt. Alle diese bisherigen fachsystematischen Darstellungsebenen fließen abschließend in zahlreiche Ausführungen zu praxisorien­ tierten Konzepten und Methoden in Unterricht, Therapie und Förderung (VI) speziell „Deutsch“, „DaZ“, „Frühenglisch“, „Ästheti­ sche Kommunikation“, „Musiktherapie“ und „Psychomotorik“ mit besonderer Berück­ sichtigung des alle Bereiche durchdringen­ den Phänomens der „Interkulturalität und Mehrsprachigkeit“. Sämtliche darin enthalte­ nen Ausführungen zum Förderschwerpunkt Sprache werden zum Schluss in dessen Übergängen zu anderen Förderschwerpunkten (FS) (VII) wie dem Förderschwerpunkt „Lernen“, „Hören“, „geistige“ oder „körperlich-motori­ sche Entwicklung“ illustriert (Abb. 1). Zu jeder Fachsystematik gibt es sicherlich ebenso sinnvolle Alternativen. Wir denken jedoch, dass die ausgewählten Schlüsselbe­ griffe leitende Kategorien und den aktuellen Diskurs des Faches repräsentieren, zu ihrer ständigen Überprüfung auffordern und – wie damals Gerda Knura und Berthold Neumann schrieben – als „Bestandsaufnahme eines Durchgangsstadiums“ verstanden werden, die „zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten aufweist und durch­ schaubar macht“ (1980, VI). Zur leichteren Erschließung der inne­ ren Vernetzung der vielfältigen Inhalte wur­ de der Band mit zahlreichen Querverweisen (→), illustrierenden oder zusammenfassen­ den Abbildungen und Hervorhebungen so­ wie in einigen Haupt- und Mittelstichwörtern mit glossarähnlichen Endnoten versehen. Ein Sachregister und ein Personenregister unter­ stützen die schnelle Themensuche. Platzöko­ nomische Gründe führten bei den Literatur­ angaben zu einem gewissen Minimalismus. Alle Autorinnen und Autoren haben aber eine Bibliographie erstellt, die auf leicht zugängli­ che, vertiefende Quellen verweist sowie durch Berücksichtigung angloamerikanischer Re­ ferenzen Anschluss an die internationale De­ batte herstellt.

Dank Viele haben zur erfolgreichen Fertigstellung dieser Publikation beigetragen: Die vielen geschätzten Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, de­ ren Rat stets willkommen war und die aus­ nahmslos unterstützend auf Anmerkungen und Vorschläge eingingen; die Autorinnen und Autoren aus dem internationalen Kon­ text, die mit uns aus Belgien, Frankreich, den Niederlanden, Schottland bis hin nach Is­rael und Australien im regen E-Mail-Kontakt stan­ den und großzügig über kleinere und größe­ re Fehler in der englischen und französischen Fachkorrespondenz hinweg sahen; die wis­ senschaftlichen Fachübersetzer Andrea Mod­ der (Niederländisch), Annette Orphal, Martin Bannert und Christel Meissner (Französisch) sowie Bodo Frank und Marie-Noelle Leuer (Englisch), die mit Akribie und Fingerspitzen­ gefühl immer genau den richtigen Ton trafen; die Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpäda­ gogik (dgs) mit ihrer spontanen und großzü­ gigen Finanzierung der Übersetzungsarbeiten; die Junior-Universität Bergisches Land und C. Rudorff mit ihrem inspirierenden wissen­ schaftlichen Bildmaterial; Fausto Giaccone und die Agentur Anzenberger für die groß­ zügige Abdruckgenehmigung des Fotos von Jacques Lacan; Sarah Effenberger mit ihren kreativen Grafikarbeiten und nicht zuletzt die unermüdliche, engagierte wissenschaftliche Redaktion der Manuskripte durch Katharina Schmidt und Maike Kersten und schließlich Dr. Klaus-Peter Burkarth vom Kohlhammer Verlag, der uns mit Zuversicht, Geduld und Hilfsbereitschaft unterstützt hat. Die Betreuung der Herausgabe des vorlie­ genden Bandes „Sprache und Kommunika­ tion“ war ein immer wieder herausfordernder Prozess: Gemeinsamkeiten und Unterschie­ de wurden deutlich, neue Themenstellungen oder auch neue Verknüpfungen entstanden, und regelmäßig tauchte die Frage auf, wie und wo der einzelne Forschungsbeitrag in einem größeren Ganzen zu verorten ist. Wir hoffen,

18 

Einleitung und Fachsystematik

dass letztlich jeder Beitrag seinen angemesse­ nen Platz gefunden hat, und dass die gemein­ samen Bemühungen zur Bestandsaufnahme und Zukunft des Faches beitragen und bei

den Leserinnen und Lesern eine gewinnbrin­ gende Aufnahme finden werden. Juni 2012

Otto Braun & Ulrike Lüdtke

Geschichte Otto Braun

1 Sprache und Kommunikation im geschichtlichen Wandel der Sprachheilpädagogik als angewandte Wissenschaft Auf dem Hintergrund der Kuhnschen Theorie der wissenschaftlichen Entwicklung und der implizierten Theoriendynamik (Kuhn 1967) soll im Folgenden versucht werden, den Wan­ del des Verständnisses von Sprache und Kom­ munikation in der Geschichte der Theorie der sprachheilpädagogischen Förderung und The­ rapie von Menschen mit Sprachstörungen und Sprachbehinderungen in seinen wesentlichen Wendepunkten zu rekonstruieren.

2 Konzept der wissenschaft­ lichen ­Entwicklung Kuhn unterscheidet in der Entwicklung von Wissenschaften zwei Wissenschaftsformen, die „Normalwissenschaft“ und die „revolutio­ näre Wissenschaft“, die gleichsam periodisch aufeinander folgen, so dass sich ein sequenzi­ elles Grundschema ergibt (siehe unten). Kernpunkt des wissenschaftlichen Wan­ dels ist der so genannte „Paradigmenwech­ sel“, der sich aus einer Krise in der normalwis­ senschaftlichen Periode als wissenschaftliche Revolution ergibt. Unter „Paradigma“ versteht Kuhn im Gro­ ßen und Ganzen einen Kanon aus hauptsäch­ lich vier Komponenten: 1. allgemein akzeptierte grundlegende Definitionen,

2. generelle Hypothesen bzw. Hypothesen­ systeme oder Theorien über die Wirklich­ keit, 3. Kriterien für die Wertigkeit und Reichwei­ te der wissenschaftlichen Untersuchungen und Theoriebildung sowie 4. einschlägige mustergültige Beispiele ge­ lungener Anwendung des Paradigmas für praktische Problemlösungen. Zum Paradigmenwechsel kommt es – in der Sprachheilpädagogik –, wenn • die grundlegenden Definitionen der Schlüsselbegriffe „Sprachstörung“, „Sprachbehin­ derung“, „Sprachbeeinträchtigung“, „Kommunikationsbehinderung“, „Sonderpäda­ gogischer Förderbedarf“, „Sprachthera­ pie“, „Sprachtherapeutischer Unterricht“ usw. angezweifelt werden und in die Kritik geraten und neue andere Begriffe zu allge­ mein akzeptierten Schlüsselbegriffen des Faches werden; • die generellen Annahmen, Einschätzungen und Erklärungen der Lebenssituation von Menschen mit Sprach- und Kommunika­ tionsstörungen bezüglich ihres Wahrheits­ gehaltes in Frage gestellt werden und durch neue Sichtweisen, Erklärungskonzepte und Lösungsvorschläge verdrängt werden; • die Gütekriterien, Beweis- und Argumenta­ tionskriterien für die Beurteilung der wis­ senschaftlichen Untersuchungen beispiels­ weise zum Lernverhalten von Schülern mit Migrationshintergrund und sonder­ pädagogischem Förderbedarf in Sprache und Kommunikation in der Grundschu­ le hinsichtlich ihrer Geltung und wissen­ schaftsmethodologischen Begründung un-

vorwissenschaftliche Periode ➝ normalwissenschaftliche Periode ➝ Krise ➝ wissenschaftli­ che Revolution ➝ neue normalwissenschaftliche Periode ➝ neue Krise usw.

20 

Geschichte

zulänglich geklärt erscheinen und somit zur  wissenschaftstheoretischen Disposi­ tion stehen; • die bisherigen Lösungsversuche zur Umset­ zung der Konsequenzen aus den grundle­ genden Definitionen, generellen Annah­ men und Theorien über die reale Situation der betroffenen Menschen und die gewon­ nenen empirischen Untersuchungsbefun­ de sowie theoretischen Erkenntnisse und Einsichten als nicht mustergültig und wenig nachhaltig angesehen werden müssen. Jedes Paradigma bildet sozusagen seine eige­ ne Weltsicht und Begriffsbildung und ist folg­ lich mit anderen Paradigmen nicht vergleich­ bar, letztlich nicht streng begründet und somit auch nicht endgültig (→ Professionalisierung).

3 Die ­vorwissenschaftliche ­Periode der Sprachheil­ pädagogik

nimmt Aristoteles (384–322 v. Chr.) vor. Aus gleicher Zeit wird (später) von Plutarch (46– 125  n.  Chr.) die älteste rhetorische Behand­ lungsmethode des Stotterns berichtet, die dem berühmten griechischen Volksredner Demosthenes (384–322 v. Chr.) zugeschrieben wird und als „Kieselsteinmethode“ bzw. bis in die heutige Zeit als „Theatermethode Korkenspre­ chen“ Anwendung findet. Antike

Was die therapeutische Behandlung von Sprachstörungen insgesamt angeht, werden aus der Antike supranaturalistische Heilungsvorstellungen (Wirkung übersinnlicher Kräf­ te) neben naturalistischen Behandlungsansätzen überliefert, wobei letztere auf natürliche Zusammenhänge zwischen morphologischen Strukturen und physiologischen Funktionen einwirken wollen, sei es diaetetisch, pharma­ zeutisch, chirurgisch oder rhetorisch mehr oder weniger diagnostisch begründet. Mittelalter

Altertum

Vorläufer der sprachpathologischen Begriffs­ bildung und terminologischen Fixierung las­ sen sich bis ins Altertum zurückverfolgen (→  Person und Sprache). Als wohl ältester schriftlicher Bericht über eine Sprachstörung gilt bislang ein hethitisches Zitat (Lehmann 1986, 239–240), in dem eine Sprachstörung des Hethiterkönigs Murschili II. (um 1300 v. Chr.) beschrieben und in heutiger Sicht als Stottern und eine Art Dysarthrie in Verbin­ dung mit einer Motorischen Aphasie interpre­ tiert wird. Weiterhin viel zitierte erste histori­ ographische Quellen sind zwei biographische Geschichten, die Herodot (490–430 v. Chr.) vom stotternden Bathos und vom stummen Sohn des Königs Krösus erzählt. Nahezu alle bekannten sprachlichen Störungsbilder kom­ men im „Corpus hippocraticum“ (400–200 v. Chr.) vor. Eine erste klassifikatorische Un­ terscheidung von Störungen der Ausspra­ che in „Lallen“, „Stammeln“ und „Stottern“

Die Überlieferung des antiken sprachpatholo­ gischen und therapeutischen Wissens in das Mittelalter erfolgt auf drei Wegen: über die by­ zantinische Medizin durch Oreibasios (326– 403), Aetius Amidenus (527–565) und Paulos von Aigina (625–690), über die arabische Me­ dizin durch Avicenna (980–1037) und schließ­ lich über die klerikale Medizin durch Mönchs­ ärzte. Renaissance

Während die mittelalterliche Literatur die tra­ dierten allgemein humoralpathologisch ori­ entierten hippokratisch-galenischen Krank­ heitsvorstellungen und Therapiemethoden übernimmt und unter Berufung auf die un­ eingeschränkte Autorität der prominenten Ärzte der Antike auch auf Sprachstörungen überträgt, beginnt mit der Renaissance eine Entwicklung, in der störungsspezifische pa­ thologische und therapeutische Konzepte ent­



Die ­normalwissenschaftliche ­Periode der Sprachheil­pädagogik   21

stehen  – scheinbar ohne „wissenschaftliche Revolution“! Die erste theoretische Gesamtdarstellung der Sprachstörungen bei Kindern legt Hieronymus Mercurialis (1530–1606) in seiner Ab­ handlung „De puerorum morbis“ (1583) vor, der man eine gewisse Vorläuferfunktion für moderne multifaktorielle Erklärungskonzep­ te und mehrdimensionale Therapiekonzepti­ onen zusprechen kann (→ Sprachtherapie). Infolge der Trennung der antiken Einheit von Medizin und Chirurgie seit dem Mittel­ alter, die eine Degradierung der Chirurgie zur handwerklichen Subprofession zur Folge hat, führt die selbstverständlich gewordene Über­ schätzung der Zungenfunktion für Sprechen und Sprache zur Herausbildung von zwei kontroversen therapeutischen Entwicklungs­ linien: einer medizinisch-chirurgischen Li­ nie und einer didaktisch-phonetischen Linie. Beide Therapierichtungen, die chirurgische Therapie (vorwiegend Frenulotomie) und die didaktische Therapie (Sprechübungstherapie), basieren zum einen auf organpathologischen Störungsvorstellungen (muskuläre, mechani­ sche oder nervale Verursachung), zum an­ deren auf funktionspathologischen Konzepten (Schwäche, Krampf, falscher Gebrauch der Sprechorgane). Zentrale Bedeutung hat die Beweglichkeit der Zunge. Unabhängig von der Ursachenhypothese wird pragmatisch vorgegangen und entweder operativ und/ oder didaktisch verfahren. Durch die häufi­ ger werdenden verhängnisvollen Fehlschläge der operativen Eingriffe im Mund- bzw. Zun­ genbereich erkennen die Taubstummen- und Sprachärzte zunehmend den „funktionellen“ Charakter der Sprech-/Sprachstörungen und verweisen schließlich auf die erfolgreicheren Möglichkeiten der didaktisch-phonetischen Therapiemethoden.

4 Die ­normalwissenschaftliche ­Periode der Sprachheil­ pädagogik 18. und 19. Jahrhundert

Frühe Organisationsformen der didaktischen Sprachtherapie sind Privatunterricht durch Taubstummen- bzw. Sprachlehrer und an­ dere praktizierende Sprachtherapeuten, die gemeinsame Unterrichtung der „sprachge­ brechlichen“/„sprachkranken“ Kinder in Taub­ stummenanstalten bzw. Taubstummenschulen (→ FS Hören) oder in privaten Sprachheilan­ stalten bzw. Sprachheilinstituten bis zur Grün­ dung der ersten öffentlichen Sprachheilkurse (in Braunschweig 1883, Potsdam 1886, Elber­ feld 1888) und der ersten Sprachheilklassen (in Barmen 1901/02, Königsberg 1902, Mei­ ßen 1909/1910, Halle a. S. 1910, Hamburg 1912, Wien 1913/14). Die wissenschaftliche Begründung der di­ daktischen Heilverfahren beginnt mit der „Abhandlung „Grammatica Linguae Angli­ canae“ von John Wallis (1653) und der „Dis­ sertatio de loquela“ von Johann Conrad Amman (1700) – beides Grundlagenwerke der wissenschaftlichen Phonetik (→ Hören und Sprechen). Der Sprachheilunterricht erfolgt nach der so genannten „Deutschen Laut­ sprachmethode“, in der die Artikulationsbe­ wegungen, vor allem bei der Vokalbildung, die Hauptangriffspunkte der Behandlung sind. Eine besondere Artikulationshilfe ist eine „lederne Zunge“. Eine stürmische Ent­ wicklung der didaktisch-phonetischen The­ rapie, nämlich artikulations-, stimm- und atemtherapeutischer Methoden sowie sprech­ rhythmisierender und sprechkoordinieren­ der Verfahren, vollzieht sich am Anfang des 19. Jahrhunderts. Entsprechend der phoneti­ schen Unterscheidung der drei Funktionsein­ heiten des Sprechvorgangs werden Artiku­ lation, Phonation und Respiration entweder isoliert oder synthetisch aufbauend angegan­ gen und trainiert (→ Aussprachestörungen), so dass sich die Vielfalt der bekannt gewor­

22 

Geschichte

denen didaktischen Verfahren in elementaristische und synthetische sprechtherapeutische Methoden einteilen lässt.

4.1 Das Paradigma der „Berliner ­Schule“ 19. und 20. Jahrhundert: Berlin

Ihren Höhepunkt erreicht die didaktischphonetische Sprachtherapie gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch die „Berliner Schule“, auch „Gutzmann-Schule“ genannt, die von Albert Gutzmann (1837–1910, Direktor der Berliner Taubstummenschule; vgl. Abb. 1) be­ gründet (→ FS Hören) und von seinem Sohn Hermann Gutzmann (1865–1922, Begrün­ der der wissenschaftlichen Sprachheilkun­ de; vgl. Abb. 2) und seinem Enkel Hermann Gutzmann (1892–1972, Initiator der Ausbil­ dung von Logopäden und Begründer der ers­ ten Lehranstalt für Logopäden in Berlin; vgl. Abb. 3) wissenschaftstheoretisch und the­ rapiepraktisch derart weiterentwickelt wird, dass sie bis in die jüngste Vergangenheit in­ ternationale Anerkennung erlangt hat. Albert Gutzmann wird vielfach die Begründung der eigenständigen wissenschaftlichen Sprachheil­ pädagogik zugeschrieben. Seine Verdienste sind sein „methodisch geordnetes und prak­

Abb. 1:  Albert Gutzmann (aus: Emmerig 1927)

tisch erprobtes Verfahren zur Stottertherapie“ (1879), seine „Lehrkurse über Sprachstörun­ gen für Ärzte und Lehrer“ und die Mitbegrün­ dung der „Medizinisch-pädagogischen Mo­ natsschrift für die gesamte Sprachheilkunde“ (1891). Kaum bekannt ist, dass er ein entschie­ dener Verfechter einer sprachlichen Frühpäd­ agogik und einer allgemeinen Lautspracher­ ziehung in der Volksschule war. Am Beispiel der Stottertheorie und Stotter­ therapie der „Gutzmann-Schule“ (→ Psychore­ aktive Redestörungen) lässt sich verdeutlichen, dass sich im Verlaufe der gleichsam ersten nor­ malwissenschaftlichen Periode der Sprach­ heilpädagogik als angewandte Wissenschaft aus den vorwissenschaftlichen Begriffsbildun­ gen und praktischen Problemlösungsansätzen ein grundlegendes sprachheilpädagogisches Paradigma herausentwickelt hat, das in der Folgezeit weitere Ausdifferenzierungen und Schwerpunktbildungen erfahren und zu ei­ ner komplexen Beziehungsstruktur der „Ber­ liner Schule“ geführt hat (vgl. Abb. 4). Die­ se Beziehungsstruktur zeigt den hohen Grad an Anerkennung des Paradigmas seitens der Fachkollegen. Die wesentlichen Komponenten des Paradigma-Begriffs (vgl. 2): 1. profilieren sich durch die neuro-physiolo­ gisch begründete Definition des Stotterns als spastische Koordinationsneurose,

Abb. 2:  Hermann Gutzmann sen. (aus: Wendler 1979, 10)

Abb. 3:  Hermann Gutzmann jun. (aus: Tagesspiegel vom 20. 01. 1962)



Die ­normalwissenschaftliche ­Periode der Sprachheil­pädagogik   23

Abb. 4:  Beziehungssystem der „Berliner Schule“

2. erklärt durch die Krampftheorie der Stot­ terbewegungen 3 und die generellen Annahmen über die Auswirkungen auf die ganze psychische Persönlichkeit des Betroffenen 4 sowie die mustergültige Umsetzung des theoretisch begründeten physiologischen Therapiekonzepts zur praktischen Prob­ lemlösung in der Form einer systematisch aufgebauten phonetischen Übungstherapie.

4.2 Das Paradigma der „Wiener ­Schule“ 19. und 20. Jahrhundert: Wien

Besonders interessant ist, dass sich nahe­ zu parallel zum physiologisch-psychologisch

begründeten Paradigma der „Berliner Schu­ le“  – der Organiker – ein konkurrierendes psycho-physiologisch begründetes Paradigma der „Wiener Schule“ – der Psychiker – entwi­ ckelt hat. Hauptvertreter der „Wiener Schu­ le“ sind neben Rudolf Denhardt (1845–1908; vgl. Abb. 5) und Albert Liebmann (1865–1934; vgl. Abb. 6) der in Wien geborene Nestor der internationalen Sprach- und Stimmheilkun­ de, der Hals-, Nasen-, Ohren- und Sprach­ arzt Emil Fröschels (1884–1972; vgl. Abb.  7) und der Wiener Volksschullehrer Karl Cornelius Rothe (1879–1932; vgl. Abb.  8). Mit sei­ nem wegweisenden Buch „Die Umerziehung“ (1929) gehört Rothe zu den Protagonisten der ganzheitlichen Erfassung und Förderung des sprachbehinderten Kindes (→ Sprachdidak­ tiktheorie). Die Überwindung der Sprach­

24 

Abb. 5:  Rudolf Denhardt (aus: Eos. Zeitschrift für Heilpädagogik 18, 1926, 69)

Geschichte

Abb. 6:  Albert Liebmann Abb. 7:  Emil Fröschels (Foto aus persönlichem (mit freundlicher Geneh­ Nachlass) migung von Prof. Judith F. Duchan, University of Buffalo)

störungen und ihrer Folgen ist nicht nur eine therapeutische Aufgabe, sondern auch und in erster Linie eine Aufgabe der Erziehung, der Sondererziehung des ganzen Menschen. Wie beim Paradigma der „Berliner Schule“ kann ebenso unter Zugrundelegung der vier Kuhnschen Komponenten das Paradigma der „Wiener Schule“ am Beispiel der Stotterthe­ orie und Stottertherapie folgendermaßen ge­ kennzeichnet werden (vgl. 4.1): 1. Stottern wird aus psychopathologischer Sicht als Psychoneurose definiert und als sprachneurotischer Prozess mit Hilfe eines entwicklungstheoretischen Stufenschemas beschrieben, das Theodor Hoepfner (1911, 1912) aufgrund von Beobachtungen seines eigenen Stotterns und in Weiterführung der Gedanken seines Lehrers Rudolf Denhardt (1845–1908) entwickelt hat. Haupt­ form ist das Entwicklungsstottern, dessen Angelpunkt nach Emil Fröschels das „Be­ wusstsein einer gestörten Sprache“ dar­ stellt. 2. Zur Erklärung werden individualpsychologische Theorien herangezogen, die das Stotterverhalten vor allem auf zwei grund­ legende Determinanten zurückführen: auf ein organbedingtes Minderwertigkeitsge­ fühl und den Versuch, dieses Minderwer­ tigkeitsgefühl durch Streben nach Geltung und Überlegenheit zu kompensieren.

Abb. 8:  Karl Cornelius Rothe (aus: Rothe 1932, 2)

3. Generelle Annahme ist, dass Stottern in der Regel die gesamte Persönlichkeit be­ einflusst, indem Angst, Resignation, Hoff­ nung auf Misserfolg und mangelndes Selbstvertrauen resultieren. 4. Problemlösungskonzept ist die ganzheit­ liche „Umerziehung“ des Stotternden in Formen integrierter Psycho- und Sprach­ therapie. Dass das Paradigma der „Wiener Schule“ nicht weniger auf nachhaltige Anerkennung gesto­ ßen ist, zeigt das rekonstruierte Beziehungs­ system (vgl. Abb. 9). Als unübersehbare bedeutsame „Anoma­ lie“, die den sich vollziehenden Paradigmen­ wechsel verdeutlicht, kann die „DenhardtGutzmann-Kontroverse“ gelten, die sich zwischen Rudolf Denhardt (1890, 1892, 1893) einerseits und Albert und Hermann Gutz­ mann (1892) andererseits abspielt. Im Gegen­ satz zur physiologischen Therapie des Stot­ terns, deren Originalität Albert Gutzmann für sich beansprucht, lehnt Rudolf Denhardt ein systematisches Training der Sprechorga­ ne ab, da Stotternde über die physiologischen Sprachelemente und ihre Verbindungsmög­ lichkeiten grundsätzlich verfügen. Stottern beruht nicht auf hirnorganisch bedingten Funktionsstörungen der Muskelsysteme für Respiration, Phonation und Artikulation, wie dies Albert und Hermann Gutzmann mit ih­



Die ­normalwissenschaftliche ­Periode der Sprachheil­pädagogik   25

Abb. 9:  Beziehungssystem der „Wiener Schule“

rer neurophysiologischen „Krampftheorie“ annehmen, sondern auf psychischen Ursa­ chen. Nun stellt sich die Frage nach den sprach­ theoretischen Implikationen beider Para­ digmen einschließlich ihrer Konsequenzen: Welche – letztlich nicht weiter begründeten – prinzipiellen Sichtweisen von Sprache und Kommunikation liegen den beiden sprach­ heilpädagogischen „Schulen“ zugrunde? Die Sprachauffassung der „Berliner Schu­ le“ ist dezidiert neurophysiologisch ausgelegt und zunächst in einem vereinfachten Lokalisationsmodell der Sprachzentren (→ Sprache und Gehirn), sodann in einem komplexen

Schema zum „inneren Aufbau“ der Lautspra­ che dokumentiert, das die Assoziationsstruk­ tur des „Kreislaufs der Sprache“ nachzeich­ net; sinngemäß nach Hermann Gutzmann, „dem Älteren“ (1912, 62): „Steigt man in den Kreislauf der Station „Verstehen gehörter Wörter“ ein, beginnt die akustische Bahn mit Nervus Acusticus und führt zum Wortklang­ zentrum, in dem sich die Bildung der Begrif­ fe durch Assoziationen von Teilvorstellungen aus den verschiedenen Sinnesbereichen voll­ zieht. Sollen Wörter ausgesprochen werden, müssen zunächst die Begriffe der Wörter auf­ tauchen und das motorische Sprachzentrum aktivieren. In ihm werden die Sprechbewe­

26 

Geschichte

gungsvorstellungen entworfen und die Im­ pulse an die expressiven Bahnen und Kerne gegeben. Es ist die Koordinationsstelle für die Abstimmung des Zusammenwirkens von At­ mung, Stimme und Artikulation.“ Demgegenüber setzt die Sprachauffassung der „Wiener Schule“ psychophysiologisch an und akzentuiert am komplexen und diffi­ zilen Sprachgeschehen den Sprechvorgang (→ Sprache und Sprechen). Die Sprechbewe­ gungen sind nicht als physiologische Vorgän­ ge, sondern primär als Ausdrucksbewegungen zu sehen, die begrifflich kontrolliert werden. Die Wortklangbilder besitzen komplexe Be­ deutungen und sind in ihren „sekundären Sprachcharakteren“ (Tempo, Rhythmus, Be­ tonung) unmittelbar Folgen der Kognitionen und Emotionen des Sprechenden (→ Kogni­ tion und Emotion). Wenn das Sprechen die begriffliche Bedeutung verliert, kann durch Störfaktoren, welcher Art auch immer, das sprachliche Selbstbewusstsein zum Störungs­ bewusstsein werden und sich bis zum Um­ sturzwert des „Ich kann nicht“ verbilden. Da­ mit gerät das persönliche psychophysische sprachliche Gesamtgeschehen, das sich aus sensorischen, motorischen und psychischen Komponenten zusammensetzt, in die Gefahr, sich als „gestört“ zu fixieren. Beide konkurrierenden wissenschaftstheo­ retischen Grundorientierungen der „Berliner Schule“ einerseits und der „Wiener Schule“ andererseits dominieren die Entwicklung der Sprachheilpädagogik bis in die 1960er Jahre mit nur wenigen strittigen Auseinanderset­ zungen, die weder zu gegenseitiger Überwin­ dung oder Ablösung führen konnten.

5  Paradigmenwechsel Paradigmenwechsel bedeutet „Neuaufbau des Gebietes auf neuen Grundlagen, ein Neuauf­ bau, der einige der elementarsten theoreti­ schen Verallgemeinerungen des Gebietes wie auch viele seiner Paradigmenmethoden und

-anwendungen verändert“ (Kuhn 1967, 103): eine „wissenschaftliche Revolution“. So stellt sich die Frage nach der Wissenschaftlichkeit des Faches einmal mehr und angesichts der po­ litischen und gesellschaftlichen Veränderun­ gen nach 1945 in den beiden deutschen Staa­ ten, der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), in bemerkenswerter Weise fast gleich­ zeitig mit demselben Anspruch nach neuer wissenschaftstheoretischer Grund­orien­tie­rung und neuen systematischen Forschungs- und Praxisansätzen.

5.1  Das analytische Paradigma Nach 1945: BRD

Im „Westen“ versucht die Sprachheilpäda­ gogik die damalige „realistische Wendung“ (Roth 1964) der Erziehungswissenschaft in den 1960er Jahren mit zu vollziehen. Dazu lehnt sie sich sehr stark an die empiristische Forschungsmethodologie an und übernimmt deren Konzepte (Operationalisierung, Falsifi­ kation) und Methoden (→ Unterrichts- und Therapieforschung). Im Kontext der Vorga­ be des Forschungskonzepts „Lebensbedeut­ samkeit der Sprachstörung“ von Werner Orth­ mann (1969) initiiert Gerda Knura (1971) mit einer Reihe von empirischen Arbeiten über Besonderheiten des schulischen Ver­ haltens sprachbehinderter Kinder eine Pha­ se systematischer empirischer Untersuchun­ gen zu Lern- und Verhaltensauffälligkeiten, zu besonderen Persönlichkeitsmerkmalen bei sprachgestörten Kindern und Jugendlichen mit der Intention, eine verlässliche Datenba­ sis für gezielte diagnostisch-therapeutische und unterrichtliche Maßnahmen zu erhalten. Die ermittelten empirischen Befunde wer­ den vor allem zur Grundlegung der didak­ tischen Konzeptbildung herangezogen, um sich an den besonderen Förderbedürfnissen der sprachbehinderten Schüler orientieren zu können (→ Sprachdidaktiktheorie). Es kommt zu mehreren lern- und lehrtheoretisch anset­



Paradigmenwechsel   27

zenden didaktischen Konzeptentwürfen (u. a. Lothar Werner 1972, Gerhard Homburg 1978, Otto Braun 1980). Das Forschungsprinzip er­ scheint zunächst rein empiristisch in Form des Induktivismus, sodann in Anwendung der „raffinierten“ Falsifikationsmethode sensu Karl Popper. Nach 1945: DDR

Im „Osten“ entwickelt sich die wissenschafts­ theoretische Fundierung der Logopädie gleich Sprachheilpädagogik von einer „Auswertung der Lehre Pawlows“ in den 1950er Jahren über erste empirische Untersuchungen zur motori­ schen Entwicklung von Vorschulkindern von Ruth Becker (1957) als Einleitung einer ganzen Reihe weiterer empirischer Arbeiten zu dia­ gnostischen, therapeutischen und unterrichtli­ chen Fragestellungen bis hin zu einer systema­ tischen und differenzierten Konzeptbildung auf der Grundlage eines systemtheoretischen Kommunikationsmodells. Die Theoriebildung und Untersuchungsergebnisse mit ihren kon­ sequenten Ableitungen für Klassifikation und Beschreibung der verbalen Kommunikations­ störungen, für eine gezielte logopädische Dia­ gnostik und die rehabilitativen Wirkungsbe­ reiche des erzieherischen und unterrichtlichen Handelns dokumentieren Klaus-Peter Becker und Miloš Sovák zusammenfassend im „Lehr­ buch der Logopädie“ (1971). Linguistische Wende

Die Weiterentwicklung des empiristisch zu kennzeichnenden Paradigmas vollzieht sich als Überwindung der methodologisch-be­ havioristischen Perspektive durch die ko­ gnitionstheoretische Forschung und die Bil­ dung kognitiver Theorien in der Psychologie und Linguistik, vor allem in der Psycholin­ guistik und Sprachentwicklungspsychologie (→  Sprachentwicklung und Sprachabbau). Fokussiert werden nun die verbal-kognitiven Prozesse, das heißt die inneren verbalen Beund Verarbeitungsprozesse und die verbal-ko­ gnitiven Strukturen. Beispiele für die kogniti-

ve Neuorientierung der Sprachheilpädagogik in ihrer Theoriebildung und Praxisgestaltung sind die Übernahme kognitiver Interventions­ methoden in die Stottertherapie, Ansätze zum psycholinguistischen Verständnis von LeseRechtschreibschwierigkeiten und die Rezep­ tion der Phonologie zur Analyse und Thera­ pie kindlicher → Aussprachestörungen. Nicht nur mit seinen ersten Arbeiten „Zur Phono­ logie gestammelter Sprache“ (1969), sondern auch mit weiteren Beiträgen zu Störungen im Bereich der Grammatik und zu Aphasien leitet Hans-Joachim Scholz eine in ihren künftigen Auswirkungen fundamentale Wende in der Auffassung von Sprache, Sprechen und Kom­ munikation ein. Es beginnt die so genannte „Linguistisierung“ der Sprachheilpädagogik bis in die 1980er Jahre. Eine konzentrierte ver­ tiefende Weiterführung der systematischen empirischen Erforschung beeinträchtigter Sprachfähigkeiten unternimmt Roswitha Romonath (1991) mit ihrer Untersuchung der phonetischen und phonologischen Kompe­ tenzen sprachauffälliger Vorschulkinder, an die sie weitere Untersuchungen zu metapho­ nologischen Fähigkeiten und metaphonologi­ scher Erfahrung (1998a/b) anschließt. Im Nachhinein lässt sich mit Beginn der 1960er Jahre nicht nur eine realistische und kognitive Wende erkennen, sondern ein grundlegender Wandel zu einem analytischen Paradigma, das wissenschaftstheoretisch im Wesentlichen durch einen kritischen Rationalismus im Verständnis Poppers bestimmt wird. Der analytische Ansatz geht von lo­ gisch-begrifflichen Analysen aus und klärt die Begriffe sowie Aussagen (Hypothesen, Definitionen, Theorien). Das Vorgehen be­ steht in der Präzisierung der Begriffe (logisch, empirisch), der Kennzeichnung der Defini­ tionen, der logischen, präskriptiven und em­ pirischen Sätze, der Charakterisierung der Hypothesen und der Klarstellung der Mini­ malforderungen und Gütekriterien für die Theorien. Da sich der kritisch-rationalisti­ sche Forschungs- und Untersuchungsprozess als offener Prozess gestaltet, wird das Vor­ gehen auf die sprachheilpädagogische Dia­

28 

Geschichte

gnostik übertragbar, so dass bei bestimmten Problemstellungen nach den Grundsätzen der experimentellen Methodik verfahren werden kann (→ Interdisziplinäre Diagnostik). Der diagnostische Prozess vollzieht sich dabei in der Regel in drei Schritten: 1. exakte Beschreibung der beobachteten Sprachauffälligkeit, die untersucht und er­ klärt werden soll, 2. Bildung von Hypothesen bzw. eines Hypo­ thesensystems zur Erklärung des sprachli­ chen Phänomens und 3. systematische Überprüfung der Hypo­ thesen unter Anwendung experimenteller bzw. experimentnaher Methoden und Ent­ scheidung über Beibehaltung oder Ableh­ nung der Hypothesen. Die Vorzüge der systematischen Realisati­ on der Operationalisierung und des Falsifi­ kationsprinzips (Beibehaltung der Beobach­ tungs- bzw. Untersuchungshypothesen bis zu ihrer Widerlegung) sind Wiederholbarkeit der Untersuchungsprozeduren, Willkürlichkeit in der Herleitung des zu Beobachtenden, syste­ matische Variierbarkeit dieser Beobachtungs­ bedingungen und Kontrollierbarkeit der Ver­ änderungen der Beobachtungsbedingungen. Kritische Einwände werden zur „laborhaften“ Situationsgestaltung gemacht, durch die oh­ nehin nicht alle möglichen Hypothesen über­ prüft und alle möglichen Störvariablen kon­ trolliert werden können.

5.2  Das hermeneutische Paradigma Gleichsam parallel zur Entwicklung des ana­ lytischen Paradigmas gewinnt in den 1960er und 1970er Jahren ein Paradigma zunehmend an Profil, das auf eine erziehungstheoretische Orientierung zurückgeht, die zum einen an die geisteswissenschaftliche Pädagogik der Wei­ marer Zeit anknüpft, zum anderen auf die humanistische Sprachauffassung von Johann Georg Hamann (1730–1788), Johann Gott­ fried Herder (1744–1803) und Wilhelm von Humboldt (1767–1835) rekurriert. Nach dem

geisteswissenschaftlichen Theorieverständnis steht am Anfang der Reflexion die Erziehungs­ wirklichkeit, die es zu verstehen gilt, um sich in ihr angemessen verhalten zu können. Dem­ entsprechend ist die leitende Kategorie einer geisteswissenschaftlich orientierten Sprach­ heilpädagogik das rationale und einfühlende Sinnverständnis. Die sprachheilpädagogische Praxis ver­ langt eine Theoriebildung, die auf dem Hin­ tergrund allgemein akzeptierter wissenschaft­ licher Kategorien und Kriterien Struktur und Bedingungen des sprachheilpädagogischen Handelns sowohl allgemein als auch situati­ onsspezifisch analysieren und fundieren kann. Notwendig ist ein Ansatz, von der Praxis her für die Praxis zu denken, um den Sinn und die Bedeutung des menschlichen Handelns in der Erziehung und Bildung zu verstehen. Aus ei­ ner historischen und systematischen Analy­ se der Erziehungswirklichkeit sollen sich die Strukturmomente der Erziehung und Bildung ergeben (→ Bildung und Erziehung). Hier setzt Werner Orthmann (1969) an, indem er durch Verbindung der phänomenologischen Analyse der Lebenswirklichkeit mit der Her­ meneutik als Arbeit an der Sprache die vielsei­ tige Problematik der Kinder und Jugendlichen mit Sprachstörungen reflektiert, die aus der gestörten Sprache selbst und ihren pädago­ gischen Behandlungsmöglichkeiten resultiert (→ Sprachdidaktiktheorie). Gegenstand der sprachheilpädagogischen Überlegungen ist die gestörte Sprache, deren Lebensbedeutsam­ keit aufzuklären ist. Aufgaben und Grundsät­ ze der Erziehung und des Unterrichts sind aus dem Wesen der Sprache und der Bedeutung ihrer Störungen für Entwicklung und Persön­ lichkeit in ihrer Lebenswelt abzuleiten (→ Per­ son und Sprache, → Behinderung und Vulne­ rabilität). Zur gleichen Zeit entwirft Edmund Westrich (1977, 1989) sprachphilosophisch anset­ zend und hermeneutisch vorgehend das Kon­ zept der „Sprachlichkeit des Menschen“ bzw. „des in seiner Sprachlichkeit beeinträchtig­ ten Menschen“. Als Schlussfolgerung seiner phänomenologischen Analyse der gestörten



Das pragmatische Paradigma und die Konstruktivismen   29

Sprachlichkeit und damit der beeinträchtig­ ten Subjektivität und dialogischen Hand­ lungsfähigkeit ergibt sich, dass nur durch eine Erziehung zur Sprachlichkeit behinderungs­ adäquat geholfen werden kann. Da der Begriff „Hermeneutik“ vielfälti­ ge Bedeutungszuschreibungen erfahren hat, ist der Hinweis erforderlich, dass der herme­ neutische Ansatz in der Sprachheilpädago­ gik im Sinne des Verständnisses von HansGeorg Gadamer (1960) rezipiert wurde – mit Akzentuierung des hermeneutischen Zirkels. Gängige Verdeutlichung des Zirkels ist die Definition, dass das Einzelne (die konkrete Teilauslegung) in dem Ganzen (im Sinnhori­ zont) und das Ganze aus dem Einzelnen ver­ standen wird. Des Weiteren setzt jedes echte Verstehen immer schon ein gewisses Vorver­ ständnis voraus. Und hermeneutisches Vor­ gehen vollzieht sich stets als Wechselspiel von Information und Deutung. Für die Wissen­ schaftsentwicklung liegt der wissenschaft­ liche Wert des hermeneutischen Vorgehens (des Verstehens) in der Hypothesengenerie­ rung. Verstehen wird gleichsam als heuris­ tisches Mittel eingesetzt. Und genau dieser Punkt verbindet in der Sprachheilpädagogik beide prinzipiell miteinander konkurrieren­ den Paradigmen: analytisches vs. hermeneu­ tisches Paradigma (vgl. Abb. 9).

6 Das pragmatische Paradigma und die Konstruktivismen 6.1  Das pragmatische Paradigma Unter dem Einfluss der linguistischen Pragmatik (Schlieben-Lange 1975) und der Kommunikationstheorie (Baumgärtner & Steger 1973, Gutknecht 1977) findet in den 1980er Jahren die Erkenntnis, dass Sprache nicht nur in ih­ rem Systemcharakter, sondern auch und vor allem in ihrer Funktionalität zu sehen ist, dass Sprache nicht nur ein logisches oder kogniti­ ves System ist, sondern auch Mittel und Weg

zur Kommunikation (→ Sprache und Spre­ chen), zunehmend Beachtung und Aufnahme in der sprachheilpädagogischen Theoriebil­ dung und Praxisgestaltung der Sprachtherapie und des sprachtherapeutischen Unterrichts. Es kommt zu einer pragmatischen Umorientierung der Sprachheilpädagogik insgesamt, die sich vor allem in elaborierten dialog- und interaktionsorientierten Konzeptbildungen, in der Berücksichtigung der nonverbalen Kom­ munikation und der Kommunikationspartner sowie des Situationsansatzes in der Sprachthe­ rapie zeigt (→ Sprachdidaktiktheorie). Einige (erste) theoretisch-praktische Umsetzungs­ beispiele sind u. a. die sprach­therapeutische Übungsbehandlung von Nitza Katz-Bernstein (1986) (→ Sprachtherapie), die prag­ matische Therapie von Iris Füssenich (1987, 1999) und Hildegard Heidtmann (1990) (→ Entwicklungs­bedingte Sprachstörungen), das Konzept der „Sprach-Handlungs-Spielräume“ nach Heiner Nondorf und Reiner Bahr (1993) (→  Lehren und Lernen) und die Kommuni­ kationstherapie von Reimund Bongartz (1998). In der didaktischen Theoriebildung wer­ den neben der Konzeptentwicklung zum „Sprachtherapeutischen Unterricht“ von Otto Braun (1980, 1983) handlungsorientier­ te und kommunikationstheoretisch begrün­ dete allgemeindidaktische Ausgangspositio­ nen aufgenommen und sprachtherapeutisch akzentuiert (→ Sprachdidaktiktheorie). Bei­ spielsweise erstellt Gerhard Homburg (1978) unter dem Gesichtspunkt der Sprachhandlung einen differenzierten Katalog von Lernzielen und Lerninhalten zur Didaktik der Sprachbe­ hinderten (→ Unterricht); Axel Holtz (1981) konzipiert ein individualpsychologisch orien­ tiertes handlungstheoretisches Modell einer behinderungsspezifischen Didaktik; Arno Deuse (1975), Peter Keller (1975) und Helmut Carstens (1981) entwerfen zur Förderung des funktionalen Gebrauchs der Sprache in na­ türlichen und inszenierten kommunikativen Situationen kommunikationstheoretisch an­ gelegte Didaktikkonzepte. Manfred Grohnfeldt zeigt (1981) „handlungstheoretische As­ pekte in der Sprachbehindertenpädagogik“

30 

Geschichte

auf, indem er auf der Basis des handlungs­ theoretischen Paradigmas Vorstellungen zu einer handlungsorientierten Didaktik, Dia­ gnostik und Therapie entwickelt, die nach­ haltige Möglichkeiten und Wege zur Lösung auch der spezifischen sprachbehindertenpä­ dagogischen Frage- und Problemstellungen eröffnen, in fachtheoretischer und fachprak­ tischer Hinsicht und nicht zuletzt auf dem Gebiet der fachspezifischen → Professionali­ sierung. Theoretisch-praktische rehabilitati­ ve Konsequenzen einer grundsätzlichen und bereichsübergreifenden Handlungsorientie­ rung zieht Gregor Dupuis für die Integration Sprachbehinderter (1974), für die kommu­ nikative Sprachrehabilitation Erwachsener (1989) und die → Unterstützte Kommuni­ kation (2003/2008). Zu den Grundprinzipien einer gezielten Diagnostik und Therapie bei Dysgrammatismus gehört nach Detlef Hansen (1996) neben Aktivität, Motiviertheit, Dialog­ fähigkeit der situative Handlungsbezug der Vermittlung, deren didaktisch-methodische Gestaltung u. a. eine Spontansprachdiagnos­ tik mit der Erstellung einer Profilanalyse des individuellen Sprachstandes zur Vorausset­ zung hat. In der Optimierung des situativen und sprachlichen Kontextes sieht Hans-Joachim Motsch (2004, 22006) einen integrativen didaktisch-methodischen Ansatz, die rezep­ tiven, produktiven und reflexiven Fähigkei­ ten des Kindes für grammatische Zielstruk­ turen zu fördern (→  Unterricht). Durch die Optimierung der veränderbaren Komponen­ ten des Kontextes soll beim grammatisch ge­ störten Kind eine optimale Fokussierung der Zielstruktur erreicht werden (Motsch 2002, 103). Alfons Welling legt (1995, 2004) nach mehr­jähriger Entwicklungsarbeit ein Pla­ nungskonzept des „Kooperativen Sprachun­ terrichts“ vor (→ Unterricht), das in seiner theoretischen Begründung von einem reflek­ tierten Begriff der Sprache als sprachliches Handeln ausgeht und „sprachbehindert“ als sozialwissenschaftliches Konstrukt definiert, das „sich auf das Verhältnis des sprachgestör­ ten Menschen zu seiner mitmenschlichen,

soziokulturellen, ideellen und dinglichen Lebenswelt bezieht, das für ihn biografisch bedeutsam und persönlich wichtig, aber auch normativ geworden ist“ (Welling 2004, 132/133). Dementsprechend werden die we­ sentlichen Strukturmomente des Unterrichts „sprachdidaktisch“ analysiert.

6.2  Die Konstruktivismen Der pragmatische Ansatz ist auch die Ba­ sis und das Gemeinsame des Konstruktivis­ mus oder besser: der Konstruktivismen, da es sehr unterschiedliche konstruktivistische Po­ sitionen gibt. Gemeinsamer Ausgangspunkt ist indessen das Handeln. Wahrnehmen und Denken, Erkennen und Wissen, Sprache und Wissenschaft werden als Formen des mensch­ lichen Handelns verstanden. Interessant ist, dass sich die beiden Grundtypen, der „metho­ dische Konstruktivismus“ und der „radikale Konstruktivismus“, etwa zu gleicher Zeit par­ allel entwickelt haben, sich aber fundamental voneinander unterscheiden. Methodischer Konstruktivismus

Der methodische Konstruktivismus (Mittel­ straß 1974, 2008, Janich 1997) kritisiert die Sprachfixierung der Wissenschaftstheorie und damit der Wissenschaft. Pragmatik kommt vor Syntax und Semantik. Wissenschaft begrün­ det sich im praktischen Handeln, in lebens­ weltlichen Praxen. Handeln ist immer zweck­ rationales Handeln. Wissenschaften zielen auf transsubjektives nachvollziehbares Wissen, wo­bei es Kriterien zur Unterscheidung von be­ gründetem und unbegründetem, von wahrem und falschem Wissen gibt. Begründungen set­ zen bei elementaren, unstrittigen Praktiken der alltäglichen Lebenswelt an. Das Methodi­ sche am Konstruktivismus besteht darin, dass wissenschaftliche Begriffe durch ihre Einfüh­ rungsprozedur definiert werden und nur das bedeuten, was sie auf Grund der Einführungs­ prozedur bedeuten. Wissenschaftliche Be­ griffe sind lediglich Abstraktionen aus einer



Das pragmatische Paradigma und die Konstruktivismen   31

Praxis und nicht Teile korrekter Wirklichkeits­ beschreibung. Radikaler Konstruktivismus

Ausgangspunkt des radikalen Konstruktivis­ mus (von Glasersfeld 1987, von Foerster 1992, Maturana & Varela 92000 [i. O. 1984]) sind die Erkenntnisse der Biologie über das menschli­ che Erkennen und das biologische Paradigma der Evolution, also eine evolutionäre Begrün­ dung und Deutung der Erkenntnis. Das Er­ kennen ist ein Prozess, der untrennbar mit der wechselseitigen Beziehung des menschlichen Organismus zu seiner Umwelt verbunden ist und im Dienste des Überlebens steht. Der Er­ kenntnisprozess ist kein bloßes Abbilden der Welt im Gehirn, sondern, was erkannt wird, ist eine konstruktive Leistung der Sinnesorga­ ne und des Gehirns. Wirklichkeitskonstrukti­ on und Bedeutungszuweisung vollziehen sich im Gehirn. Es gibt keine Wirklichkeit unab­ hängig von einem konkreten lebenden System. Lebende Systeme sind selbsterhaltend, selbstorganisierend und selbstreferenziell. Wahrneh­ mungen, Wissensbestände, Denkweisen und Sprache sind Strategien bzw. Instrumente im Prozess der menschlichen Selbstorganisation (Autopoiesis). Sozialer Konstruktivismus

Aus dem radikalen Konstruktivismus hat sich als ein weiterer konstruktivistischer Grundtyp der soziale Konstruktivismus (Berger & Luck­ mann 192003 [i. O. 1969], Hacking 1999) ent­ wickelt und weithin verselbständigt. Wie beim radikalen Konstruktivismus wird davon aus­ gegangen, dass die Annahme der Repräsenta­ tion einer objektiven Wirklichkeit durch wis­ senschaftliche Begriffe fragwürdig ist. Begriffe sind soziale Konstruktionen, somit von gesell­ schaftlichen Strukturen, Bedingungen und Veränderungen abhängig. Die praktischen Konsequenzen für alle Wissenschaften und deren Anwendungsbereiche haben zu vielfach ideologiekritisch überhöhten theoretischen Auseinandersetzungen geführt, so dass jegli­

cher wissenschaftlicher Anspruch als „sozial bedingt“ relativiert wird. Welche der konstruktivistischen Positio­nen wird in der Sprachheilpädagogik rezipiert? Es gibt bislang nur einige wenige Konzeptansät­ ze, die sich explizit auf kon­struktivistische Po­ sitionen beziehen (→ Sprachdidaktiktheorie). Reiner Bahr (2002) versteht sprachheilpäda­ gogische Diagnostik als Problemkon­struktion, die immer dann vorliegt, wenn die Sprache des Anderen einer diagnostischen Kategorie zuge­ ordnet und eine Wirklichkeit konstruiert wird, die die Sprache des Anderen pathologisiert. Wie eine konstruktivistische Sichtweise des sprachlichen Lernens und Förderns zu einer Vertiefung und Begründung sprachheilpäda­ gogischer Didaktik führen kann, demonstriert er am Beispiel des Konzepts „Sprachthera­ peutischer Unterricht“ (Bahr 2002) (→ Un­ terricht). Ulrike Lüdtke (2003) entwirft eine konstruktivistische Didaktiktheorie, die eine emotionale Wende (→  Kognition und Emo­ tion) zur Vor­aussetzung hat. Sie geht von der sprachkon­stituierenden, intersubjektiven Be­ deutung der Emotionen und deren sozialen, kulturellen, ökonomischen und geschlechts­ spezifischen Beziehungskontexten aus und begründet eine breite emotionsintegrierende Basis, auf der die Konstruktion einer „Relatio­ nalen Didaktik“ möglich wird (→ Unterricht). In ihr ist nicht mehr die rationale Steuerung der zentrale didaktische Organisator, son­ dern  die emotionale Regulationskompetenz der Lehrerinnen und Therapeutinnen. Allgemein werden in der Sprachpathologie und Sprachheilpädagogik tradierte Theorien, Begriffssysteme und fachspezifische Begriffs­ bildungen in Frage gestellt und mehr oder weniger deutlich auf soziale Konstruktio­nen zurückgeführt, so dass neue, zumindest an­ dersartige, Handlungskonzepte und Organi­ sationsformen entworfen werden können. Eine methodologische Konsequenz ist der Rück­ griff auf die Phänomenologie und die Zen­ trierung auf das denkende und handelnde Subjekt.

32 

Geschichte

Wenn die retrospektive Analyse der Konzept­ vorschläge in ihren theoretischen Begründun­ gen und praktischen Konsequenzen zutrifft, werden sowohl radikal-konstruktivistische als auch sozial-konstruktivistische Ausgangs­ punkte präferiert und unterschiedlich kon­ sequent und explizit übernommen. Eine all­ gemeine und gleichsam flächendeckende Rezeption und Transformation der sozial-in­ teraktional orientierten Handlungs- und Or­ ganisationsentwürfe scheint sich in der Wei­ terentwicklung der „integrativen Förderung“ zur „inklusiven Förderung“ abzuzeichnen, die von der subjektiven Vielfalt der Schülerinnen und Schüler ausgeht und die Prinzipien der Chancengleichheit und der gleichberechtig­ ten sozialen Teilhabe zu verwirklichen sucht. Wie der hohe Anspruch des vielfältigen För­ derspektrums durch die erforderlichen viel­ fältigen Förderangebote in einer allgemeinen Schule realisiert werden kann, postuliert ein fachlich fundiertes sowie professionell legiti­ miertes inklusives Fördersystem.

Abb. 10:  Wissenschaftstheoretisches Dilemma

7  Zusammenfassung Wenn man „zwischen den Zeilen“ der Reprä­ sentationen bzw. Präsentationen der sprach­ heilpädagogischen Beiträge über die skizzierte Gesamtentwicklung der Sprachheilpädagogik hinweg liest, wird ein widerständiges wissen­ schaftstheoretisches Dilemma transparent (vgl. Abb.  10): die Polarisierung von zwei ­völlig ­gegensätzlichen erkenntnistheoretischen und wissenschaftsmethodologischen Grundpositi­ onen, die überpointiert durch die Dichotomien ‚Objektivismus‘ vs. ‚Subjektivismus‘, ‚Erklären‘ vs. ‚Verstehen‘, ‚Kausalität‘ vs. ‚Finalität‘, ‚quan­ titativ‘ vs. ‚qualitativ‘, ‚elementar‘ vs. ‚ganzheit­ lich‘ gekennzeichnet werden. Die Vielfalt der wissenschaftstheoretischen Perspektiven ver­ deckt den fundamentalen Gegensatz von ob­ jektiver, erklärender Wissenschaft und subjek­ tiver, verstehender Wissenschaft. Ein Blick auf die Diagnostik-, Therapie- und Unterrichts­ konzepte zeigt, dass die verschiedenen wis­



Literatur   33

senschaftstheoretischen Sichtweisen bei der Konzeptualisierung in unterschiedlicher Ge­ wichtung beteiligt sind. Und dabei versuchen alle Konzepte, den methodenstrengen Objek­ tivismus durch Subjektorientierung zu relati­ vieren bzw. zu überwinden, ohne ihn aber ganz aufzugeben. Kritische Nachbemerkung: Die Schnittpunkte der Inkommensurabilität, das heißt der Un­ vereinbarkeit der Standpunkte, die zu den Paradigmenwechseln geführt haben, insbe­ sondere die Übergänge von den Theoriebil­ dungen auf dem Hintergrund des kritischen Rationalismus in den 1960er und 1970er Jah­ ren zu den neueren Theoriebildungen auf dem Hintergrund der verschiedenen Varianten des Konstruktivismus in der jüngsten Vergangen­ heit und Gegenwart, bedürften einer ausführ­ licheren und tiefergehenden Erforschung. Die aufgezeigten einander widerstrebenden „Phä­ nomene“ in den so genannten „revolutionären Phasen“ haben eine nicht geringe Hypotheti­ zität.

Literatur Amman, J. C. (1700): Dissertatio de loquela. Amste­ lae­dami: J. Wolters. Aristoteles (übersetzt von Hellmut Flashar) (1962): Problemata physica. Darmstadt: Wissenschaftli­ che Buchgesellschaft. Bahr, R. (2002): Diagnostik als Problemkonstruk­ tion in der Sprachheilpädagogik. In: Meixner, F. (Hrsg.): Mehrdimensionalität der sprachheilpäd­ agogischen Arbeit (41–51). Wien: Jugend & Volk. Bahr, R. (2003): Qualitätsmerkmale sprachthera­ peutischen Unterrichts. In: Hübner, K. & RöhnerMünch, K. (Hrsg.): Einblick in die Sprachheilpäda­ gogik (13–30). Aachen: Shaker. Baumgärtner, K. & Steger, H. (1973): Funk-Kolleg Sprache. Eine Einführung in die moderne Lingu­ istik. Frankfurt a. M.: Fischer. Becker, K.-P. & Braun, O. (2000): Geschichte der Sprachheilpädagogik in Deutschland. Rimpar: edi­ tion von freisleben. Becker, K.-P. & Sovák, M. (1971): Lehrbuch der Logo­ pädie. Berlin: VEB. Becker, R. (1957): Zur Problematik der Frühbehand­ lung sprachgestörter Kinder unter besonderer Be­

rücksichtigung der Motorik. Inauguraldissertati­ on. Humboldt-Universität zu Berlin. Berger, P. & Luckmann, Th. (192003 [i. O. 1969]): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt a. M.: Fischer Bongartz, R. (1998): Kommunikationstherapie mit Aphasikern und Angehörigen. Grundlagen – Me­ thoden – Materialien. Stuttgart: Thieme. Braun, O. (1980): Das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Sprachbehindertenpädagogik, darge­ stellt am sprachtherapeutischen Unterricht in der Schule für Sprachbehinderte. Die Sprachheilarbeit 25, 4, 135–142. Braun, O. (1983): Sprachtherapeutischer Unterricht in Theorie und Praxis – Bestandsaufnahme und Diskussion. In: Deutsche Gesellschaft für Sprach­ heilpädagogik (Hrsg.): Konzepte und Organisati­ onsformen zur Rehabilitation Sprachbehinderter (167–178). Hamburg: Wartenberg und Söhne. Carstens, H. (1981): Untersuchungen zur verbalen In­ teraktion im Unterricht der Schule für Sprachbe­ hinderte. Frankfurt a. M.: Lang. Denhardt, R. (1890): Das Stottern. Eine Psychose. Leipzig: Vermag von Ernst Keil’s Nachfolger. Denhardt, R. (1892): Ein offenes Wort in Sachen „Emil Denhardt sen. gegen Albert Gutzmann, Taubstum­ menlehrer, und Dr. med. Hermann Gutzmann in Berlin“. Eisenach: Hofbuchdruckerei. Denhardt, R. (1893): Wahrheit und Verleumdung in der Stotternheilkunde. Berlin: Hugo Steinitz Verlag. Deuse, A. (1975): Über die „soziale Einstellung“ Sprach­ behinderter. Die Sprachheilarbeit 20, 2, 37–50. Dupuis, G. (1974): Zur Integration Sprachbehinder­ ter. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete (VHN) 43, 4, 1–6. Dupuis, G. (1989): Sprachrehabilitation Erwachsener. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Handbuch der Sprach­ therapie. Bd. 1: Grundlagen der Sprachtherapie (192–209). Berlin: Edition Marhold. Dupuis, G. (2003/2008): Sprachtherapie und Un­ terstützte Kommunikation. In: isaac – Gesell­ schaft für Unterstützte Kommunikation (Hrsg.): Handbuch der Unterstützten Kommunikation (11.003.001). Karlsruhe: von Loeper. Emmerig, E. (Hrsg.) (1927): Bilder-Atlas zur Ge­ schichte der Taubstummenbildung. München: Otto Maidl. Foerster, H. v. (1992): Einführung in den Konstrukti­ vismus. München: Piper. Füssenich, I. (1987): Zur Diagnose und Therapie semantischer Fähigkeiten sprachentwicklungs­ gestörter Kinder. In: Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik (Hrsg.): Spracherwerb und Spracherwerbsstörungen (113–124). Hamburg: War­ tenberg & Söhne.

34 

Geschichte

Füssenich, I. (1999): Semantik. In: Baumgartner, S. & Füssenich, I. (Hrsg.): Sprachtherapie mit Kindern. Grundlagen und Verfahren. München: Reinhardt. Gadamer, H.-G. (1960): Wahrheit und Methode. Tü­ bingen: Mohr. Glasersfeld, E. v. (1987): Wissen, Sprache und Wirk­ lichkeit. Arbeiten zum radikalen Konstruktivis­ mus. Braunschweig: Vieweg. Grohnfeldt, M. (1981): Handlungstheoretische As­ pekte in der Sprachbehindertenpädagogik. In: Grohnfeldt, M. & Schoor, U. (Hrsg.): Sonderpäda­ gogisches Handeln in der Sprachbehindertenpäda­ gogik (21–33). Berlin: Carl Marhold. Gutknecht, Ch. (Hrsg.) (1977): Grundbegriffe und Hauptströmungen der Linguistik. Hamburg: Hoff­ mann und Campe. Gutzmann, A. (1879): Das Stottern und seine gründ­ liche Beseitigung durch ein methodisch geordnetes und praktisch erprobtes Verfahren. Berlin: Elwin Staude. Gutzmann, H. (1912): Sprachheilkunde. Vorlesungen über die Störungen der Sprache mit besonderer Be­ rücksichtigung der Therapie. Berlin: Kronfeld. Hacking, J. (1999): Was heißt „soziale Konstruktion“? Frankfurt a. M.: Fischer. Hamann, J. G. (1967): Schriften zur Sprache. Frank­ furt a. M.: Suhrkamp. Hansen, D. (1991): Linguistische Theorie und lin­ guistische Forschung zu Störungen des Gramma­ tikerwerbs. In Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Handbuch der Sprachtherapie. Bd. 4: Störungen der Gramma­ tik (23–39). Berlin: Edition Marhold. Hansen, D. (1996): Spracherwerb und Dysgramma­ tismus. München: Reinhardt UTB. Heidtmann, H. (1990): Die Bedeutung der vorsprach­ lichen Kommunikation für die Sprachentwicklung – Bruners interaktionistischer Ansatz. Der Sprach­ heilpädagoge 22, 3, 1–35. Herder, J. G. (1772): Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin: Christian Friedrich Boß. Herodot (herausgegeben von Josef Feix) (1963): His­ torien. München: Ernst Heimeran. Hoepfner, Th. (1911): Psychologisches über Stottern und Sprechen. Zugleich ein Beitrag zur Aphasie­ frage. Zeitschrift für Psychotherapie und medizi­ nische Psychologie 3, 5, 264–289. Hoepfner, Th. (1912): Stottern als assoziative Aphasie. Einführung in eine psychologische Betrachtungs­ weise. Zeitschrift für Pathopsychologie 1, 2/3, 448– 553. Hoepfner, Th. (1926): Professor Rudolf Denhardt – Eisenach. Eos. Zeitschrift für Heilpädagogik 18, 69. Holtz, A. (1981): Probleme, Positionen, Perspektiven in der Sprachbehindertendidaktik. Der Sprach­ heilpädagoge 13, 4, 45–56.

Homburg, G. (1978): Die Pädagogik der Sprachbehin­ derten. Heidelberg: Schindele. Humboldt, W. v. (1994): Über die Sprache. Tübingen und Basel: Francke. Humboldt, W. v. (1998): Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschenge­ schlechts. Paderborn: Ferdinand Schöningh. Janich, P. (1997): Kleine Philosophie der Naturwis­ senschaften. München: Beck. Katz-Bernstein, N. (1987): Aufbau der Sprach- und Kommunikationsfähigkeit bei redeflussgestörten Kindern. Luzern: Edition SZH. Keller, P. (1973): Sprachliche Kommunikation bei sprachbehinderten Schülern. Die Sprachheilarbeit 18, 3, 65–83. Knura, G. (1971): Einige Besonderheiten des schuli­ schen Verhaltens sprachbehinderter Kinder. Die Sprachheilarbeit 16, 4, 111–123. Kuhn, Th. (1967): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lehmann, J. (1986): Die Hethiter. München: Bertels­ mann. Lüdtke, U. (2003): Aktuelle Herausforderungen an die Sprachheilpädagogik. Die Sprachheilarbeit 48, 4, 140–150. Maturana, H. R. & Varela, F. J. (92000 [i. O. 1984]): Der Baum der Erkenntnis. München: Goldmann. Mercurialis, H. (1583): De puerorum morbis tracta­ tus. Venetiae. (deutsch: Uffenbach, P. 1605): Ein neues Artzney-Buch. Von den Schwachheiten und Gebrechen der jungen Kinder und ihrer Cur (93– 100). Franckfort: Zachariam Palthenium. Mittelstraß, J. (1974): Die Möglichkeit von Wissen­ schaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Mittelstraß, J. (2008): Der Konstruktivismus im Aus­ gang von Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen. Pa­ derborn: mentis. Motsch, H.-J. (2002): Effektivitätssteigerung durch Kontextoptimierung in der Therapie spezifischer Sprachentwicklungsstörungen. In: Suchodoletz, W. v. (Hrsg.): Therapie von Sprachentwicklungs­ störungen (83–105). Stuttgart: Kohlhammer. Motsch, H.-J. (2004, 22006): Kontextoptimierung – Förderung grammatischer Fähigkeiten in Thera­ pie und Unterricht. München: Reinhardt. Nondorf, H. & Bahr, R. (1993): Sprach-HandlungsSpielräume in der pädagogischen Sprachtherapie. In: Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik (dgs) (Hrsg.): Sprache – Verhalten – Lernen (699– 711). Rimpar: edition von freisleben. Orthmann, W. (1969): Zur Struktur der Sprachge­ schädigtenpädagogik. Berlin: Marhold. Plutarque (herausgegeben von Jean Normand) (1927): Demosthenes et Ciceron. Paris: Hachette.



Literatur   35

Popper, K. (101994): Logik der Forschung. Tübingen: Mohr. Romonath, R. (1991): Phonologische Prozesse an sprach­ auffälligen Kindern. Eine vergleichende Untersu­ chung mit sprachauffälligen und nicht sprachauf­ fälligen Vorschulkindern. Berlin: Edi­tion Marhold. Romonath, R. (1998a): Metaphonologische Fähig­ keiten bei aussprachegestörten Kindern. Die neue Sonderschule 43, 2, 170–183. Romonath, R. (1998b): Metaphonologische Spracher­ fahrung und Sprachspiele aus pädagogisch-thera­ peutischer Sicht. Die neue Sonderschule 43, 3, 22– 133. Roth, H. (1964): Die realistische Wendung in der Pä­ dagogischen Forschung. In: Röhrs, H. (Hrsg.): Er­ ziehungswissenschaft und Erziehungswirklichkeit (179–191). Frankfurt a. M.: Akademische Verlags­ gesellschaft. Rothe, K. C. (1929): Die Umerziehung. Die heilpäda­ gogische Behandlung schwererziehbarer, entgleis­ ter und stotternder Kinder und Jugendlicher. Halle a. S.: Marhold. Rothe, K. C. (1932): Ein an der Sprache zerbrochenes Leben. Wien: Klara Rothe. Schlieben-Lange, B. (1975): Linguistische Pragmatik. Stuttgart: Kohlhammer. Scholz, H.-J. (1969): Zur Phonologie gestammelter Sprache. Die Sprachheilarbeit 14, 1, 4–11.

Wallis, J. (1653): Grammatica Linguae Anglica­ nae. Oxford: Leon Lichfield. Edited by J. A. Kemp (1972). London: Longman. Welling, A. (1995): Didaktik – eine Herausforderung an die Sprachbehindertenpädagogik. In: Grohn­ feldt, M. (Hrsg.): Handbuch der Sprachtherapie. Bd. 8: Sprachstörungen im sonderpädagogischen Bezugssystem (38–59). Berlin: Marhold. Welling, A. (2004): Kooperative Sprachdidaktik als Konzept sprachbehindertenpädagogischer Praxis. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprach­ heilpädagogik und Logopädie. Bd. 5 (127–146). Stuttgart: Kohlhammer. Wendler, J. (Hrsg.) (1979): 75 Jahre Phoniatrie. Ber­ lin: Werdau. Werner, L. (1972): Zur Integration sprachtherapeuti­ scher Maßnahmen in das Planungsmodell für Un­ terricht in der Berliner Schule. Die Sprachheilar­ beit 17, 3, 87–92. Westrich, E. (1977): Zum Unterschied von Sprach­ heilpädagogik und Logopädie. Die Sprachheilar­ beit 22, 3, 75–86. Westrich, E. (1989): Grundsätzliches zur Förderung der Sprachbehinderten. In: dgs-Landesgruppe Rhein­land-Pfalz (Hrsg.): Förderung Sprachbehin­ derter: Modelle und Perspektiven (491–501). Ham­ burg: Wartenberg & Söhne.

 I  Relationen der Sprache

Behinderung und Vulnerabilität Julia Kristeva & Charles Gardou1

1  Eine Neue Aufklärung Gegenüber dem mehr oder weniger zynischen Pragmatismus auf der einen und dem Obsku­ rantismus auf der anderen Seite postulieren wir, dass der Humanismus, der sich unaufhör­ lich selbst sucht, im Kampf um die Würde der Menschen in Behinderungs-Situationen eine Chance zur Selbsterneuerung finden sollte, in­ dem er das aufarbeitet, was ihm fehlt: Respekt vor der Verletzlichkeit2. Unsere Utopie besteht darin, zu glauben, dass letztere uns in der Tiefe oder, wenn man so will, unbewusst konstitu­ iert, und dass sie „teilbar“ ist. Auf diesem Hu­ manismus könnte die Demokratie der Nähe aufbauen, welche die post-moderne Ära so dringend braucht. Dieses Bestreben ist nicht vermessen – es baut auf banalen, alltäglichen, schmerzhaften Erfahrungen auf. Behinderung kann, paradoxerweise, Gele­ genheit bieten, das politische Band selbst neu zu überdenken, und zu einer Demokratie der Nähe führen, in der die Personen in Behin­ derungs-Situationen nicht Objekte des Mit­ leids, sondern rechtmäßige Subjekte wären. In der Tat kann die Lösung nicht im Aufruf zu Mitleid oder Toleranz liegen. Die Alterna­ tive besteht darin, die Art zu revolutionieren, wie wir Behinderung denken und anerken­ nen. Wir müssen eine Neue Aufklärung ent­ fachen, um uns von falschen Glaubenssätzen, schimärenhaften Ängsten, Aberglauben, Ste­ reotypien, festgefahrenen kollektiven Vorstel­ lungen und anderen Maskierungen der Hete­ ronomie zu befreien. Die Vulnerabilität ins Zentrum eines poli­ tischen Paktes einzuschreiben, im Sinne eines Sich-um-den-Anderen-Kümmerns, scheint das beste Mittel gegen Barbarei. Eine Gesell­ schaft, die für die Verletzlichkeit in ihren selt­ samsten Erscheinungsformen durchlässig ist,

muss auf den Anspruch verzichten, das „Sein“ zu definieren. Diese Erfindung der griechi­ schen Philosophie, so edel sie auch sein moch­ te, hat zu allen erdenklichen metaphysischen Absoluta und Begrenzungen geführt. Viel­ leicht scheint es banal, daran zu erinnern: Es gibt nur einzigartige Existenzen; es gibt kein „behindert(es) Sein“. Es gibt nur vielfältige Wesen, von denen keines dem anderen gleich gemacht werden kann. Und die sich auch nicht auf einen einzigen Signifikanten redu­ zieren lassen. Jedes von ihnen nimmt seine Form im Verlauf eines Weges an, der keinem anderen gleicht. Entgegen der Propaganda, mit der uns die globalisierte Technik betäubt, steht unsere Epoche nicht im Zeichen eines Menschen, der permanent Leistung erbringt und dem Ge­ nuss frönt. Verletzlichkeit offenbart sich über­ all, obwohl die Manie der Hyper-Produkti­ vität alles unternimmt, um dies zu leugnen. Eine Frage taucht auf: Wie lässt sich in das Konzept des Humanen selbst – und folglich in Philosophie und Politik – der konstruktive Anteil der Destruktivität, der Zerbrechlich­ keit, des Ungleichgewichtes einschreiben, der doch zur Identität der menschlichen Spezies und insbesondere des sprechenden Subjektes dazugehört? Indem wir den von der Aufklä­ rung geerbten Humanismus um das Bewusst­ sein der Verletzlichkeit und die Sorge des Teilens erweitern – erst in und dank diesem Akt des Teilens wird das Begehren, mitsamt dem dazugehörigen Leiden, einer permanen­ ten Rekonstruktion seiner selbst, des Anderen und der Verbundenheit zwischen beiden un­ terzogen. In Wirklichkeit wird unsere Gesellschaft von zwei divergenten Bewegungen durch­ drungen: einerseits von einem Modernitätsund Zukunftsfieber wie etwa im Bereich der Wissenschaft, der Technik und der Kommu­

40 

Behinderung und Vulnerabilität

nikation, andererseits von einem Widerstand, gar einem regungslosen Verharren in Archa­ ismen, was den Blick auf unsere von Behinde­ rung betroffenen Mitmenschen angeht. Auf diesem Gebiet bleibt der menschliche Geist wie vermauert. Obwohl wir nie so weit und so oft bis an die Grenzen unseres Erfindungs­ reichtums gegangen sind, tun sich markante Risse in unserem Glauben an den demokra­ tischen Fortschritt auf. Unsere Worte, Bil­ der, Einstellungen, Verhaltensweisen, Struk­ turen und sozialen Einrichtungen bleiben neben bzw. hinter all dem zurück, was sich heute in anderen Bereichen tut. Wir behan­ deln, vielleicht unbewusst, das Problem der Behinderung mit einigen der Vorstellungen vorangegangener Generationen, ohne diese Überzeugungen jemals kritisch zu hinterfra­ gen.

2  Perfektion und Vulnerabilität Tatsächlich hat es selten eine gewaltigere Epidemie der Selbst-Zentriertheit und des Scheins gegeben. Individualismus ist zur Re­ gel geworden. Wer sieht nicht dieses Theater des Scheins: „Ich stelle dar, also bin ich“, „Ich existiere kraft meiner Mannequin-Maße, ge­ messen an meinem Ruhm und meinen Er­ gebnissen an den Verkaufsschaltern“! So tun als ob, das ist alles! Der Mensch hat sich zu­ gleich mit einer illusorischen Selbstgenügsam­ keit und mit einem grenzenlosen Vertrauen in das Individuum und eine Gesellschaft des individuellen Glücks aufgeblasen. In einer Welt, die mehr und mehr einem riesigen Un­ ternehmen gleicht, stellen die wissenschaftli­ chen Erfolge – die meisterhafte Beherrschung der Natur, der Materie, des Lebens, des Uni­ versums sowie die scheinbare Fähigkeit, alles realisieren zu können, was bisher unmöglich schien – übertriebene Rückversicherungen unserer Fortschrittskultur dar. Hieraus ergibt sich ein reelles Ungleichgewicht, da die Ver­ bindung zwischen den Bürgern verkümmert

und dadurch die Gemeinschaft aufgelöst wird. Es überrascht kaum, dass besonders die Zer­ brechlichsten die Schockwellen einer Gesell­ schaft zu spüren bekommen, welche höhere Anforderungen an die Unabhängigkeit als an das Bewusstsein um den Anderen stellt und die es nicht vermag, sich durch den Bezug zum Mitmenschen einen höheren Sinn zu geben.

3  Kategorisierung und Einzigartigkeit Ganz der Norm verschrieben, hat sich das 20. Jahrhundert vor allem bemüht, die Patho­ logien, den Bedarf an Hilfen sowie die kom­ pensatorischen Mittel zur Schaffung eines Ausgleichs zu untersuchen; zu etikettieren, um zu kategorisieren und – koste es was es wolle – zu reparieren, um wieder „normal“ zu machen. „Normal“. Dies ist das Wort, mit dem wir nach wie vor eine Art menschlichen Proto­ typ bezeichnen. Umgekehrt machen wir damit aus dem „Anormalen“ ein Konzept des „UnWertes“: anormal sein, das heißt entwertet, unfähig und nicht wünschenswert sein. Und während wir andauernd Gefahr laufen, uns in den Fallstricken des Durchschnittswertes, der Klassifizierung und des Dogmas zu verfangen, vergessen wir die Inkonstanz und die Plasti­ zität des menschlichen Wesens und damit die grundsätzliche Einzigartigkeit eines jeden. Da wir uns schwer tun, das Lebendige in seiner unendlichen Reichhaltigkeit, in seinem immer beweglichen Wesen zu fassen, reduzieren wir seine Vielfalt und Komplexität, indem wir es kategorisieren: „die Spastiker“, „die motorisch Behinderten“, „die Gehörlosen“, „die Blinden“, „die Autisten“ … „die Behinderten“. Folgerich­ tig sind die Identität, die Rechte, die Pflichten und die Möglichkeiten des Individuums sozial durch diejenige Kategorie determiniert, unter der es bekannt ist. Im Namen wissenschaftli­ cher Imperative verstümmeln wir die Identi­ tät. Die Negation des Subjektes ergibt sich hier aus einer Beziehungslosigkeit von Angesicht



Eine Ethik des „Willkommens“   41

zu Angesicht, aus einer Auslöschung oder Ent­ menschlichung des Blickes. Daher die Unabdingbarkeit, Erkenntnisund Handlungsweisen umzukehren, daher auch die Notwendigkeit, das menschliche Wesen anders zu denken – in der Haltung ebenso wie im Diskurs. Das Unbestimm­ te und das Immer-Offene des menschlichen Wesens verlangen danach, mechanistische und endgültige Festlegungen zu verweigern, vereinfachende Dualismen (Fähigkeit/Unfä­ higkeit, Normalität/Anormalität etc.) zurück­ zuweisen und diejenigen Kategorisierungen in Frage zu stellen, die der Anerkennung der Person im Wege stehen. Deshalb schlagen wir vor, das cartesianische cogito, das „Ich denke, also bin ich“ (Descartes 1997 [i. O. 1637]) in ein „Ich bin anerkannt, also existiere ich“ zu verwandeln. Wenn ich nicht anerkannt wer­ de, werde ich zwar in den Statistiken gezählt, aber ich zähle nicht. Ich kann mich nicht als Subjekt empfinden, abgetrennt von den An­ deren und von der Welt. Sie allein verleihen meiner Existenz einen Sinn. Was auch Ed­ mond Jabès (1991, 59) so treffend formuliert: „Die Anonymität ist das goldene Zeitalter des Todes: sein ohne zu sein.“

4  Der Homo socians Die Kulturrevolution besteht also vor allem in einer Desakralisierung des Individuums, das gerne perfekt, unsterblich und sich selbst ge­ nügend sein will. Denjenigen, die wir als „ab­ hängig“ bezeichnen, ist zu verdanken, dass unsere Kultur sich der Last ihrer Leblosigkeit entledigen wird. Sie können es uns ermögli­ chen, eine neue Gesellschaft zu gründen, die human ist, ganz human, nichts als human und deren Korpus durch die Einbeziehung eines jeden und die Interaktion zwischen allen ent­ steht. Die humanitären Fortschritte des Homo sapiens werden sich unter dem doppelten Ein­ fluss des Reliance3-bestrebten Homo socians und des Homo universalis vollziehen, der sei­

ne Offenheit gegenüber der ganzen Bandbrei­ te des Menschseins bewahrt und nicht zulässt, dass das Vorankommen der einen sich aus dem Ausschluss der Anderen nährt. Diese neue Aufklärung liegt auch der Am­ bition zugrunde, die Matrix eines vereinten sozialen Universums zu entwerfen, das die Vulnerabilität als gemeinsame Bedingung anerkennt und das ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen ebenso Raum gibt wie den Rechten, die sich daraus ergeben. Nirgends tritt der Archaismus und die abstoßende Ge­ meinheit des Menschen deutlicher zu Tage als in seiner Fähigkeit, mit einer unfassba­ ren Verblendung die Verletzlichkeit gering zu schätzen und zu marginalisieren. Die Revolu­ tion, von der wir sprechen, ist also eine Revo­ lution für die Rechte derer, die durch Behin­ derung geschwächt sind. Das einzige Band, das die Menschen von Geburt an verbindet, ist die Verletzlichkeit. Unsere Moderne weigert sich allerdings nach­ haltig, dies anzuerkennen. Doch es wird kei­ ne Erneuerung der sozialen Ideen und Prak­ tiken, keine ontologische Wiederherstellung geben, ohne dass wir das Menschsein der im höchsten Maße Verletzlichen zurückerobern und uns gegen ihre Verdinglichung und ihren Ausschluss von der Welt wehren, durch die die menschliche Natur denaturiert wird. Al­ les in allem besteht die Revolution des Den­ kens und Handelns auf dem Gebiet der Be­ hinderung darin, Wege zu beschreiten, die von der geschlossenen Einheit über die Eröff­ nung der Vielfalt zu einer entfalteten Einheit führen.

5  Eine Ethik des „Willkommens“ Gewiss ist es bequemer, den Anderen als „be­ hindert“ abzustempeln, zu marginalisieren und hinter den Kulissen verschwinden zu lassen, als anzuerkennen, dass es verschie­ dene Arten des Zusammen-Seins gibt und eine Sicht zu unterstützen, die die Verding­

42 

Behinderung und Vulnerabilität

lichung des Anderen verhindert. Die Opfer des Schicksals geben uns zu verstehen, dass das Farbenfrohe, das Dissonante und die Ein­ brüche der menschlichen Natur und der sozi­ alen Ordnung immanent sind, und zugleich, dass die Menschen ihr Aufeinanderstoßen erleben können, ohne dass die Existenz von Normen zu einer Forderung nach Uniformität führt oder das als Abweichung einordnet, was doch lediglich anders ist. Nur indem ich eine Beziehung zu ihnen eingehe, erkenne ich ihre Subjekthaftigkeit an, vergleichbar mit meiner eigenen. Daher muss die Identifizierung der Differenzen einer Annäherung weichen, die die realen Situationen ins Bewusstsein hebt. Der verwundete Andere lässt sich nicht ab­ bilden, er ist Anblick und nicht ein Ding zum Anschauen. Er ist kein wissenschaftliches Objekt, bei dem es ausreicht, seine Pathologie und kompensatorischen Hilfen zu untersu­ chen. Mehr noch, er zeigt uns etwas Einzig­ artiges: den Widerschein einer Lebenserfah­ rung, die ihn gezwungen hat, über sich selbst hinaus zu wachsen und neue Horizonte des Menschseins zu eröffnen. Seine Gegenwart verleiht unserer Identität eine neue Fülle: Er nimmt uns mit zu einer anderen Dimension des Seins und zu einer anderen Art zu sein. Zahlreich sind die, die nicht akzeptieren, ihre Behinderung einfach hinzunehmen, sondern sich entschließen zu handeln: sie zu tragen und zu durchqueren in der Hoffnung auf ein Werden – Hoffnung, die sie aus denen um sie herum schöpfen, die von ihrem eigenen Leid angetrieben sind und es in etwas Positives verwandeln. Das Subjekt kann nicht außerhalb der Beziehung zu seinen Mitmenschen existie­ ren. Auch kann man seine Emergenz nur im Herzen der sozialen Dynamik, der Interak­ tionen, der wechselseitigen Abhängigkeiten, der Projekte, der Kämpfe, dieser allgemeinen Agonistik denken, die eine Stätte des Zusam­ menlebens ausmacht. Eine menschliche Ge­ meinschaft kann nicht harmonisch mitein­ ander leben, wenn der Egozentrismus und der Wille jedes einzelnen oder einiger weni­ ger, in diesem Fall der der Stärkeren, regieren.

Welcher Status und welcher Platz bleibt den Kleinen in einem Umfeld, das nur die Großen wertschätzt? Den Schwachen, wenn die Stärke alles zählt? Den Verlierern, wenn nur die Ge­ winner bewundert werden? Läuft eine Gesell­ schaft, in der nur die Habenden „gut drauf“ sind, nicht Gefahr, selber draufzugehen? Die Frage nach dem Subjekt zu stellen, er­ innert daran, dass der Mensch unausweich­ lich auf die Welt, in der er lebt, verwiesen ist; dass er nur durch die Gemeinschaft existiert. Diese Realität bringt uns dazu, unsere Bezie­ hung zu den Menschen in Behinderungs-Situ­ ationen, ausgehend von einer Verpflichtung, neu zu überdenken: eine Ethik des „Willkom­ mens“4 wiederherzustellen – gegründet in der Erfahrung der Feindseligkeit der Welt und ei­ ner notwendigen Solidarität unter den Men­ schen. Anerkannt sein heißt, angeblickt und an­ genommen werden als jemand, der einen wahren Wert hat. In der Anerkennung liegt die Wertschätzung, derer es zur Selbstkon­ struktion notwendig bedarf. Sie eröffnet ei­ nen Ausweg aus dem Leid derer, die mit der Radikalität des Mangels und mit dem Schei­ tern ihrer Selbstverwirklichung konfrontiert sind. Nichts ist kollektiver als die Ausarbei­ tung der personalen Identität. Daher ist das Ausbleiben von Anerken­ nung eine der meist geäußerten Klagen. In dieser Entbehrung hat der Identitätsman­ gel der vom Leben Verwundeten seinen Ur­ sprung. Sie haben das Gefühl, verdinglicht zu werden – abgeschoben auf den Platz, den die Glücklicheren ihnen überlassen mögen, nicht ein Jemand zu sein, sondern irgendjemand. So verstehen wir, dass sie zu existieren aufhö­ ren, wenn das Unverständnis und die Gleich­ gültigkeit ihresgleichen sowie die daraus er­ wachsende Einsamkeit, allen Raum in ihrem Leben einnehmen, um sich als Herren aufzu­ führen und das zunichte zu machen, was sie auszudrücken suchen.



Die „Verfehlung des Seins“   43

6  Die „Verfehlung des Seins“ Wenden wir uns den Analysanden zu und all jenen, die versuchen, ihre Sprache dem Un­ bewussten zugänglich zu machen. Sie sor­ gen dafür, dass die Wünsche, die Ängste, die Kreativität zum Ausdruck gelangen und auf­ gearbeitet werden können. Erkennt man die eigenen Grenzen, so ergibt sich daraus die Möglichkeit, diejenigen des Subjektes in ei­ ner Behinderungs-Situation zu teilen, seine Ausfälle ebenso wie seine plötzlichen Geis­ tesblitze. Wir meinen dies im strengen Sinne des Wortes „teilen“, das weder Verschmelzung noch Osmose noch Identifikation ist. Teilen: das heißt teilnehmen an der Besonderheit, über die Trennung hinweg, die uns von Seiten unseres jeweiligen Schicksals auferlegt wird; teilhaben, ohne auszuradieren, dass jeder für sich ist, und den unteilbaren eigenen Teil aner­ kennend, den Teil des Unabänderlichen. Schenkt man der Einzigartigkeit des Aus­ geschlossenseins, der die Personen in Behin­ derungs-Situationen zum Opfer fallen, ein analytisches Gehör, so wird deutlich, dass sie uns betrifft. Nicht in erster Linie deshalb, weil „das jedem passieren kann“, sondern weil „es bereits in uns steckt“: in unseren Träumen, unseren Ängsten, unseren Liebes- und Exis­ tenzkrisen, in dieser Verfehlung des Seins, die uns heimsucht, wenn unsere Widerstände zu Staub zerfallen und unser „inneres Schloss“ rissig wird. Weil dieses zu erkennen uns hilft, das Subjekt im behinderten Körper zu ent­ decken, um eine Vorstellung von einem ge­ meinsamen Leben zu entwerfen. Einen Ent­ wurf, in dem unsere bislang verdrängte Angst vor der Kastration, vor der narzisstischen Kränkung, vor dem Makel und vor dem Tod sich in Aufmerksamkeit, in Geduld, in Soli­ darität verwandelt, die unser „auf der Welt sein“ zu verfeinern vermag. In dieser Begeg­ nung kann der andere Verwundete zwar nicht zu unserem Analytiker, wohl aber zu unserem Analysierer werden. Und doch kommen wir letztlich nicht um­ hin, anzuerkennen, dass die von sehr schwer­

wiegenden Behinderungen betroffenen Per­ sonen unser Bild vom menschlichen Sein erschüttern, insbesondere diejenigen, die aus einem Mangel an Verstand nicht in der Lage zu sein scheinen, ihr eigenes Schicksal selbst zu meistern. Haben sie mit ihrem Verstand nicht auch ihre Würde verloren? Sicherlich ja, wenn man davon ausgeht, dass die Wür­ de des Menschen abhängig von seinen intel­ lektuellen Leistungen ist. Aber entgegen den Behauptungen von Plato, Aristoteles, Pascal oder auch Descartes, die den Menschen all­ zu gerne auf ein rationales, vernunftbegabtes Tier und seine Humanität auf seine Intelli­ genz reduziert haben, ist die Würde nicht an das Denkvermögen gebunden. Die Würde ist das universelle Attribut des Menschen: Wir sind Mensch kraft unserer Zugehörigkeit zu einer genealogischen Kette. Jeder von uns, jenseits seines Besitzes, seiner Macht, seiner Rolle, seiner Funktion in der Gemeinschaft und der Wechselfälle seiner Existenz wird von einer menschlichen Tradition getragen, auf der seine Würde beruht. Ich bin würdig, weil ich Menschensohn bin, und wie es Sartre (1968) sagte: Ich bin „ganz ein Mensch, von allen Menschen gemacht, der sie alle und egal wen wert ist“. Die Würde gibt es nur für alle; andernfalls gibt es sie für niemanden. Weder ist sie determiniert noch wird sie durch eini­ ge wenige verliehen. Sie ist von Natur aus im höchsten Maße an Beziehungen gebunden, relational: Niemals wird sie in der Einsam­ keit errungen, sondern im Zusammenleben. Indem ich mit dem Anderen eine enge Bezie­ hung eingehe, erkenne ich ihn als meinesglei­ chen an. Ich nutze die von Donald W. Winni­ cott so geschätzte Fähigkeit zur Fürsorge (vgl. Winnicott 2006 [i. O. 1965]), das heißt meine Fähigkeit, mich durch ihn eingebunden zu fühlen und zugleich eine Verantwortung ihm gegenüber zu empfinden.

44 

Behinderung und Vulnerabilität

7  Ein Zerrspiegel Die Begegnung mit der von einer Behinde­ rungs-Situation betroffenen Person beginnt in der Tat für jeden von uns damit, dass vor uns ein anderer und zutiefst einzigartiger Kör­ per auftaucht wie ein Zerrspiegel, dessen Bild plötzlich die gerade noch ruhige, unschuldi­ ge Konformität unseres eigenen Körpers ver­ stört. Vor uns? Vielleicht eher: tief in uns. Die­ ses Kurzschließen vom Anderen auf uns, von der Differenz auf die Identität, vom Schein auf das Sein: Das ist der phänomenologische Kern der tief erschütternden Erfahrung von Behin­ derung, der im Körper und Bild des Anderen greifbar wird. Die Introjektion eines äußeren Körpers in unser eigenes Fleisch, die direkte Konfronta­ tion mit der Verletzung des Anderen, dieses Bild, das unvermittelt beginnt, das sorglose Aufteilen von Innen und Außen aufzuheben, stürzt uns in eine Krisensituation: Sie ent­ blößt unsere Normalität, stellt unsere Gleich­ förmigkeit heraus und zugleich in Frage. Un­ ser ideales Ich wird zugleich verraten und angeprangert. Derart angegriffen, ist es mit Freuds Worten „nicht mehr Herr im eigenen Haus“ (vgl. Freud 1998 [i. O. 1917]), 295). Und das Bild, das uns die von Behinderungs-Situ­ ationen betroffenen Menschen widerspiegeln, erschüttert uns umso mehr, als es von innen her das untergräbt, was wir mit unserem Nar­ zissmus belegt haben. Da stehen wir: zugleich zu gesund und weniger gesund, zu gut und weniger gut, zu schlau und weniger schlau, zu intelligent und weniger intelligent, zu ge­ schickt und weniger geschickt. Eher zuviel nicht-genug als zuviel weniger. Die Behinderung spricht uns plötzlich in beiden Registern an: der Realität und dem Phantasma, indem sie unser mehr oder we­ niger bewusstes Begehren in Frage stellt, das Unperfekte zu akzeptieren und zurückzuwei­ sen. Die Unordnung, die paradoxerweise die Existenz bestätigt und dem entspricht, was Nietzsche das Ja zum Leben sagen nannte, trifft den Menschen mehr denn je (vgl. Nietz­

sche 1999 [i. O. 1889]). Sie bestellt einen zu ei­ nem existenziellen Rendezvous ein, bei dem man etwas von diesem Verlust erlebt und das einen mit aller Rohheit seine eigene Endlich­ keit ermessen lässt. Wie soll man auch, in Anbetracht des deformierten Gesichtes und Körpers dieses jungen Bett-Menschen, dieses Spastikers, der in einen widerspenstigen Kör­ per eingekerkert ist, einer Art Vernichtung des eigenen Selbst widerstehen? Last-Körper, Untergangs-Körper. Chaos-Körper, Gefäng­ nis-Körper. Körper ohne Bleibe. Körper ohne Körper. Auch wenn er hört, sieht, spricht und wünscht, kann er doch nicht dem „Schicksal in den Rachen greifen“, um es mit Beethovens (1801) Worten zu sagen, der selbst einer Taub­ heit erlegen war. Wie können wir uns vor dem Gefühl eines Zerbrechens schützen, wenn sich da dieses kleine Mädchen im Körper eines Er­ wachsenen mit seiner ganzen Verletzlichkeit offenbart und nur seltsame Laute stammelt. Wesen der Müdigkeit, der Langsamkeit und der Regungslosigkeit. Wesen der Nacht, des­ sen Anwesenheit in der Welt unbedeutend er­ scheint. Das unfassbare Rätsel seines Einge­ mauertseins schlägt uns mitten ins Gesicht: Unsere Maßstäbe gelten nicht mehr, unsere Bezugspunkte entfliehen außer Sichtweite.

8 Das Ferment einer neuen ­Solidarität „Wenn die Weisen zum Mond zeigen“, so ein chinesisches Sprichwort, „schauen die Dum­ men auf den Finger“, denn sie vergessen, dass das Wahre sich unter der Oberfläche versteckt, jenseits des Scheins. Doch muss man erst mal eine Bresche in das Sichtbare schlagen, um es zu finden und damit aufzudecken, dass – aus­ geschlossen von gestern und heute – die Aty­ pischen, die Dissidenten der Norm, die Mar­ ginalisierten und die Opfer des Schicksals Vektoren der Wahrheit und Fermente der So­ lidarität sind. Sie bringen Schönes in das Ver­ letzliche und Wärme in die Kälte. Mit Füßen



Das Ferment einer neuen ­Solidarität   45

getreten, werden sie bis an die äußersten Gren­ zen einer Wahrheit gedrängt, die keine Täu­ schung zulässt, denn die menschliche Würde selbst resultiert daraus, wie sie auf die Probe gestellt wird. Sie sind die Zeugen dieser geläu­ terten Wahrheit im Angesicht derer, die ge­ sund sind, adäquat denken und reden, und die, da sie sich nicht in ihre Nähe begeben, die­ se nicht kennen und nicht anerkennen. Behinderung erscheint zwar oft wie eine Konfrontation, wie ein pausenloser Kampf mit dem Unglück, ein Gefecht mit der Angst und sogar mit der Verzweiflung, so spielt sie sich doch nicht ausschließlich vor einem Hin­ tergrund von Dunkelheit und Nacht ab. Sie mag wohl verwüsten wie ein Spätsommerge­ witter oder ein tropischer Zyklon, und doch bewahrt und stärkt sie paradoxerweise das, was das menschliche Wesen ausmacht. Denn es ist nötig, dass die Verwundeten des Le­ bens – als Experten der Menschlichkeit – da­ ran erinnern, dass die Menschen, so wie sie gemacht sind, die Welt nur in endlosem Su­ chen und Herumirren bewohnen können. Ihre menschliche Substanz verdanken sie nicht ihrer äußeren Ästhetik, dem Lack ih­ res Scheins, noch ihrem ebenso illusorischen wie flüchtigen Ruhm. Das Unvollkommene, der Fehler, der Mangel sind zutiefst mensch­ lich. Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit sind das gemeinsame Los. Das Leben kennt keine mathematische Logik: Es zeichnet sich durch das Unbeständige aus, durch seine Realität, seine Geschichte, sein Werden. Weder gera­ de gezogene Furche, noch geradlinige Bewe­ gung: Es ist die Zeit des Ausweichens, der Wi­ derstände, der Fluchten, der Trauer. Es ist der Raum der Kontingenz, des Mysteriums der Ungleichheit, des unausweichlich Provisori­ schen. Diejenigen, die sich dank glücklichem Zu­ fall an dem erfreuen, was andere vermissen, besitzen damit nur ein vergängliches Gut, das ihnen jederzeit genommen werden kann. „Was ist der Mensch, der gepriesene Halb­ gott?“ fragte sich Goethe. „Ermangeln ihm nicht eben da die Kräfte, wo er sie am nö­ tigsten braucht? Und wenn er in Freude sich

aufschwingt oder im Leiden versinkt, wird er nicht in beiden eben da aufgehalten, eben da zu dem stumpfen, kalten Bewusstsein wie­ der zurückgebracht, da er sich in der Fülle des Unendlichen zu verlieren sehnte?“ (Goethe 2001 [i. O. 1774], 79). Wenn Unvollständig­ keit und Endlichkeit als Preis für die Existenz zum Verzicht auf die verrückten Hoffnungen nach Perfektion und irdischer Ewigkeit ein­ laden, so verlangen sie gleichermaßen, denen am meisten zu geben, die am wenigsten ha­ ben. Wie oft jedoch hört man nicht sagen, wie erschöpfend, deprimierend es ist, an der Sei­ te derjenigen zu leben, die von einer Behin­ derung betroffen sind! Es ist schwierig, fügt man hinzu, mit ihnen zu kommunizieren, sie zu verstehen, sich verständlich zu machen, und ermüdend, den Rhythmus zu wechseln, sich zu beugen, um sich in ihre Reichweite, auf ihre Höhe zu begeben. In Wirklichkeit verspüren hier diejenigen, denen es gut geht, nicht diese falschen Anpassungen, sondern ihre eigenen Schwierigkeiten, sich auf deren Höhe heraufzuschwingen. Sich ihrer würdig zu zeigen. Sich der skandalösen Prüfung zu stellen, die ohne Vorwarnung das Bild wendet und zermalmt, das man sich vom Mensch­ sein macht, und dazu zwingt, sich davon ein anderes, weniger idyllisches zu machen. Sich letztlich mit ihrer Verfehlung des Seins, ihrer essenziellen Armut, aber auch mit der Frage nach der Wahrheit ihrer Existenz zu konfron­ tieren. Die Haltungen der Indifferenz, der Ver­ meidung, der Entwertung, der Zurückwei­ sung sind zugleich Ungerechtigkeiten von je­ nen, welche sich selbst als intakt bezeichnen und es nicht lassen, für sich selbst Anerken­ nung, Respekt und Achtung einzufordern. Dass sie an sich selbst das loben, was sie an­ deren versagen, und somit zur Ungerechtig­ keit des Schicksals die ihres eigenen Verhal­ tens hinzufügen, das ist nicht zu akzeptieren. Dass sie sich das Recht anmaßen, die Würde der Bedürftigsten zu zerstören und im Grun­ de ihr Glück leugnen, ihr Dasein als berech­ tigt zu empfinden, das ist nicht zu tolerieren. Das Heilige im Menschen wird mit Füßen

46 

Behinderung und Vulnerabilität

getreten, wenn man eine bereits verwundete Person erniedrigt und an den Rand drängt. Dass so viele Menschen akzeptieren, wie Gan­ dhi sagte, „ihre Brüder gedemütigt zu sehen“ oder aus der Gesellschaft ausgeschlossen, das ist unmenschlich.

9  Eine paradoxe Situation Wir sehen in unserem Land5 eine zumindest paradoxe Situation: Unsere Gesetzestexte über Bildung, Arbeit und den Kampf gegen Diskri­ minierung werden gerne als beispielhaft dar­ gestellt. Die gut aufgestellten Verbände führen ei­ nen unablässigen Kampf, damit die Menschen in Behinderungs-Situationen nicht mehr über ihre Defizite wahrgenommen werden, son­ dern ihre Bürgerrechte ausüben können. Die vollbrachte  Anstrengung ist offensicht­ lich, dennoch bleiben zu viele Missstände: In vielen Städten sind öffentliche Verkehrs­ mittel und Gebäude nicht in ausreichendem Maße behindertengerecht; es fehlt an Plät­ zen in spezialisierten Einrichtungen, die un­ gleich über das Land verteilt sind; es stehen nur unzureichende Strukturen für die Unter­ bringung junger Erwachsener zur Verfügung; Unternehmen scheuen das Engagement; die Einschulung der von Behinderung betroffe­ nen Kinder und Jugendlichen gestaltet sich schwierig; mangelnde Ausbildung lässt die Lehrkräfte unvorbereitet darauf, diese in ihre Klassen aufzunehmen usw. Die schulische In­ klusion tritt auf der Stelle: andersartige Kin­ der (enfants différents6) unter eine normale Klasse zu mischen, bleibt in unserem Land bis heute ein Kraftakt. Die neue unternehmerische Religion, die den Durchsetzungsfähigen zum allgemeinen Kanon erhebt und den Gewinner mystifi­ ziert, führt schleichend zum Verfall der Ge­ meinschaft – indem sie den verachtet, der aus Mangel an Kräften und Mitteln nichts unter­ nehmen, sich nicht durchsetzen, keinen Er­

folg haben und es nicht schaffen kann. Auch stellt sich dringend die Frage nach der Verant­ wortlichkeit desjenigen, der unternimmt und gewinnt, gegenüber dem, der scheitert, weil er nichts unternehmen kann. Dank der Verletzlichsten und dank der Reliance, die wir hoffentlich künftig mit ihnen knüpfen können, werden menschliche Erha­ benheit und Hoffnung ihren Platz in einem scheinbar sinnlosen Universum, wo jeder den Sinn seiner Bestimmung sucht, wiedererlan­ gen. Ihr zäher Kampf gegen ihre Verletzung, ihre Sinnsuche angesichts des Sinnlosen ihrer Prüfung, ihr Durchhaltevermögen angesichts der Widrigkeiten und ihre kreative Kraft be­ stätigen Pascals Überzeugung: „Wisset, dass der Mensch den Menschen unendlich über­ steigt“ (vgl. Pascal 1979 [i. O. 1670]). Diese Zeilen drücken zugleich unseren Traum und unseren Kampf aus: unseren Traum einer Übereinkunft, einer Allianz mit ihnen; unseren Kampf für eine Neuerfindung unserer sozialen und kulturellen Ordnung, für eine Neue Aufklärung, für eine Revolution des Denkens und des Handelns. Es gibt kei­ nen Kampf ohne Traum. Weder auf seine Defizite noch auf den einen Signifikanten reduzierbar, der ihn als „behin­ dert“ bezeichnet, bringt jeder von ihnen an­ thropologische Universalien ans Tageslicht: die unendliche Vielfalt des Menschlichen, seine Polyphonie, die Beweglichkeit seiner Erscheinungsformen, seine Vergänglichkeit, seine essenzielle Vulnerabilität. „Erst wenn ich nichts mehr bin, werd ich wahrhaft ein Mensch“, schrieb Sophokles in Ödipus auf Kolonos (vgl. Sophokles 2007 [i. O. 401 v. Chr.]). Wenn auch die Behinderung ihre Stellung auf der Welt besonders gestaltet, so sind in ihnen wie in uns das Leid und die Kraft, das Schwei­ gen und der Traum, die Tragödien und bei­ spielhaftes Über-Sich-Hinauswachsen un­ lösbar verflochten. Und eben weil sie unsere eigene Unvollständigkeit widerspiegeln, ru­ fen sie unkontrollierte Reaktionen hervor, mit denen der versteckteste Winkel unseres Be­ wusstseins seine eigenen Ängste und Befrem­ dungen zu beschwören sucht. Ecce homo!



Anmerkungen   47

Es gibt nicht einerseits ihre unnormale Einzig­ artigkeit und andererseits die normale Einzig­ artigkeit. Die Grenzen sind verschwommen. Wir alle sind – behindert oder nicht – „viel­ fältige Einzigartige“. Nicht mehr und nicht we­ niger. Zwischenwesen zwischen einem Mehr und einem Weniger, einem Besseren und ei­ nem Schlechteren, einem Diesseits und einem Jenseits. Widrige Umstände können ohne vor­ zuwarnen die Sicherheit zerbersten lassen, in der man sich wie ein unverrückbares Glied auf der günstigen Seite des Schicksals einge­ richtet glaubt. Letzteres kann uns jederzeit aus der gewohnten oder gemeinsamen Bahn wer­ fen. Niemand ist davor gefeit, der kollektiven Norm entfremdet zu werden. Dem gewohnten Lauf des Lebens entfremdet zu werden. Dem Universum der anderen entfremdet zu wer­ den, kraft eines kollektiven Blickes. Um zu schließen: Worin besteht die zu­ gleich individuelle und universale Herausfor­ derung, die dieser Reflexion zugrunde liegt? Sie ist einfach, sie ist immens: der Einzigar­ tigkeit gerecht zu werden, sogar in ihren mit­ unter extremen Ausdrucksformen; jedem zu gewähren, seine ureigenste Biographie dem Gemeinwohl beizusteuern; sich gegenseitig durch das soziale Band eine Teilhabe am Uni­ versalen zu verschaffen; zuzugestehen, dass die Vulnerabilität sich an der Wurzel, im Zen­ trum, im Innersten eines jeden Daseins und einer jeden Existenz befindet.

Anmerkungen 1 Julia Kristeva, Professorin an der Université Paris  7 Denis Diderot; Schriftstellerin und Psy­ choanalytikerin (vgl. http://www.kristeva.fr/). Charles Gardou, Professor an der Université Lumière Lyon 2; 1. Vorsitzender und Gründer der Reliance – Collectif de Recherche sur les situations de Handicap, l’Education et les Sociétés (vgl. http:// crhes.free.fr/). Beide gemeinsam haben 2003 den Conseil National Handicap „Sensibiliser, informer, former“ (vgl. http://www.cnhandicap.org/Conseil NationalHandicap/index.asp) gegründet und 2005 in Paris die Premiers Etats Généraux nationaux sur le handicap organisiert.

2 Anm. d. Ü.: Für die Übersetzung des französi­ schen Begriffes vulnérabilité im Originaltext stehen wir vor der Wahl zwischen dem entspre­ chenden Fremdwort (Vulnerabilität – welches aber, anders als im Französischen, im alltäg­ lichen Sprachgebrauch nicht geläufig ist) oder dem deutschen Wort Verletzlichkeit. In dem hier vorliegenden Text schlagen die Autoren eine Brü­ cke zwischen zwei wichtigen Perspektiven: zum einen sprechen sie den Leser in seinen persönli­ chen Gefühlen an, zum anderen verweisen sie auf verschiedene theoretische bzw. metatheoretische Hintergründe, die jedoch nur durch den Bezug zum subjektiven Empfinden ihren politischen Sinn erhalten und damit sozial wirksam werden können. Dieser Überlegung folgend haben wir uns dazu entschieden, den Begriff Vulnerabilität zu übernehmen, wenn er im Kontext (meta-) theoretischer Erörterungen steht; Verletzlichkeit haben wir vorgezogen, wenn uns schien, dass die Autoren den Leser auf der emotionalen Ebene an­ sprechen. 3 Anm. d. Ü.: In der Einleitung zur ersten Ausgabe der Zeitschrift Reliance von 1999 erläutert Charles Gardou, dass der von uns nicht übersetzte Neolo­ gismus Reliance zunächst auf Roger Clausse zu­ rück geht, der ihn in seinem Werk „Les Nouvelles“ als die Suche nach funktionellen sozialen Verbin­ dungen im Kampf gegen Isolation definierte. In der Folge der 1968er Jahre sei der Begriff erwei­ ternd von dem belgischen Soziologen Marcel Bolle De Bal geprägt worden, im Sinne einer Produk­ tion von Komplementärverbindungen zwischen sozialen Akteuren im Kontext einer Gesellschaft, die eher dahin tendiert, soziale Bande aufzulösen. 4 Anm. d. Ü.: Statt den französischen Begriff hospitalité im Originaltext wörtlich als Gastfreundschaft zu übersetzen, haben wir in diesem Kontext das jemanden willkommen heißen als innere Qua­ lität der „gastgebenden“ Gemeinschaft gewählt. 5 Anm. d. Ü.: Es ist an dieser Stelle zu beachten, dass die Autoren sich auf die aktuelle Lage in Frankreich beziehen. 6 Anm. d. Ü.: Der Begriff enfant différent lässt im Französischen verschiedene Deutungen zu. Zum einen liest er sich umgangssprachlich als ein anderes oder verschiedenes Kind. In der Folge post­ strukturalistischer Theorien weist dieser Begriff allerdings auch auf das Differente bzw. die Differenz hin. Aktuell wird der Begriff enfant différent im pädagogischen Kontext zur Bezeichnung solcher Kinder benutzt, die nach einer besonde­ ren Betreuung verlangen, zugleich aber nicht als behindert oder anderweitig pathologiebehaftet etikettiert werden sollen.

48 

Behinderung und Vulnerabilität

Literatur Beethoven, L. v. (1801): Brief an Dr. Franz Gerhard Wegeler vom 16. November 1801. Bonn: Beetho­ ven-Haus Bonn, Sammlung Wegeler, W 18, Digi­ tales Archiv. Descartes, R. (1637): Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la verité dans les sciences. Leiden: Maire. – Dt. (1997): Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Hamburg: Mei­ ner. Freud, S. (1998 [i. O. 1917]): Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. GW XI: Vorlesungen zur Einfüh­ rung in die Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Fi­ scher. Gardou, Ch. (1996/1997): Naître ou devenir handica­ pé. Le handicap en visages, Vol. 1. Parents d’enfant handicapé. Le handicap en visages, Vol. 2. Frères et sœurs de personnes handicapées. Le handicap en visages, Vol. 3. Professionnels auprès des personnes handicapées. Le handicap en visages, Vol. 4. Tou­ louse: Erès Gardou, Ch. (2006): Fragments sur le handicap et la vulnérabilité: Pour une révolution de la pensée et de l’action. Toulouse: Erès. Gardou, Ch. & Poizat, D. (2007): Désinsulariser le handicap. Toulouse: Erès. Goethe, J. W. v. (2001 [i. O. 1774]): Die Leiden des jun­ gen Werthers. Stuttgart: Reclam. Jabès, E. (1991): Le livre de l’hospitalité. Paris: Gal­ limard.

Kristeva, J. (2003): Lettre au président de la Répub­ lique sur les citoyens en situation de handicap. Pa­ ris: Fayard. Kristeva, J. (2005): Liberté, égalité, fraternité et vul­ nérabilité. In: Kristeva, J. & Fort, P.-L. (éd.): La hai­ ne et le pardon: Pouvoirs et limites de la psychana­ lyse III (95–118). Paris: Fayard. Kristeva, J., Belluteau, E. & Vanier, J. (2007): Quand la Bible parle du handicap. Paris: Salvator. Kristeva, J. & Gardou, Ch. (2006): Handicap: le temps de engagements. Paris: PUF. Nietzsche, F. W. (1999 [i. O. 1889]): Götzen-Dämme­ rung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert. In: Colli, G. & Montinari, M. (Hrsg.): Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienaus­ gabe in 15 Bänden. KSA 6. Berlin: de Gruyter. Pascal, B. (1979 [i. O. 1670]): Pensées sur la religion et sur quelques autres sujets. Saint-Etienne: Édi­ tions de l’Université. – Dt. (1978): Über die Reli­ gion und über einige andere Gegenstände. Heidel­ berg: Schneider. Sartre, J.-P. (1968): Les Mots. Paris: Gallimard. – Dt. (1965): Die Wörter. Hamburg: Rowohlt. Sophokles (2007 [i. O. 401 v. Chr.]: Ödipus auf Kolo­ nos. Stuttgart: Reclam. Winnicott, D. W. (1965): The maturational proces­ ses and the facilitating environment. London: Ho­ garth. – Dt. (2006): Reifungsprozesse und fördern­ de Umwelt. Gießen: Psychosozial-Verlag. [Fachübersetzung: Annette Orphal, Martin Bannert & Ulrike Lüdtke]

Norm und Differenz Jürgen Jaspers

Das Verhältnis von „Norm“ und „Differenz“ im menschlichen Sprachgebrauch hat Sprachwissenschaftler immer schon fasziniert. Wer sich mit Sprache beschäftigt, wird grundsätz­ lich mit einer unvorstellbaren sprachlichen Vielfalt konfrontiert: Es gibt keine zwei Spre­ cher, die auf exakt die gleiche Weise sprechen oder dieselben Erfahrungen mit Sprache ge­ macht haben. Dennoch gelingt es Menschen, mittels Sprache relativ stabile Bedeutungen auszutauschen und miteinander zu kommu­ nizieren (→ Intersubjektive Kommunikation). Bei genauerer Betrachtung ist sogar festzu­ stellen, dass der menschliche Sprachgebrauch durch eine Systematik gekennzeichnet ist, die oft über das hinausgeht, was für eine effizien­ te Kommunikation erforderlich ist, wie ins­ besondere eine unregelmäßige Morphologie und andere unlogisch erscheinende sprachli­ che Strukturen veranschaulichen. Genau diese bemerkenswerte Kombination aus Vielfalt und Systematik hat im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert den Anstoß zu einer blühenden sprachwissenschaftlichen Disziplin gegeben (→ Person und Sprache). Inzwischen weist jedoch vieles darauf hin, dass ein ausschließ­ licher Fokus auf einen kontextunabhängigen Sprachgebrauch einer adäquaten Erklärung von Norm und Differenz im Weg steht und ein stärker integrierender, multidisziplinärer An­ satz erforderlich ist (vgl. Harris 1998).

1  Die Hintergründe Im 19. Jahrhundert versuchten Sprachwis­ senschaftler wie zum Beispiel Rask (1818), Bopp (1816), Grimm (1819–1837) und Ver­ ner (1877) vor allem historische sprachliche Gesetzmäßigkeiten aufzudecken. Beeindruckt

von der offensichtlichen Verwandtschaft zwi­ schen unterschiedlichen Sprachen, wie bei­ spielsweise dem Deutschen, Niederländischen und Englischen, bemühten sich diese Sprach­ wissenschaftler, ein minimales Repertoire uni­ verseller Lautgesetze zu erarbeiten, welche regelmäßig auftretende Lautveränderungen einer bestimmten Sprache zu einem bestimm­ ten Zeitpunkt erfassen. Auf diese Weise ver­ suchten sie, frühere Entwicklungsstufen der Sprache und sogar eine europäische Urspra­ che zu rekonstruieren. Ausschlaggebend war dabei, Differenzen und Ausnahmen zu derar­ tigen Lautgesetzen weitestgehend zu vermei­ den. Diese Differenzen sollten vielmehr unter­ sucht werden, um Regelmäßigkeiten zwischen ihnen aufzudecken. Dieser bloße Vergleich verschiedener iso­ lierter sprachlicher Elemente wurde jedoch von den so genannten Strukturalisten stark kritisiert (de Saussure 1972 [i. O. 1916]). Ih­ nen zufolge ist Sprache keine Ansammlung einzelner sprachlicher Tatsachen, sondern ein durch und durch strukturiertes System, in dem alle Elemente in geordneten Bezie­ hungen zueinander stehen. Demnach kann ein Laut aus der einen Sprache nicht einfach mit einem ähnlichen Laut aus einer ande­ ren Sprache verglichen werden, da die Positi­ on dieser beiden Laute im jeweiligen sprach­ lichen System, in dem sie eine Rolle spielen, nicht zwingend dieselbe ist. Folglich müssen nicht individuelle Lautveränderungen un­ tersucht werden, sondern sprachliche Syste­ me und Veränderungen zwischen diesen. De Saussure unterscheidet dabei zwischen dem „Sprachsystem“ (langue) und dem individuel­ len, veränderlichen „Sprachgebrauch“ (parole), welcher ihm zufolge auf dem Sprachsys­ tem basiert. Seiner Auffassung nach sollten sich Sprachwissenschaftler aus diesem Grund vor allem dem Studium der langue widmen,

50 

Norm und Differenz

auch wenn sich dieser nur über die Unregel­ mäßigkeiten der parole angenähert werden kann (→ Sprache und Sprechen). Eine Syste­ matik wurde dabei ausschließlich der Spra­ che und nicht dem Sprachgebrauch zuge­ sprochen, welcher eine Form menschlichen Handelns darstellt. Diese Art Strukturalis­ mus brachte eine vorübergehende Neuorien­ tierung mit sich: Kontemporäre sprachliche Elemente wurden nicht mehr, wie noch im 19.  Jahrhundert, mit älteren Sprachelemen­ ten in einen diachronen (den historischen Entwicklungsverlauf betrachtenden) Zusam­ menhang gestellt, sondern synchron (den zeit­ gleichen, gegenwärtigen Stand betrachtend) in Beziehung zu anderen zeitgenössischen Elementen derselben Sprache gesetzt. Das heißt, anstelle einer Entstehungsgeschichte wurde eine Art sprachliche Momentaufnah­ me erstellt. Im Prinzip ist diese jedoch bereits zu dem Zeitpunkt, in dem sie gemacht wird, Vergangenheit. Um dieses Problem zu lösen, abstrahierten die Strukturalisten die tatsäch­ liche Zeit und fixierten die zu untersuchen­ de Sprache für einen kurzen Moment – was ihnen später als Installation eines statischen, undynamischen Sprachkonzeptes vorgewor­ fen wurde. Chomsky (1965) nahm in seinen Arbeiten zur Generativen Grammatik eine vergleich­ bare Idealisierung des konkreten sprachli­ chen Kontextes vor. Er war der Ansicht, dass eine effiziente Beschreibung der sprachli­ chen Struktur nur ohne den „Rausch“ und die Restriktionen möglich sei, die der kon­ krete Sprachgebrauch (→ Sprache und Spre­ chen) in einem spezifischen sozio-kulturellen Kontext mit sich bringt. Darum gründete er seine Untersuchungen auf „ideale Sprecher und Hörer in einer vollständig homogenen Sprachgemeinschaft“ (Chomsky 1965, 3). He­ terogenität und Differenz wurden zwar nicht geleugnet, jedoch lediglich als Oberflächen­ erscheinungen betrachtet, die für die Erklä­ rung der tieferen sprachlichen Systematik ir­ relevant seien. Auch hier ist Systematik oder Normativität ein sprachinhärentes (und kog­ nitives) Phänomen. Der tatsächliche Sprach­

gebrauch stellt lediglich eine sekundäre und variable Materialisation des ihm zugrunde liegenden sprachlichen Systems dar. Diese Idealisierung wird jedoch seit den 1960er Jahren in Disziplinen wie der Soziolinguistik (Labov 1966, 1972), der Sprachsoziologie (Fishman 1972) und der linguistischen Anthropologie (Hymes 1972) stark kritisiert. Man wies darauf hin, dass sprachliche Ho­ mogenität weder in einer Sprachgemeinschaft noch innerhalb der individuellen Grammatik existiert. Des Weiteren lässt das Arbeiten mit diesem theoretischen Konstrukt die Systema­ tik des Sprachwandels unbeleuchtet. Durch die Abstraktion von der wirklichen Zeit kann sprachliche Evolution nicht erklärt werden – es sei denn auf Kosten eines diskontinuierli­ chen Wechsels von einem zum anderen in­ tern strukturierten System (vgl. Meeuwis & Brisard 1993, 15 ff.). In der linguistischen Anthropologie betonte man zudem, dass der Sprachgebrauch immer vom soziokulturellen Kontext durchdrungen ist, in dem er verwen­ det wird. Um „kompetent“ kommunizieren zu können, genügt nicht allein die (kognitive) Kenntnis des sprachlichen Systems, sondern ist auch eine soziokulturelle, kommunikative Kompetenz sowie die Kenntnis sozialer Ver­ haltensregeln erforderlich, ohne die syntakti­ sche Regeln nahezu sinnlos sind. Neu und von zentralem Interesse war, dass Labov und andere nachweisen konnten, dass der Sprachgebrauch durch eine strukturierte und nicht durch eine willkürliche Variation gekennzeichnet ist. In seiner Untersuchung (Labov 1966) zum postvokalischen [r] des New Yorker Englisch (wie in far oder fourth) wurden Verkäufer gefragt, wo sich bestimm­ te, in der vierten Etage erhältliche Artikel be­ finden: „Excuse me, where are the women’s shoes?“, worauf der Verkäufer „fourth floor“ antwortete. Es stellte sich heraus, dass Ver­ käufer in Kaufhäusern mit hohem Prestige das postvokalische [r] (→ Hören und Spre­ chen) mit einer hohen Frequenz produzier­ ten, hingegen in Kaufhäusern, die vornehm­ lich von durchschnittlich verdienenden oder ärmeren Kunden besucht wurden, die Aus­



Soziale Normen   51

sprachefrequenz des [r] geringer oder sehr ge­ ring war. Des Weiteren zeigte Labov auf, dass Menschen, die gewöhnlich kein postvokali­ sches [r] produzieren, dies sehr wohl in Situa­ tionen tun, die als formell empfunden werden und sie sich auf diese Weise symbolisch mit einem höheren Prestige oder Status schmü­ cken. Es scheint demnach eine systemati­ sche Korrelation zwischen sozialen Variab­ len (Kaufkraft, Geschlecht) und sprachlichen Variablen (der Realisierung eines bestimmten Lautes) des Sprechers zu bestehen, die zudem dynamische soziolinguistische Muster auf­ weist: Der Gebrauch bestimmter, mit höheren sozialen Schichten korrelierender Laute durch weniger kaufkräftige Gruppen kann zuneh­ men, einen Einfluss auf andere Laute ausüben und auf diese Weise sprachliche Veränderun­ gen herbeiführen. Labov konnte durch die­ se Ergebnisse nachweisen, dass der konkrete Sprachgebrauch (parole), der zuvor lediglich als Oberflächenerscheinung des ihm zugrun­ deliegenden Sprachsystems (langue) betrach­ tet wurde, nicht nur strukturiert ist, sondern sogar einen Einfluss auf eben dieses System ausübt. Die „korrelationale Soziolinguistik“ La­ bovs ist bis heute sehr weit verbreitet. Trotz seines Bestrebens hat sie die synchron und sprachsystematisch ausgerichtete Linguistik jedoch nicht ersetzt. Dennoch stellt sie eine unverkennbare Nische der Forschung dar, in­ nerhalb derer die Untersuchung strukturier­ ter sprachlicher Heterogenität, des Zusam­ menhanges zwischen Sprache und sozialer Bedeutung und die Frage, wie dieser Zusam­ menhang (durch die Übernahme prestigerei­ cher Formen) sprachlichen Wandel hervor­ bringen kann, im Vordergrund stehen. Die Übernahme prestigereicher Formen geschieht jedoch nicht zwangsläufig und manche Grup­ pen bevorzugen weiterhin den Gebrauch ei­ gener, weniger prestigereicher Formen. Aus diesem Grund wird in der Soziolinguistik zwischen Formen mit „offenem“ Prestige (von jedem als Form mit hohem Status anerkannt) und Formen mit „verborgenem“ Prestige (in­ nerhalb einer spezifischen, lokal begrenzten

Gemeinschaft) unterschieden. Mit anderen Worten: Zur Erklärung von Differenz bezieht man sich in der Regel auf das Konzept der so­ zialen Norm oder Gruppennorm.

2  Soziale Normen In der korrelationalen Linguistik – sowie in älteren linguistisch-anthropologischen und sprachsoziologischen Studien – werden sozia­ le Normen im Allgemeinen als Konsens einer Sprachgemeinschaft definiert, was als norma­ ler, angemessener oder gewünschter Sprach­ gebrauch empfunden wird. Die einzelnen Mit­ glieder solcher Gemeinschaften hegen in der Regel eine gewisse Loyalität gegenüber diesen Gewohnheiten – es sei denn, sie streben nach negativen Sanktionierungen. Je stabiler eine Gemeinschaft, desto stärker ist auch das Fest­ halten an Gruppennormen (→ Behinderung und Vulnerabilität) und der Wunsch, sich an den gemeinsamen Sprachgebrauch anzupas­ sen, bzw. desto größer ist die Chance, dass be­ stimmte Formen ein verborgenes Prestige be­ sitzen. In loseren Netzwerken haben exogene Formen mit offenem Prestige eine große Chan­ ce auf Übernahme und Verbreitung. Aus die­ ser Perspektive werden mehrsprachige (→ In­ terkulturalität und Mehrsprachigkeit) oder multidialektale Gruppen als Gemeinschaften betrachtet, in denen sich individuelle Sprecher an verschiedene Normen in unterschiedlichen Bereichen anpassen und auf diese Weise eine vielfältige kommunikative Kompetenz entwi­ ckeln. In westlich geprägten Städten kommen beispielsweise Mitglieder anderssprachiger Minderheiten meistens mit Normen des häus­ lichen Sprachgebrauchs innerhalb familiärer Kontexte oder während religiöser Aktivitäten in Berührung, während sie sich in der Schu­ le oder am Arbeitsplatz an die Standardspra­ che anpassen. Veränderungen in diesem sta­ bilen System entstehen, wenn der Wert einer bestimmten Varietät durch externe Faktoren verändert wird und sich innerhalb der mehr­

52 

Norm und Differenz

sprachigen Gemeinschaft neue Evaluations­ muster entwickeln. So zeigte Gal (1979) in einer ethnographischen Studie, dass die pro­ blemlose Koexistenz des Ungarischen und des Deutschen in der österreichischen Ober­ wart – jede Sprache mit ihrem eigenen loka­ len Prestige und ihrer eigenen Funk­tion – sich unter dem Einfluss der industriellen Entwick­ lung zu einer diglossischen (zweisprachigen) Situation entwickelte, in der dem Deutschen ein hoher und dem Ungarischen ein niedriger Status zugesprochen wurde, was die Margina­ lisierung und allmähliche Verdrängung des Ungarischen innerhalb dieser mehrsprachigen Gemeinschaft zur Folge hatte. Viele dieser Erklärungen gestalten sich dennoch als problematisch, weil sie unter an­ derem von der grundlegenden Annahme aus­ gehen, dass Gruppen klar voneinander ab­ gegrenzt werden können und ihre jeweiligen Mitglieder mehr oder weniger gleich gestellt sind: Aufgrund ihrer Mitgliedschaft in einer spezifischen Gruppe produzieren die Mitglie­ der quasi automatisch und auf gleiche Weise einen Sprachgebrauch, der die Identität dieser Gruppe widerspiegelt bzw. signalisiert; oder aber diese Gewohnheit wurde durch Soziali­ sierung verinnerlicht. Zusätzlich werden Dif­ ferenz und Abweichung von der Norm meist als vorübergehende Erscheinungen betrach­ tet: Auf die Einführung einer sprachlichen Abweichung – wie beispielsweise eine neue Bedeutung eines bereits existierenden Wor­ tes  – folgt eine Periode der relativen Unsi­ cherheit über das, was der Norm entspricht, welche jedoch schließlich in einen neuen Konsens und in eine allgemeine Akzeptanz dieses neuen Gebrauchs übergeht (vgl. Mil­ roy 1992) – es sei denn, die Variation wird als symptomatisch für eine andere, bisher unbe­ achtete Subgruppe innerhalb dieser Sprachge­ meinschaft betrachtet, wie dies oft bei der Ju­ gendsprache der Fall ist (vgl. 5). Auf diese Weise schleicht sich jedoch die in den Arbeiten der Strukturalisten kritisierte Homogenität erneut in soziolinguistische und ethnographische Erklärungen von Norm und Differenz ein. Sprachgemeinschaften werden

zwar als heterogen, ihre verschiedenen Teile aber als homogene (oder homogen handeln­ de und denkende) Gruppen betrachtet, in­ nerhalb derer ein Konsens herrscht oder aber sich ihre Mitglieder auf dem Weg zu einem solchen Konsens befinden. Variation und Konflikt werden vor allem zwischen homoge­ nen Gruppen bemerkt, aber innerhalb dieser Gruppen werden sie regularisiert, idealisiert oder zumindest nicht weiter beachtet (Ramp­ ton 1998, 18). Nach Cameron (1995, 15) führten all die­ se Bemühungen schließlich zu zwei vorherr­ schenden Erklärungsansätzen für das Ver­ hältnis von Norm und Differenz: 1. Der Sprachgebrauch ist ein Spiegel von Gruppe(n) oder eines sprachlichen Netz­ werkes, dem man angehört (aus diesem Grund können Korrelationen zwischen sprachlichen und sozialen Variablen gezo­ gen werden); oder 2. Menschen signalisieren ihre Mitglied­ schaft zu einer bestimmten sozialen, ge­ schlechtlichen, ethnischen, religiösen oder altersspezifischen Gruppe durch ihren Sprachgebrauch. Problematisch an diesen beiden Erklärungs­ ansätzen ist, dass der Sprachgebrauch als blo­ ße Reflexion oder Signalisierung bereits be­ stehender Identitäten betrachtet wird (→ Person und Sprache). So wird Sprachgebrauch im Hinblick auf eine primäre, in diesem Fall soziale Systematik, erneut als sekundär be­ trachtet. Schwieriger gestaltet sich jedoch die Tatsache, dass diese Erklärungen auf einer deterministischen Auffassung von sozialer Nor­ mativität beruhen. Obwohl in soziolinguisti­ schen Arbeiten die theoretischen Prämissen, auf denen die Bezugnahme auf soziale Nor­ men gründet, nie besonders expliziert werden (und sogar versucht wird, einer öffentlichen Interaktion mit soziologischer Theoriebildung konsequent auszuweichen; vgl. Hudson 1996, 4; Williams 1992), sind diese Prämissen zu­ mindest teilweise durch den Sozialfunktionalimus Parsons (1937) inspiriert, der soziale Nor­ men als verinnerlichte Sozialisierungsprozesse



Eine postmoderne Perspektive   53

betrachtet. Soziale Handlungen und psycholo­ gische Profile sind in dieser Hinsicht isomorph (strukturgleich). Garfinkel et al. (1967) wei­ sen jedoch darauf hin, dass eine solche Auf­ fassung eine Reduzierung der Menschen auf so genannte „judgemental dopes“ bedeutet, das heißt auf Wesen ohne eigene Rationalität und Reflexivität, welche lediglich ausführen, was sie verinnerlicht haben (vgl. Heritage 1984). Bewusste Variation oder Widerstand sind in diesem Rahmen nur schwer erklärbar, weil diese gerade das Beurteilungsvermögen vor­ aussetzen, welches den Individuen zur Erklä­ rung ihres normativen Verhaltens abgespro­ chen wird. Die vorangegangenen Ausführungen ver­ deutlichen, dass eine Erklärung von normati­ vem und variablem Sprachgebrauch trotz der Wichtigkeit der sozialen Bedeutung sprach­ licher Phänomene und ihres unverkennba­ ren Zusammenhanges mit Normativität nicht ohne eine angemessene Erklärung des nor­ mativen menschlichen Verhaltens auskommt. Soziale Phänomene wie Normen können also nicht lediglich als Mittel dienen, um Mus­ ter im Sprachgebrauch zu erklären, sondern müssen selbst Gegenstand der Untersuchung sein. Die Frage, woher Normen kommen und wie diese „in“ den Menschen „hineingera­ ten“ und feste soziale Muster hervorbringen, ist daher keineswegs überflüssig. Eine rela­ tiv aktuelle, aber fundamental „poststruktu­ ralistische“ Reorientierung der Annahmen, auf denen wissenschaftliche Untersuchun­ gen beruhen (vgl. Foucault 1970), beschäf­ tigt sich mit exakt denselben Fragen. In Dis­ ziplinen wie der Philosophie, Soziologie und Kulturtheorie werden Konzepte wie Norma­ tivität und Identitäten, soziale Schicht oder Geschlecht immer häufiger als relativ instabile Konstrukte betrachtet (→ Behinderung und Vulnerabilität), die selbst erst einer Erklärung bedürfen, bevor sie bei der Analyse von ande­ ren Phänomenen eingesetzt werden können. Weniger als der Endpunkt wird Sprache da­ bei vielmehr als ein Teil dieser Erklärung be­ trachtet.

3  Eine postmoderne Perspektive Im soziologisch inspirierten Sozialkonstruktivismus (Giddens 1984) wird suggeriert, dass Sprache nicht das Resultat, sondern im Ge­ genteil einen Teilaspekt sozialen Handelns darstellt und einen konkreten Einfluss auf die alltägliche soziale Struktur ausübt. SozialKonstruktivisten vertreten die Ansicht, dass Menschen keine wehrlosen Opfer für sie un­ begreiflicher und unkontrollierbarer Mächte sind, aber ebenso wenig allmächtige Erschaf­ fer ihrer eigenen Umstände darstellen. Genau­ er gesagt, gestalten Menschen die (ungleiche, sozial-stratifizierte) Gesellschaft in ihren all­ täglichen Interaktionen zumindest teilweise je aufs Neue, wobei Sprache dabei ein wesentli­ cher Baustein ist. Diese Interaktionen finden jedoch nicht im luftleeren Raum statt, sondern sind durch „Routinisierung“ gekennzeichnet. Dies bedeutet, dass Menschen ein Bedürfnis nach Routine und Vorhersagbarkeit haben und sie sich gegenseitig auch fortlaufend für das Reproduzieren dieser Routinen sowie der per­ sönlichen Identitäten und (Macht-)Verhält­ nisse, die durch diese Routinen gewährleistet werden, verantwortlich machen (vgl. Giddens 1984, Garfinkel 1967). Variation ist in dieser Hinsicht von elementarer Bedeutung: Jeden Tag, jeden Moment finden neue und kreati­ ve sprachliche Handlungen statt, auch wenn diese durch die menschliche Wahrnehmung von dem, was als akzeptables, vorhersehbares Verhalten gilt, geformt werden. So betrachtet, sind soziale Normen weder als ein begrenztes Repertoire bereits bestehender Regeln noch als ein verinnerlichtes, von den Menschen le­ diglich ausgeführtes Programm zu verstehen, sondern als alltägliche Produkte menschlicher face-to-face-Interaktionen, die in neuen Inter­ aktionen stets bestätigt werden müssen. Als Folge dessen wird die Mitgliedschaft in einer Gruppe nicht mehr als eine feststehen­ de Tatsache oder ein unvermeidbares Erbe be­ trachtet, sondern als ein Produkt, das fortlau­ fend im „Hier und Jetzt“ rekonstruiert wird. Weniger als ein bloßer Spiegel oder die Be­

54 

Norm und Differenz

tonung einer bereits bestehenden Gruppen­ identität wird der Sprachgebrauch (→ Spra­ che und Sprechen) vielmehr als Teil einer komplexen kommunikativen Praxis betrach­ tet, in der in konkreten Situationen bestimm­ te Gruppenidentitäten mit unterschiedlicher Kaufkraft und Zugangsberechtigung her­ vorgerufen, vermieden oder erneut konfigu­ riert werden und innerhalb derer die Sprecher Co-Partizipierende in Diskursen darstellen, durch die ihnen in den Gesellschaften, in de­ nen Grenzen und Möglichkeiten ungleich verteilt sind (Rampton 1998, 12), schließlich unterschiedliche Positionen zugewiesen wer­ den. Eine solche Auffassung menschlichen Verhaltens verdeutlicht, dass ein Konsens das Ergebnis menschlicher Interaktion darstellt, die nicht für jeden Teilnehmer gleichermaßen vorteilhaft ist. Wenn menschliche Interak­tion zwischen ungleich gestellten Teilnehmern stattfindet, ist eine Re-Konstruktion der ge­ sellschaftlichen Verbindung oder der dar­ in gültigen Routinen, die diese Ungleichheit aufrecht erhalten, nachteilig für diejenigen, die als Folge dessen häufiger mit Restriktio­ nen und geringeren Möglichkeiten konfron­ tiert werden. Ein „Konsens“ oder eine „Norm“ ist das Produkt einer Auseinandersetzung zwischen Ungleichen und bleibt daher nie un­ angefochten. Variation und Konflikt sind un­ vermeidlich. Die wohl sicherlich wichtigste Verände­ rung, die mit einer postmodernen Perspektive einhergeht, ist die Tatsache, dass nicht nur Handlungen, sondern auch die Wahrnehmung derselben zum Gegenstand der Unter­ suchung geworden ist (→ Sprache und Wahr­ nehmung). Handlungen und Wahrnehmung werden zudem als untrennbar betrachtet. Innerhalb dieser Perspektive verfügen Spre­ cher über metalinguistische Konzeptualisierungen, das heißt, sie besitzen Vorstellungen über Qualität, Funktion, Status oder „Ge­ schmack“ bestimmter sprachlicher Formen und Varietäten und deren Verbindung zu be­ stimmten sozialen Gruppen. Diese Konzep­ tualisierungen begleiten das kommunikative Verhalten der Sprecher maßgeblich und füh­

ren zu Handlungen, in denen diese Konzep­ tualisierungen erneut produziert werden (vgl. Calvet 2006). In Übereinstimmung mit dem oben Gesagten werden diese Vorstellungen und Assoziationen jedoch als Konfliktstätten oder Erwartungshaltungen bezeichnet, die als konstituierend für soziologisch-politische Prozesse betrachtet werden und die einen konkreten Einfluss darauf haben, wem ein bestimmter Sprachgebrauch zugeschrieben wird (Blommaert 2005). Die Einsicht, dass Handlungen und Per­ zeption sich reziprok beeinflussen, hat auch die Sprachwissenschaft als wissenschaftli­ che Disziplin nicht unbeeinflusst gelassen. Wenn alles durch den Filter der menschlichen Wahrnehmung betrachtet wird, besteht folg­ lich keine ideologiefreie Plattform, von der aus andere Phänomene beobachtet werden können. Im Gegensatz etwa zu „Spektakel“, Zufälligkeit oder der Loslösung der Sprache von der sozialen Welt wurde beispielsweise das Interesse für die grammatikalische Sys­ tematik und Kohärenz, welches früher in sprachwissenschaftlichen Untersuchungen als ausschlaggebend und selbstverständlich betrachtet wurde, als charakteristisch für eine modernistische Perspektive auf Sprache und ihre Erforschung betrachtet. Diese zuletzt ge­ nannte Perspektive wurde von diesem Zeit­ punkt an selbst zum Gegenstand – und nicht zum Ausgangspunkt – der Untersuchung und hat damit den Anstoß zu sprachideologischen Untersuchungen gegeben, in denen argumen­ tiert wird, dass Sprachen keine natürlichen oder objektiven Entitäten sind, sondern un­ ter anderem durch Sprachwissenschaftler benannt und ins Leben gerufen werden und einen Einfluss auf den konkreten Sprachge­ brauch ausüben (Calvet 2006, Harris 1998, Schieffelin et al. 1998). Diese postmoderne Wende brachte eine deutliche Interessensverschiebung bei der Untersuchung des Sprachgebrauches mit sich. So ist seit Anfang der 1990er Jahre eine deut­ liche Zunahme mikroanalytischer Studien von Interaktionspraktiken festzustellen, wel­ che reflexive und ambivalente erfinderische



Standardisierung: Aufklärung und Romantik   55

Improvisation und situierte Interpretation in kleinen „Handlungsgemeinschaften“ erfor­ schen (Lave & Wenger 1991), wobei sprachli­ che Konventionen oder Strukturen nur als ein Mittel zur Konstruktion von Bedeutung in Interaktionen betrachtet werden (Pratt 1987, Rampton 1998). Ebenso hat ein postmoder­ ner Blickwinkel es sehr viel weniger selbst­ verständlich werden lassen, eine Beschrei­ bung des „Sprachgebrauchs von X“ oder des „Sprachgebrauchs von dieser oder jener sozia­ len Gruppe“ zu erstellen (Rampton 2006, 17). Daneben ist deutlich geworden, dass objekti­ ve Kategorien wie „Alter“ oder „Ethnizität“ nicht per se Sprachgebrauchsmuster verursa­ chen, sondern dass Regelmäßigkeiten durch die Art und Weise hervorgebracht werden, wie Sprecher diese Kategorien wahrnehmen und sowohl sich selbst als auch andere dazu bewegen, sich dementsprechend zu verhalten. Diese postmoderne Anerkennung von Diversität und Pluralismus (→ Behinderung und Vulnerabilität) steht jedoch in einem Kontrast zu weit verbreiteten, dominanten Auffassun­ gen von Sprachgebrauch in spätmodernen westlichen Gesellschaften, die ein Höchst­ maß an Uniformität, Homogenität und Stan­ dardisierung anstreben. Diese werden meist aus Vorstellungen der Aufklärung und Ro­ mantik gespeist.

4 Standardisierung: Aufklärung und Romantik Obwohl Standardsprachen in der Regel als quasi natürlich auftretende Phänomene be­ trachtet werden, sind sie unverkennbar mit der Aufklärung, den damit einhergehenden rationalistischen Ideen über Sprache (u. a. von John Locke) (→ Person und Sprache) und über deren Zusammenhang mit Politik und Wis­ senschaft verbunden – insbesondere mit der Notwendigkeit eines modernen Staates nach einem Kommunikationsmittel, das frei von so­ zialer Indexikalität (bestimmten Bedeutungen

und Beiklängen), Ambiguität, Frivolität oder der Inkonsistenz, den Verwirrungen, Miss­ verständnissen und politischen Konflikten ist, die daraus entstehen können. Nach dieser Auffassung muss Sprache ein referenziell prä­ zises Instrument sein: Eine sprachliche Rea­ lisierung rationalen Denkens (→ Kognition und Emotion), auf der durch wissenschaftli­ chen Kenntniserwerb individuelle Aufklärung und schließlich sozialer Fortschritt gegründet werden können. Wenn eine „Sprache der Ver­ nunft“ entwickelt und auf ein öffentliches Fo­ rum übertragen werden könnte, bestünde die Möglichkeit, dass Wahrheit und Vernunft dort für Einheit, Gleichheit und Frieden sorgen könnten – die Sprachpolitik des französischen Staates nach der Revolution (welche die Aus­ rottung aller Variation zum Vorteil des Fran­ zösischen als Einheitssprache zum Ziel hatte) stellt hierfür ein Paradebeispiel dar. Die diskursiven Praktiken jedoch, die als Vorbild der modernen, „zivilen“ Kommuni­ kation galten und auf der die Standardvarietät gründen musste, wurden ursprünglich (und auch heute noch) in sehr geschlossenen, eli­ tären sozialen Netzwerken situiert. Auf diese Weise wurden (und werden) genau diejeni­ gen Gruppen ausgeschlossen, deren Sprachge­ brauch als „provinziell“, „chaotisch“, „frivol“, „folkloristisch“, „ungebildet“ oder „mehr­ deutig“ und aus diesem Grund als „ungeeig­ net“ betrachtet wurde, um einen Beitrag zu Fortschritt und Bildung leisten zu können – nämlich Frauen, Arme, Leute „vom Land“, Analphabeten und Nicht-Europäer. Die Be­ zeichnung des Sprachgebrauchs einer spezi­ fischen Gruppe als „modern“ rechtfertigt auf diese Weise ungleiche soziale Verhältnisse (Baumann & Briggs 2003). Diese modernistischen Auffassungen von Sprache sind dennoch in großen Teilen Europas (und darüber hin­ aus) weit verbreitet und haben zu „Regimes sprachlicher Säuberung“ geführt (vgl. Bau­ man & Briggs 2003, Cameron 1995, Silverstein 1998). Diese Regimes fordern von ihren Spre­ chern eine fortlaufende Selbstdisziplin und den Gebrauch (der einzigen) korrekten und präzisen Formen, von denen angenommen

56 

Norm und Differenz

wird, dass sie zu einer geistigen Entfaltung und schließlich Emanzipation führen – was wiederum mit einer Stigmatisierung „unsau­ berer“, dialektaler Sprachformen einhergeht. Dieser Emanzipationsprozess wird zudem vor allem als ein individuelles Geschehen be­ trachtet: Menschen werden als rationale, mit einem freien Willen ausgestattete Wesen be­ trachtet, den sie im Prozess des wissenschaft­ lichen Kenntniserwerbs beliebig einschalten können. Diejenigen, denen diese Selbstdiszi­ plin fehlt oder die sich nicht ausreichend be­ mühen, „verdienen“ so gesehen die Marginali­ sierung und Ausgrenzung (vgl. Foucault 1970, Baumann & Briggs 2003, Blommaert 2005) (→ Behinderung und Vulnerabilität, → Dia­ logaufbau unter schweren pathologischen Be­ dingungen). Daneben wird in verschiedenen Regio­ nen Standardisierung auch stark durch das romantisch-nationalistische Streben nach sprachlicher Homogenität genährt. In der romantischen Auffassung werden Traditionen als Träger des lebendigen volkspoetischen Ausdrucks betrachtet, die für eine kollektive emotionale Verbundenheit (→ Kognition und Emotion) und Vaterlandsliebe sorgen kön­ nen. Authentische Traditionen müssen daher weitestgehend bewahrt und anerkannt wer­ den, um die Basis oder gar die „Seele“ einer authentischen und lebenskräftigen nationalen Standardsprache bilden zu können. Korrum­ pierte, nicht volkseigene Traditionen müssen dagegen vermieden oder beseitigt werden. Natürlich bringt auch dieses Streben ein Re­ gime der Säuberung mit sich, in dem „abwei­ chender“ und „substandardisierter“ Sprach­ gebrauch problematisiert, nur vorübergehend geduldet oder als Mangel an Stolz und Vater­ landsliebe betrachtet wird. Ebenso sind Urtei­ le über die Authentizität von Traditionen Stät­ ten einer reellen Machtausübung (Bauman & Briggs 2003).

5 Globalisierung und ­Jugendsprache Diese homogenisierenden Tendenzen geraten in spätkapitalistischen Gesellschaften jedoch in Konflikt mit der so genannten „Globalisierung“ (→ Person und Sprache). Diese Bezeichnung zielt auf die explosionsartig zugenommenen Transport- und Kommunikationsmöglichkei­ ten sowie auf die Tatsache, dass sich verschie­ dene soziale Prozesse – beispielsweise Arbeit, die moderne technologische Kulturindustrie (→ Medien) – nicht mehr lediglich innerhalb nationaler Grenzen entwickeln, sondern trans­ nationalen Dynamiken entsprechen. Folglich entsteht eine äußerst intensive Wechselwir­ kung und ein Austausch zwischen lokalen und nicht-lokalen Ebenen, auf denen sehr unter­ schiedliche sprachliche Produkte und Identitä­ ten zirkulieren, die ihre lokalen oder weniger lokalen Kontexte übersteigen oder durchkreu­ zen, in neue Kontexte integriert und mit den dort geltenden Wahrnehmungen und Evaluati­ onsgewohnheiten konfrontiert werden (Blom­ maert 2005). Globalisierung führt mit ande­ ren Worten zu einer Zunahme oder zumindest verstärkten Sichtbarkeit der Heterogenität, durch die das Streben nach sprachlicher und ethnischer Homogenität unter Druck gesetzt wird (→  Behinderung und Vulnerabilität). In diesem Zusammenhang kann in den letzten 20 Jahren eine signifikante Veränderung kom­ munikativer Muster festgestellt werden. So ist der öffentliche Diskurs einer zunehmenden „Konversationalisierung“ unterworfen (Fair­ clough 1995). Fachleute und fachspezifischer Sprachgebrauch erhalten dabei weniger Beach­ tung, was unter anderem eine Zunahme sub­ standardisierten Sprachgebrauchs in denjeni­ gen Bereichen zur Folge hat, in denen früher der Gebrauch der Standardsprache vorherrsch­ te, wie beispielsweise im Fernsehen oder in Schulklassen. Zusätzlich hat die aktive Kritik von Soziolinguisten an einer allzu strengen Präskription von Standardvarietäten im Unter­ richt für eine zumindest vorübergehende An­ erkennung von Varietäten gesorgt.



Globalisierung und ­Jugendsprache   57

Im Allgemeinen wird (sprachliche) Differenz also sichtbarer und scheinbar auch anerkannt. Zugleich führt ihre Wahrnehmung jedoch zu moralischen Ängsten und verstärkten Stan­ dardisierungsimpulsen, die oft in Kombina­ tion mit „strengen“ politischen Koalitionen (Cameron 1995) auftreten. Aber auch in einem „milderen“ Diskurs, in dem Staaten ausdrück­ lich eine Regierung der Chancengleichheit befürworten und auf diese Weise die Integra­ tion, Emanzipation und Aktivierung traditio­ neller Problemgruppen unterstützen, besteht kein Zweifel an der Qualität des Sprachge­ brauchs, der die Basis eines solchen Eman­ zipationsprozess bilden sollte (→ Sprachför­ derbedarfe im Förderschwerpunkt Lernen). Schließlich werden im Unterricht Sprachen ethnischer Minderheiten in der Regel nicht als Mittel zum Wissenserwerb und seiner Weiter­ entwicklung eingesetzt (→ DaZ) – genau so wie die Standardversion der nationalen Spra­ che, trotz ihrer manchmal geringen Beach­ tung am Arbeitsplatz, für gewöhnlich als das Tor zu sozialem Aufstieg und Erfolg auf dem Arbeitsmarkt betrachtet wird (Blommaert 2005). In diesem Spannungsfeld werden in eu­ ropäischen Städten immer mehr Phänome­ ne wie „Straßensprache“, „Jugendsprache“ oder ethnisch-gemischter und/oder substan­ dardisierter Sprachgebrauch bei Jugendli­ chen registriert, die regelmäßig zum Thema der gesellschaftlichen Debatte und Besorg­ nis werden (vgl. Androutsopolous & Georg­ akopoulou 2003; Androutsopolous 2005, 2006; Jaspers 2005, 2006; Rampton 2006). Migrations- und Flüchtlingsströme haben in europäischen Städten Schulen und multi-eth­ nische (meist arme) Bezirke entstehen lassen, in denen Jugendliche mit diversen sprachli­ chen Hintergründen miteinander (und mit der dominanten Sprachvarietät) in Kontakt kommen. In diesen Kontexten findet häufig ein intensiver Austausch von Sprachmateri­ al statt: Jugendliche nehmen ihren gegensei­ tigen Sprachgebrauch in Codewechseln auf, vermischen diese mit ihrem eigenen Sprach­ gebrauch oder stilisieren ihren gegenseitigen

Sprachgebrauch zu spektakulären oder äs­ thetischen Verformungen. Die Auswirkungen dieser Sprachkontaktsituation werden ver­ mehrt in den Medien thematisiert oder wei­ ter stilisiert – wie beispielsweise im Fall des „Türken-Deutsch“ (vgl. Zaimoğlu 72007). Ih­ rerseits können diese Stilisierungen in Netz­ werken von Jugendlichen erneut aufgegrif­ fen und weiterverarbeitet werden. Darüber hinaus weisen Sprachwissenschaftler dar­ auf hin, dass sowohl der häusliche Sprach­ gebrauch von Jugendlichen als auch der Gebrauch der dominanten sprachlichen Va­ rietät durch diese Kontaktsituation gefärbt sein kann und auf phonologischer, morphosyntaktischer sowie lexikalischer Ebene sig­ nifikant von der Standardvarietät abweicht, was zur Identifikation von Ethnolekten wie  „Marokkaner-Niederländisch“, „PolenEnglisch“ oder „Türken-Deutsch“ geführt hat. Andere Autoren machen darauf aufmerk­ sam, dass diese Ethnolekte – ebenso wie das Konzept der „Jugendsprache“ – erneut dazu führen, dass einer von vornherein abgegrenz­ ten und als homogen bezeichneten Gruppe, in der ein Identitätsmerkmal (z. B. „Jugend“, „Ethnizität“) zum Nachteil anderer hervor­ gehoben wird, eine bestimmte Art zu spre­ chen zugewiesen wird. Darum präferieren sie zu untersuchen, wie Jugendliche sich anhand ihres Sprachgebrauchs untereinander und ge­ genüber ihnen vertrauten Erwachsenen po­ sitionieren und sich in den verschiedenen soziokulturellen Stilen und Prozessen ihrer Umgebung situieren. Untersuchungen weisen darauf hin, dass der kreative Sprachgebrauch von Jugendlichen viele nützliche metalinguis­ tische Informationen über die Wahrnehmung und Bedeutung spezifischer sprachlicher For­ men innerhalb etablierter sozialer Routinen und Hierarchien enthält. Weniger als eine „neue Varietät“ muss der Sprachgebrauch Ju­ gendlicher daher vielleicht vielmehr als ein Ort betrachtet werden, welcher die sprach­ ideologischen Bruchlinien der Gesellschaft sichtbar macht (→ Behinderung und Vul­ nerabilität), wo Jugendliche sich symbolisch

58 

Norm und Differenz

von lokalen und anderen Erwartungen, Stilen und Routinen abgrenzen, diese aufnehmen oder kommentieren und auf diese Weise ver­ suchen, den negativen Auswirkungen dieser Erwartungen und Routinen zu entkommen, diese spielerisch anzuprangern oder selbst eine dominante Position (und den dazugehö­ rigen Sprachgebrauch) auf Kosten anderer in ihrer Umgebung anzustreben.

Literatur Androutsopoulos, J. (2005): Und jetzt gehe ich chil­ len: Jugend- und Szenesprachen als lexikalische Erneuerungsquellen des Standards. In: Eichinger, L. M. & Kallmeyer, W. (Hrsg.): Standardvariation. Wie viel Variation verträgt die deutsche Sprache? (171–206). Berlin: de Gruyter. Androutsopoulos, J. (2006): Jugendsprachen als kom­ munikative soziale Stile. Schnittstellen zwischen Mannheimer Soziostilistik und Jugendsprachen­ forschung. Deutsche Sprache 1, 2, 106–121. Androutsopoulos, J. & Georgakopoulou, A. (2003): Discourse constructions of youth identities. Ams­ terdam: Benjamins. Bauman, R. & Briggs, C. L. (2003): Voices of moderni­ ty. Language ideologies and the politics of inequa­ lity. Cambridge: Cambridge University Press. Bopp, F. (1816): Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germa­ nischen Sprache. Frankfurt a. M.: Andreä. Blommaert, J. (2005): Discourse. A critical introduc­ tion. Cambridge: Cambridge University Press. Calvet, J. L. (2006): Towards an ecology of world lan­ guages. Cambridge: Polity Press. Cameron, D. (1995): Verbal hygiene. London: Rout­ ledge. Chomsky, N. (1965): Aspects of the theory of syntax. Cambridge (MA): MIT. – Dt. (1973): Aspekte der Syntax-Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Fairclough, N. (1995): Critical discourse analysis. London: Longman. Fishman, J. (1972): The sociology of language. Rowley (MA): Newbury House. Foucault, M. (1970): The order of things. An archa­ eology of the human sciences. New York: Vinta­ ge.  – Dt. (2003): Die Ordnung der Dinge. Frank­ furt a. M.: Suhrkamp. Gal, S. (1979): Language shift. Social determinants of linguistic change in bilingual Austria. New York: Academic Press.

Garfinkel, H. (1967): Studies in ethnomethodology. Englewood Cliffs (NJ): Prentice Hall. Giddens, A. (1984): The constitution of society. Out­ line of the theory of structuration. Cambridge: Po­ lity Press. Grimm, J. (1819–1837): Deutsche Grammatik. 4 Bän­ de. Göttingen: Dieterich. Harris, R. (1998): Introduction to integrational lingu­ istics. Oxford: Pergamon. Heritage, J. (1984): Garfinkel and ethnomethodology. Oxford: Blackwell. Hudson, R. A. (1996): Sociolinguistics. Cambridge: Cambridge University Press. Hymes, D. (1972): On communicative competence. In: Pride, J. & Holmes, J. (Eds.): Sociolinguistics (269–293). London: Penguin. Jaspers, J. (2005): Linguistic sabotage in a context of monolingualism and standardization. Language and Communication 25, 3, 279–297. Jaspers, J. (2006): Stylizing standard Dutch by Mo­ roccan boys in Antwerp. Linguistics and Educa­ tion 17, 2, 131–156. Labov, W. (1966): The social stratification of English in New York city. Washington DC: Center for Ap­ plied Linguistics. Labov, W. (1972): Sociolinguistic patterns. Philadel­ phia: University of Pennsylvania Press. Lave, J. & Wenger E. (1991): Situated learning. Legi­ timate peripheral participation. Cambridge: Cam­ bridge University Press. Meeuwis, M. & Brisard, F. (1993): Time and the dia­gnosis of language change. Antwerp Papers in Linguistics 72. Milroy, L. (1992): Linguistic variation and change. On the sociolinguistics of English. Cambridge (MA): Blackwell. Parsons, T. (1937): The structure of social action. New York: McGraw-Hill. Pratt, M. L. (1987): Linguistic utopias. In: Fabb, N., Attridge, D., Durant, A. & McCabe, C. (Eds.): The linguistics of writing (48–66). Manchester: Man­ chester University Press. Rampton, B. (1998): Speech community. In: Verschu­ eren, J., Östman, J. O., Blommaert, J. & Bulcaen, C. (Eds.): Handbook of pragmatics (1–34). Amster­ dam: Benjamins. Rampton, B. (2006): Language in late modernity. Cambridge: Cambridge University Press. Rask, R. K. (1818): Undersøgelse om det gamle Nor­ diske eller Islandske Sprogs Oprindelse [Un­ tersuchung zum Ursprung der altnordischen oder isländischen Sprache]. Kopenhagen: Gyldendal. Saussure, F. de (1972 [i. O. 1916]): Cours de lingu­ istique générale. Lausanne: Payot. – Dt. (1931): Grundfragen der Allgemeinen Sprach­w issenschaft. Berlin: de Gruyter.



Literatur   59

Schieffelin, B., Woolard, K. & Kroskrity, P. (1998): Language ideologies. Practice and theory. New York: Oxford University Press. Silverstein, M. (1996): Monoglot ‚Standard‘ in Ame­ rica. Standardization and metaphors of linguistic hegemony. In: Brenneis, D. & Macaulay R. (Eds.): The matrix of language. Contemporary linguis­ tic anthropology (284–306). Boulder: Westview Press.

Verner, K. (1877): Eine Ausnahme der ersten Lautver­ schiebung. Zeitschrift für vergleichende Sprach­ forschung 23, 97. Williams, G. (1992): Sociolinguistics. A sociological critique. London: Routledge. Zaimoğlu, F. (72007): Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft. Berlin: Rotbuch. [Fachübersetzung: Andrea Modder & Ulrike Lüdtke]

Person und Sprache Ulrike Lüdtke

1 Zur mehrdimensionalen ­Relation von Person und ­Sprache Blickt man in die Geschichte der Sprachwis­ senschaft, so ist das Phänomen „Sprache“ häu­ fig als Trias von „Sprachvermögen“, „Spra­ che“ und „Sprechen“ beschrieben worden bzw. in der Terminologie de Saussures (1916) als „faculté de langage“, „langue“ und „parole“ (vgl. Abb. 1). Die faculté de langage als spezi­ fisch menschliche Fähigkeit wurde u. a. von der Sprachphilosophie, der philosophischen Anthropologie und der Sprachpsychologie in ihren vielfältigen Facetten beleuchtet. Das Gegensatzpaar langue und parole wurde im Sinne von Sprache als System vs. Sprechen als Handlungsvorgang u. a. als „ergon“ und „ener­ geia“ (von Humboldt 1836) bzw. „Kompetenz“ und „Performanz“ (Chomsky 1965) ausdiffe­

renziert (→ Sprache und Sprechen). Dem ab­ strakten sprachsystematischen Aspekt wid­ mete sich dabei z. B. die strukturalistische, generative und kognitive Linguistik, dem kon­ kreteren pragmatischen Aspekt u. a. die Sozio­ linguistik, Pragmatik, Sprechakttheorie und Ethnomethodologie (Konversationsanalyse). Im Folgenden soll die faculté de langage weiter entfaltet werden, da die menschliche Sprachfähigkeit in einer pädagogisch-thera­ peutischen Verstehens- und Handlungsper­ spektive „Ausgangsbasis und Zielkategorie“ zugleich ist (Braun 32006, 7). Neben → Intersubjektivität und Kommunikation, → Behinderung und Vulnerabilität sowie → Norm und Differenz ist das Verhältnis von Person und Sprache eine der Relationen der Spra­ che (Teil  I dieses Bandes), durch die sich die sprachwissenschaftlichen Gegenstandsdimen­ sionen  (Teil  II), die Beeinträchtigungen der Sprache (Teil III), die fachpraktischen Reflexi­

Abb. 1: Die Trias von „Sprachvermögen“ – „Sprache“ – „Sprechen“



Kultur   61

onsebenen (Teil IV), die zentralen Kategorien der Sprachdidaktik (Teil  V), Unterricht, The­ rapie und Förderung (Teil VI) sowie die Über­ gänge zwischen den verschiedenen Förder­ schwerpunkten (Teil VII) brechen. Zur besseren Durchdringung des kom­ plexen Verhältnisses von Person und Spra­ che wird nachfolgend ein Modell zugrunde gelegt, das erstens versucht, diese Relation hinsichtlich der Dimensionen Kultur, Gesellschaft und Individuum bzw. Selbst zu bestim­ men, sie zweitens jeweils auch hinsichtlich der personalen Veränderungen, die durch Beeinträchtigungen der Sprache entstehen können, zu reflektieren und drittens dimensionsspe­ zifische pädagogische Möglichkeiten skizziert, wie personale Beschädigungen verhindert oder aufgefangen werden können.

2  Kultur 2.1 Menschwerdung: Kulturelle ­Teilhabe durch Sprachbesitz Die erste Dimension, durch die sich das Ver­ hältnis Person – Sprache bestimmt, ist die Kultur, wobei Sprache zum einen in einem Inklu­ sionsverhältnis als Teil der Kultur angesehen wird, zum anderen in einem Komplementa­ ritätsverhältnis als Ergänzung. Je nach wis­ senschaftstheoretischem Standpunkt gibt es unzählige Sichtweisen und Definitionen, was „Kultur“ eigentlich ist. In der klassischen kulturanthropologischen Sicht wurde Kultur meist als Gegensatz zur Natur definiert und damit als spezifisch menschliche Domäne. Kultur als Domäne des „Zeichenhaften“ schloss in seiner Spezifizierung als alleinige Domäne des Zei­ chensystems „Sprache“ bzw. als „System sym­ bolischer Formen“ (Cassirer 1954) andere Zei­ chen-„Agenten“ wie z. B. Tiere oder Pflanzen aus. Dem gegenüber wird in einer evolutionären Perspektive ein eher gradueller Übergang zwischen Natur und Kultur, zwischen Biose­ miose, Zoosemiose und Anthroposemiose

angenommen (vgl. weiterführend Nöth 2000, → Zeichen und Semiose). Doch auch hier werden Auffassungen vertreten, nach denen in Abgrenzung zu den Tieren die Tradierung durch Lehren und Lernen als Schwelle für die Entstehung von Kultur angesehen wird und innerhalb der Chronologie der Humanevoluti­ on Kultur erst als Kennzeichen des Homo sapiens definiert wird. Vor dieser Vielfalt der Defi­ nitionszugänge lassen sich grob skizziert zwei große Traditionen hinsichtlich der kulturell bestimmten Relation von Person und Sprache unterscheiden, welche in unterschiedlichen Epochen die „semiotische Schwelle“, das heißt die Abgrenzung zwischen der zeichenhaften und der nicht-zeichenhaften Welt, verschie­ den weit bzw. eng bestimmen (vgl. weiterfüh­ rend Kristeva 1989, Nöth 2000). Pansemiotismus: Die allumfassende ­Zeichenhaftigkeit des Universums

Die erste große Tradition ist die Auffassung von der Allgegenwärtigkeit der Zeichen. Die­ se sehr weite Bestimmung der semiotischen Schwelle bzw. der Annahme ihrer Nicht-Exis­ tenz wird zuweilen kritisch als „Pansemiotis­ mus“ bezeichnet. Theoretisch findet sie sich sowohl in Peirce’s (CP 5.448, FN) Annahme, dass das gesamte Universum von Zeichen durchdrungen ist oder sogar aus ihnen be­ steht, in Lotmans (1990) Konzeptualisierung des gesamten Kosmos als eine einzige zeichen­ hafte „Semiosphäre“ als auch in Watzlawicks (1969) metakommunikativem Axiom „Man kann nicht nicht kommmunizieren.“ Diese Auffassung, dass alles ein Zeichen oder alles letztlich kommunikativ ist, findet sich in allen Epochen und in allen Kulturen (vgl. Kristeva 1989): in der Frühgeschiche, bei den Akkadi­ ern und Assyrern, weltweit in so genannten „primitiven“ Kulturen, im Mittelalter, in alche­ mistischen und kabbalistischen Traditionen bis hin zu heutigen Alltagsvorstellungen. Der zentrale Gedanke der allumfassenden Zeichenhaftigkeit ist untrennbar mit einer grundlegenden Auffassung von der Ikonizität der Welt verbunden, das heißt einem Zeichen­

62 

Person und Sprache

charakter, der auf einer Ähnlichkeitsrelation zum Referenzobjekt beruht (→ Zeichen und Semiose). Das Universum ist hiernach von ei­ nem „komplexen Spiel“ aus Ähnlichkeiten, Korrespondenzen und Verweisen zwischen Zeichen und Phänomenen durchdrungen (vgl. Nöth 2000), welches durch Zeichenverwen­ dung auf Basis von Ikonizität beeinflusst wer­ den kann. Aufgrund der Ähnlichkeitsrelati­ on garantiert die Ikonizität eine unmittelbare Wirkung der Zeichen auf die gesamte belebte und unbelebte Welt sowie auf das Unbewuss­ te. Neben dem in diesem Kontext häufig zi­ tierten Gebrauch von Puppen innerhalb der Voodoo-Tradition, welche einem Menschen ähneln, dem z. B. durch Stechen in die Puppe Kraftverlust, Schmerzen oder gar der Tod zu­ gefügt werden sollen, findet sich ein magischer Zeichen- und Sprachgebrauch in traditionellen kollektiv-schamanistischen Traditionen wie in individuellen Alltagspraktiken. Zeichen- und sprachbasierte Rituale und Zeremonien wer­ den nicht nur archaisch in „Naturreligionen“ z. B. für Regen oder eine gute Ernte eingesetzt, sondern ihre Spuren durchziehen im Kontext von Heilung oder den Übergängen von Ge­ burt und Tod bis heute auch die so genann­ ten „Hochreligionen“. Basierend auf einem strengen exo- oder esoterischen Gerüst aus Gesetzen, Verboten und Tabus sind in einer magisch-mythischen pansemiotischen Kul­ turtradition Zeichen, Zeichengebrauch und Welt bzw. Sprache, Sprachgebrauch und Welt genauso untrennbar verwoben wie Mensch, Gott bzw. Götter und Universum, wobei z. B. in kosmogonischen Mythen die Wesen der überirdischen Sphäre, speziell Gott, als mani­ festierender Zeichengeber angesehen werden. Das Verhältnis Person – Sprache bedeu­ tet hier (vgl. Kristeva 1989, 48 ff.): Sprache ist eine Substanz und eine materielle Kraft. Spre­ chen ist Partizipieren am Universum. Sprache ist keine abgespaltene mentale Domäne oder ein abstrakter kognitiver Prozess, sondern ist mit der natürlichen und körperlichen Reali­ tät in einer einzigen, ganzen, differenzierten Welt vereint. Sprache und Sprechen sind eine materiale Realität, die handelt und wirkt.

Anthropozentrismus: Das ‚Zoon logon echon‘ als Konstituierung des Humanen über das ­Animalische

Die zweite große, nahezu entgegengesetzte Tradition ist eine sehr viel engere Auffassung, welche den Zeichen- bzw. Sprachbesitz und damit den Zugang zur Kultur „exklusiv“ auf den Menschen beschränkt und deshalb mit­ unter auch als „Anthropozentrismus“ kriti­ siert wird. Sie steht in engem Zusammenhang mit Traditionen, welche keine pansemiotische Einheit, sondern eine große Kluft zwischen der zeichenhaften und der nicht-zeichenhaf­ ten Welt postulieren und im Falle des transsemiotischen Agnostizismus sogar davon aus­ gehen, dass die Welt jenseits der Zeichen der Erkenntnis verschlossen bleibt. Die semioti­ sche Schwelle ist in dieser parallelen Strömung zumeist evolu­tionstheoretisch begründet, so beispielsweise in Poppers dreistufigem Modell (Popper & Eccles 1977, zit. n. Nöth 2000, 135), welches Welt  1 als präsemiotische Welt der physikalischen Objekte und Welt 2 als Welt biosemiotischer Prozesse kategorisiert, und in dem erst Welt 3 als höchste Entwicklungs­ stufe die Produkte des menschlichen Geistes, vor allem Kultur und Sprache, zugeschrieben werden. Das Postulat, dass der Mensch durch sein „Alleinstellungsmerkmal“ des Sprachbesit­ zes als „Krone“ der Schöpfung anzusehen ist, wird häufig auf das antike Konzept des ‚ζῷον λόγον ἔχον‘ (zōon logon echon) zurück ge­ führt. In diesem von Aristoteles in seiner „Po­ litik“ (ca. 329–327 v. Chr.) aufgestellten Spezi­ fikum, dass allein der Mensch das „mit dem Logos ausgestattete Lebewesen“ sei, wurde „Logos“ in der Folge meist als „Sprache“ bzw. „Vernunft“ interpretiert. Das antike Bild des Menschen als sprach- und vernunftbegab­ tes und damit alleinig selbstreflexives Wesen wurde zum Ursprung der anthroposemiotischen, logisch-rationalistischen Tradition des Abendlandes, wobei z. B. Heidegger (1929/30) in seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff auch auf den Zusammenhang zwischen dem zōon logon echon und dem ζῷον πολιτικόν



Kultur   63

(zōon politikon) und damit auf seinen Aspekt der „Rede“ und des „Miteinandersprechend­ seins“ verwies (zur aktuellen Auseinanderset­ zung vgl. u. a. Agamben 2003). Das rationalistische Konzept der hierdurch eingeleiteten Grenzziehung zwischen dem Humanen und dem Animalischen wurde in der abendländischen Sprachphilosophie über zwei Jahrtausende vielfach untermauert und lässt sich als immer extremere sukzessive Abspaltung der Sprache von ihren Natur-Bezügen mittels Atomisierungs-, Formalisierungs- und Systematisierungsprozessen beschreiben (vgl. Kristeva 1989): • Im antiken Griechenland wurde Sprache erstmals als in seine atomistischen Einzel­ teile zerlegbares, wissenschaftlich studier­ bares Objekt definiert und damit aus ihrer pansemiotischen Einheit mit dem Kosmos herausgerissen. • Im Zeitalter des cartesianischen Rationalismus mit seiner Dichotomie von innerer res cogitans und äußerer res extensa schlug sich die Abspaltung von Körper, Psychischem, Affekten und Weiblichem speziell in einem extrem rationalistischen Zeichen­ modell nieder, in welchem beide Seiten der Zeichendyade als rein mentale Kategorien konzeptualisiert wurden, ohne Bezug zur materialen Welt (vgl. Nöth 2000, 15/16, → Zeichen und Semiose). • Die sprachwissenschaftliche Fokussierung des Rationalen auf die Kognition und da­ mit die Manifestierung des Ignorierens der Dömäne der Emotion und des Unbewussten beschäftigte das 19. und 20. Jahr­ hundert, wenn auch durchaus kontrovers: Humboldt (1836) wie später u. a. auch Cas­ sirer (1954) vertraten den Standpunkt, dass die Sprache Einfluss auf die Kogni­ tion, auf das Denken ausübt, wohingegen z. B. Chomsky (1965) Sprache als „mir­ ror of mind“ betrachtete – eine Position, auf der spätere kognitionswissenschaftliche Strömungen wie die Kognitive Linguistik und die Neurolinguistik letztlich basieren (→ Kognition und Emotion).

• Das antike, von Platon und Aristoteles ge­ schaffene theoretische Fundament, die Lo­ gik zur Grundlage der Zeichentheorie und das logische Schließen zur Grundlage der Zeicheninterpretation zu verabsolutieren, erlebte im logischen Positivismus seinen Höhepunkt. Insbesondere Freges (1892) Eliminierung subjektiver, wahrnehmungsbasierter Elemente aus dem Konzept des „Sinns“ begründeten eine Semantiktradi­ tion, in der Sprache nach mathematischarithmetrischem Vorbild immer extreme­ rer Formalisierung unterlag (→ Sprache und Wahrnehmung), was nach Kristeva (1989) einer „Totalisierung“ des ehemals pansemiotischen Universums durch ein ideal-formales System gleich kam. • Ein weiterer Höhepunkt der Abkehr von der Realwelt wie von der pansemiotischen kosmisch-metaphysischen Fundierung der Sprache vollzog sich in der Strömung des Strukturalismus, der mittels fortschrei­ tender Systematisierung u. a. eine Klassi­ fizierung in Systeme und immer kleinere Subsysteme oder eine Stratifizierung in autonome Sprachebenen (u. a. Phonologie, Morphologie, Semantik) betrieb – Vorstel­ lungen, die bis heute Felder der angewand­ ten Sprachwissenschaft, wie die Sprach­ therapie, dominieren. De Saussures (1916) Betonung der Synchronizität isolierte die Sprache von ihrer Anbindung an Zeit, Historizität, Geschichte, seine Betonung der parole trennte sie vom realen Alltagsgebrauch (→ Sprache und Sprechen) und seine Fokussierung des Signifikats enthob Signifikant wie Referenzobjekt ihrer materialen Realität, was letztlich dieser Denk­ tradition – weit jenseits der ursprünglichen anthropozentrischen Erhebung des Men­ schen über das nicht sprach- und vernunft­ begabte Tier – mit der These vom „Tod des Subjektes“ von Seiten der Poststrukturalis­ ten (→ Zeichen und Semiose) den Vorwurf des „Anti-Humanen“ einbrachte.

64 

Person und Sprache

2.2 Dehumanisierung: Ausschluss aus der Kultur bei mangelndem Sprachbesitz Nachdem das Verhältnis Person – Sprache be­ zogen auf die erste Dimension der Kultur so bestimmt worden ist, dass in unterschiedlich weit (Pansemiotismus) oder eng (Anthropo­ zentrismus) gefasster Abgrenzung zur nichtzeichenhaften bzw. nicht-sprachlichen Welt der Sprachbesitz die kulturelle Teilhabe bzw. sogar erst die Menschwerdung ermöglicht, stellt sich nun die Frage, wie mangelnder oder „mangelhafter“, beeinträchtigter Sprachbe­ sitz dieses Verhältnis beeinflusst und verän­ dert. Hierbei sind grundsätzlich zwei Kate­ gorien zu unterscheiden: zum einen eine Art „natürlicher“ Sprachmangel, wie z. B. bei ar­ chaisch lebenden Völkern, zum anderen eine Art „unnatürlicher“ Sprachmangel mit prin­ zipiell desintegriertem Charakter, wie z. B. im Falle eines Menschen mit einer ausgeprägten Sprach- oder Kommunikationsstörung. Animalisierung: Faszination und ­kulturelle ­Sehnsucht bei „natürlich“-archaischem ­Sprachmangel

Es war bereits darauf hingewiesen worden, dass aus anthroposemiotischer Perspektive Tieren, Pflanzen sowie sämtlicher belebter und unbelebter Materie der Sprach- bzw. Zeichen­ besitz abgesprochen wird und sie somit in die nicht-zeichenhafte, a-kulturelle Welt des Na­ turhaften verwiesen werden. Innerhalb der Welt des Menschen gibt es jedoch ebenfalls evolutionstheoretisch postulierte Grenzen, die aufgrund des Sprachbesitzes bzw. dessen Grad der Kultiviertheit die „Kulturvölker“ von den kulturlosen „Naturvölkern“ scheiden. Hier­ bei werden in einem linear verstandenen kul­ turellen Entwicklungsprozess der Menschheit die „Wilden“ (Jäger- und Sammler-Kulturen), die „Barbaren“ (agrarische oder nomadische Viehzüchter-Kulturen) und die „Zivilisier­ ten“ (agrarisch-städtische, schriftverwendende staatliche Hochkulturen) unterschieden, wobei in der Antike „Barbaren“ die Sammelbezeich­

nung für alle Menschen ohne griechisch-römi­ sche Bildung war. Interessant ist, dass „Barbar“ (griech. βάρβαρος, bárbaros) im antiken Grie­ chenland die ursprüngliche Bezeichnung für alle diejenigen war, die nicht (oder schlecht) griechisch sprachen, parallel dazu aber auch im damaligen Indien das Sanskrit-Wort barbarāh zur Bezeichnung fremdartiger Völker verwen­ det wurde. Bis heute hält sich in diesem Kon­ text die Auffassung, dass eine „ungeschliffene“, „rohe“, „laute“, „direkte“ oder „emotionale“ sprachliche Ausdrucksweise ein Zeichen von kulturlosem und unzivilisiertem Verhalten sei. Die noch unter den Barbaren stehende Entwicklungsstufe der sog. „Wilden“ basiert ebenfalls auch auf sprachlichen Parametern. Der heutige international anerkannte und politisch korrekte Ausdruck der „Indigenen Völker“ bezeichnet marginalisierte Bevölke­ rungsgruppen, welche Nachkommen einer Bevölkerung vor der Eroberung, Kolonisati­ on oder Gründung eines Staates sind und die sich selbst als eigenständiges Volk mit eigener, zu bewahrender Sozialstruktur, Kultur und vor allem Sprache verstehen. Die deutsche Entsprechung des Begriffs „indigen“ wäre zwar „eingeboren“, doch impliziert der früher häufig z. B. im Missions-Kontext verwendete Begriff „Eingeborene“ bzw. „Eingeborenen­ sprache“ aufgrund seiner kolonialen Färbung genau den überheblichen Standpunkt, der die „Wilden“ und ihre „Urlaute“ letztlich animalisiert. Ein weiteres Synonym für „wilde“ oder „primitive“ Völker sind die sog. „Naturvöl­ ker“, wobei hier eine romantisierende Kon­ notation mitschwingt, die die Sehnsucht des zivilisierten Menschen nach einem ideali­ sierten, naturnahen archaischen Leben und den Kräften des pansemiotischen magischmythischen Sprachgebrauchs impliziert. Teil dieses Faszinosums ist auch das romantische Ideal des „Edlen Wilden“ mit den ihm zuge­ schriebenen Eigenschaften eines Lebens in vollkommener Harmonie mit der Natur, Ge­ sundheit, Autonomie, sexueller Freizügigkeit sowie sprachlicher Integrität und sprachlicher Schöpfungskraft.



Kultur   65

Eine benachbarte Figur mythischen Ur­ sprungs ist die des meist stumm dargestellten „Wilden Mannes“, welcher als ein mit Riesen­ kräften ausgestatteter, stark behaarter, nack­ ter oder nur mit Moos oder Laub bekleideter Waldbewohner beschrieben wird. Dieser den Sagen und Märchen entspringende Urmensch besitzt keine tierischen Merkmale wie Bocks­ füße, Schwanz oder Hörner und ist als Meta­ pher für die pansemiotischen Urkräfte der Na­ tur anzusehen (vgl. 2.1). Ihm ähneln wiederum die sog. „Wilden Kinder“ bzw. „Wolfskinder“, wie z. B. Kaspar Hauser, welche in ihrer frühen Entwicklungs­ phase isoliert von Menschen aufwuchsen und deshalb keine „normale“ verständliche Laut­ sprache erworben haben. Im Gegensatz zu berühmten Romanfiguren wie Tarzan und Mowgli, die von Tieren aufgezogen wurden, kamen viele dieser die Wissenschaft faszinie­ renden „Findelkinder“, welche nur guttura­ le, tierähnliche Laute von sich gaben, später in menschliche Obhut. Hier wurde wie z. B. bei Victor von Aveyron (auch „der Wilde von Aveyron“ genannt) durch Jean Itard (1801) versucht, das Erlernen der Kulturgüter, vor allem den Sprachbesitz, durch heilpädagogi­ sche und speziell taubstummenpädagogische Methoden nachzuholen. Als unterste Evolutionsstufe zwischen Mensch und Tier sind vielerorts Mischkreatu­ ren wie der Satyr, Faune oder Kentauren und wohlwollende Naturgeister wie Feen, Wich­ tel, Kobolde, Zwerge oder Riesen beschrie­ ben worden, die sich alle durch tierähnliche Körpermerkmale und dem Besitz von dem Menschen meist unverständlichen, aber den­ noch wirkungsvollen „Geheimsprachen und -schriften“ – wie z. B. Tolkiens (1954/55) fikti­ onale „Elbensprache“ Sindarin – auszeichnen, deren numinose magische Kraft den Men­ schen fasziniert und deren Besitz er begehrt.

Abjektion: Ausstoßung aus der kulturell-­ symbolischen Ordnung bei „unnatürlich“-­ desintegriertem Sprachmangel

Grundsätzlich anders als bei diesen aus einer Betrachterposition der Faszination und kul­ turellen Sehnsucht durchweg positiv konno­ tierten Formen und Variationen einer „natür­ lichen“, archaischen Sprachlosigkeit sieht es aus, wenn ein unnatürlich-desintegriert empfundener mangelnder bzw. „mangelhafter“, be­ einträchtigter Sprachbesitz die kulturelle Di­ mension des Verhältnisses Person – Sprache verstört und dadurch eine negative soziale Be­ wertung eintritt. Historisch vielfältig dokumentierte Phä­ nomene unnatürlichen oder desintegrierten und damit bedrohlichen Sprachbesitzes mit einer abwertenden Konnotation variieren zwar in ihrer Verursachung, haben jedoch die gemeinsame Konsequenz, dass der (bzw. die) der Norm-Sprache Verlustige auch aus der Sphäre der Kultur und der Zivilisa­tion und damit letztlich aus dem Mensch-Sein ausge­ schlossen wird. Zwei große Gruppen lassen sich hier unterscheiden: zum einen der Perso­ nenkreis, dessen unnatürlicher Sprachman­ gel als personaler Makel oder Zeichen der Schwäche angesehen wird, wie z. B. ‚Straf­ täter‘, ‚Berauschte‘, ‚Wahnsinnige‘, ‚Geistes­ kranke‘ oder ‚Behinderte‘, zum anderen die sehr viel kleinere Gruppe derjenigen, deren unnatürlich erscheinender Sprachbesitz als Angst einflößende Stärke betrachtet wur­ de, wie z. B. die magischen Sprachkräfte von Hexen, Schwarzmagiern, bösen Zauberern, Schamanenpriestern, aber auch Tyrannen. Bei beiden Gruppen war die „abnorme“ Form des Sprachbesitzes – seien es unverständliches Gelalle, animalische Schreie oder aber macht­ volle Zaubersprüche, Beschwörungsformeln, Flüche und Verwünschungen – ein Beweis für die der Person innewohnenden und sich in der Sprache manifestierenden bösen Geis­ ter, dunklen Kräfte oder jenseitigen Mächte. Um diese zu entmachten, wurde häufig statt einer simplen Tötung wie z. B. bei Hexenver­ brennungen der „Besessene“ vielmehr wie

66 

Person und Sprache

ein Aussätziger behandelt: Er wurde – zu­ weilen mit herausgerissener Zunge – nackt in die Wildnis verbannt, wo er wie die biblische Figur Nebukadnezar ohne Sprache und Ver­ stand wie ein wildes Tier leben, doch im Ge­ gensatz zu den machtvollen Wilden Männern auf allen Vieren kriechen musste. Diese Ausstoßung eines Menschen mit mangelhaftem bzw. unnatürlich gewaltigem Sprachbesitz aus der Kultur in das kulturlo­ se Vakuum einer nicht-sprachlichen, nichtzeichenhaften Welt lässt sich u. a. mit tie­ fenpsychologischen Ansätzen, z. B. Kristevas Theorie der Abjektion (u. a. 1980), erörtern. Ein „Abjekt“ ist das „Verworfene“ und zwar zunächst real im Sinne der aus den permeab­ len Körperöffnungen entweichenden körper­ lichen Aussonderungen wie z. B. Kot, Eiter, Schleim, welche Abfallprodukte von Zerset­ zungs- und Zerfallsprozessen sind und damit Degenerierung, Dekomposition, Dekon­struk­ tion und Desintegration implizieren. „Abjek­ tion“ bedeutet entsprechend den Vorgang der „Verwerfung“, das heißt des Ausstoßens, SichEntledigens. In einem übertragenen Sinne gibt es auch abjekte Körper (→ Behinderung und Vulnerabilität), abjekte Menschen und eben auch abjekte Sprache, die alle aufgrund ganz unterschiedlicher Ursachen einen unna­ türlichen, desintegrierten, degenerierten Zer­ setzungs- und Zerfallscharakter aufweisen. Nach Kristeva (1980) ist die Abjektion im Konzept des Logos implizit, denn die auch in der abendländischen Geschichte bis heute dominierenden monotheistischen Kulturen assoziieren den Logos mit ungetrübtem kla­ ren Verstand, Vernunft und Logik und damit mit der Reinheit des Symbolischen. Auf dieser Reinheit basiert nicht nur die kulturell-gesell­ schaftliche symbolische Ordnung, sondern sie erhält den Logos gegen die „unreinen“ An­ fechtungen des „Anti-Logos“ aufrecht, welche in polytheistischen Kulturen ganz selbstver­ ständlich im Symbolischen integriert werden. Da die den abendländischen kulturell-ge­ sellschaftlichen Normen entsprechende, of­ fizielle Sprache den Gesetzen der Ganzheit, Reinheit, Vollkommenheit, Konstanz und

Impermeabilität entspricht, ist der mit ab­ jekter Sprache Konfrontierte der Position der Abjektion unterworfen, was nach Jung (1968) in etwa der Konfrontation mit dem unbewussten „Schatten“ entspricht. Reaktio­ nen auf abjekte Sprachphänomene, wie z. B. auch die unzähligen Erscheinungsformen der verschiedensten Kommunikations- und Sprachstörungen, können Schock, Abwehr, Ekel, Befremdung, Bedrohtsein etc. sein (→ Behinderung und Vulnerabilität), die dann in ­einem zweiten Schritt zu einem zensieren­ den, tabuisierenden Zum-Verstummen-Brin­ gen und damit zur entledigenden Abjektion führen. Für die Person mit einer sprachlichen Beinträchtigung bedeutet dies, dass die Ab­ jektion des individuellen (zuweilen auch des professionellen) wie kollektiv-gesellschaft­ lichen Gegenübers zu einem Ausschluss aus der nicht-zeichenhaften Welt, aus der Kultur und damit letztlich zu einer Dehumanisie­ rung führen kann.

2.3 Pädagogische Möglichkeit: ­Balancierung der kulturellen ­Dimension durch Akzeptanz des sprachlichen Synkretismus Um die beschriebenen personalen Verände­ rungen, die durch Beeinträchtigungen der Sprache entstehen können, zu verhindern oder aufzufangen, bietet sich innerhalb der kultu­ rellen Dimension des Verhältnisses Person – Sprache in Anlehnung an Richter (1984) das pädagogische Konzept des „sprachlichen Syn­ kretismus“ an. Synkretismus, der in der Kunstund Religionsgeschichte stets als Abweichung vom Kanon, als Vermischung von Stilelemen­ ten, quasi als eine Form von „Bastardisierung“ (vgl. Veit-Wild 1996) galt, fasst als sprachlicher Synkretismus konzeptuell die Pluralität, He­ terogenität und Gebrochenheit sprachlicher Formen und damit die Ko-Präsenz von Magie, Mythos und Logos (Mall 1996). Die sprachlichen Phänomene „sprachbe­ hinderter“ Menschen sind als „abjekte Spra­ che“ Synkretismus pur, denn wo sprachlich-



Gesellschaft   67

normative Grenzen verschwimmen oder überschritten werden, gibt es keine „reine“ Sprache, keinen originären Logos mehr, son­ dern es kommt zu Vermischungen, Über­ lagerungen, Brüchen und hybriden Neu­ schöpfungen. In sprachpädagogischen bzw. sprachtherapeutischen Prozessen vereint die Konfrontation mit den sprachlich-kommu­ nikativen Besonderheiten und den Eigenar­ ten sprachlichen Produzierens alle Beteiligten im Synkretismus der sprachlichen Erfahrung. Diese besondere Qualität lässt sich inso­ fern therapeutisch nutzen, als dieser erleb­ te Synkretismus eben denjenigen subjekti­ ven Gesetzmäßigkeiten unterliegt, welche als Verbindung von primären affektiven, unbe­ wussten Prozessen und sekundären organi­ sierenden, kognitiven Aktivitäten zu finden sind und die den „Charakter des Möglichen“ besitzen und nicht das vorgegebene „Wirkli­ che“ nachzeichnen. Die enorme personale therapeutische Va­ lenz des synkretistischen Sprachraums liegt in der Anerkennung und Akzeptanz von Ver­ schmelzungen, Rückgriffen, Umwegen und Anknüpfungspunkten außerhalb der festge­ legten sprachlich-kommunikativen Abläufe, im Zugestehen idiosynkratischer und archa­ ischer Repräsentationsfiguren und dadurch ein Verhindern dehumanisierender kulturel­ ler Ausschlusstendenzen und ein Ermögli­ chen kultureller Teilhabe.

3  Gesellschaft Die zweite Dimension, durch die sich das Ver­ hältnis Person – Sprache bestimmt, ist die Gesellschaft. Ihr für dieses Verhältnis maß­ geblicher konstitutiver Faktor sind dabei ihre jeweiligen sprachlichen Normen (→ Norm und Differenz), welche im Folgenden hinsichtlich ihrer positiven (3.1) wie ihrer negativen (3.2) personalen Auswirkungen beleuchtet wer­ den sollen, und zwar unter den Aspekten ih­ rer Aufstellung, ihres Austausches und ihrer

Vermittlung. Hierbei wird u. a. auf makro- wie mikrosystemisch ansetzende Konzepte der Soziolinguistik und Soziosemiotik sowie der Sprachsoziologie Bezug genommen.

3.1 Normentsprechung: ­Partizipation durch sprachliche Homogenität Systemstabilisierung: Gesellschaftliche Teilhabe durch Normentsprechung

Die Aufstellung sprachlicher Normen hat eine lange und weit verbreitete Tradition: von Pa­ ninis Grammatik des Sanskrit aus dem 4. oder 5. vorchristlichen Jahrhundert – der ältesten bekannten Grammatik überhaupt – über die europäischen strukturalistischen, generativen oder kognitiven linguistischen Systematiken bis hin zu aktuellen anwendungsbezogenen Phänomenen wie z. B. den flächendeckenden vorschulischen Sprachstandsfeststellungen bei Einschulungen. Die Festschreibung bzw. das Streben nach sprachlicher Normativität basiert grundsätz­ lich auf einer Betonung der Abstrahierung, Systematisierung und damit Idealisierung sprachlicher Erscheinungen bei gleichzeitiger Vernachlässigung ihrer Kontextabhängigkeit (→ Sprache und Sprechen). Bei Betrachtung des gesellschaftlichen Aspektes dieser lin­ guistischen Formalisierung ist relevant, dass sprachliche Normen als Teil übergreifender sozialer Normen meist als Konsens einer be­ stimmten Sprachgemeinschaft verstanden werden. Für die Person bedeutet dies, dass eine sprachliche Normentsprechung notwen­ dig ist, um als Individuum akzeptierter und zugehöriger Teil dieses konsensuell konstitu­ tierten Gesellschaftssystems zu sein. Kritisch betrachtet basieren die personal wirkenden sprachlichen Normen jedoch nicht auf einem fair ausgehandelten gesamtgesell­ schaftlichen Prozess aller Beteiligten, son­ dern werden meist durch die dominante und damit mächtigste gesellschaftliche Gruppe definiert. Dies führt dazu, dass der gesamt­ gesellschaftliche Zeichenraum, die Semio­ sphäre (Lotman 1990), hierarchisch struktu­

68 

Person und Sprache

riert ist (vgl. grafische Darstellung in Lüdtke & Frank 2007): mit einem fiktiven Zentrum, das die sprachliche Definitionsmacht besitzt, und einer (vermeintlich) schwachen, unmaß­ geblichen Peripherie (vgl. 3.2). Das Zentrum dieses sprachlichen Sozialraumes enthält die kognitiv kontrollierten semiotischen Kern­ strukturen der gesellschaftlichen Standardsprache  – das „Hochdeutsch“ oder die sog. „Zielsprache“ Deutsch. Es ist angefüllt mit dominanten semiotischen bzw. linguistischen Systemen und Diskursen. Aufgrund seiner homogenen Organisation produziert, kon­ trolliert und tradiert es sprachliche Normen, Konventionen und Grammatiken und bringt letztlich eine Metasprache hervor. Diese Durchsetzung mit sprachlichen Re­ geln hat zur Folge, dass die hier ablaufenden homogenisierenden semiotischen und linguis­ tischen Produktionsprozesse langsamer und schwerfälliger sind als in der Peripherie, denn sprachliche Konsolidierung im Kern setzt auf gesellschaftlichen Systemerhalt und System­ stabilisierung und ist somit in ihrer Struktur eher kompakt. Dementsprechend garantiert normkonformes sprachliches Verhalten bzw. sprachliche „Normalität“ zwar personale ge­ sellschaftliche Teilhabe, dient damit jedoch zugleich wieder der Stabilisierung des gesell­ schaftlichen Systems und der Definitions­ macht derjenigen gesellschaftlichen Gruppe, die die geltenden sprachlichen Normen ur­ sprünglich aufgestellt hat. Wertsteigerung: Aneignung prestigeträchtigen sprachlichen Kapitals

Sprachliche Normen werden jedoch nicht nur aufgestellt, sondern innerhalb der Gesell­ schaft zwischen Individuen, aber auch zwi­ schen Zentrum und Peripherie hin und her transferiert bzw. „gehandelt“. Diesem innerge­ sellschaftlichen Austausch sprachlicher Nor­ men und damit dem Zusammenhang zwi­ schen gesellschaftlicher Teilhabe und realen wie symbolischen Machtverhältnissen wid­ met sich aus einer sozioökonomisch gepräg­ ten soziolinguistischen Perspektive Bourdieus

(1977, 1994) Theorie des „sprachlichen Mark­ tes“. Basierend auf der Annahme, dass gesell­ schaftliche Teilhabe auszudifferenzieren ist in ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Identi­ fizierung (vgl. 4), aber auch in ein Bedürfnis nach Unterscheidung, wird hier Sprache und deren Normgerechtheit entidealisiert und als sozialer Sprachgebrauch, verankert in den u. a. durch Alter, ökonomischen Status, Religion oder Gender unterschiedenen sozialen Grup­ pen, betrachtet. Sprachlicher Austausch bzw. sprachliches Handeln wird durch den sog. „sprachlichen Habitus“ der Sprecher gesteu­ ert, welcher durch die genannten sozial ge­ formten Dispositionen bedingt ist sowie durch die hierarchischen Strukturen des sprachli­ chen Marktes, die aus einem dynamischen Zu­ sammenspiel von Sanktionen und Zensuren (vgl. 3.2) bestehen. Sprachliches Handeln spie­ gelt dabei gesellschaftliche Zugehörigkeit und Unterschiede, indem auf dem sprachlichen Markt bestimmte Varietäten (vgl. 4; → Norm und Differenz) einen bestimmten hohen oder niedrigen Kurswert haben. Sprachliche Kom­ petenz wird so zu einem symbolischen sprach­ lichen Kapital im Verhältnis zu den Erforder­ nissen des jeweiligen sprachlichen Marktes. Aufgrund der Machtverhältnisse des sprachlichen Marktes definiert Bourdieu (1977, 1994) die im Zentrum des sprachlichen Sozialraumes vorherrschende Standardspra­ che als „legitime Sprache“. Gesellschaftliche Teilhabe bedeutet aber nicht einfach Besitz dieser legitimen Sprache, sondern die Mög­ lichkeit eines sprachlichen Tausch-Verhal­ tens, das sozialen „Nutzen“ und nicht „Kos­ ten“ erzeugt. Jede sprachliche Interaktion ist somit auf dem sprachlichen Markt, auf dem Kompetenzen durch sprachliche Interaktion nach Wert gehandelt werden, Gewinn oder Verlust von symbolischem Kapital. Wenn gesellschaftliche Teilhabe somit be­ deutet, die sprachliche Kompetenz adäquat, das heißt marktgerecht und gewinnbringend einzusetzen, dann impliziert dies die perso­ nale Relevanz, dass nicht nur eine bestimmte Sprachvarietät so viel wert ist, wie ihre Spre­ cher wert sind, sondern auch umgekehrt ein



Gesellschaft   69

Sprecher so viel wert ist wie die Sprache, die er spricht. Der Besitz bzw. die Aneignung pres­ tigeträchtigen sprachlichen Kapitals sind so­ mit notwendig, um die Person des Sprechers „wert-zu-schätzen“ bzw. aufzuwerten. Dar­ über hinaus wirkt die gesellschaftliche Be­ wertung des sprachlichen Kapitals tieferge­ hend personal, denn der damit verknüpfte sprachliche Habitus ist nicht nur die verin­ nerlichte, sondern die verkörperte (embodied) sprachlich-soziale Kompetenz. Tradierung: Institutionelle Produktion und ­Vermittlung sprachlicher Homogenität

Innerhalb der gesellschaftlichen Dimen­sion der Relation Person – Sprache ist weiterhin relevant, dass die allgemeine Anerkennung der legitimen Sprache von der Kontrolle des unterschiedlichen Zugangs ihrer Aneignung abhängig ist. Gesellschaftlich mächtige In­ stitutionen wie Kindergärten und Schulen, Rechtsprechung und Medien produzieren und vermitteln deshalb nicht nur sprachliche Normen, sondern sichern und reproduzie­ ren damit zugleich soziale und sprachliche Ungleichheit in der Praxis gesellschaftlichen Handelns (vgl. Bourdieu 1994). Als heraus­ stechendes gesellschaftliches Beispiel sei stell­ vertretend die schulische Sprachvermittlung speziell im Primarbereich genannt. Obers­ tes sprachliches Lernziel ist hier für alle Kin­ der, unabhängig von ökonomischen Faktoren oder Migrationshintergrund (→ Interkultu­ ralität und Mehrsprachigkeit), die Aneignung linguistischer Homogenität: die „Zielspra­ che Deutsch“. Die Zielrichtung ist somit eine Außenanpassung der Person und die Zielab­ leitung erfolgt top-down von sozial-normati­ ven Vorgaben und gesellschaftlichem Nutzen. Zielkriterium sind leistungsorientiert sprach­ licher Output und Ertrag. Die Zielentschei­ dung des Bildungssystems ist dabei fremdbe­ stimmt und die Strategien der Zielerreichung sind letztlich unterschiedliche Formen der passiven „Überstülpung“ des linguistisch-nor­ mativen Wertbezuges. Die Person des Sprache Lernenden wird entmachtet: Sie muss sich der

Gesellschaft und ihren sozialen und sprachli­ chen Normen unterordnen, mit dem Preis der Ignorierung individueller kultureller, ökono­ mischer und sprachlicher Besonderheiten und Unterschiede.

3.2 Normabweichung: ­Marginalisierung sprachlicher Defizite Bezug nehmend auf diese Ausführungen stellt sich nun die Frage, wie die unterschiedlichen Formen beeinträchtigter Sprache die gesell­ schaftliche Dimension des Verhältnisses Per­ son – Sprache verändern. Auch jetzt ist der zentrale Aspekt die sprachliche Norm, hier al­ lerdings hinsichtlich des grundsätzlichen Phä­ nomens der Abweichung von ihr. Dabei wird im Einzelnen beleuchtet, wie die maßgebli­ chen gesellschaftlichen Instanzen (→ Institu­ tionen), die für das Aufstellen, den Austausch und die Vermittlung der sprachlichen Normen zuständig sind, auf ihr Verfehlen reagieren. Marginalisierung: Verhinderung von ­gesellschaftlicher Destabilisierung durch ­Normabweichungen

Die Aufstellung sprachlicher Normen impli­ ziert zugleich, dass eine Vielzahl sprachlicher Phänomene, die an diesem normativen Maß­ stab gemessen werden, die Norm nicht erfül­ len bzw. ihr nicht gerecht werden, das heißt letztlich: von ihr abweichen. Die Identifizie­ rung von sprachlichen Normabweichungen hat in einer Reihe von Wissenschaftsdiszipli­ nen ebenfalls eine lange Tradition: in der Neu­ ropsychologie und Neurolinguistik (→  Spra­ che und Gehirn) z. B. als „a(b)normaler“ Forschungsgegenstand, der Rückschlüsse auf „normale“ neuronale Sprachverarbeitung zu­ lässt; u. a. in der Medizin, Phoniatrie, Patho­ linguistik und Klinischen Linguistik in der Aufstellung und Klassifizierung von Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen; und in der Sprachheil- bzw. Sprachbehindertenpä­ dagogik als Gegenstand diagnostischer, the­

70 

Person und Sprache

rapeutischer, bildender oder unterrichtlicher Zielstellungen. Personale Relevanz hat diese Identifizierung von sprachlichen Normabwei­ chungen, da sie in einem klassischen moder­ nen Verständnis ein präskriptives Normen­ verständnis impliziert und die sprachliche Standardabweichung somit als „Defizit“, als „Makel“ bzw. als „schlecht“ konstituiert wird – ein Attribut, das seinem Träger als subjekt-in­ härentes Merkmal zugeschrieben wird und sein Person-Sein wie seine Sprachlichkeit es­ sentiell definiert: „der Sprachbehinderte“, „der Stotterer“, „das CI-Kind“. Da es überindividuell betrachtet für eine Person notwendig ist, der sprachlichen Norm zu entsprechen, um als Individuum akzep­ tierter und zugehöriger Teil der Gesellschaft an sich zu sein, bedeutet ein identifiziertes quantitatives, qualitatives, temporelles oder strukturelles sprachliches Defizit zunächst prinzipiell, nicht akzeptiert und nicht zuge­ hörig zu sein – ein Umkehrschluss, der aller­ dings differenziert zu betrachten ist, denn der gesamtgesellschaftliche hierarchisch organi­ sierte Sprachraum enthält unterschiedliche Dynamiken zwischen seinen zentralen und periphereren Bereichen, die sowohl persona­ le Beschädigungs- und Zerfallsprozesse, aber auch Zugehörigkeit stiftende Identifikations­ prozesse initiieren können (vgl. 4). Wie Soziosemiotik und Soziolinguistik (→ Norm und Differenz) bereits seit mehre­ ren Dekaden untersuchen, befinden sich in der Peripherie der Semiosphäre, jenseits des sprachlich homogenen Zentrums mit seiner systemstabilisierenden sprachlichen Defi­ nitionsmacht, meist affektgeladene semioti­ sche Systeme mit einer inhomogenen, hetero­ genen, amorphen Organisation, wie z. B. die Sprache unterschiedlicher gesellschaftlicher „Randgruppen“ wie sog. „Obdachlose“, „Mi­ granten“, „Hartz-IV-Empfänger“ und „Be­ hinderte“ (Lüdtke & Frank 2007). Aus klassi­ scher sozialfunktionalistischer Sicht werden diese Produzenten als Opfer eines segregie­ renden Marginalisierungsprozesses beschrie­ ben, wohingegen in neueren Konzepten eher das kreative Potenzial sprachlich-affektiver

Neukonstruktionen (Beschleunigung an der Peripherie vs. Konventionalisierung im Zent­ rum) und die mikrosystemischen Identifizie­ rungsmöglichkeiten betont werden. Soziolin­ guistisch betrachtet, sind jugendsprachliche Alltagsdiskurse und Sprachstile wie z. B. Rapoder Kanak-Sprache (vgl. Zaimoglu 2007) ein „Ensemble jugendlicher Sprachregister und Sprachstile“ (vgl. Schlobinski & Heins 1998), welche z. B. in den Peer Groups der Techno-, Punk-, Graffiti- oder Hip-Hop-Szene sozial, kulturell und situativ-funktional verortet sind (vgl. 4.1). Ihr postmoderner Charakter offen­ bart sich primär im diffusen, blitzartigen, ek­ lektizistischen Einblenden von „gesampelten“ Kernfragmenten, die wiederum als Kataly­ satoren für die De- und Rekonstruktion von sprachlichen Kernstrukturen des Zentrums wirken. Wichtigstes Prinzip der Konstitution von Sprachvarianten jugendlicher Gruppen und Szenen ist die „Bricolage“: das Spiel mit sprachlichen Versatzstücken z. B. aus mas­ senmedialen und jugendkulturspezifischen Ressourcen, aus denen durch den Prozess der kulturellen De- und Rekontextualisierung sprachlicher Elemente und deren Variation etwas Eigenes, Neues „zusammengebastelt“ wird. Die in der Peripherie des Sprachraumes permanent stattfindenden Brüche, Experi­ mente und Verstöße gegen sprachliche Nor­ men, Konventionen und Grammatiken brin­ gen dabei positiv betrachtet beschleunigte, dynamische und kreative semiotische Prozes­ se hervor, wie sie vor allem auch im Internet, z. B. auch in der Chat-Kommunikation und der Erfindung immer neuer Emoticons, sicht­ bar wird. Zentrum und Peripherie des semiotischen Raumes existieren jedoch nicht isoliert von einander, sondern durch zentrifugale und zentripetale sprachlich-gesellschaftliche Pro­ zesse entsteht eine innere, zeitlich heteroge­ ne Dynamik. Deren Relevanz wird besonders deutlich beim Aufeinanderprallen ­zweier sprachlicher Welten, beispielsweise wenn das an Mittelschichtnormen standardisierte, ab­ strakte „Hochdeutsch“ auf ein emotional überflutetes „Sub-Standard-Deutsch“ (vgl. 4)



Gesellschaft   71

trifft: z. B. als Nicht-Passung zwischen dem in Rap-Texten ausgedrückten Lebensgefühl der Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher mit deutscher und nicht-deutscher Herkunfts­ sprache durch Dauerarbeitslosigkeit oder Obdachlosigkeit (vgl. Lüdtke 2008) und den konventionell-sprachlichen Anforderungen eines  potenziellen Arbeitgebers. Ausgren­ zungs- und Marginalisierungsprozesse drän­ gen dann normabweichende, nonkonforme semiotische Strukturen und deren Produzen­ ten an den Rand. Abwertung: Ausgrenzung defizitärer Varietäten und ihrer Sprecher

Bourdieus Theorie des sprachlichen Marktes fügt dieser Ausgrenzung und Marginalisie­ rung noch die bereits erwähnte sozioökono­ mische Erklärungsdimension hinzu, denn der innergesellschaftliche Austausch von Sprach­ normen dient nicht nur der Identifizierung und Unterscheidung einzelner Individuen in Relation zu bestimmten sozialen Gruppierun­ gen, sondern die sog. legitime Sprache dient als Herrschaftsinstrument, mit dem Kontrol­ le und Macht ausgeübt wird. Produktion und Reproduktion von sprachlichen Normen, von legitimer Sprache werden durch symbolische Herrschaft gesteuert, z. B. durch gesellschaft­ liche Institutionen, die den Wert bestimm­ ter Varietäten auf dem sprachlichen Markt festlegen und somit zu sozialer Ungleichheit via sprachlicher Ungleichheit und deren Be­ wertung als „normgerecht“ und Teilhabe-be­ rechtigt oder „a(b)normal“ und auszugren­ zen beitragen. Abgrenzung, Abwertung und Marginalisierung bestimmter „defizitärer“ Substandard-Varietäten auf dem sprachlichen Markt durch gesellschaftliche Sanktionierung hat aber große personale Relevanz, denn die Abwertung bezieht sich nicht auf eine abstrak­ te sprachliche Kompetenz, sondern es ist eine Abwertung des Sprechers insgesamt, der – wie psychologische und soziolinguistische Studi­ en nachgewiesen haben – u. a. mit Ohnmacht, Schuldgefühl, Verstecken, Überspielen oder Hyperkorrektur (vgl. 4) reagiert.

Gate-keeping: Institutionelle Kontrolle und ­Reproduktion sprachlicher Ungleichheit

Die gesellschaftlichen Mechanismen der Pro­ duktion und Reproduktion sprachlicher Un­ gleichheit über die institutionelle Vermittlung sprachlicher Normen wird besonders deut­ lich am Beispiel der Sprachstandsfeststellung bei Schuleintritt. Gerade in der schulischen Sprachförderung steht die diagnostische Be­ stimmung der sprachlichen Lernausgangslage am Beginn jeder weiteren Schullaufbahnpla­ nung. Obwohl der aktuelle Zeitgeist stets fach­ liche Umetikettierungen und entsprechenden institutionellen Wandel verlangt, bleibt essen­ tiell gleich, dass eine hier festgestellte „Sprach­ störung“ bzw. ein „Förderbedarf im Bereich Sprache“ theoretisch wie praktisch als sprach­ liches Defizit aufgefasst werden. Hinter die­ ser klassischen Sichtweise verbirgt sich im Kern das Paradigma des Solipsismus, welcher die förderbedürftige Sprache eines Kindes als intrinsisches, dem Individuum inhärentes Merkmal definiert. Der diagnostische Zugang orientiert sich an der Normadäquatheit, wel­ che sich auf die abstrakte neutrale Korrektheit des allgemeingültigen Sprachsystems bezieht. Als linguistische Fundierung dient das Nor­ menmonopol der präskriptiven innerlingu­ istischen Sicht, deren normkonstituierendes Prinzip die Abweichung als Grundlage der sprachlichen Kompetenzbewertung ist. Wenn der individuelle sprachliche Förderbedarf ei­ nes Kindes als Abweichung von einer ein­ heitlichen Norm festgestellt wird, hat dies für die Schülerinnen und Schüler zur personalen Konsequenz, dass sich – ob gewollt oder nicht – durch die Zuschreibung „förderbedürftiger, „gestörter“ bzw. letztlich „behinderter“ Spra­ che immer auch ein Ausschluss vom „Normal­ sprachlichen“ vollzieht. Denn trotz bester per­ sönlicher Absicht der Lehrenden besteht ihre offizielle Aufgabe als schulische Funktionsträ­ ger in der Tradierung der gesellschaftlich-so­ zialen Sprachnormen gemäß homogener Stan­ dardvarietät. Durch ihre Rolle als Staatsdiener wird von ihnen bewusst oder unbewusst eine gesamtgesellschaftliche Funktion übernom­

72 

Person und Sprache

men, die, sprachsoziologisch betrachtet, der Normstabilisierung durch Reproduktion mit­ tels Sanktionierung, z. B. über gravierende Schullaufbahnentscheidungen, dient. Institutionell verankerte Sprachdiagnostik kann zu großen personalen Problemen füh­ ren, da von der normativen Messlatte nicht abstrakte linguistische Gebilde, sondern sprechende Schülerinnen und Schüler betrof­ fen sind. Kritisch zu bedenken ist, dass die Einführung von „objektiven“ Wertmaßstä­ ben wie der sprachlichen Norm, immer Aus­ wirkungen auf die ganze Person hat, welche die subjektive Verkörperung des analysier­ ten sprachlichen Sachverhaltes ist. Sprachdi­ agnostik ist nach Bourdieu letztlich immer Durchführung sozialer Selektion, denn die Vereinheitlichung dient als Instrument nor­ mierter Qualitätskontrolle des sprachlichen Lernerfolgs. Schaut man in gängige Struktu­ ren der durch schulische und vorschulische Bildungsinstitutionen dominierten Praxis der Sprachstandsdiagnostik und Sprachför­ derung speziell auch bei Kindern mit Mig­ rationshintergrund, so werden eine Vielzahl von Maßnahmen des Zentrums des gesamt­ gesellschaftlichen Sprachraums erkennbar, die eine gate-keeping-Funktion hinsichtlich des Zugangs zur Institution Grundschule inne haben bzw. der Unterdrückung periphe­ rer, subversiver (abjekter) sprachlich-sozialer Elemente dienen. Die individualistische Zu­ schreibung eines sprachlichen Förderbedarfs hat so als außenorientierte Wertung eine stig­ matisierende Wirkung, denn die an die Kin­ der angelegten dominanten Wertmaßstäbe werten Anders-Sprechende ab. Die Vorent­ haltung „normaler“ Bildungswege kann bei Schülern wie Eltern unterschiedlich erlebte Facetten von personaler Ohnmacht erzeu­ gen – letztlich stellt aber der utilitaristische Grundgedanke der sozialen Verwertbarkeit von Sprache eine Missachtung der Person per se dar.

3.3 Pädagogische ­Möglichkeit: ­Balancierung der gesellschaft­ lichen ­Dimension durch Inklusion ­sprachlicher ­Heterogenität Um die beschriebenen personalen Verände­ rungen, die durch Beeinträchtigungen der Sprache entstehen können, zu verhindern oder aufzufangen, bietet sich innerhalb der gesellschaftlichen Dimension des Verhältnis­ ses Person – Sprache das pädagogische Kon­ zept der „Inklusion sprachlicher Heteroge­ nität“ (Lüdtke 2010) an. In einem inklusiv gedachten Ansatz kann eine diagnostische Be­ stimmung der sprachlichen Lernausgangslage anders aussehen, da die Personalität der Schü­ lerinnen und Schüler in den diagnostischen Prozess einbezogen wird. Wenn in einer in­ klusiven Perspektive die spezifische individu­ elle Sprache eines Kindes nicht mehr wertend als sprachliches Defizit, sondern nach Bour­ dieu (52002) wertfrei als sprachliche „Diffe­ renz“ wahrgenommen wird, dann wird die sozio-emotionale Integration von „sprachli­ cher Heterogenität“ (Lüdtke 2003) zum ge­ meinsamen Ausgangspunkt und zur Zielstel­ lung sprachlichen Lernens. Ermöglicht wird dies durch das Paradigma der Reziprozität, welche den sprachlichen Förderbedarf als relationales, das heißt als kontext- und beobach­ terabhängiges Merkmal betrachtet. Nur durch dieses intersubjektive Verständnis können die personalen sprachlichen Anerkennungsakte zwischen Lehrenden und Lernenden ermög­ licht werden, die Schüler und insbesondere Förderschüler dringend brauchen. Theore­ tisches Fundament hat dieser diagnostische Zugang in der Kontextadäquatheit, welche sich statt am standardisierten und normierten Sprachsystem an der Variationsbreite des rea­ len Sprachvollzugs orientiert und die im Sinne der Differenzwahrnehmung nicht die außen-, sondern die innenorientierte personale Wert­ schätzung des Sprechers gewährleistet. Ihre linguistische Fundierung ist der Normenplu­ ralismus der deskriptiven soziolinguistischen Perspektive (→ Norm und Differenz), aus dessen Wertfreiheit sich die Toleranz und Ak­



Selbst   73

zeptanz gegenüber jedem Sprecher und jeder Varietät begründet. Das hier vertretene norm­ konstituierende Prinzip ist nicht die indivi­ duelle, intrinsische Abweichung, sondern der relationale Abstand (Bourdieu 52002), so dass die sprachliche Differenz als relationaler Ab­ stand in einer heterogenen Varietäten-Matrix konzipiert ist. Auf den gesamtgesellschaftlichen Sprach­ raum bezogen, wirkt der von der Peripherie zum Zentrum zentripetal verlaufende Inklu­ sionsprozess dem skizzierten zentrifugal ver­ laufenden Marginalisierungsprozess entge­ gen, indem Inklusion heterogene, kreative sprachliche Strukturen der Peripherie in fes­ tere Normen der legitimen Sprache einbettet und damit die Produktion neuer, idiosynkra­ tischer Zeichen (→ FS Geistige Entwicklung) verlangsamt. Pädagogisch bedeutsam ist, dass diese beiden komplementären Prozesse über die Person des Pädagogen vermittelt werden können, da er im Übergangsbereich (Lotman 1990) von Zentrum und Peripherie verortet ist. Sein Status ist somit „bilingual“ und sei­ ne Funktion und Aufgabe die Ermöglichung von Austausch, Übersetzung und Transfor­ mation sprachlicher Strukturen, z. B. mit dem Ziel, den sprachlichen Handlungsspielraum marginalisierter arbeitsloser Jugendlicher oder aber von Kindern aus armen, „bildungs­ fernen“ Familien zu erweitern. Diese Position kann aber auch massenmedial z. B. im Fern­ sehen oder in der Musikszene durch Prota­ gonisten besetzt sein (z. B. DSDS), die dieses Wechseln zwischen zwei sprachlichen Re­ gistern gekonnt beherrschen und dafür sor­ gen, dass sprachliche Tabu- oder Randphä­ nomene gesellschaftsfähig werden (Lüdtke 2008). Da konsumorientierte Massenmedien sel­ ten selbstreflexiv agieren, sind in einem in­ klusiven pädagogischen Ansatz insbesondere Lehrerinnen und Lehrer als maßgebliche ge­ sellschaftliche Funktionsträger aufgefordert, ihr sprachdiagnostisches Selbstverständnis zu überdenken, denn ihre Aufgabe heißt hier: Normenreflexion hinsichtlich der sprachli­ chen Variabilität – womit sie zugleich die Ei­

gengesetzlichkeit und nicht gesellschaftliche Unterordnung personal-subjektiver sprach­ licher Lernbedürfnisse und -prozesse un­ terstützen. Ihre gesellschaftliche Funktion gewinnt dabei die außerordentliche Verant­ wortung, Normenkritik durch Analyse der Gesetze des sprachlichen Marktes speziell in ihren Bildungsinstitutionen zu üben, denn nur eine hierauf aufbauende Würdigung der sprachlichen Stile der Kinder als individuelle Diskursformen erzeugt für diese auch sprach­ liche und personale Autonomie. Ein derart inklusiver Ansatz hat für den Einzelnen den Vorteil, durch das rekursive Verständnis be­ hindernder Sprachlernbedingungen besser als Partizipierender in das sozio-emotionale Netz der gesellschaftlichen Institution Schule integriert werden zu können – und damit in die Gesellschaft überhaupt.

4  Selbst Die dritte Dimension, durch die sich das Ver­ hältnis Person – Sprache bestimmt, ist das Individuum und sein sprachliches Selbst. Als Kulminationspunkt dieses Aspektes wird im Folgenden das Konzept der sprachlichen Identität (Lüdtke 2004) (4.1) und Möglichkei­ ten ihrer Beschädigung (4.2) vorgestellt, wie es sich aus einer psychologisch gewendeten Varietätenlinguistik (vgl. u. a. Dittmar 1997) (→ Norm und Differenz) ergibt.

4.1 Personwerdung: ­Zugehörigkeit und Abgrenzung durch ­sprachliche Identität Identitätsbildung: Selbstfindung in Moderne und Postmoderne

Der Begriff der „Identität“ wird häufig als „In­ flationsbegriff Nr. 1“ bezeichnet (vgl. Keupp 2 2002). Daher können hier nur einige aus­ gewählte Aspekte beleuchtet werden, wobei der Fokus auf den Wandel des Identitätskon­

74 

Person und Sprache

zeptes  – zwischen seinen Achsen Zugehörig­ keit/Abgrenzung und Selbstwahrnehmung/ Fremdwahrnehmung – gelegt wird. In archaischen Gesellschaften, mit einer relativ einheitlichen, wenig gegliederten So­ zialordnung, unmittelbaren face-to-face-Be­ ziehungen und einer allumfassenden, pan­ semiotisch-religiösen Symbolwelt (vgl. 2.1), spielt die individuelle Identitätsbildung im heutigen Sinne keine herausragende Rolle, da der Einzelne als ganze Person im gesellschaft­ lichen Gesamt aufgeht. Die persönliche Iden­ tität ist sozial, kulturell und religiös-semio­ tisch vordefiniert und das Individuum tritt hinter der Gemeinschaft zurück – mit allem Halt, aber auch allen Begrenzungen. In der Moderne findet die eigentliche Ge­ burt der Individualität und damit der Iden­ tität statt: der Aufbau persönlicher Identität verstanden als Eigenleistung des Einzelnen, begünstigt durch eine funktional differen­ zierte Gesellschaft. Diese bietet dem Einzel­ nen spezialisierte Rollenmuster, aber auch unterschiedliche Sinnwelten an, welche er zur Standortbestimmung sich selbst und anderen gegenüber auswählen und übernehmen kann. Hierzu passen klassische Identitätsmodelle wie u. a. das von Erikson (1966), welche Iden­ tität als Selbst- und Fremdwahrnehmung der Gleichheit und Kontinuität eines Individu­ ums verstehen, das einheitlich, eindeutig und möglichst ein Leben lang (wenn auch mit ge­ wissen Repressionen) gültig ist. Derartig stabile, ja statische außenorien­ tierte Selbstbilder haben in den Identitäts­ konzepten der Postmoderne keine Gültigkeit mehr. Hier wird vielmehr von „Bastelexis­ tenzen“, „Patchwork-Identitäten“ und einem „nomadischen Selbst“ gesprochen, wobei al­ len Ansätzen gemeinsam die Annahme eines dezentrierten Subjektes (vgl. Kristeva 1986, 1998) ist. Komplexitätssteigerung und Brüchigkeit als einige Merkmale global-postmoderner Gesellschaften destabilisieren auf vielfälti­ ge Weise das Individuum und zwingen es zu permanenter Identitätsarbeit und IdentitätsDe- und -Rekonstruktionen: die „Entbet­

tung“ aus einem stabilen Rahmen homogener Nationalkulturen und die Wandelbarkeit in kulturübergreifenden globalen Netzwerken, die Fragmentierung von digitalen Erfahrun­ gen, die Existenz von Parallelwelten und die Konkurrenz von virtuellen Welten als neue Realitäten sowie die Austauschbarkeit von herkömmlichen Identitätsgaranten wie Kör­ per und Geschlecht – all dies Merkmale der Auflösung von bislang identitätsstiftenden „Kohärenzgarantien“ (vgl. Keupp 22002). Linguistic identity: Personale Funktionen ­linguistischer Varietäten

Bezogen auf das hier spezifisch interessieren­ de Verhältnis Person – Sprache kann der ent­ sprechende Teilbereich der Gesamt-Identität, nämlich die „sprachliche Identität“ (vgl. Crys­ tal 1998) eines Individuums, von der oder den Varietäten eines Sprechers hergeleitet werden, indem über die jeweiligen personalen Funktionen der Varietäten die mit ihnen verknüpften sprachlichen Identitäten herausgearbeitet wer­ den – und zwar nach innen für den Sprecher wie nach außen für seinen Kommunikations­ partner. Folgt man gängigen soziolinguisti­ schen Ordnungsschemata des Varietätenrau­ mes in die sechs Kategorien ‚Person‘, ‚Raum‘, ‚Gruppe‘, ‚Kodifizierung‘, ‚Situation‘ und ‚Kon­ takt‘ (vgl. Dittmar 1997), so ergeben sich fol­ gende analoge Dimensionen der sprachlichen Identität: Psychophysische sprachliche Identität Mit individuellen Varietäten (z. B. einem be­ stimmten ‚Idiolekt‘) verbindet der Sprecher eine spezifische psychophysische sprachliche Identität. So prägen beispielsweise seine spezi­ fische Anatomie des Vokaltraktes, sein physi­ sches Alter und Geschlecht und sein körper­ licher Gesundheitszustand seine physische sprachliche Identität insbesondere die Stim­ me, und z. B. seine intellektuellen Fähigkeiten und sein Persönlichkeitstyp seine psychische sprachliche Identität.



Selbst   75

Raumbezogene sprachliche Identität Mit diatopischen Varietäten (z. B. einem be­ stimmten ‚Dialekt‘, ‚Urbanolekt‘ oder ‚Regio­ lekt‘) verbindet der Sprecher eine spezifische raumbezogene sprachliche Identität. Diese kann z. B. durch eine Bayrische, Rheinische oder Württembergische Mundart oder durch ein Ost- bzw. West-Berlinerisch zu einer spezifi­ schen geographischen sprachlichen Identität oder durch eine „nicht-deutsche“ Mutterspra­ che oder die Bewahrung einer Minoritäten­ sprache zu einer kulturellen sprachlichen Iden­ tität führen. Soziale sprachliche Identität Mit diastratischen Varietäten (z. B. einem be­ stimmten ‚Soziolekt‘) verbindet der Sprecher eine spezifische soziale sprachliche Identität. Maßgebliche Identitätsfaktoren sind hier zu­ nächst soziales Alter und soziales Geschlecht, welche über geschlechtsspezifische (‚Sexo­ lekt‘) oder altersspezifische Varietäten (Ju­ gendsprache, ‚Gerontolekt‘) personal z. B. als peer-group-Zugehörigkeit wirken. Sozialgrup­ penspezifische Varietäten (Slang, ‚Obdach­ losensprache‘, ‚Ghetto-Deutsch‘ etc.) wirken identifikatorisch über perspektivenabhängiges Sozial-Prestige. Normative sprachliche Identität Mit bestimmten Standard- oder SubstandardVarietäten verbindet der Sprecher eine spezi­ fische normative sprachliche Identität. Stand­ ortabhängig (Zentrum vs. Peripherie des gesamtgesellschaftlichen Sprachraumes) kön­ nen sowohl die Übernahme geltender Sprach­ normen als auch der Verstoß gegen sie pres­ tigeträchtig und damit identitätsstiftend sein. Situative sprachliche Identität Mit diaphasischen Varietäten (z. B. einem be­ stimmten ‚Situolekt‘) verbindet der Sprecher eine spezifische situative sprachliche Identität. So führt beispielsweise die Verwendung spe­ zifischer sprachlicher Register, wie dem Mo­ therese, zu einer kontextuellen sprachlichen Identität, sowie die Herausbildung eines indi­ viduellen sprachlichen Stils oder die Beherr­

schung einer Fachsprache zu einer Distinkt­ heit und damit einer stilistischen sprachlichen Identität. Machtbezogene sprachliche Identität Mit bestimmten Kontakt-Varietäten verbin­ det der Sprecher eine spezifische machtbezogene sprachliche Identität. So wie zur Kolonial­ zeit viele Pidgin- und Kreolsprachen zu einer unterlegenen Sprecheridentität führten, zeu­ gen heute häufig „Türken-Deutsch“ und ande­ re Lernervarietäten (‚Lernerlekte‘) von einer eher machtlosen sprachlichen Identität. Das Einstreuen von Begriffen oder Floskeln pres­ tigebesetzter Fremdsprachen, wie früher dem Französischen und Lateinischen oder Griechi­ schen, heute dem Angloamerikanischen, ver­ weisen auf eine machtvolle sprachliche Identi­ tät.

4.2 Depersonalisierung: Verlorenheit und Kohärenzauflösung durch Beschädigungen der sprachlichen Identität Auf diesem allgemeinen Konzept aufbauend, stellt sich nun die Frage, wie die unterschiedli­ chen Formen beeinträchtigter Sprache die in­ dividuumsspezifische Dimension des Verhält­ nisses Person – Sprache verändern. Fokus hier ist der Prozess der Depersonalisierung, wie er durch unterschiedliche Formen der Beschädigung sprachlicher Identität eingeleitet werden kann. Identitätszerfall: Verlust des Selbst in Krankheit und Behinderung

Sprachliche Identität kann in einem postmo­ dernen Verständnis als sozio-emotionale Ba­ lance zwischen sprachlicher Einzigartigkeit und zugleich sprachlicher Zugehörigkeit verstan­ den werden, welche im gesamtgesellschaftli­ chen Sprachraum über vielfältige kommunika­ tive Koppelungs- und Entkoppe­lungsprozesse permanent neu konstruiert wird. Sprachliche Identitätsbildung vollzieht sich dabei in ihren

76 

Person und Sprache

unterschiedlichen psychophysischen, raumbe­ zogenen, sozialen, normativen, situativen und machtbezogenen Dimensionen (4.1) als in­ tersubjektive reziproke Konstruktion in Form „dialogischer Validierung“ (Markowetz 2000), wobei auf beiden Seiten kognitive – sprachli­ ches Selbstkonzept/Fremdkonzept – und affek­ tive Komponenten  – sprachbezogenes Selbst­ wertgefühl/Fremdempfindung – beteiligt sind. Schon in einem Lebensvollzug ohne sprachliche Beeinträchtigungen ist sprach­ liche Identität das Ergebnis eines inter- und intrapersonalen sozio-emotionalen Balan­ cierungs- und Integrationsprozesses, in dem alltägliche Konflikte, Widersprüche, Diver­ genzen und Disharmonien zwischen internen und/oder externen sprachspezifischen Iden­ titätsmerkmalen aufgelöst werden müssen. Im Falle einer Beeinträchtigung der Sprache durch eine Erkrankung, Störung oder Behin­ derung muss sich die Person bewusst oder un­ bewusst erst recht mit den zentralen Fragen der sprachlichen Identitätsbildung auseinan­ dersetzen, die den drei Konstituenten sprach­ licher Identität (u. a. Markowetz 2000) ent­ sprechen: „Wie empfinden und beurteilen die Anderen meine (beeinträchtigte) Sprache?“ – das tatsächliche sprachspezifische Fremdbild; „Was denke und fühle ich, wie die Anderen meine (beeinträchtigte) Sprache empfinden und beurteilen?“ – das vermutete sprachspezifische Fremdbild; und „Wie empfinde und beurteile ich selbst meine (beeinträchtigte) Sprache?“ – das sprachliche Selbstbild. Zwar ist theoretisch nicht die ausschließliche Über­ nahme der sprachspezifischen Fremdbilder identitätsbestimmend, doch droht die Gefahr angesichts diagnostischer und kommunikati­ ver Zuschreibungs- und Stigmatisierungspro­ zesse (vgl. 3.2). Führt man sich vor Augen, wie jeder Mensch in seinem Alltagsvollzug individuel­ len Anforderungen an seine Sprache und ge­ sellschaftlichen Erwartungen, z. B. definier­ tes verbales Rollenverhalten, ausgesetzt ist, so wird deutlich, wie durch eine plötzliche „Stö­ rung“ dieser Sprache die Zahl der sprachspezi­ fisch identitätsrelevanten Situationen sprung­

haft ansteigt, denn die Konfrontationen mit den unausweichlichen, an Gewohnheiten oder Normen orientierten Bewertungen werden meist nicht nur als Kritik an der linguistischen Kompetenz, sondern fast immer als umfassen­ der Angriff auf das sprachliche Selbst und da­ mit gefühlsmäßig auf die ganze Person erlebt. Das Gefühl einer sprachlichen Identitätskrise wird so erweckt, denn das gewonnene, stabi­ le und lebenslang haltbar geglaubte Bild der eigenen Sprache, welches zutiefst affektiv be­ setzt ist, zerbricht im sozio-emotionalen Spie­ gelbild in tausend Stücke (→ Behinderung und Vulnerabilität). Der Umgang mit diesem personalen Scher­ benhaufen ist vielfältig. Meistern der Be­ troffene und sein Umfeld diese komplexen emotionalen Herausforderungen, erlebt er sich  – unabhängig von seinem objektiv viel­ leicht sogar recht „schlechten Sprachstatus“ – als sprachlich kompetente Person und kann dadurch einen sprachspezifischen Identitätsgewinn haben. Er weiß fortan, dass er „trotz­ dem“ auf verschiedene sprachliche Ereignisse in unterschiedlichen Kommunikationskon­ texten reagieren und auf die dabei gemach­ ten identitätsrelevanten Erfahrungen Einfluss nehmen kann. Scheitern Betroffene und Umfeld jedoch an dieser Identitätskrise, da die erlebten An­ griffe auf die eigene Person das Individuum gefühlsmäßig überfordern, so empfindet der Einzelne – unter Umständen trotz seines ob­ jektiv vielleicht sogar recht „guten Sprachsta­ tus“ – einen häufig nicht wieder gut zu ma­ chenden sprachspezifischen Identitätsverlust, auf den er eventuell durch ein Spektrum re­ agiert, was von verbalen Aggressionen bis hin zu sprachlichem Rückzug reichen kann. Zuweilen ist der Identitätsverlust eines Men­ schen jedoch quantitativ und qualitativ so groß und schwerwiegend, dass man sogar von einer Beschädigung seiner sprachlichen Iden­ tität sprechen muss (vgl. u. a. Cloerkes 2000, Markowetz 2000). Dies kann z. B. dann sein, wenn zwar äußerlich auf der linguistischen Ebene „Fortschritte“ gemacht wurden, aber innerlich die sprachliche Identität mit ihren



Selbst   77

neuen Facetten nicht hinreichend integriert werden kann, da bisherige langfristige Erfah­ rungen von sozialer Nicht-Anerkennung der individuellen Variation bereits eine negative emotionale Spur im Menschen hinterlassen haben. Es kann aber noch viel wahrscheinli­ cher in denjenigen sprachlichen Lernbiogra­ phien geschehen, in denen sich unter „ob­ jektiven“ Normalitätsgesichtspunkten keine linguistische „Verbesserung“ entwickelt hat und auch nicht mehr entwickeln wird, und wo die vertraute sprachliche Identität unwie­ derbringlich verloren ist. Wesentliche Bedingungshintergründe für derartige personale Beschädigungen finden sich aber gerade auch in dem komplexen Zu­ sammenspiel von Stigmatisierungen der Spra­ che und sprachlicher Identität. Die auftre­ tende Sprachstörung eines Menschen führt häufig zu einem folgenschweren Teufelskreis: Der sprachgestörte Mensch verletzt massiv die gesellschaftlichen Sprachnormen; die Ge­ sellschaft sanktioniert den Affront gegen die kollektiven Spracherwartungen mit Stigmati­ sierungsprozessen; diese negativ erlebten in­ dividuellen oder institutionellen Erfahrungen haben Stigmaqualität, da sie als Bedrohung des sprachlichen Selbst interpretiert werden; diese Bedrohlichkeit verursacht Irritationen in den Interaktionen, Einschränkunken der verbalen Partizipation und letztlich emo­ tional hoch bedeutsame sprachspezifische Identitätsprobleme; die dadurch erlebte Ge­ fährdung der sprachlichen Identität stigmati­ sierter Menschen wird durch verschiedenarti­ ge Identitätsstrategien abzuwehren versucht; und erst wenn diese Strategien über einen län­ geren Zeitraum in unterschiedlichen Kontex­ ten versagen, entsteht eine beschädigte sprachliche Identität (vgl. Markowetz 2000). Verstörung der linguistic identity: Beschädigung personaler Funktionen

Die in ihrer Genese beschriebenen Beschädi­ gungen der sprachlichen Identität müssen nicht umfassend sein, sondern können die skizzier­ ten Dimensionen einzeln (vgl. 4.1) betreffen.

Diese sind jeweils abhängig von den zugrun­ de liegenden linguistischen Merkmalen, die z. B. durch eine Sprach-, Sprech-, Stimm- oder Schluckstörung verändert sein können. Beschädigungen der psychophysischen sprachlichen Identität Die psychophysische sprachliche Identität des Sprechers kann durch Veränderungen der zu­ grunde liegenden linguistischen Merkma­ le der betroffenen individuellen Varietät und eventuelle sozial-kommunikative Reaktionen hierauf beschädigt werden. Beschädigungen der physischen sprachlichen Identität können beispielsweise durch akute, chronische oder degenerative peripher- oder zentralorganische → Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstö­ rungen verursacht werden, Beschädigungen der psychischen sprachlichen Identität u. a. durch eine demenzielle oder aphasische Er­ krankung, → psychoreaktive Redestörungen sowie ein Frontalhirnsyndrom. Beschädigungen der raumbezogenen sprachlichen Identität Beschädigungen der raumbezogenen sprachli­ chen Identität eines Sprechers können durch Veränderungen der zugrunde liegenden lin­ guistischen Merkmale der betroffenen diato­ pischen Varietät und eventuelle sozial-kom­ munikative Reaktionen hierauf hervorgerufen werden. Geographisch verankerte Dialekte können z. B. durch Umzug in eine andere Re­ gion Befremdung hervorrufen oder an einem neuen Arbeitsplatz deplatziert wirken. Kul­ turelle sprachliche Identitäten können durch Migration oder Flucht in ein anderes Land verstört werden oder aber durch widersprüch­ liche Normen und Erwartungshaltungen im öffentlichen (z. B. Kindergarten, Schule, Ge­ schäfte) und privat-familiären Raum bezüg­ lich der Muttersprache wie des Zweitspracher­ werbs gebrochen werden. Beschädigungen der sozialen sprachlichen Identität Veränderungen der zugrunde liegenden linguistischen Merkmale der betroffenen diastra­

78 

Person und Sprache

tischen Varietät und eventuelle sozial-kommu­ nikative Reaktionen hierauf kön­nen Beschä­ digungen der sozialen sprachlichen  Identität eines Sprechers verursachen. Hauptfaktor hier ist die Marginalisierung und damit persona­ le Abwertung eines Sprechers aufgrund seiner sozialgruppenspezifischen Varietät auf dem öf­ fentlichen sprachlichen Markt (Arbeitsmarkt, Bildungssystem). Weitere Aspekte können bei­ spielsweise die identifikatorische Verwehrung einer peer-group-Zugehörigkeit oder die Ver­ letzung durch ungebetene Konfronta­tion mit sexistischen oder enttabuisierten Varietäten sein. Beschädigungen der normativen sprachlichen Identität Die normative sprachliche Identität des Spre­ chers kann durch Veränderungen der zugrunde liegenden linguistischen Merkmale der betrof­ fenen Standard- oder Substandard-Varietät und eventuelle sozial-kommunikative Reaktionen hierauf beschädigt werden. Wesent­liche Ursa­ che sind hier gesamtgesellschaftliche sprachli­ che Messinstrumente, die sie die Unmöglich­ keit der gesellschaftlichen Partizipa­tion subtil (z. B. ‚gläserne Decke‘) oder brachial (Noten, diagnostische Etikette etc.) spürbar  werden lassen und sprachliche Maskierungsstrategien (z. B. Hyperkorrektur) initiieren. Beschädigungen der situativen sprachlichen Identität Beschädigungen der situativen sprachlichen Identität eines Sprechers können durch Ver­ änderungen der zugrunde liegenden linguisti­ schen Merkmale der betroffenen diaphasischen Varietät und eventuelle sozial-kommunikative Reaktionen hierauf hervorgerufen werden. Die kontextuelle sprachliche Identität kann bei­ spielsweise durch das gehäufte, sanktionierte „Ziehen“ eines falschen, d. h. unangemessenen Registers („falsche Tonlage“, „im Ton vergrei­ fen“) verstört werden, die stilistische sprachli­ che Identität z. B. durch Verleugnung indivi­ duell-distinkter Besonderheiten u. a. auch von kleineren Symptomen einiger Sprach-, Sprechund Stimmstörungen.

Beschädigungen der machtbezogenen ­sprach­lichen Identität Veränderungen der zugrunde liegenden lingu­ istischen Merkmale der betroffenen KontaktVarietät und eventuelle sozial-kommunikative Reaktionen hierauf können Beschädigungen der machtbezogenen sprachlichen Identität ei­ nes Sprechers verursachen. Lernervarietäten, insbesondere die von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Migrationshintergrund, werden vom individuellen wie gesellschaft­ lichen Gegenüber häufig so sehr abgewer­ tet, dass ein Gefühl sprachlicher Machtlosig­ keit entsteht. Diesem kann dann wiederum ­sozialgruppenspezifisch entgegengewirkt wer­ den, indem Phänomene wie „Kanak Sprak“ oder „Türken-Deutsch“ zu einem sprachlichen Machtinstrument hochstilisiert werden.

4.3 Pädagogische ­Möglichkeit: ­Balancierung der ­individuumsspezifischen ­Dimension durch Integration sprachlicher Identität Die abschließende Frage, die erörtert werden muss, ist, wie Beschädigungen der sprach­ lichen Identität im Rahmen pädagogischer Möglichkeiten sowohl präventiv verhindert als auch zumindest in Ansätzen wieder auf­ gehoben werden können und was der einzel­ ne Pädagoge und die jeweilige sprachrelevante Institution eventuell zu derartigen Identitäts­ beschädigungen beitragen. Neben der Vermittlung von aktiven iden­ titätsintegrierenden Lösungswegen muss der Pädagoge zunächst permanent reflektieren, ob und welche identitätsbeschädigenden Akte er selber initiiert und wie er sie z. B. durch eine Öffnung für die ihm begegnenden identi­ tätsrelevanten Spracherfahrungen (z. B. dem sprachlichen Synkretismus, vgl. 2.2) und durch ein Zulassen des Berührtwerdens vom sprachlichen Gegenüber (auch in der Form der Abjektheit) überwinden kann. Konkretisiert am bereits thematisierten Aspekt der sprachlichen Lernzielbestim­mung



Selbst   79

(vgl. 3.2) sollte sich zudem die fina­le Grund­ richtung sprachpädagogischer Lehr-Lern-­ Pro­zesse durch die Aufhebung der lin­ guistischen Homogenität der Kompetenz in der sprach­lichen Identität von einem sprachwissenschaftlich bestimmten normativen Bil­dungs- bzw. Therapieziel zu einem sprach­pädagogisch bestimmten autonomen Bildungs- bzw. Therapieziel verändern, denn nur über die identitätsorientierte sprachli­

che Differenz­anerkennung kann das lernende Individuum soziale, emotionale und vor al­ lem sprachliche Autonomie erlangen. Über­ geordnetes sprachpädagogisches Ziel muss deshalb sein, die Person des Sprechers darin zu unterstützen, zwecks erneutem sprachli­ chen Kompetenz- und Selbst-Erlebens Frem­ des, Unstimmiges und Neues in die bisheri­ ge sprachliche Identität zu integrieren und zu balancier­en.

Tab. 1:  Die mehrdimensionale Relation von Person und Sprache

80 

Person und Sprache

6 Sprach-Bilder – ­Menschenbilder – Bilder des sprechenden Subjektes In den vorausgegangenen drei Kapiteln wur­ de versucht, das komplexe Verhältnis von Per­ son und Sprache einerseits hinsichtlich seiner Dimensionen Kultur, Gesellschaft und Selbst, andererseits hinsichtlich der Veränderungen durch Beeinträchtigungen der Sprache so­ wie hinsichtlich pädagogischer Interventions­ möglichkeiten zu durchdringen (vgl. Tab. 1, S. 79). Hiermit soll ein fachwissenschaftlicher Prozess fortgeführt werden, der bislang durch zwei wegweisende Diskursetappen charakte­ risiert ist (vgl. Abb. 2): • Erstens die sprachwissenschaftliche Grund­ legung des Faches, in der mit Betonung des Aspektes der Sprache im historischen Ver­ lauf unterschiedliche, sich teils widerspre­ chende, teils sich ergänzende „Bilder von Sprache“ u. a. durch vergleichende Sprach­ wissenschaft, behavioristische Sprachwis­ senschaft, strukturale Linguistik, genera­ tive Linguistik, Soziolinguistik, Kognitive Linguistik, Neurolinguistik und poststruk­ turalistische Linguistik erarbeitet wurden (vgl. Lüdtke 2010). • Zweitens die pädagogische Akzentuierung des Faches, in der mit Betonung des As­ pektes der Person insbesondere durch die paradigmatischen Übersichtsarbeiten von Grohnfeldt (1987) die sog. „Menschenbil­ der“ und ihre pädagogisch-therapeutischen Implikationen herausgearbeitet wurden. Die in diesem Stichwort vorgelegten „Bil­ der des sprechenden Subjektes“ stellen einen

Versuch dar, die bislang isoliert untersuchten Aspekte Person – Sprache in ihrer Relationalität darzustellen, um eine fachwissenschaftli­ che Grundlage für die hiermit essentiell ver­ schränkten weiteren Überlegungen zu den sprachwissenschaftlichen Gegenstandsdimen­ sionen (Teil II), den Beeinträchtigungen der Sprache (Teil III), den fachpraktischen Refle­ xionsebenen (Teil IV), den zentralen Katego­ rien der Sprachdidaktik (Teil V), Unterricht, Therapie und Förderung (Teil VI) sowie den Übergängen zwischen den verschiedenen För­ derschwerpunkten (Teil VII) anzubieten.

Literatur Agamben, G. (2003): Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Aristoteles (1998 [i. O. ca. 329–327 v. Chr.]): Politik: Schriften zur Staatstheorie. Ditzingen: Reclam. Bourdieu, P. (1977): The economics of linguistic ex­ changes. Social Science Information 16, 6, 645– 668. Bourdieu, P. (51994): Zur Soziologie symbolischer Formen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bourdieu, P. (52002): Die feinen Unterschiede. Kri­ tik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Braun, O. (32006): Sprachstörungen bei Kindern und Jugendlichen: Diagnostik – Therapie – Förderung. Stuttgart: Kohlhammer. Cassirer, E. A. (1977 [i. O. 1954]): Philosophie der symbolischen Formen. Darmstadt: Wissenschaft­ liche Buchgesellschaft. Chomsky, N. (1965): Aspects of the theory of syntax. Cambridge (MA): MIT. – Dt. (1973): Aspekte der Syntax-Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Cloerkes, G. (2000): Soziologische Grundlagen. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheil­ pädagogik und Logopädie. Bd. 1: Selbstverständnis und theoretische Grundlagen (217–235). Stuttgart: Kohlhammer.

SPRACHE

PERSON

PERSON – SPRACHE

Sprach-Bilder

Menschenbilder

Bilder des sprechenden Subjektes

Abb. 2:  Fachwissen­ schaftliche Diskurs­ etappen



Literatur   81

Crystal, D. (21998): The Cambridge encyclopedia of language. Cambridge: Cambridge University Press. Dittmar, N. (1997): Grundlagen der Soziolinguistik. Tübingen: Niemeyer. Erikson, E. H. (1966): Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Frege, G. (2002 [i. O. 1892]): Über Sinn und Bedeu­ tung. In: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logi­ sche Studien. Sammlung Philosophie. Bd. 4. Göt­ tingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Grohnfeldt, M. (1987): Menschenbilder in der Sprach­ behindertenpädagogik. Situationsanalyse und Per­ spektiven zur Weiterentwicklung unter besonderer Berücksichtigung der Sprachtherapie. Die Sprach­ heilarbeit 32, 1–9. Heidegger, M. (1983 [i. O. 1929/30]): Die Grundbegrif­ fe der Metaphysik. Frankfurt a. M.: Klostermann. Humboldt, W. von (1998 [i. O. 1836]): Über die Ver­ schiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. Stuttgart: UTB. Itard, J. (1801): Rapport sur Victor de l’Aveyron. – Dt. (1972): Gutachten über die ersten Entwicklungen des Viktor von Aveyron. In: Malson, L.: Die wilden Kinder (114–163). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Jung, C. G. (2003 [i. O. 1968]): Der Mensch und seine Symbole. Zürich: Patmos. Keupp, H. (22002): Identitätskonstruktionen: Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Hamburg: Rowohlt. Kristeva, J. (1980): Powers of horror. An essay on ab­ jection. New York: Columbia University Press. Kristeva, J. (1986): The system and the speaking sub­ ject. In: Moi, T. (Ed.): The Kristeva Reader (24–33). New York: Columbia University Press. Kristeva, J. (1989): Language the unknown. An ini­ tiation into linguistics. New York: Columbia Uni­ versity Press. Kristeva, J. (1998): The subject in process. In: Ffrench, P./Lack, R.-F. (Eds.): The Tel Quel Reader (133– 178). London: Routledge. Lotman, Y. (1990): Über die Semiosphäre. Zeitschrift für Semiotik 4, 287–305. Lüdtke, U. (2003): Aktuelle Herausforderungen an die Sprachheilpädagogik: Forschung – Praxis – Lehre. Ein Beitrag zur Einheit des Faches. Die Sprachheilarbeit 48, 140–150. Lüdtke, U. (2004): Emotionen im Unterricht. Theorie und Praxis einer Relationalen Didaktik im Förder­ schwerpunkt Sprache. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopä­ die, Bd. 5 (106–126). Stuttgart: Kohlhammer.

Lüdtke, U. (2008): Henne oder Ei? Die Beziehung von Sprache, Kognition und Emotion. tv diskurs: Tat­ ort Sprache. Verbale Grenzüberschreitungen in den Medien und ihre Wirkung 45, 22–30. Lüdtke, U. (2010): Sprachdidaktiktheorie – Vom Sprachtherapeutischen Unterricht zur Relationa­ len Didaktik. Wie weiter in Zeiten der Inklusion? Zeitschrift für Heilpädagogik 61, 3, 84–96. Lüdtke, U. & Frank, B. (2007): Die Sprache der Ge­ fühle – Gefühle in der Sprache. Ausdruck, Ent­ wicklung und pädagogische Regulation von Emotionen am Beispiel der Jugendsprache. In: Arnold, R. & Holzapfel, G. (Hrsg.): Emotionen und Lernen. Die vergessenen Gefühle in der Er­ wachse­nen­pädagogik. Reihe: Grundlagen der Be­ rufs- und ­Erwachsenenbildung (119–142). Hohen­ gehren: Schneider. Mall, R. (1996): Der Mensch in der Verschränkung von Mythos und Logos. Zur Komplementarität von Denkkulturen in der Anthropologie. Dialek­ tik. Enzyklopädische Zeitschrift für Philosophie und Wissenschaften 1, 13–28. Markowetz, R. (2000): Identitätsentwicklung und Pu­ bertät – Über den Umgang mit Krisen und iden­ titätsrelevanten Erfahrungen von Jugendlichen mit einer Behinderung. Behindertenpädagogik 2, 136–174. Nöth, W. (22000): Handbuch der Semiotik. Stuttgart: Metzler. Peirce, C. S. (1931–1958): Collected Papers, hrsg. v. Hartshorne, C., Weiss, P. & Burks, A. Cambridge (MA). – Zitiert als CP. Richter, H.-G. (1984): Pädagogische Kunsttherapie. Düsseldorf: Klett. Saussure, F. de (1916): Cours de linguistique généra­ le. Lausanne: Payot. – Dt. (1931): Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin: de Gruy­ ter. Schlobinski, P. & Heins, N. C. (Hrsg.) (1998): Jugend­ liche und ‚ihre‘ Sprache. Opladen: Westdeutscher Verlag. Tolkien, J. R. R. (1954/55): The Lord of the Rings. – Dt. (132004): Der Herr der Ringe. Stuttgart: KlettCotta. Veit-Wild, F. (1996): Karneval und Kakerlaken: Postkolonialismus in der afrikanischen Litera­ tur. Schriftenreihe „Öffentliche Vorlesungen“ der Humboldt-Universität zu Berlin, 77. Watzlawick, P., Beavin, J. H. & Jackson, D. D. (1969): Menschliche Kommunikation. Bern: Huber. Zaimoğlu, F. (2007): Kanak Sprak. 24 Misstöne vom Rande der Gesellschaft. Berlin: Rotbuch.

Intersubjektivität und Kommunikation Colwyn Trevarthen

1 Zur Theorie der ­Intersubjektivität 1.1 Wie wir Absichten oder ­Vorstellungen ­kommunizieren und Bedeutung erschaffen: Sprache wird durch Sprechen und intuitive Mimesis gelernt Die zwischenmenschliche Kommunika­tion mentaler Inhalte – Absichten, Eindrücke und Emotionen sowie unterschiedliche Ideen, Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle – nimmt in der Sprache eine symbolische bzw. „deklarative“ Form an (→ Zeichen und Semi­ ose). Der Gebrauch von Wörtern lässt, ebenso wie andere erlernte Möglichkeiten der Reprä­ sentation von nicht präsenten Objekten, die Anzahl der Dinge sowie die Ideen und Projek­ te, über die wir nachdenken, enorm anwach­ sen. Dies verleiht uns die Fähigkeit, in unse­ rer Fantasie zusammen mit anderen an alle erdenklich vorstellbaren Orte als auch Zeiten zu reisen oder aber ganz für uns alleine die Zu­ kunft auszumalen sowie geschehene Ereignisse und Personen der Vergangenheit zu erinnern. Dies ermöglicht uns darüber hinaus auch, in­ nerhalb unseres Lebens in einer sozialen Welt, welche von einer Kultur des „common sense“ (Bruner 1990) durchdrungen ist, Bedeutung zu übermitteln. Doch neben dem Gebrauch von gesprochener oder geschriebener Sprache gibt es einen unmittelbareren, lebendigeren Weg (→ Sprache und Wahrnehmung), wie wir uns in den episodischen Momenten gemeinsa­ men Erlebens gegenseitig gewahr und bedeut­ sam werden. Die mit diesem Weg verknüpfte grundlegende Intersubjektivität – vermittelt durch lebendige Bewegung – ist wesentlich für das Ansammeln und Mitteilen von Erinne­ rungen sowie für das Erlernen symbolischen

Denkens und Sprechens (Bråten 1998, Fonagy 2001, Zlatev et al. 2009). Dieser kommunikati­ ve Zugang ist potenziell von dem Augenblick an offen und aktiv, an dem ein Baby geboren wird (Trevarthen 1979, 1998, 1999a). Alle Arten des sich Beziehens bzw. des Referierens auf, des Sprechens über oder des Formulierens von Repräsentationen derjeni­ gen Dinge, die zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort sein können, hängen vom intui­ tiven Vermögen des Menschen ab, mit seinem Körper Bewegungen zu erzeugen, welche sei­ ne Geschichten „erzählen“ – dies auch bei je­ nen Personen, die nicht in der Lage sind, sich verbal auszudrücken (Trevarthen 2011). Refe­ renz (→ Zeichen und Semiose) hängt von Be­ wegungshandlungen ab, die in einer fiktiven, metaphorischen Art erzählen, wie jemand et­ was über bestimmte Dinge weiß und wie er diese benutzt, so dass andere sich vorstellen können, wie sie selbst genau das Gleiche über eben diese Dinge wissen und sie ebenso be­ nutzen – und zwar indem sie sich intuitiv „ge­ nau so“, in der gleichen Weise, bewegen. Um Bedeutungen (mit-)zu teilen, müssen wir fähig sein, intentionale und emotiona­ le mentale Inhalte gleichermaßen zu imitie­ ren und uns diese durch Bewegungen unse­ rer Körper in spielerischer oder vorgespielter „Mimesis“ gegenseitig zu zeigen (Donald 2001, Reddy 2008, Sheets-Johnstone 2011). Eine einzigartige und komplexe Hierarchie von rhythmischen, expressiven Bewegungen vieler Bereiche des menschlichen Körpers ist von Geburt an in der Lage, mimetische Akte zu vollziehen oder nachzuvollziehen bzw. zu imitieren (Kugiumutzakis 1985, 1999). Das Erlernen der Sprache hängt von jenen ange­ borenen Fähigkeiten ab, die Babys haben, um sich mit Hilfe ihrer Stimme, ihrem Gesicht, ihren Händen und letztlich ihrem ganzen Körper auszudrücken und um hiermit Äuße­



Zur Theorie der ­Intersubjektivität   83

rungen anderer Personen, welche unter Um­ ständen gar keine Worte enthalten, als meta­ phorische Mitteilungen und Gleichnisse zu verstehen (Trevarthen 1986, 1994, 1999a/b). Innerhalb der wissenschaftlichen Erfor­ schung der menschlichen Kommunikation liefern derzeit insbesondere zwei Untersu­ chungsbereiche wichtige Erkenntnisse über die präverbalen, subverbalen und insbeson­ dere die paraverbalen Wege des Kommuni­ zierens. Dies ist zum einen die detaillierte Untersuchung der vorsprachlichen Kommu­ nikation in der Kindheit (Bullowa 1979, Tre­ varthen 1979, 1994, 1998, 2011, Stern 2000 [i. O. 1985], Bråten 1998, Reddy 2011) und zum anderen Philosophie, Theorie und pra­ xisnahe Erforschung der Bewegung in den „imitierenden Künsten“ von Musik und Tanz (Kühl 2007, Malloch & Trevarthen 2009). In beiden Feldern ist die Evidenz angebore­ ner, elaborierter mentaler und körperlicher Kommunikationsprozesse hinreichend be­ legt und konzeptualisiert (→ Musiktherapie). Diese Prozesse sind zwar dem kommunikati­ ven Agieren von Tieren relativ ähnlich, doch die menschlichen Verhaltensweisen, insbe­ sondere die neugeborener Kinder, sind er­ heblich komplexer und kreativer, da sie eine weitaus größere Kapazität für das Erlernen neuen Wissens oder neuer anspruchsvol­ ler Fertigkeiten besitzen. Die Ergebnisse die­ ser spezifisch menschlichen Fähigkeiten zur Herstellung unterschiedlicher Formen be­ deutungsvoller Kommunikation sind auf der ganzen Welt in den kulturellen Reichtümern der unterschiedlichsten Epochen manifest (→ Person und Sprache). Das angewachsene Wissen über nonver­ bale intersubjektive Prozesse beim Menschen bzw. über deren grundlegendes „embodi­ ment“ (Varela 1999), das heißt deren „Verkör­ perung“ in Bewegungen, trifft auf eine sich rapide weiterentwickelnde Neurowissen­ schaft (→ Sprache und Gehirn), die perma­ nent neue Erkenntnisse darüber gewinnt, wie das Nervensystem von Tieren und Menschen Bewegungen, Wahrnehmung und Lernen organisiert, als auch wie Emotionen (→ Ko­

gnition und Emotion) jene miteinander ver­ bundenen Aktivitäten von Körper und Geist regulieren, welche zugleich die physiologi­ schen Bedürfnisse des Körpers und der in­ neren Organe schützen (Gallese 2005, Pank­ sepp & Trevarthen 2009). Im Zuge immer genauerer Daten über die Gehirnaktivitäten zur Regulation der Motive und Intentionen eines intelligenten Bewusstseins durch funk­ tionelle bildgebende Verfahren werden die wesentlichen Funktionen der einzigartigen Eigenschaften des menschlichen Gehirns zu­ nehmend in dynamischen Begriffen verstan­ den. Insbesondere eine neuartige und revolu­ tionäre Theorie darüber, wie Gehirne in der Lage sind, psychische Prozesse in die Regu­ lation sozialen Eingebundenseins zu vermit­ teln, erzeugt eine völlig neue Perspektive für die wissenschaftliche Erforschung der Kom­ munikation (Tzourio-Mazoyer et al. 2002, Decety & Chaminade 2003, Jeannerod 2004, Gallagher 2011). Dies hilft uns zu verstehen, dass „Information“ nur dann Bedeutung hat, wenn sie dem Zweck dient, zu vermitteln, was wir gemeinsam tun wollen und wie wir uns dabei fühlen. Intentionen und Emotionen verursachen Kommunikation und erzeugen Bedeu­ tung – sie sind nicht lediglich Produkt der ihr inhärenten Informationen.

1.2 Die interaktiven und ­interpersonalen Funktionen von Kommunikation Menschen leben in Familien oder anderen Gemeinschaften, in denen Sinn und Bedeu­ tung mittels wechselseitig mitempfindendem, das heißt „sympathetischem“1 Austausch von Absichten und Anliegen geteilt bzw. mitge­ teilt werden. Bedeutung wird in gemeinsa­ mer Tätigkeit und in der Kommunikation er­ zeugt (→ Sprache und Sprechen) – und zwar zwischen Individuen, die sich gegenseitig als Personen mit unterschiedlichem „Charakter“, Interessen und Vorstellungen kennen und schätzen lernen. Gemeinsame Tätigkeit und Kommunikation erfordern keine Worte, doch

84 

Intersubjektivität und Kommunikation

jede Sprache hat ihren Ursprung im gemeinsamen Austausch, im gemeinsamen Gespräch zwischen lebendig sich bewegenden Part­ nern, die einander ihre Subjektivität und ihre Intentionen respektieren. Sie besitzen „kom­ munikative Kompetenz“ und sie nutzen hier­ für durch das Gehirn regulierte rhythmische Bewegungen, die in ihrer Musikalität bzw. in ihrer zeitlichen Struktur sowie ihrem emoti­ onalen Ausdruck pan-humane Charakteristi­ ken aufweisen (Malloch & Trevarthen 2009). Diese Arten kommunikativen Verhaltens wer­ den in jüngster Zeit durch Studien transparen­ ter, die sie mit der Kommunikation bei Tieren (Eckerdal & Merker 2009, Panksepp & Tre­ varthen 2009) und mit ihrer Entwicklung in der Kindheit vergleichen (Malloch 1999, Tre­ varthen 1999b, 2001a). Symbolische Referenz (→ Zeichen und Se­ miose) beinhaltet den Gebrauch allgemein akzeptierter Bedeutungen in Form von Zei­ chen oder Wörtern – und zwar sowohl zur Bezeichnung der Natur und der Eigenschaf­ ten von Gegenständen oder der Qualitäten von Themen als auch zur Wiedererkennung von agierenden Subjekten sowie zur Kennt­ lichmachung ihrer Interessen, Werte und Vorstellungen. Sie stellt jedoch nur einen klei­ nen Teil der komplexen expressiven Aktivität des gesamten Körpers einer Person im un­ mittelbar resonanten Bewusstwerden des je­ weiligen Gegenübers dar. Die Kommunikati­ on von Bedeutungen wird daneben vor allem durch Emotionen reguliert, die zwischen zwei sich unterhaltenden Partnern ausgetauscht werden (→ Kognition und Emotion). Beson­ ders wichtig sind hierbei die sog. „moral emo­ tions“ – das heißt Gefühle und Empfindun­ gen wie Stolz oder Scham, Bewunderung oder Neid, Vertrauen oder Abneigung –, welche den interpersonalen Kontakt regulieren und Ausgang und Erfolg der Kommunikation be­ stimmen (Scheff 1988). Kommunikation vollzieht sich in der vom Gehirn erzeugten „Bewegungs-Zeit“. Wenn zwei Menschen in der Gegenwart des Ge­ genübers lebendig kommunizieren, dann drücken sich beide aktiv mit ihren Körpern

in eng miteinander verwobener, polyrhyth­ mischer Art und Weise aus. Durch Mitemp­ finden (sympathising) von Rhythmus und Intensität der Bewegungen erspüren und er­ fassen sie gegenseitig die Intentionen, Inter­ essen und Gefühle des je anderen und teilen so den „gegenwärtigen Moment des Erlebens der gemeinsamen Handlung“ (Stern 2004). Sie nehmen teil am Rhythmus des „Intrinsi­ schen Motiv-Impulses“ (IMP; Intrinsic Motive Pulse) des anderen, was dazu führt, dass sie sich in gemeinsamer rhythmischer Weise bewegen (Trevarthen 1999b) (vgl. Abb. 3 in Foolen, Lüdtke, Schwarz-Friesel in diesem Band). Die Kommunikationspartner regu­ lieren über dieses Mitempfinden unmittel­ bar die Qualität ihres jeweiligen Ausdruckes, um so die Emotionen des anderen zu beein­ flussen, wobei sie beide in gegenseitiger Ab­ hängigkeit auf die Bewegungen des anderen reagieren (Gratier 2009) (→ Musiktherapie). Darüber hinaus ist ihre wechselseitige Be­ wusstheit und ihr wechselseitiger Austausch von Vorstellungen nicht auf jenen spezifi­ schen „Moment“ bewussten Erlebens be­ schränkt, denn sie umfassen einen sehr viel weiter ausgedehnten Zeitraum jenseits der wenigen Sekunden dieser „psychologischen Präsenz“ (Trevarthen 2008, 2011). Miteinan­ der kommunizierende Personen lassen so ein dynamisches Narrativ an Gedanken und Bil­ dern mit systematisch sich verändernder Auf­ merksamkeit oder Referenz entstehen: auf sich selbst, auf den anderen oder auf Gegen­ stände und Ereignisse außerhalb ihrer Kom­ munikation – eben auch auf Dinge an ande­ ren Orten und zu anderen Zeiten. Auf diese Weise erschaffen sie gemeinsam Bedeutungen und halten deren Festlegung aufrecht. Die unmittelbare Kommunikation menta­ ler Inhalte über mimetische Körperbewegun­ gen kann durch jede einzelne Sinnesmodalität vermittelt werden – durch Berührung, durch Blickkontakt, durch die Stimme oder aber auch durch jede andere mögliche „intermo­ dale“ Kombination. Der zugrunde liegende, wesentliche Prozess ist die Erschaffung eines imitierenden, aber flexibel variierenden „Dia­



Zur Theorie der ­Intersubjektivität   85

logs“, welcher im Handlungsverlauf improvi­ siert wird. Es ist genau dieses vielschichtige Verhalten zwischen absichtsvoll agierenden Personen, das als „Intersubjektivität“ bezeich­ net wird (Trevarthen 1998, Trevarthen & Ait­ ken 2001). Der weitere kommunikative Austausch kann den so beschriebenen lebendigen Kon­ takt zur Erweiterung der jeweiligen Gedan­ ken der Beteiligten in eine mögliche Zukunft oder in vergangene Erinnerungen hinein nut­ zen – und zwar mit Hilfe vereinbarter mime­ tischer oder sprachlicher Elemente, die sich auf Objekte oder Ereignisse außerhalb der Dyade beziehen. Zwar kann der intersubjekti­ ve Inhalt durch Sprache oder durch → Medi­ en, welche die Notwendigkeit echten mensch­ lichen Kontaktes reduzieren, teilweise sogar ersetzt werden, doch seine psychodynami­ schen Prinzipien bleiben als Grundlage stets erhalten – selbst dann, wenn die Kommuni­ kation darin besteht, dass jemand ganz al­ lein „für sich selbst“ einen stark künstlerisch verfremdeten Code oder Text liest. Sämtli­ che Bedeutungen sind hinsichtlich Herkunft und Absicht intersubjektiv – unabhängig da­ von, ob sie in gemeinsamer Aktivität oder von einem einsamen Denker verwendet werden (Fonagy 2001). In jeder kleineren oder größeren Gemein­ schaft von Menschen – egal ob in ihr einfachs­ te oder hoch entwickelte Technologie ver­ wendet wird oder aber sie Teil von globalen politischen und wirtschaftlichen Organisati­ onen ist – spielen die gegenseitige Bewertung von „Identität“ (→ Person und Sprache) und die damit verbundenen zwischenmenschli­ chen Empfindungen eine entscheidende Rol­ le. Die Selbstbewertung einer Person spiegelt zum einen Achtung oder Misstrauen anderer wider, mit denen diese mit ihr kooperieren und kommunizieren, zum anderen aber auch ihr inneres Selbstvertrauen bezüglich der ei­ genen Suche nach Kommunikation und dem Aufbau von Beziehungen. Vertrauen wird in sozialen Beziehungen durch unterschiedli­ che Grade gegenseitigen Respekts reziprok aufrecht erhalten – durch Übereinkünfte, in

welchen die persönlichen wie relationalen Emotionen von Stolz oder Scham davon ab­ hängen, wie andere die Handlungen des eige­ nen Selbst bewerten. Durch ein kreatives Ar­ beitsleben in Kooperation mit anderen sowie durch unterschiedliche Arten der hierin sich abspielenden Kommunikation erringt jeder Mensch eine „Persönlichkeit“, die seine per­ sönliche narrative Geschichte enthält. Die­ se ist das Produkt erinnerter Bindungen und Ziele, die in Intersubjektivität mit anderen in bedeutungsvoller Gemeinschaft mit ihnen er­ reicht worden sind. Für Aufbau und Erhalt von seelischer Ge­ sundheit und sozialem Vertrauen sind die Handlungen anderer Personen sowie der er­ folgreiche Austausch von Sinn und Bedeu­ tung mit diesen in allen Phasen der mensch­ lichen Entwicklung äußerst sensible Faktoren (Bowlby 1988). Es gibt eine Reihe von Beein­ trächtigungen der kommunikativen Aus­ drucks- bzw. Wahrnehmungsmöglichkeiten, die eine besondere Unterstützung brauchen, um eine gewisse Brüchigkeit oder gar eine Ab­ wehr von zwischenmenschlichem Kontakt zu kompensieren: z. B. Entwicklungsschädigun­ gen des Körpers wie der Sinnesorgane oder Folgen von Traumata und belastenden Le­ bensereignissen bzw. von missbrauchendem und vernachlässigendem Verhalten anderer in engen Beziehungen (Trevarthen & Aitken 2001, Hughes 2006, Trevarthen et al. 2006). Dieses ist der Aufgabenbereich von „Sonder­ pädagogik“ und von „Therapie“ (→ Sprach­ therapie), in denen besondere Formen kör­ perbasierter intersubjektiver Kommunikation angewendet werden müssen, welche den Res­ pekt oder die Wertschätzung für jegliche Ak­ tivität eines Schülers, Klienten oder Patienten unterstreichen, die dieser unternehmen mag, um emotionalen Austausch und Koopera­ tion zu suchen (Zeedyk 2008, Lüdtke 2011). Das Ziel muss darin bestehen, diese Impulse aufzugreifen und zu unterstützen, sie zu ver­ stärken oder zu modulieren, um den Betrof­ fenen eine befriedigende und vertrauensvolle Partizipation an der Gemeinschaft zu ermög­ lichen. Intersubjektives → Lehren und Ler­

86 

Intersubjektivität und Kommunikation

nen als auch eine intersubjektiv ausgerichtete Therapie verlassen sich auf die Akzeptanz der natürlichen Rhythmen und des natürlichen Ausdruckes der Bewegungen in gemeinsamer Aktivität (→ Musiktherapie) sowie auf den Respekt für zwischenmenschliche Gefühle – und nicht auf die Korrektur von Fehlern oder „Insuffizienzen“ der Sinneswahrnehmungen bzw. der individuellen kognitiven Verarbei­ tung oder von mangelnden Fähigkeiten in der Bewegungsausführung (Vygotskij 1967, Bru­ ner 1996, Rogoff 2003, Frank & Trevarthen 2011).

1.3 Evolutionäre ­Intersubjektivität: Zur Psychobiologie der Kommu­ nikation Subjektivität und Intersubjektivität sind nicht artspezifisch „menschlich“. Tatsächlich be­ sitzen selbst recht primitive Wirbeltiere eine ausgeklügelte Anatomie und hoch entwickel­ te Fähigkeiten zur Kommunikation von Ver­ haltensweisen, die für uns basale Stimmungen, Interessen und Intentionen zu sein scheinen, welche sich auf ihre lebenserhaltenden Funk­ tionen sowie auf die Regulierung kooperativen Verhaltens in der Gemeinschaft beziehen. Die Physiologie ihrer Motorik und die für Emo­ tionen zuständigen neuronalen Systeme ha­ ben grundlegende Eigenschaften mit denen des Menschen gemeinsam (Panksepp & Tre­ varthen 2009). Sämtliche Kommunikation bzw. „Semio­ se“ von Tieren ist ein Ergebnis motivgeladener Körperbewegungen oder ein Produkt bzw. Effekt stimulierender Substanzen (→ Zeichen und Semiose). Sie haben sich im Laufe der Evolution zu einem Signalsystem entwickelt, so dass andere Tiere die zugrundeliegenden Motive oder die gegenwärtige Verfassung wahrnehmen können, die diese generieren. Es ist ihre Funktion, Absichten bzw. Zustän­ de wie Wachheit, Lebenskraft, Vitalität oder Wohlbefinden zur Schau zu stellen, aber auch die dynamischen Emotionen, die sich – wie Darwin (1998 [i. O. 1872]) gezeigt hat (→ Ko­

gnition und Emotion) – zur Regulation so­ zialer Bindungen evolutionär herausgebildet und entwickelt haben. Tiere bewegen sich als Individuen, das heißt mittels Koordination des gesamten Körpers, und manifestieren so ihre physiologische und psychologische Inte­ grität als eigenständiges „Selbst“ bzw. „Sub­ jekt“. Die Botschaften dieser Kommunikati­ on so wie alle Bewegungen eines Tieres sind rhythmisch, das heißt in der Zeit durch einen Impuls bzw. ein Pulsieren (pulse) reguliert. Darüber hinaus übermitteln sie auch die in der Bewegung liegende Kraft und Ökono­ mie, indem sie die zugrundeliegenden „moti­ vationalen Qualitäten“ der Handlungsgesten ausdrücken. Tiere machen ihre Botschaften zudem durch Bewegung bestimmter Teile ih­ res Körpers deutlich, die in Verbindung mit bestimmten Intentionen stehen – z. B. Kopf, Augen und Ohren. Hiermit machen sie auf bestimmte Orte und Zeiten von Ereignissen aufmerksam oder aber auf eine zu vollziehende Aktivität, wie z. B. auf ein bestimmtes Objekt zu schlagen, es zu greifen oder es zu essen. Tiere können eindeutig den Körperein­ satz eines anderen Tieres als auch sein durch Motive, Intentionen sowie Bewusstseinszu­ stände geprägtes Erleben so wahrnehmen, als ob es die eigenen wären. Dies bedeutet, dass sie gegenseitig ihre Körper mitsamt deren ge­ planten Aktivitäten, Aufmerksamkeitsgraden und Emotionen imitieren bzw. mit ihnen mit­ empfinden können. Rhythmus, Tempo sowie qualitative Fär­ bung des Ausdrucks sind die wichtigsten Pa­ rameter der Bewegungen, welche die Intenti­ onen und Emotionen des kommunizierenden Lebewesens vermitteln und ihm helfen, mit dem bzw. den Empfängern Absichten so­ wie fluktuierende Gefühle und Stimmungen wechselseitig zu koordinieren (Malloch & Trevarthen 2009). Die mathematisch fundierte „Tau“-Theo­ rie (Lee 2005) (→ Musiktherapie) ist entwi­ ckelt worden, um präzise die grundlegenden Prozesse beschreiben zu können, welche bei ­Tieren Bewegungen mitsamt einer voraus­ schauend-kontrollierenden Wahrnehmung des



Zur Theorie der ­Intersubjektivität   87

Körpers oder der Umwelt generieren. Sie lie­ fert eine Erklärung dafür, welche Informati­ onen der Bewegungsdynamik entnommen werden müssen, damit die Motive des einen aktiven Individuums vom anderen entschlüs­ selt werden können. Für sein Überleben muss jedes Tier seine Vitalkapazitäten bzw. sei­ ne Lebenskräfte regulieren. Verschiedenste Verhaltensmechanismen, intrinsisch durch affektiv regulierte Nervensysteme generiert, schützen seinen Körper vor zu viel Stress und helfen dabei, Energiequellen zu finden und sie zu nutzen (Panksepp & Trevarthen 2009). Angeborene Triebe und erlernte Reaktionen leiten seine Bewegungen absichtsvoll oder mittels „prospektiver Kontrolle“ durch seine Sinne, welche selektiv auf die „Notwendigkei­ ten“ der Umwelt ausgerichtet sind, zu diesen Zielen hin. Tiere manifestieren ihre sich än­ dernden Interessen bzw. Bedürfnisse durch eine veränderte Ausrichtung ihrer spezifi­ schen Sinnesorgane – einschließlich beweg­ licher Augen, Ohren, Gliedmaßen oder Ten­ takeln. Sie drücken ihre Emotionen darüber aus, wie die Intensität ihrer selbsterhalten­ den Handlungen in Relation zu ihren Aus­ einandersetzungen mit der Umwelt modu­ liert ist. Derartige selbst-regulierende bzw. sich-selbst-erlebende Bewegungen und de­ ren emotionale Dynamiken sind Zeichen der Subjektivität von Tieren. Tiere können ihre subjektiven intentio­ nalen Zustände durch spezielle Adaptati­ onen ihrer ganzkörperlichen Bewegungen kommunizieren. Sie verfügen über spezielle „propriozeptive“ (Selbstwahrnehmung) und „alterozeptive“ (Fremdwahrnehmung) Re­ zeptorsysteme, die dafür adaptiert sind, der­ artige Bewegungsanzeichen bei sich selbst und bei anderen zu entdecken. Wechselseiti­ ges Mitempfinden auf Basis dieser sensomo­ torischen Systeme befähigt sie, in kooperativ regulierten Gemeinschaften zu agieren und ihre Aktivitäten intersubjektiv zu koordinie­ ren. Im Laufe der Evolution haben sich kom­ munikative Körperbewegungen dazu ent­ wickelt, interne Muskelaktivität (wie beim Atmen oder Vokalisieren) nach außen zu

übertragen, die Orientierung der für die se­ lektive Aufmerksamkeit zuständigen Or­ gane wahrnehmbarer zu machen (inklusive der Kopf- und Gliedmaßenorientierung und der Veränderung von Augen und Ohren) so­ wie den Oberflächeneffekten physiologischer Regulationen (wie Erröten, Aufrichten der Haare, Flügel- oder Schwanzbewegungen etc.) mehr Geltung zu verschaffen – all dies, um auf ganz unterschiedliche Weise die Ab­ sichten und Motive anderer Individuen wir­ kungsvoll zu verändern. Diese Kommunika­ tion von Subjekt zu Subjekt hängt von den Botschaften ab, die empfangen oder „de­ kodiert“ werden. Die Wahrnehmung ande­ rer Individuen muss dazu bereits hergestellt sein. Aller Wahrscheinlichkeit nach geschieht dies durch eine Reihe dynamischer Prozes­ se im Gehirn des „Empfängers“ in Relation zur zielgerichteten Führung und emotiona­ len Regulation der je eigenen Bewegung, was dann sukzessive zu kommunikativen und mi­ metischen Ritualen führt (Lorenz 1966, Do­ nald 2001). Ein grundlegendes Mitempfinden zwischen Selbst und Anderen – nämlich der Prozess des Aufnehmens der Intentionen und des Erlebens des Gegenübers, welche beide in seinen selbst-regulativen Aktivitäten implizit sind – muss demnach der evolutionäre Vor­ läufer für menschliche Intersubjektivität und deren neurophysiologische Regulationen sein (Gallese 2005).

1.4 Spezifische Errungenschaften menschlicher Kommunikation: Grundlegende Prinzipien ihrer Regulierung und Entwicklung zur Übermittlung von Kultur Im Vergleich mit dem, was Tiere – selbst Affen – zum Zwecke der Kommunikation nach au­ ßen hin zeigen, ist menschliche Intersubjekti­ vität einzigartig komplex und verlangt deshalb ganz neue evolutionäre Weiterentwicklungen. Zunächst einmal sind der menschliche Körper und das menschliche Gehirn mit neuartigen Adaptationen hinsichtlich Form und Funk­tion

88 

Intersubjektivität und Kommunikation

ausgestattet, die über viele Kanäle intentio­ naler, aufmerksamkeitsbezogener und emo­ tionaler Informationsübertragung (Donald 2001) – prospektiv koordiniert und reguliert durch motorische Abbilder (Musiktherapie) – ein dichtes Mitempfinden ermöglichen. Kopfund Augenbewegungen, Mimik, Vokalisatio­ nen mit komplexen rhythmischen Melodien sowie die vielfältigen expressiven Bewegungen und Gesten der Hände machen erst die Koor­ dination der Ausführung komplexer Vorha­ ben sowie kognitiver Denkprozesse zwischen Individuen möglich – wobei all diese Aus­ drucksformen sowohl Emotionen übermitteln als auch zugleich durch diese moduliert sind. Alle menschlichen Gemeinschaften – auch die technologisch kaum entwickelten – funk­ tionieren auf Grundlage der Entwicklung be­ deutungsstiftender Kooperation in kreativen Projekten, welche koordiniertes Handeln und harmonisches Zusammenwirken aller erfor­ dern (Panksepp & Trevarthen 2009). Menschen besitzen zudem ganz unter­ schiedliche Arten der Motivation zur Ent­ wicklung künstlich konstruierter Formen ge­ meinschaftlicher Aktivitäten oder „Rituale“. Produktive wie künstlerische Werke basieren auf abstrakten Konventionen und Symbo­ len bzw. auf Sprache, welche alle – Generati­ onen umspannend – im Verlauf der Kultur­ geschichte entwickelt worden sind (→ Person und Sprache). Dieses ist die Psychobiologie der Kultur und ihrer Übermittlung. Sie ist durch eine spezifisch menschliche Intersubjektivität bedingt, welche sich – wie tätigkeitstheore­ tische Ansätze vorgeschlagen haben – zuerst entwickelt haben mag, um kollektive Formen der Handarbeit vollziehen zu können. Davon abgesehen ist trotz der bestehen­ den Differenzen ein Wissen darüber, wie Tie­ re sich bewegen und Bewegung wahrnehmen, unabdingbar für das Verständnis der Erzeu­ gung und Entwicklung menschlicher Kom­ munikation und deren Störungen sowie dar­ über, wie therapeutische Ansätze eine Hilfe sein können, Probleme in der Regulation von Bewegung und Wahrnehmung zu überwin­ den. Die dargelegte Theorie der Kommunika­

tion von Tieren mittels in der Zeit regulierter Bewegungen und deren Expressivität scheint mittlerweile durch die neuere Theorie der ko­ gnitiven Informationsverarbeitung überwun­ den zu sein, welche im Rahmen des Verständ­ nisses elaborierter Formen menschlicher symbolischer Kommunikation – beispielswei­ se in formalen und äußerst rationalen Spra­ chen sowie insbesondere in geschriebenen Texten oder anderen Systemen abstrakter Re­ präsentation – entwickelt worden ist. In die­ sen elaborierten Medien menschlicher Kom­ munikation scheint es so zu sein, dass die zu kommunizierende Information statisch und strukturiert ist – organisiert auf Basis logi­ scher Beziehungen innerhalb komplizierter Hierarchien hör- bzw. sichtbarer Varianten von Wörtern oder Symbolen, die vollständig arbiträr und emotionslos sind: lediglich infor­ mativ. Mathematische Symbole und Formeln scheinen dabei am weitesten von den im zwi­ schenmenschlichen Austausch verwendeten Gesten und Melodien lebendiger Kommuni­ kation entfernt zu sein – mehr als das Singen von Vögeln oder irgendeine andere Art der tierischen Kommunikation (→ Sprache und Wahrnehmung). Bereits Alfred North Whitehead (1926) – je­ ner Philosoph, der gemeinsam mit Bertrand Russel die „Principia Mathematica“ schrieb – wies jedoch darauf hin, dass tatsächlich aber selbst die abstraktesten oder technischsten Er­ gebnisse logischer Schlussfolgerungen durch die dynamischen Prozesse kreativen Denkens bedingt sind. Sobald mathematisches Denken irgendein kreatives oder innovatives Moment enthält, ist es nämlich sowohl metaphorisch als auch äußerst dynamisch und embodied (→ Sprache und Wahrnehmung, → Kogni­ tion und Emotion). So berichtete Einstein in einer Antwort auf die Fragen des franzö­ sischen Mathematikers Jacques Hadamard (1945), dass seine mathematischen Ideen und Entdeckungen stets die Form von „körperli­ chen Bewegungsempfindungen“ annahmen und dass er die Reduktion auf eine symboli­ sche Formulierung solange aufschob, bis das Problem gelöst war. Die Formel diente dann



Zur Theorie der ­Intersubjektivität   89

lediglich als Gedächtnisstütze und half bei der Kommunikation mit anderen Mathema­ tikern. Gedanken jeglicher Art besitzen eine ihnen zugrundeliegende Organisation, die die Koordination und Regulation von Bewe­ gungen oder Bewegungsabbildern ausdrückt. Diese enthalten wahrnehmbare Spuren von Rhythmen und emotiven Werten oder Quali­ täten, die wesentlich zu der Bedeutung beitra­ gen, die jene in sich tragen und übermitteln. Die Mitteilungen der menschlichen Spra­ che werden von einer Prosodie bzw. „Mu­ sikalität“ getragen, die eine grundlegende Befähigung zur Übermittlung interperso­ naler Botschaften besitzt, die darauf ange­ legt ist, sowohl Beziehungen als auch men­ tales Zusammenwirken intersubjektiv und emotional zu koordinieren (Malloch & Tre­ varthen 2009) (vgl. Abb. 2 und Abb. 3 in Foo­ len, Lüdtke, Schwarz-Friesel in diesem Band). In Texten sind diese qualitativen Aspekte grammatikalisch durch die Funktionen von Adverbien, Adjektiven und Konjunktionen repräsentiert sowie hinsichtlich verbaler Pro­ duktion und Rezeption durch rhythmische Sequenzen von Wörtern für Personen, Akti­ vitäten sowie Themen und Objekten, unter­ stützt von bestimmten und unbestimmten Artikeln. In Liedern ist die Musik eine natür­ liche Begleitung für die rhythmische Sprache der Poesie: Der prosodische Ausdruck von Emotionen in dynamischer intersubjektiver Synchronizität, die Ivan Fonagy (2001) „Spra­ chen innerhalb der Sprache“ nennt. Die „weit entfernte Vergangenheit …, die noch in leben­ diger Sprache gegenwärtig ist …, und welche einen Sprecher oder Dichter in die Lage ver­ setzt, vorbewusste und unterbewusste menta­ le Inhalte auszudrücken, die nicht durch die Mittel der Grammatik einer jeglichen Spra­ che übermittelt werden können“. Diese bilden vielmehr eine „Proto-Grammatik“, welche die Unterschiede zwischen einzelnen Spra­ chen transzendiert. Das, was Ole Kühl (2007) als „Musical Semantics“ bzw. als „Seman­ tik der Musik“ definiert hat, bildet sogar das Fundament der rationalsten und scheinbar unemotional-informativen Formen der Kom­

munikation, welche in technisch hoch entwi­ ckelten Varianten menschlicher Zusammen­ arbeit kultiviert worden sind. Eine Würdigung der fundamentalen Re­ geln der Kommunikation in und durch Bewe­ gung wird durch eine sorgfältige Betrachtung der Anfänge menschlicher Kommunika­tion vor Beginn der gesprochenen Sprache in der frühen Kindheit untermauert. Die wissen­ schaftliche Untersuchung der Proto-Kon­ versation zwischen Mutter und Kind zeigt, wie Produktion und Rezeption intuitiver in­ tersubjektiver Kommunikation die Rhyth­ men und melodisch-expressiven Qualitäten von „Musikalität“ (Malloch 1999) aufweisen (vgl. Abb. 3 in Foolen, Lüdtke, Schwarz-Frie­ sel in diesem Band; → Musiktherapie). Hoch entwickelte kulturelle Formen, Absichten und Bedeutungen mitzuteilen, haben sich nicht nur jetzt, sondern immer schon aus mime­ tischen Gewohnheiten bzw. Ritualen entwi­ ckelt, die zunehmend komplexer werden (Do­ nald 2001). Mimesis hängt vom gemeinsamen Austausch von Narrativen und nachahmen­ dem Mitempfinden für die Dramaturgie ei­ ner Erzählung ab, welche die Erregung und Entspannung der Protagonisten reguliert. Die Übermittlung einer Erzählung zwischen Sender und Empfänger ist dabei an das bereit­ willige Aufeinandereingehen auf die Intenti­ onen und Gefühle gebunden. Dies ist es, was Sinn und Bedeutung Kohärenz und Flexibi­ lität gibt – im Bezogensein des Bewusstseins auf eine gemeinsam bewohnte Welt einer Ge­ meinschaft intelligenter Akteure, welche die willkürlichen Konventionen nutzen, die sie erfunden haben, um auf Gegenstände und Er­ eignissen referenziell zu verweisen, die in der Vorstellung oder in der Erinnerung gegen­ wärtig sind (Zlatev et al. 2008, 2011).

90 

Intersubjektivität und Kommunikation

1.5 Intersubjektivität in Bildung und Erziehung: Die Vermittlung von Kultur und ­Kulturtechniken – ­Bildung einer Heimstätte der Phantasie im Dialog So wie Termiten großartige Behausungen aus Millionen von Sandkörnern erbauen, so er­ richten Menschen kulturelle Welten aus Be­ deutungen und Bräuchen, welche sie über vie­ le Generationen hinweg angesammelt haben (→ Person und Sprache). Alle menschlichen Gemeinschaften leben innerhalb der Erzäh­ lungen, die sie aus imaginierten vergangenen und zukünftigen Zeiten erschaffen – Zeiten bewohnt mit Wesen, die, wie sie selbst, kämp­ fen, zusammen arbeiten, sich lieben und auf­ regende Abenteuer miteinander erleben. Sie versuchen, die natürliche Welt als durch hu­ manoide Protagonisten oder Götter geschaf­ fen und beherrscht zu erklären. Geister spielen nach wie vor eine bedeutsame Rolle in unserer Literatur. Menschen entwickeln handwerkli­ che Techniken und Hilfsmittel, um sich mit ih­ nen fortzubewegen, wo sie selbst nicht gehen können, zum Jagen oder um Nahrungsmittel zu ernten; sie benutzen Feuer, um ihren Le­ bensraum zu verändern und ihr Essen zu ko­ chen, sie bekleiden und dekorieren ihre Kör­ per und bauen Schutzdächer für ihre Familien. Sie zelebrieren geteilte Freude und geteiltes Leid und führen in öffentlichen Räumen und Gebäuden inspirierende Erzählungen in Form von Tanz, Gesang und Theater mit Musikin­ strumenten und speziellen Dekorationen auf. All diese imitativen Rituale, kreierten Objek­ te und imaginativen Erzählungen beruhen auf Austausch und gemeinsamer Aktivität, in welchen Absichten, Ideen und emotionale Be­ wertungen vorgebracht, akzeptiert oder abge­ wiesen werden, um eventuell mit neuen Be­ deutungen verknüpft und für den zukünftigen Gebrauch in der Kommunikation erinnert zu werden. Menschen entwickeln Bedeutungen und teilen sie anderen mit, indem sie diese in erfundene Zeichen und Symbole kleiden und deren Sinn im grenzenlos veränderlichen Me­ dium von Sprache und Sprechen aushandeln

und übereinstimmend festlegen: Sie erschaf­ fen Bedeutung im gemeinschaftlichen Sinn, als ‚common sense‘. Menschen unterscheiden sich von Termi­ ten und allen anderen Tieren, welche lang­ lebige Metastrukturen und ritualisierte Ge­ wohnheiten mittels sozialer Kooperation erschaffen, durch ihre Fähigkeit, Gegenstän­ de, Ereignisse und insbesondere Aktivitäten hinsichtlich spezifisch pragmatischer und af­ fektiver Details vorzustellen und zu erinnern, die keinen unmittelbaren Nutzen als den der Kommunikation haben. Die Beweggründe für diese Fähigkeit bzw. für dieses Bedürfnis, in potenziell miteinander teilbarer, mimetischer Fantasie zu leben, ist angeboren und von Ge­ burt an erkennbar: Wir sind Geschichten erschaffende Lebewesen (Bruner 1990). Kin­ der sind unmittelbar nach der Geburt in der Lage, als kommunikative Partner von liebe­ vollen Eltern zu agieren, die sie zu gemein­ samer, intimer und spielerischer Kommu­ nikation in gestalterischen poetischen und musikalischen Ritualen einladen (Papoušek 1996, Dissanayake 2000, Trevarthen 1999b, 2008) (vgl. Abb. 2 und 6–8). Noch lang be­ vor sie sprechen können, teilen Kinder er­ wartungsvoll und leidenschaftlich ihre Ide­ en darüber mit, wie mittels konventioneller Techniken Gegenstände in quasi-praktischen Prozeduren zu benutzen sind und versuchen in diesen gemeinsamen Aufgaben mit ange­ messener moralischer Verantwortung zu ko­ operieren (Trevarthen & Hubley 1978, Zlatev et al. 2008). Diese Aktivitäten demonstrie­ ren die wesentlichen generativen Motive und Emotionen des Kindes zum Erlernen der Kul­ tur in Gemeinschaft mit anderen Personen und damit zur Erschaffung von Bedeutung in Intersubjektivität (Trevarthen 1989, Zlatev et al. 2011) (vgl. Abb. 9 und 10). Alle Bildungs- und Erziehungsprogramme sowie alle Formen „spezieller“ sonderpädago­ gischer Bildung, Erziehung und Therapie zur Kompensierung von Entwicklungsstörungen oder zur sozialen Unterstützung sind an Er­ wachsene gebunden, die auf den kommunika­ tiven Ausdruck von Kindern emotional mit­



Zur Naturwissenschaft der kindlichen Kommunikation   91

empfindend eingehen und auf eine Art und Weise antworten, die deren Absichten und Intuitionen respektiert. Dies wurde bereits im 17. Jahrhundert vom mährischen Priester und Erziehungsreformer Johann Amos Comenius (oder: Komenský) erkannt, der in „Die Schu­ le der Kindheit“ (2003 [i. O. 1630]) schrieb: „Mein Ziel ist es zu zeigen – obwohl dies nicht allgemein anerkannt ist –, dass die Ursprünge aller Wissenschaften und Künste in jeglicher Hinsicht sehr früh, nämlich im zartesten Al­ ter auftauchen und dass es weder unmöglich noch schwierig ist, die gesamte Metastruktur auf diesen Grundlagen aufzubauen; immer vorausgesetzt, dass wir [mit dem Kind] ver­ nünftig wie mit einem vernunftbegabten Le­ bewesen agieren.“ Kinder meistern die kul­ turellen Formen der Kommunikation sowohl spontan durch „absichtsvolle Teilnahme“ an gemeinsamen Planungen und intendierten Handlungen als auch indem sie sich einem „Curriculum“ an Instruktionen oder der for­ mellen Schulbildung unterwerfen (Bruner 1996, Rogoff 2003). In beiden Fällen sind die Prinzipien eines wechselseitig responsiven Ausdrucks von Ideen, Absichten und Emotio­ nen von essenzieller Bedeutung. Ob ein Kind eine praktische Aufgabe mit einem erfahre­ neren Partner bewältigt oder ob ein Schüler in einer Klasse dem Unterricht eines Lehrers folgt – beides erfordert Interaktionen, die über ein ausgewogenes und produktives Inte­ resse am Erleben und den Intentionen des Ge­ genübers verfügen. Menschen mit speziellem Bildungs- und Erziehungsbedarf oder klinischen Erforder­ nissen haben Schwierigkeiten unterschied­ lichster Art. Letztlich sind sie jedoch stets Konsequenzen aus Einschränkungen in der Ausführung bzw. Wahrnehmung von Be­ wegung oder aber ihrer intentional-kogniti­ ven Repräsentation. Und all dies involviert in mehr oder weniger großem Umfang jene Emotionen, die (a) Selbstkontrolle und Anti­ zipation der Bewegungsresultate und (b) in­ tersubjektives Mitempfinden von Intentionen und Gefühlen regulieren.

2 Zur Naturwissenschaft der kindlichen Kommunikation: Empirische Evidenzen für angeborene Subjektivität und Intersubjektivität bei Kindern und Eltern 2.1 Die frühe Entwicklung ­intersubjektiver Kommunikation beim Menschen: Erste Schritte zu symbolischen Akten und zur Sprache Das wissenschaftliche Verständnis menschli­ cher Intersubjektivität hat sich in den letzten Jahrzehnten durch eine Forschung verändert, die demonstriert, dass Kinder mit einer spe­ ziell menschlichen Fähigkeit geboren werden, Sinn und Bedeutung zu teilen. Als Ergän­ zung zu den Anpassungsleistungen des Kör­ pers und des Verhaltens zur Herstellung von „Bindung“ – im Sinne einer mit anderen Säu­ getieren geteilten Bestärkung der mütterlichen Zuwendung für ihre Körper durch Systeme „amphoteronomischer“, das heißt wechselsei­ tiger physiologischer oder autonomer Regula­ tion bzw. Zustandskontrolle – ist ein menschli­ ches Baby von Geburt an für „synrhythmische“ Interaktion im engen Zusammensein mit an­ deren Personen ausgestattet (vgl. Abb. 1; Tre­ varthen et al. 2006) (→ Musiktherapie). Durch die beschriebene Fähigkeit des Mitempfindens (sympathising) mit dem Ausdruck der bewuss­ ten Selbstregulation der Intentionen einer an­ deren Person sind die regulatorischen Systeme des inneren viszeralen Selbst für diese Regu­ lationen zwischen Selbst und Anderen außer­ ordentlich hoch entwickelt (Trevarthen 2001b, Trevarthen & Reddy 2009). Man hat herausgefunden, dass Neugebore­ ne basale emotionale und kognitive Zustände ausdrücken können und dass sie in Dialogen reziproker Nachahmung, begleitet von wech­ selnden Emotionen, sogar die Initiative über­ nehmen können (Gallagher 2011). Sogar ein zu früh auf die Welt gekommenes Neugebore­

92 

Intersubjektivität und Kommunikation

Abb. 1: Körperliche und psychische Entwicklung des Menschen während Schwangerschaft und früher Kindheit. A: Amphoteronomische oder physiologische Regulation zwischen dem Körper der Mutter und dem des Fötus B: Synrhythmische oder psychische Regulation zwischen Mutter und Kind im multi-modalen Dialog C: Altersabhängige Entwicklungsstadien der wechselseitigen Regulation von Körper und Psyche des Kindes und der Mutter vor der Geburt und in den ersten Lebensmonaten (Trevarthen & Aitken 2003). Die Musikalität der Kommunikation kann vom letzten Viertel der fötalen Phase an untersucht werden. Sie entwickelt sich gemein­ sam mit dem Körper während der frühen Kindheit.

nes kann mit einem mitempfindenden, sym­ pathetischen Partner in einem einfachen vo­ kalen „Dialog“ kooperieren, in dem sich beide in einem Rhythmus aus Silben und Phrasen präzise abwechseln (vgl. Abb. 2). Innerhalb weniger Stunden nach der Ge­ burt können Babys einfache Ausdrucksritua­ le erlernen und versuchen, diese „spielerisch“ einzusetzen (vgl. Abb. 3). Einige Wochen spä­ ter hat ein Kind sogar bereits die Fähigkeit erlangt, sich an sensibel regulierten „Proto­ konversationen“ (Bateson 1979) zu beteiligen und einen sich liebevoll zuwendenden Er­ wachsenen zu stimulieren, sich in einem im­ provisierten Austausch seelischen Ausdrucks mitzuteilen (vgl. Abb. 4; und vgl. Abb.  3 in Foolen, Lüdtke, Schwarz-Friesel in diesem Band). Die intuitiven intersubjektiven Fähig­

keiten des Kindes suchen und sind abhängig von mitempfindend-sympathetischen Ant­ worten der Eltern. Diese unterstützen das Kind bei der kooperativen Regulation syn­ chronisierter expressiver Bewegungen durch einen Prozess intuitiven Mitempfindens und intensiven Engagements, das heißt durch eine responsive Verlässlichkeit bzw. „Kontingenz“ des Ausdrucks (→ FS körperliche und moto­ rische Entwicklung), indem sie so genannte „Vitalitätskonturen“ (contours of vitality) in­ nerhalb aller Aufmerksamkeitsmodalitäten koordinieren (Stern 1999, Stern et al. 1985). Die Analyse der dynamischen Muster, die in diesen Dialogen geschaffen werden, zeigt, dass diese davon abhängen, dass Kind und Er­ wachsener dieselbe polyrhythmische Empfin­ dung von Zeit teilen (→ Musiktherapie) und



Zur Naturwissenschaft der kindlichen Kommunikation   93

Abb. 2: Ein zwei Monate zu früh geborenes Baby im rhythmischen Dialog mit dem Vater. Naseera, ein zwei Monate zu früh geborenes Mädchen, wurde an der Brust ihres Vaters ruhend während seiner „Känguru-Pflege“ gefilmt. Kurz bevor sie einschlief, tauschten sie „glucksende“ Laute in einem präzisen Rhythmus aus. Wie die spektrographische Analyse zeigt, imitierten die Laute ihres Vaters nahezu genau die ihrigen. Die Tonhöhe befand sich etwas oberhalb des mittleren C. Film: Saskia van Rees (van Rees & de Leeuw 1993). Spektrogramme: Stephen Malloch (1999)

dass sie einander entsprechende, affektive Codierungen benutzen, um ihre sich perma­ nent verändernden Emotionen zu manifestie­ ren und um einen Partner mit allen Sinnen zu „überwachen“. Die Freude an Kommunikati­ on hängt also bei Eltern und Kind von einer „angeborenen Intersubjektivität“ (Innate Intersubjectivity) und ihrer spezifisch mensch­ lichen Zeitbasis und deren Empfindung ab. Über diese manifestieren sich Rhythmus, Qualität und narrative Eigenschaften „kom­ munikativer Musikalität“ (Malloch 1999, Tre­ varthen 1999b, Malloch & Trevarthen 2009) (vgl. Abb. 3 in Foolen, Lüdtke, Schwarz-Frie­ sel in diesem Band). Studien normaler kom­ munikativer Aktivitäten – von frühester Kindheit bis zum vollständigen Besitz der Sprache – zeigen, dass die intuitiven Motive des Kindes sich in regelhafter Art und Weise entwickeln bzw. transformieren. Auf den je­ weiligen Altersstufen lenken diese Motive die Interessen von Kind und erwachsenem Part­ ner in neue Richtungen bzw. heben sie auf

höhere Niveaus – und zwar bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der grundlegenden Eigen­ schaften von „Timing“ und Ausdruck. Diese „altersbezogenen Veränderungen“ (Age Related Changes bzw. Periods of Rapid Change, PRC; Trevarthen & Aitken 2003) bestätigen, dass das, was angeboren ist, nicht einfach nur ein genetisch fixiertes „Set“ angeborener Mo­ tivstrukturen bzw. ein „angeborener Auslö­ semechanismus“ ist, sondern eine wachsende epigenetische Strategie zur Lenkung der Lern­ prozesse, welche sich über Kommunikation mit den Intentionen, Interessen und Gefüh­ len erfahrenerer Partner bzw. „Lernbegleiter“ (companions) vollziehen (vgl. Abb. 1). Kinder sind Wesen, die mit generativen Motiven für kulturelles Lernen geboren werden (Gratier & Trevarthen 2008). Bevor sie die Sprache meistern, kooperieren sie schon in gemein­ sam zu bewältigenden Aufgaben, die ihren Handlungen und den beteiligten Handlungs­ gegenständen die konventionell vereinbarte Bedeutung verleihen (Trevarthen & Hubley

94 

Intersubjektivität und Kommunikation

1978, Trevarthen 1989) (vgl. Abb. 9 und 10). Eindrückliche ästhetische Empfindungen, die die „Schönheit“ oder „Tauglichkeit“ von Ge­ genständen oder Handlungen bewerten sowie „moralische“ Gefühle von Stolz oder Scham, welche die Beziehungen zwischen dem Kind und anderen Personen begründen und regu­ lieren, leiten das intersubjektive Lernen in­ nerhalb des ersten Lebensjahres (Trevarthen 2005, Dissanayake 2000, Trevarthen & Reddy 2009) (vgl. Abb. 12). Diese Prinzipien der Psychobiologie mensch­ licher Kommunikation und der Erzeugung kultureller Bedeutung helfen zu erklären, wie schwerwiegende Störungen der Kommu­ nikation entstehen bzw. sich sogar zwischen Kindern und ihren Eltern oder anderen Be­ zugspersonen soweit verschlimmern können, dass sie darüber hinaus auch noch die Ent­ wicklung von Wissen und Fertigkeiten be­ einträchtigen (Schore 1994, Trevarthen et al. 2006). Sie können helfen, Förderansätze für eine optimale Entwicklung von Kindern mit Entwicklungsproblemen zu konzeptionieren (→ FS geistige Entwicklung, → FS körperli­ che und motorische Entwicklung), oder eine Bezugsperson, die Schwierigkeiten hat, auf die Motive und speziell die Bedürfnisse des Kindes nach einer interessanten und inte­res­ sierten Begleitung mit angemessenem Ein­ fühlungsvermögen zu antworten, zu beraten und zu unterstützen (Schore 2003, Hughes 2006, Frank & Trevarthen 2011, Lüdtke 2011).

2.2 Die experimentelle Entdeckung der psychischen Aktivitäten und kognitiven Fähigkeiten von ­Kindern Die Psychologie der Kindheit hat in den letz­ ten fünfzig Jahren ihre größten Fortschritte dadurch erzielt, dass sie zum einen die The­ orie über Bord geworfen hat, die besagt, dass Kinder keine psychischen Kapazitäten besit­ zen können, und dass sie zum anderen zwei neue Forschungsmethoden angewendet hat, die implizit die Intentionen des Kindes zur Be­

wegung anerkennen – und dies mit bewusster Erfahrung der Folgen dieser Bewegung und deren emotionaler Bewertung (Trevarthen & Aitken 2001). Die erste Strategie verwendet Experimen­ te, in welchen dem Kind – ohne irgendeine Bezugsperson bei sich zu haben – die Mög­ lichkeit angeboten wird, aktiv für sich selbst das Auftauchen von Stimuli zu kontrollieren und eine emotionale Regulation seiner Erfah­ rungen auszudrücken (Papoušek 1967). Dies scheint durch Jean Piagets Vorstellung von kleinen Kindern als selbstmotivierte „klei­ ne Wissenschaftler“ inspiriert zu sein, die begierig die Konsequenzen ihrer explorati­ ven und wirksamen Handlungen erforschen und so spielerisch lernen (Piaget 1962). Die­ se Tradition des Kognitiven Konstruktivismus fokussiert hier auf den individuellen Denker, der Unterscheidungen oder ­Entscheidungen trifft, wenn unterschiedliche mögliche Ge­ genstände oder Handlungsverläufe verfüg­ bar sind (→ Sprachdidaktiktheorie). Es ist behauptet worden, dass Experimente zur „Ob­jektpermanenz“ zeigen könnten, wie Kin­ der lernen, Erfahrungen von Gegenständen und Erlebnisse von Ereignissen, die sie spon­ tan interessieren, zu kategorisieren. Stufen in der Beherrschung von „Objekt-Konzepten“ wurden diesbezüglich aufgezeichnet. Die meisten Forscher, die sich mit der Kog­ nition von Kindern befassten, waren anfangs nicht an interpersoneller Bewusstheit interes­ siert. Aber im Laufe der Zeit sind ausgeklü­ gelte Methoden entwickelt worden, um zu beweisen, dass selbst sehr kleine Kinder sub­ tile Besonderheiten in der Art der Stimuli ler­ nen können bzw. habituieren, die menschli­ che Wesen von nicht-belebten Gegenständen unterscheiden. Man fand heraus, dass Kinder sich vorzugsweise Gesichtern und Stimmen zuwenden und sie Blickrichtungen sowie viele Merkmale vokalen und gestischen Ausdrucks diskriminieren. Für einige überraschend – und im Gegensatz zu den Theorien von Skin­ ner (1953) und Piaget (1962) – konnte in so genannten „kontrollierten Experimenten“ ge­ zeigt werden, dass Neugeborene zur Imita­tion



Zur Naturwissenschaft der kindlichen Kommunikation   95

vieler diskreter und arbiträrer Ausdrucks­ handlungen und Gesten fähig sind (vgl. Abb. 3). Darüber hinaus hat man sogar festge­ stellt, dass Kinder bei der Geburt eine Erinne­ rung und Präferenz für den Klang der mütter­ lichen Stimme, die sie in utero gehört haben, aufweisen können. Anthony DeCasper (De­ Casper & Fifer 1980) hat unter Zuhilfenah­ me instrumenteller Reaktionsmechanismen gezeigt, dass Neugeborene mit aufmerksamer Zielgerichtetheit darauf hinwirken, lautliche Reaktionen aus einer Tonaufnahme menschli­ cher Sprache hervorzulocken, und dass sie da­ bei die Stimme ihrer Mutter, die in der Gebär­ mutter gelernt worden sein muss, bevorzugen. Der zweite methodologische Fortschritt vermied die Einschränkungen, die bei ge­ sonderten a priori-Fragen hinsichtlich der Fähigkeit des Kindes, für sich selbst Unter­ scheidungen zu treffen oder zu lernen, nötig waren. Diese Strömung konzentrierte sich stattdessen auf eine so detailgenau wie mög­ liche Aufzeichnung des spontanen Verhaltens von Kindern in Situationen, in denen sie frei waren, Kommunikation zu generieren, um so die Verhaltensweisen von Kindern und er­ wachsenen Kommunikationspartnern in of­ fenem und ungeplantem wechselseitigen Austausch analysieren zu können. Die Ergebnisse der Forschung zur Untersuchung lebendiger und spontaner selbstregulierter Interaktio­ nen zwischen Kindern und anderen Personen sind in den frühen 1970er Jahren veröffent­ licht worden, darunter eine Reihe unabhängi­ ger Studien auf Basis gefilmter Interaktionen von Mutter und Kind im gemeinsamen Spiel. Vor einem Rückblick auf die letztgenannte Art von Studien muss jedoch zunächst auf die Beobachtungen hingewiesen werden, die hin­ sichtlich jener Emotionen gemacht wurden, die in den experimentellen Anordnungen die kindlichen Problemlöseprozesse begleiteten. Hanuš Papoušek (1967) beschrieb beispiels­ weise den Gefühlsausdruck von kleinen Kin­ dern, die ihren Kopf bewegten, um Stimuli zu kontrollieren, die sie attraktiv fanden. Er sah, dass die Kinder beim Erreichen des erwarte­ ten Resultats mit Befriedigung lächelten und

Irritation und Vermeidung zeigten, wenn sie einen „Fehler“ machten. Piaget (1962) hatte bereits eine derartige Emotion als „Freude an der Meisterung“ beschrieben, aber er deutete dies als Manifestation einer Dynamik indivi­ duell-privater („autistischer“) Anstrengungen und Erfolge. Papoušek akzentuierte demge­ genüber vielmehr das expressive oder kommunikative Potenzial eines derartigen Aus­ drucks und berichtete, dass einzelne Kinder sich dabei in den emotionalen Attitüden ihrer jeweiligen „Persönlichkeiten“ unterschieden. John Watson (1972) wies auf die Verspieltheit und die Freude von Kindern hin, die völlig fasziniert von einem über ihrem Gitterbett angebrachten Mobile waren, da sie so in der Lage waren, es spielerisch mittels heftiger Be­ wegungsimpulse beeinflussen zu können. Er betonte die Wichtigkeit der kindlichen Sensi­ bilität für die Adäquatheit der Bewegung im Verhältnis zu den eigenen Bewegungsinten­ tionen, mittels derer sie die Gegenwart einer Person zu entdecken versucht und „soziale Ansprechbarkeit“ zeigt. Er war mehr an den Implikationen hinsichtlich der Fähigkeit des Kindes interessiert, kausale Schlussfolgerun­ gen zu ziehen, woraus sich später eine Theo­rie über „Kernkonzepte“ bzw. eine „naive Physik“ des Kindes entwickelte (Spelke 1991). Kausale Schlüsse bzw. Inferenzen sind das Ergebnis von Intentionen, die in den Handlungen, die sie ausführen oder die sie zu leiten versuchen, kommuniziert werden. Das Theoretisieren über ideale und möglicherweise inaktive Den­ ker lässt Kommunikation außen vor. Die Forschungsrichtung, die nachweist, dass Kinder ein intuitives Gespür für die Wirkungen ihrer Intentionen und Erfahrun­ gen auf andere Menschen haben, beobachtet entweder die Präferenzen zur Identifizierung menschlicher Handlungen als absichtsvoll oder potenziell kooperativ oder verfolgt den Verlauf lebendigen Austauschs zwischen Baby und aktivem Kommunikationspartner. Die am meisten richtungsweisende Evidenz stammt dabei aus sehr detaillierten Aufzeich­ nungen von Prozessen in hierfür besonders geeigneten Einzelfällen.

96 

Intersubjektivität und Kommunikation

Im Folgenden findet sich eine Zusammenfas­ sung der Evidenzen dafür, dass intersubjekti­ ver Austausch mit Kindern nicht nur aus den Bewegungen von Kind und Erwachsenem cokonstruierte „komplexe dynamische Systeme“ (→ FS geistige Entwicklung) sind, sondern in­ tentional regulierte Improvisationen, die eine kontinuierliche emotionale Bewertung des sich permanent verändernden kommunikati­ ven Zustands des Spiels erfordern (Trevarthen & Aitken 2003; vgl. Abb. 1). Es ist wichtig zu beachten, dass eine Darlegung regulativer Prinzipien, die als angeborene Universalien menschlicher Motivation angesehen werden, nicht bedeutet, dass jeder imitative Austausch, jede Protokonversation oder jedes Spiel-Ritual nicht ein einzigartiges, für die jeweilige Gele­ genheit improvisiertes Muster ist. Es ist zwar möglich, primär den starken Einfluss des Ler­ nens als individuell bevorzugte Ausdrucks­ weisen und Rituale aus mehreren Wahlmög­ lichkeiten zu sehen, aber ganz offensichtlich liegt auch ein großer Lustgewinn in der Entde­ ckung immer neuer Spielmöglichkeiten – für das Baby wie für den Erwachsenen (Gratier & Trevarthen 2008). Kulturübergreifende Ver­ gleiche sind hier besonders wertvoll, denn sie haben eine allgemeine Theorie intersubjekti­ ver Regulationen sehr unterstützt, indem sie dargelegt haben, wie menschliche Gemein­ schaften unterschiedliche „Habits“, „Codes“ und Eigenkreationen (Bruner 1990, Donald 2001) in ihrer gemeinsamen Erfahrungsge­ schichte entwickeln können.

2.3 Warum Neugeborene ­imitativen Austausch initiieren: Die ­Signalisierung der Sehnsucht nach Gemeinschaft weit über das Bindungsbedürfnis hinaus Im Jahre 1973 demonstrierte Olga Maratos, eine griechische Studentin von Jean Piaget, dass ein bis zwei Monate alte Babys das Ausstrecken der Zunge und das Öffnen des Mundes imitie­ ren konnten. Noch im selben Jahr berichtete sie über ihre Entdeckung auf einer Konferenz,

publizierte dies aber erst im Jahr 1982. Andrew Meltzoff wiederholte Maratos Versuch mit jün­ geren Kindern unter Verwendung kontrollier­ ter experimenteller Methoden, um sicher zu sein, dass die Imitationen nicht zufällig waren. Meltzoffs in Science veröffentlichten Belege (Meltzoff & Moore 1977) haben dazu verhol­ fen, den starken Widerstand gegen die Idee zu überwinden, dass ein Neugeborenes ein hin­ reichendes Bewusstsein seines Selbst haben könnte, um selbstproduzierte Bewegungen an das vorgegebene „Modell“ einer anderen Per­ son anpassen zu können. Maratos Experimente bewiesen die Sensibilität von Kindern für die Konfiguration bzw. Physiognomie menschli­ chen Ausdrucks (→ Kognition und Emotion). Ina Uzgiris (1981) Beobachtung, dass kleine Kinder vertraute kommunikative Ausdrucks­ weisen imitieren, verwies darauf, dass die­ se Nachahmungen sowohl der kognitiven als auch der interpersonellen Entwicklung dienen. Giannis Kugiumutzakis (1999) bestätig­ te, dass Neugeborene – Frühgeborene inbe­ griffen – in Kommunikation aktiv und in­ tentional imitieren, und unterstützte damit Maratos und Uzgiris Belege für altersbezo­ gene Veränderungen imitativen Verhaltens. Arbeiten von Tiffany Field (Field et al. 1982) und Mikael Heimann (Heimann & Schaller 1985, Heimann et al. 1989) haben unser Ver­ ständnis der Reichweite, Variabilität und Ent­ wicklung früher Imitationen erweitert. Die Interpretation der Ergebnisse in dem Sinne, dass selbst Neugeborene mittels unmittelba­ rer Wahrnehmung der Motive im Ausdruck der je anderen Person imitieren können, ist durch Kugiumutzakis Beobachtungen der Bedingungen interpersonalen Austauschs, die nachahmende Antworten begünstigen, untermauert. Die von Kokkinaki in Grie­ chenland und Schottland gesammelten Daten (Trevarthen et al. 1999) erweitern diese funk­ tionale Erklärung und zeigen, wie imitierende Antworten auf Impulse von Vätern und Müt­ tern variieren können, wie sich Familien un­ terscheiden und wie sich die Imitationen der Eltern unter dem Einfluss der kindlichen Ent­ wicklung verändern.



Zur Naturwissenschaft der kindlichen Kommunikation   97

Abb. 3: Neugeborene sind bewusst aktiv und streben nach Kommunikation mit anderen. A: Ein gerade geborenes Mädchen in Indien, 20 Minuten alt, imitiert ihre Mutter beim Herausstrecken der Zunge. B: Ein ebenfalls in Indien geborener Junge verfolgt einen an einer Schnur befestigten roten Ball mit seinen Augen, seiner Nase, seinem Mund, seinen Händen und einem Fuß. Er ist gerade 30 Minuten alt, als er sich von diesem Spiel angezogen fühlt, das ihm ein Besucher präsentiert. (Fotografien in A und B von Kevan Bundell) C: Fotografien eines noch nicht einmal 2 Tage alten Mädchens, aufgenommen in Ungarn von Dr. Emese Nagy, die sich in einem imitativen Dialog mit ihm unterhält. Die Zahlen geben die vergangenen Sekunden nach Aufnah­ me des ersten Bildes an. Zu Beginn (0–3 Sek.) verfolgt das Baby mit seinen Blicken seine eigene rechte Hand, begleitet von einem leichten Lächeln. Dann (4. Sek.) zeigt Dr. Nagy ihm ihren ausgestreckten linken Zeigefinger. Das Neugeborene hört auf, sich zu bewegen, und wartet ab (6. Sek.). Dann, nach 6 Sekunden (12. Sek.), hebt es seine rechte Hand und streckt ein wenig seinen Zeigefinger aus und schaut ihn dabei an. Anschließend schaut sie Dr. Nagy an (14. Sek.), wobei sie ihre Hand hochhält und ihren Zeigefinger richtig weit ausstreckt. Sie schaut sie solange an, bis ihre „Provoka­tion“ beantwortet wird (17. Sek.) (vgl. weiterführend Nagy 2008).

98 

Intersubjektivität und Kommunikation

In einer quantensprungähnlichen Weiterent­ wicklung der experimentellen Standard-Tests für imitative Erwiderungen von Kleinkin­ dern hat Emese Nagy nachgewiesen, dass be­ reits nur wenige Stunden alte Neugeborene nicht nur vielerlei übersteigert und isoliert dargebotene Expressionen bereitwillig imitie­ ren können, sondern diese unter Umständen sogar wiederholen, um eine Erwiderung vom aufmerksamen Erwachsenen zu „provozieren“ (vgl. Abb. 3; Nagy & Molnar 2004). Nagy hat mit Hilfe der Aufzeichnung der Herzschlag­ rate ebenfalls bewiesen, dass Neugeborene emo­tional reziprok die Intentionen und Zu­ wendungen des Partners erwidern und zudem gezeigt, dass sie im Dialog sensibel auf den Verlust verlässlicher sympathetischer Ant­ worten von Seiten des Erwachsenen reagieren (Nagy 2008). Meltzoff und Moore (1994) haben heraus­ gefunden, dass sich ein Baby im Alter von sechs Wochen an eigene imitative Akte erin­ nern und diese am darauffolgenden Tag be­ nutzen kann, um die „Identität“ einer frem­ den Person zu „testen“ oder einen Versuch zu starten, um die Kommunikation mittels einer erlernten Konvention wieder aufzunehmen. Dies verweist darauf, dass eine Funktion ei­ ner reziproken imitativen Begegnung darin besteht, eine Beziehung des Sich-Erkennens und gegenseitigen Vertrauens zwischen Sub­ jekten herzustellen – eine Interpretation, die später hinsichtlich Überlegungen zum Ein­ satz von Imitation in der Therapie von Kin­ dern und Erwachsenen mit Behinderungen, die ihre Beziehungen und Kommunikations­ möglichkeiten beeinträchtigen, aufgegriffen werden wird (vgl. 8). Menschliche Imitation führt zum Spielen mit Bedeutungen. Bewusstere Imitationen von älteren Kindern (Uzgiris 1991, Trevarthen 1979, 332), die sowohl soziale Ausdrucks­ formen in Kommunikationsspielen als auch Objekt-gerichtete Handlungen anderer imi­ tieren, während sie dabei deren Auswirkun­ gen auf die Spielkameraden beobachten, sind zur Überprüfung dieser kommunikativen Ef­ fekte ganz offensichtlich durchdachter und

variantenrei­cher. In den Augen der Betrach­ ter wirken sie selbst-bewusster und darstel­ lend. Vasudevi Reddy hat die Entwicklung unterschiedlicher humorvoller oder das Ge­ genüber neckende Aktivitäten beobachtet, die von älteren Kindern benutzt werden, um den Kontakt mit anderen in Nachahmungs­ spielen herzustellen und zu regulieren. Für die psychologische Theoriebildung hat sie aus der Wichtigkeit des Vorhandenseins bzw. der Vernachlässigung der sog. „second person position“, das heißt dem Austausch mit dem oder der Anderen, bedeutsame philoso­ phische Schlüsse gezogen (Reddy 2008). Wie Jacqueline Nadel und Kollegen in Frankreich gezeigt haben, führen in einem Alter, in dem die Kinder noch zu jung sind, um Wörter zur Benennung jener Bedeutungen zu benutzen, die sie (mit)teilen und ausbauen wollen, die spielerischen Nachahmungen zur Erfindung von darstellenden Spielen und Rollenspielen (Nadel & Tremblay-Leveau 1999). Der Nor­ wegische Musikwissenschaftler Bjørkvold (1992) hat Kinderlieder und stimmliche Im­ provisationen von Kindern in Russland, den USA und Norwegen untersucht und die er­ finderischen musikalischen Formen der Vor­ schulkinder als „Musikalische Kultur des Kindes“ beschrieben. Menschen imitieren, um sich Erfindungen und Rituale anzueig­ nen, die miteinander geteilt werden können und die in den meisten Fällen keinen ande­ ren Nutzen zu haben scheinen. Von Geburt an ist die menschliche Psyche damit beschäf­ tigt, die Beziehungen zwischen Erfahrungen des Selbst im Verhältnis zu unterschiedlichen Individuen zu überprüfen, um zu versuchen, ihre Verortung in einem Feld möglichen Ge­ brauchs, möglicher Mittel und möglicher Rollen zu „triangulieren“ (→ Sprachdidaktik­ theorie, → Sprach­t herapie) (Selby & Bradley 2003).



Zur Naturwissenschaft der kindlichen Kommunikation   99

2.4 Dialogimprovisationen im Alter von zwei ­Monaten: ­Protokonversationen ­primärer ­Intersubjektivität – das ­Herausbilden ­gemeinschaftlicher Narrative Babys, die gerade wenige Wochen alt sind, drü­ cken sich mithilfe ihres Gesichtes, ihrer Hän­ de, ihrer Stimme und ihrem gesamten Körper aus, wenn sie auf bestimmte lyrische, rhythmi­ sche und sich wiederholende Muster der el­ terlichen Erzählungen antworten (Trevarthen 1979, Stern 2000 [i. O. 1985]). Dies sind die spezifischen expressiven Muster, welche die emotiven Klänge von Musik und Poesie von­ einander unterscheiden. Durch detailgenaue Beschreibung des exakten Fortschreitens die­ ser Interaktionen – welche Expressionen da sind und welches „Timing“ sie besitzen – war es möglich zu sehen, wie Mutter und Kind so­ wohl im jeweiligen Moment ihrer Gegenwart als auch über längere Zeitspannen hinweg in­ tentional kooperieren. Es gibt deutliche Entwicklungsschritte, geleitet durch Veränderungen in den Moti­ ven, den Bewegungen und der Aufmerksam­ keit des Kindes (Trevarthen et al. 2006). Es stimmt, dass das Interesse am Anschauen und anschließendem Anfassen und In-denMund-Nehmen von Objekten, die gesehen, gehört und berührt werden können, sich mit drei Monaten steigert, wenn der Körper des Kindes kräftiger wird und es erfolgreich be­ gonnen hat, Gegenstände mit stabilen Kopf­ bewegungen zu verfolgen und sie zu greifen. Aber es ist wichtig, nicht zu vergessen, dass die Kinder bereits einige Wochen erfolgrei­ che Kommunikationspartner gewesen sind, bevor diese Entwicklungen hinsichtlich Mo­ bilität und Wahrnehmung stattfinden. Für sie besaßen zunächst Personen größere An­ ziehungskraft als Dinge, die nicht selbst ak­ tiv sein können (Legerstee 2005). Dieser Wunsch, konversationsartig zu kommuni­ zieren, der sich von Reaktionen auf Fürsorge und von „Zustands-Kontrolle“ deutlich un­ terscheidet, entwickelte sich vor den ersten

Versuchen, die Handhabung von Gegenstän­ den zu meistern. Die Idee, dass ein Kind ein intersubjekti­ ves Wesen ist, ist bereits deutlich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts von G. F. Stout (1903/1915) artikuliert worden, der im Kapitel „The Growth of Intersubjective Intercourse“ in die Diskussion warf: „Von Beginn an gibt es eine eindeutige Differenz zwischen den Be­ ziehungen des Kindes zu Personen und sei­ nen Beziehungen zu leblosen Dingen“ (Stout 1903/1915, 170). Stout weist darauf hin, dass das Baby von diesen zwei Phänomenklassen sehr unter­ schiedliche Erwiderungen erhält, und fährt fort: „Das Kind muss das Verhalten von an­ deren ebenso als Ausdruck subjektiven Er­ lebens deuten, wie sein eigenes. … So wie es soziale Kooperation findet und sucht und lernt, sich auf diese zu verlassen, wird ihm nicht nur bewusst, dass auch andere Wahr­ nehmungen, Ideen und Interessen haben, die den seinen ähneln; sie werden ihm bewusst als wahrnehmend, nachdenkend und an den­ selben Dingen Interesse bekundend, welche es selbst wahrnimmt, über die es nachdenkt und an denen es interessiert ist. … Es beginnt sie wahrzunehmen als Personen, die sich mit sei­ nen eigenen Wünschen und Erfordernissen befassen und die mit ihm kooperieren, um diese zu befriedigen. … Auf diese Weise findet die ursprüngliche Neigung, als Gegenstück zu unserem eigenen subjektiven Leben äuße­ re Dinge als mit einem inneren Wesen verse­ hen zu betrachten, im sozialen Austausch ein einzigartiges Feld für seine Entwicklung. … [aber] … Intersubjektiver Austausch kann vor der Zunahme von Imitation und Sprache als Mittel idealer Konstruktion und idealer Kom­ munikation nur auf einer rudimentären Stufe existieren“ (Stout 1903/1915, 172–173). Protokonversation (→ Zeichen und Semi­ ose) – die spontane vis-a-vis-Interaktion zwi­ schen einem zwei bis drei Monate alten Baby mit seiner Mutter mittels stimmlicher, mimi­ scher und gestischer Ausdrucksmuster – wur­ de durch Mary Catherine Bateson, der Toch­ ter von Gregory Bateson und Margaret Mead,

100 

Intersubjektivität und Kommunikation

identifiziert und benannt (vgl. Abb. 4). Sie fasste ihre Untersuchungsergebnisse mit ei­ nem sieben bis fünfzehn Wochen alten Baby wie folgt zusammen: „… Mutter und Kind waren gemeinsam mit einem Muster mehr oder weniger sich abwechselnder, nicht über­ lappender Vokalisationen beschäftigt; die Mutter ist dabei, kurze Sätze zu sprechen und das Kind, mit Gurrlauten und Gemurmel zu antworten, wobei sie zusammen eine kurze gemeinsame Darbietung erzeugen, die einer Konversation sehr ähnelt und die ich ‚Proto­ konversation‘ nenne“ (Bateson 1979, 65). Mit ihrem theoretischen Hintergrund in Anthropologie und Linguistik und ihrem In­ teresse an Heilungsritualen und Zweitsprach­ erwerb interpretiert Bateson das Verhalten des Kindes als Ausdruck einer angeborenen emotionalen Grundlage für Sprache und das Erlernen der Kultur sowie für die Herstellung emotional regulierter und die emotionale Ge­ sundheit regulierende soziale Bindungen. Untersuchungen von Daniel Stern, gemein­ sam mit Joe Jaffe, Beatrice Beebe und anderen, bestätigten die kommunikativen Fähigkei­ ten von Babys und betonten auf Grundlage der Anwendung der bislang bei Erwachse­ nen eingesetzten Techniken der „Konversati­ onsanalyse“ die Bedeutung des Timings und der interpersonellen Koordinierung der Aus­ drucksformen in der Zeit (Stern et al. 1985, Stern 2000 [i. O. 1985], Jaffe et al. 2001). Condon hat gemeinsam mit Sander gezeigt, dass Neugeborene in jeder Sprache ihre Handbe­ wegungen zu den von Erwachsenen vorge­ sprochenen Silben synchronisieren konnten (Condon & Sander 1974). Stern studierte die Intonation der mütterlichen Sprechweise ge­ genüber ihrem Kind und verwendete das hier­ aus erwachsende Verständnis früher Inter­ aktionen und des „affektiven Attunements“ der Mutter zur Anfechtung der psychoana­ lytischen Theorie (→ Sprachdidaktiktheo­ rie), dass das Kind mit einem undefinierten und unwirksamen Selbst geboren wird, wel­ ches sich nur rein physiologisch auf die Mut­ ter beziehen kann (Stern et al. 1985, Stern 1999). Sein zweites Buch „The Interpersonal

World of the Infant“ (Stern 2000 [i. O. 1985]; Dt. (2000): „Die Lebenserfahrung des Säug­ lings“) eröffnete einen neuen Dialog zwischen den klinischen Disziplinen und der Entwick­ lungspsychologie und markiert damit einen bedeutenden Fortschritt in der klinischen Wahrnehmung des Kleinkindes als Person. Dieses neue Konzept des Kindes als Person wurde durch einfühlsame Beobachtungen von Müttern unterstützt, wie sie ihre Neuge­ borenen begrüßen. Stern beschrieb das aufscheinende bzw. „Emergierende Selbst“ des Neugeborenen zu­ nächst als ausschließlich emotional und ge­ stand dem Kind ein „Intersubjektives Selbst“ vor dem siebten bzw. achten Monat nicht zu. Später, in der Einleitung zur zweiten Auflage seines Buches (Stern 2000), räumte er ein, dass die Analyse imitativen und protokonversatio­ nellen Austauschs von sehr kleinen Kindern sowie der Effekte, wenn man diese kommuni­ kativen Prozesse verstört, eindeutig nahe legt, dass intersubjektive Bewusstheit von Geburt an besteht. Die Fähigkeit zur Intersubjektivität ist offenkundig angeboren (Trevarthen 1979). Es wurde zunehmend deutlich, dass der Säug­ ling weder einzelne Antworten reflexhaft pro­ duzierte noch Blicke, Lächeln oder Ausdrücke von Verzweiflung oder Enttäuschung durch irgendeinen identifizierbaren simplen ‚Schlüs­ selreiz“ ausgelöst wurden – all dies waren Ad­ aptationen, um von Geburt an reziprokes kommunikatives Verhalten zu zeigen, so wie es Hanuš Papoušek (1967) demonstrierte, als er zeigte, dass kleine Kinder ihre kognitiven Bemühungen und ihre Gefühle hinsichtlich der Resultate ihrer Handlungen auf „mensch­ liche Art und Weise“ kommunizierten. Diese neuen Evidenzen hinsichtlich des so­ zialen und kommunikativen Verhaltens von Kindern wurden in den späten 1970er Jah­ ren erbracht. In ihrem Buch „Before Speech“ skizziert Margaret Bullowa ein sehr vollstän­ diges Bild der Entdeckungen der vorangegan­ genen Dekade, indem sie sagt: „Ich glaube, dass eines der Dinge, welche die Erforschung der frühesten menschlichen Kommunikation verzögert hat, unsere Gewohnheit ist, zu den­

Zur Naturwissenschaft der kindlichen Kommunikation   101

A

B

Abb. 4: Schon ganz kleine Kinder drücken ihre Gedanken und Gefühle aus und können sich mit Gesten, Vokalisa­ tionen und vorsprachlichen Äußerungen (prespeech) an Protokonversationen beteiligen. A: Ein 9 Wochen alter Junge gemeinsam mit seiner Mutter im Labor von Prof. Jerome Bruner an der Harvard University (aufgenommen von Colwyn Trevarthen im Jahre 1968). Die Bilder zeigen, wie die Mutter ihr Kind „imitiert“, während sie beide mittels Stimmungen und expressiver Gesten „korrespondieren“. B: Ein 6 Wochen altes Mädchen (aufgenommen von Colwyn Trevarthen in seinem Labor an der Edinburgh Uni­ versity) präsentiert prä-verbale Mundbewegungen, die denen von Erwachsenen ähneln, wenn sie eine große Bandbreite an Sprechlauten artikulieren (Trevarthen 1979).

ken, dass Kommunikation hauptsächlich aus Sprache besteht. Studierende des Spracher­ werbs kommen erst jetzt dazu zu erkennen, dass es eine gehörige Portion Berücksichti­ gung der Pragmatik erfordert, um die Kin­ dersprache zu verstehen – nämlich der Kon­ texte, in denen sie benutzt wird. Dies schließt nicht nur die jeweilige Situation ein, sondern auch die gesamte extra-verbale Kommunika­ tion“ (Bullowa 1979, 11). Und über den „kommunikativen Zustand“ schreibt sie: „Damit ein kleines Kind begin­ nen kann, Bedeutungen (mit)zuteilen, muss es sich in Kommunikation befinden, was eine andere Art sein kann, zu sagen, es muss Rhythmus teilen“ (Bullowa 1979, 15). In Bullowas Buch habe ich ein „spezifisch menschliches System für die Kommunika­ tion von Person zu Person“ beschrieben, wel­

ches aufscheint, lange bevor ein Kind spre­ chen kann – aber dies bereits mit Rudimenten von Sprechaktivität (Trevarthen 1979, 321). „Prespeech“ bzw. die „Sprache vor der Spra­ che“ – das heißt Lippen- und Zungenbewe­ gungen, die den Artikulationsbewegungen des Erwachsenen ähneln und mit expressiven Kopf- und Augenbewegungen sowie Gesten der Hände gekoppelt sind – wurde mit Fo­ tos eines sechs Wochen alten Mädchens illu­ striert (vgl. Abb. 4). Ich nannte den Ausdruck individuellen Bewusstseins und individueller Intentionalität „Subjektivität“ und folgerte, dass „zum Zweck der Kommunikation Kin­ der auch dazu fähig sein müssen, diese sub­ jektive Kontrolle an die Subjektivität anderer zu adaptieren oder anzupassen: Das heißt, sie müssen auch ‚Intersubjektivität‘ demonstrie­ ren“ (Trevarthen 1979, 322).

102 

Intersubjektivität und Kommunikation

Locks Sammelband „Action, Gesture and Sym­ bol“ (1978) vertrat ebenfalls einen neuen An­ satz zur sozialen Pragmatik und kulturellen Intelligenz in der frühen Kindheit. Die Orien­ tierung der Herausgeber gründete in der Tra­ dition der sozialen Lerntheorie (Mead 1934) und kulturhistorischen Erläuterungen (Vy­ gotskij 1962 [i. O. 1934]), in denen Erwachse­ nen die Rolle des intelligenten Deuters der na­ iven Streckbewegungen und des Vokalisierens gegeben wurde, indem sie Handlungen in Ges­ ten und schließlich in Symbole transformier­ ten, so „als ob“ diese Akte linguistisch wären. Dieser Ansatz war sehr stark in den Arbei­ ten von John Newson (1979) und John Shotter (1974) in Nottingham vertreten, wo sehr früh wichtige Arbeit zu Imitationen und zur Rolle der Intersubjektivität in der Entwicklung sig­ nifikanter Gesten geleistet wurde (Newson & Shotter 1974). Es ist in den letzten drei Jahrzehnten deut­ lich geworden, dass das Interesse an absichts­ voller Kooperation und dem Teilen kulturell überlieferter Bedeutung, das ein Kind nor­ malerweise zu Beginn des ersten Lebensjah­ res zeigt, durch eine „angeborene Disposition für Kultur“ motiviert ist – durch eine Form „Sekundärer Intersubjektivität“ (Trevarthen & Hubley 1978), die das Kind ohne Worte be­ fähigt, die Verwendung bekannter Objekte durch andere Personen, konventionelle Wege der Kommunikation durch konventionalisier­ te Gesten und prosodische vokale Formen und Betonungen sowie rituelle Handlungsmuster in Spielen und einfachen gemeinsamen Auf­ gaben zu beobachten und zu imitieren (Gra­ tier & Trevarthen 2008) (vgl. Abb. 9 und 10). So wie der Soziolinguist Michael Halliday mit akribischen häuslichen Beobachtungen der sich zwischen seiner Frau und seinem Sohn Nigel entwickelnden Kommunikationspro­ zesse gezeigt hat, beginnt ein neun Monate altes Kind damit, verschiedene vokale Klänge und Handgesten in „bedeutungsvollen Akten“ zu kombinieren, die eindeutig verschiedenen interpersonalen, Selbst-expressiven und indi­ kativen Funktionen dienen und die als Vor­ läuferfunktionen der sozial-semiotischen

Funktionen des Sprechens angesehen werden können (Halliday 1975). Da Halliday ein Ex­ perte für Prosodie und funktionale Linguis­ tik ist, war seine Überzeugung, dass sein Sohn protolinguistische Funktionen vor Ende des ersten Lebensjahres ausprobierte, höchst ein­ flussreich. Arbeiten anderer Psycholinguisten über präverbale kommunikative Intentionen, insbesondere jene von Elizabeth Bates (1979), Inge Bretherton (Bretherton & Bates 1979) und Jerome Bruner (1975, 1976), bestätigten diesen neuen Theorieansatz. Kinder konnten andere Personen ohne Worte verstehen und ihre In­ teressen, Absichten und Gefühle auf Wegen verdeutlichen, welche denjenigen motivierten Formen ähneln, die sprachlichem Verhalten zugrunde liegen (Fonagy 2001). Die Motive kulturellen Lernens in der Kindheit bestehen nicht einfach nur in der Nachahmung noch können sie als rein ko­ gnitive Fortschritte in der „Informationsver­ arbeitung“ eines Individuums erklärt werden. Sie sind Produkte intrinsischer Veränderun­ gen angeborener Mechanismen der mensch­ lichen Psyche, die sich herausgebildet haben, um die Entwicklung intersubjektiver Wahrnehmung zu regulieren und das Leben mit anderen Menschen kooperativ zu gestalten (Trevarthen 1989). In den ersten Monaten ist intersubjektiver Austausch unmittelbar bzw. direkt, reguliert durch relationale Affekte (Stern 1999) (→ Sprachdidaktiktheorie) und mit der Reflexion und Aushandlung primärer psychischer Zustände befasst. Sobald dieser interpsychische Prozess etabliert ist, ist das kindliche Gespür für andere zur Integration in der Lage und zwar mit einer zunehmenden Aufmerksamkeit für Gegenstände und de­ ren Gebrauch. Das Kind fängt an zu verste­ hen, wie andere Personen ihre Interessen und Handlungen selektiv auf Dinge der gemeinsa­ men Welt lenken, und zu bemerken, dass sie Routinen entwickeln, mit ihnen umzugehen. Von hier an kann das Kind beginnen, sich kulturelle Gepflogenheiten durch „intendier­ te Partizipation“ an der sozialen und instru­ mentellen Pragmatik des Lebens anzueignen, indem es dabei mit vertrauten Personen in



Zur Naturwissenschaft der kindlichen Kommunikation   103

vertrauten Situationen Handlungen und Er­ fahrungen des Körpers und der Psyche teilt (Jahoda & Lewis 1988, Bruner 1990, Rogoff 2003, Greenfield 2004). Die Interessen, Fä­ higkeiten und Präferenzen unterschiedlicher Individuen werden unterschieden und Bewer­ tungen hinsichtlich des gegenseitigen Verste­ hens und des miteinander geteilten Erlebens vorgenommen, die dabei mit jedem einzelnen möglich sind (Gratier & Trevarthen 2008). Detaillierte Analysen der affektiven Vor­ gänge hinter diesen wichtigen Entwicklungen der menschlichen Intelligenz zeigen, dass der grundlegende Prozess ein Prozess der Sympathie bzw. des Mitempfindens für die dynami­ schen Prozesse der Körperbewegungen sowie ein Mit-Teilen von Erwartungen und antizi­ pierten Befriedigungen und Enttäuschungen im „Spiel“ ist. Die Funktion eines affektiv zu­ gewandten und spielfreudigen Elternteils ist dabei von entscheidender Bedeutung ebenso wie die Unterschiede zwischen verschiedenen Spielpartnern bzw. Bezugspersonen.

2.5 Intuitives Motherese: ­Sympathetische Affekte und ­Intentionen in der „Babysprache“ Der aufmerksame Blick sowie kommunika­ tive Geräusche und Bewegungen eines Kin­ des stimulieren ein sensibles Gegenüber zur Kommunikation mittels poetischer oder mu­ sikalischer Ausdrucksformen. Die Sprache des „kind-gerichteten Sprechens“ (infantdirected speech) oder „Motherese“ (→ Kog­ nition und Emotion, → Sprachentwicklung und Sprachabbau) ist im Vergleich zur Spra­ che zwischen Erwachsenen in Struktur und Form vereinfacht, aber das Hauptmerkmal dieser Art des Sprechens ist ihr Muster von Betonungen und Melodieführung: ihre „Pro­ sodie“. Motherese besteht aus kurzen, oft wie­ derholten Äußerungen mit charakteristischen Tonhöhenkonturen und einem eindeutigen zentralen Rhythmus zwischen Adagio und Andante mit einem gemäßigtem Rubato (vgl. Tab. 1–3), welcher entweder die Melodie ver­

langsamt, um Entspannung anzudeuten oder sie beschleunigt, um eine Betonung zu ver­ deutlichen. Bezugnehmend auf die stets genau passenden Beiträge des Kindes bezeichnen Mechthild und Hanuš Papoušek (1981) diese Elemente als ‚musikalisch“ – dies im Gegen­ satz zu den „supra-segmentalen“ oder „para­ linguistischen“ Elementen der linguistischen Terminologie (→ Frühe Kommunikation und Interaktion). Einige wenige einfache Konturen werden viele Male mit unterschiedlichem le­ xikalischen Gehalt produziert. Oft verwandelt sich die Sprache in ein wortloses Lied oder in Laute ohne weiteren Sinn, aber sie ist immer rhythmisch sowie hoch moduliert, und Klein­ kinder reagieren stets außerordentlich stark auf den jeweiligen musikalischen Ausdruck (Trehub 2003). So wie Anne Fernald (1989) vorschlug: „Die Melodie ist die Botschaft.“ (vgl. Abb. 3 in Foolen, Lüdtke, Schwarz-Friesel in diesem Band). Es sind Analysen der Vokalisationen von Müttern in sehr unterschiedlichen Sprachen gemacht worden, wenn sie zu ihren kleinen Kindern sprechen, und dabei wurden sowohl Unterschiede als auch bemerkenswerte Uni­ versalien gefunden (Gratier & Trevarthen 2008, Powers & Trevarthen 2009) (→ Person und Sprache, → Interkulturalität und Mehr­ sprachigkeit). In chinesischem Mandarin und in amerikanischem Englisch sprechen Müt­ ter ein eng beieinanderliegendes „intuitives Motherese“, obwohl Chinesisch eine tonale Sprache ist, die Intonation nutzt, um Bedeu­ tung zu übermitteln, während das Englische dies nicht tut (Greiser & Kuhl 1988). Konven­ tionelle morphologische und artikulatorische Unterschiede zwischen diesen Sprachen sind reduziert, da die Mütter kurze, gleichmäßig angeordnete Worte mit einfachen, Singsangähnlichen Betonungen in einer resonanten, aber dennoch entspannten und „behauchten“ sowie moderat hohen Stimmlage wiederho­ len. Während also das Neugeborene eine er­ lernte Präferenz für die Prosodie der „Mut­ tersprache“ wie auch für die Mutter selbst als Sprecherin des Motherese in dieser bestimm­ ten Sprache zeigen kann, sucht das kindliche

104 

Intersubjektivität und Kommunikation

Bewusstsein darüber hinaus nach Regelmä­ ßigkeiten eines affektiven Registers einer für alle Sprachen gültigen Sprechweise und be­ reitet somit die Grundlage für die Spezialisie­ rung der Wahrnehmung und Produktion von Betonungen und Artikulationen, die die Spra­ che der Eltern kennzeichnet (Kuhl 2004). Der Begriff „intuitiv“, angewandt für die Art und Weise, wie die Mutter ihr Sprechen an die Aufmerksamkeit des Kindes anpasst, impliziert, dass die Parameter oder Beson­ derheiten der mütterlichen Sprechweise ihren Kindern gegenüber von ihr kein Nachden­ ken oder bewusste Vorbereitung erfordert. Sie sind natürlich und „selbst erlernt“ und keine kognitiven Strategien oder Programme, die von externen programmierten Instruktionen oder einem willkürlichen kulturellen Regel­ werk erworben sind. Das Kind hat ebenfalls eine intuitive Bereitschaft und reagiert mit eindeutiger emotionaler Präferenz für genau diese Merkmale von Timing und Prosodie. Tatsächlich kann es sogar sein, dass eine sen­ sible Mutter sogar von ihrem Baby in kurzer Zeit trainiert worden sein kann, ein „besseres“, engagierteres Motherese zu sprechen. Wenn die Interaktion zwischen Baby und Mutter durch Mikroanalyse von Video- und Audio­ aufzeichnung in minuziösem Detail unter­ sucht wird, wird deutlich, dass beide derart agieren, dass sie die Kontrolle des „baby talk“ und des Musters der Protokonversation auf­ recht erhalten können. Dieser Prozess ist mit den Improvisationen eines Jazz-Duetts vergli­ chen worden (Schögler & Trevarthen 2007). Während die Kommunikation zwischen einer Mutter und einem zwei Monate alten Baby auf der reinen Klangebene als wechsel­ seitig regulierter Prozess analysiert werden kann, koordiniert er jedoch darüber hinaus auch sichtbare Kopfbewegungen, Gesichts­ ausdrücke und Handgesten, wobei jedes ein­ zelne Element von jedem der beiden Partner imitiert werden kann. Die Interaktionen sind dabei eng an ein Adagio oder Andante gebun­ den  – allerdings mit „elastischen“ Variatio­ nen  –, und beide lauschen den Klängen des anderen und reagieren abwechselnd auf deren

affektive Qualität und „Energie“. Ähnlich den Improvisationen zweier erfahrener Musiker kreieren Mutter und Kind hoch kooperativ das Wechselspiel der Vokalisationen (Gratier & Trevarthen 2008). Kinder diskriminieren subtile Merkmale menschlicher Klänge in Liedern oder musi­ kalischen Darbietungen, sind von ihnen an­ gezogen und zeigen bestimmte Präferenzen für Tonhöhen, Rhythmen und Harmonien, die denen erwachsener Hörer ähneln (Trehub 2003). Diese feinfühligen, angeborenen audi­ tiven Sensibilitäten treffen sich mit den intui­ tiven Formen elterlicher Kommunikation, die unmittelbar auf die kindlichen Äußerungen eingeht und die Erwachsene und Kinder in der intimen Kunst geteilter menschlicher Vi­ talität verbindet. Viele Forscher glauben heute zudem, dass sie der Anfang der Vermittlung kulturspezifischer Rituale, Ideen und der Be­ deutung von Gegenständen sind, die Men­ schen erzeugen und benutzen – der Sprache, die sie sprechen, dabei eingeschlossen (Gra­ tier & Trevarthen 2008). Die Fähigkeiten von menschlichen Babys übertreffen weit die durchaus bemerkenswerten Fähigkeiten, die einige Vogelarten oder Säugetiere für emotio­ nalen Ausdruck, soziale Kommunikation und soziales Lernen aufweisen, und sie sind weit anpassungsfähiger an die Gewohnheiten und Erfindungen der unmittelbar sie umgeben­ den Gemeinschaft.

3 Emotionen im Kontakt und in Beziehungen mit Kleinkindern 3.1 Proto-Habitus bei Mutter und Kind: Improvisierung eines ­emotionalen Rahmens für ­kulturelle Bedeutungen in ­ersten Beziehungen und die Folgen ­seines Zusammenbruches Seit den ersten nonverbalen Dialogen, die das Baby mit engen Vertrauten austauscht, ist ein



Emotionen im Kontakt und in Beziehungen mit Kleinkindern   105

emotionaler Prozess des „belonging“ (Gratier 1999) bzw. der „Zugehörigkeit“ zu einer be­ deutungsvollen Welt in Gang gesetzt worden. So wie das Kleinkind eng mit anderen inter­ agiert und dabei Bindungen formt, beginnt die Kultur sowohl seinen Körper als auch die Stim­ me zu besetzen. Man hat herausgefunden, dass der vokale Austausch von zwei Monate alten Kindern bereits die Spuren der spezifischen Konversationsstile der Kulturen in sich tragen, in denen sie geboren wurden (→ Person und Sprache). Kinder nehmen die zeitlichen und qualitativen Ausdrucksformen auf, die für die Gemeinschaft, der sie sich zugehörig fühlen, am typischsten sind. Dieser Umstand konsti­ tuiert das, was Maya Gratier (2003) mit Bezug auf Bourdieus (1990) Begriff des „Habitus“ als jene regulierten Improvisationen, die spezifi­ sches soziales Verhalten leiten, „Proto-Habi­ tus“ genannt hat. Der Proto-Habitus sorgt für die ersten Regeln des sozialen Austausches, die ein Kind im Verlauf von Interaktionen mit na­ hen Bezugspersonen antizipieren kann. Die­ se strukturierenden Strukturen werden durch die tägliche Begegnung mit den Mitgliedern einer sozialen Gemeinschaft kontinuierlich umgebildet. Proto-Habitus erwächst aus den angeborenen Motiven für gemeinsamen Aus­ tausch und für Bedeutung und verwurzelt ein Kind Schritt für Schritt in mehr oder weniger klar definierten, zugehörigen Gemeinschaften (Gratier & Apter-Danon 2008). Dieses ist in speziellen intersubjektiven Emotionen der Ge­ meinschaft gegründet – insbesondere denen des „Stolzes“, der die Zurschaustellung von Wissen und Fertigkeiten gegenüber einer an­ erkennenden „Zuhörerschaft“ markiert (Tre­ varthen 2005, Reddy 2008). Zugehörigkeit offenbart sich zuallererst im Körper und in der Stimme sowie in den Er­ wartungen darüber, wie und wann sich Kör­ per und Stimmen der anderen verhalten wer­ den – wie das Spiel oder die Aufgabe realisiert werden und wie die impliziten Regeln sich än­ dern oder andauern mögen. Kultur befindet sich im Körper und in der Zeit, bevor über sie reflektiert und bewusst gesprochen wird bzw. bevor sie sich in Kunst, Literatur oder Tech­

nologie manifestiert (Schögler & Trevarthen 2007). Kind und Mutter zeigen beide die mul­ timodale Kohärenz des Handelns in einer ge­ meinsamen psychischen Zeit, so wie es von den Phänomenologen beschrieben worden ist; und sie teilen diese Kohärenz und expe­ rimentieren mit ihr. Ihre Gehirne haben sich evolutionär weiter entwickelt, um genau dies zu können (Gallese 2005). Die grundlegenden Rhythmen von Kin­ dern und Erwachsenen passen haargenau zu­ sammen. Durch diese Übereinstimmung im Zeitempfinden können sie erfolgreich Dia­ loge führen, die Expressionen des anderen wechselseitig antizipieren, sich mit Äußerun­ gen und Gesten abwechseln und diese präzi­ se synchronisieren und sich auf die Emotio­ nen des je anderen „einstimmen“ (Stern 1999, 2004). Der Tonus und die Anmut einer je­ den Geste kann zwischen ihnen in gefühlter Unmittelbarkeit abgeschätzt werden (Bråten 1988), da ihre Psyche Bewegung in Zeit und Raum durch übereinstimmende oder korre­ spondierende Prozesse virtuell abbildet (vgl. Abb. 2 und 6). Der Erfindungsreichtum innerhalb von Protokonversationen zwischen Mutter und Kind ist es, was diese mit Jazz-Improvisatio­ nen vergleichbar macht. In ihren spontanen Interaktionen entwickeln Mutter und Kind Repertoires kommunikativer Motive, die auf Wiederholung und Variation expressiver Ein­ heiten basieren, die Bedeutung übermitteln. Dieses gemeinsame Repertoire verschafft im wechselseitigen Verstehen ein Gefühl des Stolzes und ein „Gefühl der Zugehörigkeit“ zwischen Mutter und Kind, welches Gratier & Apter-Danon (2009) als Ergebnis einer subtilen und dynamischen Balance zwischen Gleichförmigkeit und Neuigkeit in expressi­ ven Bewegungen interpretieren. Dieses Ge­ fühl der Zugehörigkeit und das Vertrauen und Behagen, das es erzeugt, muss von dem umgrenzt sein, was Keith Sawyer (2001) „Zone der Improvisation“ (improvisation zone) ge­ nannt hat. Mit anderen Worten kann eine Interaktion, bei welcher es durch einen sich ungünstig entwickelnden Proto-Habitus an

106 

Intersubjektivität und Kommunikation

der Erschaffung gemeinsam geteilter Struk­ turen mangelt, nicht ein Gefühl der Zugehö­ rigkeit fördern. Und aus ähnlichen Gründen kann auch eine Interaktion, der es an zeitli­ cher Qualität der Improvisation mangelt, die­ ses Zugehörigkeitsgefühl nicht begünstigen. Zugehörigkeit erfordert eine Balance der ex­ pressiven Handlungen zwischen dem bereits Gewussten und dem Neuen – Wiederholung oder Unordnung verhindert hingegen das op­ timale vitale Erleben des „Flow“ bei gleichzei­ tiger Meisterung der Zeit. Diese dynamischen interpersonalen Prozesse müssen der Kern je­ der Art des Lehrens oder der Therapie sein, wenn diese effektiv sein wollen (Frank & Tre­ varthen 2011, Lüdtke 2011). Gratier (1999, 2003) fand heraus, dass Müt­ ter, die ihr Heimatgefühl und ihr Vertrauen als Resultat unglücklicher Migrationserfah­ rungen verloren haben, Schwierigkeiten da­ mit haben, einen lebendigen und anregenden vokalen Austausch mit ihren Babys aufrecht zu erhalten (→ Interkulturalität und Mehr­ sprachigkeit). Eine postnatale Depression der Mutter verändert den Rhythmus und die Freude an den Protokonversationen und hat schädigende Auswirkungen auf die Entwick­ lung des Kindes (Marwick & Murray 2009). Mütter, die mit einer „Borderline-Persönlich­ keitsstörung“ diagnostiziert wurden, schaffen es ebenfalls nicht, harmonische Kommunika­ tionsrituale mit ihren Kindern zu entwickeln. Kurz gesagt, wenn eine Mutter eine diffuse und schwermütige Wahrnehmung von sich selbst und ihrem Platz in der Gemeinschaft hat, verliert ihre stimmliche Interaktion mit ihrem Baby an Vitalität, wird depressiver oder rigider und besteht aus mehr Wiederholun­ gen. Mutter und Kind scheinen nicht länger fähig zu sein, „innere Zeit“ miteinander zu teilen – weder zur Konsolidierung ihrer Be­ ziehung noch zur Erfindung neuer Wege für gemeinsam zu machende Erfahrungen. Zugehörigkeit erlaubt dem Kind, neue ein­ fallsreiche Wege zu erkunden, Erfahrungen auszudrücken und zu teilen. Ein Kind ist von Beginn an motiviert, kulturell bedeutsame Wege, sich auf andere einzustimmen, zu erwer­

ben und zu inkorporieren (Trevarthen 1993); aber bald wird sein oder ihr ganz persönlicher Stil, Zugehörigkeit zu gestalten  – und zwar mit all seiner bzw. ihrer improvisatorischen Vitalität – eine anhaltende Motivationskraft für Entwicklung und Lernen. Das Gefühl der Zugehörigkeit wird durch musikalischen Aus­ tausch und „Attunement“ (Stern at al. 1985) erworben. Und es eröffnet neue Räume für innige Kommunikation, die kulturell basierte persönliche Stile von „Zusammensein in der Zeit“ unterstützt (Gratier & Trevarthen 2008). Durch andauernde, langfristige intersubjekti­ ve Begegnungen lernen Mutter und Kind, die zukünftigen Trajektorien der expressiven Be­ wegungen des jeweils anderen zu erspüren; und das Kind kann, selbst in den ersten Wo­ chen, beginnen, auch auf gemeinsamen Erfah­ rungen und Vertrauen basierende Beziehun­ gen mit anderen Personen, und nicht nur mit der Mutter, aufzubauen, womit es eine soziale Kompetenz zeigt, die weit über die spezifische Bindung an die primäre Bezugsperson hinaus geht. Für das Kind basiert das Gefühl der Zu­ gehörigkeit weitestgehend auf aktiver Kör­ perwahrnehmung und kann nicht mit ir­ gendwelchen elaborierten kognitiven oder linguistischen Prozessen in Beziehung gesetzt werden (Gallagher 2011). Ein gemeinsames „Zughörigkeitsgefühl“ leitet die Antizipati­ onen von Mutter und Kind für die Expressi­ onen des je anderen in wechselseitig lieb ge­ wonnenen Gewohnheiten, die sich permanent weiter entwickeln. Jeder unterstützt beim an­ deren seine Motive für eine Kontinuität in der Veränderung. Wenn eine Mutter ihr Vertrau­ en in die kulturellen Praktiken ihrer eigenen Gemeinschaft verliert, geht der gemeinsame Proto-Habitus und ein intersubjektives Ge­ fühl für Zugehörigkeit zu ihrem Kind eben­ so verloren. Wohlbefinden und Selbstver­ trauen in jedweder menschlichen Beziehung brauchen Begeisterung und Behagen, welche nur aus einer dynamischen Balance zwischen dem Vertrauten und dem Neuen erwachsen können. Reine Wiederholung ohne diesen Prozess des „Entdeckens“ ist deprimierend.



Emotionen im Kontakt und in Beziehungen mit Kleinkindern   107

3.2 Experimentelle ­Überprüfung der Emotionen in Proto­ konver­sationen: ­Nachweis des ­Bedürfnisses kleiner ­Kinder nach verlässlichem und ­adäquatem „Attunement“ im Dialog Als anfangs berichtet wurde, dass Kleinkinder unter Einsatz eines weiten Spektrums mensch­ licher Expressionen, für das sie zugleich auch eine hohe Sensibilität besitzen, einfühlsam mit ihren Müttern kommunizieren können, gab es unter den Psychologen einige Skepsis. Sie empfanden die beidseitige Kommunikati­ on zwischen Mutter und Kind als Illusion, die lediglich durch den geschickten Einsatz der Mutter hervorgerufen wird, die so agiert, „als ob“ das Baby kommuniziert und echtes TurnTaking vollbringt. Es war deshalb notwendig, kontrollierte Experimente durchzuführen, um die Intentionen, die Aufmerksamkeit und die Emotionen des Kindes auf eine Weise zu überprüfen, die nachweisen konnten, dass das Kind ein aktiver und bewusster Kommunika­ tionsteilnehmer ist. Die Resultate waren über­ zeugend. Wenn eine Mutter angewiesen wird, den natürlichen und mitempfindend-sympathe­ tischen Austausch mit ihrem Kind zu unter­ brechen und es leer und ausdruckslos, das heißt ohne sichtbare Emotionen mit einem „blank“ oder „still face“ anzuschauen, verur­ sachte dies beim Kind Appell-artige Gesichts­ ausdrücke der Aufruhr und Verzweiflung und die Weigerung, das Gesicht der Mutter anzuschauen, außer für kurze völlig verzwei­ felte Blicke. Lynne Murray in Edinburgh und Edward Tronick in Boston entwickelten diese „blank“- bzw. „still face“-Methode unabhän­ gig voneinander und erzielten ähnliche Re­ sultate (vgl. Abb. 5). Beide beobachteten die Veränderungen, die im Verhalten des Kindes eintraten, wenn die Mutter unempfänglich für die Signale des Kindes war, und wie das Baby reagiert, wenn die Mutter zur normalen spielerischen Kommunikation zurückkehrt. Zudem haben beide zusammen mit anderen

die Auswirkungen einer postnatalen Depres­ sion erforscht (vgl. 7.3), die eine Mutter un­ sensibel gegenüber dem Ausdrucksverhal­ ten ihres Kindes werden lässt, was in Folge depressive Verstimmungen bei ihrem Kind nach sich zieht (Tronick & Field 1986, Mur­ ray & Cooper 1997, Field 1998). Nagy (2008) hat gezeigt, dass ein weniger als zwei Tage al­ tes Neugeborenes sensibel auf das „still face“Prozedere reagiert, und beweist damit, dass die erwartungsvolle Empfänglichkeit für den Austausch mit den Handlungsrhythmen ei­ nes anderen Lebewesens angeboren ist. In Weiterführung der Initiativen von Hanuš and Mechthild Papoušek, die Auswir­ kungen der Unterbrechung oder Störung des „intuitive parenting“ der Mutter zu überprü­ fen (Papoušek 1996), entwickelte Murray das „Double Television Intercom Experiment“ (vgl. Abb. 5). Ihr „TV-Replay-Test“ zeigte, dass ein zwei Monate altes Baby in Verzweiflung gerät und sich zurückzieht, wenn das Verhal­ ten der Mutter, wie liebevoll und ausdrucks­ voll es auch sein mag, im Timing unangemes­ sen ist und nicht genau auf das reagiert, was das Baby gerade macht (Murray & Trevarthen 1985). Die Effekte dieser Verstörung des Kon­ takts kleiner Kinder mit ihren Müttern sind durch Nadel (Nadel et al. 1999) bestätigt wor­ den. Ein reziprokes Experiment hierzu zeigt, dass eine Mutter unbewusst ebenso sensibel auf nicht-adäquate, nicht-kontingente Ex­ pressionen in den verzögert wiedergegebenen Aufzeichnungen der an sich positiven inter­ subjektiven Kommunikation des Kindes re­ agiert. In einem Übersichtsartikel aus dem Jahre 1981 (Trevarthen et al. 1981) über maßgebli­ che Theorien der frühkindlichen Wahrneh­ mung, Bewegung, Lernen und Emotionen wurde das Primat der Bewegungskoordina­ tion und endogener Rhythmen in der Epige­ nese des Saugens, des Sehens, der Greifim­ pulse, der vorsprachlichen Entwicklung und der ersten Gesten des Neugeborenen betont. Die Wahrnehmung des Kleinkindes wurde entsprechend der „Ökologischen Wahrneh­ mungstheorie“ (Ecological Perception Theory)

108 

Intersubjektivität und Kommunikation

Abb. 5: Die „Double Television Replay“-Methode von Lynne Murray belegt, dass ein acht Wochen altes Baby in der Kommunikation danach strebt, sofort stimmige Antworten von der Mutter zu erhalten. Ein wichtiges Experiment zur Überprüfung der Sensitivität eines Babys hinsichtlich der Beurteilung der Adäquat­ heit von kontingentem Timing und kontingenter Form der mütterlichen Expressivität. Ein 8 Wochen altes Mädchen kommuniziert mit ihrer Mutter über eine so genannte „Double Television“-Anord­ nung. Sie befinden sich in voneinander getrennten Räumen, können sich aber vollständig und in Farbe über einen Fernsehmonitor sehen, dessen Bild auf einer Glasscheibe reflektiert wird, durch den wiederum eine Kamera die Mimik und Gestik des Zuschauers aufnimmt. Gleichzeitig wird über einen Lautsprecher die Stimme des jewei­ ligen Gegenübers übertragen. Nachdem Mutter und Kind miteinander Kontakt aufgenommen und zu „chatten“ begonnen haben, wird 1 Minute an fröhlicher „live“-Kommunikation (linke Bildspalte) ausgewählt und der Teil der Mutter wird in exakter Wiederholung („replay“) erneut abgespielt. Dies ruft beim Kind unverzüglich Rückzug und Stress hervor (rechte Bildspalte). Das nicht-verbundene und nicht-reziproke Verhalten der Mutter wird sofort wahrgenommen und wirkt verstörend (Murray & Trevarthen 1985).

von Gibson (1979), welche später durch David Lee (2005) (→ Musiktherapie) in eine schlüs­ sige Theorie prospektiv-perzeptiver Bewe­ gungskontrolle weiter entwickelt wurde, als Informationsaufnahme zur Regulation sei­

ner Aktivitäten aufgefasst. Wechselnde Prä­ ferenzen des Kindes wurden auf Entwicklun­ gen der okulo-motorischen Koordination, der Sehschärfe und dem Greifen nach Objekten bezogen. Wir verwarfen die Idee der Emoti­



Emotionen im Spiel   109

onen als Ausdruck der Induzierung und Re­ duzierung physiologischer Triebe sowie das Konzept interpersonaler Emotionen, die aus einem Kontinuum von Erregungszuständen zwischen Langeweile und Panik in Reaktion auf den Grad der „Diskrepanz“ der jeweiligen Stimuli entstehen (→ Kognition und Emoti­ on). Die Theorie der Erregungsverminderung wurde durch eine Theorie über „Motive, die raum-zeitliche Begrenzungen der Organisa­ tion von Zielen in Erleben und Handeln de­ terminieren“ (Trevarthen et al. 1981, 237), ersetzt. Emotionen wurden sowohl als Re­ gulatoren motivbezogener Harmonie bzw. motivbezogener Konflikte im intentional agierenden Subjekt beschrieben als auch als Ausdruck menschlicher Gefühle, welche die wechselseitigen Kontakte und Beziehungen mit anderen regulieren. Musikalischer Rhythmus und sympathe­ tisches Mitempfinden gehen verloren, wenn Baby oder Mutter gestresst oder emotional verstimmt sind. Ein unpässliches, frühgebo­ renes Baby ist nicht leicht zu verstehen, da es nur bedingt gegenwärtig ist und nicht ab­ sichtsvoll antwortet. Eine depressive Mutter gibt ihrem Baby nicht die musikalisch-rhyth­ mische Ansprache, auf die es reagieren und an der es sich stimmlich kreativ beteiligen kann (Marwick & Murray 2009), und dies kann die Entwicklung des Vertrauens und der Lernfä­ higkeit des Kindes beeinträchtigen (Murray & Cooper 1997). Der Vergleich der Sprechweise depressiver und glücklicher Mütter mit ihren Babys zeigt Unterschiede in Rhythmus und Tonhöhenumfang. Eine glückliche Mutter spricht hell in der Oktave oberhalb des mitt­ leren C, eine depressive Mutter hingegen liegt eine Oktave tiefer und ihrem Sprechen fehlt der Rhythmus. Das unmelodische, stockende und sich wiederholende Sprechen einer Mut­ ter, die an den Ängsten einer emotionalen Krankheit leidet, schafft es nicht, die Interes­ sen ihres Kindes zu unterstützen, so dass das Baby in Folge gestresst ist und einen chroni­ schen Zustand gestörter Kommunikation ent­ wickeln kann (Gratier & Apter-Danon 2009) (vgl. Abb. 14). Wie wir gesehen haben, können

das seelische Gleichgewicht einer Mutter und der Ausdruck ihrer Gefühle gegenüber ihrem Baby ebenso leiden, wenn sie weit weg von ih­ rem Heimatland lebt sowie weit weg von der Gemeinschaft, in der sie aufgewachsen ist – an einem Ort, an dem sie sich nicht zugehö­ rig fühlt. Dieses Gefühl der „Zugehörigkeit“ oder des sich „Zuhause-Fühlens“ ist für eine Person, von der gefordert ist, dass sie sich ein­ fühlsam und in musikalisch-rhythmischer Weise, spielerisch erfindungsreich mit einem kleinen Kind beschäftigt, außerordentlich wichtig. Studien über Kinder, die Autismus entwickelt haben, zeigen, dass sogar schon in den ersten Kindheitsmonaten ein anorma­ les Timing sowie eine fehlende Sensibilität, unmittelbar auf den kommunikativen Aus­ druck anderer einzugehen, sowohl Kommu­ nikation als auch gemeinsames Lernen ver­ stört (St. Clair et al. 2007, Frank & Trevarthen 2011).

4 Emotionen im Spiel: Spielen und Lernen für ­gemeinsame Rituale und gemeinsam ­geschaffene Bedeutungen 4.1 Die Entwicklung von Spielen und Liedern bereichert die ­Narrative mit poetischen Ritualen und ­zelebriert neue Bedeutungen Wenn das Baby drei oder vier Monate nach der Geburt aufgeschlossener für die Welt der Dinge ist, die es weiter vom Körper entfernt anzuschauen und anzuhören gibt und die es erwartungsvoll durch Greifen, Fühlen und Schmecken untersuchen möchte, dann zieht dieses neue „Feuerwerk“ interessanter und vom Selbst gewürdigter Objekte die Neugier des kindlichen Verstandes und des Körpers von der Mutter weg. Wenn sie so sanft spricht, wie sie es tat, als das Baby noch sehr jung war, findet das aufgeweckte und entdeckungsfreu­

110 

Intersubjektivität und Kommunikation

dige Baby sehr wahrscheinlich etwas Inter­ essanteres, dem es sich widmen kann. Nun müssen Mutter bzw. Vater auf viel lebendigere Weise tanzend und singend kommunizieren, um den Geist des IMP (Intrinsic Motive Pulse; Trevarthen 1999b) zum Leben zu erwecken, damit beide, Mutter bzw. Vater und Kind, sich lebendig miteinander beschäftigen können. Und dies ist genau das, was glückliche Väter und Mütter überall tun. Sie erfinden oder er­ innern sich an rhythmische Spiele und Lie­ der, wecken mit einer lebendigen Stimme und spielerischen Berührungen und Gesten liebe­ voll und aufmunternd die Interessen des Ba­ bys und diese sind darüber entzückt. All dies fesselt die Neugierde und Vitalität des Babys und fördert seine Intersubjektivität durch die Rhythmen und Narrative des Spiels. Untersuchungen von Babyliedern und der kindlichen Wahrnehmung ihrer Musikali­ tät ist derzeit ein wichtiges Feld der Entwick­ lungspsychologie (Trainor 2002). In den ein­ fachen und leicht zu erinnernden Gedichten und Tanzmelodien dieser Lieder können wir den kreativen Prozess entdecken, der bewuss­ te Aktivität und ihre kulturellen Manifes­ tationen für alle Menschen interessant, ein­ prägsam und kommunizierbar werden lässt (Eckerdal & Merker 2009). Die Erforschung von Musikalität und Poesie der menschlichen Kommunikation in der frühen Kindheit ver­ weist darauf, dass die Syntax ausdrucksvollen Geschichten-Erzählens bzw. die Verknüpfung der Elemente in einfachen Dramen, welche zwischenmenschliche Botschaften jenseits der Wörter erzeugen, die Grundlage der gramma­ tischen Konventionen einer Sprache ist. Für das Baby ist die Musikalität die Bot­ schaft. Tatsächlich sind viele der „Wörter“ in populären Babyliedern sinnlose Klangmus­ ter, die nichts bedeuten; andererseits beste­ hen viele Lieder aber aus einem komplexen Text mit Bezug zu historischen Ereignissen oder Angelegenheiten der Erwachsenen, die für das Baby keinerlei Bedeutung haben. Der spanische Poet und Musiker Frederico Garcia Lorca (1980) hat beobachtet, dass viele der Texte traditioneller Kinderlieder von den Sor­

gen der Mütter und den vorgestellten Gefah­ ren für ihr Leben und das ihres Babys han­ deln, wohl um sich selbst damit zu trösten. Sogar die Texte von Schlafliedern sind häufig furchteinflößend. Was immer die Worte bedeuten mögen, die lebendige oder sanfte Poesie und Me­ lodie von Babyliedern übermitteln Muster menschlicher Intentionen, welche die Psyche des Kindes einladen, mit den Welt-Deutun­ gen des Gegenübers „Schritt zu halten“ und sie gefühlvoll zu teilen oder aber auch nur friedlich einzuschlafen. „Schritt halten“, weil die Rhythmen der Babylieder und -gedichte, so wie die Ursprünge sämtlicher Lieder und Gedichte, den Rhythmen des Gehens entspre­ chen. Wie das Gehen variieren der Rhythmus oder der Versfuß bzw. das Versmaß eines Ge­ dichtes mit der Dringlichkeit oder Stimmung der „Reise“. In einem Schlaflied ist es das Largo sehr langsamer, vorsichtiger Schritte mit wiegenden Hüften und Oberkörper. In zufrie­ denstellender Begleitung ist es ein angeneh­ mes Andante, das einfach vor sich hinläuft. In freudiger Feierstimmung eilen sie zum Allegro, zu welchem Hände und Füße sich tanzend bewegen können. Im Alter von fünf Monaten liebte es Lean­ ne aus Edinburgh, ihre Mutter beim Sin­ gen zu begleiten. Der neckende Kinderreim „Round and Round the Garden“ zog ihre vol­ le Aufmerksamkeit an, bis hinauf zum „Kit­ zelhöhepunkt“ (Trevarthen 1993). Völlig prä­ zise sangen sie und ihre Mutter gemeinsam das letzte rhythmische Wort, wobei Leanne in völliger Harmonie den Ton ihrer Mutter traf. Megan, ein anderes fünf Monate altes schottisches Mädchen, „arbeitet“ beim viel geliebten Klatschlied „Clappa, Clappa Han­ dies“ mit ihrer Mutter in völliger Überein­ stimmung, indem sie ihre Hände von außen an die ihrer Mutter hält und sich mit ihr exakt synchronisiert. Megan mag ebenso „Round and Round the Garden“, allerdings nicht so sehr die lebhafte „Attacke“ ihrer Mutter, die das Lied zum „Finale“ so dramatisch werden lässt. Sie zeigte großes Interesse, als ihre Mut­ ter sie einlud, nun selbst dieses Lied anzufüh­



Emotionen im Spiel   111

ren, indem sie sagte: „Do it to me!“ und sie sich in der Ausgelassenheit der finalen Phrase „a tickly under there“ trafen, wobei beide uni­ sono auf dem ­f inalen, gedehnten Wort „there“ vokalisierten. Lieder in ganz unterschiedlichen Spra­ chen haben ähnliche Rhythmen, melodische Akzente, Wiederholungen und Reime. Ihre Poesie und Musik basieren auf denselben

motivationalen Prinzipien: lebendiger und dramatischer als sonst in den Protokonver­ sationen, aber aus diesen entwickelt. Bekann­ te deutsche Babylieder – wie „Hoppe, hoppe Reiter“, „Schlaf, Kindlein, schlaf!“, „Heile, heile Segen“, „Backe, backe Kuchen“ – sind mit Klatschliedern und Schlafliedern, die in Schottland, Schweden, Italien, Japan oder Ni­ geria aufgezeichnet wurden, vergleichbar.

Abb. 6: Ein blindes Baby „dirigiert“ das Lied ihrer Mutter mit ihrer linken Hand und führt damit den gemeinsa­ men „Tanz“ an. In einem Film, produziert von Professor Gunilla Preisler von der Universität Stockholm, beteiligt sich ein 5 Monate altes Mädchen, das von Geburt an nicht fähig ist, irgendetwas zu sehen, auf ihre Weise an der bewegenden Me­ lodie eines Lieblingsliedes von Agnes Tegner. Maria „dirigiert“ das Singen ihrer Mutter in einem sanften adagio. Maria bewegt neben ihrem Körper ihre Hände auf und ab, zur Seite und zurück, wenn die Tonhöhe in der Stimme ihrer Mutter wechselt; und sie tanzt anmutig mit den Fingern, das Handgelenk am Ende des Verses fallenlassend. Ein aus dem Video gewonnenes Diagramm zeigt, dass ihre Bewegungen der Tonhöhe des Gehörten 300 Millise­ kunden voraus gehen. Sie kennt das Lied „Mors lille olle“ sehr gut.

112 

Intersubjektivität und Kommunikation

4.2 Gesang und Tanz haben für alle Modalitäten denselben ­motivationalen Ursprung: Ein ­blindes schwedisches Baby ­„dirigiert“ den Gesang ihrer ­Mutter Musiker wissen, dass der Sound, den sie er­ zeugen, einen inneren Tanz ausdrückt, einen Impuls, sich mit rhythmischer Anmut und Dramatik zu bewegen. Die Mikroanalyse der Bewegungen eines blinden, fünf Monate al­ ten Mädchens, das seiner Mutter beim Singen zweier Lieder zuhört, demonstriert anschau­ lich das angeborene sympathetische Mitemp­ finden zwischen ihren Körpern – ein gemein­ sames Fühlen der Bewegungen, die die „Story kreieren“, ein Bewegen, das unabhängig davon ist, welcher Teil des Körpers gerade expressiv ist (vgl. Abb. 6, s. S. 111). Die Hände des Ba­ bys dienen als Tanzpartner für die Stimme der Mutter (Trevarthen 1999b, 2008, Schögler & Trevarthen 2007). Dies ist ein außerordentlich wichtiges Bei­ spiel für die Wissenschaft der Psychologie, weil es zeigt, wie der Intrinsische Motiv-Impuls (IMP) im Baby die Aktivitäten der Muskeln in Armen und Händen „dirigiert“, wie er die Mutter empfindet und „hört“. Er assimiliert die Botschaft, die er in den Bewegungen des musikalisch-vokalen Systems der Mutter hört, und speist hiermit die Rhythmen der Handbe­ wegungen des Babys in einem um den Körper imaginierten melodischen Raum. Die Hand des Babys zeigt zum Kopf, als die Stimme der Mutter in der Tonhöhe ansteigt und am Ende der Strophe knickt sie am Handgelenk nach unten ab, ebenso wie die Gesten, die von einem geübten Dirigenten gemacht würden, der ein Orchester leitet. Wir müssen anerkennen, dass diese Bewegungen eine angeborene Intuition für den musikalischen Impuls ausdrücken, da dieses Baby niemals die Bewegungen der eige­ nen Hände gesehen hat noch die von irgendje­ mandem. Es fühlt die Musik in seinem Dasein und bewegt sich, um es auszudrücken (SheetsJohnstone 2011) (→ Musiktherapie). Mehr noch führt dieses Kind seine Mutter in der Zeit wie ein Dirigent, zeigt ihr, wie es

geht. Jede ihrer imitativen Bewegungen er­ scheint eine Drittel-Sekunde, bevor die Stim­ me der Mutter sich dementsprechend auf- oder abwärts bewegt. Genauso wie zwei Tänzer oder improvisierende Musiker bewegen sich beide wie in einer elastischen Kopplung, und von Zeit zu Zeit führt dabei das Baby, so als ob es den Gesang seiner Mutter verursachen wür­ de. Beim gemeinsamen Erleben seiner Lieb­ lingsmelodien zeigt es sein Vergnügen durch Lachen, sobald es die ersten Noten des zweiten Liedes hört, welches es sehr mag. Die Performance dieses blinden Babys be­ findet sich in völliger Übereinstimmung mit der neurophysiologischen Interpretation jener Hirnsysteme, die das „Spiegeln“ von Hand­ lungen durch Identifizierung vermitteln, und zwar nicht die je einzelne Form der Bewe­ gung, sondern die darunter liegende Moti­ vation oder Absicht (Gallese 2005, Gallagher 2011) (→ Kognition und Emotion). Aber die­ ses Beispiel zeigt mehr als das Spiegeln von Motivation oder Absicht – es zeigt an, dass das Baby nicht einfach eine „Reflexion“ der Mutter ist, noch dass es die Mutter als Spiegel­ bild von sich selbst wahrnimmt – beide sind wahre Tanzpartner, die einen pas de deux im­ provisieren, zwei verschiedene Personen, die unterschiedliche, aber aufeinander bezogene Dinge tun, und die sich an den Emotionen dy­ namischen Austauschs in der Musik erfreuen. Diese Freude entsteht nicht, wenn man mit seinem Spiegelbild „tanzt“ oder „singt“.

4.3 Spielen mit dem Gegenüber und mit Gegenständen: Das Kind übernimmt die Rolle eines ­selbstbewussten Darstellers mit Emotionen des Stolzes bei ­bewundernden „Zuschauern“ und Scham bei „Verlust der ­Zugehörigkeit“ In einer Studie, die Monat für Monat die Kom­ munikation zwischen Müttern und ihren Kin­ dern in der primären Intersubjektivität der Proto-Konversationen untersuchte, zeichne­



Emotionen im Spiel   113

ten wir die Entwicklungen der „person-per­ son-games“ in der Mitte des ersten Lebens­ jahres auf, in denen Mütter und Kinder über ihre eigene Kommunikation scherzten, den anderen neckten und die Mütter ihre Babys mit rhythmischen Körperspielen sowie mit viel Ausdruck im Gesicht und in der Stimme

stimulierten (vgl. Abb. 7). Diese Spiele inkor­ porieren graduell Spielgegenstände oder Spiel­ sachen, sobald die Babys Geschick im Sehen, Hören, Greifen und Manipulieren erreichen und ihr Spiel dann die Phase der „personperson-object games“ erreicht (Trevarthen & Hubley 1978). Diese haben wir als Vorbe­

Abb. 7: Ältere Kinder tauschen mit ihren Müttern Interessen und Aktivitäten in spielerischer „Kameradschaft“ aus. A: Kinder, die älter als drei Monate sind, haben zunehmend Interesse an ihrer Umgebung und entwickeln im Zusammensein mit einer fröhlichen Mutter immer größere Spielfreude. Ein vier Monate altes Mädchen (obere Reihe) blickt zu den Lampen an der Decke, versucht einen an einer Schnur befestigten Ball zu fangen und freut sich über ein rhythmisches Spiel, bei dem ihre Mutter zum Gesang mit ihren Fingern herum hüpft. Mit fünf Mo­ naten (untere Reihe) beobachtet sie fasziniert ihre eigene Reflexion in der Kameralinse und ist überglücklich, wenn ihre Mutter einen Fingerreim singt und dabei ihre Hand kitzelt. B: Nach sechs Monaten sind Kinder mit Personen, die sie gut kennen und denen sie vertrauen, noch weit lebhaf­ ter und humorvoller. In einem Imitations-„Test“ berühren sie die Zunge der Mutter und genießen es, Objekten nachzujagen und sie mit Händen, Augen und Mund zu erkunden. Unten links glaubt Paul, neun Monate alt, dass es ein Spiel ist, als seine Mutter ein bewegungsloses Gesicht („still face“) aufsetzt. Er wendet sich seinem Bild im Kameraobjektiv zu und kaspert mit lautem Händeklatschen rum. Oben rechts wird Esme, ebenfalls neun Monate, von ihrer Mutter geneckt, als sie sich weigert, mitzuhelfen, hölzerne Figuren in eine Spielzeug­ eisenbahn zu setzen. Unten rechts versucht ihre Mutter behutsam, sie zum Mitspielen zu bewegen.

114 

Intersubjektivität und Kommunikation

Abb. 8: Mit sechs Monaten ist Emma stolz über die gemeinsame „Aufführung“ eines Klatschliedes mit ihren Eltern, reagiert aber zugleich ängstlich und beschämt auf einen Fremden. Links: Emma, sechs Monate alt, genießt das Klatschlied mit ihrer Mutter. Zuhause auf den Knien ihres Vaters ist sie äußerst stolz, dass sie das Bewegungsritual zeigen kann, nachdem ihre Mutter sie mit „Clap handies“ dazu aufgefordert hat. Rechts: Gegenüber einem Fremden ist Emma zunächst vorsichtig und zieht sich zurück, versucht dann aber, ihm das Klatschlied zu zeigen. Seine Reaktion erscheint ihr jedoch falsch. Sie ist frustriert und meidet ihn daraufhin, indem sie „beschämt“ blickt.



Emotionen im Spiel   115

reitung für die Fortschritte in geteilter Auf­ merksamkeit, gemeinsamer Interessen und kooperativer Aufgabenbewältigung in der Se­ kundären Intersubjektivität wahrgenommen. Sobald ein Baby mehr und mehr der Um­ gebung seines Erlebens gewahr wird sowie das Interesse hieran mit den Interessen ande­ rer geteilt werden kann, wird es in zunehmen­ dem Maße motiviert, selbst ein Darsteller zu sein, jemand, der anderen die Geschichte erzählt. Seit den ersten Imitationen der Hand­ lungen und Expressionen der Eltern mar­ kieren die Emotionen des Interesses und des Vergnügens wirkliche intersubjektive Koope­ ration bzw. ein „Sein mit Anderen“. Das (Mit)Teilen von Zielen und Absichten bereichert das Selbst. Im Alter von sechs Monaten hat das Baby hinreichend Unabhängigkeit er­ langt, dieses Vergnügen auch zu zeigen, wenn es die Initiative in der Darstellung eines von ihm gelernten Spiels übernimmt (Trevarthen 2004, 2008). Wir sind beeindruckt davon, mit welchem Stolz ein Baby die Botschaft eines Liedes empfängt und dies mit den entspre­ chenden Gesten zeigt, wenn es auch noch weit davon entfernt ist, wirklich zu singen. Der aufmerksame Blick mit strahlendem Lächeln ist unmissverständlich. Im Labor der Universität Edinburgh wa­ ren wir oft in der Lage, dieses Vergnügen am „showing off“ einer erlernten Darbietung zu filmen. Zum Beispiel war Emma, sechs Mo­ nate alt, eine begierige Schülerin, als ihre Mutter ihr beibrachte, wie zu „Clap-a-Clap a Handies“ zu klatschen ist (vgl. Abb. 8). Und zu Hause zeichneten wir ihr strahlendes Lächeln des Stolzes auf, als sie aufgefordert durch ein „Clap Handies!“ ihrer Mutter ihre klatschen­ den Hände zeigte und dabei aufmerksam den Photographen anschaute, der neben ihrer Mutter stand. Aber Emmas Emotionen wa­ ren völlig anders gegenüber einer freundli­ chen, aber fremden Person, die zwar versuch­ te, ihre Freude zu teilen, aber nicht würdigte, wie sie ihm ihr Klatschen darbot. Er fragte stattdessen: „Möchtest Du mir nicht irgend­ etwas sagen?“ Sie hörte auf zu lächeln, machte eine ungelenke Geste in Richtung ihres Kopf­

es, während sie ihn anstarrte, dann schaute sie weg und tätschelte selbst sanft ihre Hän­ de – sie verhielt sich, als wäre sie beschämt, nicht so sehr über sich selbst, sondern über ihre Begegnung (Trevarthen 2005). Seine fra­ gende Stimme war nicht die richtige Würdi­ gung. Es ist schlimm, wenn Dein stolzestes Gefühl über Dein Wissen und Deine Fertig­ keiten nicht gewürdigt wird, sogar wenn Du nur sechs Monate alt bist. Dies ist der Grund, warum unbekannte Personen nicht immer eine harmonische Gesellschaft sind, denn ihr Mangel an Anerkennung kann wie eine falsche „Tonlage“ sein. Sie scheinen nicht zu wissen, wie sie sich zu verhalten haben. Sie können dafür sorgen, dass Du Dich nicht zu­ gehörig fühlst. Diese Beispiele illustrieren, wie die aus­ drucksvolle Musikalität menschlichen SichBeziehens in Bewegung und verständnis­ voller Geselligkeit in den ersten Monaten anwächst. Es zeigt, wie dieses gemeinsame Verhalten eine Welt der Bedeutungen in ritu­ ellen Formen von Handlungen oder Gewohn­ heiten erschafft und hilft, Vertrauen in die Gunst und Bereitwilligkeit anderer Personen aufzubauen sowie Erinnerungen, Vorhaben und Entdeckungen miteinander zu teilen. Am Ende des ersten Lebensjahres, wenn das Kind eine beständige Zielstrebigkeit für den Ge­ brauch von Objekten sowie ein Interesse an gemeinsamen Absichten mit anderen Perso­ nen erworben hat, ist eine reichhaltige wech­ selseitige Achtsamkeit erzeugt worden, die das Baby anleitet, schnell viele menschliche Errungenschaften kennen zu lernen und viele Arten von Werkzeugen zu benutzen. Das er­ staunlich flexible und produktive Werkzeug der Sprache wird in einigen wenigen Monaten beherrscht und öffnet damit die Tür, Ideen über Dinge, die sich an anderen Orten und in anderen Zeiten befinden, zu benennen oder sogar Geschichten über eigentlich völlig un­ mögliche Ereignisse und Wesen zu erfinden (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau). Aber zuerst werden Handlungsroutinen und Begebenheiten der Gegenwart miteinander geteilt, indem das benutzt wird, was „meta­

116 

Intersubjektivität und Kommunikation

Abb. 9: Mit einem Jahr sind Kinder in der Lage, Interessen, Aufgaben und Stimmungen zu teilen. Die einjährige Basilie in Edinburgh ist absolut selbstsicher, als sie aufgefordert wird, Figuren in einen Spielzeug­ laster zu setzen, und sie schaut zufrieden, als ihre Mutter sie dafür lobt. Sie wählt eine Zeitschrift aus, um mit ihrer Mutter die Bilder darin zu betrachten und „kommentiert“ sie mit sprach-ähnlichen Äußerungen. Sie ist auch eine große „Schauspielerin“ und lacht spöttisch, als Ihre Mutter das Gesicht eines traurigen Clowns aufsetzt.

phorisch“ verfügbar ist, um neue Realitäten zu erfinden, zu kreieren und zu zelebrieren, und um so zu tun, „als ob“, und sich an vor­ ausgegangene Rituale und Aufgaben zu er­ innern. Dies ist die Natur der mimetischen Kultur des Menschen (Donald 1991), die ohne ein Vokabular an Symbolen gedeihen kann.

4.4 Kooperatives Bewusstsein ­erweitert die Narrative hinsichtlich Inhalt, Zeit und Ort Im Alter von neun Monaten fangen Babys an, den aktiven Part bei vertrauten Aufgaben über­ nehmen zu wollen und Anregungen für den Einsatz neuer Objekte oder für neue Hand­ lungen von anderen Personen zu akzeptieren. Dies inspiriert ihre Bezugspersonen, falls sie



Emotionen im Spiel   117

sensibel und respektvoll gegenüber der neu­ en Kooperationsfähigkeit des Babys sind, ihre „Trainer“ und Lehrer zu werden und deshalb die Art und Weise zu verändern, wie sie reden, um so zu zeigen, dass sie die Anstrengungen

des Babys unterstützen und erweitern helfen. Jerome Bruner (1984) (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau, → Sprachdidaktiktheorie) nannte diese Art der Unterstützung für das Er­ lernen der Sprache „scaffolding“ (Baugerüst)

Abb. 10: In Lagos zeigt Adegbenro sein Können aufmunternden Freunden aus der Familie. Der ein Jahr alte Adegbenro in Lagos, Nigeria, ist sehr stolz auf sein Spielzeugklavier. Er spielt darauf gemeinsam mit seiner Mutter, seinem Onkel und einem etwas älteren Kind. Das andere Baby (oben rechts), das ein wenig jünger ist, zeigt Interesse, aber auch Vorsicht, als ein größeres Mädchen ihr ein Klatschlied vorführt.

118 

Intersubjektivität und Kommunikation

Abb. 11: Ein kleiner Junge auf Kreta genießt die „Zweisamkeit“ mit einem fröhlichen Lied. Panos, ein neun Monate alter kretischer Junge, sitzt zu Hause und amüsiert sich ganz alleine. Dann (A) ertönen vom Schallplattenspieler heitere Kinderstimmen, die ein Lied singen, welches er gut kennt. Er schaut sich um, um die Quelle ausfindig zumachen (B). Schließlich erscheint auf seinem Gesicht ein einladendes WillkommensLächeln (C). Bald schon beteiligt er sich am Lied, indem er rhythmisch zur Musik klopft und „singt“ (D). (Aus einer Studie über kindliche Rhythmen des Selbst-Ausdrucks, über die Antworten auf die Rhythmen der von der Mutter gesungenen Lieder und auf aufgezeichnete Musik von Dr. Mazokopaki, Universität Kreta.)

(→ Sprachtherapie), aber er räumt dabei ein, dass ein guter Lehrer eher eine Art „climbing frame“ bzw. „Klettergerüst“ ist, welches das Kind einlädt, mit neuen Kunststücken zu ex­ perimentieren und diese einzuüben. Basilie aus Edinburgh war sehr an Bü­ chern und geschriebenen Mitteilungen, die sie mit ihrer Mutter austauschen konnte, in­ teressiert, obwohl sie natürlich keine Idee da­ von hatte, was all diese Wörter und wohl auch nicht, was all diese Bilder bedeuten könnten (vgl. Abb. 9). Nichtsdestotrotz verhielt sie sich

vollkommen selbstbewusst, bestimmend und manchmal sogar rechthaberisch, indem sie ihrer Mutter in „autoritärer“ Manier erzählte, was sie zu tun hatte. Adegbenro aus Lagos, Nigeria, liebte es, im Beisein von Mutter und Tante ein Musi­ ker mit seinem Piano zu sein. Er „spielte“ und „sang“ zu seinem eigenen Vergnügen und fragte auch nach seiner Rassel und zeigte sie jedem (vgl. Abb. 10). Arora, ebenfalls gerade fünfzehn Monate alt, mag es, ein Buch mit ih­ rer dreieinhalb Jahre alten Schwester zu tei­



Zur Biochronologie ­menschlicher Bewegung   119

len. Sie wechseln sich beim Betrachten der Bilder ab, während die andere jeweils die Ge­ schichte „erzählt“ oder sie begleitet von wis­ senden „Kommentaren“ zeigt. Auf Kreta hat Katia Mazokopaki das freu­ dige Wiedererkennen von Liedern gefilmt, die mit den Müttern gemeinsam gesungen worden waren – insbesondere wie ein Jahr alte Kinder auf die aufgezeichnete Musik hörend antworten, indem sie nach der Herkunft des Klanges suchen, lächeln, dann auf- und abspringen und schließlich in rhythmischer Imitation mit den Armen wedeln und versu­ chen zu singen (vgl. Abb. 9). Sie sind sich der neuen Stärke ihrer Körper bewusst und er­ freuen sich daran, indem sie zur Musik „tan­ zen“. Die Freude am Partizipieren ist deutlich sichtbar ebenso wie das Bedürfnis, die dra­ matischen Klänge in Bewegung umzusetzen (Mazokopaki & Kugiumutzakis 2009). Es ist unverkennbar, dass die Musik begrüßt wird, als wäre sie willkommene „Gesellschaft“. Das Kind erkennt, dass diese Musik in der Melo­ die vertraute Botschaften mit sich trägt und das macht es glücklich.

5 Zur Biochronologie ­menschlicher Bewegung und zur Theorie ­„Intersubjektiver Narrative“ bzw. „Kommunika­ tiver ­Musikalität“ 5.1 Die Psychobiologie von ­Bewegungszeit, Bewusstsein und Kommunikation – speziell in der Musik William James (1992 [i. O. 1890]) antizipier­ te im Rahmen der Ausarbeitung seines wis­ senschaftlichen Ansatzes zur antiken griechi­ schen Idee über „gelebte Zeit“ bzw. „kairos“ das, was heute die „Psychologie des verkörper­ ten Bewusstseins“ (embodied consciousness) ist (→ Sprache und Wahrnehmung). Er be­

schrieb Bewusstsein als dynamischen „Strom“ und betrachtete diesen als Diener des Willens. Zudem fand er eine Erklärung für die Emotio­ nen in den Sensationen viszeraler Ereignisse. Die Regulation von Absichten und Wahrneh­ mungen in Relation zum Körper und seinen affektiven Belangen ist im letzten Jahrzehnt ein Hauptthema der Psychologie. Mit Intention zu agieren und antizipierend der Folgen dieser Handlungen mittels ver­ schiedener Sinne gewahr zu sein, ist abhängig von „psychischer Zeit“. Integrierte Rhythmen von Hirnfunktionen leiten den Fortgang der Körperbewegungen und regulieren die As­ similationen der sinnlichen Wahrnehmung. Dieses intrinsische Timing körperlicher Vita­ lität kann in drei Zonen oder Bereiche eines Spektrums eingeteilt werden (vgl. Tab. 1–3): jeder von ihnen mit seinen eigenen Funk­ tionen in der Regulation eines sich bewe­ genden Bewusstseins und jeder mit eigenen „Vitalitäts-Affekten“ (Stern 1999) bzw. emo­ tionalen Bewertungen der bestehenden Risi­ ken und Vorteile für den Körper in der Hand­ lung. Die rhythmische „Gegenwartszeit“ der Bewegungen mit bewusster Wahrnehmung des Körpers oder des Soma befindet sich zwi­ schen gerade wahrnehmbaren Vorgängen und schnellen „reflexartigen“ Bewegungen bzw. nicht reduzierbaren „Qualia“ von Ereig­ nissen im Fühlen, Hören und Sehen auf der einen Seite und langsamen internen Ereignis­ sen viszeraler Zeit auf der anderen, die wie­ dergeben, wie der Körper seine Energieres­ sourcen und sein Wohlbefinden reguliert. All dies kann bis in die Fantasien von Imaginati­ on und Erinnerung ausgeweitet werden (Tre­ varthen 2008, 2011).

5.2 Die innere Zeit der ­Körperphysiologie und das narrative Gespür für Ereignisse und Absichten Ein Gespür für Absichten oder narrative Er­ eignisse innerhalb von zehn bis zwanzig Se­ kunden scheint Teil der Wahrnehmung kör­

120 

Intersubjektivität und Kommunikation

Tab. 1: Psychobiologische Zeit: Spektrum I (modifiziert nach Trevarthen 1999, 2007)



Zur Biochronologie ­menschlicher Bewegung   121

perlicher Kernbedürfnisse und langsamer Veränderungen emotionaler Stimmungen, Er­ wartungen und Erinnerungen zu sein (vgl. Tab. 1). Die physiologischen Regulationen pa­ rasympathischer Herzrhythmus-Zyklen un­ terhalb 0,03  Hz (mit einer Spanne von 30 bis 50 Sekunden) und vasomotorischen thermore­ gulatorischen Wellen unterhalb 0,1  Hz (Span­ nen von 10 bis 25 Sekunden) – beide befasst mit Respiration und Blutzirkulation – korre­ spondieren mental mit Gedächtnisepisoden und „verschobener“ Imagination, welche die Psyche einige Sekundendekaden und mehr in Anspruch nehmen. Geist und Körper arbeiten in einem weiten Bereich solcher Zeitspannen zusammen: zur Aufrechterhaltung von Rou­ tinen der Ernährung und Entspannung über Stunden, Tage und Jahreszeiten hinweg; zur Einhaltung von Beanspruchung und Belas­ tung in sicheren Grenzen; zur Unterordnung schnellen und energieverbrauchenden „ergo­ tropischen“ Austauschs mit der Umwelt un­ ter die „trophotropischen“ Bedürfnisse selbst­ regulativer Vitalfunktionen des Organismus. Das Erleben dieser langsameren Funktionen ist transzendent, jenseits bewusst gegenwärti­ ger Zeit. Sie regen körperliche Aktivität an und reagieren auf den Energiebedarf. In der Kom­ munikation und im reflexiven Denken werden sie „nacherzählt und interpretiert“ und durch mimetische Syntax, durch Kompositionen dy­ namischer Gesten und differenzierter emotio­ naler Signale des Gesichtes, der Stimme und der Hände sozial (mit)geteilt. Die physiologischen Regulationen sind zwischen den Körpern durch „amphotero­ nomischen“ Austausch miteinander verbun­ den, so wie in der intimen liebevollen Fürsor­ ge der Mutter für ihr Kind beispielsweise bei der Beruhigung zum Einschlafen, bei rhyth­ mischem Streicheln und Körperbewegung so­ wie beim Stillen (Trevarthen et al. 2006) (vgl. Abb. 1). Die psychosozialen Regulationen von Absichten und Erfahrungen zwischen Indi­ viduen durch „synrhythmischen“ Austausch psychischer Zustände konstituieren dramati­ sche Ereignisse in der Erinnerung der Imagi­ nation, deren minimale Einheit die narrative

Episode ist, wie z. B. in einer poetischen Stro­ phe oder einem Vers in einem Lied. Die einfachste Form eines Narrativs, die in der Protokonversation zwischen Mutter und Kind und in Babyliedern gefunden wurde, umfasst eine Zeitspanne von zwanzig bis vier­ zig Sekunden (Trevarthen 1986, 1993, Mal­ loch 1999). Dieses stimmt überein mit den Intervallen, die in Studien zum „kardialen Vagotonus“ gefunden wurden, bei denen die autonomen Zyklen schlafender Personen auf­ gezeichnet wurden (Herzschlag verbunden mit Atmung), welche ihrerseits wiederum mit Häufungen von α-Aktivität bzw. „zyklischen Mikro-Erregungen“ im zerebralen Kortex ge­ koppelt sind und die als ein integrierender Mechanismus des zentralen Nervensystems angesehen werden. Die regulierten vitalen Zustände des Körpers sind offensichtlich Teil des Prozesses psychischer Integration. Sie steuern zudem den Selbstsausdruck, der die intersubjektive Wahrnehmung zwischen Per­ sonen jeden Alters vermittelt. Wenn Baby und Mutter die Begebenheiten ihres gegenseitigen Interesses miteinander teilen, koppeln sie die Bewegungen von Körper und Seele mit dem darin liegenden Rhythmus. Sie teilen die „dy­ adische Regulation psychobiologischer Zu­ stände“ (Tronick 2005). Für geistige Gesundheit muss der Mensch eine „allostatische Balance“ halten, die die Zielsetzungen des Stressmanagements be­ stimmt (McEwen & Stellar 1993). Erinnerun­ gen sowie imaginierte Situationen und Er­ eignisse bringen die Tätigkeitsmechanismen in Gang und schätzen die Belastungen oder den Aufwand ein, die sie für den Organis­ mus nach sich ziehen können. Erlernte Er­ wartungen von Genuss oder schmerzhaften Belastungen werden zwischen Individuen kommuniziert, sobald sie Erfahrungen, Ab­ sichten und Emotionen miteinander teilen. Diese befähigt Menschen zu dem Enthusias­ mus, der große und kleine, erfinderische und kooperative Handlungen begleitet, aber es eröffnet auch die Möglichkeit zur Traumati­ sierung und der Beibehaltung von Schwach­ stellen oder Leiden, die mit bestimmten Or­

122 

Intersubjektivität und Kommunikation

ten, Ereignissen oder Personen verknüpft sind (McEwen 2001). Die Verbesserung der Risiko­ einschätzung einer Person und die Wieder­ errichtung des Selbstvertrauens in der Psy­ chotherapie (Robarts 2008, Osborne 2009a) hängen ab von der angemessenen Handha­ bung der dynamischen Balance langsamer Prozesse autonomer und psychischer Verän­ derungen in dem, was wir narrative Perioden nennen – außerhalb der unmittelbar bewuss­ ten psychischen Gegenwart. Wirksame The­ rapie verändert die Vorstellungskraft und die Erinnerung der „persönlichen narrativen Ge­ schichte“ (Trevarthen 2007, Trevarthen et al. 2006).

5.3 Die psychobiologische „Gegen­ wart“ der Körperbewegungen in unmittelbarer Wahrnehmung Verhaltensmomente mit einer Zeitdauer von mehr als 300 Millisekunden oder dem Drit­ tel einer Sekunde bis hin zu sechs Sekunden (0,16–0,3  Hz) befinden sich im Bereich voll­ ständig bewusster, gefühlter Aktivität des Kör­ pers: von den schnellsten kontrollierten Be­ wegungen der Augen, Lippen oder der Zunge bis hin zu kohärent organisierten Abfolgen von Aktivität bzw. Expression oder zu Zyklen selektiver Orientierung (vgl. Tab. 2). Dieses Zeitspektrum ist als „psychische Gegenwart“ definiert, deren Dynamiken durch die Hand­ lungen bestimmt sind, die jemand jetzt, im je­ weiligen Moment, ausführt sowie durch den Kontext, der durch die Sekunden unmittelba­ rer Vergangenheit und Zukunft erfahren wird (Varela 1999, Stern 2004). Dies ist die rhyth­ mische Handlungszeit in Tanz und Musik (Os­ borne 2008b), in der Dichtung und tatsächlich in allem, was Adam Smith (1982 [i. O. 1777]) als „imitative Künste“ bezeichnet hat. Wie bei der weitestgehend imaginierten und erinnerten narrativen Zeit sind auch hier physiologische und psychologische Regulati­ onen gleichermaßen involviert. Dieses Spek­ trum gelebter Zeit erstreckt sich durch einige wenige Sekunden eines entspannten Atemzy­

klus, eines „Abtastpfades“ okulomotorischer Erkundung, welcher unterschiedliche Blick­ punkte zur visuellen Untersuchung fokussiert und einer Phrase in gesprochener Sprache oder in der Musik. Diese Zeitspannen sind allerdings noch weiter eingeteilt in eine poly­ rhythmische Hierarchie, die sich auf die un­ terschiedlichen Arten bezieht, in welchen die Körpersegmente durch das Gehirn in kon­ trollierter Weise bewegt werden. Präzise und bewusst durchgeführte Handlungen segmen­ tieren die wenigen Sekunden zweckorientier­ ter Gegenwart – so wie im Kurzzeitgedächtnis des experimentellen Psychologen, im Takt in der Musik, im Versfuss in der Poesie und in einem sehr bedachtsamen langsamen Schritt im Gehen. Dieses sind Unterteilungen, die Intervalle oberhalb einer halben Phrase mar­ kieren oder zwischen 1–1,5 Sekunden. Noch kürzer sind einzelne effektive Bewegungen: in rhythmischer Wiederholung wie beim Klopfen, dem Beat in der Musik, einer betonten Silbe im Sprechen, im lebhaften Gehen – all dies mit einer Zeitdauer von weniger als einer Se­ kunde. Die Erfassung nicht-kongruenter Er­ eignisse, welches vorausschauende Wahrneh­ mung erfordert, ist in einem Zeitraum von zwei- oder dreihundert Millisekunden mög­ lich. Die Basis dieses Zeitspektrums ist die neu­ ronale Kontrolle propriozeptiv gesteuerter, den Körper wahrnehmender Bewegung. Sie ist ergotropisch, erfahren, embodied. Ihr zeit­ licher Verlauf ist in der Kommunikation zwi­ schen Subjekten durch einen Prozess sym­ pathetischen Austauschs „synrhythmisch“ improvisiert, und zwar sowohl durch einen Austausch des polyrhythmischen Intrinsi­ schen Motiv-Impulses (IMP) als auch durch dessen emotionalen Ausdruck (Trevarthen 1999b, 2005, Trevarthen et al. 2006) (→ Mu­ siktherapie). Die metronomische Skala der Musik – von etwas weniger als einem bis zu fast drei Schlä­ gen pro Sekunde (ca. 50 bis 150 pro Minute) – definiert das Spektrum des Gehens bzw. die jeweilige „Gangart“: von einem sehr langsa­ men Largo, über ein entspanntes Bummeln



Zur Biochronologie ­menschlicher Bewegung   123

Tab. 2: Psychobiologische Zeit: Spektrum II (modifiziert nach Trevarthen 1999, 2007)

124 

Intersubjektivität und Kommunikation

des Andante oder ruhigem Adagio oder Moderato zu einem heiteren und fröhlichen Aus­ schreiten im Allegro bis hin zu einem eiligen Presto. Innerhalb dieser Rhythmen werden schnellere Bewegungen mit den Lippen und der Zunge, den Fingern und den Füßen arti­ kuliert (Osborne 2009b). Jedes menschliche Wesen, nicht nur Musiker, haben diese Zeit­ maße in sich und sie werden mit variierendem Ausdruck oder Stil gebraucht sowie mit vari­ ierenden Intervallen in jeder Art von Aktivi­ tät. Jedes Kind ist mit ihnen geboren.

5.4 Die zeitliche Struktur von ­Handlungen und Reaktionen im Moment der ­Wahrnehmung, ­unterhalb bewusster ­Diskrimination Nur die schnellsten, automatischen Bewegun­ gen fallen in diesen Bereich (vgl. Tab. 3). Sie sind während ihrer Ausführung nicht bewusst kontrolliert und können nur nach dem Ereig­ nis registriert werden. Automatische, schnel­ le, sich wiederholende Bewegungen und Ar­ tikulationen, kurze Silben, schnelle Gesten und Blicke, Vibrato und Arpeggios haben eine Frequenz von 5–6  Hz; eine einzelne Sakkade der Augen oder die Zunge bei einem Triller bewegen sich mit einer Frequenz von ca. 10– 20  Hz; das minimalste wahrnehmbare Ereig­ nis oder ein schneller Reflex hat eine Rate von 35–200  Hz (→ Hören und Sprechen). All die­ se Frequenzbereiche bzw. Spektren sind durch die Begrenzungen der vom Gehirn generier­ ten Zeiten beschränkt – darauf ausgerichtet, den Körper sinnvoll zu bewegen. Viel schnellere physikalische Oszillationen oder Vibrationen innerhalb des elektroma­ gnetischen Spektrums, das heißt derjenigen Perioden, die nur mit physikalischen Mess­ instrumenten erfassbar sind, werden als Qualitäten oder Tönungen der Materialien oder Objekte, zu denen sie gehören, wahrgenom­ men – als Farben, Tonhöhen und in Kombi­ nationen als Töne und Texturen oder „Här­ te“ und „Weichheit“. Sie ermöglichen Räume,

Medien, Objekten und Materialien vom Ver­ stand als Handlungsziele mit bestimmten Ei­ genschaften identifiziert oder analysiert zu werden, welche Nutzen für das Subjekt haben, oder eine Gefahr für es darstellen können. Sie sind die molekularen Kategorien der semanti­ schen Referenz in der Sprache. Die in Tabelle 1 und 3 zusammengefass­ ten Zeitspektren sind ausgelagert aus den be­ wusst erfassten Handlungen, die in Tabelle 2 repräsentiert sind, und können vom somatischen Körper dissoziiert werden. Beide sind verbunden mit den Bedürfnissen und Eva­ luationen des viszeralen Körpers – der eine (Spektrum I, Tab. 1) mit den ihn erhaltenden Prozessen, der andere (Spektrum III, Tab. 3) die Zielobjekte und -materialien identifizie­ rend.

5.5 Die Entfaltung von ­Kinderliedern, Märchen und sozial orientierter Selbstbiographie: Wie Kinder dazu kommen, in der Zeit zu leben Margaret Donaldson untersucht in „Human Minds“ (1992), wie die Lebenserfahrungen ei­ ner Person hinsichtlich relevanter Zeiten und Orte – das Verzeichnis „bedeutsamer Orte“ für Handeln, Wahrnehmen, Denken und Füh­ len – sich in der frühen Kindheit und im Ver­ laufe des Erwachsenenalters entwickelt. In der ganz frühen Wahrnehmung eines Kindes be­ steht das Leben zunächst aus einer Kette sepa­ rater Momente im sog. „Punkt-zu-Punkt-Mo­ dus“ (point mode), in einer Aneinanderreihung von Momenten des „Hier und Jetzt“. Diese werden zu einem zusammenhängenden „Li­ nien-Modus“ (line mode), der Absichten auf­ rechterhalten und Probleme des Gedächtnis­ ses sowie des Nachdenkens über „bestimmte Dinge“ zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten, „dort und dann“, lösen kann. Diese Art von Bewusstsein ist in der Psyche eines Babys lebendig, noch bevor es ein Jahr alt ist. Un­ terstützt durch die Sprache transformiert im zweiten Jahr der sog. „Kern-konstruierende Modus“ (core construct mode) die Erfahrungen



Zur Biochronologie ­menschlicher Bewegung   125

Tab. 3: Psychobiologische Zeit: Spektrum III (modifiziert nach Trevarthen 1999, 2007)

126 

Intersubjektivität und Kommunikation

mittels Generalisierungen der Erinnerungen, der Einstellungen und Erwartungen hinsicht­ lich von Ereignissen, die „irgendwann irgend­ wo“ geschehen können. Donaldson postuliert des Weiteren eine vierte Phase des agierenden menschlichen Verstandes, welche zwei „trans­ zendente Modi“ (transcendent modes) umfasst, in welchen Gedanken und Gefühle außerhalb von Raum und Zeit, „nirgends, zu keiner Zeit“ auf Entdeckungsreise gehen. Diese beiden Modi des Befasst-Seins beziehen sich gleicher­ maßen auf intellektuelle und emotionale Er­ fahrungen, wobei es sich bei letzteren eher um gefühlte Werte handelt und erstgenannte eher abstraktes Wissen über Zustände und Ereig­ nisse in der Welt betreffen und wie über diese effektiv nachgedacht werden kann und wie sie beschrieben werden können. Ein sechs Monate altes Baby weiß einen kurzen Reim und erfreut sich daran, wie die­ se Strophe durch seine Erinnerung zirkuliert und dabei Vorstellungen durch den „Strom des Bewusstseins“ trägt, die es zum Schlafen oder auch zum Lachen führen können. Jede Strophe ist ein Zwischenschritt im gesamten Drama der Stimmungsveränderungen. All­ mählich erhalten dann die Einzelheiten des Dramas oder Rituals größeres Gewicht und die Erzählung wird reicher im Detail und persönlicher und intensiver, wobei begierig die Bedeutung von Wörtern aufgenommen wird und nicht einfach nur die Musik. Aber die Erinnerung an die Musik selbst ist die frü­ heste und die stärkste. Es sind nicht die logi­ schen Folgebeziehungen von Wortbedeutun­ gen und grammatischen Funktionen oder die besonderen Handlungen, die möglicherwei­ se ein Lied, das behalten wird, begleiten; es existiert vielmehr eine poetisch-musikalische Vermittlungsinstanz, die den Anstrengungen und Emotionen der psychisch repräsentierten oder generierten Handlungen Kohärenz ver­ leiht – und zwar in sympathetischer Überein­ stimmung auf allen Ebenen der Mitteilung. Ein ein Jahr altes Kleinkind kann darauf achten, wie die Schritte einer Aufgabe geord­ net oder gruppiert sind – auf die „exekutive“, logisch-konstruktive Organisation des Zu­

greifens und das Ausführen von Manipulati­ onen, die durch das erforschende Verknüpfen orientierender Bewegungen geleitet werden. Der wesentliche Kernpunkt einer Aufgabe oder Geschichte wird beständig durch die­ jenige Strategie getragen, die ein Linguist „Kontext“ nennen würde, aber dieser hat die Erwartungen des Kindes einzufangen – er muss „lebendig“ sein. Viele Intelligenztests für Kinder werden dadurch nutzlos, dass der Testleiter vergessen hat, dass das Kind eine eigene Betrachtungsperspektive, eine eigene Interesserichtung und eine lebendige Zielge­ richtetheit hat. Das Verstehen liegt tatsächlich weit über oder oberhalb der real präsentierten oder geplanten Darbietung. Der dynamische Prozess der Erzählung und Erinnerung von Zielen und Absichten, die in der Intelligenz eines Kindes an der Schwelle zur Sprache deutlich sichtbar sind, werden von neuen Emotionen gefärbt. Die­ ser nun sehr viel aufgewecktere und kreative Verstand beginnt zu erforschen, wie ein ge­ hender, tanzender, rennender, weinender, la­ chender, kreischender, singender und sum­ mender Körper benutzt und entdeckt wird. Bjørkvold (1992) gibt eine anschauliche Be­ schreibung, wie die Freude an der Bewegung sich in die „musikalische Kultur des Kindes“ entwickelt, sobald dramatische Neuerfindun­ gen von Vokalisationen in Kombination mit Bewegungen des Körpers in geselligen Spielen miteinander geteilt werden oder sie im Nach­ hinein erschaffen werden und mit ihnen ex­ perimentiert wird, wenn das Kind allein ist. John Matthews (2004) nimmt auf, auf welche Art Kinder – wie kleine Künstler – die emo­ tionalen Ausdrucksmedien kombinieren, in­ dem sie im Tanz sichtbare Zeichen, hörbaren Gesang und genussvollen Körpereinsatz kre­ ieren. Der clownhafte Fantasiegefährte eines glücklichen kleinen Kindes ist ein multitalen­ tierter Darsteller, der narrative Rituale mit all seinen Sinnen des Daseins und der Bewegung erschafft.



Körper und Gehirn als Basis menschlicher ­Intersubjektivität   127

6 Körper und Gehirn als Basis menschlicher ­Intersubjektivität 6.1 Angeborene Adaptationen für das (Mit-)Teilen von Motiven, Intentionen, Erfahrungen und Emotionen Der Mensch besitzt spezielle biologische Ad­ aptationen für ein reiches intersubjektives Le­ ben, z. B. die Bewegungen von bestimmten Körperteilen des einen Individuums, die In­ formationen über seine im Gehirn generier­ ten, psychologischen Prozesse übermitteln, und speziell sensibilisierte Sinnesorgane des anderen Individuums, die diese Informatio­ nen den wahrgenommenen Bewegungen des Gegenüber entnehmen und so Zugang erhal­ ten, was in dessen Gehirn vor sich geht (Tre­ varthen 2001b). Wie alle Primaten haben Menschen aktive Augen, ein ausdrucksstarkes Gesicht, bewegliche Körper mit flinken Hän­ den und hoch differenzierte Stimmmecha­ nismen. Aber auch wenn all dies bei niederen Affen und Menschenaffen sehr wichtig für so­ ziale Kommunikation ist, ist beim Menschen jedes einzelne dieser Elemente komplexer und völlig neu adaptiert. Das menschliche Auge ist ein neues leis­ tungsfähiges Organ zur Kommunikation. Unter den Primaten ist es das einzige Auge, welches eine weiße Sklera bzw. Lederhaut be­ sitzt sowie eine sehr gut sichtbare Iris und eine Emotionen ausdrückende Pupille, die sich beide innerhalb einer ovalen Öffnung zwi­ schen den Augenlidern nach links und rechts bewegen. Diese wiederum haben Wimpern, die das Öffnen und Schließen der Augen oder ihr nach oben und nach unten Schauen of­ fensichtlicher werden lassen. All dies ermög­ licht, dass selbst minimalste Veränderungen der Blickrichtung, welche reichhaltige In­ formationen über sich verändernde Interes­ sen und Emotionen übermitteln, von einem anderen Menschen wahrgenommen werden

können. Menschliche Gesichter besitzen eine komplexe Muskulatur und die Lippen geben den sehr gut sichtbaren Zähne einen Rahmen. Der menschliche Kopf vollzieht mit jeder Ver­ änderung des visuellen oder auditiven Inter­ esses und mit jedem stimmlichen Ausdruck viele fein abgestimmte Bewegungen. Mensch­ liche Hände, die freier zum Gestikulieren sind, da der Körper auf zwei Beinen mobil und zugleich stabil balanciert ist, vollführen subtilere Gesten und werden in Konversation kontinuierlich bewegt. Durch sichtbare La­ geveränderungen zwecks orientierender An­ näherung bzw. behutsamen Rückzug sowie durch minimalste Variationen der Kraft und Dauer einer Berührung übermitteln sie zwi­ schen zwei oder mehreren Personen Infor­ mationen über Gedanken und Vorstellungen oder signalisieren emotionale Impulse. Das intersubjektive Wesen des Menschen wird schon vor der Geburt geformt. All die­ se Organe, die das Selbst zur Wahrnehmung der Welt und zur Regulierung des eigenen Körpers benutzt und die für kommunika­ tive Bewegungen sowie zur Wahrnehmung der kommunikativen Signale anderer adap­ tiert sind, weisen die typisch menschliche Form bereits mit acht Wochen am Ende des embryonalen Stadiums auf. In der Mitte der Schwangerschaft treten auch die Regionen des menschlichen Gehirns in Erscheinung, die ganz speziell für die Kommunikation und für kulturelles Lernen im Verlaufe der Kind­ heit entwickelt werden. Diese umfassen die speziellen viszeral-efferenten Kerne des Hirn­ stamms, die für die Bewegung von Augen, der Gesichtsmuskulatur und den Stimmorganen zuständig sind, den emotionalen Kernsyste­ men, die diese modulieren sowie modifizier­ te Regionen des Thalamus, der Basalganglien und des Zerebellums, die mit der Regulation komplexer Bewegungssequenzen der Hände und Finger sowie deren sensorischer Kontrol­ le befasst sind (vgl. diesbezügliche Abbildung Trevarthens in Lüdtke 2006). Die cerebralen Rindenregionen, die im Fötus noch sehr ru­ dimentär entwickelt sind, besitzen nichtsdes­ totrotz im letzten Trimester das Potenzial für

128 

Intersubjektivität und Kommunikation

ein extensives postnatales Wachstum (vgl. Abb. 1). Im menschlichen Gehirn eines Neugebo­ renen sind die primären sensorischen und motorischen Regionen, die für die Erzeugung und Wahrnehmung expressiver Bewegun­ gen der Augen, Hände und des Stimmappa­ rates zuständig sind, bereits überproportional groß. Die parietalen, temporalen und prä­ frontalen Anteile (→ Sprache und Gehirn), die einen viel längeren Entwicklungsver­ lauf haben werden, da dies die Merkmale des menschlichen Gehirns sind, die sich am meis­ ten von dem Gehirn der Affen unterscheiden werden, sind proportional betrachtet in der frühen Kindheit eher klein.

6.2 Über Asymmetrien des ­Gehirns, die das ­„Senden“ und ­„Empfangen“ von ­Intersubjektivität sowie das ­Lernen von Bedeutung regulieren Asymmetrien, die mit der eventuellen hemi­ sphärischen Lateralisierung komplexer kogni­ tiver Operationen und dem Erlernen kulturel­ ler Fähigkeiten inklusive Sprache verbunden sind (→ Sprachentwicklung und Sprachab­ bau), werden in den Unterschieden zwi­ schen den neurochemischen Modulatoren von Handlung und Wahrnehmung links und rechts in subkortikalen und kortikalen Antei­ len des sich im Fötus entwickelnden Gehirns angenommen. Ontogenetische und phyloge­ netische Vorläufer in der evolutionären Ent­ wicklung der zerebralen Asymmetrie scheinen Motivation, soziale Signalfähigkeit und bima­ nuelle Koordination mit sekundären Effekten auf perzeptuelle Vorgänge und Lernen zu be­ einflussen (Trevarthen 1996). Die Hemisphären erwachsener Menschen unterscheiden sich in der Verknüpfung mit den neurochemischen Systemen, die moto­ rische Initiative, Exploration und Aufmerk­ samkeit sowie die Balance zwischen Nähe und Distanz in sozialen Begegnungen regulie­ ren. Die linke Hemisphäre besitzt eine größe­

re dopaminerge Aktivität (DA) verknüpft mit motorischem Ausdruck, während die rechte achtsamere bzw. rezeptivere Hemisphäre do­ minant noradrenerg (NA) ist. Asymmetrien, die im emotionalen und kommunikativen Verhalten eines Kleinkindes gesehen werden können, untermauern die Evidenz, dass eine im Hirnstamm des Embryos sich entwickeln­ de „Intrinsische Motiv-Formation“ (IMF, Intrinsic Motive Formation) die Asymmetrien in der Entwicklung und in der Funktionswei­ se des zerebralen Kortex reguliert (vgl. dies­ bezügliche Abbildung Trevarthens in Lüdtke 2006). Die linke Hemisphäre ist aktiver in der Entwicklung selbstbewusster Initiativen. Dies erzeugt die Gesten der rechten Hand, die das Sprechen der Mutter begleiten sowie die gur­ renden Vokalisationen und vorsprachlichen Mundbewegungen des Babys. Das neckende, aufmunternde Lächeln der Mutter ist auf ih­ rer rechten Gesichtshälfte deutlich sichtba­ rer, wohingegen sich auf der linken Seite ihres Gesichtes ein einladendes, rezeptives Lächeln stärker ausdrückt. Die rechte Hemisphäre ist eher rezeptiv und selbstregulierend. Dies führt zu Selbstberührungen durch die lin­ ke Hand. Die rechte Hemisphäre des Babys, die weiter entwickelt ist als die linke, reagiert auf die Prosodie des „Motherese“ (Trevarthen 1986, 1996). Kleine Kinder demonstrieren diese asym­ metrischen Expressionen kommunikativer Zustände in der Interaktion mit Partnern, bevor sie kognitive Schemata für Objektma­ nipulationen und lange bevor sie irgendeinen semantischen Code von sprechenden Bezugs­ personen erworben haben. Die Asymmetrien in den Gesten gleichen denen, die Erwachsene in Konversation einsetzen (Trevarthen 1986). Rechtshänder produzieren vom Körper weg­ führende expressive Gesten mit der rechten Hand, während sie auf den Körper zulaufen­ de gestische Bewegungen mehr mit der linken Hand vollziehen. Linkshänder tendieren zu genau gegensätzlichen Bewegungen.



Kindliche Störungen der ­Intersubjektivität   129

6.3 Funktionelle ­bildgebende ­Verfahren enthüllen die ­unerlässliche Resonanz zwischen intentionalen und ­emotionalen Zuständen von miteinander ­kommunizierenden Menschen Physiologische Studien neuronaler Aktivität, die mit willkürlichen kommunikativen Bewe­ gungen verknüpft ist, und funktionelle bild­ gebende Verfahren (functional brain imaging) zur Erforschung jener Teile des Gehirns, die bei Bewegungen und beim Erleben innerhalb intersubjektiver Situationen aktiv sind, zeigen, dass der größere Teil jedes menschlichen Ge­ hirns tätig ist, um eine Kommunikation mit den Motiven, Intentionen, Erfahrungen und Gefühlen anderer menschlicher Gehirne her­ zustellen. Ob dieser Prozess als „Spiegeln“ (mirroring) (→ Kognition und Emotion) be­ zeichnet oder mit dem Begriff des „Mitemp­ findens“ (sympathy) verknüpft wird, hängt von der Angleichung von Systemen ab, die jene Bewegungen erzeugen und erkennen, die, abgesichert durch emotionale Bewertungen, regulieren, wie der aktive menschliche Ver­ stand den menschlichen Körper benutzt, um bewusste Zwecke und Absichten lebendig zu halten (Gallagher 2011). Die Selbstregulatio­ nen des einen Individuums sind Botschaften für die Regulation von Verhaltensantworten in anderen und ermöglichen zugleich kooperati­ ves oder konkurrierendes Agieren in der Ge­ sellschaft (Gallese 2005). Es ist gezeigt worden, dass die Wahrneh­ mung der Photographie des Gesichtes einer Frau durch ein acht Wochen altes Baby sein ganzes System zur Resonanz mit den kom­ munikativen Ausdrucksformen des zwi­ schenmenschlichen Austauschs bringen kann. Dabei sind jene asymmetrischen Regionen eingeschlossen, bei denen durch neuropsycho­ logische Studien der Gehirne von Erwachse­ nen entdeckt wurde, dass sie für das visuelle Erkennen einer anderen Person, für die Wahr­ nehmung des stimmlichen Ausdruckes sowie für die Stimulierung expressiver Bewegungen des Auges, der Hand sowie des vokalen und

oralen Systems spezialisiert sind (TzourioMazoyer et al. 2002, Schore 1994). Das ganze Gehirn des Babys ist demnach bei der Betrach­ tung eines Photos genauso mit diesem inter­ subjektiven Attunement beschäftigt wie mit einem realen Partner.

7 Kindliche Störungen der ­Intersubjektivität und der Sprache mit ­unterschiedlicher Genese 7.1 Wie tiefgreifende Entwicklungs­ veränderungen in der ­subjektiv empfundenen Vitalität und ­intersubjektiven psychischen ­Orientierung des Kindes die ­Kommunikation mit anderen ­beeinflussen Was wir durch sorgfältige Studien über die angeborenen Motive und Empfindungen von Kindern für menschliche Kommunikation so­ wie über deren Entfaltung zu einer Lebenszeit herausgefunden haben, in welcher sich die Re­ ferenzspanne noch nicht durch die Sprache ungemein erweitert hat, hat unsere Sicht dar­ auf, wie deren Bedürfnisse bei nicht normaler Entwicklung unterstützt werden können, voll­ ständig transformiert (Aitken & Trevarthen 1997, Reddy 2008, Schore 2003, Stern 2000 [i. O. 1985], Trevarthen 2001a, Trevarthen & Aitken 2001, Trevarthen et al. 2006). Entwicklungsstörungen der intersubjekti­ ven Kommunikation und des Lernens können Folgen von Störungen in der Genese von Kör­ per und Gehirn sein, die in pränatalen Phasen ihren Anfang nehmen (Aitken & Trevarthen 1997, Trevarthen 2001b, Trevarthen & Aitken 1994). Sie können häufig als Veränderungen in den kritischen Entwicklungsphasen der in­ terzellulären und intersystemischen Prozesse festgestellt werden, die in bestimmten, sehr frühen Perioden der Entwicklung von Kör­

130 

Intersubjektivität und Kommunikation

per und Geist stattfinden. Besonders betrof­ fen sind die integrativen neuronalen Systeme des Gehirns, die das Wachstum jener sensori­ schen und motorischen Systeme im Embryo und Fötus steuern, die geeignet sein werden, die Umgebung nach der Geburt durch Ler­ nen zu „(er)kennen“. In der Tat bleiben diesel­ ben zentralen Neurone als motivationale und emotionale Regulatoren erhalten, welche die Handlungen und das Bewusstsein eines Kin­ des organisieren und ihnen Wert verleihen und die sie durch wesentliche Entwicklungs­ übergänge in bestimmten Altersstufen bis hin zum Erwachsenenalter und zum hohen Alter leiten (Brazelton 1993, Trevarthen & Aitken 2003). Viele Organisationsniveaus können an­ fällig sein. Entwicklungsstörungen können die biochemische und autonome Vitalität des Körpers verringern, indem sie Atmung, Kör­ pertemperatur, Durchblutung, Verdauung, Stoffwechsel und Ausscheidung beeinträch­ tigen. Sie können unmittelbar die psycholo­ gische Kontrolle intentionalen und bewussten Verhaltens negativ beeinflussen – die Koor­ dination und das Timing von Bewegungen, die sensorische Wahrnehmung zur Steuerung künftiger Handlungen und zur Evaluierung, wie Objekte und Ressourcen der Umgebung genutzt werden sollten sowie die Herausbil­ dung eines anpassungs- und lernfähigen Be­ wusstseins, Denkens und Gedächtnisses, um zu „repräsentieren“, was die Welt offeriert. Am wichtigsten ist jedoch, dass Fehler in der Entwicklung die Balance der dynamischen Emotionen stören können, insbesondere je­ ner relationalen Emotionen (→ Sprachdidak­ tiktheorie), die die Qualität der Kontakte und des Austauschs mit anderen Menschen re­ gulieren und die sich als verschiedene Arten der „Persönlichkeit“ oder Unterschiede in der „Intelligenz“ manifestieren (Stern 1999, Stern et al. 1985). Eine Sonderpädagogik für Kinder mit Ent­ wicklungsproblemen hat die Aufgabe, sich mit all jenen Störungen, die das sozio-emo­ tionale Leben und das kulturelle Lernen be­ einträchtigen, zu befassen (Lüdtke 2011). Dies

verlangt eine umfassende Anerkennung der Natur jener Motive im sich entwickelnden Kind, die für das sich Beziehen (relating) auf andere Menschen zuständig sind. Die Mes­ sung von kognitiver oder emotionaler Intel­ ligenz und das Testen von perzeptuellen und motorischen Fähigkeiten ergeben für sich al­ lein genommen nicht die erforderlichen Hin­ weise. Und auch eine noch so ausgefeilte me­ dizinische Untersuchung, die Störungen in den biologischen oder mentalen Funktionen diagnostiziert, um bestimmte Behandlungs­ methoden für das Kind als isolierten „Patien­ ten“ anzuleiten, ist nicht hinreichend für eine derartige Aufgabe (→ Frühdiagnostik, → In­ terdisziplinäre Diagnostik). Als Folge einer gestörten psychologischen Entwicklung sind die sprachliche Kompetenz, die Intelligenz und die Lernfähigkeit, welche alle für die schulische Bildung des Kindes und sämtliche anderen Aspekte seiner Sozi­ alisation unabdingbar sind, zwangsläufig ge­ fährdet. Diagnostische Systeme fokussieren diese sekundären bzw. erworbenen Funkti­ onsebenen und bewerten diese als Mängel des Individuums, welche seine sozio-emotionale Gesundheit beeinträchtigen. Aber die grund­ legendsten Mängel entstehen vielmehr in der Entwicklung und der sozialen Unterstützung der angeborenen Adaptationen der mensch­ lichen Psyche, um Handlungen, Erleben und Erfahrungen mit anderen Menschen zu teilen. Entwicklungsstörungen des Verhaltens sind oftmals mit distinktiven anatomischen Veränderungen, insbesondere des Gesichtes sowie spezieller Rezeptoren des Kopfes, der Hände und der Füße, kombiniert, wobei ent­ scheidend ist, dass diese sich in komplexen Anormalitäten des Gehirns widerspiegeln, von denen die meisten erst noch genauer iden­ tifiziert werden müssen. Folglich können wir ein Kind mit Down-Syndrom (→ FS geistige Entwicklung) zwar aufgrund seiner äußeren Erscheinung erkennen, sind aber nicht in der Lage, die Schwierigkeiten einzuschätzen, die das Kind dabei haben mag, andere Menschen zu verstehen bzw. von anderen verstanden zu werden.



Kindliche Störungen der ­Intersubjektivität   131

Die durch klinische Diagnosesysteme defi­ nierten Störungen (→ Klassifikation) geben unterschiedliche Entwicklungsgrade und kri­ tische Veränderungen auf verschiedenen Al­ tersstufen an, die am signifikantesten in Zeit­ räumen intensiver Anpassung des kleinen Kindes an die menschliche Umgebung auftre­ ten. Die Sensibilität für Verletzung und Trau­ matisierung durch die Umgebung variiert und es sind insbesondere die altersbezogenen „kri­ tischen Phasen“ relevant, die bereits im prä­ natalen Leben beginnen (Trevarthen & Ait­ ken 2003). Die Variationsbreite in der Schwere funktionaler Störungen ist so geartet, dass die eher geringen Beeinträchtigungen kaum von der normal entwickelten Population zu unter­ scheiden sind bzw. von den Effekten temporä­ rer Belastung durch die Umgebung oder von traumatischen Ereignissen. Die bemerkenswerten und bislang ver­ nachlässigten intersubjektiven Fähigkeiten von Kindern, welche Gemeinschaft und kul­ turelles Lernen ermöglichen, hängen von den Interaktionen zwischen genetischen und epi­ genetischen Faktoren ab, die in der Entwick­ lung des Körpers und des Gehirns von der Empfängnis an aktiv sind. Abweichungen bzw. Anormalitäten können auf jeder Ent­ wicklungsstufe verursacht werden, und zwar durch Verlust oder Desorganisation des ge­ netischen Materials und dessen Aktivierung bzw. Inaktivierung, durch anormale Zelldif­ ferenzierung und anormale kollektive Her­ ausbildung von Gewebe und Organen in Embryo und Fötus, durch inadäquate Unter­ stützung des Körpers der Mutter oder durch Stress, Trauma und Infektionen, die die dyna­ mischen Prozesse unterbrechen. Direkt nach der Geburt ist ein Kind natürlich durch die neuen physischen, chemischen, biologischen und sozialen Umweltbelastungen verletzbar. Falls die angeborenen adaptiven Mechanis­ men all dies nicht bewältigen können, kann es zu anhaltenden Störungen des Verhaltens und der Kommunikation kommen (McEwen 2001, 2003). Das Kind und seine menschliche Umwelt, das heißt die Personen, mit welchen die engs­

ten Beziehungen geformt werden, entwickeln sich zu einem komplexen, sich wechselseitig regulierenden System, welches auf beiden Sei­ ten von motivbildenden Faktoren abhängig ist (vgl. Abb. 14; Aitken & Trevarthen 1997). Anormale Motivbildungen bzw. gestörte An­ triebskräfte im Kind oder in den Menschen, die sich mit dem Kind beschäftigen, können die körperliche und geistige Entwicklung des Körpers beeinträchtigen. Ebendiese Prozesse bieten allerdings auch die Ansatzpunkte für therapeutische Einflüsse, die sensible Kom­ munikation und gemeinsame Handlungen nutzen, um positive Beziehungen und eine bessere Entwicklung aufzubauen. Alle Ent­ wicklungsstörungen, egal ob durch anatomi­ sche, organische und physiologische Sympto­ me oder durch Veränderungen im Verhalten und den psychologischen Funktionen ge­ kennzeichnet, können das intersubjektive (Er)Leben eines Kindes sowie all seine Ap­ pelle nach Aufmerksamkeit beeinflussen, die Veränderungen in der Art und Weise umfas­ sen, wie andere Menschen auf das, was das Kind motiviert ist zu tun, antworten sollen (Schore 2003). Der schwedische Kinderpsychiater Christopher Gillberg (1992) hat groß angelegte Übersichtsstudien über dasjenige Spektrum an Störungen durchgeführt, die den Aus­ tausch und die Beziehungen zwischen Men­ schen in einer Gemeinschaft beeinträchtigen, wie diese in der Kindheit entstehen und wie sie anhand von unterschiedlich reliablen me­ dizinischen, psychologischen und verhaltens­ bezogenen Signalen bzw. Symptomen erkannt werden können. Er hebt die vielen Ursachen hervor, die zum Misslingen der Kommunika­ tion führen können und kategorisiert die gro­ ße Spannweite der Auffälligkeiten als „Stö­ rungen der Empathie“ (empathy disorders). Es ist wichtig zu beachten, dass Gilbberg, wenn er den Begriff „Empathie“ benutzt, eine kognitive Störung meint – des „Nachdenkens über die Emotionen anderer“ (Herv. vom Autor). Ebenso wie die meisten anderen medizini­ schen Wissenschaftler der letzten einhundert Jahre zieht er nicht in Erwägung, dass Ent­

132 



Intersubjektivität und Kommunikation



Abb. 12: Wenn ältere Kinder mit einem Fremden allein gelassen werden, sind sie traurig und wütend auf ihre Mütter. Ebenso wie bei Erwachsenen wird die Psyche von Kindern in ihren ersten Lebensjahren von starken Gefühlen beherrscht, die ihre Selbstsicherheit und ihre freundschaftliche Beziehung mit anderen Personen regulieren. Kleinkinder stellen intensive Bindungen zu den Menschen her, die ihre Beschützer und Spielgefährten sind. Gegenüber Fremden, die Kommunikationsangebote machen, mögen kleine Kinder zwar versuchen zu kom­ munizieren, aber sie ziehen sich schnell davon zurück, reagieren vermeidend und verstört. Diese so genannte „Acht-Monats-Angst“ bzw. das „Fremdeln“ scheint eher eine Angst vor „Bedeutungslosigkeit“ zu sein bzw. eine Unsicherheit über das eigene Selbst und dessen Fähigkeiten. Sie verweist darauf, dass bereits sehr kleine Kinder eine ausgesprochene Sensibilität hinsichtlich des Eindrucks besitzen, den sie vermutlich bei anderen sicht- und hörbar hinterlassen. Selbstzweifel in der Situation, mit einem verständnislosen Gegenüber allein zu sein, setzt Traurigkeit und Wut frei, die als Protest gegenüber einem Elternteil ausgedrückt werden können, wie hier im Fall der sechs Monate alten Mädchens in der untersten Bildreihe. Der Verlust von Selbstsicherheit ist schmerzvoll (Reddy 2008).



Kindliche Störungen der ­Intersubjektivität   133

wicklungsstörungen zuallererst die Motive und Emotionen für ein wahrhaft reziprokes bzw. wechselseitig intuitives Mitempfinden, das heißt für die „Sympathy“ beeinträchtigen können (s. Endnote 1). Er lässt die fundamen­ talen Implikationen angeborener Intersub­ jektivität, die am Verhalten eines Kindes de­ monstriert werden können, außen vor. In den medizinischen und psychologischen Wissen­ schaften existiert überdies eine traditionelle Tendenz zur Bevorzugung jener Perspektive, die emotionale Störungen eher als Reaktionen denn als Ursachen der abweichenden Ent­ wicklung eines kleinen Kindes ansieht – dass diese entweder direkte Konsequenzen eines einzelnen genetischen, biochemischen oder anatomischen „Fehlers“ oder das Resultat von Stress oder Trauma sind. Durch die Evidenz, wie die Entwicklung interpersonaler Gefühle und intuitiver per­ zeptueller und motorischer Fähigkeiten akti­ ve Regulatoren der Entwicklung sein können, wie sie konkrete Anforderungen an die Umge­ bung stellen und wie diese angeborenen Moti­ ve gestört werden können, scheint jedoch ein anderer Ansatz angezeigt (Reddy 2008). Im 18. Jahrhundert waren die Philosophen der schottischen Aufklärung Francis Hutcheson, Adam Smith, David Hume und Thomas Reid der Auffassung, dass menschliche Wesen mit „angeborenem Mitempfinden“ (innate sympathy) geboren werden, auf welchem in guten wie in schlechten Zeiten der gesamte soziale Austausch, Kooperation und moralische Ge­ fühle basieren (u. a. Smith 1976 [i. O. 1759]). Sie verwendeten in ihrer Moralphilosophie nicht den Begriff „Empathie“, sondern beach­ teten den essenziellen Unterschied zwischen den Empfindungen und Gefühlen für ein Ob­ jekt oder Ding (empathy) und dem Mitemp­ finden bzw. Fühlen mit einer anderen Person (sympathy), wie er im Griechischen besteht. Kinder demonstrieren eindringlich, wie ihre Gefühle bei einer Konfrontation mit ei­ ner fremden Person sind, die es nicht schafft, ihr Vertrauen in eine gehaltvolle Kommuni­ kation zu wecken, und sie können heftig ge­ gen eine Person protestieren, die sie als lie­

bevolle Bezugsperson kennen gelernt haben und von der sie befürchten, dass diese ihr ­Vertrauen missbraucht hat (vgl. Abb. 12).

7.2 Die Charakterisierung von ­Syndromen, bei denen durch Störung basaler Motive die frühe Intersubjektivität beeinträchtigt ist, sowie Möglichkeiten ihrer Therapie Ein Indiz, dass psychische und kommunika­ tive Entwicklungsstörungen tiefgründige bio­ logische Wurzeln haben im Sinne von Adap­ tationen an eine kooperative Gemeinschaft, stammt von erkennbaren Unterschieden in der Persönlichkeit wie z. B. Selbstbewusstsein oder Schüchternheit (Kagan 1994) als auch von Un­ terschieden im Geschlecht. Jungen und Mäd­ chen unterscheiden sich in ihren Aktivitäten, Interessen und im Ausdruck ihrer Emotionen. Männer und Frauen durchlaufen von Kind­ heit an ganz unterschiedliche Adaptationen hinsichtlich ihrer Teilnahme an Beziehungen und am geselligen Gemeinschaftsleben sowie der Partizipation an kulturellen Gewohnhei­ ten und Fertigkeiten. Sie unterscheiden sich in der Art ihrer Persönlichkeit. Diese Unter­ schiede, die für komplementäre soziokultu­ relle Rollen vorbereiten sollen, sind von den ersten Monaten an evident. Ganz augenfäl­ lig werden sie aber in zwei Phasen intensiver neuronaler und behavioraler Veränderung, nämlich im Vorschulalter zwischen zwei und sechs Jahren, in dem der Spracherwerb seine größten Forschritte macht, sowie im Jugend­ alter zwischen neun und vierzehn Jahren – wobei sich jedes Mal die Mädchen zuerst ver­ ändern. Sozial-emotionale Störungen (→  FS emotionale und soziale Entwicklung) und deren physiologische Korrelate weisen wich­ tige Übergangsphänomene bzw. Veränderun­ gen in den Altersstufen auf, die das Geschlecht verschieden beeinflussen, so dass folglich die Prävalenz unterschiedlicher Störungen für Mädchen und Jungen voneinander abweicht. Jungen sind nach üblichen Kriterien empfäng­

134 

Intersubjektivität und Kommunikation

licher für Entwicklungsstörungen, die sich im Verhalten niederschlagen sowie sensibler für inadäquate emotionale Unterstützung; und da, wo eine Abweichung in der Entwicklung eher bei Mädchen auftritt, kann es sein, dass diesel­ ben Entstehungsbedingungen bei Jungen an­ dere und schwerere Auswirkungen haben, was zu einer unterschiedlichen Diagnose führt. Al­ lerdings kann, wie Gillberg (1992) nahe legt, eine Veränderung der Kriterien zur Identifi­ kation von Störungen die Prävalenz für einige Störungsbilder bei Mädchen verändern. Beim Williams-Beuren-Syndrom, DownSyn­drom und Rett-Syndrom, den AutismusSpek­trum-Störungen, der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS),  der Spezifischen Sprachentwicklungsstörung (SSES) (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau), den Störungen des Schriftspracherwerbs bzw. der Dyslexie (→ Lesen und Schreiben) und bei der Schizophrenie sind die genetischen Mechanis­ men, die für die geschlechtlichen Unterschiede verantwortlich sind, zu einem gewissen Grad direkter Bestandteil der Pathologie, so dass diese Störungsbilder bei Mädchen und Jungen eine unterschiedliche Auftretenshäufigkeit ha­ ben (Aitken 2008, Aitken & Trevarthen 1997, Trevarthen & Aitken 1994). Mit einer so genannten „geistigen Behin­ derung“ diagnostizierte Kinder, wie z. B. bei der genetischen Störung des Williams-Beu­ ren-Syndroms, dem Down-Syndrom und dem Rett-Syndrom (→ FS geistige Entwick­ lung), haben zudem diverse Beeinträchtigun­ gen ihrer sozialen Reaktionen, der geteilten Aufmerksamkeit und ihrer Kommunikation über Objekte. Die Schwierigkeiten und Pro­ bleme in der Aufmerksamkeit und Koordi­ nation sogar bei schwerst geistig behinderten Kindern können durch die Kommunikation mit einem Partner reduziert werden, der die Stimulation und seine eigenen Erwiderungen an die Fähigkeiten des Kindes anpasst, Ge­ fühle und Handlungen zu teilen (→ FS kör­ perliche und motorische Entwicklung). Um­ gekehrt versagen Kinder, die mit emotionalen Störungen oder „Störungen der Empathie“ klassifiziert worden sind, in kognitiven Leis­

tungstests, und dies wird herangezogen, um zu zeigen, dass sie bis zu einem gewissen Grad „geistig behindert“ sind. Nonverbale zwischenmenschliche Kom­ munikation, geteilte Aufmerksamkeit mit gemeinsamer räumlicher Referenz und af­ fektivem Austausch sind offenkundig in der frühen Entwicklung von Sprechen und Den­ ken gleichermaßen von Bedeutung. Unzu­ länglichkeiten der nonverbalen Kommuni­ kation kennzeichnen nicht nur Störungen der Empathie, sondern auch unterschiedliche geistige Behinderungen. Eine technisch-rati­ onalisierte Reaktion auf ein klinisch festge­ stelltes Defizit in der nonverbalen Kommu­ nikation eines Kindes kann zu einer schlecht angepassten und wenig unterstützenden Kommunikation seitens der Bezugsperson führen, die das Problem des Kindes noch ver­ schlimmert (Mahoney et al. 1990). Kinder mit Down-Syndrom entwickeln nur langsam ein kooperatives Interesse an der Kommunika­ tion eines Partners und dem Gebrauch von Objekten, so dass Eltern Gefahr laufen kön­ nen, in ihren Erwiderungen zu insistierend zu werden. Sie zeigen wenig Interesse für die Ob­ jektwelt und schaffen es nicht, zwischen den Motiven des Gegenübers und dem Objektge­ brauch hin und her zu schalten, da ihre Auf­ merksamkeit schnell überfordert ist (Wishart 1991). Ein Mangel an referenziellem Blick­ kontakt und fehlende Initiativen zu Spielen führen dazu, dass Mütter Schwierigkeiten be­ kommen, die Intentionen des Kindes zu deu­ ten – etwas, was für Kinder mit sich entwi­ ckelndem Autismus ebenso zutrifft. Williams-Beuren-Syndrom und Down-Syndrom

Das Williams-Beuren-Syndrom ist im Ge­ gensatz zum Down-Syndrom ein Störungs­ bild, in dem die Sprache gut entwickelt sein kann, während andere kognitive Aspekte er­ heblich beeinträchtigt sind (Wang & Bellugi 1993). Bei Vorschulkindern mit Down-Syn­ drom und Williams-Beuren-Syndrom sind der Wortschatzerwerb und Meilensteine der motorischen Entwicklung verzögert, aber Ju­



Kindliche Störungen der ­Intersubjektivität   135

gendliche mit Williams-Beuren-Syndrom ha­ ben eine korrekte und komplexe, zuweilen allerdings ein wenig echoartige Grammatik sowie ein großes Vokabular mit ungebräuchli­ chen Wörtern. Zudem wird berichtet, dass sie große Stärken in diskursiven Fähigkeiten wie z. B. narrativer Kohäsion und dialogorientier­ tem „Turn-Taking“ besitzen. Die Prosodie ist noch nicht systematisch untersucht worden, aber sie scheint bei dieser besonderen Ent­ wicklung relativ gut erhalten zu sein, obschon etwas „überreich“ in der affektiven Tönung. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Kinder mit Williams-Beuren-Syndrom Be­ geisterung und Talent für Musik zeigen. Kin­ der mit Down-Syndrom haben im Gegensatz hierzu eine verarmte, einfache Grammatik, ei­ nen kleineren Wortschatz sowie einen redu­ zierten sprachlich-affektiven Ausdruck. Ihre musikalischen Aktivitäten fokussieren mehr auf Rhythmus (→ Musiktherapie), und es gibt auch Unterschiede in den visuo-motorischen Fähigkeiten. Zeichnungen von Kindern mit Williams-Beuren-Syndrom sind dürftig und fragmentiert, enthalten zwar einzelne Details, verlieren aber ihre Gestalt; Zeichnungen von Kindern mit Down-Syndrom sind demge­ genüber einfach aber kohäsiv und zeigen die übergreifende Form ohne Einzelheiten (→ Äs­ thetische Kommunikation). Diese Befunde le­ gen nahe, dass Kinder mit Williams-BeurenSyndrom Beeinträchtigungen im parietalen Kortex der rechten Hemisphäre, Kinder mit Down-Syndrom hingegen Defizite in der lin­ ken Hemisphäre aufweisen. Kinder mit Wil­ liams-Beuren-Syndrom zeigen hohe Kompe­ tenz in der Erkennung von Gesichtern, was die neuropsychologische Forschung als Vermögen der rechten Hemisphäre identifiziert hat, aber diese Fähigkeit könnte auch auf einer Strategie der linken Hemisphäre basieren, Merkmale zu verzeichnen. Rett-Syndrom

Mädchen in der dauerhaften, schwer geistig verzögerten Phase des Rett-Syndroms kön­ nen mit einem Partner auf dem Niveau eines

drei bis sechs Monate alten Kindes spielen: Sie können Gefühle austauschen, aber sie schaf­ fen es nicht, Gesten zu imitieren oder zu plap­ pern oder Objekte absichtsvoll zu manipulie­ ren (Kerr & Witt-Engerström 2000). Sie haben eine fluktuierende Wahrnehmung und Moti­ vation sowie Absenzen oder Phasen scheinba­ rer innerlicher Leere. Episoden der Hyperven­ tilation können mit emotionaler Panik oder konfuser Angst verbunden sein und die kom­ plexen motorischen Stereotypien tendieren dazu, anzuwachsen, wenn diese Mädchen ver­ ängstigt oder gestresst sind. Ihre Störung der Gehirnfunktionen involviert ganz eindeutig auch das autonome Nervensystem. Ihre Mo­ torik kann durch Musik oder die Prosodie ei­ ner Geschichte, die langsam mit dramatischer Betonung vorgelesen wird, in Richtung koor­ dinierterer Bewegungsmuster beeinflusst wer­ den und sie sprechen gut auf sensible inter­ aktive → Musiktherapie mit Präferenzen für fröhliche Lieder an. Das Rett-Syndrom wird normalerweise nur bei Mädchen beobachtet, aber einige Jungen scheinen ähnliche Merk­ male zu haben. Es kann aus einer Störung des X-Chromosoms herrühren, welche nahezu immer tödlich für männliche Embryos ist. Autismus-Spektrum-Störungen

Autismus (→ FS geistige Entwicklung) ma­ nifestiert sich zunächst in den ersten ein- bis anderthalb Jahren, wenn der zerebrale Kortex sich zügig entwickelt. Kinder mit AutismusSpektrum-Störungen orientieren sich nicht in üblicher Weise an Personen und zeigen auf Objekte, um diese anderen zu zeigen bzw. fol­ gen nicht in üblicher Weise dem Zeigen ande­ rer. Sie haben Schwierigkeiten damit, emotio­ nale Gesichtsausdrücke oder den emotionalen Ausdruck in der Stimme zu erkennen sowie Fragen über mentale Zustände – die sog. „sta­ tes of mind“ – zu verstehen (Trevarthen et al. 1998). Das Hauptkennzeichen, identifiziert durch Leo Kanner (1943), ist eine Unfähigkeit, einen normalen kommunikativen Kontakt zu anderen zu entwickeln sowie ein intersubjekti­ ves Verstehen dafür, was andere Personen in­

136 

Intersubjektivität und Kommunikation

tendieren (vgl. Abb. 14, Diagramm III). Das Testen der Intelligenz hinsichtlich der Fähig­ keit zur Interpretation der mentalen Zustände anderer Personen enthüllt, dass das Denken eines „high functioning“ Kindes durch einen Verlust der Kohärenz mentaler Aktivität sowie durch Unzulänglichkeiten in der Imagination,

der Vortäuschung beim „so tun als ob“ oder der Verbalisierung einer „Theory of Mind“ charakterisiert ist. Diese Interpretation steht im Einklang mit Gillbergs Behauptung, dass es ihnen an „Empathie“, das heißt am Nach­ denken über Emotionen mangelt. Die meisten vermeiden Blickkontakt und lächeln nicht in

Abb. 13: Eine Musiktherapeutin hilft einem autistischen Jungen dabei, das gemeinsame Spielen eines Liedes genießen zu können. Baishali Mukherjee ist eine bengalische Musikerin und Psychologin, die eine Form der Musiktherapie für au­ tistische Kinder in Indien entwickelt, indem sie indische Musik aus der Region, in der sie arbeitet, benutzt. Ihre Therapiesitzung mit einem nonverbal kommunizierenden fünf Jahre alten Jungen mit der Diagnose „Autistisches Spektrum“ in einer Schule der „Spastic Society of Bangalore“ veranschaulicht die Prinzipien einer mitempfin­ dend-sympathetischen, unterstützenden und interaktiven Therapie, begleitet durch Musikinstrumente. Der Junge fühlt sich zur Trommel hingezogen und spielt auf ihr rhythmische Phrasen (A). Baishali hört aufmerk­ sam zu und antwortet hierauf echoartig mit ihrer Stimme. Wenn er pausiert, um zuzuhören (B), wartet sie eben­ falls. Sobald er wieder beginnt, begleitet sie ihn erneut mit Gesang und beiläufigen Schlägen auf ihrer Trommel. Sie spielen einige Phrasen gemeinsam und er schaut sie hoch erfreut über die gemeinsam produzierte Musik an (C). Er nimmt die Trommel und rückt näher an sie heran, so dass ihr Spiel sich in engerer Kooperation fortsetzen kann (D). Zehn Therapiesitzungen dieser Art können bereits zu großen Verbesserungen in der Fähigkeit des Kindes zur Konzentration, zur Koordination von Handlungen und Ausdruck sowie zur freudigen Teilhabe an Kommunikation führen. Diese Fortschritte können sich wiederum positiv im Unterricht und Zuhause auswirken.



Kindliche Störungen der ­Intersubjektivität   137

der Erwiderung eines Grußes. All dies scheint die Manifestation einer Störung in der sozioaffektiven Regulierung des sich entwickeln­ den Gehirns zu sein (Aitken 2008). Allerdings können Kinder mit Autismus Freude und de­ fensive Emotionen wie Traurigkeit und Angst ausdrücken. Sie entwickeln enge Bindungen und zeigen Emotionen der Angst und Nie­ dergeschlagenheit, wenn sie einen Mangel an mitfühlender Erwiderung von anderen emp­ finden. Im Gegensatz zum Rett-Syndrom äu­ ßert sich Autismus in sehr vielen Variationen. Er ist bei Jungen mindestens vier mal häufiger als bei Mädchen. Die Symptome des Autismus verweisen auf anormale Funktionen der neurochemischen Mechanismen, die die dynamische Balance von Handlung und Erleben regulieren. In der Kindheit manifestieren sie sich als Probleme in der zeitlichen Koordination von Handlung, Aufmerksamkeit und Reaktionen auf ande­ re (St Clair et al. 2007, Frank & Trevarthen 2011). Hörstörungen, die die Diskrimination der schnellen Modulationen des Sprechens in Kombination mit anderen Anzeichen anormaler zeitlicher Diskriminierung be­ einträchtigen, konnten in unterschiedlichen klinischen Populationen nachgewiesen wer­ den, so u. a. bei Kindern mit Dyslexie, Spe­ zifischer Sprachentwicklungsstörung (SSES) (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau), Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstö­ rung (ADHS) (→ FS emotionale und sozia­ le Entwicklung) und Autismus-SpektrumStörungen. Die ausgedehnte Dysfunktion des Gehirns, die am Verhalten von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen sichtbar wird, resultiert aus Störungen in paramedia­ nen limbischen und frontalen Teilen sowie in Teilen des Zerebellums, die alle für die Regu­ lation aufeinanderfolgender Bewegungen und Aufmerksamkeitsstrategien wichtig sind. Dem Autismus scheint eine vielfältige und äußerst variable Ätiologie zugrunde zu lie­ gen. Virusinfektionen oder andere Störun­ gen in frühen intrauterinen Phasen sind eine mögliche Ursache. Es gibt eine hohe Inzidenz für das Fragile-X-Syndrom, und eine ganze

Bandbreite anderer genetischer Anormalitä­ ten scheint ein Kind für die Entwicklung ei­ ner autistischen Störung zu prädisponieren, was den Grad der Übereinstimmung zwi­ schen Zwillingen erklärt. Allerdings ist die Idee eines „Autismus-Gens“ nicht haltbar, und identische Zwillinge können hinsichtlich eines möglichen Autismus unterschiedlich veranlagt sein. So wie die Mehrheit der schwerst geistig behinderten Kinder, Mädchen mit Rett-Syn­ drom eingeschlossen, antworten Kinder mit Autismus positiv auf mitfühlend-sympathe­ tischen Ausdruck eines anderen Menschen. In fast allen Fällen kann ihre Aufmerksam­ keit und Motivation durch → Musiktherapie oder Bewegungstherapie (→ Psychomotorik) gewonnen werden (Trevarthen et al. 1998) (vgl. Abb. 13). Dies ist ein Beleg für die Er­ haltung der primären, für die Koordination von Handlungen und Interessen mit ande­ ren Personen zuständigen Motiv-Systeme, die das Spiel zwischen Mutter und Kind lebendig werden lassen (Frank & Trevarthen 2011). Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts­ störung (ADHS) (→ FS emotionale und sozia­ le Entwicklung) betrifft bis zu 3 % aller Kinder, zumeist Jungen; allerdings ist es in einigen Fäl­ len nicht möglich, es von den Autismus-Spek­ trum-Störungen zu unterscheiden. Die Dia­ gnose von ADHS ist gestiegen, parallel dazu auch die Verschreibung von Psychostimulan­ tien. Panksepp (2007) weist darauf hin, dass das steigende Vorkommen von ADHS auf ei­ nen Mangel an Spielgelegenheiten für Vor­ schulkinder zurückgeführt werden kann, bei denen sie sich an natürlichem, selbst-erzeug­ tem sozialen Spiel beteiligen können. Er stellt zudem heraus, dass „Spielen“ die hemmen­ de Kontrolle des Verhaltens von heranwach­ senden Tieren erleichtert, während Psycho­ stimulantien den Spieltrieb reduzieren. Er schlägt vor, dass „die Gesellschaft für Risiko­ kinder ‚Schutzgebiete“ zum Spielen einrich­

138 

Intersubjektivität und Kommunikation

Abb. 14: Wie die Psyche die Gegenwart eines „Anderen“ erfasst. Diagramme, die durch Stein Bråtens Theorie des „Virtuellen Anderen“ (Bråten 1988, 1998) inspiriert sind. Jedes Subjekt innerhalb eines kommunikativen Austauschs verfügt über eine Repräsentation des eigenen Selbst (das sog. „Virtuelle Selbst“ = VS) und einer Repräsentation des Anderen (der sog. „Virtuelle Andere = VA), welche sowohl innerhalb als auch zwischen den Subjekten in aktiver Beziehung stehen (vgl. zum generellen Modell Diagramm 0). Die Intrinsische Motiv-Formation (Intrinsic Motive Formation, IMF; Trevarthen & Aitken 1994) ist dabei das integrative System des Gehirns, welches die motivierten Handlungen und das Gewahrwerden eines kohärenten Selbst reguliert. 

Kindliche Störungen der ­Intersubjektivität   139



I  NORMALE ENTWICKLUNG In der Interaktion zwischen einem normal entwi­ ckelten Kind und einer glücklichen und rezeptiven Bezugsperson unterstützen sich die dualen IMF-Sys­ teme beider Subjekte wechselseitig durch rhythmi­ schen, mitempfindend-sympathetischen Austausch, was an der Synchronizität und dem „turn-Taking“ der Äußerungen sowie an einer klaren und flexiblen emotional getönten Phrasierung – mit „Affekt-Attu­ nement“ (Stern et al. 1985) – sichtbar wird. ➝ K-VS = vom Kind ausgedrücktes Selbst. ➝ K-VA = vom Kind erlebter Anderer (Bezugsperson). ➝ B-VA = von Bezugsperson erlebter Anderer (Kind). ➝ B-VS = von Bezugsperson ausgedrücktes Selbst. II  POSTNATALE DEPRESSION In einer postnatalen Depression ist bei der Mutter sowohl das verinnerlichte Modell ihres Selbst als auch ihr Selbstausdruck verzerrt (= B-VS ~?). Als Bezugsperson ist ihr Erleben des Kindes zudem nicht abgegrenzt von ihrem eigenen Selbst und zugleich verstört (= B-VA/VS ~?). Als Konsequenz entspricht die kindliche Wahrnehmung der Mutter nicht wirk­ lich dem angeborenen Modell bzw. der erwarteten „virtuellen Bezugsperson“ und ist ebenfalls verstört (= K-VA ~?). Hierdurch wird in Folge das vom Kind ausgedrückte Selbst geschwächt (= K-vs). III  AUTISMUS Bei einem autistischen Kind ist sowohl das verinner­ lichte Modell des eigenen Selbst (= AK-VS) als auch die Repräsentation eines Anderen als Partner in

Kommunikation und Kooperation wenig differen­ ziert. Das Erleben des Anderen (der Bezugsperson) ist nicht eigenständig abgegrenzt und wird mit dem Selbst-Erleben verwechselt (= AK-VA/VS). Das Verhalten des autistischen Kindes verwirrt den Part­ ner, so dass er ein verzerrtes Modell der kindlichen Motive (= B-VA ~?) entwickelt, welche wiederum sein eigenes ausgedrücktes Selbst beeinträchtigen und schwächen können (= B-vs). IV  FRÜHGEBURT Ein früh geborenes Kind hat eine unentwickelte Repräsentation des Selbst (= k-vs) und des Anderen (= k-va) und reagiert nur auf einige wenige Kompo­ nenten der liebevollen Kommunikation und Fürsorge der jeweiligen Bezugsperson. Dieses Erleben verstört deren internes Modell des Kindes (= B-VA~?) und kann z. B. bei der Mutter wiederum zum Verlust der eigenen Sicherheit führen und das ausgedrückte Selbst schwächen (= B-vs). V SCHIZOPHRENIE Eine schizophrene Person hat eine verzerrte Reprä­ sentation des Selbst (= SZ-VS~?) und des Anderen (= ­SZ-VA~?), einhergehend mit einer verwirrten narrativen Interaktion im Erleben und in der Wahr­ nehmung der Gedanken und des Verhaltens der Bezugspersonen. Wie beim Autismus produziert dies beim Kommunikationspartner ein verstörtes Erleben der schizophrenen Person (= B-VA~?), mit dem Risiko, dass dadurch auch sein eigenes ausgedrücktes Selbst geschwächt werden kann (= B-vs).

Abb. 14:  Wie die Psyche die Gegenwart eines „Anderen“ erfasst. (Fortsetzung)

ten könnte – und zwar als Alternative zum Gebrauch der die Verspieltheit zerstörenden Psychostimulan­tien –, um so die Reifung der Frontallappenregion sowie die gesunde Bil­ dung einer pro-sozialen Einstellung zu unter­ stützen“ (Panksepp 2007, 57). Schizophrenie

Schizophrenie, die man lange Zeit vornehm­ lich als Denkstörung angesehen hat, wird oft­ mals bis ins Jugendalter nicht diagnostiziert, obwohl ungewöhnliches intersubjektives und expressives Verhalten bereits im frühen Ver­ halten von Kindern beobachtet worden ist, die später als schizophren diagnostiziert wurden (Abb.  14, Diagramm V). Solche Verhaltens­ besonderheiten könnten aus Unterschieden

in den vorgeburtlichen Entwicklungsbedin­ gungen, aus Komplikationen bei den Geburts­ wehen und der Entbindung, aus mütterlichen Depressionen kurz vor der Entbindung, ge­ ringem Geburtsgewicht und kurzer Schwan­ gerschaft resultieren – alles Faktoren, bei de­ nen nachgewiesen wurde, dass sie signifikant häufiger mit der Geburt von Kindern asso­ ziiert werden, die im Nachhinein als schizo­ phren diagnostiziert werden. Eine wichtige Veränderung in der Theorie darüber, wie Be­ wusstsein erzeugt wird, schreibt die Wahnvor­ stellungen der Schizophrenie nicht gestörten logischen Denkprozessen innerhalb der Kog­ nition zu, sondern vielmehr einer ganz grund­ legenden Störung im Selbstbild und der Koor­ dination von Absichten oder „Störungen des Erlebens“ mit labilen, zu Furcht und sozialer

140 

Intersubjektivität und Kommunikation

Angst tendierenden Emotionen (Gallagher 2007, Mundale & Gallagher in press). Anor­ malitäten in den frühen Interaktionen kön­ nen mit einer komplexen Neuropathologie in Verbindung gebracht werden, die mit einer vorgeburtlichen Unterbrechung der Prozesse, die die kortikal-subkortikalen Pfade formen, übereinstimmen. Innerhalb der Population schizophrener Erwachsener ist die abweichen­ de Morphologie des Gehirns mit Hinweisen auf eine frühe Verhaltensstörung assoziiert.

7.3 Die Auswirkungen ­nicht-responsiven oder ­desorganisierten Verhaltens der Eltern Postnatale Depression

Die postnatale Depression einer Mutter ver­ stört unmittelbar das Verhalten des Kindes und kann seine frühe kognitive Entwicklung beeinträchtigen (Tronick & Field 1986, Mur­ ray & Cooper 1997). In einigen Fällen konn­ te gezeigt werden, dass Anomalien des Kindes, insbesondere die, die die Regulation seiner Be­ wegungen betreffen, Gründe für das Unglück­ lichsein und die Verstörtheit der Mutter sind. Es ist mit Bestimmtheit möglich, dass unein­ deutige Reaktionen des Kindes sowie schwa­ che Reaktionen auf die mütterliche Fürsorge Faktoren sein können, die einen depressiven Zustand der Mutter herbeiführen. Aber es ist auch gezeigt worden, dass ein verstörter emo­ tionaler Zustand der Mutter die Entwicklung des fötalen Gehirns noch vor der Geburt be­ einträchtigen kann. Sogar auf dieser Stufe ent­ falten sich die Auswirkungen emotionaler Stö­ rungen in der Vorwegnahme wechselseitiger Regulation von Handlungen und Interessen. Die Deformationen, die in den Interaktionen von Müttern mit postnataler Depression mit ihren kleinen Kindern beobachtet wurden, werden als Faktoren angesehen, die eine direk­ te Auswirkung auf die Entwicklung des kind­ lichen Neurotransmittersystems haben, und zwar mit der Folge einer erhöhten Vulnerabi­

lität des Kindes für spätere affektive Störun­ gen. Depressive Mütter schaffen es nicht, auf die Auslösereize ihres Kindes zu antworten. Sie reagieren sehr langsam auf die Geräusche oder expressiven Gesten ihres Kindes, und ihre Sprechweise verliert die rhythmischen und melodischen Eigenschaften des norma­ len „Motherese“ oder des „Kindgerichteten Sprechens“ (Infant Directed Speech) (Mar­ wick & Murray 2009). Die Einbußen in den gemeinsamen Emotionen und Motivatio­ nen sind Belege für die Zerbrechlichkeit der „Co-Regulation“ in der Mutter-Kind-Kom­ munikation in der frühesten Kindheit (vgl. Abb.  14, Diagramm II). Falls die Mutter als primäre Bezugsperson emotional abwesend ist, kann das Kind kein gemeinsam getrage­ nes Verstehen der mit ihr gemachten Erfah­ rungen entwickeln (Gratier & Apter-Danon 2009). Während eine postnatale Depression die Wahrscheinlichkeit unsicherer Bindung in der frühen Kindheit ansteigen lässt, hat sie jedoch weitaus auffälligere und nachhaltige­ re Implikationen für die gesamte kognitive Entwicklung. Die Kinder depressiver Mütter zeigen schwache Leistungen in Aufgaben zur Objektpermanenz nach Piaget und niedrige Werte im Bailey-Entwicklungstest (Murray & Cooper 1997, Radke-Yarrow 1998). Es gibt deutliche Korrelationen zwischen den elterlichen Erinnerungen an das emo­ tionale Beziehungsgefüge in ihrer eigenen Kindheit und der Bindung, die sich mit ih­ rem eigenen Kind bis zum zweiten Lebens­ jahr etabliert hat. Es ist von Bedeutung, dass die Emotionen des Kindes in seiner Bezie­ hung zu Vater und Mutter jeweils separat von der individuellen emotionalen Stärke und Be­ reitschaft eines Elternteils abhängen, Gefüh­ le und Interessen gemeinsam mit dem Kind zu teilen. Der kindliche Ausdruck seiner Bin­ dung zu einem bestimmten Elternteil hängt davon ab, wie Emotionen mit diesem Indivi­ duum geteilt werden können. Harmonische und wechselseitig responsive Beziehungen sind durch eine elterliche Sprechweise cha­ rakterisiert, die das Fühlen und das Erleben



Kindliche Störungen der ­Intersubjektivität   141

des Kindes fokussiert und kaum Direktiven, kontrollierende Statements oder Korrektive enthält. Diese Parameter stehen in einem po­ sitiven Zusammenhang mit den zukünftigen Lernfortschritten des Kindes in der Sprach­ entwicklung. Erwachsene, die an emotiona­ lem Rückzug leiden oder der Unfähigkeit, mit anderen Personen mitzufühlen, tendie­ ren dazu, entweder selbstzentrierte oder pa­ ranoide Deutungen über bedeutsame andere Personen vorzunehmen. Dies ähnelt den Äu­ ßerungen depressiver Mütter an ihre Kinder (Gratier & Apter-Danon 2009). Murray und Kollegen berichten, dass die Sprechweise depressiver Mütter nicht in der Wiederholungskomplexität oder der Syntax abwich, sondern hinsichtlich Inhalt und emo­ tionaler Tönung: Sie war weniger auf das Erle­ ben des Kindes und dafür mehr auf die sonsti­ ge Tagesordnung der Mutter fokussiert. Wenn sie auf den unmittelbaren Mutter-Kind-Kon­ takt bezogen war, war die Mutter „mäkelig“ und ablehnend und bezog sich weniger auf das Kind als intentionalen Akteur: „Demnach ist es für eine imitative und stimmige Respon­ sivität erforderlich, dass der Erwachsene auf das kindliche Erleben fokussiert. In ähnli­ cher Weise sagt die Untersuchung einzelner physiologischer Zustandsbedingungen und Motivbildungen innerhalb eines komplexen kindlichen Verhaltensrepertoires etwas über die Wahrnehmung des Kindes als empfin­ dungsfähig und intentional Agierenden aus“ (Murray et al. 1993, 1997). Die natürlichen interpersonalen Fähigkei­ ten eines Kindes haben mächtige Auswirkun­ gen auf Erwachsene, die die Kommunikation suchen, und können Störungen verursachen. Kindliches Vermeidungsverhalten erzeugt in einem erwachsenen Partner ein gedämpftes Verhalten, und wenn der semantische Gehalt der Sprache einer Mutter zu ihrem Kind ana­ lysiert wird, zeigt sich, dass dieser ihre Wahr­ nehmung der kindlichen Gefühle und seiner Antworten auf sie reflektiert als auch die Ge­ fühle von Sicherheit oder Angst in ihr selbst. Entwicklungsbedingte Veränderungen der kindlichen Objekt-Wahrnehmung, des Selbst-

Bewusstseins und seines Temperaments füh­ ren zu umfangreichen Transformationen dessen, was Mütter sagen, sowie der paralin­ guistischen Dynamik und der Ausdrucksfor­ men. Wenn es eine Rolle spielt, dass ein Kind, das unübliches Vermeidungsverhalten zeigt und dissoziativ antwortet, eine postnatale De­ pression in einer dafür empfänglichen Mut­ ter mit auslösen kann, dann ist es umgekehrt ebenso der Fall, dass die Mutter Unterstüt­ zung von einem glücklichen Kind empfangen kann. Ein Erwachsener, der zunächst unsi­ chere Reaktionen auf die Anforderungen des Kindes nach liebevoller Begleitung hat, kann durch den kindlichen Ausdruck zugewandter Verspieltheit und herzlicher Geselligkeit in Richtung eines offeneren und responsiveren Zustandes seiner emotionalen Gesundheit ge­ fördert werden, und dieser Prozess kann wie­ derum durch das unterstützende Feedback eines Therapeuten oder einer Therapeutin gestärkt werden. Video-Feedback bzw. video­ gestützte Anleitung, welche die Aufmerksam­ keit auf die positiven Aspekte des Spielens des Erwachsenen mit dem Kind lenken, können eine große Hilfe für eine derartige Arbeit mit einem verzweifelten Elternteil sein (vgl. 8). Fraiberg (1980) demonstrierte die wichtige Rolle, die ein Kind als „Co-Therapeut“ in ei­ ner sorgfältig durchgeführten Behandlung ei­ ner emotional schwer kranken Mutter spielen kann. Die Erforschung der Effekte eines unsen­ siblen oder desorganisierten „Mothering“ auf das zukünftige Leben der Kinder sowie der Auswirkungen einer mütterlichen postna­ talen Depression verweist darauf, dass zwar eine emotional verarmte Responsivität auf das Kind zu Vermeidungsverhalten und emo­ tionaler Instabilität führen kann, aber die nachhaltigsten Effekte diejenigen sind, die die Motivation für das Lernen beeinträchti­ gen, denn dies korreliert am deutlichsten mit der Abwesenheit gemeinsamer Interessen in der Exploration und im Spiel. Ein Kind ist beschaffen, nicht nur die emotionale Erfül­ lung seines hedonistischen Selbst zu suchen,

142 

Intersubjektivität und Kommunikation

das sich vom Annehmlichkeiten und Pfle­ ge bringenden Anderen unterscheidet, son­ dern Erwiderungen auf seine erforschenden und kreativen Motive und die Entdeckung gemeinsamer Seinszustände in Freundschaft oder Kameradschaft. Psycho-soziale Störun­ gen bei Kindern, die nicht auf Fehler in der vorgeburtlichen Gehirnentwicklung zurück­ geführt werden können, sind gewöhnlich die Konsequenz kontinuierlicher liebloser Pflege und/oder von Missbrauch sowie tiefgreifen­ der Deprivation durch die Umgebung (Daw­ son & Fisher 1994). Auch wenn die Unter­ stützung ihrer Entwicklung unterbrochen oder zeitweise nachteilig ist, zeigen Säuglin­ ge und Kleinkinder eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit oder „Resilienz“ bzw. eine Fähigkeit zu überleben, aber sie können dennoch aus anhaltender Misshandlung oder Vernachlässigung einen dauerhaften Verlust ihrer emotionalen Stärke erleiden.

7.4 Langfristige Folgen von Stress oder Traumatisierung in der ­frühen Entwicklung Menschliche Emotionen, insbesondere jene, die uns mit Hoffnung und Freude inspirieren oder die uns in furchtsamer Einsamkeit oder Wut beim Erkennen von Gefahr bzw. Un­ recht durch andere zurücklassen, versuchen den besten Nutzen aus unserem Leben als sich voneinander unterscheidende Personen zu zie­ hen – das heißt als Mitglieder einer menschli­ che Gemeinschaft, die zugleich äußerst koope­ rativ und konkurrierend ist. Wie wir auf Stress oder auf die Wahrnehmung einer potenziell stressvollen Situation reagieren  – entweder mit dem Versuch, unsere Tatkraft zu steigern und eine positive Veränderung zu erreichen oder vor ihr zu flüchten oder sie zu vermei­ den, falls sie furchteinflössend ist –, hängt von den in uns erregten Emotionen ab und von deren Effekten, die sie zum Selbstschutz auf unseren Körper sowie auf unsere Handlun­ gen und unsere Wahrnehmung haben, insbe­ sondere im Austausch mit anderen (→ Kog­

nition und Emotion). Die in wechselseitiger Achtsamkeit liegende Zuversicht, zusammen mit jedmöglicher Kapazität zum Mitempfin­ den im Wissen und Handeln, ist durch Emo­ tionen von Stolz und Scham reguliert, die Ver­ trauen und Respekt zwischen uns ausdrücken. Die Erschaffung und die Erinnerung aller ge­ meinsamen Bedeutung und aller kooperativen Arbeit hängt von ihnen ab. Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), als tiefgehendste destruktive Folge von extre­ mem Stress auf die Gehirnfunktionen, ist eine „Physioneurose“, das heißt eine psychische Störung, die auf der Persistenz bzw. dem Fort­ bestehen biologischer Notfallreaktionen ba­ siert (van der Kolk 2003). Wenn ältere Kinder Reizen ausgesetzt sind, die mit dem ursprüng­ lichen Trauma assoziiert sind oder sie daran erinnern – z. B. Zeuge von Gewalt gewesen oder selbst misshandelt oder entführt worden zu sein –, können kritische neuronale Pfade, die mit dem früheren Erleben dieser Bedro­ hung verbunden sind, reaktiviert werden. Die Kinder können dann zu Symptomen des PTBS tendieren, inklusive schwacher Impulskon­ trolle, selbstverletzendem Verhalten, Phobien, Ängsten und depressiven Zuständen. Trauma­ tische Erinnerungen bewahren sensorische und emotionale Eindrücke, die stabil sind und voraussichtlich durch das ganze Leben hin­ durch mit großer Lebendigkeit immer wieder­ kehren, wenn sie durch entsprechende Trigger ausgelöst werden. Das Opfer kann die Gefüh­ le und die ins Bewusstsein zurückgebrachten Gedanken nicht artikulieren und kann auch keine „Handlungslinie“ oder „individuelle narrative Geschichte“ für das Erlebte formu­ lieren. Solche Probleme vermindern ernsthaft das Vermögen eines Kindes, sich ohne Ablen­ kung mit langfristigen Aktivitäten zu befassen oder ein Spektrum von Handlungsalternativen zu erlernen, ohne desorganisiert zu sein oder zu impulsiv auf eine dieser Alternativen zu reagieren. Die Befolgung komplexer sozialer Regeln wie das Verstehen schematischer Re­



Intersubjektive ­Therapien für kommunikative und ­emotionale Störungen   143

präsentationen der Wirklichkeit sind gleicher­ maßen beeinträchtigt. Eine posttraumatische Belastungsstörung ist eine ernsthafte Gefährdung des MutterKind-Systems und ein Grund für besondere Achtsamkeit (Schechter 2004). Eine Frau, die ein Trauma erlebt hat – Misshandlung in der Kindheit eingeschlossen –, kann den Ausdruck der Bedürfnisse ihres eigenen Kindes beängs­ tigend finden. Diese können bei ihr Unbeha­ gen und emotionale Instabilität herbeiführen, die dazu führen können, dass sie sich unsen­ sibel oder verletzend ihrem Kind gegenüber verhält. Ein Kind in der Obhut einer Mutter, die an einer posttraumatischen Belastungs­ störung leidet, läuft Gefahr, verzweifelte Be­ strebungen zu entwickeln, um Befriedigung zu finden und desorganisierte Bindung her­ zustellen. Diese prädisponiert das Kind im späteren Leben, ernsthafte emotionale Pro­ bleme zu entwickeln – mit den eigenen El­ tern oder in der Adoption (→ FS emotiona­ le und soziale Entwicklung). Ein Zirkel aus Angst und Konfusion kann sich entwickeln, der alle Versuche der Familie unterbricht, als eine menschliche Gemeinschaft zu funktio­ nieren, in welcher jeder jeden unterstützt. Die Motive eines Kindes, Kommunikation mit anderen zu erbitten, durch sie in Beziehung zu treten und von ihr zu profitieren, helfen jedoch zu erklären, wie sogar schwer ver­ nachlässigte und misshandelte Kinder eine eindrucksvolle Widerstandsfähigkeit zeigen und in der Kindheit, in der Adoleszenz und in erwachsenen Beziehungen einen Weg (wie­ der)entdecken können, der bereichernd und produktiv für eine mit Stolz erfüllte Lebens­ geschichte ist. Kinder benötigen eine zur Ver­ fügung stehende, beständige und responsive Begleitung, aber all diese Komponenten kön­ nen durch Angst und Deprivation innerhalb der Gemeinschaft, in der die Bezugspersonen selbst leben, geschwächt sein. Aber Kinder sind erfinderisch und zumindest einige kön­ nen sich selbst schützen, wenn die elterliche Zuwendung zwar mangelhaft in der Sensibi­ lität ist, aber noch zum Überleben reicht. Mit viel Glück kann ein kleines Kind zu einem

Katalysator für eine besseres Familienleben werden (Gomes-Pedro et al. 2002). Besonders ergreifend sind die Lebensgeschichten von Kindern, die in eine Pflegefamilie genommen oder adoptiert worden sind, weil ihre biologi­ schen Eltern sie vernachlässigt oder misshan­ delt haben oder weil ihr Heim und ihre Fa­ milien durch gewaltsame Umstände zerstört worden sind. Adoptiveltern sind oft Paare, die eine lange schwierige Phase hinter sich haben, in der sie auf eigene Kinder gewartet haben. Sie verpflichten sich, für die Pflege und die positive Entwicklung geschädigter Kinder zu sorgen, die völlig verstört, angstvoll und wü­ tend sind, da sie Erinnerungen in sich tragen, die sie kaum selbst regulieren können. Die Er­ fahrungen dieser Eltern und Kinder sowie der Sozialdienste und Kliniker, die deren gemein­ same Anstrengungen um eine Entlastung von Stress und Verzweiflung und um eine glückliche Zukunft unterstützen, können uns viel über die Zerbrechlichkeit und den Res­ sourcenreichtum menschlicher Motive so­ wie über die Regulation von Gefühlen und neuen Erfahrungen in Bindungsbeziehungen beibringen (Hughes 2006, Archer & Burnell 2003).

8 Intersubjektive ­Therapien für kommunikative und ­emotionale Störungen 8.1 Postnatale Diagnostik als ­wertvolle Lernerfahrung für neue Eltern – „Kangarooing“ und intime ­Kommunikation mit ­Frühgeborenen oder ­Risikokindern Da die Dispositionen eines Säuglings bei der Geburt von einzigartigen Entwicklungspfa­ den der vorgeburtlichen Reifung von Antrie­ ben zur wechselseitigen Regulierung vitaler Zustände und Spannungskontrolle sowie von

144 

Intersubjektivität und Kommunikation

Motiven zum Sammeln von Erfahrungen aus explorativer Aktivität abhängen, entstehen individuelle Unterschiede in der sich entwi­ ckelnden Persönlichkeit, dem Temperament und der kognitiven Entwicklung (Trevarthen et al. 2007). Diese wiederum sind durch viele vorgeburtliche Faktoren beeinflusst: von den Genen über die Versorgung mit Nährstoffen bis hin zur physiologischen Gesundheit der Mutter. Die reichhaltige Verschiedenheit der Erwiderungen und Initiativen der Neugebore­ nen, die in detaillierter postnataler Diagnostik beobachtet wurde (Brazelton & Nugent 1995), belegt diese Variabilität des Potenzials der menschlichen Natur zum Zeitpunkt der Ge­ burt. Sogar bei einem ganz zarten und schwa­ chen Neugeborenen kann die Demonstration seiner Sensibilität und aktiven Motive für den Austausch mit der Welt und insbesondere mit den Menschen, die engen Kontakt und Kom­ munikation mit ihm suchen, ein wichtiges Hilfsmittel sein, um eine liebevolle und res­ ponsive Elternschaft aufzubauen. Zur Diagnostik des Verhaltens von Neu­ geborenen sind systematische Prozeduren entwickelt worden, die in hohem Maße die Erkennung von Problemen in der Betreu­ ung Neugeborener verbessern. Die „Brazel­ ton Neonatal Behaviour Assessment Scale“ (­BNBAS) (Brazelton & Nugent 1995) und an­ dere ähnliche Diagnostikinstrumente wer­ den benutzt, um Eltern die Fähigkeiten des Kindes zu demonstrieren und dadurch die Entwicklung früher Interaktionsmuster zu begünstigen – eine Methode, die in Grup­ pen mit hohen Risiken signifikant die Mor­ bidität reduzieren kann. Die Schwierigkeiten beim „Mothering“ der schwachen oder des­ organisierten inneren Antriebe und des Ver­ haltens eines Neugeborenen, das weit vor der normalen Zeit geboren wurde, entstehen teils als direktes Resultat früher Separierung von Kind und Mutter zwecks Betreuung auf der Intensivstation und teils als Konsequenz der physischen und physiologischen Verletzlich­ keit des frühgeborenen Säuglings, welches anhaltende Hirnschädigungen haben kann. Die Mutter oder eine andere nahe Bezugs­

person ist durch das unreife Verhaltensreper­ toire und die unentwickelte psychologische Koordination des frühgeborenen Säuglings irritiert (vgl. Abb. 14, Diagramm IV). Annä­ hernd am normalen Termin geborene Säug­ linge haben hingegen eine ausreichend weit entwickelte Bewusstheit für die Gefühle und Motive, die die Mutter in ihrer Stimme und ihrem „Handling“ ausdrückt. Sogar das vi­ suelle (Wieder)Erkennen von Gesicht und Händen ist möglich, wie es in den Imitations­ studien erwiesen ist, die weiter oben zitiert wurden. All diese feinfühligen Sensibilitäten und Reaktionen können in einem sehr viel zu früh geborenen Baby geschwächt oder gar nicht vorhanden sein. H. Als (1995) berichtet über die entwick­ lungsfördernden Effekte des so genannten „Kangarooing“ bzw. der „Känguruh-Metho­ de“ – einer individualisierten Pflege von Früh­ geborenen mit sehr geringem Geburtsge­ wicht, welche Hautkontakt mit Mutter oder Vater einbezieht. Positive Effekte sind dabei für die perzeptuell-kognitive und die mo­ torische Entwicklung innerhalb der ersten sechs Lebensmonate nachgewiesen worden. Anhaltendes Schreien im Säuglingsalter und Probleme bei der Ernährung und bei der Eta­ blierung normaler Schlaf-Wachheits-Zyklen sind bei einigen Kindern später mit schlech­ teren Schulleistungen und umfassendem hy­ peraktiven Verhalten verbunden. Es konnte gezeigt werden, dass eine Therapie mithilfe des Kangarooing eine wirksame Methode der Prävention, der Minimierung und des Stop­ pens des Schreiens bei Säuglingen ist. Ein wechselseitig regulierter vokaler Austausch mit einem zwei Monate zu früh geborenen Säugling mittels Kangarooing zeigt die Ab­ bildung 2: eine Situation, die beim Baby das Hören der Stimme des Erwachsenen sowie das Empfinden der Vibrationen, die diese er­ zeugt, begünstigt.



Intersubjektive ­Therapien für kommunikative und ­emotionale Störungen   145

8.2 „Developmental Guidance“ für gestresste und psychisch kranke Mütter Im Modellversuch eines Interventions-Pro­ gramms, das bei Kindern und ihren Müttern unterschiedliche therapeutische Techniken an­ wendet, in denen das Kind als „Co-Therapeut“ betrachtet wird, hat Fraiberg (1980) gezeigt, dass psychisch schwer kranke Mütter außer­ ordentlich von einer Unterstützung bezüglich ihres Antwortverhaltens auf ihre Kinder so­ wie von einer „Anleitung zur Entwicklungs­ förderung“ (developmental guidance) profitie­ ren konnten, die sie für die Reaktionen des Kindes sensibilisierten, die erwartet werden können, wenn Kommunikation und Fürsorge seine Bedürfnisse treffen. In der Behandlung postnataler Depressionen ist bestätigt worden, dass Interventionen zur Förderung verbesser­ ter früher Interaktion, inklusive musikalischer „Stimmungs-Induktion“, signifikante Verbes­ serungen sowohl für die Mütter als auch für ihre Säuglinge erzielen (Murray & Cooper 1997). Therapien, die darauf abzielen, die Stimmung der Mutter zu verbessern und die Erregung des Säuglings zu verringern – inklu­ sive des Abspielens entspannender Musik und der Säuglingsmassage –, können die Dyade für Ansätze empfänglicher machen, die auf die Verbesserung der Interaktionsform selbst fo­ kussieren und die Mutter einladen, ihr Baby zu imitieren und die Effekte zu überwachen. Zu­ dem können sie die Sensibilität einer depressi­ ven Mutter für die Hinweisreize des Säuglings steigern. Die Teilnahme an Säuglingsmassa­ ge-Stunden gemeinsam mit anderen Müttern kann einer Mutter mit Depressionen zugute kommen und die Mutter-Kind-Interaktion er­ leichtern. Bei Kleinkindern beeinträchtigt ver­ meidendes Verhalten der Mutter das Erlernen der Sprache. Wie beispielsweise beim VideoFeedback-Training kann dieses Verhalten je­ doch durch gut geplantes positives Feedback zur Ausdehnung jener Momente verändert werden, in denen geteilte Aufmerksamkeit er­ reicht wird.

8.3 Bewegungs- und Musiktherapien Die akustischen Analysen von Rhythmik und Intonation vokaler Kommunikation haben Licht in die Prinzipien von Timing, emotio­ nalem Ausdruck und narrativer bzw. „kom­ munikativer Musikalität“ gebracht, die überall im interpersonalen Kontakt und in Beziehun­ gen zwischen Personen aller Altersstufen ver­ mitteln; und dieselben Prinzipien von Vita­ lität im Ausdruck können erweitert werden, um die Qualität der Kommunikation durch Berührung oder Gestik zu beobachten (Stern 1999, Stern et al. 1985, Malloch & Trevarthen 2009). Auf der Grundlage eines besseren Ver­ ständnisses der Parameter von Motivation und emotionalem Ausdruck in menschlichen Handlungen wird die Erforschung der Metho­ den und Effekte von → Musiktherapie und Be­ wegungstherapie (→ Psychomotorik) präziser (Pavlicevic & Ansdell 2004, Wigram 2004). Der Nutzen ist bereits für viele Störungsbilder gezeigt worden, inklusive Autismus und ande­ ren emotionalen Störungen bei Kindern (Ro­ barts 2008, Wigram & Elefant 2009) als auch für die Beruhigung gestresster Säuglinge, die viel zu früh geboren wurden (Standley 2003). Die tiefgreifende geistige Behinderung beim Rett-Syndrom hindert die davon be­ troffenen Mädchen nicht, an den Improvisa­ tionen einer geübten Musik-Therapeutin teil­ zunehmen und mitzumachen. Zudem ist die Methode verwendet worden, einen Grad an motorischer Koordination und intentionalem Ausdruck von Präferenzen bei diesen Kin­ dern nachzuweisen, der bislang nicht erwar­ tet worden ist (Wigram & Elefant 2009). Bei erwachsenen psychiatrischen Patienten hat Musiktherapie sich bei Depression und in der Behandlung einer milden Form von Schizo­ phrenie als wirksam erwiesen. Außerdem ist eine Methode entwickelt worden, durch Be­ stimmung des Grades an „Musikalität“, der in improvisierten Behandlungssitzungen er­ reicht worden ist, die therapeutischen Effek­ te zu quantifizieren (Pavlicevic & Trevarthen 1989). Computergestützte akustische Ana­ lysen der Musikalität von Ausdruck und In­

146 

Intersubjektivität und Kommunikation

teraktion zwischen Müttern und ihren Kin­ dern, die Objektivität und Genauigkeit in die Beobachtungen der grundlegenden subjekti­ ven und intersubjektiven Ereignisse bringen, weisen die Effekte einer Depression auf die Kommunikation der Mutter und auf ihren Säugling nach und machen Veränderungen sichtbar, sobald sich der Zustand der Mutter verbessert (Marwick & Murray 2009). Audiound Video-Aufnahmen einer Mutter, bei der eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diag­ nostiziert wurde, zeigen in ihrer Interaktion mit ihrem drei Monate alten Säugling, dass bei einer verwirrten Selbstwahrnehmung die stimmliche Interaktion mit ihrem Baby an Vitalität verliert und rigider und iterati­ ver wird. „In einem bestimmen Sinne verliert sie ihren zeitlichen ‚Fluss‘ – Mutter und Kind scheinen nicht länger in der Lage zu sein, eine ‚innere Zeit‘ miteinander teilen, weder dazu, ihre Beziehung zu konsolidieren, noch neue Wege für gemeinsame Erfahrungen zu ent­ wickeln“ (Gratier & Apter-Danon 2009, 301). Solch einer Mutter kann geholfen werden, in­ dem ihre Aufmerksamkeit auf die Anstren­ gungen ihres Kindes gelenkt werden, Zeit mit ihr zu teilen. Baishali Mukherjee (2008) hat die Analyse von Videoaufzeichnungen von Musikthera­ piesitzungen dazu verwendet, die Kommuni­ kation mit autistischen Kindern zu studieren (vgl. Abb. 13). Ihre Analyse zeigt, dass ein expressiv modulierter Rhythmus eine wesent­ liche Rolle im interpersonalen Austausch für Kinder mit Autismus spielt und dass sie diesen nutzen können, um einen Raum für ihre Kommunikation zu finden. Ein solcher Rhythmus kann Aufmerksamkeit, Hören, Motivation, Interesse und Engagement die­ ser Kinder wecken und ihre Kreativität wach­ rufen. In interaktiver Musiktherapie wurden die Kinder angeregt, ihre Aufmerksamkeit der Musik zu widmen und ihr mit Interesse zuzuhören, an ihr teilzunehmen und sich mit ihr zu synchronisieren, um eigene Rhythmen zu schaffen und diese der Therapeutin zu kommunizieren. Der Rhythmus in der Musik fördert und motiviert interpersonale Kom­

munikation sowie die Entwicklung kommu­ nikativer Fertigkeiten von Kindern, die durch Autismus behindert sind, und verbessert ihre motorische Koordination, ihre Aufmerksam­ keit und ihren Austausch mit dem Verhalten anderer (Frank & Trevarthen 2011).

8.4 Behindertenpädagogik oder Übungsprogramme für ­kognitive, perzeptuelle, motorische und sprachliche Fähigkeiten Methoden der Behindertenpädagogik, inklu­ sive „Portage“, „ABCedarian“ und anderen als Teil des amerikanischen „Head-Start“-Pro­ gramms (Tingey 1989) (→ Prävention) entwi­ ckelten, zielen darauf ab, kognitive, perzeptu­ elle, motorische und sprachliche Fähigkeiten zu verbessern. Diese Arbeitsweisen erkennen offensichtlich nicht, dass früher interperso­ naler Austausch der Ausgangspunkt ist, von dem die Entwicklung dieser Fähigkeiten als Konsequenz intersubjektiv vermittelten Ler­ nens ausgeht. Die aus der Säuglingsforschung hervorgehende Evidenz weist darauf hin, dass ein expliziter Fokus auf Aspekte der primären sozio-emotionalen Entwicklung, wie Turn-Ta­ king, Prosodie, reziproke Imitation und geteil­ te Aufmerksamkeit, sich als besonders effektiv erweisen kann – zumindest in den frühen Stu­ fen der Intervention und insbesondere in der Arbeit mit Gruppen, in denen Gründe für die Annahme existieren, dass Defizite im inter­ personalen Bereich die Wurzel des Problems sind (Lüdtke 2011). Für viele beeinträchtig­ te Kinder kann der therapeutische Gebrauch von physischem Spiel unmittelbaren Gewinn bringen (Jernberg & Booth 2001). Nonverba­ ler Ausdruck, wie z. B. Blicke, Gesten und Ge­ bärden, sowie der expressive Gebrauch der Stimme sind effektiv in der Kommunikation mit Kindern, die nur ein geringes Sprachver­ ständnis haben. Es besteht eine beachtliche Unstimmigkeit in der Frage der Effektivität der AutismusTherapien und der Unterschiede in der Ein­ schätzung der Verbesserungen, die erreicht



Schlussbemerkung   147

werden können (Trevarthen & Aitken 2001). Nichtsdestotrotz ist anerkannt, dass beson­ ders frühe Interventionen deutlich größere Verbesserungen bewirken, als wenn dieselben Ansätze zu einem späteren Zeitpunkt einge­ setzt werden. In einer Vielzahl unabhängiger Studien ist nachgewiesen worden, dass das Verhaltenstraining nach Lovaas (1987) güns­ tige Effekte hat, doch gibt es Unklarheiten be­ züglich der Frage, auf welche Weise es effek­ tiv ist und wie generell und dauerhaft diese Erfolge sind. Es ist also nicht geklärt, inwie­ weit die expressive Art und Weise kommuni­ kativer Verstärkung und das Aushandeln von Routineprozeduren entscheidend für den Er­ folg ist, obwohl der Therapeut zum Sprechen mit „starken Affekten“ aufgefordert wird. Ein breites Spektrum anderer Ansätze fokussiert spezifischer die emotionalen und interperso­ nalen Aspekte der Interaktion – angepasst an die besonderen Bedürfnisse des Individuums. Ihre Vorgehensweisen und Erfolge werden nicht durch Messungen der jeweiligen indivi­ duellen Ausführung entlang von vordefinier­ ten Maßen der Intelligenz, Rationalität oder kognitiven Flexibilität erfasst, noch durch die Erforschung großer Stichproben. In den behindertenpädagogischen Ansät­ zen für Kinder und Jugendliche mit Autis­ mus wird dem Training von Sprechen und Sprache naturgemäß eine große Bedeutung beigemessen. Allerdings ist → Sprachthera­ pie nicht allein durch sich selbst allgemein wirksam, ausgenommen die Fälle der so ge­ nannten „High-Functioning-Autisten“, die Unterstützung bei semantischen und prag­ matischen Schwierigkeiten benötigen. Für den großen Anteil der Kinder im Spektrum autistischer Störungen, die größere Kommu­ nikationsschwierigkeiten haben, ist ein An­ satz, der die zugrundeliegenden motivationa­ len und interpersonellen Probleme anspricht, effektiver. Emotionaler Austausch und ge­ teilte Aufmerksamkeit scheinen eine funda­ mentalere Rolle in der Förderung der Sprach­ entwicklung bei Autismus zu haben (→ FS geistige Entwicklung) als der instrumentelle Gebrauch der Sprache. Für die klinische In­

tervention zur Verbesserung der kommuni­ kativen Fähigkeiten bei autistischen Kindern kann dieser Ansatz möglicherweise effek­ tiver eingesetzt werden als irgendein Denkoder Einstellungs-Training. Improvisierende →  Musik-Therapie erlangt mehr und mehr Ansehen als ein wirksamer Weg zur Herstel­ lung und Regulation von Kommunikation selbst mit den „schwierigsten“ autistischen Kindern (vgl. Abb.  13). Sie verwendet Tech­ niken des Spiegelns und der Steigerung bzw. Modulation des Ausdrucks mithilfe der Sensi­ bilität eines geübten Musikers für den Rhyth­ mus und den Ausdruck in den vom Klienten gemachten Gesten (Trevarthen et al. 1998). Imitative Antworten scheinen anziehend für autistische Kinder zu sein und können als Brücke zu kooperativem Spiel oder Kommu­ nizieren fungieren und den kindlichen Zu­ gang zur Sprache verbessern. Das intensive Training von Eltern in responsiver Fürsor­ ge und Erziehung von autistischen Kindern nach der „Options-Methode“ (Kaufman 1981, Kaufman & Kaufman 1976), die sich für vie­ le Familien als sehr erfolgreich erwiesen hat, verwendet systematische Imitation zur Errei­ chung geteilter Aufmerksamkeit und zur Ver­ größerung der Motivation im Kind wie bei den Eltern, gemeinsam zu lernen.

9 Schlussbemerkung: Zur ­Bildung und ­Erziehung ­angeborener ­zwischenmenschlicher ­„Empfindungen“ in sozialen Systemen 9.1 Zur Natur und Kultur von Bildung und Erziehung Bildung und Erziehung sollten als natürlicher Vorgang der Vitalität kulturellen Lebens ver­ standen werden, der in einer Gesellschaft mit­ tels eines Systems von Lehr- und Lern-Metho­ den in Schulen organisiert und reguliert wird

148 

Intersubjektivität und Kommunikation

(Bruner 1996) (→ Bildung und Erziehung, → Lehren und Lernen). Es wird allgemein an­ genommen, dass prozedurales Wissen in Ge­ genstandsbereiche klassifizierte Tatsachenin­ formationen erfordert sowie eine Schulung, wie dieses neu erlernte Wissen in vielen unter­ schiedlich konstruierten Formen genutzt wer­ den kann. Naturgemäß gilt die Aufmerksam­ keit zuerst dem, was gelernt werden soll, aber die Motivation des Lernenden, die Alfred North Whitehead (1929) die „Würze des Lernens“ nannte – das heißt die phantasievollen oder contra-faktischen Motive des Entdeckens, die von sympathetisch-mitempfindender Vitalität in einer „Gemeinschaft der Lernenden“ (Bru­ ner 1996) abhängen –, muss ebenso anerkannt werden. Pädagogen für Personen jeden Alters und jedweder Fähigkeit müssen akzeptieren, dass der Erwerb von Kompetenzen in der Be­ wegung, in der Wahrnehmung, im Denken sowie im Gebrauch von Konventionen, Werk­ zeugen und der Sprache auf die Tatkraft eines wissbegierigen Verstandes angewiesen ist so­ wie auf das Vergnügen, das durch das Teilen neuer Erfahrungen mit anderen erlangt wird. Die Behindertenpädagogik befasst sich mit den Herausforderungen durch jene Probleme, die ein Kind im üblichen System im Lernen behindern. Sämtliche Bildung und Erziehung ist auf der einen Seite durch die Fähigkeiten des Lernenden begründet, hinsichtlich be­ stimmter Ziele und Zwecke mit anderen zu kooperieren, die über andere oder elaborier­ tere Fertigkeiten verfügen. Die Motive von Pädagoge und Lernendem müssen aufeinan­ der bezogen sein, damit gemeinsame Ziele bestehen. Dieser gemeinsame Austausch, der ein durch Emotionen regulierter interperso­ naler Prozess ist, nutzt unterschiedliche Ebe­ nen der Kommunikation, die davon abhän­ gen, was der Lernende zu tun vermag (Zeedyk 2008, Lüdtke 2011). Die Säuglingsforschung zu Rhythmen und sympathetischem Mitemp­ finden in der intersubjektiven Kommunikati­ on vor Beginn der Sprache bringt Licht in die grundlegenden Prozesse, die als generatives Fundament des Erwerbs komplexer kulturel­ ler Bedeutungen durch gemeinschaftliches

Lernen oder durch „intendierte Partizipation“ an bedeutungsvollen Aufgaben in ihrer Kraft erhalten bleiben (Rogoff 2003). Partizipation auf Grundlage gemeinsa­ mer Intentionen erfordert Flexibilität in den Absichten und Zielen, Vorstellungskraft für die Ersinnung neuer Ziele und Resultate so­ wie sympathetisch-mitempfindende relatio­ nale Emotionen der Freude am Agieren mit anderen, wie beispielsweise in der bereits er­ örterten „musikalischen Kultur“ der Kinder auf dem Spielplatz (Bjørkvold 1992). Sie birgt Stolz im Anbieten eines eigenen Beitrags zum Gesamten, aber auch Scham im Falle eines Fehlschlages sowie das Bedürfnis nach Hilfe in sich. Sie profitiert von dem, was Cross die „fließende Intentionalität“ intuitiven gesti­ schen Ausdrucks nennt, welche durch Musik und Tanz kommuniziert wird (Cross & Mor­ ley 2009). Der Semiotiker Per Aage Brandt nimmt zudem an, dass sie von der „Musikali­ tät“ verkörperten Ausdrucks abhängt (→ Zei­ chen und Semiose, → Sprache und Wahr­ nehmung): „Ich glaube, dass es Etwas in der Musik oder der Musikalität gibt, das Spra­ che strukturell benötigt, um (im technischen Sinne) symbolisch zu sein; das heißt, Sprache benötigt Musikalität, um fähig zu sein, in­ tentional auf Zustände von Angelegenheiten außerhalb des deiktischen ‚Hier und Jetzt‘ von Menschen in der Kommunikation zu re­ ferieren. Dieses ‚Etwas‘ schließt insbesonde­ re den aufrufenden Effekt des Rhythmus von expressiven Bewegungen ein“ (Brandt 2008, 33). Kommunikation innerhalb von LehrLern-Prozessen ist Selbst- und Selbst-mit-An­ derem-zentriert und nicht nur auf eine ratio­ nale, realistische Anwendung in Relation zur objektiven Welt fokussiert. Sie braucht eine Begründung durch eine „Psychologie des Ge­ genüber“ (second-person psychology), um zu erklären, wie bereits Kinder unmittelbar die Psyche anderer erfassen (Reddy 2008).



Schlussbemerkung   149

9.2 „Kommunikative Äquivalenz“ ermöglicht die Vervollständigung von Absichten mit Hilfe Anderer Weil der menschliche Verstand eine angebore­ ne Motivation für intersubjektive Kommuni­ kation besitzt – das heißt für das Übermitteln und Empfangen von Vitalitätssignalen, welche Intentionen, Interessen und Gefühle eines ko­ härenten aktiven und bewussten Selbst über­ mitteln –, existieren viele Arten des Bewegens oder des Wahrnehmens, die für eine andere Person Bedeutungsäquivalenz besitzen. Wenn beispielsweise eines der Sinnes- oder Bewe­ gungsorgane nicht richtig arbeitet oder wenn emotionale oder kognitive Prozesse desor­ ganisiert sind, ermöglicht dies eine Überset­ zung bzw. eine Kompensation zwischen un­ terschiedlichen Kanälen des Wissens oder Tuns bzw. versetzt zwei Personen in die Lage, Bedeutung mittels unterschiedlicher Hand­ lungsmedien oder unterschiedlicher Wahr­ nehmungskanäle zusammenzusetzen bzw. zu „komponieren“. Daniel Stern hat die Manifes­ tationen dieser kommunikativen Substitution im Spiel zwischen Mutter und Kind als „inter­ modalen Fluss“ (intermodal fluency) (Stern et al. 1985) beschrieben und nennt die Emotio­ nen, die diese Kommunikation regulieren, „Vi­ talitätsaffekte“ (vitality affects) (Stern 1999). Ein taubes Kind hört zu, aber kann nicht hören. Bei fehlender Wahrnehmung der Töne und Sprechartikulationen kann ein Kind die sichtbare Gebärdensprache sowie das „Hö­ ren“ bzw. „Ablesen“ von gesprochenen Wor­ ten erlernen, indem es die Mundbewegungen beobachtet und den Gesprächsgegenstand er­ fasst – und zwar durch visuelles Wahrnehmen der Bewegungen von Augen und Augenbrau­ en der Sprecher, den Bewegungen ihrer Köp­ fe, wie sie ihre Hände ausstrecken und etwas berühren sowie den Positionsveränderungen, die sie mit dem ganzen Körper vollziehen (→  Gebärden und Sehen, → FS Hören). Ein blindes Kind schaut, aber kann nicht sehen. Er oder sie kann lernen, durch Tasten zu lesen und kann die „gesehene“ Bedeutung durch das Hören eines Textes erfassen, der von ei­

nem Anderen oder von einer Maschine vor­ gelesen wird. Ein Kind, das sowohl blind als auch taub ist, schaut und hört vergebens, aber es kann Perspektive und Klang von Absich­ ten, Emotionen und Bedeutungen durch Be­ rühren von Gesicht, Mund oder Händen eines anderen teilen und es kann angeleitet werden, an Handlungen durch Berührungen oder ge­ führte Gesten teilzunehmen, die später zu konventionellen Zeichen oder Symbolen wer­ den können. Durch Vibrationen übertragene musikalische Rhythmen können Freude und gemeinsames Erleben einer „Geschichte“ je­ mandem übermitteln, der weder hören noch sehen kann (→ FS körperliche und motori­ sche Entwicklung). Prothesen können ein Körperteil ersetzen, oder, wie bei einem Roll­ stuhl, einen anderen Weg bieten, sich mit­ hilfe der Arme und Hände als Ersatz für das Gehen zu bewegen. Ein Kind mit einer Ver­ wirrtheit in Körper und Geist wie beim Autis­ mus-Spektrum-Syndrom, Rett-Syndrom oder anderen Entwicklungsstörungen behält nicht nur seine Kapazität für Kommunikation mit anderen, die nach einem angemessen Timing und einem angemessenen Ausdruck des Kon­ taktes suchen, sondern vertraut darauf, eine Antwort zu erhalten. Was in jedem Fall in­ volviert ist, um einer Person zu helfen, etwas wahrzunehmen, eine Handlung auszuführen oder ein gewünschtes Erleben zu erlangen, ist die mentale und körperliche Kapazität eines anderen Menschen, Bewegungsmittel zusätz­ lich bereit zu stellen oder der Willenskraft und den Handlungsmotiven und Absichten neues Leben einzuhauchen – und zwar um den tieferen Sinn seiner Intention wirksam werden zu lassen und die erwünschte Kom­ munikation herzustellen. Diese interperso­ nale Kompensation ist immer durch Emotio­ nen evaluiert, die deren rhythmische Vitalität und ihr intersubjektiv-sympathetisches Mit­ empfinden einschätzen, um die Freude einer besonderen kooperativen Beziehung in der Aktivität und im Erleben zu erschaffen und aufrechtzuerhalten.

150 

Intersubjektivität und Kommunikation

9.3 Wodurch die generativen ­Motive für gemeinsames Lernen ­vernachlässigt worden sind Moderne Nationen mit ihren komplexen in­ dustriellen, kommerziellen und politischen Organisationen, die zudem durch die Erschaf­ fung einer weltumspannenden Informations­ technologie transformiert worden sind, ha­ ben mehr und mehr die natürlichen Motive und Emotionen eines primären kooperativen Verstehens außer Acht gelassen, von denen menschliche Gemeinschaften für ihr Überle­ ben immer schon abhängig waren. Nationale Regierungen favorisieren die Anforderungen einer kognitiven Informationsverarbeitung und das Unterrichten von Kindern durch In­ struktion in formal regulierter schulischer Bildung und Erziehung, deren Produkte hin­ sichtlich „Normalität“ und „Kompetenzni­ veaus“ anhand von Normen bewertet werden, die anhand großer Populationen durch vorde­ finierte Kriterien gemessen und dann aufge­ stellt wurden (→ Norm und Differenz). Was als „Behindertenpädagogik“ oder „Sonderpädagogik“ bekannt ist, ist genötigt, seine Methoden auf die besonderen Proble­ me unterschiedlicher Gruppen von Kindern anzupassen, die als „auf die Bildung und Er­ ziehung dieser „Lernfabrik“-Machart nicht normal reagierend“ (→ Behinderung und Vulnerabilität) identifiziert werden. Neue wissenschaftliche Evidenz, dass jede mensch­ liche Psyche über angeborene kooperative Motive verfügt, verweist darauf, dass „beson­ dere“ Methoden der Weitergabe von Wissen und Fertigkeiten sich auf die wesentlichen Prozesse der „intendierten Partizipation“ im Erleben und Entdecken beziehen sollten, die alle Arten kulturellen Lernens von Perso­ nen mit allen Graden an Intelligenz und auf allen Kompetenzstufen perzeptuell-motori­ scher  Fähigkeiten motivieren. Diese Evidenz etabliert ein Modell der Unterweisung neu, dass die Motive, Vorstellungen und den Stolz eines erfolgreich Lernenden in Relation zu ei­ nem ihn anerkennenden Lehrer respektiert (→  Person und Sprache, →  Sprachdidaktik­

theorie). Sie akzeptiert, dass alle menschli­ chen Wesen ein Bedürfnis haben, Erfahrun­ gen zu teilen und in genuiner Kooperation mit mehr bewanderten Altersgenossen und Älteren zu lernen, welche die traditionellen Methoden und die Sprache gemeistert haben, die die Gemeinschaft wertschätzt. Individuen mit Entwicklungsstörungen oder erworbenen Behinderungen bzw. solche, die durch belastende Erfahrungen beschädigt wurden, bekommen Vertrauen und entwi­ ckeln Fähigkeiten, wenn die Initiativen, in ih­ rer „Zone der nächsten Entwicklung“ (Vygots­ kij 1978) zu lernen, gewürdigt, miteinander geteilt und angemessen unterstützt werden. Jedes Individuum ist anders, mit anderem Po­ tenzial, und jedes Individuum kann von einer „besonderen“ Art der Aufmerksamkeit profi­ tieren – und zwar in dem Sinne, dass sie so or­ ganisiert ist, dass sie an die spezifischen Im­ pulse, Sensibilitäten und Emotionen angepasst ist (Halpern 2001, Zeedyk 2008, Lüdtke 2011).

Anmerkung 1 Anm. d. Ü.: Gleich zu Beginn dieses Beitrages ist darauf aufmerksam zu machen, dass Trevarthen großen Wert auf die Differenzierung zwischen den Begriffen „sympathy“ und „empathy“ legt – eine inhaltliche Unterscheidung, die er u. a. histo­ risch ableitet (vgl. ausführlich 7.1):

„Im 18. Jahrhundert waren die Philosophen  der schottischen Aufklärung Francis ­Hutcheson, Adam Smith, David Hume und Thomas Reid der Auffas­ sung, dass menschliche Wesen mit „angeborenem Mitempfinden“ (innate sympathy) geboren werden, auf welchem in guten wie in schlechten Zeiten der gesamte soziale Austausch, Kooperation und mo­ ralische Gefühle basieren (u. a. Smith 1976 [i. O. 1759]). Sie verwendeten in ihrer Moralphilosophie nicht den Begriff „Empathie“, sondern beachteten den essentiellen Unterschied zwischen den Emp­ findungen und Gefühlen für ein Objekt oder Ding (empathy) und dem Mitempfinden bzw. Fühlen mit einer anderen Person (sympathy), wie er im Grie­ chischen besteht.“



Da im Deutschen „Sympathie“ und „Empathie“ jedoch sowohl anders konnotiert sind als auch an­ ders und abweichend vom Griechischen verwen­ det werden, haben wir uns im Sinne einer genauen

Literatur   151



Übersetzung entschieden, nicht die geläufigen Termini „empathisch“ bzw. „Empathie“ zu be­ nutzen, sondern adjektivisch den Doppelbegriff „mitempfindend-sympathetisch“ und in substan­ tivierter Form „Mitempfinden“ bzw. „sympatheti­ sches Mitempfinden“ zu verwenden.

Literatur Aitken, K. J. (2008): Intersubjectivity, affective neu­ roscience, and the neurobiology of autistic spec­ trum disorders: A systematic review. Keio Journal of Medicine 57, 1, 15–36.a. Aitken, K. J. & Trevarthen, C. (1997): Self-Other or­ ganization in human psychological development. Development and Psychopathology 9, 651–675. Als, H. (1995): The preterm infant: A model for stu­ dy of fetal brain expectation. In: Lecanuet, J.-P., Fi­ fer, W. P., Krasnegor, N. A. & Smotherman, W. P. (Eds.): Fetal development: A psychobiological per­ spective (439–471). Hillsdale (NJ): Erlbaum. Archer, C. & Burnell, A. (2003): Trauma, attachment and family permanence: Fear can stop you loving. London: Kingsley. Bates, E. (1979): The emergence of symbols: Cogniti­ on and communication in infancy. New York: Aca­ demic Press. Bateson, M. C. (1979): The epigenesis of conversati­ onal interaction: A personal account of research development. In: Bullowa, M. (Ed.): Before speech: The beginning of human communication (63–77). Cambridge: Cambridge University Press. Bjørkvold, J.-R. (1992): The muse within: Creativity and communication, song and play from childhood through maturity. New York: Harper and Collins. Bourdieu, P. (1990). The logic of practice. Palo Alto (CA): Stanford University Press. – Dt. (1984): Ent­ wurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bowlby J. (1988): A secure base: Parent-child attach­ ment and healthy human development. New York: Basic Books. Brandt, P. A. (2009): Music and how we became hu­ man: A view from cognitive semiotics. In: Malloch, S. & Trevarthen, C. (Eds.): Communicative musi­ cality: Narratives of expressive gesture and being human (31–44). Oxford: Oxford University Press. Bråten, S. (1988): Dialogic mind: The infant and adult in protoconversation. In: Carvallo, M. E. (Ed.): Na­ ture, cognition and system (187–205). Dordrecht: Kluwer. Bråten, S. (1998) (Ed.): Intersubjective communica­ tion and emotion in early ontogeny. Cambridge: Cambridge University Press.

Brazelton, T. B. (1993): Touchpoints: Your child’s emotional and behavioral development. New York: Viking. Brazelton, T. B. & Nugent, J. K. (31995): Neonatal be­ havioural assessment scale. London: MacKeith. Bretherton I. & Bates, E. (1979): The emergence of in­ tentional communication. In: Uzgiris, I. C. (Ed.): Social interaction and communication during in­ fancy. New directions for child development, vol. 4 (81–100). San Francisco: Jossey-Bass. Bruner, J. S. (1975): The ontogenesis of speech acts. Journal of Child Language 2, 1–19. Bruner, J. S. (1976): From communication to ­language. A psychological perspective. Cognition 3, 255– 287. Bruner, J. S. (1984): Vygotsky’s zone of proximal de­ velopment: The hidden agenda. In: Rogoff, B. & Wertsch, J. (Eds.): Children’s learning in the „Zone of proximal development“: New directions for child development. San Francisco: Jossey-Bass. Bruner, J. S. (1990): Acts of meaning. Cambridge (MA): Harvard University Press. Bruner, J. S. (1996): The culture of education. Cam­ bridge (MA): Harvard University Press. Bruner, J. S. & Goodman, C. C. (1947): Value and need as organizing factors in perception. Journal of Ab­ normal and Social Psychology 42, 33–44. Bullowa, M. (Ed.) (1979): Before speech: The begin­ ning of human communication. Cambridge: Cam­ bridge University Press. Comenius, J. A. (2003 [i. O. 1630]): The School of In­ fancy. Kila (MT): Kessinger Publishing. Condon, W. S. & Sander, L. S. (1974): Neonate move­ ment is synchronized with adult speech: Interac­ tional participation and language acquisition. Sci­ ence 183, 99–101. Cross, I. & Morley, I. (2009): The evolution of mu­ sic: Theories, definitions and the nature of the evidence. In: Malloch, S. & Trevarthen, C. (Eds.): Communicative musicality: Narratives of expres­ sive gesture and being human (61–81). Oxford: Ox­ ford University Press. Darwin, Ch. (1998 [i. O. 1872]): The expression of the emotions in man and animals. Oxford: Oxford University Press. – Dt. (2000): Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren. Frankfurt a. M.: Eichborn. Dawson, G. & Fischer, K. W. (1994): Human behavi­ or and the developing brain. New York: Guilford. DeCasper, A. J. & Fifer, W. P. (1980): Of human bon­ ding: Newborns prefer their mother’s voices. Sci­ ence 208, 1174–1176. Decety, J. & Chaminade, T. (2003): Neural correlates of feeling sympathy. Neuropsychologia 41, 127– 138.

152 

Intersubjektivität und Kommunikation

Dissanayake, E. (2000): Art and intimacy: How the arts began. Seattle: University of Washington Press. Donald, M. (2001): A mind so rare: The evolution of human consciousness. New York: Norton. Donaldson, M. (1992): Human minds: An explorati­ on. London: Penguin. DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Men­ tal Disorders, Fourth Edition) (1994): Washington DC: American Psychiatric Association. Eckerdal, P. & Merker, B. (2009): „Music“ and the „ac­ tion song“ in infant development: An interpretati­ on. In: Malloch, S. & Trevarthen, C. (Eds.): Com­ municative musicality: Narratives of expressive gesture and being human (241–262). Oxford: Ox­ ford University Press. Fernald, A. (1989): Intonation and communicative in­ terest in mother’s speech to infants: Is the melody the message? Child Development 60, 1497–1510. Field, T. M. (1998): Maternal depression effects on in­ fants and early intervention. Preventative Medici­ ne 27, 2, 200–203. Field, T. M., Woodson, R., Greenberg, R. & Cohen, D. (1982): Discrimination and imitation of facial ex­ pressions by neonates. Science 218, 179–181. Fonagy, I. (2001): Languages within language. An evolutive approach. Foundations of Semiotics 13. Amsterdam: Benjamins. Fraiberg, S. (1980): Clinical studies in infant mental health: The first year of life. London: Tavistock. Frank, B. & Trevarthen, C. (2011): Intuitive me­ aning: Supporting impulses for interpersonal life in the sociosphere of human knowledge, practi­ ce and language. In: Zlatev, J., Racine, T., Lüdtke, U. & Foolen, A. (Eds.): Moving Ourselves, Moving Others: Motion and emotion in intersubjectivity, consciousness and language. Consciousness and Emotion Series. Amsterdam: Benjamins. Gallagher, S. (2007): Sense of agency and higher-or­ der cognition: Levels of explanation for schizo­ phrenia. Cognitive Semiotics 0, 32–48. Gallagher, S. (2011): Neurons, neonates and narrative: From empathic resonance to empathic understan­ ding. In: Zlatev, J., Racine, T., Lüdtke, U. & Foolen, A. (Eds.): Moving Ourselves, Moving Others: Mo­ tion and emotion in intersubjectivity, conscious­ ness and language. Consciousness and Emotion Series. Amsterdam: Benjamins. Gallese, V. (2005): Embodied simulation: From neu­ rons to phenomenal experience. Phenomenology and the Cognitive Sciences 4, 23–48. Gibson, J. J. (1979): The ecological approach to visual perception. Boston: Houghton Mifflin. Gillberg C. L. (1992): The Emmanuel Miller Memo­ rial Lecture 1991. Autism and autistic-like condi­

tions: Subclasses among disorders of empathy. The Journal of Child Psychology and Psychiatry and Allied Disciplines 33, 813–842. Gomes-Pedro, J., Nugent, J. K., Young, J. G., & Brazel­ ton, T. B. (2002) (Eds.): The infant and family in the twenty-first century. New York: Hove. Gratier, M. (1999): Expressions of belonging: The ef­ fect of acculturation on the rhythm and harmony of mother-infant vocal interaction. In: Rhythms, musical narrative, and the origins of human com­ munication. Musicae Scientiae, Special Issue 1999– 2000 (93–122). Liège: European Society for the Co­ gnitive Sciences of Music. Gratier, M. (2003): Expressive timing and interactio­ nal synchrony between mothers and infants: Cul­ tural similarities, cultural differences, and the im­ migration experience. Cognitive Development 18, 533–554. Gratier, M. & Apter-Danon, G. (2009): The musicality of belonging: Repetition and variation in motherinfant interaction. In: Malloch, S. & Trevarthen, C. (Eds.): Communicative musicality: Narratives of expressive gesture and being human (301–327). Oxford: Oxford University Press. Gratier, M. & Trevarthen, C. (2008): Musical narrati­ ve and motives for culture in mother-infant vocal interaction. Journal of Consciousness Studies 15, 122–158. Greenfield, P. M. (2004): Weaving generations to­ gether: Evolving creativity in the maya of chiapas. Santa Fe: School of American Research Press. Greiser, D. L. & Kuhl, P. K. (1988): Maternal speech to infants in a tonal language: Support for univer­ sal prosodic features in motherese. Developmental Psychology 24, 14–20. Hadamard, J. (1945): The psychology of invention in the mathematical field. Princeton: Princeton Uni­ versity Press. Halliday, M. A. K. (1975): Learning how to mean: Ex­ plorations in the development of language. Lon­ don: Arnold. Halpern, J. (2001): From detached concern to em­ pathy: Humanizing medical practice. New York (NY): Oxford University Press. Heimann, M. & Schaller, J. (1985): Imitative reac­ tions among 14–21-day-old infants. Infant Mental Health Journal 6, 1, 31–39. Heimann, M., Nelson, K. E. & Schaller, J. (1989): Neo­ natal imitation of tongue portrusion and mouth opening: Methodological aspects and evidence of early individual differences. Scandanavian Journal of Psychology 30, 90–101. Hughes, D. (22006): Building the bonds of attach­ ment: Awakening love in deeply troubled children. Lanham (Md): Rowman & Littlefield.



Literatur   153

Jaffe, J., Beebe, B., Felstein, S., Crown, C. & Jasnow, M. D. (2001): Rhythms of dialogue in infancy: Co­ ordinated timing and social development. Society of Child Development Monographs, Serial No. 265, Vol. 66 (2). Oxford: Blackwell. Jahoda, G. & Lewis, I. M. (Eds.) (1988): Acquiring cul­ ture: Cross cultural studies in child development (37–90). Beckenham, Kent: Croom Helm. James, W. (1992 ([i. O. 1890]): Principles of Psycholo­ gy, Vols. 1 & 2. New York: Dover. Jeannerod, M. (2004): Vision and action cues contri­ bute to self-other distinction. Nature Neuroscience 7, 5, 422–423. Jernberg, A. M. & Booth, P. B. (22001): Theraplay: Hel­ ping parents and children build better relation­ ships through attachment-based play. San Francis­ co: Jossey Bass. Kagan, J. (1994): Galen’s prophecy. Temperament in human nature. London: Free Association Books. Kanner, L. (1943): Autistic disturbances of affective contact. Nervous Child 2, 217–250. Kaufman, B. N. (1981): A miracle to believe in. New York: Ballantine Books. Kaufman, B. N. & Kaufman, S. (1976): Son-Rise. New York: Harper-Collins. Kerr, A. & Witt-Engerström, I. (Eds.) (2000): Rett Disorder and the developing brain. Oxford: Oxford University Press. Kugiumutzakis, G. (1985): The origins, development and function of early infant imitation. Uppsala University, Ph. D. Thesis. Acta Universitatis Upp­ saliensis, 35. Kugiumutzakis, G. (1999): Genesis and development of early infant mimesis to facial and vocal models. In: Nadel, J. & Butterworth, G. (Eds.): Imitation in infancy (127–185). Cambridge: Cambridge Univer­ sity Press. Kühl, O. (2007): Musical semantics. European Se­ miotics: Language, Cognition and Culture. No. 7. Bern: Lang. Kuhl, P. K. (2004): Early language acquisition: Cra­ cking the speech code. Nature Reviews Neurosci­ ence 5, 831–843. Lee, D. N. (2005): Tau in action in development. In: Rieser, J. J., Lockman, J. J. & Nelson, C. A. (Eds.): Action, perception and cognition in learning and development (3–49). Hillsdale (NJ): Erlbaum. Legerstee, L. (2005): Infants’ sense of people: Precur­ sors to a theory of mind. Cambridge: Cambridge University Press. Lock, A. (Ed.) (1978): Action, gesture and symbol: The emergence of language. New York: Academic Press. Lorca, F. G. (1980): Deep song and other prose. (Edi­ ted and translated by Christopher Maurer). New York: New Directions.

Lorenz, K. (1966): Evolution of ritualization in the biological and cultural spheres. In: Huxley, J. (Ed.): A discussion of ritualization of behaviour in ani­ mals and man (273–284). Philosophical Transac­ tions of the Royal Society of London, Series B. Bio­ logical Sciences, 772/251. Lovaas, O. I. (1987): Behavioral treatment and normal educational and intellectual functioning in young autistic children. Journal of Consulting and Clini­ cal Psychology 55, 1, 3–9. Lüdtke, U. (2006): Emotion und Sprache: Neurowis­ senschaftliche und linguistische Relationen. Die Sprachheilarbeit 51, 4, 160–175. Lüdtke, U. (2011): Relational emotions in semiotic and linguistic development: Towards an intersub­ jective theory of language learning and language therapy. In: Zlatev, J., Racine, T., Lüdtke, U. & Foo­ len, A. (Eds.): Moving Ourselves, Moving Others: Motion and emotion in intersubjectivity, con­ sciousness and language. Consciousness and Emo­ tion Series. Amsterdam: Benjamins. Mahoney, G., Fors, S. & Wood, S. (1990): Maternal directive behavior revisited. American Journal of Mental Retardation 94, 398–406. Malloch, S. (1999): Mother and infants and commu­ nicative musicality. In: Rhythms, musical narrati­ ve, and the origins of human communication (29– 57). Deliège, I. (Ed.): Musicae Scientiae, Special Issue 1999–2000. Liège, Belgium: European Soci­ ety for the Cognitive Sciences of Music. Malloch, S. & Trevarthen, C. (Eds.) (2009): Com­ municative musicality: Exploring the basis of hu­ man companionship. Oxford: Oxford University Press. Maratos, O. (1982): Trends in development of imitati­ on in early infancy. In: Bever, T. G. (Ed.): Regressi­ ons in mental development: Basis phenomena and theories (81–101). Hillsdale (NJ): Erlbaum. Marwick, H. & Murray, L. (2009): The effects of ma­ ternal depression on the „musicality“ of infant-di­ rected speech and conversational engagement. In: Malloch, S. & Trevarthen, C. (Eds.): Communica­ tive musicality: Narratives of expressive gesture and being human (281–300). Oxford: Oxford Uni­ versity Press. Matthews, J. (2004): The art of infancy. In: Eisner, E. & Day, M. (Eds.): Handbook of research and poli­ cy in art education (253–298). Hillsdale (NJ): Erl­ baum. Mazokopaki, M. & Kugiumutzakis, G. (2009): Infant rhythms: Expressions of musical companionship. In: Malloch, S. & Trevarthen, C. (Eds.): Communi­ cative musicality: Narratives of expressive gesture and being human (185–208). Oxford: Oxford Uni­ versity Press.

154 

Intersubjektivität und Kommunikation

McEwen, B. S. (2001): From molecules to mind. Stress, individual differences, and the social envi­ ronment. Annals of the New York Academic Sci­ ences 93, 42–49. McEwen, B. S. (2003): Early life influences on lifelong patterns of behavior and health. Mental re­ tardation and developmental disabilities. Research Reviews 9, 149–154. McEwen, B. S., & Stellar E. (1993): Stress and the indi­ vidual. Mechanisms leading to disease. Archives of Internal Medecine 18, 2093–2101. Mead, G. H. (1934): Mind, self, and society from the standpoint of a social behaviorist. Chicago: Uni­ versity of Chicago Press. – Dt. (1968): Geist, Identi­ tät und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehavi­ orismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Meltzoff, A. N. & Moore, M. K. (1977): Imitation of fa­ cial and manual gestures by neonates. Science 198, 4312, 75–78. Meltzoff, A. N. & Moore, M. K. (1994): Imitation, me­ mory, and the representation of persons. Infant Be­ havior and Development 17, 83–99. Mukherjee, B. B. (2008): Musical interaction with children with Autistic Spectrum Disorder in an Indian context. Ph. D. Thesis. Glasgow: Universi­ ty of Strathclyde, Department of Childhood and Pri­mary Studies and National Centre for Autism Studies. Mundale, J. & Gallagher, S. (2009): Delusional expe­ rience. In: Bickle, J. (Ed.): Oxford handbook of phi­ losophy and neuroscience (Chapter 20). Oxford: Oxford University Press. Murray, L. & Cooper, P. J. (Eds.) (1997): Postpartum depression and child development. New York: Guilford Press. Murray, L., Kempton, C., Woolgar, M. & Hooper, R. (1993): Depressed mothers’ speech to their infants and its relation to infant gender and cognitive de­ velopment. Journal of Child Psychology and Psy­ chiatry 34, 7, 1083–1101. Murray, L. & Trevarthen, C. (1985): Emotional regu­ lation of interactions between two-month-olds and their mothers. In: Field, T. M. & Fox, N. A. (Eds.): Social Perception in Infants (177–197). Norwood (NJ): Ablex. Nadel, J. & Tremblay-Leveau, H. (1999): Early per­ ception of social contingencies and interpersonal intentionality: Dyadic and triadic paradigms. In: Rochat, P. (Ed.): Early social cognition: Understan­ ding others in the first months of life (155–187). Mahwah (NJ): Erlbaum. Nadel, J., Carchon, I., Kervella, C., Marcelli, D. & Ré­ serbat-Plantey, D. (1999): Expectancies for social contingency in 2-month-olds. Developmental Sci­ ence 2, 164–173.

Nagy, E. (2008): Innate intersubjectivity: Newborns’ sensitivity to communication disturbance. Deve­ lopmental Psychology 44, 6, 1779–1784. Nagy, E. & Molnar, P. (2004): Homo imitans or Homo provocans? Human imprinting model of neo­ natal imitation. Infant Behaviour and Develop­ ment 27, 1, 54–63. Newson, J. (1979): The growth of shared understan­ dings between infant and caregiver. In: Bullowa, M. (Ed.): Before speech: The beginning of human communication (207–222). Cambridge: Cam­ bridge University Press. Newson, J. & Shotter, J. (1974): How babies communi­ cate. New Society 29, 618, 345–347. Osborne, N. (2009a): Towards a chronobiology of musical rhythm. In: Malloch, S. & Trevarthen, C. (Eds.): Communicative musicality: Narratives of expressive gesture and being human (545–564). Oxford: Oxford University Press. Osborne, N. (2009b): Musicality and healing. In Mal­ loch, S. & Trevarthen, C. (Eds.): Communicative musicality: Narratives of expressive gesture and being human (331–356). Oxford: Oxford Univer­ sity Press. Panksepp J. (2007): Can play diminish ADHD and fa­ cilitate the construction of the social brain? Jour­ nal of the Canadian Academy of Child and Adole­ scent Psychiatry 16, 2, 57–66. Panksepp, J. & Trevarthen, C. (2009): The neuro­ science of emotion in music. In Malloch, S. & Tre­ varthen, C. (Eds.) Communicative musicality: Narratives of expressive gesture and being human (105–146). Oxford: Oxford University Press. Papoušek, H. (1967): Experimental studies of appeti­ tional behaviour in human newborns and infants. In: Stevenson, H. W., Hess, E. H. & Rheingold, H. L. (Eds.): Early behaviour: Comparative and de­ velopmental approaches (249–277). New York: Wi­ ley. Papoušek, M. (1996): Intuitive parenting: A hidden source of musical stimulation in infancy. In: De­ liège, I. & Sloboda, J. (Eds.): Musical beginnings: Origins and development of musical competence (88–112). Oxford: Oxford University Press. Papoušek, M. & Papoušek, H. (1981): Musical ele­ ments in the infant’s vocalization: Their signifi­ cance for communication, cognition, and creati­ vity. In: Lipsitt, L. P. & Rovee-Collier, C. K. (Eds.): Advances in infancy research, Vol. 1 (163–224). Norwood (NJ): Ablex. Pavlicevic, M. & Ansdell, G. (2004): Community mu­ sic therapy. London: Kingsley. Pavlicevic, M. & Trevarthen, C. (1989): A musical as­ sessment of psychiatric states in adults. Psychopa­ thology 22, 325–334.



Literatur   155

Piaget, J. (1962): Play, dreams and imitation in child­ hood. London: Routledge & Kegan. – Dt. (52003): Nachahmung, Spiel und Traum: Die Entwicklung der Symbolfunktion beim Kinde. Stuttgart: KlettCotta. Powers, N. & Trevarthen, C. (2009): Voices of shared emotion and meaning: Young infants and their mothers in Scotland and Japan. In: Malloch, S. & Trevarthen, C. (Eds.): Communicative musicality: Narratives of expressive gesture and being human (209–240). Oxford: Oxford University Press. Radke-Yarrow, M. (1998): Children of depressed mo­ thers: From early childhood to maturity. Cam­ bridge: Cambridge University Press. Reddy, V. (2008): How infants know minds. Cam­ bridge (MA): Harvard University Press. Reddy, V. (2011): Moving others matters. In: Zlatev, J., Racine, T., Lüdtke, U. & Foolen, A. (Eds.): Moving Ourselves, Moving Others: Motion and emotion in intersubjectivity, consciousness and language. Consciousness and Emotion Series. Amsterdam: Benjamins. Robarts, J. (2009): Supporting the development of mindfulness and meaning: Clinical pathways in music therapy with a sexually abused child. In: Malloch, S. & Trevarthen, C. (Eds.): Communi­ cative musicality: Narratives of expressive gesture and being human (377–400). Oxford: Oxford Uni­ versity Press. Rogoff, B. (2003): The cultural nature of human deve­ lopment. Oxford: Oxford University Press. Sawyer, K. R. (2001): Creating conversations: Im­ provisation in everyday discourse. Cresskill (NJ): Hampton Press. Schechter, D. S. (2004): How post-traumatic stress af­ fects mothers’ perceptions of their babies: A brief video feedback intervention makes a difference. Zero to Three 24, 3, 43–49. Scheff, T. J. (1988): Shame and conformity: The de­ ference-emotion system. Sociological Review 53, 395–406. Schögler, B. & Trevarthen, C. (2007): To sing and dance together. In: Bråten, S. (Ed.): On being mo­ ved: From mirror neurons to empathy (281–302). Amsterdam: Benjamins. Schore, A. N. (1994): Affect regulation and the origin of the self: The neurobiology of emotional develop­ ment. Hillsdale (NJ): Erlbaum. Schore, A. N. (2003): Affect regulation and the repair of the self. New York: Norton. Selby, J. M. & Bradley, B. S. (2003): Infants in groups: A paradigm for study of early social experience. Human Development 46, 4, 197–221. Sheets-Johnstone, M. (2011): Fundamental and inhe­ rently interrelated aspects of animation. In: Zla­

tev, J., Racine, T., Lüdtke, U. & Foolen, A. (Eds.): Moving Ourselves, Moving Others: Motion and emotion in intersubjectivity, consciousness and language. Consciousness and Emotion Series. Amsterdam: Benjamins. Shotter, J. (1974): The development of personal po­ wers. In: Richards, M. P. M.: The integration of a child into a social world (215–244). Cambridge: Cambridge University Press. Skinner, B. F. (1953): Science and human behavior. New York: Macmillan. – Dt. (1973): Wissenschaft und menschliches Verhalten. München: Kindler. Smith, A. (1982 [i. O. 1777]): Of the nature of that imitation which takes place in what are called the imitative arts. In: Wightman, W. P. D. & Bryce, J. C. (Eds.): Essays on philosophical subjects (176–213). (edited with Dugald Stewart’s account of Adam Smith, edited by I. S. Ross; general editors, D. D. Raphael and A. S. Skinner). Indianapolis: Liberty Fund. Smith, A. (1976 [i. O. 1759]): Theory of moral senti­ ments. Oxford: Clarendon. – Dt. (1985): Die Theo­ rie der ethischen Gefühle. Hamburg: Meiner. Spelke, E. (1991): Physical knowledge in infancy: Re­ flections on Piaget’s theory. In: Carey, S. & Gel­ man, R. (Eds.): The epigenesis of mind: Essays on biology and cognition (133–169). Hillsdale (NJ): Earlbaum. Standley, J. M. (2003): Music therapy with premature infants: Research and developmental interven­ tions. Silver Spring (MD): American Music Thera­ py Association. St. Clair, C., Danon-Boileau, L. & Trevarthen, C. (2007): Signs of autism in infancy: Sensitivity for rhythms of expression in communication. In: Ac­ quarone, S. (Ed.): Signs of autism in infants: Reco­ gnition and early intervention (21–45). London: Karnac. Stern, D. N. (1999): Vitality contours: The temporal contour of feelings as a basic unit for constructing the infant’s social experience. In: Rochat, P. (Ed.): Early social cognition: Understanding others in the first months of life (67–90). Mahwah (NJ): Erl­ baum. Stern, D. (2000 [i. O. 1985]): The interpersonal world of the infant. A view from psychoanalysis and de­ velopmental psychology. New York: Basic Books. – Dt. (2000): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett. Stern, D. N. (2004): The Present Moment: In psycho­ therapy and everyday life. New York: Norton. Stern, D. N., Hofer, L., Haft, W. & Dore, J. (1985): Af­ fect attunement: The sharing of feeling states bet­ ween mother and infant by means of inter‑modal fluency. In: Field, T. M. & Fox, N. A. (Eds.): Soci­

156 

Intersubjektivität und Kommunikation

al perception in infants (249–268). Norwood (NJ): Ablex. Stout, G. F. (1903/1915): The groundwork of psycholo­ gy. London: New Tutorial Press. Tingey, C. (1989): Implementing early intervention. Baltimore: Brookes. Trainor, L. J. (2002): Lullabies and playsongs: Why we sing to Children. Zero to Three 23, 1, 31–34. Trehub, S. E. (2003): Musical predispositions in infan­ cy: An update. In: Peretz, I. & Zatorre, R. (Eds.): The cognitive neuroscience of music (3–20). New York: Oxford University Press. Trevarthen, C. (1979): Communication and coope­ ration in early infancy. A description of prima­ ry intersubjectivity. In: Bullowa, M. (Ed.): Before speech: The beginning of human communication (321–347). Cambridge: Cambridge University Press. Trevarthen, C. (1986): Form, significance and psy­ chological potential of hand gestures of infants. In: Nespoulous, J.-L., Perron, P. & Lecours, A. R. (Eds.): The biological foundation of gestures: Mo­ tor and semiotic aspects (149–202). Hillsdale (NJ): Erlbaum. Trevarthen, C. (1989): Motives for culture in young children – Their natural development through communication. In: Koch, W. (Ed.): The nature of culture (80–119). Proceedings of the International and Interdisciplinary Symposium, Ruhr Universi­ tät Bochum, October 7–11, 1986. Bochum: Brock­ meyer. Trevarthen, C. (1993): The function of emotions in early infant communication and development. In: Nadel, J. & Camaioni, L. (Eds.): New perspectives in early communicative development (48–81). Lon­ don: Routledge. Trevarthen, C. (1994): Infant semiosis. In: Nöth, W. (Ed.): Origins of Semiosis (219–252). Berlin: de Gruyter. Trevarthen, C. (1996): Lateral asymmetries in infan­ cy: Implications for the development of the hemi­ spheres. Neuroscience and Biobehavioral Reviews 20, 4, 571–586. Trevarthen, C. (1998): The concept and foundations of infant intersubjectivity. In: Bråten, S. (Ed.): In­ tersubjective communication and emotion in early ontogeny (15–46). Cambridge: Cambridge Univer­ sity Press. Trevarthen, C. (1999a): Intersubjectivity. In: Wilson, R. & Keil, F. (Eds.): The MIT Encyclopedia of Cog­ nitive Sciences (415–419). Cambridge (MA): MIT. Trevarthen, C. (1999b): Musicality and the intrinsic motive pulse: Evidence from human psychobiolo­ gy and infant communication. In: Rhythms, musi­ cal narrative, and the origins of human communi­

cation (157–213). Musicae Scientiae, Special Issue, 1999–2000. Liège: European Society for the Cogni­ tive Sciences of Music. Trevarthen, C. (2001a): Intrinsic motives for compa­ nionship in understanding: Their origin, develop­ ment and significance for infant mental health. In­ fant Mental Health Journal 22, 1–2, 95–131. Trevarthen, C. (2001b): The neurobiology of ear­ ly communication: Intersubjective regulations in human brain development. In: Kalverboer, A. F. & Gramsbergen, A. (Eds.): Handbook on Brain and Behavior in Human Development (841–882). Dordrecht: Kluwer. Trevarthen, C. (2004): How infants learn how to mean. In: Tokoro, M. & Steels, L. (Eds.): A learning zone of one’s own (37–69). SONY Future of Lear­ ning Series. Amsterdam: IOS Press. Trevarthen, C. (2005): Stepping away from the mir­ ror: Pride and shame in adventures of compa­ nionship. Reflections on the nature and emotional needs of infant intersubjectivity. In: Carter, C. S., Ahnert, L., Grossman, K. E., Hrdy, S. B., Lamb, M. E., Porges, S. W. & Sachser, N. (Eds.): Attach­ ment and bonding: A new synthesis (55–84). Dah­ lem Workshop Report 92. Cambridge (MA): MIT. Trevarthen, C. (2007): Wer schreibt die Autobiogra­ phie eines Kindes? In: Welzer, H. & Markowitsch, H. J. (Hrsg.): Warum Menschen sich erinnern kön­ nen. Fortschritte der interdisziplinären Gedächt­ nisforschung (225–255). Stuttgart: Klett-Cotta. Trevarthen, C. (2008): The musical art of infant con­ versation: Narrating in the time of sympathetic ex­ perience, without rational interpretation, before words. In: Imberty, M. & Gratier, M. (Eds.): Narra­ tive in music and interaction (15–48). Musicae Sci­ entiae, Special Issue. Liège: European Society for the Cognitive Sciences of Music. Trevarthen, C. (2011): Epilogue. In: Zlatev, J., Foo­ len, A., Racine, T. & Lüdtke, U. (Eds.): Moving Ourselves, Moving Others: Motion and emotion in intersubjectivity, consciousness and language. Consciousness and Emotion Series. Amsterdam: Benjamins. Trevarthen, C. & Aitken K. J. (1994): Brain develop­ ment, infant communication and empathy disor­ ders: Intrinsic factors in child mental health. Deve­ lopment and Psychopathology 6, 599–635. Trevarthen, C. & Aitken, K. J. (2001): Infant inter­ subjectivity: Research, theory, and clinical appli­ cations. Annual Research Review. The Journal of Child Psychology and Psychiatry and Allied Disci­ plines 42, 1, 3–48. Trevarthen, C. & Aitken, K. J. (2003): Regulation of brain development and age-related changes in in­ fants’ motives: The developmental function of „re­



Literatur   157

gressive“ periods (107–184). In: Heimann, M. (Ed.): Regression periods in human infancy. Mahwah (NJ): Erlbaum. Trevarthen, C. & Hubley, P. (1978): Secondary inter­ subjectivity: Confidence, confiding and acts of me­ aning in the first year. In: Lock, A. (Ed.): Action, gesture and symbol: The emergence of language (183–229). London: Academic Press. Trevarthen, C., Murray, L. & Hubley, P. (1981): Psy­ chology of infants. In: Davis, J. & Dobbing, J. (Eds.): Scientific foundations of clinical paediatrics (235–250). London: Heinemann. Trevarthen, C., Aitken, K. J., Papoudi, C. & Robarts, J. Z. (21998): Children with Autism: Diagnosis and interventions to meet their needs. London: Jessica Kingsley. Trevarthen, C., Kokkinaki, T. & Fiamenghi, G. A. Jr. (1999): What infants’ imitations communicate: With mothers, with fathers and with peers. In: Na­ del, J. & Butterworth, G. (Eds.): Imitation in infancy. (127–185). Cambridge: Cambridge University Press. Trevarthen, C., Aitken, K. J., Vandekerckhove, M., Delafield-Butt, J. & Nagy, E. (2006): Collaborative regulations of vitality in early childhood: Stress in intimate relationships and postnatal psychopatho­ logy. In: Cicchetti, D. & Cohen, D. J. (Eds.): Deve­ lopmental psychopathology (65–126). Vol.  2: De­ velopmental Neuroscience, Second Edition. New York: Wileys. Trevarthen. C. & Reddy, V. (2009): Infant conscious­ ness. In: Bayne, T., Cleermans, A. & Wilkin, P. (Eds.): Oxford companion to consciousness. Ox­ ford: Oxford University Press. Tronick, E. Z. & Field, T. (Eds.) (1986): Maternal de­ pression and infant disturbance. New Directions for Child Development, No. 34. San Francisco: Jos­ sey Bass. Tzourio-Mazoyer, N., De Schonen, S., Crivello, F., Reutter, B., Aujardd, Y. & Mazoyera, B. (2002): Neural correlates of woman face processing by 2-month-old infants. Neuroimage 15, 2, 454–461. Uzgiris, I. C. (1991): The social context of infant imi­ tation. In: Lewis, M. & Feinman, S. (Eds.): Social influences and socialization in infancy (215–251). New York: Plenum Press. Van der Kolk, B. A. (2003): Posttraumatic Stress Dis­ order and the nature of trauma. In: Solomon, M. F. & Siegel, D. J. (Eds.): Healing trauma: Attachment, mind, body and brain (168–195). New York: Norton.

Varela, F. J. (1999): Present-time consciousness. Jour­ nal of consciousness studies 6, 2–3, 111–140. Vygotskij, L. S. (1962 [i. O. 1934]): Thought and Lan­ guage. Cambridge (MA): MIT. – Dt. (2002): Den­ ken und Sprechen. Weinheim: Beltz. Vygotskij, L. S. (1967): Play and its role in the men­ tal development of the child. Soviet Psychology 5, 3, 6–18. Vygotskij, L. S. (1978): Mind in society: The deve­ lopment of higher psychological processes. Cam­ bridge (MA): Harvard University Press. Wang, P. P. & Bellugi, U. (1993): Williams syndro­ me, Down syndrome, and cognitive neuroscience. American Journal of Diseases of Children 147, 1246–1251. Watson, J. S. (1972): Smiling, cooing and the game. Merrill-Palmer Quarterly 18, 323–339. Whitehead, A. N. (1926): Science and the modern world. Lowell Lectures, 1925. Cambridge: Cam­ bridge University Press. Whitehead, A. N. (1929): The Aims of Education and Other Essays. New York: Macmillan. Wigram, T. (2004): Improvisation: Methods and techniques for music therapy clinicians, educators and students. London: Kingsley. Wigram, T. & Elefant, C. (2009): Therapeutic dia­ logues in music: Nurturing musicality of com­ munication in children with Autistic Spectrum Disorder and Rett syndrome. In: Malloch, S. & Trevarthen, C. (Eds.): Communicative musicality: Narratives of expressive gesture and being human (423–445). Oxford: Oxford University Press. Wishart, J. G. (1991): Taking the initiative in learning. A developmental investigation of infants with Down syndrome. International Journal of Disabi­ lity, Development and Education 38, 27–44. Zeedyk, M. S. (2008) (Ed.): Making contact: Promo­ ting social interaction for individuals with com­ municative impairments. London: Kingsley. Zlatev, J., Racine, T. P., Sinha, C. & Itkonen, E. (Eds.) (2008): The shared mind: Perspectives on intersub­ jectivity. Amsterdam: Benjamins. Zlatev, J., Foolen, A., Racine, T. & Lüdtke, U. (Eds.) (2011): Moving Ourselves, Moving Others: Moti­ on and emotion in intersubjectivity, consciousness and language. Consciousness and Emotion Series. Amsterdam: Benjamins. [Fachübersetzung: Bodo Frank & Ulrike Lüdtke]

 II  Sprachwissenschaftliche Gegenstandsdimensionen

Zeichen und Semiose Winfried Nöth

1  Semiotik Zeichen, Zeichenprozesse und Zeichensyste­ me sind die Themen der Semiotik, der Wissen­ schaft von den Zeichen (von griech. sémeion ‚Zeichen‘ bzw. sémeiotiké ‚Lehre von den Zei­ chen‘). Die Wissenschaft von den Zeichen hat eine Geschichte, die von der Antike über die mittelalterliche Scholastik bis in unsere Zeit reicht. Über die Natur der Zeichen allgemein und über die sprachlichen Zeichen im Be­ sonderen haben bereits Platon und Aristote­ les nachgedacht (→ Person und Sprache). Die Frage, zum Beispiel, ob sprachliche Zeichen natürlichen Ursprungs seien, ob also die Wör­ ter mit den Dingen, welche sie bezeichnen, auf natürliche Weise verbunden oder vielmehr al­ lein von den Konventionen einer Sprachge­ meinschaft und ihrer Traditionen bestimmt seien, ist eine der ältesten semiotischen Fra­ gestellungen in der Geschichte der Semiotik. Platon (427–347) widmete ihr seinen Dialog Kratylos. Heute ist die Semiotik eine transdiszipli­ näre Wissenschaft mit einem theoretischen und einem angewandten Zweig. Als Allgemeine Semiotik ist sie eine theoretische Grund­ lagenwissenschaft der Sprach-, Kultur-, und Biowissenschaften, denen sie Modelle zur Analyse von Zeichensystemen und Kommu­ nikationsprozessen liefert. Als Angewandte Semiotik untersucht sie die Zeichen im so­ zialen und kulturellen Leben der Menschen sowie in der Natur aller Lebewesen und Or­ ganismen. Die Evolution der Zeichen seit der Entstehung des Lebens in der Welt (Phyloge­ nese der Zeichen), die Entwicklung des Zei­ chenverhaltens und Zeichengebrauchs im Leben der Menschen (Ontogenese der Zei­ chen), Zeichenstrukturen, -typen und -syste­ me sowie die Zeichen in Kultur, Medien und

Sprache zählen zu ihren Untersuchungsge­ genständen. Weit entwickelte Forschungsge­ biete sind die Kultursemiotik, insbesondere die Mediensemiotik (→ Medien), die Semi­ otik der Architektur, der Photographie, des Films, des Theaters und der Literatur. Zur Se­ miotik der Natur gehören u. a. die Biosemio­ tik und die Zoosemiotik. Die heutige Semiotik hat ihre Wurzeln in den Theorien zweier Forscher, die ihre Zei­ chenmodelle an der Schwelle zum 20. Jahr­ hundert entwickelt haben. Der eine ist der Genfer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857–1913) (→ Sprache und Wahr­ nehmung, → Sprache und Sprechen, → Norm und Differenz).

Abb. 1:  Ferdinand de Saussure (1857–1913)

Der andere ist der amerikanische Philosoph und Universalgelehrte Charles Sanders Peirce (1839–1914), dessen Name sich wie engl. purse und nicht wie pierce ausspricht.

162 

Zeichen und Semiose

mentarische der kulturellen Systeme, wie sie seit den 1970er Jahren etwa im Werk von Roland Barthes (1915–1980) zu einer Abkehr von der Suche nach Systemen und

Abb. 2:  Charles Sanders Peirce (1839–1914)

Abb. 3:  Roland Barthes (1915–1980)

Saussures Zeichenlehre, die er selbst Semiologie nannte und die in den 1960er Jahren das Paradigma für die europäische Semiotik wur­ de, stand ganz im Zeichen des Strukturalismus, dessen Schlüsselbegriffe System und Struktur, Element und Relation, Differenz und Opposi­ tion, Synchronie und Diachronie, Denotation und Konnotation den semiotischen Diskurs in seinem Bemühen beherrschte, die strukturale Linguistik als Wissenschaft von der Sprache zu einer allgemeinen Wissenschaft der kulturel­ len und medialen Systeme zu erweitern. In dem Maße, in dem sich die Semiotik von ihren Wurzeln im saussureschen Struk­ turalismus entfernte, begann sich ihre Ori­ entierung in Richtung eines Poststrukturalismus (→ Person und Sprache, → Sprache und Wahrnehmung, → Norm und Differenz) zu wandeln, der allerdings nie gänzlich seine strukturalistischen Wurzeln aufgab. Etappen auf dem Wege zur poststrukturalistischen Se­ miotik sind: 1. die Einsicht in die mehrfache Kodiertheit, Instabilität, Variabilität und in das Frag­

Strukturen und zur These von der Semio­ tik als einer Kunst führte; 2. die Erweiterungen des Strukturalismus saussurescher Prägung durch eine semi­ otisch reinterpretierte Psychoanalyse im Werk von Jacques Lacan (1901–1981), in dem das Unbewusste gleichwohl als ein

Abb. 4: Jacques Lacan (1901–1981) (mit freundlicher Genehmigung von Fausto Giaccone und der Agentur Anzenberger, Wien)



Zeichen und Kodes   163

Zeichensystem analog zum System der Sprache interpretiert wird; 3. die poststrukturalistische, aber nichtsdes­ toweniger auf dem Strukturalismus fu­ ßende ideengeschichtliche Diskursanaly­ se des Michel Foucault (1926–1984), die in

5. die Rezeption der dynamischen Zeichenund Texttheorie des Mikhail M. Bachtin (1895–1975), die durch Vermittlung von Julia Kristeva (geb. 1941) (→ Behinderung und Vulnerabilität) zur antistrukturalen Theorie der Intertextualität führte;

Abb. 5: Michel Foucault (1926–1984) (mit freundlicher Genehmigung der Agentur Opale, Paris)

Abb. 7: Julia Kristeva (geb. 1941) (mit freundlicher Genehmigung von Prof. Julia Kristeva und John Foley, Agentur Opale, Paris)

der These vom Tod des durch das System der Zeichen determinierten Subjektes und vom Ende eines Humanismus kulminierte, der das Subjekt in den Mittelpunkt seiner Reflexionen stellte; 4. der Dekonstruktivismus des Jacques Derrida (1930–2004) mit seiner Auflösung des statischen Oppositions- und Differenzbe­ griffes des orthodoxen Strukturalismus;

6. die triadische Zeichentheorie des Charles S. Peirce (s. o.), deren mit den Dualismen der statischen saussureschen Semiolo­ gie unvereinbare Prinzipien die Semiotik durch dynamische Prämissen, kogniti­ onstheoretische Aspekte und evolutionäre Perspektiven erweiterte. Einen Überblick über das Gesamtgebiet der Semiotik einschließlich der Semiotik der Sprache vermittelt das Handbuch der Semiotik (Nöth 22000). Einführungen sind Sebeok (1994) sowie Sottong & Müller (1998); eine Enzyklopädie ist das Werk von Posner et al. (1997–2004), und eine Anthologie von Schlüs­ seltexten findet sich in Mersch (1997).

2  Zeichen und Kodes

Abb. 6: Jacques Derrida (1930–2004) (mit freundlicher Genehmigung der Agentur Opale, Paris)

Ein Zeichen ist etwas, das auf etwas anderes verweist, es bezeichnet, bedeutet, abbildet, darstellt bzw. repräsentiert. Es verweist auf et­

  

164 

Zeichen und Semiose

Abb. 8: Das semiotische Dreieck als Standardmodell des Zeichens mit den drei Konstituenten (1) Zeichenträger, (2) Referenzobjekt und (3) Bedeutung

was anderes entweder auf Grund der Regeln eines kulturell gewachsenen und durch Kon­ ventionen bestimmten Zeichenkodes oder auf Grund eigener natürlicher Eigenschaften wie im Fall der Bilder oder der natürlichen Zei­ chen. Das konkrete Zeichen, etwa das gespro­ chene oder geschriebene Wort, das Verkehrs­ schild an der Straße oder das Klingelzeichen an der Tür, heißt auch Zeichenträger. Das an­ dere, auf welches das Zeichen verweist, kann ein Ding, eine Sache, ein Stück der Welt sein, die wir erfahren, oder es kann eine Idee, ein Gedanke oder eine Vorstellung sein, die wir mit dem Zeichen verbinden. Im ersten Fall ist das Korrelat des Zeichens sein Referenzobjekt, im zweiten Fall ist es seine Bedeutung. Ein Standardmodell zur Darstellung dieser drei Konstituenten des Zeichens ist dasjenige des semiotischen Dreiecks (vgl. Abb. 8). Die semiotische Terminologie zur Bezeich­ nung der drei Korrelate des Zeichens ist viel­ fältig (vgl. Abb. 9). An Stelle von Zeichen oder Zeichenträger steht in manchen Theorien der Begriff des Symbols, obwohl zumeist zwi­

schen Zeichen und Symbol eher unterschie­ den wird (vgl. Kap. 3–4). Im Falle von sprach­ lichen Zeichen wird dieser Zeichenträger auch Ausdruck genannt. Alternative Begriffe für die Bedeutung des Zeichens sind Sinn, Inhalt oder Intension; statt vom Referenzobjekt wird auch vom Objekt, dem Referenten, der Bezeichnung, der Denotation, der Designation oder der Extension des Zeichens gesprochen. Die Vielfalt der Begriffe ist zum Teil kenn­ zeichnend für unterschiedliche theoretische Positionen der Semiotik. Auch die Frage, ob alle Zeichen überhaupt drei Korrelate haben, wird unterschiedlich beantwortet. Manche Zeichentheoretiker meinen zum Beispiel, dass Zeichen – wie etwa die Eigennamen – keine Bedeutung, sondern nur eine Bezeichnung haben, da sie allein auf ein Referenzobjekt, nämlich eine Person oder einen Ort, verweisen, das sie lediglich benen­ nen. Daneben findet sich die Auffassung, dass manche Zeichen keine Bezeichnung, sondern nur eine Bedeutung haben. Das Zeichen eines Einhorns z. B., sei es nun das Wort „Einhorn“ oder das Bild eines Einhorns, so diese Auffas­ sung, sei ein Zeichen, das nur eine Bedeutung habe, weil es keinen Gegenstand gebe, auf welchen es verweisen könne. Eine semiotische Grundfrage, welche die verschiedenen Schulen und Richtungen der Semiotik unterschiedlich beantworten, ist diejenige, ob die Welt der Phänomene, mit de­ nen sich der Mensch konfrontiert sieht, eine Welt der Dinge und der Zeichen sei oder ob alle Phänomene letztlich Zeichen seien, weil sie doch immer auf etwas anderes verweisen (→ Sprache und Wahrnehmung). Die dua­ listische Auffassung von der Welt, in der es nichtzeichenhafte und zeichenhafte Dinge



   































Abb. 9: Terminologische Übersicht zu den drei Korrelaten des Zeichens



Modelle und Konzeptionen des Zeichens   165

gebe, betont die Relevanz der Kultur für die Interpretation der Zeichen; nur das sei Zei­ chen, was durch kulturelle Konventionen mit einer bestimmten Bedeutung assoziiert sei. Die andere Auffassung, diejenige von der Welt, in der letztlich alles Zeichen sei oder zumindest alles als zeichenhaft interpretiert werden könne, betont die vermittelnde Rol­ le der menschlichen Kognition bei der Wahr­ nehmung der Dinge bzw. Phänomene der Welt. Die Summe der Zuordnungen von Bedeu­ tungen zu Zeichen in einer bestimmten Kultur wird in der Semiotik auch mit ei­ ner der  ­Kommunikationstheorie entlehnten Meta­pher Kode benannt (vgl. auch Kap. 5). Ein Kode ist demnach ein semiotisches Sys­ tem, in dem Zeichenträgern Bedeutungen nach Regeln zugeordnet sind (Eco 1973). Die­ se Regeln sind kulturelle Konventionen, die gelernt werden müssen, weil sie historisch entstanden und durch Lernen tradiert wor­ den sind. Jede Sprache ist in diesem Sinn ein komplexer Kode, in dem Ausdrücken Inhalte gemäß sprachlicher Konventionen zugeord­ net sind. Ein Beispiel eines einfachen nicht­ sprachlichen Kodes ist dasjenige der Ver­ kehrsampeln, dessen Zeichenträger das Rot-, Gelb- und das Grünlicht mit ihren Bedeutun­ gen, ‚Halt!‘, ‚Frei!‘ und ‚Vorsicht!‘ sind. Nicht zu den konventionellen Zeichen ge­ hören die natürlichen Zeichen. Während die konventionellen Zeichen in der Regel von ei­ nem Sender an einen Empfänger übermittelt werden, haben natürliche Zeichen entweder keinen Sender wie etwa die Thermometeran­ zeige der Lufttemperatur eines Außenther­ mometers, oder sie haben einen Sender, ohne dass dieser die Absicht hätte, zu kommunizie­ ren, wie dies etwa bei dem spontanen Körper­ zeichen des Errötens oder einem spontanen gestischen Ausdruck der Fall ist. Natürliches und Kulturelles, Absichtliches und Unabsichtliches sind in allen Zeichen in zahllosen Kombinationen miteinander ver­ woben, so dass es keine eindeutige Zuord­ nung der Zeichen zu bestimmten Zeichen­ klassen geben kann. Jedes Sprachzeichen hat

z. B. nicht nur konventionelle, sondern auch natürliche Elemente, jedes Bild verbindet na­ türliche mit konventionellen Elementen, und selbst die natürlichen Zeichen im engeren Sinn sind doch nie völlig natürlich, weil ihre Interpretation stets zumindest teilweise vom kulturellen Wissen ihrer Interpreten geprägt ist.

3 Modelle und Konzeptionen des Zeichens Ferdinand de Saussure hat in seinem Cours de linguistique générale ein Zeichenmodell vor­ gestellt, das sich von dem Modell des semio­ tischen Dreiecks (vgl. Abb. 8) unterscheidet. Zwar ist es eigentlich ein Modell des Sprach­ zeichens (z. B. eines Wortes), aber Saussure be­ trachtet die Sprachzeichen als mustergültig für die Natur der Zeichen überhaupt, und im Rah­ men der an seiner Zeichentheorie orientierten Semiotik, für die er den Begriff Semiologie ein­ führte, wird dieses Modell auch zur Analyse nichtsprachlicher Zeichen verwandt. Dem­ nach hat ein Zeichen nicht drei, sondern nur zwei Konstituenten: den Signifikanten oder das Bezeichnende als seine lautliche oder schriftli­ che Ausdrucksform und das Signifikat oder Bezeichnete als seine Bedeutung, sein Inhalt, die mit ihm verbundene Vorstellung. Das Referenzobjekt gehört nicht zum Zeichen (s. u.), so dass Saussure ein dyadisches Zeichenmodell postuliert (vgl. Abb. 10). Der Signifikant des Wortes „Baum“ ist danach etwa seine lautliche oder schriftliche Form; sein Signifikat ist un­ sere Vorstellung, unser Wissen von den Pflan­ zen, die in der deutschen Sprache als Baum (und nicht etwa als „Busch“) bezeichnet wer­ den. Die Beziehung zwischen dem Signifikan­ ten und dem Signifikat eines Wortes ist arbiträr (willkürlich), insofern es keine natürliche Beziehung zwischen beiden gibt. Die Laut­ folge Baum ist ja der Vorstellung eines Bau­ mes in keiner Weise ähnlich, und auch sonst

166 

Zeichen und Semiose

Signifikat (Bezeichnetes, Inhalt, Vorstellung) Zeichen Signifikant (Bezeichnendes, Ausdruck) Abb. 10: Ferdinand de Saussures dyadisches Zeichenmodell: das Zeichen als Verbindung eines Signifikanten (oder Bezeichnenden) mit einem Signifikat (Bezeichnetem)

ist das Wort nicht durch seinen Inhalt moti­ viert, denn die Form, in der die gleiche Vor­ stellung in anderen Sprachen zum Ausdruck gebracht wird (z. B. Engl. tree), ist zumeist eine völlig andere. Arbitrarität ist für Saus­ sure ein wesentliches Merkmal sprachlicher Zeichen. Im Gegensatz zu den Sprachzeichen sind nichtsprachliche visuelle kulturelle Sym­ bole in ihrer Form oft nicht arbiträr, sondern durch Ähnlichkeiten zwischen ihrem Signifi­ kanten und ihrem Signifikat motiviert, auch wenn solche Ähnlichkeiten oft stark konven­ tionalisiert sind. Das Kreuz als Symbol für das Christentum ist als Abbild des Kreuzes Chris­ ti durch seine Ähnlichkeit mit diesem moti­ viert. Das Bild des Totenkopfes als Symbol für „Gift“ ist metonymisch durch den Tod moti­ viert, welcher die Folge einer Vergiftung sein kann. Saussure definiert das Zeichen unter Aus­ schluss seines Referenzobjektes (→ Sprache und Wahrnehmung). Das Zeichen verbinde nicht eine Sache mit einem Namen, sondern einen Ausdruck mit einem Inhalt. Die Dinge der Welt hätten keine Relevanz für die Zei­ chen, da die Zeichen immer nur unsere kul­ turellen Vorstellungen von den Dingen zum Ausdruck brächten. Was ein Zeichen bedeu­ te, sei stets durch andere Zeichen des gleichen Zeichensystems definiert, nie durch den Ver­ weis auf die bezeichneten Dinge. Wörter seien durch andere Wörter definiert, und selbst un­ sere Vorstellungen oder Ideen, als Signifikate der Zeichen, stünden nie von vornherein fest, sondern sie seien stets durch das Zeichensys­ tem bestimmt, dem sie angehören. Im Gegensatz zu Saussures dyadischem Zeichenmodell ist das Modell des Zeichens, das Peirce in seinen Collected Papers vorstellt, ein triadisches. Die drei Konstituenten dieses

Modells entsprechen allerdings nur teilwei­ se den Konstituenten des semiotischen Drei­ ecks von Abb. 8. Die erste Konstituente des peirceschen Modells ist das wahrnehmbare oder wahrgenommene Zeichen. Die zweite ist sein Objekt als das, worauf sich das Zeichen bezieht. Dies kann eine Sache oder ein Ding sein, aber auch eine bloße Vorstellung, eine Idee, ein Gedanke, eine mentale Repräsenta­ tion, denn das Objekt ist das, wofür das Zei­ chen steht, was es repräsentiert und was es als Wissen von dem Bezeichneten voraussetzt, wenn das Zeichen verständlich sein soll. An­ ders als nach dem traditionellen Dreiecksmo­ dell gibt es bei Peirce also keine kategorische Trennung zwischen dem Korrelat der Vorstel­ lungen und demjenigen der Dinge, denn das Objekt des Zeichens kann sowohl ein Ding als auch eine Vorstellung sein. Drittens ge­ hört zum Zeichen der so genannte Interpretant (nicht zu verwechseln mit dem Interpre­ ten). Er ist die vom Zeichen erzeugte und der Wahrnehmung des Zeichens folgende Vor­ stellung, Kognition, Interpretation oder sons­ tige Wirkung des Zeichens. Das peircesche Modell des Zeichens hat die Form einer Drei­

Abb. 11: Das Diagramm einer genuinen Triade als Zeichenmodell von C. S. Peirce



Typologie der Zeichen   167

ergabel (vgl. Abb. 11). Besser als das Modell eines Dreiecks, dessen drei Seiten jeweils als Darstellungen dyadischer Beziehungen lesbar sind, verdeutlicht dieses Gabelmodell den Ge­ danken, dass die Korrelate des Zeichens eine genuine Triade bilden und nicht auf dyadi­ sche Beziehungen reduzierbar sind. Der Interpretant eines Zeichens ist nun aber selbst ein Zeichen, denn jeder Gedan­ ke, aber auch jede andere Reaktion oder Ver­ haltensweise, die ein Zeichen auslöst, ist nach Peirce ebenso ein Zeichen; und so folgen jedem Zeichen in einem stets weiter führenden Zei­ chenprozess – Semiose genannt (vgl. Kap. 5) – immer neue Zeichen (→ Sprache und Wahr­ nehmung). Auch wenn diese Zeichenkette in der Realität ähnlich wie eine Gedankenkette abbrechen kann, so ist doch der Prozess der Semiose stets zumindest potenziell stets ein endloser. Beziehen wir diese Definition eben­ falls auf das Sprachzeichen Baum: Das Zei­ chen selbst ist die gesprochene oder geschrie­ bene Form dieses Wortes. Sein Objekt ist all das, was wir von Bäumen wissen, bevor und unabhängig davon, ob wir das Zeichen in ei­ nem bestimmten Moment wahrnehmen. Mit dem Interpretanten dieses Zeichens ist die Vorstellung gemeint, welche das Wort in sei­ nem gegebenen Kontext hervorruft, aber auch das Handeln als Reaktion auf dieses Zeichen. Beispielsweise ist ökologisches Konsumver­ halten als Reaktion auf eine Nachricht über das Waldsterben ein Interpretant der Zeichen dieses Berichtes. Moderner ausgedrückt ist das Objekt des Zeichens unsere kognitive Er­ fahrung, unser Weltwissen von dem, worauf sich die Zeichen beziehen. Das Objekt geht im Prozess der Semiose notwendiger Weise dem aktuell wahrgenommenen Zeichen voraus, während der Interpretant dem Zeichen folgt. Da jedes Zeichen durch seinen Interpretanten ein neues Zeichen erzeugt, beginnt auf die­ se Weise ein Prozess der potenziell „unend­ lichen Semiose“, in dem Zeichen immer neue Zeichen zur Folge haben.

4  Typologie der Zeichen In Peirce’s Semiotik gibt es eine höchst ela­ borierte Typologie der Zeichen, deren wich­ tigster Bestandteil die Ikon-Index-Symbol Trichotomie ist (vgl. Abb. 12) (→ Sprache und Wahrnehmung, → Unterstützte Kommunika­ tion). Die Bestimmung dieser drei Zeichenty­ pen erfolgt nach dem Kriterium der Relation des Zeichens zu seinem Objekt. Während das Ikon sein Objekt auf Grund von Eigenschaf­ ten repräsentiert, die es als Zeichen selbst cha­ rakterisiert (1), ist ein Index ein Zeichen, das durch eine existenzielle (kausale, zeitliche oder räumliche) Beziehung zu seinem Objekt ge­ kennzeichnet ist (2), während ein Symbol nur deshalb sein Objekt repräsentieren kann, weil es auf Grund von Konventionen als solches interpretiert wird (3). Ikonisch sind Zeichen, die mit ihrem Ob­ jekt gemeinsame Eigenschaften haben und ihnen deshalb ähnlich sind. Darstellende Bil­ der, gegenständliche Skulpturen, imitieren­ de Gesten sind visuelle Ikons; lautmalerische Wörter und musikalische oder andere Schall­ imitationen in der so genannten Tonmalerei oder etwa im Hörspiel sind Beispiele für akus­ tische Ikons. Peirce unterscheidet drei Unter­ klassen der ikonischen Zeichen: das Bild, das Diagramm und die Metapher. Bildikonizität beruht auf einer Korrespondenz „einfacher Qualitäten“ zwischen dem Zeichen und sei­

Abb. 12: Peirce’s Zeichentypen nach dem Kriterium der Objektrelation

168 

Zeichen und Semiose

nem Objekt, sei sie nun visuell oder akustisch. Das Farbfoto eines grünen Apfels ist ein vi­ suelles Bild in diesem Sinn, denn ein solches Foto zeigt eine Farbe und eine Form, die der Farbe und der Form des Apfels selbst ähn­ lich sind. Lautsymbolische Wörter, die ein zischendes oder reibendes Geräusch durch Wörter mit einem Sibilanten (Zischlaut) oder einem Frikativ (Reibelaut) wiedergeben (→  Hören und Sprechen), sind akustische bzw. verbale Bilder. Ein Diagramm ist demge­ genüber bloß strukturell seinem Objekt ähn­ lich; hier kommt es nicht auf qualitative, son­ dern auf relationale Korrespondenzen an. Die Karte eines U-Bahnnetzes ist ein Diagramm, und auch eine mathematische Formel bildet diagrammatisch (d. h. relational) eine Kor­ respondenz zwischen ihren Elementen ab. Auch eine Wortfolge, die in der Reihenfolge ihrer Zeichen der Reihenfolge der Ereignisse entspricht, auf die sie sich bezieht, ist ein Dia­ gramm. Die Ikonizität einer Metapher besteht schließlich in dem Parallelismus, welchen sie zwischen ihrer wörtlichen und ihrer übertra­ genen Bedeutung evoziert. Ein Index oder auch Anzeichen ist ein Zei­ chen, das mit seinem Objekt zeitlich, räum­ lich oder kausal verbunden ist. Es verweist dabei immer auf etwas Individuelles, konkret Existierendes. Ein Index zeigt an, aber er stellt nichts dar. Beispiele sind ein Wetterhahn, der die Windrichtung erkennen lässt, ein Ther­ mometer, das die Temperatur eines Körpers anzeigt, eine Zeigegeste, die auf einen Ge­ genstand hinweist. Deiktische Wörter wie ich und du, hier und heute (→ Sprache und Wahrnehmung), die Hinweise auf die Perso­ nen, Zeit und den Ort ihrer Äußerung impli­ zieren, sind indexikalische Zeichen. Symbole verweisen auf Allgemeines; ihr Objekt wird mit dem Zeichen auf Grund von Lernprozessen, kulturellen Regeln und Konventionen sowie durch Gewohnheiten der Zei­ chenbenutzer in Beziehung gesetzt. Anders als in der Tradition der Poetik und Theolo­ gie sind Symbole nach dieser Definition nicht motivierte, bildhafte oder gar universelle Zei­ chen, sondern Zeichen, die auf Grund eines

kultur- oder fachspezifischen Kodes mit ih­ ren Objekten verbunden sind. Im Gegensatz zu den natürlichen Zeichen müssen Symbole mit ihrem Kode, der ihre Bedeutung festlegt, gelernt werden. Buchstaben, Zahlen, Formel­ zeichen, Wörter oder ganze Ideologien sind Symbole in diesem Sinn. Alle Symbole bein­ halten jedoch auch Elemente des Ikonischen und des Indexikalischen. Nationalflaggen sind z. B. Symbole auf Grund ihrer kulturellen und gesetzlichen Festlegung, aber ihre Farben und Wappenelemente sind oft ikonisch moti­ viert.

5 Kommunikation, Signifikation und Semiose Als allgemeine Zeichenwissenschaft befasst sich die Semiotik nicht nur mit Definitio­ nen, Typen und Systemen von Zeichen, son­ dern auch mit Zeichenprozessen. Während Peirce allgemein von Prozessen der Semiose spricht, unterscheidet die strukturale Semio­ tik des 20.  Jahrhunderts zwischen Prozessen der Kommunikation und der Signifikation (→ Sprache und Sprechen). Kommunikation ist der dialogische Zei­ chenprozess, der neben einem Sender des Zei­ chens einen Empfänger und zumeist auch ei­ nen Austausch von Zeichen zwischen beiden Zeicheninstanzen voraussetzt (→ Intersub­ jektive Kommunikation). Saussure hat diesen Prozess durch sein Modell des dialogischen Redekreislaufs veranschaulicht (vgl. Abb. 13). Nach dem Modell der Nachrichtentheorie sind die beiden Instanzen der Kommunika­ tionssituation der Sender und der Empfänger bzw. der Kommunikator und der Rezipient (vgl. Abb. 14). Zwischen beiden Kommuni­ kationspartnern erfolgt der Austausch von Signalen zur Übermittlung einer Nachricht. Sowohl der Kommunikator als auch der Re­ zipient müssen über die Kenntnis eines Kodes verfügen (vgl. Kap. 2), mittels dessen sie den Signalen eine Bedeutung zuordnen kön­



Kommunikation, Signifikation und Semiose   169

Abb. 13:  Saussures Modell des Redekreislaufs zwi­ schen zwei Dialogpartnern A und B (Saussure 1916, 27–28)

nen. Beispielsweise ist die deutsche Sprache ein solcher Kode, in dem sich nur diejenigen verständigen können, die die erforderlichen Kenntnisse dieser Sprache haben. Als Zei­ chenrepertoires (ZR) der Kommunikations­ partner sind die Kodes des Kommunikators (ZR K) und des Rezipienten (ZR R) nie de­ ckungsgleich. Verständigung ist nur insofern möglich, als die Repertoires eine gemeinsa­ me Schnittmenge an Zeichen haben, die bei­ de verstehen (ZR K,R). Die Übermittlung der Signale erfolgt über den Kanal, z. B. über eine Telefonleitung, über Schallwellen im Raum oder über Papier und Tinte und das Licht im Sehfeld, über den Weg also, über den sich die Kommunikationspartner mündlich oder schriftlich verständigen. Der Kanal ist an­ fällig für Störquellen wie Stromausfall, Lärm oder Dunkelheit. Wesentlich für erfolgreiche Nachrichtenübermittlung sind verschiedene Rückkopplungskreise; durch ständige Rück­ kopplung überprüfen Sender und Empfänger, ob die eigenen Signale und diejenigen des an­ deren die richtigen sind, und sie geben Rückmeldungen (Feedback), falls sie Störungen der

Nachrichtenübermittlung bemerken, die Kor­ rekturen erforderlich machen. Die Semiotik der Kommunikation geht des Weiteren Fragen nach wie: Ist Kommu­ nikation als „Austausch“ von Nachrichten überhaupt möglich, wenn doch eigentlich gar keine Signale vom Geist des Sprechers in den Geist des Hörers „fließen“ können? Wie kann überhaupt ein Zeichen von einem Sender zu einem Empfänger gelangen, wenn doch die Zeichenproduktion und -rezeption menta­ le Prozesse sind? Kann es Kommunikation ohne einen Empfänger geben; kann jemand mit sich selbst kommunizieren? Welches sind die Ursachen und Umstände einer Kommu­ nikationsstörung? Setzt Kommunikation die Intention (Absicht) zu kommunizieren vor­aus (→ Intersubjektive Kommunikation)? Gibt es Zeichen, die anzeigen, dass kommuni­ ziert wird, und wenn ja, welche Zeichen sind es? Was ist eine erfolgreiche, und was ist eine missglückte Kommunikation? Welche Erwar­ tungen sind mit Kommunikationsakten ver­ bunden? Die letztgenannten Fragen fallen in ein Gebiet der Semiotik, das auch Pragmatik

170 

Zeichen und Semiose

Abb. 14:  Das nachrich­ tentheoretische Modell der Kommunikation als Austausch von Signalen (Nöth 22000, 245)

genannt wird und das in der Linguistik als Theorie der Sprechakte und des kommunika­ tiven Handelns untersucht wird (→ Sprache und Sprechen). Signifikation ist ein Zeichenprozess, bei dem ein Phänomen als ein Zeichen, also als etwas, das für etwas anderes steht, interpre­ tiert wird, ohne dass es die Intention eines Senders gibt. Hierzu zählen in erster Linie die natürlichen (zumeist indexikalischen) Zei­ chen, denn sie deuten auf etwas anderes als auf sich selbst, haben aber keinen Sender, der die Intention hätte, etwas zu kommunizieren. Die Semiotik der Signifikation handelt jedoch nicht nur von natürlichen Indices, wie sie sich in der physikalischen Natur ereignen, wie etwa die Farbe des Lackmuspapiers, das den Nachweis der Säure bzw. Lauge erbringt. Semiose ist ein Schlüsselbegriff der Semio­ tik von Peirce. Seit Charles Morris (1938) verstehen viele Semiotiker unter „Semiose“ ganz allgemein einen „Zeichenprozess“, ei­ nen Prozess also, in dem etwas als Zeichen wahrgenommen und interpretiert wird. Im Gegensatz zu dieser verbreiteten Definition

der Semiose, die die Wahrnehmung und In­ terpretation eines Phänomens „als Zeichen“ als einen kognitiven Prozess begreift, dessen Ursachen und Ursprünge allein im Geist der Zeichenbenutzer liegen, versteht Peirce unter Semiose einen Prozess, dessen bestimmende Ursache das Zeichen selbst ist. Nicht der Zei­ chenbenutzer (allein) bestimmt, in welcher Weise ein Zeichen zu verwenden und zu in­ terpretieren ist, sondern (auch) das Zeichen als Ergebnis früherer Zeichenprozesse. Se­ miose ist danach ein triadischer Prozess, in dem ein Zeichen kognitive Effekte auf seine Interpreten ausübt (→ Kognition und Emo­ tion). Zeichenhandlungen gehen dabei nicht allein von den Sendern eines Zeichens und deren Intentionen aus, sondern sie werden auch von den Zeichen selbst bestimmt, denn „jedes Zeichen besitzt seine eigene besonde­ re Interpretierbarkeit, bevor es irgend einen Interpreten hat“ (Oehler 1993, 129). Peirce spricht in diesem Sinn von den „Handlungen“ (actions) der Zeichen im Prozess der Semio­ se (CP 5.472, 5.484). Die damit verbundene Annahme von der Autonomie des Zeichens



Semiotik der ­gesprochenen und der geschriebenen ­Sprache   171

im Prozess der Semiose findet ihre Erklä­ rung in der Logik der Zeichen. Diese erlaubt es den Zeichenbenutzern nämlich nicht, die Zeichen ganz nach ihren eigenen Gutdünken und Vorstellungen zu verwenden. Vielmehr bestimmen die Zeichen auch unabhängig von der Intention der Zeichenbenutzer mit, was diese zum Ausdruck bringen können, was die Zeichen bedeuten können und was nicht. Die Logik und die Repräsentierbarkeit der Bedeu­ tungen sind ebenso wie die Wahrheit vorge­ geben, welche durch Zeichen zum Ausdruck gebracht werden.

6 Semiotik der ­gesprochenen und der geschriebenen ­Sprache Unter allen Zeichensystemen der menschli­ chen Kultur ist die gesprochene Sprache das wichtigste. Durch Wörter und Sätze kön­ nen wir nicht nur Bilder, Musik oder Ges­ ten beschreiben, umschreiben und somit re­ präsentieren, sondern auch Gerüche und Geschmacksempfindungen benennen und differenziert unterscheiden (→ Sprache und Wahrnehmung), während das Umgekehrte nicht gilt: mit Bildern, Gesten, Tönen und Me­ lodien oder gar mit Gerüchen können wir In­ halte sprachlicher Äußerungen kaum oder gar nicht wiedergeben (Benveniste 1969). Mehr als andere Zeichensysteme stellt die Sprache somit Zeichen zur Verfügung, welche ande­ re Zeichen als Metazeichen repräsentieren. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Sprache al­ len anderen Zeichensystemen in jeder Hin­ sicht überlegen sei. Sprache kann zwar Musik und Bilder beschreiben, aber eine solche Be­ schreibung kann das akustische bzw. visuelle Vorbild nie in seiner ganzen Erscheinungs­ weise und Komplexität repräsentieren oder gar substituieren; vielmehr ergänzen sich die verbalen, nonverbalen und visuellen Zeichen im System der kulturellen Zeichen gegenseitig.

In der Evolution der Menschheit ist die Sprache zuerst in ihrer gesprochenen Form entstanden (→ Hören und Sprechen, → Ko­ gnition und Emotion). Erkenntnisse der Kulturanthropologie rechtfertigen die An­ nahme, dass sich die Lautsprache vor etwa 300 000  Jahren zu entwickeln begann. Ob ihr eine gestische Sprache oder gar eine Ge­ bärdensprache vorausgegangen ist (→ Ge­ bärden und Sehen), ist umstritten und empi­ risch nicht nachweisbar; dass aber gestische, mimische und Blickkommunikation evolu­ tionsgeschichtlich älter sind als die gespro­ chene Sprache, ist evident. Die gesprochene Sprache bedient sich des akustisch-auditiven Kommunikations­kanals zur Übermittlung von Mitteilungen von Mensch zu Mensch. Der wichtigste alternative Kanal für die menschli­ che Kommunikation ist der visuelle, und die wichtigsten visuell manifestierten Sprachen sind die Schrift- und die Gebärdensprache. Gegenüber der Lautsprache ist die Schrift­ sprache relativ jung (→ Lesen und Schreiben). Ihre ersten Vorläufer haben ein Alter von ca. 10 000 Jahren. Kulturgeschichtlich gingen der Schrift Bildzeichen voraus, die als Fels­ zeichnungen (Petroglyphen) und -malerei­ en überliefert sind. Was diese frühe Pikto­ graphie von der Schrift unterscheidet, ist die fehlende systematische Korrespondenz zwi­ schen ihren Zeichen und Elementen mit den Wörtern und Sätzen der gesprochenen Spra­ che. Die Schrift entstand aus dem Bestreben der Erweiterung des menschlichen Kommu­ nikationspotenzials. Während der akustische Kommunikationskanal der Lautsprache zwar für die unmittelbare menschliche Kommu­ nikation von Vorteil ist, hat die gesprochene Sprache doch den Nachteil der Flüchtigkeit der übermittelten Zeichen. Der visuelle Kom­ munikationskanal hingegen erlaubt durch die Fixierung der Zeichen auf ihrem Schreib­ grund die Produktion von relativ dauerhaf­ ten Zeichen und damit Kommunikation über größere Zeiträume auch in Abwesenheit des Senders. Die Evolution der Schrift von ihren pik­ tographischen Vorläufern bis zu Schriftsys­

172 

Zeichen und Semiose

temen, welche die Zeichen der Lautsprache mit einer annähernden Eins-zu-eins-Kor­ respondenz repräsentieren können, dauerte ca. 5000  Jahre. Alle heutigen Schriftsysteme sind mehr oder weniger autonome Zeichen­ systeme. Zwar sind sie aus der Lautsprache entstanden und in der Lage, deren Zeichen relativ genau, wenn auch nie eins-zu-eins ent­ sprechend zu repräsentieren, aber die Schrift hat auch einige Zeichen, welche der Lautspra­ che fehlen, z. B. die Satzeichen, die Groß- und Kleinschreibung, die orthographische Dif­ ferenzierung lautlich gleicher Wörter (Ho­ monyme) durch unterschiedliche Buchsta­ bierung oder die verschiedenen Leer­zeichen zwischen Wörtern, Absätzen und Seiten. Je nach Schriftsystem repräsentieren die schriftlichen Zeichen die gesprochene Spra­ che durch Einheiten, die Phonemen (in al­ phabetischen Schriftsystemen), Silben (in Sil­ benschriften) oder Wörtern (in Logo- bzw. Ideographien) entsprechen (→ Lesen und Sch­ reiben). Die schriftliche und die gesprochene Sprache sind dabei keine konkurrierenden, sondern alternative und kulturell komple­ mentäre Zeichensysteme, deren Eigenheiten und Verwendungsweisen von den Gegeben­ heiten der Kommunikationssituation abhän­ gen. Während die gesprochene Sprache zur unmittelbaren und direkten (face-to-face) Kommunikation dient, erfolgt schriftliche Kommunikation, sieht man einmal von neus­ ten Formen der elektronischen Datenübertra­ gung ab, raum- und zeitversetzt. Alle gesprochenen Sprachen bestehen aus einer großen Zahl an bedeutungstragenden und einer relativ kleinen Zahl an bedeutungs­ differenzierenden Zeichen. Bedeutungstra­ gend sind die Wörter sowie die grammati­ schen und lexikalischen Morpheme einer Sprache, bloß bedeutungsdifferenzierend sind die Phoneme (Vokale und Konsonanten), denn sie bedeuten nichts, dienen aber dazu, die Unterscheidung zwischen den bedeu­ tungstragenden Zeichen zu ermöglichen, etwa den Unterschied zwischen Pein und Bein, zwei Wörtern, die sich lediglich durch die zwei ansonsten bedeutungslosen Konso­

nanten /p/ und /b/ unterscheiden (→ Hören und Sprechen). Das semiotische Prinzip der Strukturierung eines Zeichensystems aus be­ deutungstragenden und bedeutungsdifferen­ zierenden Elementen, das für die Sprache gilt, heißt auch Prinzip der doppelten Gliederung. Neben den Lautsprachen sind auch die al­ phabetischen und silbischen Schriftsprachen nach diesem Prinzip der doppelten Gliede­ rung strukturiert. Auch für die Gebärden­ sprachen (→ Gebärden und Sehen) gilt nach Auffassung einiger Forscher das Prinzip der doppelten Gliederung (vgl. Nöth 2000, 383– 384). In Analogie zu den Phonemen der Laut­ sprache heißen die bedeutungsdifferenzieren­ den Elemente der Gebärden Chereme, und der Zweig der Gebärdensprachenforschung, der sich mit Analyse der bedeutungsdifferenzie­ renden Minimaleinheiten befasst, ist die Cherologie. Die bedeutungstragenden Zeichen der ideographischen Schriftsysteme lassen sich dagegen nicht in bedeutungsdifferenzie­ rende Zeichen segmentieren. Jedenfalls gibt es in diesen Zeichensystemen anders als in der Lautsprache kein begrenztes Inventar an be­ deutungsdifferenzierenden Elementen, aus denen sich die bedeutungstragenden Zeichen zusammensetzen.

7 Nonverbale und visuelle ­Kommunikation Als nonverbale Kommunikation beschreibt die Kommunikationsforschung im Allgemeinen die verschiedenen Formen der Kommunikati­ on mittels des menschlichen Körpers, welche die gesprochene Sprache begleiten oder sie in bestimmten Situationen ersetzen. Der Begriff „nonverbale Kommunikation“ wird zwar ge­ legentlich auch zur Bezeichnung anderer For­ men der nichtsprachlichen Kommunikation, wie etwa durch Bilder (→ Ästhetische Kom­ munikation), dekorative Gestaltung, Design, Geräusche, Musik (→ Rhythmus) oder auch Speisen und Gerüche verwandt, aber im en­



Zeichensprachen und ­Sprachsubstitute   173

geren Sinn gehören zum Forschungsgebiet der nonverbalen Kommunikation nur die Modi der Körperkommunikation. Die Forschungs­ felder sind in erster Linie die Gestik, die Mimik (Gesichtsausdruck), die Blickkommunikati­ on, die „Körpersprache“ durch Körperhaltung und -orientierung, das Ausdruckspotenzial der Körperbewegung (auch Kinesik genannt), die taktile Kommunikation (durch Berüh­ rung), die Kommunikation durch Raum- und Territorialverhalten (Proxemik) und der zeitli­ che Aspekt der zwischenmenschlichen Kom­ munikation (Chronemik). In zweiter Linie ge­ hört auch die „Körpersprache“ im weiteren Sinn dazu: Mode, Frisur, Kosmetik und die Formen der permanenten Körper-„Designs“ durch Tätowierungen oder Schönheitsope­ rationen, oft auch die nichtsprachliche vo­ kale Kommunikation und die Parasprache, das eher individuelle Ausdruckspotenzial der menschlichen Stimme und des Sprechens in der sprachlichen Kommunikation (→ Norm und Differenz). Das gesamte Forschungsge­ biet wird zumeist interdisziplinär aus einer primär sozialpsychologischen Perspektive be­ arbeitet. Von allen Modi der nonverbalen Kommu­ nikation ist die Gestik zweifellos die wichtigs­ te (→ Intersubjektive Kommunikation, → Ge­ bärden und Sehen). Im engeren Sinn umfasst sie die Ausdrucksbewegungen der Hände und der Arme. Das Ausdruckspotenzial der Ges­ tik wird nach verschiedenen semiotischen Gesichtspunkten klassifiziert und analysiert. In ihrem Bezug zur Lautsprache ist die Unter­ scheidung von redebegleitenden und autono­ men Gesten von Bedeutung. Redebegleitende Gesten haben Funktionen wie Hervorhebung einzelner Wörter, ganzer Sätze oder eines Ge­ dankenverlaufs, Verbildlichung einer bespro­ chenen Handlung oder eines Gegenstandes, begleitende Veranschaulichung des Rhyth­ mus oder Tempos eines Ereignisses, räumli­ che Darstellung eines besprochenen Gegen­ standes oder gestischer Hinweis auf den Ort oder die Sache, über welche gesprochen wird. Das sprachunabhängige Repertoire der au­ tonomen Gesten bildet einen kulturspezifi­

schen Kode konventioneller Gesten, die von Land zu Land Unterschiedliches bedeuten können und die sich z. T. in berufsspezifische Fachgesten (z. B. von Autofahrern, Schieds­ richtern oder Trampern) untergliedern. Anders als die Sprache, die nur als arti­ kulierte und nie als bloß gedachte Rede eine kommunikative Funktion für den Empfän­ ger erlangt, ist der menschliche Körper ein nonverbaler Zeichenträger, der in einer Kom­ munikationssituation jederzeit zur Quelle ei­ ner Nachricht werden kann. Die potenziellen Botschaften des Körpers können allenfalls durch Abwesenheit der Person ihres Senders zum „Schweigen“ gebracht werden. Die Se­ miotizität des menschlichen Körpers und sei­ ner Gesten ist allerdings von vielen Umstän­ den der kommunikativen Situation abhängig. Während etwa konventionell kodierte Gesten in jeder Situation als Zeichen fungieren, wer­ den die Bewegungen der Arme und Hände bei praktischen Handlungen, etwa bei der manu­ ellen Arbeit, zumeist nicht als zeichenhaft in­ terpretiert.

8 Zeichensprachen und ­Sprachsubstitute Die menschliche Sprache ist ein primäres Zei­ chensystem, dessen Elemente und Strukturen von keinem anderen Zeichensystem abgeleitet sind. Auf jeden Fall ist die gesprochene Spra­ che keine Übersetzung oder sonstige Transfor­ mation irgendeines anderen Zeichensystems. Die Schriftsprache ist zwar kulturgeschicht­ lich von der Lautsprache abgeleitet und somit historisch sekundär, aber auch sie kann in der Kultur einer modernen Gesellschaft mit al­ phabetisierter Bevölkerung als ein primärer Kode gelten, denn die heutige Schreib- und Le­ sekultur basiert nicht einfach auf einer bloßen Verschriftlichung einer ansonsten gesproche­ nen Sprache. Es gibt zu viele besonderen Ei­ genarten der Schriftkultur, welche Beweise für die relative Autonomie und Eigenständigkeit

174 

Zeichen und Semiose

der Schriftzeichen gegenüber der Lautsprache liefern (→ Lesen und Schreiben). Neben den primären gibt es sekundäre oder auch substitutive Sprachkodes. Diese Ko­ des sind von einer primären Sprache abgeleitet und ersetzen oder ergänzen diese unter Um­ ständen, unter denen weder mündlich noch schriftlich kommuniziert werden kann oder darf. Natürliche oder beabsichtigte Sprach­ barrieren, Geheimsprachen und Sprachtabus, das Ziel der Telekommunikation und die Er­ schließung alternativer Kommunikations­ wege für Körperbehinderte (→  Unterstützte Kommunikation) zählen zu den Gründen, die zur Entwicklung von substitutiven Sprachko­ des geführt haben. Zur Überwindung von Sprachbarrieren haben z. B. die Völker der nordamerikani­ schen Great Plains spezifische Gebärdenspra­ chen entwickelt. In Mönchsorden, deren Mit­ glieder ein Schweigegelübde abgelegt haben, substituieren seit dem Mittelalter die Ges­ ten von ordensspezifischen Gebärdenkodes die Zeichen der gesprochenen Sprache. An­

ders als die Gebärdensprache der Gehörlosen sind diese Gebärdensprachen keine primären Sprachen, denn die Mönche nutzen z. B. ihren Gebärdenkode neben der Schriftsprache, die sie lesen, und der Lautsprache, die sie weiter­ hin zur religiösen Kommunikation verwen­ den. Die Notwendigkeit der Geheimhaltung von Nachrichten hat zur Entwicklung sekun­ därer Geheimkodes geführt, welche zur Ver­ schlüsselung geschriebener Sprache dienen. Als Sprachsubstitute zur Ermöglichung von Telekommunikation dienen bzw. dienten in Afrika, Vorderasien und auf den Kanarischen Inseln Trommel- bzw. Pfeifsprachen, in de­ nen Wörter und Sätze durch Trommel- bzw. Pfeifsignale substituiert werden, die den Laut­ zeichen in Ton und Rhythmus ähneln. Für Sehbehinderte, die sich ansonsten sprechen und hören können, dient die Brailleschrift dazu, das Lesen auf dem Wege des taktilen Kanals zu ermöglichen (vgl. Abb. 15). Die Elementarzeichen der Brailleschrift sind im Wesentlichen Buchstaben und Zahlen, die mit den Fingerspitzen abgetastet werden

Abb. 15:  Buchstaben­ kodes dreier Sprach­ substitute: Morse-, Brailleund Flaggenalphabet



Zeichensprachen und ­Sprachsubstitute   175

Abb. 16: Die Buchstaben A bis E in den Handalphabeten ASL (oben) und BSL (unten)

(→ Gebärden und Sehen). Als Sprachsubstitut für gehörlose Blinde dienen auf Buchstabene­ bene taktile Handalphabete und auf Wortebe­ ne ideographische Zeichensysteme wie z. B. die Bliss-Symbole (→ Unterstützte Kommu­ nikation). Zur Telekommunikation dient auch das Flaggenalphabet der Marine. Die Notwendig­ keit zur Einsparung von Übertragungskos­ ten hat im Kontext der Telekommunikations­ systeme zur Erfindung des Morsealphabets geführt (vgl. Abb. 15). Zu den sekundären Sprachkodes, die zur Nachrichtenübermitt­ lung auf elektronischem Wege dienen, gehö­ ren die digitalen Kodes der Datenverarbei­ tung. Die kultursemiotisch wichtigsten aller Sprachkodes neben der Laut- und der Schrift­ sprache sind die Gebärdensprachen der Ge­ hörlosen (→ Gebärden und Sehen). Als voll entwickelte sprachliche Zeichensysteme kön­ nen sie nicht als sekundäre und schon gar nicht als substitutive Sprachkodes bezeich­ net werden, zumal sie strukturell weitgehend unabhängig von der Primärsprache der Kul­ tur sind, in der sie Verwendung finden. Die Deutsche, Britische oder auch Amerikanische Gebärdensprache (DGS, BSL, ASL) sind z. B. in ihren Zeichen keinesfalls Eins-zu-eins-Re­ präsentationen von Zeichen der Laut- bzw.

Schriftsprache des Deutschen oder Engli­ schen, obwohl wie bei einer Fremdsprache eine völlige Übersetzbarkeit ihrer Zeichen in die gesprochene Sprache möglich ist. Schon das Handalphabet der ASL ist anders als das­ jenige der BSL; während die ASL die Buch­ staben A bis E beispielsweise mit einer Hand bildet, müssen in der BSL jeweils zwei Hän­ de zur Bildung der gleichen Buchstaben ver­ wandt werden (vgl. Abb. 16). Anders als die

Abb. 17: Das ASL-Zeichen für „Mädchen“, gebildet durch das Herunterziehen des Daumenbal­ lens entlang des Kinns, als Beispiel eines lexi­ kalischen Symbols (arbiträren Wortzeichens)

176 

Zeichen und Semiose

Brailleschrift der Blinden ist das Handalpha­ bet der Gehörlosen allerdings nur ein kleiner Subkode der Gebärdensprachen. Die Gebärdensprachen der Gehörlosen sind keine Universalsprachen, denn sie un­ terscheiden sich in ihrem Wortschatz und ihrer Grammatik untereinander und ihre Zeichen sind hochgradig konventionalisiert. Ohne Zeichenelemente, die mit den Buchsta­ ben bzw. Phonemen der in der gleichen Kul­ tur gesprochenen oder geschriebenen Sprache korrespondieren, bestehen die Gebärdenspra­ chen im Wesentlichen aus ideographischen Zeichen. Obwohl im Wortschatz der Gehör­ losensprachen Ikonizität eine besondere Rol­ le spielt, sind ihre Zeichen nicht prinzipiell ikonischer Art. Abbildung 17 veranschaulicht durch ein Beispiel, wie schon im Grundwort­ schatz von ASL ein Wort zu finden ist, das zur Klasse der Symbole gehören, weil es sei­ nem Referenzobjekt in keiner Weise ähnlich ist. Wie bei der Schrift ist bei den Gebärden­ sprachen der Kommunikationskanal der vi­ suelle. Im Unterschied zur zeit- und orts­ versetzten Schriftkommunikation dient die Gebärdensprache aber der direkten und un­ mittelbaren Kommunikation. Das ­Medium der sprachlichen Kommunikation ist der menschliche Körper (Arme, Hände, Mund­ bild, Augen, Gesichtsausdruck). Die Zeichen­ elemente sind vor allem die Hand, ihre Form

und Stellung, ihr Ort, ihre Bewegungsrich­ tung und ihr Tempo (→ Gebärden und Sehen).

Literatur Benveniste, E. (1969): Sémiologie de la langue. Semi­ otica 1, 1–12, 127–35. Eco, U. (1973): Il segno. Milano. – Dt. (1979): Zeichen: Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Mersch, D. (Hrsg.) (1997): Zeichen über Zeichen. Texte zur Semiotik von Peirce bis Eco und Derrida. München: dtv. Morris, C. W. (1938): Foundations of the Theory of Signs. Chicago. – Dt. (1972): Grundlagen der Zei­ chentheorie; Ästhetik und Zeichentheorie. Mün­ chen: Hanser. Nöth, W. (22000): Handbuch der Semiotik. Stuttgart: Metzler. Oehler, K. (1993): Charles Sanders Peirce. München: Beck. Peirce, C. S. (1931–1958): Collected Papers, hrsg. v. Hartshorne, C., Weiss, P. & Burks, A. Cambridge (MA). – Zitiert als CP. Posner, R., Robering, K., & Sebeok, T. A. (Hrsg.) (1997–2004): Semiotik: Ein Handbuch zu den zei­ chentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, vol. 1–4. Berlin: de Gruyter. Saussure, F. de (1916): Cours de linguistique générale. Paris. – Dt. (1931): Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin: de Gruyter. Sebeok, T. A. (1994): An Introduction to Semiotics. London: Routledge. Sottong, H. & Müller, M. (1998): Zwischen Sender und Empfänger: Eine Einführung in die Semiotik der Kommunikationsanalyse. Berlin: Schmidt.

Sprache und Wahrnehmung Horst Ruthrof

1  Untersuchungsrahmen Sprachphilosophie und Linguistik wurden in jüngster Zeit durch eine Reihe wichtiger Er­ kenntnisse der Neurowissenschaften und der Kognitiven Linguistik aus ihrem dogmati­ schen „Tiefschlaf “ geweckt (Janssen & Rede­ ker 1999, Fauconnier & Turner 2002, Gallese & Lakoff 2005, Verhagen 2005). Dass hier die Arbeiten der so genannten „Lakoff-Schule“ (→ Kognition und Emotion) eine wichtige – wenn auch äußerst umstrittene – Rolle spielen, steht wohl außer Zweifel. Abgesehen von sei­ nem anti-philosophischen „Hype“ muss Philosophy in the Flesh: The Embodied Mind and Its Challenge to Western Thought (Lakoff & John­ son 1999) als Pionierleistung einer Forschung anerkannt werden, die versucht, die Wurzeln von Bedeutungen innerhalb real existierender Sprache sowie von Konzepten und Metaphern in den sensomotorischen neuronalen Funk­ tionen des menschlichen Gehirnes (→  Spra­ che und Gehirn) zu verorten. Wie erfolgreich diese herausfordernden Ideen auch immer sein werden, eines steht fest: Wir können nicht länger annehmen, dass das Verhältnis zwi­ schen natürlicher Sprache und Wahrnehmung irrelevant für die Linguistik ist. Leider haben sich die meisten Theoriebildungen über Spra­ che im natürlichen Gebrauch seit mehr als ei­ nem Jahrhundert geweigert, sich mit dieser Relation zu befassen – mit dem Resultat, dass die positivistische Präzision ihrer Erkenntnis­ se wenig mit dem tatsächlichen Charakter le­ bendiger sprachlicher Prozesse gemeinsam hat (→ Sprache und Sprechen). Der jeweilige Rah­ men dieser Untersuchungen wurde häufig zu eng definiert. Ansätze, in denen versucht wur­ de, die Komplexität des natürlichen Sprachge­ brauchs stärker zu berücksichtigen, wie z. B. Theorien über Sprechakte, Präsuppositionen1,

Referenz2, Deixis3 und Pragmatik, gleichen oft Versuchen, das Korsett der anfangs zu eng geschnürten theoretischen Ausgangsprinzi­ pien im Nachhinein noch zu weiten. Was in diesen Forschungen fehlt, ist die Frage nach der Beziehung von Sprache und Wahrneh­ mung – eine Relation, die möglicherweise den innersten Kern natürlicher Sprache ausmacht. Wenn dies der Fall ist, dann leidet die gängige Sprachphilosophie und Linguistik an einer Art kollektiver „Forschungs-Amnesie“, einer Art von Wahrnehmungsvergessenheit.

1.1  Inkompatible Sprachtheorien Die so genannte corporeal pragmatics bzw. „Wahrnehmungsorientierte Pragmatik“, die im Folgenden vorgeschlagen wird, wendet sich gegen mehrere theoretische Paradigmen, die hier nicht alle im Detail behandelt werden können. Sie ist weder kompatibel mit einem Sprachnaturalismus, in dem Bedeutung naiv als Relation zwischen Sprache und Welt defi­ niert wird (Devitt & Sterelny 1990), noch mit einem Objektivismus, dem gemäss Bedeutung als Objekt in der Welt zu verstehen ist, noch mit Freges Definition von Bedeutung als „rei­ nem“, entkörpertem Gedanken (Frege 2002 [i. O. 1892]). Selbst Husserls Eidos als Bedeu­ tungskern der Termini von natürlichen Spra­ chen lässt sich aus der wahrnehmungsorien­ tierten Perspektive nicht vertreten (Husserl 1993 z. B. 1913]). Das gleiche gilt für „inter­ grammatikalische“ oder „syntaktische“ De­ finitionen, wie wir sie in de Saussures (1916) Linguistik und bei Wittgenstein, zumindest im ersten Teil der Philosophischen Untersuchungen (2003 [i. O. 1953]), finden, sowie für eine Konzeptualisierung der Bedeutung als „men­ tale Proposition“ oder als „atomistisches Kon­ zept“ (Fodor 1998).

178 

Sprache und Wahrnehmung

Auch darf man nicht erwarten, dass sich der Poststrukturalismus (→ Zeichen und Semiose) problemlos mit einer „Wahrnehmungsorien­ tierten Pragmatik“ versöhnen lässt. Trotz sei­ ner Erklärung, mit der Peirceschen Semiotik zu sympathisieren, hat Jacques Derridas (1967b) Sprachtheorie keinen Platz für die Rolle per­ zeptueller Elemente in der Wort- und Satzbe­ deutung. Weder Derrida noch seine Nachfol­ ger sind in der Lage, sich entscheidend vom syntaktischen Verbozentrismus des Struktu­ ralismus zu befreien. Diese Kritik schliesst selbst die Forschungprojekte von Luce Irigaray (1977), die das taktile Erfahren betont, und Julia Kristeva (1974, 1996) ein, obwohl Kriste­ vas psychoanalytischer Ansatz verspricht, den Saussureschen syntaktischen Zirkelschluss mit Hilfe ihrer Suche nach dem körperhaften Grund der Sprache zu überwinden (Kristeva 1989; vgl. Ruthrof 2000). Hoffnungslos dage­ gen bleibt jeder Versuch, Brücken zwischen ei­ ner „Wahrnehmungsorientierten Pragmatik“ und postmodernen Theorien, die der Position von Jean Baudrillard (1983) verpflichtet sind, zu schlagen – hat er doch die Bedeutung in der Sprache nicht nur minimalisiert, sondern für tot erklärt. Kurz, die „Wahrnehmungsorien­ tierte Pragmatik“ findet sich in der unbenei­ denswerten Situation, fast alle Termini und Konzepte, die in der Untersuchung der Spra­ che gängig sind, radikal überdenken und neu definieren zu müssen.

1.2  Kompatible Positionen Theoretische Richtungen, die in wesentlichen Punkten mit der „Wahrnehmungsorientier­ ten Pragmatik“ in Übereinstimmung gebracht werden können, sind vor allem die Peircesche Semiotik (→ Zeichen und Semiose) und die Phänomenologie. Besonders fruchtbar erweist sich zunächst bei Peirce die Betonung der un­ erlässlichen Präsenz von Wahrnehmungsele­ menten im menschlichen Verstehen – und zwar in Form von ikonischen Zeichen, das heißt von Interpretationen, die einen Ähnlichkeitscharakter zu Objekten und Prozessen in

der Erfahrungswelt aufweisen. Die Rolle, die solche ikonischen Gehalte in der Wort- und Satzbedeutung spielen, bleibt allerdings in der Peirceschen Semiotik unklar. Die zweite theoretische Linie, die in der „Wahrnehmungsorientierten Pragmatik“ er­ kennbar ist, verbindet die Phänomenologen Edmund Husserl, Roman Ingarden, Alfred Schütz und Maurice Merleau-Ponty: • Bei Husserl erweist sich die kontinuierli­ che Transformation von Bedeutungsein­ heiten (Noemata) mittels Modifikations­ prozessen (Noeses) als besonders fruchtbar (Husserl 1969 [i. O. 1928]) wie auch seine fundamentalen Einsichten in die Intersubjektivität (1973b [i. O. 1928]) und den Prozess der Appräsentation, der Vergegen­ wärtigung abwesender Phänomene (1973a [i. O. 1931]). • Ingardens Analysen des prinzipiell sche­ matischen Charakters der Natursprache und ihrer Konkretisierung im Prozess der Konstituierung komplexer verbaler Kon­ strukte, wie zum Beispiel im „literarischen Kunstwerk“, haben nicht nur Husserls Appräsentation weiter spezifiziert, son­ dern gleichzeitig das Projekt der wahrneh­ mungsorientierten Sprachuntersuchung gefördert (Ingarden 1959 [i. O. 1930]). • Bei Schütz (1959) finden wir eine hilfreiche Kritik des Husserlschen Eidos aus der Per­ spektive der Typifikation, die erlaubt, die natürliche Sprache als dominantes Typifi­ kationssystem neben nichtverbalen Syste­ men zu verstehen. • Der Phänomenologe Merleau-Ponty schließ­ lich hat einen wichtigen Beitrag zur Bele­ bung der Debatte über die zentrale Rolle der Wahrnehmung in der menschlichen Existenz geleistet, obwohl er dann doch vor dem entscheidenden Schritt der systemati­ schen Integrierung der Wahrnehmung in die Analyse der natürlichen Sprache letzt­ lich zurückscheute (Merleau-Ponty 1945, 1964, Ruthrof 2000). Als dritten Strang einer historischen Ver­ pflichtung der „Wahrnehmungsorientierten



Zwei Hindernisse auf dem Weg zu einer komplexen ­Beschreibung von Sprache   179

Pragmatik“ muss man schließlich mehre­ re entscheidende Momente in Kants Kritiken identifizieren: seine Argumente über die Be­ ziehung zwischen Anschauung und Begriff (Kant 1998 [i. O. 1781] KrV A 50 f.), seine Beschreibung des empirischen Begriffs, des­ sen Grenzen niemals völlig abgesichtert wer­ den können und dessen Analyse niemals als abgeschlossen betrachtet werden kann (KrV A 72 ff.), und die Relation zwischen reflek­ tierender und stipulierter, teleologischer Ver­ nunft in komplexer Urteilsfällung in seiner Kritik der Urteilskraft (Kant 2006 [i. O. 1790]), mit der Einschränkung, dass wir heute nicht umhin können, Kants Relation zwischen An­ schauungen und Begriffen durch eine stärkere Betonung auf die Objektivität der biologisch begründeten Wahrnehmungsprozesse zu qua­ lifizieren (Todes 2001).

2 Zwei Hindernisse auf dem Weg zu einer komplexen ­Beschreibung von Sprache Als die zwei Hauptverantwortlichen für die Eli­ minierung der Wahrnehmung in ihrer Bezie­ hung zur Sprache sind Gottlob Frege und Ferdinand de Saussure zu nennen (→ Person und Sprache, → Zeichen und Semiose, → Sprache und Sprechen). Von unterschiedlichen Aus­ gangspunkten herkommend – der eine von der mathematischen Logik, der andere von einer Kritik der historischen Linguistik – haben Fre­ ge und Saussure zwei unterschiedliche Denk­ traditionen in ihrem Kielwasser hinterlassen, die beide eine ablehnende Haltung gegenüber den Wahrnehmungskomponenten innerhalb der natürlichen Sprache einnehmen.

2.1  Formalsinn bei Frege Im Fall Freges markiert die Eliminierung sub­ jektiver Vorstellungen aus dem Konzept des „Sinns“ den Beginn einer Semantiktradition,

die ihre Erkenntnisse mehr und mehr aus dem Bereich formaler Signifikation4 bezog. Frege, der seine analytische Semantik auf der Ana­ logie von Geometrie und Arithmetik mit dem Deutschen aufbaute, vermischte zwei Arten von Sinn: den Formalsinn der Geometrie und die Art von Sinn, die Begriffe wie „Abend­ stern“ und „Morgenstern“ kennzeichnet (Fre­ ge 2002 [i. O. 1892]). Mit diesem Schritt leug­ nete Frege den fundamentalen Unterschied zwischen einem a priori-Zeichensystem, für das wir erst die Begriffe definieren, bevor wir mit diesen formal operieren, und einer a posteriori-Signifikation in einer real existieren­ den, natürlichen Sprache, welche gesprochen wird, bevor sie überhaupt beschrieben werden kann. Formaler Sinn kann eindeutig per defi­ nitionem bestimmt werden, wohingegen die Wörterbücher natürlicher Sprachen eine völ­ lig andere Funktion haben: Sie versetzen uns in die Lage, das differenzielle System von Si­ gnifikanten und deren Kombinationen zu ak­ tivieren, indem wir sie zu unserem perzeptu­ ellen Begreifen der Welt in Beziehung setzen. Der Unterschied zwischen diesen beiden Ar­ ten von Sinn könnte größer nicht sein. Formaler Sinn kann jederzeit frei erfunden werden; der Sinn der natürlichen Sprache hingegen hat sich evolutionär über etliche Millionen von Jahren herauskristallisiert, und trägt deshalb die Spuren eines „semantic drift“, einer Art „semantischer Verschiebung“ als Folge sich wandelnder Wahrnehmungshinweise in sich. Die vielleicht einschneidendste Wirkung, die Frege auf die Semantik hatte, war seine Ver­ bannung der Vorstellung aus der Beschreibung von Sprache. Statt von „Vorstellung“ sprechen wir nun von „propositionalen5 Einstellungen“. Doch obwohl propositionale Akte zweifels­ ohne eine Rolle in unseren mentalen Vorgän­ gen spielen, können sie jedoch nicht das sehr viel breitere begriffliche Konzept der „Vorstel­ lung“ ersetzen. Propositionaler Imperialismus scheint uns lediglich in eine weitere Sackgas­ se zu führen. Natürlich ist Frege nicht für die Sünden seiner Nachfolger verantwortlich zu machen, denn letztlich war seine Absicht le­ diglich die Formulierung einer rein formalen

180 

Sprache und Wahrnehmung

Begriffsschrift – einer symbolischen Notation, die nicht als Ausgangspunkt für die Beschrei­ bung natürlicher Sprache dienen sollte.

2.2  De Saussures syntaktischer Zirkel Das zweite große Hindernis auf dem Weg zu einer komplexen Betrachtung von Sprache ist in der Pionierarbeit von Ferdinand de Saussure (1916) zu finden (→ Zeichen und Semio­ se, → Sprache und Sprechen). Allerdings muss man auch hier eingestehen, dass es nicht so sehr Saussure selbst, sondern seine Nachfolger sind, die die Hauptschuld tragen. Und den­ noch – seine starke Betonung der differenziellen syntaktischen Relationen ebnete den Weg für eine zunehmend fruchtlosere Beschrei­ bung von Sprache als eine Art Kombinatorik oder Schach (Saussure 1916, 27 f., 104 f., 127, 131). Obwohl Saussure darauf bestand, dass Signifikat (signifié; Bezeichnetes, Inhalt, Be­ deutung) und Signifikant (signifiant; Bezeich­ nendes, Ausdruck) gleich wichtige Funktionen haben, führte seine reduktionistische Konzep­ tionierung des Signifikats als „Bild“ (image) und „Konzept“ (concept) zu dessen allmähli­ chem Verschwinden. Darüber hinaus musste Saussures zweifelhafte Definition des linguis­ tischen Zeichens als „arbiträr“ bzw. „willkür­ lich“ und die damit einhergehende Favorisie­ rung des Signifikanten letztlich dazu führen, dass die Bedeutung quasi über Bord geworfen wird. Resultat: die paradoxe Situation, dass der arbiträre und leere Signifikant nun die seman­ tische Last des Signifikats auf sich nehmen muss, was seine ureigenste Definition aller­ dings nicht erlaubt. Saussures Generalisierung der Arbitrarität auf das linguistische Zeichen insgesamt ist kaum in Frage gestellt worden und das, obwohl es offensichtlich auf einer il­ legitimen pars pro toto-Folgerung beruht. Die richtige Beobachtung, dass die Bedeutungsträ­ ger natürlich existierender Sprachen als „will­ kürlich“ erscheinen, berechtigt nicht, das Glei­ che von der Bedeutung selbst zu behaupten, noch dazu, dies auf das linguistische Zeichen als Ganzes zu übertragen. All dies hat zweifel­

los einen nachteiligen Effekt auf die Frage der Beziehung von Sprache und Wahrnehmung gehabt. In der Tat ist das Verschwinden des Si­ gnifikats aus einem Großteil der zeitgenössi­ schen geisteswissenschaftlichen Literatur ein Beweis für die schwächer werdende Rolle, die wir derzeit den Wahrnehmungskomponenten in natürlicher Sprache und deren Modifikati­ on in der Vorstellung zugestehen. Doch ohne die Vorstellung und ihrer Sedimentbildung in der Sprache könnten wir nicht als menschliche Wesen funktionieren.

3 Wahrnehmung: ­Urgrund der Sprache Aus einer evolutionären Perspektive betrach­ tet, offenbart ein Zugang zur realen, natürli­ chen Sprache mittels formalem Sinn und des­ sen syntaktischen Differenzrelationen seine historische Bedingtheit. Sowohl Freges Kal­ külansatz als auch Saussures Betonung der Syntax sind fester Bestandteil der epochen­ spezifischen Emergenz formaler Zeichensys­ teme und des wissenschaftlichen Strukturalis­ mus (→ Person und Sprache). Nachdem wir zunächst aus der natürlichen Sprache solch formale Merkmale wie einen Apriori-Sinn und eine immanente Matrix differenzieller Relationen destilliert haben, haben wir un­ sere Erkenntnisse dann erneut auf unseren nicht-formalen Ausgangspunkt – die Spra­ che im natürlichen Gebrauch – angewendet. Dennoch sollte es uns nicht überraschen, dass Sprache sich immer einem derartigen auf­ gezwungenen, formalen Zugriff fügen wird, da die genannten methodologischen Schritte mittels formaler Destillationsprozesse aus der Sprache abgeleitet wurden, nämlich durch Referenz- und Deixisneutralisation – beides radi­ kale Reduzierungen einiger der essenziellen, wahrnehmungsgebundenen Charakteristika von Sprache. Doch die Anwendung forma­ ler Prinzipien auf die nicht-formalen Phäno­ mene der natürlich existierenden Sprache



Wahrnehmung: ­Urgrund der Sprache   181

erweist sich – relativ vorhersehbar – als theo­ retische Einbahnstraße. Sobald wir die Spezi­ fika menschlichen Sprechens entmaterialisiert haben, versperrt der formale Weg die Rück­ kehr zu unserem Ausgangspunkt: lebendige, gesprochene Sprache (→ Sprache und Spre­ chen). Die Hoffnung auf die Entdeckung einer DNA-Tiefenstruktur der Sprache (→ Sprache und Gehirn) bleibt ein Traum für Sprachlogi­ ker.

3.1 Natürliche Sprache: ­Zwischen Wahrnehmung und ­Formalsprache Ein völlig anderer Zugang wird benötigt, um der formalen Betrachtung etwas entgegenzu­ setzen. Um den Herausforderungen durch die neurowissenschaftliche Forschung zu begeg­ nen, müssen wir die Frage stellen, welche Rolle die Sprache für das Überleben der Menschen in ihrer Evolution vom prälinguistischen Ho­ miniden bis zur Gegenwart spielt (→ Person und Sprache). Bei solchen Überlegungen kann uns der Entwurf eines fiktiven Spektrums zu Hilfe kommen, welches von elektromagneti­ scher Strahlung und deren „Interpretation“ durch prä-menschliche Organismen, über nicht-bewusste Wahrnehmung, Wahrneh­ mungserfahrung und Gestenkommunikation (→ Gebärden und Sehen) bis hin zu mensch­ licher Sprache und ihren Derivaten wie z. B. technische Sprachen, formale Zeichensysteme und dem digitalen Code reicht (→ Zeichen und Semiose). In einem derartigen Spektrum können wir zwei chiastische, parallel verlau­ fende Tendenzen beobachten: eine allmäh­ liche Abnahme der Informationsdichte und eine gleichzeitige Zunahme der Informati­ onskontrolle. Während der Informationsinput von der nicht-bewussten Wahrnehmung zur Booleschen Algebra hin allmählich abnimmt, nimmt unsere Kontrolle über die sich verrin­ gernde Information bis hin zur elektronischen Beherrschung von Bytes im digitalen bitstream deutlich zu. Für eine sehr lange Zeit hat der biologische Organismus überlebt, indem er

der allgegenwärtigen elektromagnetischen Strahlung eine winzige Bandbreite von geeig­ neter Information entnahm, aus der er sei­ ne Wahrnehmungswelt konstituierte (Maund 2003). Wir wissen heute, dass es nicht unse­ re perzeptuelle Erfahrung, sondern vielmehr unsere nicht-bewusste Wahrnehmung ist, die im Wesentlichen für die Art und Weise verant­ wortlich ist, wie wir unsere Umgebung, unsere reizvolle Objektwelt erleben. Nach einer lan­ gen Periode perzeptueller Erfahrung führten zunehmend komplexere soziale Strukturen zu einer Ökonomisierung von perzeptuellem und gestischem Verhalten. Dementsprechend konnte aus dieser evolutionären Sicht Spra­ che nicht – wie es der Strukturalismus von Lévy-Strauss (1958) postuliert (Kristeva 1989, 46) – mit einem Mal entstanden sein, sondern ist ganz im Gegenteil als ökonomische evolutionäre Konsequenz perzeptueller Kommunikation zu verstehen (→ Kognition und Emo­ tion). Technische Sprachen und ihre formalen Verwandten sind Nachzügler in diesem Ent­ wicklungsprozess, dessen letzter Abkömm­ ling der digitale Code ist. In einer derartigen Darstellung befindet sich die reale natürliche Sprache in einer zentralen Position zwischen Wahrnehmung und formaler Signifikation (→ Sprache und Sprechen).

3.2 Der ikonische Charakter der ­natürlichen Sprache In einer Art „Sandwich-Position“ zwischen Wahrnehmung und ihren technischen De­ rivaten kann reale Sprache nicht adäquat be­ schrieben werden, wenn wir dabei ihre perzeptuelle Basis, ihren „Urgrund“ ignorieren. Die bereits erwähnte Wahrnehmungsvergessenheit mag sich sehr wohl bei der Suche nach einer Linguistik, die ihrem Gegenstand tatsächlich angemessen ist, als ein Kardinalhindernis er­ weisen. Wonach wir jenseits der Erkenntnis­ se von formalen und syntaktischen Ansätzen fragen müssen, ist, welche perzeptuellen Kom­ ponenten in der Sprache evolutionär überlebt haben und welche Funktion sie haben – eine

182 

Sprache und Wahrnehmung

Fragestellung, die bislang nicht gerade po­ pulär gewesen ist. Selbst ein soziosemiotisch orientierter Linguist wie Michael Halliday (→ Intersubjektive Kommunikation) hält an dem strukturalistischen Glauben fest, dass die Sprachkompetenz von Erwachsenen im We­ sentlichen syntaktisch verankert ist (Halliday 1975, 141). Aber vielleicht ist auch das Gegen­ teil der Fall, dass nämlich, wie Eve Sweetser (1990) gezeigt hat, alle Termini, einschließlich Funktionswörtern, perzeptuelle Erfahrungen widerspiegeln. Dies würde bedeuten, dass na­ türliche Sprache – im Sinne von Charles San­ ders Peirce (→ Zeichen und Semiose) – einen fundamental ikonischen Charakter hat, das heißt, dass auditive, taktile, gustatorische, ol­ faktorische und visuelle Ähnlichkeitsrelatio­ nen die linguistische Bedeutung mitbestim­ men. Darüber hinaus sollten wir ebenfalls nicht die emotionale Dimension von Sprache (→ Intersubjektive Kommunikation, → Kog­ nition und Emotion) als ein ganz eigenes und komplexes nonverbales Zeichensystem außer Acht lassen (Trevarthen 2005, Lüdtke 2006). In dieser Hinsicht sind jüngste Erkenntnis­ se der neurowissenschaftlichen Forschung zu mapping-Prozessen6 als bahnbrechend für die weitere Geschichte der Sprachphilosophie und Linguistik anzusehen (Fauconnier 1997). Ein corporeal turn, eine Art „wahrnehmungsorien­ tierte Wende“, scheint sich anzubahnen (Ru­ throf 1997).

3.3 Eine Proto-Syntax der ­Wahrnehmung? Wenn nun die Wahrnehmung tatsächlich eine wichtige Rolle in der Wort- und Satzbedeutung spielt, ist es dann nicht auch möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich, dass auch die syntak­ tischen Relationen der natürlichen Sprachen ihren Ursprung in Wahrnehmungsprozessen haben? Kann man also von einer Proto-Syntax (→ Intersubjektive Kommunikation) der Wahrnehmung sprechen? Zwar steht fest, dass kulturell verfeinerte Satzstrukturen so nicht er­ klärt werden können – ähnlich, wie man neue

Formen der Mathematik nicht so leicht auf das Zählen mit Fingern zurückführen kann. Ein bescheideneres Szenario wird hier also vorge­ schlagen. Trotzdem scheint es so, als ob primä­ re, linguistische Beschreibungen perzeptueller Vorgänge der Beobachtung sich in der Anord­ nung der Termini in verschiedenen Variatio­ nen widerspiegeln. Husserls phänomenologi­ sche Analyse des Abschattungsprozesses, des graduellen Verschwindens von Objektaspek­ ten bei gleichzeitigem, allmählichem Erschei­ nen neuer Aspekte, der bei der dynamischen Beobachtung von Objekten stattfindet, kann hier als systematisierte Version der Wahrneh­ mung angeführt werden (Husserl 1993 [i. O. 1913]). Visuelle Präsenz und Appräsentation, die Vorstellung des Abwesenden, gehen in ei­ ner Sequenz ineinander über, die sich in der Verbalisierung wiedererkennen lässt. Trotz der Verschiedenartigkeit, in der diese Spiege­ lung in verschiedenen natürlichen Sprachen in Erscheinung tritt, kann man hier von ei­ ner perzeptuellen und linguistisch-syntakti­ schen Homologie sprechen. Dies geschieht in ganz ähnlicher Weise bei olfaktorischen, takti­ len und anderen Wahrnehmungsmodalitäten und ihren linguistischen Abwandlungen. Als Beispiel kann man hier auf typische Wein­fla­ schen­etikette hinweisen, die den Geruchs- und Geschmacksrealisationsprozess in ihrer Wortund Satzfolge wiederzugeben versuchen: „… ein subtiles Waldbeerenbouquet … mit feinen Pfeffernuancen auf der Zunge … wohlinte­ grierte Tannine und reichhaltige Samteffek­ te am Gaumen, mit nachhaltigem und doch frischem Abschluss“. Gleichzeitig hebt der Wein-Connaisseur-Diskurs sehr typisch den ikonischen Ähnlichkeitscharakter der natürli­ chen Sprache hervor. Phrasen wie „aprikosen­ ähnlich“, „mit Brombeeren vergleichbar“ oder „wie Vanille“ legen nahe, dass nicht nur Wort­ bedeutungen der Wahrnehmung stärker ver­ pflichtet sind als unsere gängigen Spracherklä­ rungen zulassen, sondern dass wir es auch mit einer verborgenen Proto-Syntax der Wahrneh­ mung zu tun haben, die zumindest in der be­ schreibenden Sprache ihre Spuren hinterlassen hat. Unterstützung dafür findet die „Wahrneh­



„Wahrnehmungsorientierte Pragmatik“   183

mungsorientierte Pragmatik“ wiederum in der Kognitiven Linguistik, besonders in den Arbeiten von Mark Turner (1991), einem Mit­ glied der Lakoff-Schule (vgl. Kap. 1). Turner zeigt Zusammenhänge zwischen der Form und Bewegungsstruktur des menschlichen Organismus, der Schwerkraft und der Art und Weise auf, wie die Sprache solche physikali­ schen und biologischen Grundprinzipien aus­ drückt, ohne allerdings die syntaktischen Kon­ sequenzen zu sehen, die hier angesprochen werden (Turner 1991). Dies liegt wohl daran, dass die Kognitive Linguistik trotz ihrer un­ entbehrlichen Grundeinsichten bisher keine umfassende Sprachtheorie entwickelt hat. Die hier verfochtene „Wahrnehmungsorientierte Pragmatik“ will diese Forschungslücke füllen.

4 „Wahrnehmungsorientierte Pragmatik“ Wie aber würde eine auf Wahrnehmungsprä­ missen basierende Linguistik aussehen? Ge­ genwärtig steht uns noch keine vollständig ausgereifte kognitive Sprachtheorie zur Ver­ fügung. Bis es so weit ist, soll im Folgenden eine lediglich als grobe Skizze zu verstehende corporeal pragmatics bzw. „Wahrnehmungs­ orientierte Pragmatik“ offeriert werden, und zwar als ein Versuch, die Konsequenzen der kognitiven Betonung der Wahrnehmung in ei­ ner kohärenten Konzeptionalisierung zu ver­ einen. In einer „Wahrnehmungsorientierten Pragmatik“ ist Sprache eine leere syntaktische Matrix mit einem Bedeutungspotenzial, das darauf wartet, im Sprachgebrauch aktiviert zu werden. Sprache an sich „bedeutet“ nicht(s). Wie Saussure richtig anmerkt, funktioniert jede reale natürliche Sprache, weil ihren Sig­ nifikanten bzw. Zeichenträgern paarweise ein Signifikat bzw. eine Bedeutung zugeordnet ist (→ Zeichen und Semiose, Abb. 10). Über Saussure hinausgehend führt dies zu der ge­ nerellen Aussage, dass mentales Material, sei es ikonisch oder indexikalisch, durch Kon­

zepte7 geordnet ist. Die Verknüpfung Signi­ fikant-Signifikat ist jedoch weder stabil noch durch intergrammatikalische Relationen ein­ geschränkt. Die Verbindung ist vielmehr fun­ damental in einer wahrnehmungsgebundenen Signifikation verwurzelt und bleibt so provi­ sorisch und offen für historische Veränderun­ gen, für semantische Verschiebung und andere Bedeutungstransformationen. Dies fügt dem Saussureschen Erklärungsmodell eine ent­ scheidende Dimension hinzu: Die differenziel­ len Beziehungen innerhalb der Sprache wer­ den nur bedeutungsvoll durch das nonverbale Andere8: die Totalität nichtverbaler, ikonischer Zeichen (vgl. Abb. 1). In jedem bedeutungs­ übermittelnden Sprachereignis stabilisiert der Sprachbenutzer bzw. der Sprecher, angeleitet durch die Sprachgemeinschaft, momenthaft die Signifikant-Signifikat-Relation, indem er ein spezifisches Cluster nonverbaler Zeichen auswählt, mit denen ein Signifikant bzw. Zei­ chenträger durch ein Signifikat bzw. eine Be­ deutung zum Leben erweckt wird. Demzufolge ist Sprache in einer „Wahrnehmungsorientierten Pragmatik“ immer abhängig von nonverbaler Semiosis (→ Zeichen und Semiose). Die nun zu stellende Frage lautet, wie die­ ses Abhängigkeitsverhältnis kohärent erläu­ tert werden kann.

4.1 Revision der Standardterminologie Um einen Anfang zu machen, muss ein Großteil der Standardterminologie zur Be­ schreibung von Sprache revidiert werden. Beide – Referenz und Deixis – müssen als „intersemiotische“ Relationen neu definiert wer­ den. Auch die Idee einer Semantik der natürli­ chen Sprache muss als Logiktraum verworfen werden, denn damit Bedeutung überhaupt entstehen kann, muss Sprache gebraucht, das heißt pragmatisch aktiviert werden. Selbst das abstrakteste Handbuch der „Semantik“ ist im­ mer schon Pragmatik. Nur wenn wir Sprache vollständig formalisieren, das heißt jeden Ter­ minus durch einen Platzhalter (x, y) ersetzen,

184 

Sprache und Wahrnehmung

de Saussures Schema

Linguistisches Zeichen (arbiträr)

Signifikant (Ausdruck, Bedeutungsträger) --------------------------------------------Signifikat (Bedeutung) [zunehmend vernachlässigt]

arbiträr --------------------------------------------Effekt differenzieller, syntaktischer, arbiträrer Relationen

Revidiertes Schema Signifikant (Ausdruck, Bedeutungsträger) Linguistisches Zeichen (motiviert)

--------------------------------------------Signifikat (Bedeutung)

arbiträr: als Resultat historischer Reduktion ikonischer BedeutungsAspekte --------------------------------------------ikonisch motiviert; syntaktisch verfeinert

Komponenten des Signifikats (motiviert)

Bedeutungsinhalt: nichtverbale ikonische Materialien in der Vorstellung modifiziert (perzeptuell motiviert)

Bedeutungsform: regulatives Konzept (gesellschaftlich motiviert)

Quellen

neuronale Funktionen, Wahrnehmung

Sprachgemeinschaft

Kommunikationsprinzip

hinreichende Semiosis

Abb. 1: Ikonisches Material im revidierten linguistischen Zeichen

können wir eine pragmatische Bedeutungsak­ tivierung verhindern. Darüber hinaus hängt in einer „Wahrnehmungsorientierten Pragma­ tik“ jeder einzelne Bedeutungsaspekt von der Art der ikonischen Realisierung ab. Das be­ deutet, dass die Konzeptualisierung von „Ge­ brauch“ immer mentale Bewusstseinszustän­ de involviert und so nicht mit Wittgensteins Definition9 gleich gesetzt werden kann (Witt­ genstein 2003 [i. O. 1953]). Dennoch kann die Wittgensteinsche Konzeptualisierung als eine nachrangige, allgemeine Auslegung von Ge­ brauch eingeordnet werden. In der „Wahrneh­ mungsorientierten Pragmatik“ bezieht sich „Gebrauch“ ganz spezifisch auf den Vorgang der Aktivierung leerer Schemata durch non­ verbales Material, angeordnet in Gruppierun­ gen ikonischer Zeichen (→ Zeichen und Se­

miose). Der Signifikant „Fliese“ beispielsweise wird durch nonverbale Zeichen, wie z. B. eine typische Größe und Form, die Erinnerung an ein schweres Objekt, die taktile Empfindung einer relativ glatten Oberfläche sowie visueller, taktiler, olfaktorischer und sonstiger Eindrü­ cke, aktiviert. Diese werden durch ein Kon­ zept reguliert und konstituieren so die Bedeu­ tung bzw. das Signifikat „Fliese“. Es wird keine wahrheitskonditionale Akrobatik benötigt, um Bedeutung abzusichern; einmal erlangt, entscheiden unsere Konzepte für uns, ob hin­ reichend mentaler „Füllstoff “ herangeschafft worden ist, um den leeren Signifikanten be­ deutungsvoll zu machen. Peirces indexikalische Zeichen (→ Zeichen und Semiose) werden hier unter dem Prin­ zip der Ikonizität subsumiert, da sie „indi­



„Wahrnehmungsorientierte Pragmatik“   185

rekte ikonische Relationen“ anzeigen. Die Tatsache, dass indexikalische Zeichen mehr rekonstruierende Interpretationsarbeit ver­ langen als ikonische Zeichen, beeinflusst das Ähnlichkeitsprinzip nur insofern, als in­ dexikalische mehr „Vorstellung“ verlangen. Der Großteil unserer nonverbalen Zeichen besteht aus olfaktorischen, gustatorischen, thermischen, gravitativen, kinetischen, audi­ tiven, emotionalen, somatischen, haptischen (innerlich), taktilen (äußerlich) und visuel­ len Eindrücken. In diesem Szenario werden „Konzepte“ als soziale Regeln definiert, die die linguistische Direktionalität10, die erfor­ derlichen Quanta11 und ihre Kombinationen sowie auch den Grad der Schematisierung12 regulieren. In der Regel gehen wir dabei nicht etymologisch vor, sondern eher entsprechend der augenblicklichen Art und Weise, in der eine Kultur ihre Sprache gebraucht. Wir ak­ tivieren die Redewendung „Die Stimmung war aufgeheizt“ nicht, indem wir auf thermi­ sche Zeichen rekurrieren, sondern vielmehr auf emotionale Zeichen, die Erregung, Ärger oder Wut anzeigen (→ Kognition und Emo­ tion). Sowohl der Grad der Schematisierung als auch die Quantität des mentalen Materials bzw. des „Füllstoffes“, die durch das Konzept im Akt der Bedeutungsentstehung beein­ flusst werden, ist eine Funktion der „sufficient semiosis“, der „hinreichenden Semiose“, das heißt der kommunikativen Begrenzun­ gen, die implizit im spezifischen Kontext ei­ nes jeden Bedeutungsereignisses enthalten sind. Ein weiteres charakteristisches Merk­ mal der „Wahrnehmungsorientierten Prag­ matik“ ist die „heterosemiotische“ Natur der aktivierten linguistischen Zeichenträger bzw. Signifikanten. Da die nichtverbalen Gehal­ te, mit deren Hilfe wir unsere Signifikanten transformieren, heterosemiotisch sind (olfak­ torisch, taktil, auditiv, emotiv, somatisch etc.), muss das linguistische Zeichen Merkmale be­ sitzen, die als Regulator fungieren, um diese heterogenen Komponenten zu assimilieren. In der „Wahrnehmungsorientierten Pragma­ tik“ wird diese Funktion also durch das Konzept ausgeführt, allerdings nicht, wie wir es in

der Standardliteratur vorfinden (Margolis & Laurence 1999, Fodor 1998), sondern wie es nachfolgend definiert wird.

4.2 Sprachdirektionalität, kulturelle Intentionalität und das Fehlen der Bedeutung im Wörterbuch Wesentlich für die „Wahrnehmungsorientier­ te Pragmatik“ ist die Unterscheidung zwischen „COSS“ (communicative sign systems, kom­ munikativen Zeichensystemen) und „ROSS“ (read-only sign systems, lese-spezifischen Zei­ chensystemen) (Ruthrof 1997). Unser perzep­ tueller Zugang zur Welt scheint eine Art „Le­ sen“ von Zeichen zu sein und zugleich eine Möglichkeit, andere an unserer Lesart teilha­ ben zu lassen. In beiden Fällen aktivieren wir unterschiedliche semiotische Systeme, wobei ausnahmslos die Transformation eines aliquid in ein aliquo – die Minimaldefinition des signum bzw. Zeichens13 – beteiligt ist (→ Zeichen und Semiose). Dementsprechend können wir zwischen read-only-signs bzw. lese-spezifischen Zeichen und communicative signs bzw. kommunikativen Zeichen unterscheiden. Die so­ zialen Akte des Schauens, Riechens, Schme­ ckens, Berührens etc. sind potenziell sowohl sinnentnehmend-lesende als auch kommuni­ kative Vorgänge, was die alte Frage aufwirft, ob wir in der Lage sind, nonverbale Semiose ohne Sprache durchzuführen. Dass wir dazu in der Lage sein sollten, ist ein Schlag ins Ge­ sicht strukturalistischer Betrachtungen, z. B. der Saussureschen Behauptung, dass „nichts deutlich ist, bevor es sprachlich ist“ (Saussu­ re 1916). Dies ist selbstverständlich nichts anderes als ein großes Vorurteil. Unsere prälinguistischen Vorfahren aus grauen Vorzei­ ten würden sicherlich nicht überlebt haben, wenn ihr Jagdgeschick nicht einen hohen Grad an Präzision aufgewiesen hätte. An die­ sem Punkt kommt ein gewisser Grad an the­ oretischer Verfälschung ins Spiel: Sie mögen zwar nicht der Sprache mächtig gewesen sein, aber ihre Gesten bezeichnet man oft als bereits „linguistisch“ im Sinne eines differenziell auf­

186 

Sprache und Wahrnehmung

gebauten Kommunikationssystems (→ Gebär­ den und Sehen, → Kognition und Emotion). Allerdings sämtliches menschliches semioti­ sches Verhalten als „Sprache“ zu bezeichnen, macht die Absicht, reale natürliche Sprache von anderen Zeichensystemen zu unterschei­ den, null und nichtig. Zumindest scheitert die strukturalistische Position jedenfalls dabei, die Erfahrung zu erklären, nicht die adäqua­ ten Worte zu finden, um feine Geruchs- oder Geschmacksnuancierungen, Feinheiten des Liebeslebens, Tagträumereien, emotionale Ex­ treme und andere Bereiche des menschlichen Lebens zu beschreiben, welche nur grob von linguistischen Zeichen abgedeckt werden. In „A Natural History of the Senses“ (Ackerman 1991), einer überzeugenden Arbeit über non­ verbale Signifikation, bekommt die „Wahrneh­ mungsorientierte Pragmatik“ Unterstützung für die Behauptung, dass die Interaktion zwi­ schen Wahrnehmung und Sprache in der Tat entscheidend für eine umfassende Beschrei­ bung menschlichen Sprachgebrauchs ist. Zeichenträger, die ­wahrnehmungsleer sind, gehören in den Bereich des Wörterbuches. Das ist der Grund, warum in Wörterbüchern tat­ sächlich keine Bedeutungen existieren. Es ist der Leser, der das Wörterbuch mit Bedeu­ tung füllt, indem er dessen leere Schemata der Worte und Ausdrücke mit Hilfe entspre­ chender nonverbaler Zeichencluster zum Le­ ben erweckt. Das Training für diese Aufgabe nennen wir Sprachpädagogik (→ Lehren und Lernen, → Sprachdidaktiktheorie). Die „alsob-Strukturen“, die Wörterbücher charakte­ risieren, können jedoch auch nicht als echte Definitionen gelten, und zwar aus zwei Grün­ den: Erstens variieren Wörterbucheinträge in Umfang und Detail – eine Tatsache, die nicht mit irgendeiner strikten Konzeptualisierung von „Definition“ einher geht. Zweitens sind Wörterbucheinträge typischerweise ErsatzSignifikanten, welche nach dem sozialen Sprechereignis erfasst worden sind. In ande­ ren Worten: Sie sind Aposteriori-Konstrukti­ onen. In formalen Systemen ist diese Relation genau umgekehrt: Dort funktio­nieren Signi­ fikanten-Relationen auf einer Apriori-Grund­

lage. Drittens benötigen, noch erlauben die Definitionen eines formalen Zeichensystems zusätzliche mentale Gehalte für ihre Aktivie­ rung. Die Definitionen sind ihre notwendigen und hinreichenden Bedingungen. Formale Zeichensysteme haben weder Referenz noch Deixis (außer wir stellen ein Referenzsys­ tem als definitorisches Extra zur Verfügung), ganz abgesehen von einem referenziellen Hin­ tergrund und erst recht von einer impliziten Deixis. In all diesen Punkten sind dagegen in der realen, natürlichen Sprache nonverbale Bestandteile absolut wesentlich. Sprache zeigt und deutet auf etwas, bevor sie be-deutet, sie ist direktional und ostensiv  – ein Kenn­ zeichen, das sie vermutlich von ihren Vor­ läufern innerhalb gestischer Protosemiosis14 geerbt hat (→ Zeichen und Semiose, → Ge­ bärden und Sehen). Wenn Sprache tatsächlich eine Ökonomisierung darstellt, die sukzessive frühere Formen gestischer Kommunikation überformt hat (→ Kognition und Emotion), dann ist es wahrscheinlich, dass das frühe­ re Prinzip der nonverbalen Ostension (i. S. des Zeigens) in der Sprache als Direktionalität (i. S. der Gerichtetheit) überlebt hat. In ei­ ner „Wahrnehmungsorientierten Pragmatik“ wird die Auffassung vertreten, dass linguis­ tische Zeichen im Sinne einer Kombination aus verbalen Signifikanten und konzeptuell regulierten nonverbalen Zeichenclustern als „direktionale Schemata“ funktionieren. Die Nutzer einer realen, natürlichen Sprache ler­ nen von Kindheit an, Signifikant und Signifi­ kat derart zu assoziieren, dass sie in der Welt in eine bestimmte Richtung zeigen, das heißt sie so „ausgerichtet“ sind, wie sie in der jewei­ ligen Sprachgemeinschaft realisiert werden (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau). Alle linguistischen Äußerungen werden als Übermittler einer kulturellen Intentionalität erlernt: als Summe der direktionalen Über­ einkünfte einer Sprachgemeinschaft. Einge­ schlossen sind hier pragmatische Reichweite, die angemessene Größe des jeweiligen Welt­ ausschnittes, der Grad der Schematisierung sowie die Angemessenheit der direktiona­ len Indikation. Im Falle mangelnder Klarheit



„Wahrnehmungsorientierte Pragmatik“   187

werden normalerweise weitere direktiona­ le Schemata einbezogen. Man könnte sagen, dass Direktionalität in formalen Zeichensys­ temen ein-eindeutigen Vektorcharakter hat, sie in technischen Sprachen als enger Strahl erscheint, sie im normalen sozial-kommuni­ kativen Austausch Interpretations- und Ver­ handlungsspielraum lässt, wohingegen sie sich im Zusammenbruch der Kommunika­ tion ins Unendliche erweitert oder gen Null tendiert und so scheitert (→  Sprachentwick­ lung und Sprachabbau).

4.3 Deixis, Bewusstseinsvorgänge und soziale Bedeutungsgrenzen In der Linguistik wird unter Deixis ein sprach­ liches Merkmal verstanden, welches u. a. auf die räumlichen, zeitlichen und personellen Charakteristika einer Sprechsituation ver­ weist. Eine derart definierte Deixis entspricht jedoch nur der expliziten Deixis, die lediglich der Spitze des Eisbergs der generellen Dei­ xis entspricht15. Ähnliche Kritik kann gegen die philosophische Tradition der „ego-zen­ trischen Partikel16“ vorgebracht werden. In der „Wahrnehmungsorientierten Pragmatik“ wird jeder einzelne Terminus der realen, na­ türlichen Sprache, einschließlich Präpositio­ nen und anderen Funktionswörtern, als dop­ peldirektional angesehen, denn sie verweisen gleichzeitig auf ihre intersemiotische Referenz und zurück auf deren deiktische Quelle. Selbst eine so einfache Präposition wie beispielswei­ se „auf “ illustriert diesen Gesichtspunkt, in­ dem sie gleichzeitig auf einen referenziellen „Oberflächenkontakt“ als auch auf die Positi­ on des Sprechers und der Äußerung verweist. Was hier entscheidend ist, ist die Tatsache der Deixis sowie ihre Abhängigkeit von Wahrneh­ mungsphänomenen und deren Modifikatio­ nen in der Vorstellung. Diese Bemerkungen beabsichtigen, einer fundamental wichtigen Erkenntnis von Karl Bühler neues Gewicht zu verleihen, nämlich dass Sprache nicht nur ganz wesentlich durch Referenz (sowie durch Selbstreferenz) charakterisiert ist, sondern

dass sie auch immer durch und durch deik­ tisch ist (Bühler 1965 [i. O. 1934]). Während diese radikale Generalisierung der deiktischen Natur von Sprache bei Präpositionen nur mi­ nimale Bedeutungsmodifizierungen aufzeigt, hat sie weitreichende Implikationen für die Beschreibung von Kultur und Kommunika­ tion. Das Wort „Glaube“ zum Beispiel verän­ dert seinen Bedeutungshorizont entscheidend, wenn wir wissen, ob es von einem Gläubigen oder einem Agnostiker geäußert wird. Wenn implizite Deixis bei einzelnen Wörtern nach­ weisbar ist, sollte es nicht überraschen, dass sie im Gesamtvokabular einer Kultur für ent­ scheidende Bedeutungsmodifikationen ver­ antwortlich ist. So ist es wohl keine Übertrei­ bung zu sagen, dass die Doppeldirektionalität von Termini, besonders in ihrer impliziten Form, es verdient, in der Bedeutungstheorie ernst genommen zu werden. Gemäß der Empfehlung Chomskys (2000) in einer seiner jüngeren Publikationen, mit denen er zu linguistischen Fragestellungen zurückkehrte (→ Sprache und Sprechen), wird Bedeutung von der „Wahrnehmungsori­ entierten Pragmatik“ in einem nicht-kontro­ versen mentalen Sinn beschrieben. Die Exis­ tenz von mentalen Bewusstseinsvorgängen ist eine conditio sine qua non – eine Tatsache, die nicht aus den Prozessen heraus separiert werden kann, die Signifikanten in Signifikate transformieren. Bewusstseinsvorgänge sind unabdingbar für den linguistischen Bedeu­ tungsprozess. Die Vorwürfe des Mentalismus und Subjektivismus (→ Person und Sprache), denen gegenüber sich die „Wahrnehmungs­ orientierte Pragmatik“ genauso verwundbar zeigt wie die Kognitive Linguistik, müssen jedoch entkräftet werden. Der Eintritt in die Sprachgemeinschaft erfolgt über eine ganze Reihe von sozialen Bedeutungsgrenzen, die für jedes individuelle Sprachereignis gesetzt werden. Von den ersten stolprigen Sprechver­ suchen des Kindes auf dem komplexen Gebiet seiner Muttersprache an wird jede Kombina­ tion von verbalem Schema bzw. Signifikanten und konzeptuell organisierten, nonverbalen Gehalten, die unsere Signifikate bzw. Bedeu­

188 

Sprache und Wahrnehmung

tungen ausmachen, nicht nur einmal, sondern kontinuierlich geleitet und reguliert. Feh­ ler sind so zwar möglich, verschwinden aber Schritt für Schritt (Trevarthen 1989, 2001) (→ Intersubjektive Kommunikation). Anderer­ seits bedeutet dies allerdings nicht, dass die Aktivierung der Signifikanten durch ikoni­ sche Zeichen jeweils absolut identisch ist; sie muss vielmehr hinreichend ähnlich sein, um das soziale Funktionieren linguistischer Kom­ munikation zu garantieren. So ist es höchst unwahrscheinlich, dass zwei Angehörige der­ selben Kultur (→ Interkulturalität und Mehr­ sprachigkeit) jemals vollständig identische Bedeutungsprozesse durchführen; entschei­ dend ist eine hinreichende Überschneidung. Gender-, Klassen- und Alters-Unterschiede, unterschiedliche Gruppen- und Berufszuge­ hörigkeit (→ Norm und Differenz) sowie se­ mantische Verschiebung, Neologismen, in­ tellektuelle Fähigkeiten und andere Faktoren bedingen alle soziale Bedeutungsgrenzen, un­ terliegen ihnen aber ebenfalls.

5  Bedeutungsbegrenzungen Nichtsdestotrotz beruht Kommunikation dar­ auf, dass die Mitglieder einer Sprachgemein­ schaft erkennbar ähnliche Verbindungen zwischen Signifikant und Signifikat herstel­ len. Sie tun dies auf der wechselseitigen An­ nahme, dass normalerweise keine extrem ab­ weichenden Assoziationen hergestellt werden – eine Annahme, die im Gesamt durch den Sprachgebrauch gestützt wird. Die „Reali­ tätsüberprüfung“, welche jede Sprachgemein­ schaft vornimmt, um eine adäquate Anglei­ chung zwischen gesprochener Sprache und perzeptueller Realität sicherzustellen, kann in Anlehnung an den Leibnizschen „zureichen­ den Grund“ (raison suffisante) (Leibniz 1998 [i. O. 1714]) als „sufficient semiosis“ bzw. „hin­ reichende Semiose“ bezeichnet werden (Ru­ throf 1997, 48 f., 2000, 140–150) (→ Zeichen und Semiose). Hinreichende Semiose ersetzt

die „Wahrheitsbedingungen“ der analytischen Sprachphilosophie17 durch einen flexiblen Pro­ zess der Bedeutungsverhandlung und  Kon­ trolle. Die Gesprächspartner entscheiden, ob Interpretation möglich ist bzw. ob die Aus­ sicht auf ein erfolgreiches wechselseitiges Ver­ stehen groß genug ist, um den linguistischen Austausch fortzusetzen oder ob es ratsam ist, eine fruchtlose Kommunikation zu beenden. Bei diesem Vorgehen tritt die Frage nach dem Wahrheitsgehalt des Gesagten zwar auf, hat aber keinen Einfluss auf die Bedeutungsfrage. Die Bedeutung geht der Wahrheit voraus. Hiervon abgesehen gibt es auf einer an­ deren Ebene noch eine weitere Bedeutungs­ begrenzung, die in allen Kulturen zu finden ist: Die unergründlichen Grenzen des Univer­ sums, die jede Kultur, die an ihrem Fortbe­ stehen interessiert ist, formuliert hat. Keine Pragmatik kann sich letztlich dieser metaphy­ sischen Seite von Sprache entziehen (→  Per­ son und Sprache). Die bevorzugte Metaphysik der „Wahrnehmungsorientierten  Pragmatik“ könnte als autopoietischer inferenzieller Realismus beschrieben werden. Dies impliziert die Vorstellung, dass menschliche Wesen Or­ ganismen sind, deren nonverbales und später auch ihr linguistisches responsives Verhalten half, ihr Überleben zu garantieren. Die Art und Weise, wie der menschliche Organismus die unergründlichen Grenzen des Univer­ sums respektiert, geschieht über inferenziel­ le Antworten18. Die Menschen haben gelernt, diese Begrenzungen zu „lesen“ bzw. zu verste­ hen – und zwar als in ihren eigenen Signifi­ kationspraktiken reflektiert oder durchschei­ nend. Diese Konzeption wird autopoietisch in dem Sinne genannt, dass Menschen wie ande­ re Organismen auch in Interaktion mit ihrer unmittelbaren Umgebung, ihrer „Umwelt“, als „selbst-organisiert“ angesehen werden (Uex­ küll 1982, Maturana 1980, Varela 1980, 1993) (→ Lehren und Lernen, → Dialogaufbau). Es war Kant, der in Paragraph 64 seiner „Kritik der Urteilskraft“ (2006 [i. O. 1790]) erstmals die autopoietische Hypothese vom Menschen als „ein organisiertes und sich selbst organisie­ rendes Wesen“ vertreten hat. Die Metaphysik



Die Neudefinition von ­Zeichen, Bedeutung, Konzept, Referenz und Deixis   189

der „Wahrnehmungsorientierten Pragmatik“ wird auch in dem Sinne als inferenzieller Re­ alismus betrachtet, dass sie nicht die Existenz eines vom menschlichen Verstand unabhängi­ gen Universums leugnet, mit dem Vorbehalt, dass, was immer wir von ihm wissen, nicht di­ rekt, sondern nur durch schlussfolgernde, in­ ferenzielle Prozesse erworben wird – ein wei­ teres Kantsches Motiv. Inferenz spielt in der Sprache jedoch auch als „Vorstellung“, als eine Art Wahrnehmungsmodifikation, eine sehr viel konkreter erfahrbare Rolle.

6 Die Rolle der Vorstellung in der Sprache Außerhalb der Phänomenologie (→ Person und Sprache) hat die Vorstellung in Linguis­ tik und Sprachphilosophie schon seit langem keinen guten Stand. Insbesondere unter den heftigen Angriffen derjenigen Theorien, die Bewusstseinszustände als „propositionale Ein­ stellungen“ auffassen, hat die Vorstellung Platz gemacht für streng rationales Denken. Und doch spielt die Vorstellung im realen Sprach­ gebrauch nachweisbar eine zentrale Rolle, und zwar als Spektrum mentaler Vorgänge, die von äußerst realistischen Rekonstruktionen alltäg­ licher Erfahrungen bis hin zu wildesten Phan­ tasien reichen. Erneut sind es die Kognitive Linguistik und nicht-propositionale Konzep­ te wie „cognitive maps19“ (Finke 1989), „mapping20“ (Fauconnier 1997) und „conceptual blending21“ (Fauconnier & Turner 2002, Hut­ chins 2005), die den Weg wieder frei gemacht haben, um die Frage, was genau ihre mögliche Rolle sein könnte, neu aufzuwerfen (→ Kog­ nition und Emotion). In dem hypothetischen Entwurf der „Wahrnehmungsorientierten Pragmatik“ nimmt die Vorstellung eine zen­ trale Stellung ein. Eine Tatsache, die post-saus­ suresche Linguisten (→ Zeichen und Semiose, → Norm und Differenz) und post-fregesche Philosophen gleichermaßen in Verlegenheit bringt, ist die herausragende Rolle der Vorstel­

lung in realer, natürlicher Sprache, die schwer von der Hand zu weisen ist. Wahrnehmungs­ modifikation fungiert als Vorstellung der Aktualität (was wir tatsächlich schmecken, rie­ chen, berühren), in realistischer Darstellung als Vorstellung des Abwesenden, in der Erin­ nerung als Vorstellung der Vergangenheit (z. B. ein Gefühl des Schmerzes), in einer Voraussa­ ge als Vorstellung der Zukunft, in einer Sug­ gestion als Vorstellung des Versuchsweisen, in der Sicherheit als Vorstellung der scheinba­ ren Gewissheit, in der Hoffnung als Vorstel­ lung einer Wunschwelt, in der Phantasie als Vorstellung des Möglichen und Unmöglichen, im Traum als Vorstellung des Unbewussten, in Albträumen als Vorstellung des uns emotional Verstörenden und Unerträglichen, in der Hal­ luzination als Vorstellung des Irrealen, in der Utopie als Vorstellung einer besseren Welt oder in der Dystopie als Vorstellung einer Kata­ strophenwelt. Soweit diese mentalen Vorgänge verbalisiert werden, ist die Vorstellung ein un­ verzichtbarer, quasi-perzeptueller bzw. wahr­ nehmungsabhängiger Bestandteil der realen natürlichen Sprache. Sie ist der Motor, welcher uns ein ausgedehntes Repertoire nonverbaler Zeichen zur linguistischen Aktivierung zur Verfügung stellt. Um diesen Punkt der Zen­ tralität der Vorstellung in Sprache und deren Beschreibung in der „Wahrnehmungsorien­ tierten Pragmatik“ zum Abschluss zu bringen, kann Sprache aus dieser Sicht letztlich als nichts mehr oder weniger charakterisiert wer­ den als eine Reihe von Vorgaben, wie sich die Welt vorzustellen und darin zu handeln ist.

7 Die Neudefinition von ­Zeichen, Bedeutung, Konzept, Referenz und Deixis 7.1  Neudefinition des Zeichens Vor dem Hintergrund des Gesagten ist der ers­ te Terminus, der neu konzipiert werden muss, das linguistische Zeichen selbst (→ Zeichen

190 

Sprache und Wahrnehmung

Abb. 2: Evolution des chinesischen Zeichens „Hund“

und Semiose). Das linguistische Zeichen ist durch einen unmotivierten (arbiträren) ver­ balen Signifikanten bzw. Zeichenträger und einem motivierten (größtenteils nicht-arbit­ rären) nonverbalen Signifikat bzw. einer Be­ deutung konstituiert. Der Signifikant bleibt im Sinne Saussures erhalten, außer dass seine Arbitrarität nun als das Resultat einer langen Geschichte von ikonischer Entkörperung bzw. eines „disembodiment22“ betrachtet wird (Ru­ throf 2000, 85–97) (→ Lesen und Schreiben). Beispiele finden wir in allen piktographisch fundierten Sprachen. Die graduelle Trans­ formation des chinesischen Signifikanten für „Hund“ während der letzten dreitausend Jahre von einem ursprünglich repräsentativen Bild hin bis zum heutigen abstrakten Zeichen ist nur eine von Hunderten solcher ikonischer Entkörperungen (vgl. Abb. 2). Onomatopoetische Termini erinnern uns in ähnlicher Weise an ihre ikonischen An­ fänge. Trotzdem ist es richtig, verbale Signi­ fikanten, besonders in alphabetischen Spra­ chen, als unmotiviert zu bezeichnen. Dagegen bedarf das Signifikat tiefgreifender Überar­ beitung. Gemäß der „Wahrnehmungsorien­ tierten  Pragmatik“ besteht es nun aus zwei Komponenten: einem Konzept und quasi-per­ zeptuellen, ikonischen Gehalten, wobei erste­ res als eine soziale Regel fungiert, die diejeni­ gen nonverbalen Gehalte vorschreibt, die für jedes spezifische Signifikat aktiviert werden müssen. Bedeutung entsteht, wenn Signifi­ kanten durch Signifikate aktiviert werden. In einer habituellen Bedeutungskonstituierung verläuft der Prozess der Aktivierung mit sy­ naptischer Geschwindigkeit; in einer bewusst vollzogenen und dadurch deutlich langsa­ meren Bedeutungskonstituierung neigen wir dazu, eine gewisse Anzahl möglicher Signifi­ kate in Betracht zu ziehen, bevor der Prozess

der Bedeutungskonstituierung abgeschlossen ist oder aber komplett scheitert. Dies ist der Grund, warum die traditionelle Beschreibung der Konzeptualität in propositionalen Begrif­ fen unbefriedigend ist, denn sie versäumt es, die Zeit, die für die Interpretationsarbeit be­ nötigt wird, zu berücksichtigen. Ironischer­ weise kann diese Tradition immer noch in der ansonsten radikalen Revision des Konzeptes durch Deleuze und Guattari entdeckt werden, die glauben, dass das Konzept „unmittelbar“ auftaucht (Deleuze & Guattari 1994). Inner­ halb einer Pädagogik, die sich mit sprachlich beeinträchtigten Personen befasst, verdient der komplizierte Prozess der Bedeutungsakti­ vierung ganz besondere Aufmerksamkeit.

7.2 Neudefinition von Bedeutung und Konzept Wir sind somit nun in der Lage, Bedeutung bzw. Signifikat und Konzept neu zu formu­ lieren. Das Signifikat besteht aus zwei Kom­ ponenten: einem Konzept und nonverbalen ikonischen Zeichen. In dieser Definition be­ sitzt das Signifikat keine ungeteilte einheitli­ che Konzeption, sondern ist in zwei deutlich unterschiedene Komponenten aufgeteilt: ei­ nem regulativen Konzept und den nonverba­ len Gehalten, die uns ermöglichen, uns eine quasi-perzeptuelle Version eines Teils der Welt vorzustellen. Das Konzept muss als (1) soziale direktionale Regel definiert werden. Diese be­ stimmt sowohl (2) Art und (3) Quantität der nonverbalen, quasi-perzeptuellen Inhalte, die für die Konstituierung des linguistischen Zei­ chens aktiviert werden müssen, als auch den (4) Grad der Schematisierung, bis zu dem die­ se Inhalte transformiert werden müssen (vgl. Abb. 3).





Die Neudefinition von ­Zeichen, Bedeutung, Konzept, Referenz und Deixis   191

                   3:  Neudefinition des Konzepts Abb.    viergliedrige Definition des Konzepts er­ Diese  laubt  es, die vernachlässigte Verbindung zwi­

schen Sprache und Wahrnehmung realistisch zu beschreiben. 1. Die Direktionalität des Konzepts leitet uns in eine gewisse Richtung: „dieser Sachbe­ stand, nicht jener“. 2. Die Art des zu Bedeutenden erfordert ein Analogieverständnis, mit Hilfe dessen wir einen Auschnitt unserer Welt (oder ihre Va­ riation) begreifen. Hier ist Ikonizität im Sin­ ne von Peirce das entscheidende Kriterium wie auch seine Behauptung, dass im Letz­ ten alles menschliche Verständnis der Ver­ wandlung aller Inhalte in ikonische Zeichen bedarf. Obwohl obige vierfache Definition die vergessene Beziehung zwischen Wahr­ nehmung und dem linguistischen Zeichen betont, hinterlässt sie uns das Problem, wie „quasi-perzeptuelle Gehalte“ zu analysie­ ren sind. Ein zusätzlicher Definitionsschritt ist erforderlich, nämlich die Übersetzung von „Gehalten“ bzw. „Bestandteilen“ in se­ miotisch identifizierbare Einheiten: ikonische Zeichen (→ Zeichen und Semiose). Die Sorte Zeichen, die unter dem Oberbegriff

der Ikonizität subsumiert werden, umfasst alle zeichenhaften Identifikationsmerkma­ le, die für die Übersetzung von allgemeiner Semiose in semiotische Einheiten, welche fähig sind, spezifisch menschliches Verste­ hen zu ermöglichen, nötig sind. Diese Zu­ sammenfassung ist die Konsequenz aus der oben erwähnten Peirceschen Regel, dass der spezifisch menschliche Verstehenszugang im Wesentlichen ikonisch ist. Dementspre­ chend existiert ohne die Transformation von Information in ikonische Eindrücke keinerlei menschliches Begreifen (CP 1.158). Das Spektrum ikonischer Zeichen kann wie nachfolgend beschrieben charakteri­ siert werden. Normalerweise sind die durch Konzepte sozial regulierten ikonischen Zei­ chen olfaktorische, gustatorische, auditive, kinetische, proxemische, thermische, gravi­ tative, haptische (innerlich), taktile (äußer­ lich), emotionale, somatische, visuelle und sonstige nonverbale Eindrücke bzw. „Lesar­ ten“ der Welt: es schmeckt wie, es riecht wie, es hört sich so an wie, etc. 3. Neben dieser Befassung mit der Art der durch Konzepte regulierten mentalen Ge­ halte müssen wir aber auch die Quanti-

192 

Sprache und Wahrnehmung

Phase 1

Transformation der Sprachlaute in Vorstellungen: verbal zu nichtverbal Schlangen – Heer – Spötter  →  auditive, visuelle, kinetische Transformationen

Phase 2

Entfaltung von Einzelvorstellungen: heterosemiotisch ikonisch • „Schlangen“ als gefährlich, giftig, ekel- und furchterregend • „Heer“ als feindliche, lebensbedrohende, aggressive und bewaffnete Masse • „Spötter“ als unangenehme, feindlich gesinnte, höhnisch zynische Personen → separate qualitative und quantitative Vorstellungen und emotionale Reaktionen

Phase 3

Mischvorstellungen: intersemiotische, nichtverbale Vermischung der drei Vorstellungswelten (2) in eine neue, vereinheitlichte Vorstellungswelt hier: einer spöttischen Menschenmenge in der Form eines Schlangenheeres Qualitative und quantitative Vorstellungen und emotionale Reaktionen werden in ein kohärent negatives, ekelerregendes, aggressives, gefährliches und verachtbares Gesamtbild und Gefühl verbunden.

Phase 4

Transformation der nichtverbalen Gesamtvorstellung (3) zurück in die Sprache (Paraphrase): „Spötter als feindliche, schlangenartig aggressive Masse vereint im Hohn.“

(Anmerkung: Was im Bedeutungsprozess der Metapher vorgeht, ist eine langsamere und komplexere Version des Bedeutungsereignisses in der natürlichen Sprache im Allgemeinen. Das Wörterbuch besteht aus dem verbalen Ausgangspunkt und dem Endergebnis von Phase 4 und kann somit keine Bedeutungen enthalten.) Abb. 4: Neudefinition der Metapher

tät so regulierter quasi-perzeptueller Be­ standteile erörtern. Hier spielt erneut das Prinzip der sufficient semiosis bzw. der „hinreichenden Semiose“ (vgl. 5) eine ent­ scheidende regulative Rolle. Die Quantität der von Konzepten regulierten ikonischen Zeichen ist eine Funktion der hinreichenden Semiose. Im gewohnheitsmäßigen Sprachgebrauch ist die hinreichende Semi­ ose automatisiert und minimal – deshalb der Eindruck der „Unmittelbarkeit“ (s. o. Deleuze & Guattari 1994); im interpreta­ tiven Gebrauch ist sie so komplex, wie die Kommunikation es verlangt, und in der In­ teraktion mit sprachlich beeinträchtigten Personen muss an diesem Prozess, der hier ganz spezielle Aufmerksamkeit verlangt, gearbeitet werden. Dennoch sind ikonische Zeichen, die hinsichtlich Art und Quanti­ tät durch Konzepte reguliert werden, nicht notwendigerweise brauchbar für die Inte­ gration in ein vereinheitlichtes Signifikat. Ikonische Zeichensysteme sind durch die Art des biologischen perzeptuellen Erbes, das sie mit sich führen, unterscheidbar, und zwar abhängig davon, welchen unserer Sinne sie in semiotische Einheiten überset­

zen. In anderen Worten: Der Charakter unterschiedlicher ikonischer Zeichen spie­ gelt die Unterschiede zwischen unseren neurologisch unterscheidbaren Wahrneh­ mungsrealisationen wider. Olfaktorische Zeichen beispielsweise sind grundsätzlich äußerst heterogen im Vergleich zu visueller Signifikation. In ganz ähnlicher Art und Weise sind auditive Eindrücke heterogen im Vergleich mit gustatorischen Zeichen wie z. B. das Wiedererkennen bestimmter Geschmäcker. Dementsprechend können wir die regulatorische Aufgabe des Kon­ zeptes weiter spezifizieren: Konzepte regu­ lieren heterosemiotische ikonische Gehal­ te in intersemiotische Schematisierungen. Ein leicht nachvollziehbares Beispiel ist die Erfahrung eines beschädigten Zahns. Die Identifizierung der Beschädigung, die uns unsere Zungenspitze erlaubt, unterschei­ det sich wesentlich von unserem visuellen Eindruck im Spiegel, dem Gefühl, das der Zahnarzt mit seinen Instrumenten in uns hervorruft, oder dem Röntgenbild, das als Basis der Reparatur dient. Konzepte helfen uns, solche Widersprüche zu assimilieren. Dieser Zusammenhang zwischen heterose­



Die Neudefinition von ­Zeichen, Bedeutung, Konzept, Referenz und Deixis   193

miotischen ikonischen Perzeptionen und Konzepten ist typischerweise verschlei­ ert, besonders in Bedeutungsereignissen, in denen die Signifikanten Aktivierung durch ikonische Zeichen verlangen, die zu perzeptuellen Bereichen gehören, die normalerweise als nicht vergleichbar an­ gesehen werden, wie es in der Metapher (→  Kognition und Emotion) der Fall ist (vgl. Abb. 4). Hier ist das Bedeutungsereig­ nis verzögert – und zwar als Resultat der nicht-linguistischen, quasi-perzeptuellen Interpretationsarbeit, die verlangt ist, be­ vor die heterosemiotischen Bestandteile in einer kompatiblen Abfolge von Bedeutun­ gen bzw. Signifikaten vereint werden kön­ nen. Im Gegensatz dazu werden im gewohn­ heitsmäßigen Sprachgebrauch die hetero­ semiotischen Aspekte, die durch Konzep­ te unter dem Dach des Signifikats reguliert werden, durch die Geschwindigkeit des Be­ deutungsereignisses kaschiert. 4. Zu guter Letzt beinhalten die regulatori­ schen Funktionen des Konzepts auch den Grad der Schematisierung, in den men­ tale ikonische Inhalte transformiert wer­ den müssen. Der Grad der Schematisie­ rung steht im Zentrum der Frage, wie wir Wahrnehmung und reale natürliche Spra­ che wieder miteinander unter einen Hut bringen können. Der Ansatz für eine Be­ schreibung dieser Art der Schematisierung findet sich in Husserls Analyse der sich

kreuzenden Axen von Spezifizität-Genera­ lisierung einerseits und MaterialisierungFormalisierung andrerseits (Husserl 1993 [i. O. 1913]) (vgl. Abb. 5). So kann Bedeutungsaktivierung leerer verba­ ler Schemata von einem spezifischen ikoni­ schen Inhalt zu einem hohen Grad von Verall­ gemeinerung generalisiert werden; gleichzeitig kann die mental-materiale Dichte ikonischer Zeichen „verdünnt“ werden bis hin zur forma­ len Leere. In der Sprachphilosophie und Lin­ guistik ist dieser komplexe Zusammenhang des Schematisierungsprozesses üblicherweise in der Annahme zusammengefasst, dass Spra­ che die Inhalte unserer Wahrnehmungswelt durch Abstraktion entleert. Im hier skizzierten differenzierteren Ansatz der „Wahrnehmungs­ orientierten Pragmatik“ variiert die Verbin­ dung zwischen den beiden gemäß der Art und dem Grad der Schematisierung der im lingu­ istischen Zeichen angesprochenen quasi-per­ zeptuellen Gehalte, welche Resultat der vom Konzept ausgeführten regulatorischen Arbeit sind. Je nach Grad der Generalisierung und Formalisierung im Rahmen des Schematisie­ rungsprozesses können wir drei Kategorien von Konzepten unterscheiden: ‚hard-edged‘, ‚soft-edged‘ und ‚soft-core‘ (vgl. Abb. 6). 1. ‚Hard-edged concepts‘ sind formale Kon­ zepte, in denen Deixis und Referenz auf Null reduziert sind (gleich Null sind). Sie umfassen auch numerische Konzepte, wel­ che Spuren sozialer Ikonizität anzeigen.

Abb. 5: Matrix für Generalisierung und Formalisierung (nach Husserl)

194 

Sprache und Wahrnehmung

2. ‚Soft-edged concepts‘ umfassen alle philo­ sophisch-theoretischen Konzepte, die de­ finitorisch bestimmt sind und über Deixis (theoretische Perspektive) und Referenz (spezifischer Bezug zur Welt) verfügen, sie also eine verkürzte Form der Ikonizität an­ zeigen. Beispiele wären „die ewige Wieder­ kunft des Gleichen“ (Nietzsche 1999 [i. O. 1883–85]); „differance“ (Derrida 1967a);

„Intentionalität“ (im Sinne Husserls 1969 [i. O. 1928]); oder der „ontisch-ontologische Unterschied“ (Heidegger 2006 [i. O. 1927]). 3. Für unsere Zwecke hier ist die dritte Ka­ tegorie, in der die so genannten ‚soft-core concepts‘ zusammengefasst sind, die bei weitem Wichtigste. Der größte Teil der rea­ len, natürlichen Sprachen besteht aus softcore-Konzepten, welche ikonische Inhalte

Konzepttyp

Definition und ­Beispiele

‚hard-edged‘

Formalkonzepte, die strikt durch ­Definition determiniert sind: x = yn; 270°; C6H12O6; x = y → (y = z → x = z); ≤; ≡; €.

null

neutralisiert

null

null

‚soft-edged‘

Theoretische Konzepte, die von der natürlichen Sprache abhängig sind: • „Körper ohne Organe“ (Deleuze & Guattari); • „ontisch-ontologischer Unterschied“ (Hei­deg­ ger); • „atomistisches Kon­ zept“ (Fodor); • „Anschauung“ (Kant)

interpretations­ abhängig

reduziert

Hintergrund der philo­ sophischen Weltan­ schauung

Philosophi­ sche Sprech­ position

‚soft-core‘

Konzepte der natürlichen Sprache, die ikonischperzeptuelle Vorstel­ lungsinhalte ordnen: • laufen, singen • stark, blau, interessant • Heim, Demokratie, Glaube, Schwierigkeit, Hoffnung

wesentlich

wesentlich

wesentlich

wesentlich

Abb. 6:  Drei Typen von Konzepten

Referenz, explizit

Deixis, explizit

Referenz, implizit

Deixis, implizit



Die Neudefinition von ­Zeichen, Bedeutung, Konzept, Referenz und Deixis   195

in Form einer phänomenologischen Typi­ fizierung oder gemäß von etwas, das Rus­ sells (1923) Prinzip der „Vagheit“ ähnelt, organisieren.

7.3 Neudefinition von Referenz und Deixis Während Referenz und Deixis Merkmale sind, die in Formalsprachen zusätzlich eingeführt werden können, sind sie beide in der realen, natürlichen Sprache notwendige Bedingun­ gen. Dies gilt sowohl für Sprache, die sich auf reale Ereignisse bezieht, als auch für Witze und fiktionalen Gebrauch von Sprache, wobei der Hauptunterschied ist, dass in der Fiktion Referenz und Deixis durch Analogien in der Vorstellung und weniger durch bestätigende Wahrnehmungserfahrungen konstruiert wer­ den. In der „Wahrnehmungsorientieren Prag­ matik“ werden Referenz und Deixis als inter­ semiotische Relationen neu definiert (Ruthrof 1997). Dadurch wird sowohl der naive Rea­ lismus der post-fregeschen Semantik als auch der post-saussuresche linguistische Idealismus vermieden. Während ersterer die Schuld für die Anpassung des Zeichensystems der Spra­ che an das Objektsystem der realen Welt trägt – zwei unvereinbare Domänen, denen ein tertium comparationis fehlt –, ist letzterer in dem Sinne unzulänglich, dass Referenz und Deixis hier interne Sprachrelationen sind, womit ver­ säumt wird, die Art ihrer Verzahnung mit der nonverbalen Welt der Wahrnehmung zu be­ rücksichtigen. Die „Wahrnehmungsorientierte Pragmatik“ löst derartige Aporien durch seine „zoosemiotischen“ (→ Zeichen und Semiose) und autopoietischen evolutionären Ausgangs­ prinzipien. Diese Kluft zwischen formalen und natürlichen Sprachen wird noch zusätz­ lich dadurch vergrößert, dass zwei weitere iko­ nische Komponenten berücksichtigt werden: referenzieller und deiktischer Hintergrund wie beispielweise typische Gerüche einer regio­ nalen Küche und ihr kultureller Kontext. Als Frege den Planeten Venus als Referenz für die Termini „Abendstern“ und „Morgenstern“ de­

finierte (vgl. 2.1), hätte er auch sich selbst noch als deiktische Quelle dieser Aussage identifi­ zieren können. Soweit Referenz und Deixis. Was hier fehlt, oder deutlicher gesagt, was Fre­ ge negierte, waren die weiteren Komponenten des referenziellen Hintergrundes von Abend­ stern und Morgenstern. Ohne unser allgemei­ nes Wissen von typischen Morgenden, Aben­ den und Planeten würden Freges Aussagen wenig Sinn machen. Bevor Frege die Venus als Referenz identifizieren kann, muss er sich dar­ auf verlassen können, dass der Leser Morgen­ stern und Abendstern in einem bestimmten Kultur- und Lebensraum versteht: referenziel­ ler Hintergrund. Als deiktischen Hintergrund könnte man die philosophische Tradition nen­ nen, der wir Freges Pionierdenken zuordnen. Warum hat Frege den Schritt zu diesem Dop­ pelhintergrund der natürlichen Sprache nicht unternommen? Oder hat er ihn bewusst ver­ mieden? Die offensichtlichste Antwort scheint mir sein geometrischer Ausgangspunkt zu sein. Der Analogiesprung von Geometrie und Arithmetik zur realen, natürlichen Sprache tendiert dazu, solche Betrachtungen von An­ fang an zu eliminieren. Referenzieller und deiktischer Hinter­ grund müssen also sorgfältig von spezifischer Referenz und Deixis unterschieden werden, welche in derartige Hintergründe eingebet­ tet sind. Im Unterschied zu technischen und formalen Sprachen drücken alle Ausdrücke natürlicher Sprache diesen doppelten Hin­ tergrund aus, und zwar im Sinne einer be­ stimmten Welt, zu der sowohl Referenz (auf Objekte) als auch Deixis (auf Sprecher) als zu­ gehörig interpretiert werden. Auf diese Wei­ se bilden referenzieller und deiktischer Hin­ tergrund die weite, implizite und allgemeine semiotische Kulisse, die gewohnheitsmäßig von den Sprechern und Lesern einer gemein­ samen Kultur vorausgesetzt wird. Für Au­ ßenseiter ist dieses stillschweigend vorausge­ setzte Wissen eine große Verständnishürde. Dies ist der Grund, warum referenzieller und deiktischer Hintergrund die Bedeutungskon­ struktion dann am stärksten beeinträchtigen, wenn wir kulturelle Differenzen (→ Interkul­

196 

Sprache und Wahrnehmung

turalität und Mehrsprachigkeit) und histo­ risch weit zurückliegende Texte behandeln. Referenzieller und deiktischer Hintergrund sind also grundlegende Bestandteile des Sig­ nifikats und beide sind dem Sprachbenutzer eher quasi-perzeptuell als propositional zu­ gänglich. Auch hier fungiert Vorstellung als modifizierte Wahrnehmung, als Brücke zwi­ schen Sprache und Welt. Die Unterscheidung zwischen ikonischen Eindrücken und Konzept ist für die wahrneh­ mungsorientierte Argumentation von ent­ scheidender Bedeutung. Ikonische Eindrü­ cke, ob unbewusst, bewusst, realistisch oder sonst wie, überbrücken die traditionelle De­ markationslinie zwischen roher Realität und konzeptueller Erfahrung – eine Trennung, die in der Fachliteratur so berühmt wie unbefrie­ digend ist (Davidson 1984, Sellars 1956). Im Gegensatz dazu betont die „Wahrnehmungs­ orientierte Pragmatik“ das Kontinuum von elektromagnetischer Strahlung über neuro­ nale, nicht bewusste Perzeption, perzeptuelle Erfahrung und natürliche Sprachen bis hin zu künstlichen Sprachen. Und obwohl die Kog­ nitive Linguistik mit ihrem Vorschlag des embodied concept23 (Lakoff & Johnson 1999) die­ ses Kontinuum anerkennt, ist sie aber nicht fähig, den Unterschied zwischen dem Kon­ zept als neuronale Struktur und dem Konzept als soziale Produktion zu erklären (→ Kogni­ tion und Emotion). Zugleich ist die hier vor­ geschlagene asymmetrische Beziehung von ikonischen Eindrücken und Konzept in der Lage, propositionale Ansätze, wie beispiels­ weise Fodors (1998) konzeptuellen Atomis­ mus24, in einen größeren Kontext zu stellen. Konzepte werden nicht im Sinne eines kon­ zeptuellen Schemas wie ein fix und fertiges Werkzeug aufgepfropft, sondern sie schema­ tisieren ikonische Eindrücke schrittweise und flexibel für spezifische bewusste, soziale und experimentelle Zwecke. Die asymmetrische Relation zwischen ikonischen Eindrücken und Konzepten erlaubt uns beide Zugänge: Wir haben Konzepte, die unseren ikonischperzeptuellen Zugang zum „Gegebenen“ re­ gulieren (Kant 1998 [i. O. 1781], Sellars 1956).

Als ökonomisierende Matrix, die schrittwei­ se die Wahrnehmung überlagert, optimiert Sprache beide Prinzipien.

8 Fazit: Kommunikation in ­einem wahrnehmungs­ orientierten linguistischen Paradigma Der vorläufige Entwurf einer „Wahrneh­ mungsorientierten Pragmatik“, der hier un­ ter dem Druck der neurowissenschaftlichen und kognitiv-linguistischen Forschung skiz­ ziert wurde, ist ein Versuch, eine ganze Rei­ he von sprachphilosophischen und linguisti­ schen Traditionen (→ Person und Sprache) miteinander in Einklang zu bringen und sie zu transzendieren. Was aber sind die Implikatio­ nen dieses Entwurfes für die Betrachtung von Kommunikation? In einem wahrnehmungs­ orientierten linguistischen Paradigma läge der Fokus der Kommunikation nicht nur darauf, wie Wahrnehmung und Sprache interagieren, sondern auch auf der Art und Weise, wie un­ sere Sprache Wahrnehmungsspuren in Form der Vorstellung aufweist. Wenn, wie argu­ mentiert wurde, Kommunikation im linguis­ tischen Austausch niemals nur „linguistisch“ ist, dann spielt der perzeptuelle Zugang in all seinen heterosemiotischen Formen – beste­ hend aus olfaktorischen, gustatorischen, hap­ tischen, taktilen, thermischen, gravitativen, auditiven, visuellen, somatischen und emo­ tiven Eindrücken – eine entscheidende Rolle in der Bedeutungskonstruktion. Und da na­ türliche Sprache mehr als häufig für perzep­ tuelle Leistungen steht, wird Wahrnehmung als „Vorstellung“ konzeptualisiert, das heißt als ­perzeptuelle Modifikation. Dementspre­ chend muss die  Vorstellung interagierender Sprecher ins Zentrum empirischer Forschung gerückt werden (→ Intersubjektive Kommu­ nikation) – eine Aufgabe, die weit über die Grenzen der hypothetischen Postulate einer



Anmerkungen   197

„Wahrnehmungsorientierten Pragmatik“ hin­ aus geht. Alles, was hier vorgeschlagen werden kann, ist, dass propositionale und syntaktische Erklärungszugänge zur Sprache durch perzep­ tuelle und quasi-perzeptuelle Forschungspara­ digmata ergänzt werden müssen, und zwar in dem notwendigen umfassenden Sinn, um ei­ nen zu engen Fokus auf die visuelle Signifikati­ on als lediglich eine weitere Verzerrung semi­ otischer Diversität zu vermeiden. Dies ist ein besonders drängender Bedarf innerhalb der Erforschung der Kommunikation sehr kleiner Kinder und sprachlich beeinträchtigter Perso­ nen.

Anmerkungen   1 Präsuppositionen. Der Ausdruck „Präsuppositi­ on“ bezeichnet in der Logik, in der analytischen Sprachphilosophie und in der Linguistik die im­ plizite Voraussetzung einer Sprechhandlung, ins­ besondere einer Aussage. Von Frege (2002 [i. O. 1892]) wurde der Begriff im Sinne der selbstver­ ständlichen Voraussetzung, dass Eigennamen eine Bedeutung haben, entwickelt und in der analytischen Sprachphilosophie vertieft. Seit den 1970er Jahren wird er auch in der Linguistik an­ gewandt.   2 Seit Frege (2002 [i. O. 1892]) wird die Referenz in der analytischen Philosophie als Relation zwischen der Sprache und den Objekten in der Welt definiert. Die Termini „Morgenstern“ und „Abendstern“ haben die gleiche Referenz: den Pla­ neten Venus. In der „Wahrnehmungsorientierten Pragmatik“ wird Referenz als intersemiotische Relation zwischen verbalen und nicht-verbalen Zeichensystemen neu definiert (Ruthrof 1997), da die Venus uns als notwendiger Inferenzgegen­ stand unserer Beobachtungen, welche wissen­ schaftliche Instrumente einschließen, bekannt ist.   3 Deixis (gr. Zeigen, Vorführen), als Zeige- und Hinweisfunktion sprachlicher Ausdrücke, ist in der Linguistik traditionell auf Wörter beschränkt, die räumliche, zeitliche und persönliche Hinweise auf den Sprecher eines Satzes explizit enthalten; hier radikal als „Modalschatten“ jedes einzelnen Wortes in der natürlichen Sprache erweitert (Ru­ throf 1992), einschließlich der impliziten Deixis, deren Verständnis detailliertes Wissen der Ge­ samtkultur des Sprechers voraussetzt. (s. Endnote 15)

  4 Signifikation wird hier im umfassenden Sinn des verbalen und nicht-verbalen Interpretierens und Kommunizierens verstanden. Dies schließt bei­ spielsweise das zoosemiotische „Lesen“ der Posi­ tion der Sonne ein, das sich im Organismus der Sonnenblume vollzieht.   5 Propositional verweist auf Propositionen: die lo­ gisch reduzierte Form von Sätzen in der natürli­ chen Sprache. Das Grundproblem der Beziehung zwischen Sprache und Propositionen ist, dass man zwar Sprache, wie in der formalen Semantik, auf eine propositionale Ebene reduzieren kann, aber dass das, was man so beschreibt, nur minimal mit dem zu tun hat, was eigentlich in der Sprache vorgeht. Der Beweis dafür liegt in der Tatsache, dass man die gesprochene, natürliche Sprache nicht von solch propositional reduzierten Sche­ mata rekonstruieren kann. „Propositionale Ein­ stellungen“ (propositional attitudes) sind in der analytischen Philosophie Teil des Versuchs, Be­ wusstseinsanalysen auf eine definierbare, nichtpsychologische Basis zu reduzieren. Dabei fallen allerdings wichtige Aspekte der Vorstellung – ins­ besondere Wahrnehmungs- und Phantasieele­ mente – außerhalb des Forschungsrahmens. Aus der Perspektive der Wahrnehmungsorientierten Pragmatik ist dieser Ansatz folglich nur als Teilas­ pekt von Bewusstseinsvorgängen anzusehen.   6 Mapping-Prozesse nach Fauconnier (1984) un­ terstützen die Position der Lakoff-Schule (vgl. Kap. 1), insofern hiermit eine sensomotorische, neuronale Konzeptualisierung als Vorläufer und Ursache wahrnehmungsabhängiger Bewusst­ seinsvorgänge vertreten wird.   7 Konzept. Die Diskussion, was „Konzepte“ eigent­ lich sind, erstreckt sich in der Philosophie über eine unüberschaubar breite Literatur: von Lockes „Aggregat einfacher Ideen“ (1975 [i. O. 1690]), Kants „Regel der Synthese der Wahrnehmung“ (1998 [i. O. 1781]), Cassirers „sinnlicher Abstrak­ tion“ (2002 [i. O. 1929]) bis zu gegenwärtigen Kontroversen. Hier wird das Konzept der natür­ lichen Sprache in post-Kantscher Auffassung als kulturell gesteuerter Regulationsmechanismus neu definiert, der ikonische mentale Materialien nach Direktionalität, Art, Quantität und Grad der Schematisierung ordnet. Im Gegensatz dazu wer­ den Formalkonzepte weiterhin als definitionsde­ terminiert betrachtet.   8 Das (nonverbale) Andere umfasst alle nicht-lin­ guistischen, wahrnehmungsorientierten Interpre­ tationsprozesse, wie olfaktorische, gustatorische, thermische, gravitative, somatische, emotionale, auditive, haptische, taktile, visuelle sowie perzep­ tuelle appräsentative Formen der Erfahrung.

198 

Sprache und Wahrnehmung

  9 Wittgensteins Konzept von „Gebrauch“ (use) umfasst die Art und Weise, in der eine Sprach­ gemeinschaft die Welt typischerweise mittels „Sprachspielen“ darstellt und vermittelt. Aus der Perspektive der ­Wahrnehmungsorientierten Pragmatik erscheint Wittgensteins Ansatz als Spezialfall einer breiteren Konzeption des Sprach­ gebrauchs, der hier als Aktivierung leerer lingu­ istischer Schemata mittels ikonischer mentaler Materialien innerhalb der Grenzen einer Sprach­ gemeinschaft verstanden wird. Somit steht Witt­ gensteins Beschreibung des Sprachgebrauchs nicht im direkten Gegensatz; er erscheint eher als eine Analyse vom abstrahierten Endresultat her. Da sich in den „Philosophischen Untersuchun­ gen“ (Wittgenstein 2003 [i. O. 1953]), besonders in den späteren Paragraphen, Hinweise auf den Zu­ sammenhang zwischen Grammatik und Biologie finden, ist es möglich, die beiden Positionen ein­ ander näher zu bringen. 10 Direktionalität ist ein Begriff, der von Husserls Analysen der Bewusstseinsakte, als immer schon direktionale, übernommen wurde (Husserl 1993 [i. O. 1913]). Verbunden mit der Hypothese des Perzeptionsgehaltes der Bedeutung in der natür­ lichen Sprache, weist Direktionalität darauf hin, dass die natürliche Sprache die Direktionalität der Wahrnehmungsakte sozusagen geerbt hat und in der Bedeutung weiterträgt. Implizite Referenz und implizite Deixis – zwei vernachlässigte As­ pekte der Bedeutung – sind zum Beispiel beson­ ders wichtige Träger von Kulturdirektionalität. In den Formalsprachen fehlt die Direktionalität in diesem Sinn. 11 Quanta bedeutet hier die Menge an diskreten Ein­ heiten von ikonischem mentalen Material, das ein Konzept als notwendig und genügend auswählt, um Bedeutung zu ermöglichen und abzugren­ zen. Solche Quanta sind aber nie isoliert gegeben, sondern können nur in der Interaktion mittels Direktionalität sowie Art und Grad der Schema­ tisierung analysiert werden. 12 Schema und Schematisierung sind Konzepte, die Roman Ingardens Beobachtungen über den schematischen Charakter der natürlichen Spra­ che, besonders in ihrer literarischen Anwendung, verpflichtet sind (Ingarden 1930). Demgemäß be­ trachtet die „Wahrnehmungsorientierte Pragma­ tik“ alle Termini der natürlichen Sprache als leere Schemata, die je nach Sprachgebrauch mit nicht­ verbalen, ikonischen, perzeptuellen mentalen Ma­ terialien mehr oder weniger intensiv „gefüllt“ und so aktiviert werden. „Schematisierung“ wird hier als Teilfunktion des Konzeptes verstanden, wobei jedes Konzept den Grad bestimmt, zu dem iko­

nische Materialien typischerweise „abstrahiert“ werden. 13 Signum als aliquid pro aliquo ist seit Augustinus (345–430) die Minimaldefinition des signum, die besagt, dass wir es mit einem Zeichen und mit Semiosis zu tun haben, wenn „etwas für etwas anderes“ steht. Peirce (1931–58) hat diese uralte Definition erweitert, indem er „für jemanden“ hinzugefügt hat. Man kann diese Grunddefiniti­ on noch weiter spezifizieren, indem man die his­ torischen und kulturellen Umstände der Semiose mit einbezieht. Heidegger (2006 [i. O. 1927]) hat die Relation des aliquid pro aliquo in seiner be­ kannten „als-Struktur“ neu formuliert. 14 Protosemiosis fungiert hier als inklusives Kon­ zept, das nicht nur die syntaktische Folge von Gesten, sondern auch alle „passiven“, nicht-ver­ balen Wahrnehmungsprozesse, das heißt, sowohl „COSS“ wie auch „ROSS“, abdeckt. 15 Unter den weiterführenden Aspekten der Deixis muss man die Vielschichtigkeit der impliziten Deixis ansprechen: die interpretative Konstrukti­ on der unausgesprochenen geistigen, emotionalen und kulturellen Einstellung des Sprechers eines jeden Satzes. Wie die implizite Referenz, als nicht ausgesprochene Kulturwelt, auf die ein Satz in­ direkt hinweist, so summiert die implizite Deixis das Gesamtverständnis einer Kultur, an der, und zu dem Grade zu dem Mitglieder einer Sprach­ gemeinschaft bewusst und unbewusst teilhaben. In persönlicher Sprachinteraktion und vor allem in der Wiedergabe von Texten anderer Kulturen ist dieser Hintergrund, der in der Sprache durch­ scheint, entscheidend für Nuancen des Interpre­ tierens. 16 Ego-zentrische Partikel (egocentric particulars) ist Bertrand Russells Bezeichnung für alle Wör­ ter, die auf den Sprecher zurückweisen, wie „ich“, „du“, „hier“, „jetzt“, „damals“, „dies“ etc., das heisst, für Termini der expliziten Deixis (Russell 1940). 17 Wahrheitskonditionalität der analytischen Sprachphilosophie (truth-conditional semantics) kann als verzweifelter Rettungsversuch der gescheiterten Verifikationstheorie des Wiener Positivismus (u. a. Moritz Schlick 1910) angese­ hen werden. Sie überlebt in Formulierungen wie derjenigen von David Wiggins: „Sentence s has as its use to say literally (in the thinnest possible acceptation of ‚say‘) that p just if whether s is true or not depends on whether or not p“ innerhalb einer revidierten Fregeschen wahrheits-kondi­ tionalen Bedeutungstheorie (Wiggins 1992, 66). Die hier vorgeschlagene „Wahrnehmungsorien­ tierte Pragmatik“ lehnt wahrheits-konditionale



Literatur   199

Bedeutungstheorien mit dem Argument ab, dass Ausdrücke wie „der elegante Flug der golde­ nen Schwalbe“ verständlich sind, obwohl sie der Wahrnehmungsaktualität widersprechen. Das Gleiche gilt für realistische Ausdrücke, die sich als falsch erweisen. Die Beziehung zwischen Wahr­ heit und Bedeutung ist umgekehrt: Bedeutung ist eine Bedingung für die Möglichkeit der Wahrheit. Folglich muss man die Bedeutungstheorie der Wahrheitstheorie vorausstellen. Nur wenn man weiß, was ein Satz bedeutet, kann man die Frage stellen, ob er wahr oder falsch ist. Außerdem ist die Frage der Wahrheit in einer Großzahl von Sät­ zen weder relevant noch stellbar. 18 Inferenz, verstanden als indirekte Schlussfolgerung, spielt eine wichtige Rolle in den Bedeutun­ gen der natürlichen Sprache, insofern die gesam­ te menschliche Konzeptstruktur auf der relativ schmalen Basis der Wahrnehmung errichtet ist. Die Idee der direkten Erfahrung scheitert an der Frage, wie der Mensch die elektro-magnetische Strahlung „erfährt“, aus der sich unsere Erfah­ rungswelt im Bewusstsein entwickelt. Selbst die Erfahrung der Schwerkraft und ihre Verbalisie­ rung beruht auf einem Prozess der indirekten Schlussfolgerung. Jede Kultur hat gelernt, die Ef­ fekte der Schwerkraft zu respektieren – Millionen von Jahren bevor sie mathematisch formuliert wurde. Wenn man Wahrnehmung als Summe nichtverbaler Zeichensysteme definiert und man Wahrnehmungsspuren als Bedeutungselemente versteht, wie es die „Wahrnehmungsorientierte Pragmatik“ tut, dann folgt, dass Inferenz eine ent­ scheidende Komponente der natürlichen Sprache ist. 19 Cognitive maps nach Finke (1989) sind mentale Rekonstruktionen von Wahrnehmungserfah­ rung, die in einer definitiven Ähnlichkeitsbezie­ hung zur Aktualität stehen. 20 mapping nach Fauconnier (s. Endnote 6) 21 Conceptual blending nach Fauconnier & Tur­ ner (2002) erklärt, wie linguistische Kreativität, wie wir sie bei der Mischung und Neubildung von Konzepten beobachten, in den neuronalen Vorgängen des sensomotorischen Systems des menschlichen Gehirns verankert ist. 22 Disembodiment wird hier als graduelle Entkörperung der Signifikanten (Bedeutungsträger) verstanden, das heißt, als ein allmähliches Ver­ schwinden der ikonischen Relationen des perzep­ tuellen und gestischen Verhaltens in den Ausdrü­ cken der natürlichen Sprache seit ihren Anfängen in grauer Vorzeit. So lässt sich der „arbiträre“ Charakter der Termini der Sprache als evolutio­ närer Effekt erklären. Gleichzeitig muss man sich

allerdings fragen, ob die ikonischen Wahrneh­ mungselemente einfach verschwunden sind oder vielleicht in irgendeiner Weise in der Sprache überlebt haben. In der Wahrnehmungsorientier­ ten Pragmatik ist die Antwort: Ikonisches Materi­ al bleibt in der Wort- und Satzbedeutung aktiv. 23 Embodiment und embodied concept nach Lakoff & Johnson (1999) verweisen auf die körperliche, neuronale Basis unserer Sprachkonzepte. Embodied concepts sind neuronale Strukturen, die in ei­ nem noch nicht geklärten Kausalzusammenhang mit der natürlichen Sprache stehen. Eine besonde­ re Rolle spielen in dieser Forschung die Struktu­ ren der conceptual metaphors (→ Kognition und Emotion). 24 Fodors atomistisches Konzept (atomistic concept) versucht, die gesamte menschliche Konzept­ struktur als von atomistischen Grundprinzipien ausgehend zu beschreiben (Fodor 1998). Alle zu­ sammengesetzten Konzepte können folglich aus einfachen oder „atomistischen“ Grundkonzepten rekonstruiert werden. So lässt sich das Konzept „door-knob“ aus den atomistischen Konzepten „door“ und „knob“ ableiten. Aus der Perspektive der Wahrnehmungsorientierten Pragmatik er­ scheint Fodors Ansatz unfruchtbar – vor allem deshalb, weil er den Zusammenhang zwischen Wahrnehmungsinhalten und Konzept nicht zu erklären vermag. In dieser Hinsicht verschärft Fo­ dor auch den Dualismus zwischen Wahrnehmung und Sprache, und damit zwischen Biologie und Kultur – ein Dualismus der schon seit längerem als suspekt gilt.

Literatur Ackerman, D. (1991): A natural history of the senses. New York: Vintage Books. Baudrillard, J. (1983): Les Stratégies fatales. Paris: éd. Grasset. – Dt. (1991): Die fatalen Strategien. Mün­ chen: Matthes & Seitz. Bühler, K. (1965 [i. O. 1934]): Sprachtheorie: Die Dar­ stellungsfunktion der Sprache. Stuttgart: Fischer. Cassirer, E. (2002 [i. O. 1929]): Philosophie der sym­ bolischen Formen. Bd. 3: Phänomenologie der Er­ kenntnis. Hamburg: Meiner. Chomsky, N. (2002): New horizons in the study of language and mind. Cambridge: Cambridge Uni­ versity Press. Davidson, D. (1984): On the very idea of a conceptu­ al scheme. In: LePore, E. (Ed.): Inquiries into truth and interpretation (183–198). Oxford: Clarendon. Deleuze, G. & Guattari, F. (1994): What is philoso­ phy? New York: Columbia University Press.

200 

Sprache und Wahrnehmung

Derrida, J. (1967a): La voix et la phénomène. Paris: Minuit. – Dt. (2003): Die Stimme und das Phäno­ men. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls. Frankfurt a. M.: Suhr­ kamp. Derrida, J. (1967b): De la grammatologie. Paris: Mi­ nuit. – Dt. (2003): Grammatologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Devitt, M. & K. Sterelny, K. (1990): Language and re­ ality: An introduction to the philosophy of langua­ ge. Oxford: Blackwell. Fauconnier, G. (1984): Espaces mentaux: Aspects de la construction du sens dans les languages naturel­ les. Paris: Minuit. Fauconnier, G. (1997): Mappings in thought’s langua­ ge. Cambridge: Cambridge University Press. Fauconnier, G. & Turner, M. (2002): The way we think: Conceptual blending and the mind’s hidden complexities. New York: Basic Books. Finke, R. (1989): Principles of mental imagery. Cam­ bridge (MA): MIT. Fodor, J. (1998): Concepts: Where cognitive science went wrong. Oxford: Clarendon. Frege, G. (2002 [i. O. 1892]): Über Sinn und Bedeu­ tung. In: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logi­ sche Studien. Sammlung Philosophie, Bd. 4. Göt­ tingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Gallese, V. & Lakoff, G. (2005): The Brain’s concepts: The role of the sensory-motor system in reason and language. Cognitive Neuropsychology 22, 455–479. Halliday, M. A. K. (1975): Learning how to mean: Ex­ plorations in the development of language. Lon­ don: Edward Arnold. Heidegger, M. (2006 [i. O. 1927]): Sein und Zeit. Tü­ bingen: Niemeyer. Husserl, E. (1969 [i. O. 1928]): Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins. Ges. Werke, Bd. 10. Den Haag: Nijhoff. Husserl, E. (1973a [i. O. 1931]): Cartesianische Medi­ tationen. Ges. Werke, Bd. 1. Den Haag: Nijhoff. Husserl, E. (1973b [i. O. 1928]): Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Ges. Werke, Bd. 13–15. Den Haag: Nijhoff. Husserl, E. (1993 [i. O. 1913]): Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philo­ sophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Tübingen: Niemeyer. Hutchins, E. (2005): Material anchors for conceptual blends. Journal of Pragmatics 37, 1555–1577. Ingarden, R. (1959 [i. O. 1930]): Das Literarische Kunstwerk. Tübingen: Nijhoff. Irigaray, L. (1977): Ce sexe qui n’en est pas un. Paris: Minuit. – Dt. (1979): Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin: Merve.

Janssen, T. & Redeker, R. (Eds.) (1999): Cognitive linguistics: Foundations, scope and methodology. Berlin: de Gruyter. Kant, I. (1998 [i. O. 1781]): Kritik der reinen Vernunft. Hamburg: Meiner. – Zitiert als KrV. Kant, I. (2006 [i. O. 1790]): Kritik der Urteilskraft. Hamburg: Meiner. Kristeva, J. (1974): La révolution du langage poétique. Paris: Seuil. – Dt. (1979): Die Revolution der poeti­ schen Sprache. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kristeva, J. (1989): Language the unknown: An initia­ tion into linguistics. London: Harvester. Kristeva, J. (1989): In the beginning was love: Psycho­ analysis and faith. New York: Columbia Universi­ ty Press. Kristeva, J. & Penwarden, C. (1996): Of Word and ­f lesh. In: Morgan, S. & Morris, F. (Eds.): Rites of Passage. Art for the end of the century. London: Tate. Lakoff, G. & Johnson, M. (1999): Philosophy in the flesh: The embodied mind and its challenge to wes­ tern thought. New York: Basic Books. Leibniz, G. W. (1998 [i. O. 1714]): Monadologie. Stutt­ gart: Reclam. Lévy-Strauss, C. (1958): Anthropologie structurale. Paris: Plon. – Dt. (1973): Strukturale Anthropolo­ gie I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Locke, J. (1975 [i. O. 1690]): An essay concerning hu­ man understanding. Oxford: Clarendon. – Dt. (2000): Ein Versuch über den menschlichen Ver­ stand. Hamburg: Meiner. Lüdtke, U. (2006): Emotion und Sprache: Neurowis­ senschaftliche und linguistische Relationen. Die Sprachheilarbeit 51, 4, 160–175. Margolis, E. & Laurence, S. (Eds.) (1999): Concepts: Core readings. Cambridge (MA): MIT. Maturana, H. & Varela, F. (1980): Autopoiesis and cog­nition: The realisation of the living. Dordrecht: Reidel. Maund, B. (2003): Perception. Chesham: Acumen. Merleau-Ponty, M. (1945): Phénoménologie de la per­ ception. Paris: Gallimard. – Dt. (1976): Phänome­ nologie der Wahrnehmung. Berlin: de Gruyter. Merleau-Ponty, M. (1964): Le visible et t’invisible. Pa­ ris: Gallimard. – Dt. (2004): Das Sichtbare und das Unsichtbare. München: Fink. Nietzsche, F. W. (1999 [i. O. 1883–85]): Also sprach Zarathustra: Ein Buch für Alle und Keinen. In: Colli, G. & Montinari, M. (Hrsg.): Friedrich Nietz­ sche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. KSA 6/1. Berlin: de Gruyter. Peirce, C. S. (1931–1958): Collected papers, vols 1–6, ed. by Hartshorne, C., Weiss, P. & Burks, A. Cam­ bridge (MA): Harvard University Press. – Zitiert als CP.



Literatur   201

Putnam, H. (1999): The threefold cord: Mind, body, and the world. New York: Columbia University Press. Russell, B. (1923): Vagueness. Australasian Journal of Psychology and Philosophy 1, 84–92. Russell, B. (1940): An Inquiry into meaning and truth. New York: Norton. Ruthrof, H. (1992): Pandora and Occam: On the li­ mits of language and literature. Bloomington: In­ diana University Press. Ruthrof, H. (1997): Semantics and the body: Meaning from Frege to the postmodern. Toronto: University of Toronto Press. Ruthrof, H. (2000): The body in language. London: Cassell. Ruthrof, H. (2011): Language and imaginability. (Im Druck). Saussure, F. de (1916): Cours de linguistique généra­ le. Paris: Payot. – Dt. (1931): Grundfragen der All­ gemeinen Sprachwissenschaft. Berlin: de Gruyter. Schlick, M. (1910): Das Wesen der Wahrheit nach der modernen Logik. Vierteljahresschrift für wissen­ schaftliche Philosophie und Soziologie 34, 386– 477. Schütz, A. (1959): Type and eidos in Husserl’s late philosophy. Philosophy and Phenomenological Re­ search 20, 147–165. – Dt. (2009): Typus und Eidos in Husserls Spätphilosophie. Alfred Schütz Werk­ ausgabe (ASW) Bd. III.1. Konstanz: UvK. Sellars, W. (1956): Empiricism and the philosophy of mind. In: Feigl, H. & Scriven, M. (Eds.): Minneso­ ta Studies in the Philosophy of Science (253–329). Minneapolis: University of Minnesota Press. Sweetser, E. (1990): From etymology to pragmatics: Metaphorical and cultural aspects of semantic structure. Cambridge: Cambridge University Press.

Todes, S. (2001): Body and world. Cambridge (MA): MIT. Trevarthen, C. (1989): Signs before speech. In: Se­ beok, T. A. & Umiker-Sebeok, J. (Eds.): The semi­ otic web (689–755). Berlin: de Gruyter. Trevarthen, C. (2001): The neurobiology of ear­ ly communication: Intersubjective regulations in human brain development. In: Kalverboer, A. F. & Gramsbergen, A. (Eds.): Handbook on brain and behavior in human development (841–882). Dordrecht: Kluwer. Trevarthen, C. (2005): Action and emotion in deve­ lopment of the human self, its sociability and cul­ tural intelligence: Why infants have feelings like ours. In: Nadel, J. & Muir, D. (Eds.): Emotional development (61–91). Oxford: Oxford University Press. Turner, M. (1991): Reading Minds: The study of Eng­ lish in the age of Cognitive Science. Princeton: Princeton University Press. Uexküll, J. v. (1982): The theory of meaning. Semioti­ ca 41, 2, 25–82. Varela, F., Thompson, E. & Rosch, E. (1993): The em­ bodied mind: Cognitive science and human expe­ rience. Cambridge (MA): MIT. Verhagen, A. (2005): Constructions of intersubjec­ tivity. Discourse, syntax, and cognition. Oxford: Oxford University Press. Wiggins, D. (1992): Meaning, truth-conditions, pro­ positions: Frege’s doctrine of sense retrieved, re­ sumed and redeployed in the light of recent criti­ cisms. Dialectica 46, 61–90. Wittgenstein, L. (2003 [i. O. 1953]): Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. [Fachübersetzung: Ulrike Lüdtke]

Sprache und Sprechen Edda Weigand

1 „Sprache“ und „Sprechen“ in der Geschichte der modernen Linguistik: Kompetenz und Performanz Was ist „Sprache“? Diese scheinbar einfache Frage findet in der Sprachwissenschaft unter­ schiedliche Antworten, wie auch die Gegen­ überstellung von „Sprache“ und „Sprechen“ zeigt. Da mit der pragmatischen Wende von der Linguistik des Sprachsystems zur Untersu­ chung des Sprachgebrauchs die Gegenstände der Sprachwissenschaft nicht mehr durch De­ finitionen vorgegeben, sondern in einem ar­ gumentativen Zusammenhang zu entwickeln sind und unterschiedliche, ja kontroverse An­ nahmen an die Stelle von Gewissheit treten, ist es unvermeidlich, dass auch in diesen Beitrag ein argumentativer Zug einfließt. An Sprachbegriffen mangelt es nicht in der Sprachwissenschaft, so dass sich deren Geschichte auch als Geschichte unterschied­ licher Sprachbegriffe beschreiben ließe (vgl. Abb.  1). De Saussure (1916), der Begrün­ der der modernen Linguistik, war sich be­ wusst, dass der eigentliche Gegenstand der Sprachwissenschaft Sprache als natürliches Phänomen sei, das er „la parole“ nannte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Zeit je­ doch noch nicht reif, sich diesem komplexen Gegenstand direkt zu nähern. Vor allem das Konzept der „Bedeutung“ als empirisch nicht messbare Größe schien sich einem analyti­ schen Zugriff zu entziehen. Daher wurde im amerikanischen Strukturalismus unter dem Einfluss des Behaviorismus die Analyse auf die Ausdrucksebene beschränkt. Da die Va­ riabilität der Sprache im Sprechen sowie ihre diachrone Veränderbarkeit nach Auffassung von de Saussure für die Frage, wie Sprache

funktioniert, nicht wesentlich ist, wurde die moderne Linguistik von ihm als synchrone Linguistik auf einer Reihe von Dichotomien begründet, die die Sprachbeschreibung revo­ lutionierten, darunter die Begriffspaare „Syn­ chronie“ und „Diachronie“, „Ausdruck“ und „Inhalt“, „Syntagma“ und „Paradigma“. Dem natürlichen Sprachbegriff „la parole“ wurde ein künstlicher gegenübergestellt, „la langue“, der auf einer hypothetisch angesetzten Ebe­ ne durch völlige Abstraktion von Variablen der Sprachverwendung gewonnen wurde. Ab­ straktion und Rückführung der empirischen Variabilität auf ein Regelsystem schien me­ thodologisch notwendig. Mit der Hypothese, „la langue“ liege der „parole“ zugrunde, wur­ de ein abstrakter Sprachbegriff eingeführt, der Sprache als eine Menge regelhaft verbun­ dener Zeichen definierte. Die Hypothese von „Sprache als Zeichensystem“ beherrschte wie ein Dogma die erste Hälfte des 20. Jahrhun­ derts. Der Systemcharakter beruht dabei auf der Annahme regelhafter syntagmatischer und paradigmatischer Relationen zwischen den Zeichen. Während der Strukturalismus – de Saus­ sure und die auf ihn aufbauenden struktura­ listischen Schulen, z. B. in Kopenhagen und Prag – Sprache als statisches Zeichensystem versteht, erhält der Sprachbegriff in der gene­ rativen Grammatik Chomskys (z. B. 1965) eine dynamische Wendung: „Sprache als Kompetenz“ wird definiert als eine Reihe von Fähig­ keiten des idealen Sprecher/Hörers, darunter die Fähigkeiten, grammatisch richtige von falschen Sätzen zu unterscheiden, syntakti­ sche Mehrdeutigkeiten zu erkennen und im­ mer neue richtige Sätze bilden zu können. Die Schiene der Abstraktion von der empirischen Variabilität des Sprechens zu einem abstrak­ ten regelgeleiteten Sprachsystem führt so von der strukturalistischen „la langue“ zur gene­



„Sprache“ und „Sprechen“ in der Geschichte der modernen Linguistik   203

rativen „Kompetenz“. „La parole“ oder die „Performanz“ des Sprechens wurde als „Pa­ pierkorb der Kompetenz“ ausgegliedert. Im Zug der pragmatischen Wende Anfang der 1970er Jahre wird der sprachliche Kom­ petenzbegriff erweitert zur „kommunikativen Kompetenz“. Neben soziologischen Modellen der kommunikativen Kompetenz, z. B. von Hymes (1977), die die Vielfalt soziologischer Bezüge betonen, werden rationale Modelle entwickelt, die nach wie vor der Schiene der Abstraktion verpflichtet sind. In der „Ordinary Language Philosophy“ begründen Austin (1962) und Searle (1969) das Modell der „Sprechakttheorie“, das zwar „Sprache“ als „ordinary language“ oder normale Alltagspra­ che versteht und damit dem „Sprechen“ eine besondere Bedeutung beimisst, aber dennoch sprachliches Handeln als System von Kon­ ventionen beschreibt. Indem mit der Ebene des Handelns eine neue Dimension der Be­ deutung entdeckt wird, nimmt die Sprech­ akttheorie entscheidenden Einfluss auf die Sprachwissenschaft. Ein neuer Sprachbegriff im Sinn von „Sprechen als Handeln“ wird ein­ geführt. Im Unterschied zur philosophischen Sprechakttheorie, die von der Autonomie des Einzelsprechakts ausgeht, konzentriert sich das linguistische Interesse stärker auf Sprech­ akte in der Sequenz und auf deren sprachliche Äußerungsform. Einen ersten Schritt auf dem Weg zu einer dialogischen Sprechakttheorie stellt Hundsnurschers „Dialoggrammatik“ (1980) dar, die er programmatisch im Gegensatz zur sozio­ linguistischen Konversationsanalyse – z. B. von Sacks et al. (1978) – und deren Sprach­ begriff als „authentisches“ Sprechen auf der Basis eines Sprachbegriffs im Sinn „wohlge­ formter“ Dialoge entwickelt hat. Zwar erkennt Hundsnurscher, dass der minimale kommu­ nikative Rahmen die Zweiersequenz aus ei­ nem initiativen und einem reaktiven Sprech­ akt ist, betrachtet aber nach wie vor den Einzelsprechakt als autonome Einheit. Der reaktive Sprechakt wird nur über das formale Merkmal der Sequenzabhängigkeit definiert. Erst Weigand (1989) definiert den initiativen

und reaktiven Sprechakt funktional als zwei unterschiedliche Sprechakttypen und be­ gründet auf deren wechselseitiger Abhängig­ keit einen neuen Sprachbegriff von „Sprache als Dialog“. In der Erstauflage (1989) wird die Sequenz aus Aktion und Reaktion noch im Rahmen eines dialoggrammatischen Modells der kommunikativen Kompetenz beschrie­ ben. Der Gesichtspunkt des Dialogs oder der Interaktion ist auch für Habermas’ Modell der „kommunikativen Kompetenz“ (1991) wesentlich, das der Searleschen intentiona­ len Sprechakttheorie eine interaktive gegen­ überstellt. Als ideales soziologisches Modell ist es von empirischen soziologischen Model­ len, wie zum Beispiel von Gumperz & Hymes (1972), sowie auch von linguistischen Hand­ lungsmodellen zu unterscheiden. Parallel zur Schiene der Abstraktion und Kompetenz werden empirische Modelle aufge­ stellt, die sich der parole auf der Schiene der Performanz zu nähern suchen (vgl. Abb.  1). Ausgangspunkt hier ist ein Sprachbegriff als „Sprechen“, als gesprochene Sprache, als nichtwiederholbarer authentischer Sprachgebrauch. Performanzmodelle entstehen zu­ nächst in soziologischem Kontext, vor allem der Ethnomethodologie, zur Untersuchung sozialer Relationen in Kleingruppen (z. B. Garfinkel 1967). Im Zuge der pragmatischen Wende werden sie im Rahmen der Konver­ sationsanalyse zu empiristischen Modellen des authentischen Sprechens „linguistisiert“. Während auf der Schiene der kommunikati­ ven Kompetenz „Sprechen als Handeln“ ent­ deckt wurde, wird auf der Schiene der Per­ formanz der an Konventionen gebundene Handlungsbegriff der Sprechakttheorie als zu abstrakt abgelehnt. An seine Stelle tritt der Begriff des „turn taking“, das heißt der Art und Weise, wie man einen Redebeitrag über­ nimmt, der rein formal auf Äußerungsebene definiert wird, wie es empiristischen Forde­ rungen entspricht. Mit einem solchen Begriff lassen sich soziologische Fragestellungen, zum Beispiel bezüglich des Dominanzverhal­ tens in Kleingruppen, untersuchen (→ Norm

204 

Sprache und Sprechen

Abb. 1: Der Sprachbegriff zwischen Kompetenz und Performanz

und Differenz). Seine Relevanz für die lingu­ istische oder handlungstheoretische Analyse ist jedoch stark eingeschränkt. Dennoch glaubt man, mit einem Sprachbe­ griff als „gesprochene Sprache“ der „Realität“ des Sprachgebrauchs gerecht zu werden. Die methodologische Forderung, sich der Empirie ohne theoretische Vorüberlegungen zu über­ lassen, verkennt, dass Erkenntnis nicht durch Beobachten an sich, sondern erst durch ge­ zieltes Beobachten möglich wird. Empirische Evidenz an und für sich gibt es nicht. Auch der Sprachbegriff der Korpuslinguistik  – „Sprache als repräsentatives Corpus authen­ tischer schriftlicher und mündlicher Texte“ – und ihr Grundsatz „Trust the text“ (Sinclair 1994) überschätzen die Reichweite und Aus­ sagekraft empirischer Daten (Weigand 2004). Da empiristische Modelle authentischen Sprechens „Sprache“ auf ihren empirischen Teil einschränken, stellen auch sie letztlich reduktionistische Modelle dar. Die „Realität“ des Sprachgebrauchs wird so nicht eingeholt. Dagegen hilft auch nicht der Bezug auf so­ ziologische Handlungsbegriffe, da diese ihre Wurzel nicht in der Sprache haben. Die Kri­ tik an der Abstraktheit der Sprechakttheorie searlescher Prägung besteht zu Recht. Doch

ist ihr nicht dadurch zu begegnen, dass man sie ad acta legt und statt dessen Orientierung in der Soziologie sucht. Nötig ist eine Verän­ derung der Sprechakttheorie, so dass sie dem natürlichen Sprachgebrauch gerecht wird. Auf diese Weise ist die Geschichte der mo­ dernen Sprachwissenschaft im 20. Jahrhun­ dert durch zwei unterschiedliche methodo­ logische Schienen geprägt, auf denen man la parole zu fassen suchte: einerseits die Schie­ ne der Abstraktion hin zu einem künstlichen zugrunde liegenden Sprachbegriff als „la langue“ oder „sprachliche und kommunika­ tive Kompetenz“ und andererseits die empiristische Schiene der „Performanz“ mit einem Sprachbegriff als „authentisches Sprechen“ (vgl. Abb. 1). Beide Lager – sowohl diejenigen, die auf zugrunde liegenden Ebenen nach „verborge­ nen“ Regeln suchen, als auch diejenigen, die „Regeln“ in der Flüchtigkeit und Variabilität authentischer Empirie zu finden hoffen – ver­ suchen immer wieder, die Brücke zwischen Kompetenz und Performanz zu schlagen. Diese Versuche sind jedoch prinzipiell zum Scheitern verurteilt, da die oberste „Regel“ der Performanz erlaubt, jede Regel der Kom­ petenz zu brechen.



Auf der Suche nach einem natürlichen Sprachbegriff   205

2 Auf der Suche nach einem natürlichen Sprachbegriff Mit der pragmatischen Wende war die Kluft zwischen den beiden Sprachbegriffen „Spra­ che“ und „Sprechen“ nicht mehr zu übersehen. Die Suche nach einem natürlichen Sprachbe­ griff (→ Sprache und Wahrnehmung), der weder durch die Künstlichkeit des Zeichen­ systems noch durch die Flüchtigkeit gespro­ chener Sprache entstellt ist, begann. „Sprache im Gebrauch“ wurde „Sprache als System“ ge­ genübergestellt. Doch was bedeutete „Spra­ che im Gebrauch“? Die Frage nach der Ein­ heit der Beschreibung jenseits der Einheit des Satzes war nicht mehr abzuweisen und brach­ te die Entwicklung neuer linguistischer Teil­ disziplinen mit sich. Die einzelnen Schritte auf diesem Weg, die Pragmatik des Sprachgebrauchs zu strukturieren, führten so von der „Satzfolge“ zum „Text“ und „Diskurs“ in der Textlinguistik (Harweg 1968) bzw. „Discourse Analysis“ (van Dijk 1985), von der „Äuße­ rung“ zum „turn“ in der Konversationsana­ lyse (Sacks et al. 1978) und Soziolinguistik (Gumperz 1982) oder zum „Sprechakt“ in der Handlungstheorie (Austin 1962, Searle 1969), vom „Einzelsprechakt“ zur „konventionellen Zweiersequenz“ aus Aktion und Reak­tion in der Dialoggrammatik (Hundsnurscher 1980, 1992; Weigand 1989), von der „Zweierse­ quenz“ zum „offenen Handlungsspiel“ (Wei­ gand 22003). Bei der Suche nach einem pragmatischen Sprachbegriff stellt sich das Problem, was Ausgangspunkt der Theoriebildung sein soll­ te, die Methodologie oder der Gegenstand. Zwar scheinen Performanzmodelle vom Ge­ genstand auszugehen, doch erfassen sie den Gegenstand nicht adäquat, solange sie ihn ausschließlich in der Empirie verorten. Wie soll man ausgehend von einem Gegenstand, dessen oberstes Gesetz die Möglichkeit jeder Regeldurchbrechung ist, zu Regeln gelangen? Die Schiene der Kompetenz steht vor dem umgekehrten Problem, eine Brücke von der regelgebundenen Kompetenz zur Beliebigkeit

der Performanz zu finden. Addition behebt die Trennung von Zeichensystem und prag­ matischen Variablen nicht. „Sprache im Ge­ brauch“ bedeutet nicht, das Zeichensystem in den Kontext des Gebrauchs zu stellen. Spra­ che als natürliches Phänomen beruht nicht auf Addition heterogener Teile, sondern auf Integration und Interaktion von Komponenten in einem komplexen Ganzen. Dabei hatte Martinet (1975) bereits in strukturalistischen Zeiten das Problem mit seiner Gegenüberstellung von Gegenstand und Methodologie genau umrissen: Die Inte­ grität des natürlichen Gegenstands darf nicht methodologischen Zwängen geopfert werden. Im Unterschied zu de Saussure sind wir gegen Ende des 20. Jahrhunderts in der Lage zu er­ kennen, dass der Weg der Abstraktion nicht umkehrbar ist. Ist das Ziel der Beschreibung ein komplexer natürlicher Gegenstand, muss auch der Ausgangspunkt komplex sein. Dar­ auf hat bereits Austin (1962, 147) hingewie­ sen. Die Methodologie ist aus dem komplexen Gegenstand herzuleiten. Auch die Variabilität und relative Beliebigkeit gesprochener Spra­ che macht noch nicht das komplexe Ganze des natürlichen Gegenstands aus, sondern re­ sultiert aus der methodologischen Forderung, ausschließlich von der Empirie auszugehen. Das Problem, Sprache als natürliches Phäno­ men zu fassen, bedeutet, sich der Frage nach der „Architektur von Komplexität“ in einem holistischen Modell zu stellen (Simon 1962). Einzelne Eigenschaften von „Sprache im Gebrauch“ oder von Sprache als natürlichem Phänomen wurden in der post-chomskyschen Linguistik verschiedentlich herausgearbei­ tet (z. B. Brown 1995). Im Prinzip lassen sich diese Eigenschaften in der Abkehr von einem „Pattern“-Modell zusammenfassen. Zugrun­ de liegt die Erkenntnis, dass natürliche Kom­ munikation nicht durch ein einziges Muster oder „pattern“ dominiert wird, das für beide Partner gilt, sondern dass von individuellen Techniken und unterschiedlichen „patterns“ auszugehen ist und damit auch Probleme des Verstehens einzubeziehen sind. Was in tra­ ditioneller Theoriebildung ausgeschlossen

206 

Sprache und Sprechen

war – Partikularität der Situation und Indivi­ dualität –, soll nun, meist unter dem Einfluss von Grice (1975), in die Theoriebildung aufge­ nommen werden. Damit stellt sich das zentrale Problem, wie generelle Regeln eines Sprachkodes mit indi­ viduellen pragmatischen Sprecherannahmen zu verbinden sind. Die Geschlossenheit eines Systems, das auf Reduktion, Abstraktion, Ad­ dition und Definition beruht, ist aufzugeben. Sprache als natürliches Phänomen ist in die Interaktion mit anderen menschlichen Fä­ higkeiten und in den Lebenszusammenhang eingebunden (Wittgenstein 1958). Ein grund­ sätzlicher Wandel im Verständnis dessen, was eine Theorie ausmacht, vollzieht sich im Übergang von so genannten „geschlossenen“ zu „offenen“ Modellen. Dieser Wandel von traditioneller zu moderner Theoriebildung ist in anderen Disziplinen, von der Physik bis zu den Wirtschaftswissenschaften, schon längst vollzogen. Er bedeutet den Wandel von Definitionen zu dialogischem Aushandeln, vom „wohlgeformten“ Dialog zum „authenti­ schen“ Dialog, der auch den Dialog mit sich selbst bzw. einem „Virtuellen Anderen“ (Brå­ ten 2002, Trevarthen 1999) einschließt (→ In­ tersubjektive Kommunikation). Die Gewiss­ heit und generelle Gültigkeit von Kodes und Mustern weicht der Wahrscheinlichkeit und Individualität menschlicher Handlungsweise. Die Suche nach einem pragmatischen Sprachbegriff und der Struktur eines holisti­ schen Modells führt letztlich zur Erkenntnis, dass Sprache eine nicht isolierbare Kompo­ nente dialogischer Interaktion darstellt. Spra­ che als natürliches Phänomen ist fassbar in der Fähigkeit zu sprechen, die immer in Inter­ aktion mit anderen menschlichen Fähigkei­ ten ausgeübt wird und damit eingebunden ist in eine komplexe menschliche Fähigkeit, die Weigand (2002, 22003) „Kompetenz-in-derPerformanz“ genannt hat (vgl. Abb. 2). We­ der sind wir Opfer eines empirischen Chaos noch sind wir in unserer Handlungsweise auf Regeln und Rationalität eingeschränkt. Statt dessen sind wir fähig, über Regeln hinaus in ständig wechselnden Situationen mit den Her­

ausforderungen des Lebens fertig zu werden. Die Brücke von Kompetenz zur Performanz wird nicht durch Addition zweier Methodolo­ gien gestiftet, die nichts miteinander gemein haben. Die Brücke ergibt sich allein durch Besinnung auf den Gegenstand und damit durch eine Neubestimmung des Sprachbe­ griffs als Kompetenz-in-der-Performanz.

3 Aktueller Forschungsstand: Von reduktionistischen zu holistischen Modellen Der Forschungsstand zu Beginn des 21. Jahr­ hunderts ist durch die verbreitete Einsicht ge­ kennzeichnet, dass ein Kompetenzmodell des Sprachsystems allein dem Gegenstand „Spra­ che“ nicht gerecht wird und es daher Ziel der Forschung sein muss, ein Modell zu ent­ wickeln, das die Performanz des Sprachge­ brauchs einbezieht (vgl. Abb. 2). Wenngleich man sich auf der Schiene der Kompetenz nicht völlig von Kriterien wie Rationalität und Re­ gelgeleitetheit befreien kann und die Beschrei­ bung nach wie vor auf den „wohlgeformten“ Dialog (Hundsnurscher 1980) oder auf lo­ gisch-vernünftiges Verhalten eingeschränkt bleibt (van Eemeren 2001), ist nicht zu ver­ kennen, dass diese Kriterien relativiert wer­ den. An die Stelle von reiner Rationalität tritt „soft rationality“ und „praktische Vernunft“ (Dascal 1996a, Toulmin 2001). Auch Modelle des Sprechens mussten Abstriche an ihren ex­ tremen methodologischen Forderungen hin­ nehmen. Man erkennt offenbar, dass die blo­ ße Transkription authentischer gesprochener Sprache ohne theoretische Vorüberlegungen keinen Schlüssel für das Verständnis dialogi­ scher Interaktion liefert. Das Problem der Verbindung von Kompe­ tenz und Performanz, von Sprache und Spre­ chen, wird methodologisch meist auf dem Weg der Addition zu lösen versucht: Regel­ geleitete Modelle werden mit Modellen ver­



Aktueller Forschungsstand: Von reduktionistischen zu holistischen Modellen   207

bunden, die individuelle Inferenzen zulassen. Das Resultat kann nur eine letztlich künstli­ che Konstruktion sein, die ihrem Gegenstand „Sprache im natürlichen Gebrauch“ nicht ge­ recht wird. Auf dieser Schiene der Addition (vgl. Abb. 2) lassen sich verschiedene Varianten unterscheiden (vgl. Weigand 22003, 60 ff.), zum Beispiel: • Chomskys Variante der Addition von Sprache (FLN) und Kommunikation (FLB) In einem neueren Aufsatz von Hauser et al. (2002) wird versucht, den engen choms­ kyschen Sprachbegriff „FLN“ („the faculty of language in the narrow sense“), der nach wie vor auf syntaktischer Rekursion beruht, mit Kommunikation „FLB“ („the faculty of language in the broad sense“) zu verbinden. FLN wird als unabhängiger Sprachbegriff definiert, zu dem – so ist zu schließen – Kommunikation auf dem Weg der Addition hinzukommt. • Dascals philosophische Variante der Ad­di­ tion von Searle und Grice Das­cal (1994) schlägt die Ergänzung der Searleschen regelgeleiteten Sprechaktthe­ orie durch nichtkonventionelle Inferenzen nach dem griceschen Modell vor. Diese Er­ gänzung erfolgt durch Addition von Per­ formanzfaktoren des Sprechens zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. • Gumperz’ soziolinguistische Variante Gumperz (u. a. 1982) verbindet den abstrak­ ten Sprachbegriff des Zeichensystems mit soziologischen Variablen, vor allem einem soziologischen Handlungsbegriff, der sich nicht direkt auf die sprachliche Äußerung bezieht. Modelle der „interaktionalen So­ ziolinguistik“, die sich auf Gumperz be­ rufen, sind daher nicht eigentlich Model­ le sprachlichen Handelns (Weigand 2004). • Levinsons Variante einer neo-griceschen Prag­matik Levinsons kompliziertes Ebenenmodell (2000), das vom Zeichensystem zu konver­ sationellen Inferenzen führt, stellt ein hy­ pothetisches Modell dar, das nichts mit dem natürlichen Sprachgebrauch zu tun hat.

In diesem Zusammenhang ist auch die so ge­ nannte „Integrational Linguistics“ zu nennen, die sich vor allem auf Harris (1981) bezieht. Auf der einen Seite hat Harris schon früh auf den künstlichen Sprachbegriff der Zeichenlin­ guistik hingewiesen und die Integration von Sprechen, Denken und Wahrnehmen gefor­ dert, auf der anderen Seite jedoch seltsamer­ weise am sprachlichen Zeichen festgehalten (→ Zeichen und Semiose). Integration wird gefordert, jedoch bleibt die Frage, wie sie zu erreichen ist, ohne Antwort. Neben additiven Modellen, die sich nicht völlig vom reduktiven Systembegriff der Spra­ che befreien können, gibt es auch Versuche, die in einem scheinbar holistischen Ansatz vom authentischen Ausdruck des Sprechens zu einer pragmatischen Grammatik gelan­ gen wollen. Hierher gehören die Modelle ei­ ner „funktionalen Grammatik“, zum Beispiel von Halliday (21994), Dik (21997) und Givón (1975). Sie verlieren sich letztlich notgedrun­ gen „im Dunkeln“ (Thompson 1996), da die Empirie verbalen Ausdrucks allein keinen ad­ äquaten Zugriff auf Funktionen des Sprach­ gebrauchs erlaubt. Hierher gehören auch Mo­ delle einer so genannten „emergent grammar“ oder „construction grammar“, beispielsweise nach Hopper (1987). Auch sie tappen notge­ drungen im Dunkeln, da sie auf der Basis des Diskurses, das heißt flüchtigen nichtwieder­ holbaren „Sprechens“, „Konstruktionen einer Grammatik“ aufbauen wollen. Die Schwäche dieser „Konstruktionen“, dass sie nur flüchtig und im Grunde nicht abgrenzbar sind, wird als Vorteil gewertet und zum Programm ge­ macht. Die Bedeutung, die dadurch in der Theorie der Variabilität gesprochener Spra­ che beigemessen wird, steht im Gegensatz zur Performanz der Sprecher, die wissen, wie sie mit diesen Strukturen, die keinen Bestand haben und beliebig verändert werden kön­ nen, umzugehen haben, nämlich indem sie ihnen kaum Beachtung schenken. Auch diese scheinbar holistischen Versuche sind letztlich reduktionistische Versuche, die die dialogi­ sche Kompetenz-in-der-Performanz der In­ teraktanten nicht erfassen.

208 

Sprache und Sprechen

      •  •  •  •  • 

   •  •  •  •  • 

     •  •  •  •  • 



Abb. 2:  Von  klassischer zu moderner Theoriebildung

Allerdings kann man auch sie als einen ers­ ten Schritt von geschlossenen zu offenen Mo­ dellen werten. Offenbar wird man sich auch in den Geisteswissenschaften der Komplexität des Gegenstands und der Fragestellung ei­ nes holistischen Modells (vgl. Abb. 2) bewusst. Vorstöße in das Komplexe gibt es schon lange in anderen Disziplinen, zum Beispiel vor allem in der Physik mit Gell-Manns „Adventures in the simple and the complex“ (1994), in der Wissenschaftstheorie mit Simons (1962) bahnbre­ chendem Versuch, die Architektur der Kom­ plexität aufzuzeigen, in der Biologie mit dem Konzept der Soziobiologie menschlichen Ver­ haltens (Wilson 1975) oder neuerdings in den Erziehungswissenschaften (Fischer et al. 2007). Auch in der Philosophie ist die Tendenz zu spüren, über feste Muster hinauszukommen und zu fragen, was uns „jenseits“ geschlos­ sener Modelle erwartet (z. B. Dascal 1996b). In der Sprachwissenschaft liegt mit Weigands Theorie des „dialogischen Handlungsspiels“, auch „gemischtes Spiel“ genannt („Mixed Game Model“, Weigand 2006), ein Modell vor, das menschliche Kompetenz-in-der-Perfor­ manz auf der Basis von Wahrscheinlichkeits­ prinzipien beschreibt, in die auch Regeln und Konventionen eingebunden sind (z. B. Wei­ gand 2007, 2010). Das Ganze versucht auch Clark (1996) mit dem Terminus „ensemble“ zu

fassen, der Individualität einschließt, jedoch nach wie vor einer Konzeption des Sprachge­ brauchs als „Schachspiel“ (Wittgenstein 1958) verhaftet bleibt und im Grunde nur eine Auf­ listung einzelner Faktoren beinhaltet. Das „Modell des dialogischen Handlungs­ spiels“ stellt demgegenüber ein genuin holis­ tisches Modell dar, das auf der Interaktion der Komponenten beruht. „Sprache als Dia­ log“, 1989 noch als System von Konventionen verstanden, wird nun in eine komplexe Fä­ higkeit der Interaktanten überführt, die sich letztlich an Erwartungen orientiert. Im ersten Schritt der Theoriebildung wird der Gegen­ stand „Sprache als natürliches Phänomen“ in Prämissen gefasst, aus denen dann in einem zweiten Schritt die Methodologie abgeleitet wird. Die komplexe menschliche Fähigkeit der Kompetenz-in-der-Performanz bedingt, dass die engen Disziplingrenzen einer Lingu­ istik als Wissenschaft von der Sprache über­ schritten werden. In dem „gemischten Spiel“ dialogischer Interaktion wirken Faktoren zu­ sammen, die traditionell unterschiedlichen Disziplinen zugeordnet werden, im Wesent­ lichen Faktoren der menschlichen Natur und der sozialen Umgebung. Neuere experimen­ telle Ergebnisse der Neurologie (Damasio 2000) belegen die Prinzipien des Modells. An die Stelle der traditionellen „Teil-von-Rela­



Sprache und Sprechen in einem holistischen Modell der Kompetenz-in-­der-Performanz   209

tion“, die letztlich nur Addition erlaubt, tritt die Interaktion (vgl. Abb. 2 und 3) von Sub­ systemen, beispielsweise verschiedener dialo­ gischer Techniken wie Regeln und Prinzipien, und unterschiedlicher menschlicher Fähigkei­ ten wie denken, sprechen und wahrnehmen (→ Sprache und Wahrnehmung) oder Ver­ nunft und Emotion (→ Kognition und Emo­ tion). Dabei ist das komplexe Ganze insgesamt mehr als die Summe aller Interaktionen. In den letzten Jahren wird in der Literatur eine Tendenz deutlich, die verschiedenen Varia­ blen, die den Sprachgebrauch beeinflussen, im „gemischten Spiel“ zusammenzubringen (z. B. Grein & Weigand 2007, Weigand 2008b).

4 Sprache und Sprechen in einem holistischen Modell der Kompetenz-in-­derPerformanz Vor diesem Hintergrund müssen wir uns er­ neut der Frage stellen: Was heißt „Sprache als natürliches Phänomen“? Was bedeutet letztlich la parole? Sprache ist nicht vom Menschen zu trennen (→ Person und Sprache). Jeder wissenschaftli­ che Versuch, die Welt zu beschreiben und zu erklären, ist letztlich ein Versuch innerhalb menschlicher Grenzen. Absolute Erkenntnis gibt es nicht; menschliche Erkenntnis ist von menschlichen Fähigkeiten abhängig. In die­ sem Sinn steht der Mensch und seine Spra­ che im Zentrum eines holistischen Modells

(vgl. Abb. 3). Sprache als natürliches Phäno­ men meint die menschliche Fähigkeit zu spre­ chen. Sie wird immer zusammen mit anderen menschlichen Fähigkeiten – beispielsweise Kognition und Wahrnehmung – ausgeübt, in einem komplexen Zusammenspiel, das letzt­ lich die erstaunliche Fähigkeit des Menschen hervorbringt, mit den Herausforderungen des Lebens in der Gemeinschaft fertig zu werden. Sprache oder Sprechen isoliert gibt es nicht. Eine Disziplin der Linguistik, die sich aus­ schließlich als „Wissenschaft von der Spra­ che“ versteht, bleibt daher auf den Elfenbein­ turm beschränkt. Sodann ist zu fragen: Was kann die Einheit der Beschreibung sein, die der Analyse zu­ grunde zu legen ist? Diese Einheit muss so beschaffen sein, dass sie aufzeigen kann, wie Sprache im Gebrauch funktioniert. Kompetenz-in-der-Performanz zeigt sich im Dialog; die dialogische Orientie­ rung ist der Sprache inhärent (→ Intersubjek­ tive Kommunikation). „Sprache als Dialog“ im Sinn dialogischer Kompetenz-in-der-Per­ formanz bedingt eine Öffnung über das kon­ ventionelle Muster hinaus zum prinzipien­ geleiteten Handlungsspiel (Weigand 22003, 2000a). Die Einheit der Beschreibung hat alle Variablen zu berücksichtigen, die die Perfor­ manz beeinflussen, regelhafte, konventionel­ le wie individuelle und partikuläre. Die mini­ male autonome Einheit der Beschreibung für „Sprache als Dialog“ bildet daher die kultu­ relle Einheit des Handlungsspiels. Damit ist in einem ersten Schritt holis­ tischer Theoriebildung das komplexe Ganze umrissen. Der zweite Schritt verlangt, ei­ nen Schlüssel zu finden, der es ermöglicht, die

„Sprache“ als Dialog: Kompetenz-in-der-Performanz Interaktion von Subsystemen Techniken: Fähigkeiten: Interessen:

• • •

Regeln, Konventionen, Prinzipien sprechen, denken, wahrnehmen Kognition, Emotion Eigeninteresse, soziale Belange

Abb. 3:  Holis­ tisches Modell von Sprache als Kompetenz-in-derPerformanz

210 

Sprache und Sprechen

Komplexität aufzuschließen. Das Modell des dialogischen Handlungsspiels geht von einem Bild des Menschen aus, in dem menschliches Handeln und Verhalten letztlich auf Bedürf­ nisse, Ziele und Interessen zurückgeführt werden. Diese bestimmen die Mittel, die zu ihrer Realisierung ergriffen werden. Bei dia­ logischen Interessen und Zwecken sind es kommunikative Mittel wie sprechen, denken und wahrnehmen (vgl. Abb. 3). Auf der Basis solch grundlegender wissen­ schaftstheoretischer Vorüberlegungen  wur­ de das „Modell des dialogischen Handlungs­ spiels“ oder des „gemischten Spiels“ entwickelt, das es erlaubt, den Sprachgebrauch als Menge verschiedener Handlungsspiele, in Abhängig­ keit von anderen menschlichen Fähigkeiten und Variablen der Umgebung, im Alltag und in Institutionen zu beschreiben und zu erklä­ ren. Aus dem Gegenstand der Kompetenz-inder-Performanz ist die Methodologie abzulei­ ten, wie es Martinet (1975, vgl. 2) gefordert hat. Die Methodologie hat sich an dem zu orien­ tieren, wie Menschen in der Performanz vor­ gehen: Sie versuchen zuerst, die Komplexität nach Regularitäten zu strukturieren. Wo die­ se an eine Grenze gelangen, stellen sie indi­ viduelle Schlussfolgerungen an und berück­ sichtigen die Partikularität der Situation. Aber auch der Bezug auf Regeln unterliegt letzt­ lich der individuellen Entscheidung der Ak­ teure. Die Methodologie insgesamt kann da­ her nicht von einem unabhängigen Pattern oder generellen Regeln ausgehen, sondern ist als offene Methodologie auf der Basis von Wahrscheinlichkeitsprinzipien zu begrün­ den, an denen sich individuelle Akteure in ständig wechselnder Umgebung orientieren. In diesem Sinn enthält die „Theorie des ge­ mischten Spiels“ zwei Komponenten: Prämis­ sen zum Gegenstand und die Herleitung der Methodologie aus dem Gegenstand. Die Me­ thodologie beinhaltet eine Reihe von Prinzi­ pien, strukturiert nach konstitutiven, regulativen und exekutiven Prinzipien.

Konstitutive Prinzipien

Der Gegenstand Kompetenz-in-der-Perfor­ manz im Dialog wird konstituiert durch das Handlungsprinzip, das dialogische Prinzip im engeren Sinn und das Kohärenzprinzip: • Das Handlungsprinzip bezieht sich auf eine generelle Definition des Handelns als Kor­ relation von Zwecken und Mitteln. Kom­ munikatives Handeln ist dementsprechend der Versuch, kommunikative Zwecke und Interessen mit kommunikativen Mitteln zu erreichen. Kommunikatives Handeln ist immer dialogisch gerichtet. • Daraus ergibt sich das dialogische Prinzip im engeren Sinn, wonach die initiative Handlung über die Sprechererwartung mit der reaktiven verknüpft ist. So zielt zum Beispiel eine Behauptung auf eine Reakti­ on des Akzeptierens, in positiver wie nega­ tiver Form. • Das Kohärenzprinzip schließlich beruht auf dem Zusammenspiel der kommuni­ kativen Mittel von sprechen, denken und wahrnehmen. Kohärenz ist – wie wir in­ zwischen wissen – nicht im Text zu finden, sondern wird durch den Versuch der Kom­ munikationspartner gestiftet, die Mittel in einen sinnvollen Zusammenhang zu brin­ gen (Weigand 2000b, Givón 1973). Regulative Prinzipien

Diese konstitutiven Prinzipien sind immer mit regulativen verbunden. Menschliches Han­ deln ist durch die Doppelnatur des Menschen bestimmt, die ihn gleichzeitig als Individu­ um wie als soziales Wesen agieren lässt (vgl. Trevarthen 1999). Eigeninteresse und sozia­ les Interesse sind zu regulieren, Rhetorik und Respekt abzustimmen. Hier kommen in be­ sonderer Weise kulturelle Werte zum Tragen. Regulative Prinzipien beziehen sich auch auf die Interaktion menschlicher Fähigkeiten, zum Beispiel Emotionen und Vernunft (→ Kogni­ tion und Emotion), die wir in post-descartes­ scher Zeit in gegenseitiger Abhängigkeit sehen (Lüdtke 2006). Auch die Rhetorik dieser regu­ lativen Prinzipien ist kulturell geprägt.



Literatur   211

Exekutive Prinzipien

Darüber hinaus planen Menschen ihr Han­ deln nach bestimmten ideologischen Wert­ maßstäben oder individuellen Leitlinien. Stra­ tegien, die hier wirksam sind, werden durch exekutive Prinzipien erfasst. Auf diese Weise wird es möglich, „Sprache als Dialog“ in einem holistisch-interaktiven Zugriff auf das komplexe Ganze menschli­ chen Handelns und Verhaltens aufzuschlüs­ seln und zu beschreiben.

5 Komplexität des Gegenstands und ihre Folgen Die moderne Linguistik unterscheidet „Spra­ che“ als Zeichensystem und „Sprechen“ als Sprachgebrauch, die Gegenstand von regelge­ leiteten Kompetenzmodellen bzw. empiristi­ schen Performanzmodellen sind (vgl. Abb. 1). Weder Sprache als System noch Sprechen re­ duziert auf empirische Elemente eines au­ thentischen Texts werden dem natürlichen Phänomen Sprache gerecht. Weder Sprache noch Sprechen ist isoliert als autonomer Ge­ genstand gegeben. Sprache ist weder regelhaf­ te Ordnung noch empirisches Chaos, sondern integraler Bestandteil einer komplexen Fähig­ keit des Menschen, sich in dialogischer Inter­ aktion als soziales Individuum in der Gemein­ schaft zu bewegen und zu behaupten. Diese Fähigkeit der Kompetenz-in-der-Performanz gilt es in einer holistisch-integrativen Theorie zu beschreiben und zu erklären. Neuere neurologische Experimente be­ legen die Notwendigkeit eines Modells, das nicht separiert, sondern die verschiedenen Subsysteme eines komplexen Ganzen in In­ teraktion beschreibt (→ Sprache und Ge­ hirn). Menschen sind als Individuen immer auch soziale Wesen. Ihr Handeln, und damit auch ihr Sprachgebrauch, ist bestimmt durch ihre Natur wie durch Bedingungen der Um­ gebung, in der sie leben (Weigand 2007). Enge

disziplinäre Grenzen sind zu überwinden, um die Komplexität menschlichen Handelns und Verhaltens adäquat zu erfassen.

Literatur Austin, J. L. (1962): How to do things with words. London: Oxford University Press. Bråten, S. (2002): Altercentric perception by infants and adults in dialogue: Ego’s virtual participation in alter’s complementary act. In: Stamenov, M. & Gallese, V. (Eds.): Mirror neurons and the evolu­ tion of brain and language (273–294). Amsterdam: Benjamins. Brown, G. (1995): Speakers, listeners and communi­ cation. Cambridge: Cambridge University Press. Chomsky, N. (1965): Aspects of the theory of syntax. Cambridge (MA): MIT. – Dt. (1973): Aspekte der Syntax-Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Clark, H. H. (1996): Using language. Cambridge: Cambridge University Press. Damasio, A. (2000): The feeling of what happens. London: Vintage. – Dt. (2000): Ich fühle, also bin ich: Die Entschlüsselung des Bewusstseins. Berlin: List. Dascal, M. (1994): Speech act theory and Grice­ an pragmatics. In: Tsohatzidis, S. T. (Ed.): Foun­ dations of speech act theory (323–334). London: Routledge. Dascal, M. (1996a): The balance of reason. In: Nud­ ler, O. (Ed.): La racionalidad. Su poder y sus limites (363–381). Buenos Aires: Paidós. Dascal, M. (1996b): The beyond enterprise. In: Ste­ wart, J. (Ed.): Beyond the symbol model (303–334). Albany: State University Press of New York. Dijk, T. A. van (1985): Handbook of discourse analy­ sis. Vol. 1–4. London: Academic Press. Dik, S. C. (21997): The theory of functional gram­ mar. Part 1/2. Hengeveld, K. (Ed.): Berlin: de Gruy­ ter. Fischer, K. W., Daniel, D. B., Immordino-Yang, M. H., Stern, E., Battro, A. & Koizumi, H. (2007): Why mind, brain and education? Why now? Mind, Brain and Education 1, 1, 1–2. Garfinkel, H. (1967): Studies in ethnomethodology. Englewood Cliffs: Prentice Hall. Gell-Mann, M. (1994): The quark and the jaguar. Ad­ ventures in the simple and the complex. London: Abacus. Givón, T. (1993): Coherence in text and in mind. Pragmatics & Cognition 1, 2, 171–227. Givón, T. (1995): Functionalism and grammar. Am­ sterdam: Benjamins.

212 

Sprache und Sprechen

Grein, M. & Weigand, E. (Eds.) (2007): Dialogue and culture. Amsterdam: Benjamins. Grice, H. P. (1975): Logic and conversation. In: Cole, P. & Morgan, J. L. (Eds.): Syntax and semantics. Vol. 3: Speech Acts (41–58). New York: Academic Press. Gumperz, J. J. (1982): Discourse strategies. Cam­ bridge: Cambridge University Press. Gumperz, J. J. & Hymes, D. (1972): Directions in so­ ciolinguistics: The ethnography of communica­ tion. New York: Holt, Rinehart and Winston. Habermas, J. (1991): Comments on John Searle: „Me­ aning, communication and representation“. In: Le­ pore, E. & Gulick, R. van (Eds.): John Searle and his critics (17–30). Oxford: Blackwell. Halliday, M. A. K. (21994): An introduction to func­ tional grammar. London: Arnold. Harris, R. (1981): The language myth. London: Duck­ worth. Harweg, R. (1968): Pronomina und Textkonstitution. München: Fink. Hauser, M. D., Chomsky, N. & Fitch, W. T. (2002): The faculty of language: What is it, who has it and how did it evolve? Science 298, 1569–1579. Hopper, P. (1987): Emergent grammar. Proceedings of the Annual Meeting of the Berkeley Linguistic Society 13, 139–157. Hundsnurscher, F. (1980): Konversationsanalyse ver­ sus Dialoggrammatik. In: Rupp, H. & Roloff, H.-G. (Hrsg.): Akten des VI. Internationalen Germani­ sten-Kongresses. Basel (89–95). Bern: Lang. Hundsnurscher, F. (1992): Does a dialogical view of language amount to a pradigm change in linguis­ tics. In: Stati, S. & Weigand, E. (Hrsg.): Methodolo­ gie der Dialoganalyse (1–14). Tübingen: Niemeyer. Hymes, D. (1977): Foundations in Sociolinguistics. London: Tavistock. Levinson, S. C. (2000): Presumptive meanings. Cam­ bridge (MA): MIT. Lüdtke, U. M. (2006): Intersubjektivität und Intertex­ tualität: Neurowissenschaftliche Evidenzen für die enge Relation zwischen emotionaler und sprachli­ cher Entwicklung. Sonderpädagogische Förderung 51, 3, 275–297. Martinet, A. (1975): Functional linguistics. La lingu­ istique functionnelle. In: Martinet, A. (Ed.): Stu­ dies in Functional Syntax (9–81). München: Fink. Sacks, H., Schegloff, E. A. & Jefferson, G. (1978): A simplest systematics for the organization of turntaking for conversation. In: Schenkein, J. N. (Ed.): Studies in the organization of conversational inter­ action (7–56). New York: Academic Press. Saussure, F. de (1916): Cours de linguistique générale. Lausanne: Payot. – Dt. (1931): Grundfragen der All­ gemeinen Sprachwissenschaft. Berlin: de Gruyter.

Searle, J. R. (1969): Speech acts. Cambridge: Cam­ bridge University Press. – Dt. (1971): Sprechakte: Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Simon, H. A. (1962): The architecture of complexity. Proceedings of the American Philosophical Soci­ ety 106, 467–482. Sinclair, J. (1994): Trust the text. In: Coulthard, M. (Ed.): Advances in written text analysis (12–25). London: Routledge. Thompson, G. (1996): Introducing functional gram­ mar. London: Arnold. Toulmin, S. (2001): Return to reason. Cambridge (MA): Harvard University Press. Trevarthen, C. (1999): Intersubjectivity. In: Wilson, R. & Keil, F. (Eds.): The MIT encyclopedia of co­ gnitive sciences (413–416). Cambridge (MA): MIT. Weigand, E. (1989): Sprache als Dialog. Sprechaktta­ xonomie und kommunikative Grammatik. Tübin­ gen: Niemeyer. Weigand, E. (2000a): The dialogic action game. In: Coulthard, M., Cotterill, J. & Rock, F. (Eds.): Di­ alogue Analysis VII (1–18). Tübingen: Niemeyer. Weigand, E. (2000b): Coherence in discourse: A ne­ ver-ending problem. In: Beckmann, S., König, ­P.-P. & Wolf, G. (Hrsg.): Sprachspiel und Bedeutung. Festschrift für Franz Hundsnurscher zum 65. Ge­ burtstag (267–274). Tübingen: Niemeyer. Weigand, E. (2002): Constitutive features of human dialogic interaction: Mirror neurons and what they tell us about human abilities. In: Stamenov, M. & Gallese, V. (Eds.): Mirror neurons and the evoluti­ on of brain and language (229–248). Amsterdam: Benjamins. Weigand, E. (22003): Sprache als Dialog. Sprechaktta­ xonomie und kommunikative Grammatik. 2. neu bearbeitete Auflage. Tübingen: Niemeyer. Weigand, E. (2004): Empirical data and theoretical models. Review article. Pragmatics & Cognition 12, 2, 375–388. Weigand, E. (2006): Argumentation: The mixed game. Argumentation 20, 1, 59–87. Weigand, E. (2007): The sociobiology of language. In: Grein, M. & Weigand, E. (Eds.): Dialogue and cul­ ture (27–49). Amsterdam: Benjamins. Weigand, E. (2010): Dialogue: The mixed game. Am­ sterdam: Benjamins. Weigand, E. (Ed.) (2008b): Dialogue and rhetoric. Amsterdam: Benjamins. Wilson, E. O. (1975): Sociobiology. Cambridge (MA): Harvard University Press. Wittgenstein, L. (1958): Philosophical investigations. Oxford: Blackwell. – Dt. (2001): Philosophische Un­ tersuchungen. Hrsg. von Joachim Schulte. Frank­ furt a. M.: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Kognition und Emotion Ad Foolen, Ulrike Lüdtke & Monika Schwarz-Friesel

1 Zum Verhältnis von Sprache, Kognition und Emotion Vor drei Jahrzehnten, in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, wäre ein Enzyklopädieein­ trag über die Beziehungen zwischen Sprache, Kognition und Emotion etwas Besonderes ge­ wesen. Auch jetzt, am Anfang des 21. Jahrhun­ derts, ist es noch nicht möglich, eine allgemein anerkannte Theorie über diesen Komplex vor­ zulegen. Insbesondere die Erforschung der Rolle der Emotion in Bezug auf Kognition und Sprache wird erst in jüngster Zeit in Betracht gezogen. Dass die Frage nach dem Zusam­ menhang von Sprache, Kognition und Emo­ tion überhaupt jetzt gestellt werden kann, ist zwei Entwicklungen in der jüngeren Wissen­ schaftsgeschichte zu verdanken. Die erste Entwicklung bezieht sich auf die Linguistik. Die Systemlinguistik des 20. Jahr­ hunderts hat sich auf die „interne“ Erfor­ schung des Sprachsystems (Phonologie, Mor­ phologie, Syntax, Semantik) konzentriert. Dieser Fokus wurde von Linguisten wie de Saussure (1916), Bloomfield (1933), Choms­ ky (1957) und Greenberg (1963) befürwortet, und diese Forschungsorientierung ist auch durchaus fruchtbar gewesen (→ Sprache und Sprechen, → Zeichen und Semiose). Im Rah­ men des linguistischen Strukturalismus, der generativen Grammatik und der sprachtypo­ logischen Forschung sind viele sprachspezifi­ sche und sprachuniverselle Regelmäßigkeiten entdeckt worden. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts entwickelten sich funktionale und kogniti­ ve Grammatiktheorien, die sprachliche Phä­ nomene „extern“ im Zusammenhang mit Kognition und Kommunikation betrachte­ ten. Hier interessiert vor allem die kognitive Grammatik, die in den 80er Jahren von ame­

rikanischen Linguisten wie Lakoff & Johnson (1981), Langacker (1987) und Talmy (1988) begründet wurde (→ Sprache und Wahrneh­ mung). Kognitiv-psychologische Prozesse wie (prototypische) Kategorisierung, FokusHintergrundstruktur, Gestaltwahrnehmung usw. wurden auf sprachliche Strukturen und Bedeutungen bezogen. So wurde der Weg für eine systematische Erforschung der Bezie­ hung zwischen Kognition und Sprache geeb­ net (vgl. Schwarz 2008). Die zweite Entwicklung fand in der kognitiven Psychologie statt. Diese Forschungs­ richtung war in den 50er Jahren des 20. Jahr­ hunderts als Reaktion auf das behavioristische Forschungsparadigma – die so genannte „ko­ gnitive Wende“ – entstanden. Das neue Phä­ nomen des Computers bot eine willkom­ mene Metapher für kognitive Prozesse: Das Gehirn wurde als „Information Processor“ gesehen. Bildgebende Verfahren (neuroimaging) (→ Sprache und Gehirn) gab es noch nicht, so dass die kognitiven Mechanismen sich weiter in einer „Black Box“ befanden, die nur experimentell „von außen“ studiert wer­ den konnte. Wenn Emotionen in dieser Zeit ein Forschungsthema waren, dann in anderen Zweigen der Psychologie, wie etwa der klini­ schen und sozialen Psychologie. In der Kog­ nitionspsychologie wuchs aber die Einsicht, dass bei vielen kognitiven Prozessen Emoti­ onen eine Rolle spielen. Diese Entwicklung in der kognitiven Psychologie spiegelte sich in der wissenschaftlichen Zeitschriftenland­ schaft wider. Die Zeitschrift „Cognition“ gab es schon seit 1972, aber die Zeitschrift „Co­ gnition & Emotion“ wurde erst 1987 gegrün­ det, in deren Vorwort zu lesen ist: „An incre­ asing number of experimental psychologists have identified the relative neglect of emotion in cognitive psychology as one of its main de­ ficiencies and wish to explore how far it can

214 

Kognition und Emotion

be remedied“ (Watts 1987). Im Jahr 2001 wur­ de auch eine eigene Zeitschrift „Emotion“ ge­ gründet, „for the constitution of an affective science“, wie es im Vorwort heißt. Und wei­ ter: „Emotion will also publish articles […] on the many and varied ways in which affect and cognition interact“ (Davidson & Scherer 2001, 3). Die beiden genannten Entwicklungen ha­ ben also zur Erforschung der Beziehung zwischen Sprache und Kognition ­einerseits, und der Beziehung zwischen Kogni­tion und Emotion andererseits beigetragen. Bleibt die Beziehung zwischen Sprache und Emo­ tion. Hierzu gibt es noch kein kohärentes Forschungs­paradigma, aber Foolen (1997, 2009), Lüdtke (2006, 2009), Schwarz-Friesel (2007, 2008) u. a. plädieren dafür, auch die Er­ forschung dieses Zusammenhangs verstärkt in Angriff zu nehmen. Bevor die Beziehungen einzeln näher be­ trachtet werden, sei noch betont, dass Spra­ che, Kognition und Emotion nicht in einer neurologischen Eigenwelt abgeschottet sind. Sie sind in den Sinnesorganen und im Körper „gegründet“, wie die vielfältigen Veröffentli­ chungen zum so genannten „Embodiment“ aufzeigen (vgl. Ruthrof 2000, Zwaan 2004, Gallagher 2005, Sebanz et al. 2006, Ziemke et al. 2007, Barsalou 2008) (→ Sprache und Wahrnehmung). Auch der intentionale prak­ tische Umgang mit der Welt und mit anderen Personen ist wichtig für die Entwicklung von Kognition, Emotion und Sprache (vgl. Co­ lombetti & Thompson 2007). Spiegelneuro­ nen bzw. ganze Spiegelmechanismen sorgen dafür, dass Handlungen (auch sprachliche) und Emotionen von Mitmenschen innerlich „mitempfunden“ bzw. „nachgespielt“ wer­ den, was eine wichtige Grundlage für „Inter­ subjektivität“ ist (vgl. Bråten 1998, 2002, Tre­ varthen 1998, 2001, Stamenov & Gallese 2002, Rizzolatti & Craighero 2004) (→ Intersubjek­ tivität und Kommunikation).

2  Sprache und Kognition In der Geschichte der abendländischen Philo­ sophie und Sprachwissenschaft ist Sprache lan­ ge Zeit lediglich als Mittel betrachtet worden, um kognitive Inhalte und Wahrnehmungser­ lebnisse wiederzugeben; kognitiv vermittelte Wahrnehmung wiederum wurde als getreues Abbild der Wirklichkeit gesehen. In der ältes­ ten und nachhaltigsten Forschungstradition – ihre Protagonisten reichen von Aristote­ les (384–322 v.  Chr.) über Locke (1975 [i. O. 1690]), Leibniz (1998 [i. O. 1714]) und Frege (2002 [i. O. 1892]) bis hin zu Chomsky (1965) und de Saussure (1916) – wird Sprache dem­ entsprechend als „Logos“ aufgefasst (→  Per­ son und Sprache). Sprache und logisches Denken werden hier zwecks Etablierung des Menschen als reines Vernunftwesen, als sog. „ζῷον λόγον ἔχον“ (zōon logon echon) (Hei­ degger 2006 [i. O. 1927]), gleichgesetzt und die Gefühle gemäß der dualistischen Tradition des Rationalismus als „unwissenschaftlich“ dekla­ riert. Als Folge werden kulturell sämtliche Wurzeln des Irrationalen wie z. B. das „Trieb­ hafte“, „Animalische“, „Körper­liche“, „Weibi­ sche“ oder „Sündige“ zensiert, tabuisiert oder verdrängt. Sprache ist hier „reines“ Erkennt­ nisinstrument und ein Spiegel der Kognition bzw. „mirror of mind“ (Chomsky 1965), so dass als sprachlicher Untersuchungsgegenstand nur objektiv wiedergegebene Sachverhalte oder ve­ rifizierbare Aussagen mit Wahrheitsgehalt gel­ ten wie z. B. die Wissenschaftssprache oder die Formalsprachen (vgl. Lüdtke 2006a) (→ Spra­ che und Wahrnehmung). Eine interessante neue Perspektive kam in der Romantik zum Tragen. Philosophen wie Humboldt (2003 [i. O. 1827–1829]) und Her­ der (1965 [i. O. 1772]) betonten, dass auch um­ gekehrt die Sprache mit ihrer Struktur unser Denken und Bild von der Wirklichkeit be­ stimmt. Diese Auffassung wurde durch die Arbeiten der amerikanischen anthropolo­ gischen Linguisten Sapir und Whorf in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem Namen „Sapir-Whorf-Hypothese“ oder



Kognition und Emotion   215

„linguistische Relativitätstheorie“ bekannt (vgl. Whorf 1956). War diese Idee lange Zeit vor allem interessante Spekulation, so hat in den letzten Jahrzehnten die sprach- und kul­ turvergleichende Forschung u. a. von Lucy (1992) und Levinson (2003) gezeigt, dass die Hypothese durchaus empirisch getestet und teilweise bestätigt werden kann. Weltbild und Umgang mit der Wirklichkeit hängen also auch von den sprachlichen Kategorisierungen dieser Wirklichkeit ab. Man kann sich natür­ lich fragen, woher diese sprachlichen Katego­ risierungen kommen, und die Antwort führt wahrscheinlich wieder zur „Kultur“, aber die Sprache kann kulturelle Kategorisierungen festhalten, verstärken und an die nächste Ge­ neration weitergeben. In dem Sinne ist Spra­ che ein wichtiger „Träger“ kulturell-kogniti­ ver Kategorisierungen. Grundsätzlich kann man sich fragen, ob die menschliche Kognition überhaupt „sprachfrei“ funktionieren kann, wie z. B. Clark (2006), der für Folgendes plädiert: „[to] treat language as an aspect of thought, rather than just its public reflection“. Es gibt keine Menschen ohne Sprache, und es ist für uns schwer vorstellbar, wie sprachloses menschli­ ches Denken aussehen würde. Allgemein werden Sprache und Kogni­ tion heute in einem Inklusionsverhältnis ge­ sehen: Die Sprache stellt ein Subsystem der Kogni­tion dar, das einerseits eigene Gesetz­ mäßigkeiten aufweist, andererseits in enger Interaktion mit anderen kognitiven Prozes­ sen (motorischer, visueller, konzeptueller Art) funktioniert (vgl. Schwarz 2008, 40 ff.). Dabei wird die konstruktive, „welterzeugende“ so­ wie gedankenbeeinflussende Rolle der Spra­ che verstärkt berücksichtigt. Die moderne kognitive Linguistik stellt sich also die Aufgabe, die Wechselwirkung zwischen Sprache und Kognition in beide Richtungen zu erforschen: Inwieweit hän­ gen sprachliche Strukturen von kognitiven Strukturen und Prozessen ab, und inwieweit ist umgekehrt die menschliche Kognition, sowohl allgemein wie auch kulturspezifisch, sprachlich bedingt?

3  Kognition und Emotion Die Trennung von Kognition und Emotion, von Denken und Fühlen hat eine sehr lange Tradition: Die gesamte neuzeitliche Forschung ist durch einen tiefgreifenden Dualismus hin­ sichtlich Geist und Körper sowie Verstand und Gefühl geprägt (→ Person und Sprache, → Sprache und Wahrnehmung). Emotionen wurden und werden auch teilweise heute noch in den Kognitionswissenschaften als irrele­ vante oder sogar negative Faktoren in Bezug auf die geistigen Leistungen des Menschen betrachtet. Erst in den letzten Jahren wird vermehrt betont, dass emotionale Einflüsse maßgeblich auf kognitive Prozesse einwirken können und in kognitive Sprach- und Kogni­ tionstheorien integriert werden müssen (vgl. Schwarz-Friesel 2007, 2008). Insbesondere die neuropsychologischen Untersuchungen von Damasio (1994, 2000, 2003), LeDoux (1998), Panksepp (1998) u. a. haben die enge Wech­ selwirkung von Kognition und Emotion, von Kortex und subkortikalen Arealen im Gehirn eindrucksvoll aufgezeigt. Neurologisch lassen sich Gehirnstruktu­ ren unterscheiden, die mehr mit Kognition und andere, die mehr mit Emotion zu tun ha­ ben. Zur ersten Gruppe gehört der Neokortex, zur letzteren Gruppe das limbische System (→ Sprache und Gehirn). Bechear & Bar-On (2006) haben gezeigt, dass intellektuelle Intelligenz kaum mit emo­ tionaler und sozialer Intelligenz korreliert. In den 1990er Jahren wurden aber auch Struk­ turen wie die Spindelzellen (Allmann et al. 2001) und funktionelle Besonderheiten des präfrontalen Kortex entdeckt, die gerade eine wichtige Rolle bei der Zusammenarbeit von Kognition und Emotion spielen. Intuitive Ent­ scheidungen (vgl. Damasio 1994) und morali­ sche Urteilsbildung (vgl. Koenigs et al. 2007) basieren auf einem solchen Zusammenspiel, und emotional besetzte Erfahrungen prägen sich stärker ins Gedächtnis ein als rein kog­ nitive Information (vgl. Ciompi & Panksepp 2005). Wenn die Zusammenarbeit von Kog­

216 

Kognition und Emotion

nition und Emotion nicht gut funktioniert – beispielsweise durch Beschädigung bestimm­ ter neuronaler Verbindungen –, kann das zu Störungen wie z. B. dem Capgras-Syndrom oder der Prosopagnosie führen (vgl. Young 2008). Beim Capgras-Syndrom werden Ge­ sichter kognitiv als „bekannt“ identifiziert, aber das Gefühl der Vertrautheit fehlt. Daher wird die bekannte Person als „Doppelgän­ ger“ der eigentlichen Person angesehen. Bei Prosopagnosie ist die Störung umgekehrt: Ein Gesicht wird als emotional vertraut empfun­ den, aber man kann nicht identifizieren, wer die Person ist. Im Allgemeinen kann man sa­ gen, dass vor allem soziale Kognition eng mit Emotion verbunden ist (vgl. Harmon-Jones & Winkielman 2007, Olsson & Ochsner 2008). Die Zusammenarbeit von Kognition und Emotion zeigt sich auch bei der kogniti­ ven Kontrolle über die Emotionen (Ochsner 2006). Unkontrollierte emotionale Ausbrüche können vorkommen, aber im Allgemeinen gehen wir davon aus, dass eine bestimmte ko­ gnitive Kontrolle möglich und erwünscht ist (→ FS emotionale und soziale Entwicklung). Emotion und Kognition können sich natür­ lich auch im Wege sein. Emotionen können klares Denken beeinträchtigen (vgl. Elster 2004), und zu viele Gedanken können emoti­ onale Spontaneität abtöten. Insgesamt jedoch sind die (bislang wenig beachteten) positiven Wechselwirkungen als relevante Schnittstellenphänomene zu kon­ statieren und in der zukünftigen Forschung stärker zu untersuchen.

4 Sprache und Emotion 4.1 Historische Betrachtung: ­Erforschung der Kommunikation von Emotionen Bühler (1968 [i. O. 1933: III]) stellte in sei­ nem Überblick fest: „In der Linguistik aller Zeiten stand nicht der Ausdruck, sondern die

Darstellungsfunktion der Sprache im Vorder­ grund. Das war sachgemäß so und wird so bleiben“ (vgl. Abb. 4). In der Tat ist das lan­ ge Zeit so geblieben (vgl. Green 2007). Nach dieser traditionellen Idee werden Gedanken sprachlich formuliert und Emotionen non­ verbal und höchstens paraverbal z. B. mittels Stimmlage und/oder Sprechrhythmus (vgl. Zinken et al. 2007) ausgedrückt. Geschichte der nonverbalen Emotionsforschung

Die Erforschung des non-verbalen „Aus­ drucks“, vor allem des Emotionsausdrucks, hat eine lange Tradition. Darwins „The ex­ pression of the emotions in man and animals“ (1998 [i. O. 1872]) ist auf diesem Gebiet ein klassisches Werk und auch Wundt widmet das erste Kapitel des ersten Bandes seiner Völ­ kerpsychologie (2007 [i. O. 1900]) den „Aus­ drucksbewegungen“, die er insbesondere mit den Gefühlen und Affekten verbindet. Ausgehend von der Beobachtung und Analyse des Verhaltens von Tieren lag der ers­ te große Schwerpunkt der nonverbalen Emo­ tionsforschung zunächst auf der Mimik  – also auf dem gesichtsmotorischen Ausdruck menschlicher Gefühle und dem Verstehen der daran beteiligten Muskelgruppen (vgl. Abb. 1). Nach Klärung dieser intraindividuellen anatomisch-physiologischen „Produktions­ bedingungen“ von Gefühlen verlagerte sich das Interesse auf ein Verstehen der Kommu­ nikation von Emotionen als interindividuelles Gesamtsystem – angefangen von der Identifi­ zierung so genannter „Basis-Emotionen“ (u. a. Ekman 1999) bis hin zu deren Universalität in Produktion wie Rezeption (vgl. Abb. 2). In den 70–80er Jahren des 20. Jahrhun­ derts läuteten dann die großen „Säuglingsfor­ scher“ wie z. B. Stern (u. a. 2000 [i. O. 1985]), Papoušek & Papoušek (u. a. 1989) oder Tre­ varthen (u. a. 1979) (→ Intersubjektivität und Kommunikation) einen bis heute anhalten­ den Trend ein, neben dem visuellen Code z. B. auch den auditiven, taktilen und therma­ len Kanal des Emotionsausdrucks und -aus­



Sprache und Emotion   217

Abb. 1: Darwins Analyse des mimischen Emotionsausdrucks trauriger Kinder (Darwin 1998, 146 [i. O. 1872])

218 

Kognition und Emotion

Abb. 2: Kulturvergleichende Studien zur Frage der Universalität menschlicher Basis-Emotionen (Ekman 1999, 304)

tauschs zu analysieren (vgl. Abb. 3, weiterfüh­ rend Malloch & Trevarthen 2008) sowie die emotionale Kommunikation zwischen Mut­ ter und Baby als wesentlichen Motor, Regu­ lator und Organisator der linguistischen Ent­ wicklung des Kindes zu sehen (vgl. Lüdtke 2006b, 2009). Geschichte der linguistischen Emotionsforschung

Neben der rationalistischen Forschungstra­ dition des Logos waren die emotional durch­ drungenen oder gar überfluteten Formen der Sprache, die im Alltag z. B. als künstleri­ sche Sprache in Romanen, Satiren oder Lied­ texten, als rhetorische Sprache in Politik und Werbung, als religiös-spirituelle Sprachmagie in Riten oder Gebeten, als psychopathologi­

sche Sprache bei Verwirrtsein, Demenz oder im Rausch, als zärtliche Sprache von kleinen Kindern oder Liebenden oder als sprachliche Tabu-Brüche und Provokationen in der Ju­ gend­sprache in Erscheinung treten, lange Zeit kein (einheitlicher) Forschungsgegenstand und wurden zuweilen lose als „Anti-Logos“ zusammengefasst. Lediglich diejenige Spra­ che, mit der bewusst und gezielt beim Hörer oder Leser bestimmte Emotionen hervorgeru­ fen werden können oder sollen – seit der Anti­ ke als „Pathos“ bezeichnet – wurde in aristote­ lischer Tradition von der Rhetorik und Stilistik umfassend erforscht und heute medienwis­ senschaftlich anwendungsbezogen analysiert. Und dass es nicht nur darauf ankommt, wie man rhetorisch etwas sagt, sondern wer es sagt – also die Bedeutsamkeit der sog. „Auto­



Sprache und Emotion   219

Abb. 3: Spektrogramm- (A), Stimmqualität- (B) und Tonhöhen-Analysen (C) (Malloch 1999) früher Proto-Kon­ versation zwischen Mutter und Kind in Trevarthens Infant Communication Laboratory der Universität Edinburgh (1979) (mit freundlicher Genehmigung von Prof. Colwyn Trevarthen)

220 

Kognition und Emotion

renschaft“ – wird seit Aristoteles im Rahmen der Auffassung von Sprache als „Ethos“ unter­ sucht. Gerade diese dritte Denktradition der Abhängigkeit der emotional positiven oder negativen, starken oder schwachen Wirkun­ gen des Gesagten z. B. von der Integrität, der Autorität oder dem Prestige des Sprechers ist wichtig, wenn man die Wirkzusammenhän­ ge zwischen Sprache, Emotion und Verhalten u. a. in heutigen medialen (Jugend)Kontexten bewerten will (vgl. Lüdtke & Frank 2007). Anfang des letzten Jahrhunderts greift Bühler (31999, 28 [i. O. 1934]) die klassische Trias von Logos, Pathos und Ethos wieder auf und fasst sie terminologisch in die bis heu­

Abb. 4: Bühlers wegweisende Unterscheidung zwischen Darstellung, Ausdruck und Appell (Bühler 31999, 28 [i. O. 1934])

te wegweisenden Kategorien „Darstellung“, „Ausdruck“ und „Appell“ (vgl. Abb. 4). Jakobson (1960) wendet einige Jahrzehn­ te später Bühlers Kategorien auf die Kommu­ nikation an (vgl. Abb. 5) und führt neben der „emotiven“ bzw. „expressiven“ Funk­tion (Büh­ lers Ausdruck) und der „konativen“ Funktion (Bühlers Appell) ergänzend die „poetische“ Kommunikationsfunktion ein, die primär der Nachricht, dem Text selbst inhärent ist (vgl. Nöth 22000, 105 ff., Konstantinidou 1997). Ein ganz anderer nicht zu vergessender Strang der linguistischen Emotionsforschung findet sich zeitgleich in der Psychoanalyse bzw. psychoanalytischen Sprachtheorie, wo­ bei ein besonderer Schwerpunkt auf den un­ terschiedlichen Theorien zur Sprachentwick­ lung liegt (u. a. Klein 1962, Lacan 31987). Alle drei Aspekte zugleich werden im komplexen Ansatz Kristevas (u. a. 1998, 2002) (→ Behin­ derung und Vulnerabilität) – u. a. in „Die Re­ volution der poetischen Sprache“ (1978) – ela­ boriert: Ausgehend von einer Kontrastierung der rationalistischen Tradition des Aristote­ les mit den affekt-durchdrungenen Konzep­ ten Bakhtins (1981) werden grundlegende Af­ fekt- vs. Ratio-Dichotomien konzipiert, wie „das Symbolische“ vs. „das Semiotische“, das „väterliche Gesetz“ (The One Law) vs. den „schweigenden weiblichen Schatten“ (The silent Other) oder „Sublimierung“ vs. „Verlan­ gen“ (desire), wobei z. B. mit dem Konzept der „Chora“ aktuelle Theorien zum Embodiment (→ Sprache und Wahrnehmung) vorweg ge­ nommen sind.

Abb. 5: Jakobsons Kommunikationsmodell mit der Differenzierung zwischen emotiver bzw. expressiver, poetischer und appellativ-konativer Funktion (nach Jakobson 1960, 357)



Sprache und Emotion   221

Abb. 6:  Kristevas Unter­ scheidung zwi­schen Aris­ totelischem Monolog und Bachtinianischem Dialog, welche u. a. die Dichotomi­ en Ratio­nalität vs. Affekte, Sublimierung vs. Verlangen (desire) und denotative vs. poetische Sprache beinhal­ tet (nach Moi 1986, 58).

4.2  Entwicklungstheoretische Ansätze Phylogenese

Wie sich die menschliche Sprache im Laufe der Evolution der Menschheit entwickelt hat, ist ein schwieriges und in den letzten Jahrzehnten wieder intensiv diskutiertes Thema (vgl. Taller­ man 2005). Hurford (2007) skizziert ein Szena­ rio, in dem sowohl Kognition als auch Emotion phylogenetisch eine Rolle spielen. Vorfahren des Menschen waren im Stande, komplexe propositionale Inhalte kognitiv zu verarbeiten, aber sie waren noch nicht im Stande, diese In­ halte verbal auszudrücken. Kommunikative Si­ gnale waren primär Kontaktsignale, wobei die Signalisierung von Emotionen wie „Gefahr“, „Zuneigung“, „Abneigung“ usw. eine wichtige Rolle spielte. Der Durchbruch zur menschli­ chen Sprache kam zu Stande, indem es mög­ lich wurde, das Kommunikationsmittel auch für propositionale Inhalte zu benutzen. Diese „kognitive Anwendung“ wurde dann dominie­ rend; die Signalisierung von Emotionen und Intentionen fand eher nonverbal und para­ verbal statt. Wie in Abschnitt 4.3 gezeigt wird, wird in der modernen Forschung diese traditi­ onell angenommene Arbeitsteilung noch ein­ mal kritisch überprüft. Ein weiterer großer Forschungsansatz (vgl. Stamenov, Gallese 2002) konzentriert sich da­ neben auf die von den Entdeckern der Spie­ gelneuronen (vgl. Rizzolatti et al. 1996) auf­

gestellte These, dass die mittels kortikaler Spiegelsysteme mitempfundene und reprä­ sentierte Handlungsbeobachtung Basis der kulturellen Evolution von Sprache wie der kindlichen Sprachentwicklung (vgl. 4.2.2) ist (Lüdtke 2006b). Kernargument der von Rizzolatti & Arbib (1998) vertretenen Posi­ tion ist, dass ein Spiegelmechanismus eine Verbindung zwischen Sender und Empfän­ ger herstellt, die für jegliche erfolgreiche, bedeutungsübermittelnde Kommunikation unabdingbar ist. Ein wesentlicher Hinweis, dass dieser handlungsspezifische Spiegelme­ chanismus die Basis der phylo- wie ontoge­ netischen Sprachentwicklung bildet, ist die Erkenntnis, dass das produktive Sprachzen­ trum des Menschen – die Broca-Region (BA 44 + 45) (→ Sprache und Gehirn) – nicht nur Sprechmotorik repräsentiert, sondern auch bei der Ausführung, Beobachtung oder Ima­ gination von Hand- und Armbewegungen wie z. B. Greifen aktiviert ist. Deshalb kann angenommen werden, dass vor dem kulturel­ len Erscheinen der Verbalsprache der evoluti­ onäre Vorläufer der Broca-Region ein Spiegel­ mechanismus zur Handlungserkennung war, eine Art neuronale Vorraussetzung für in­ terindividuelle Handlungs-Kommunika­tion und später Sprache. Nach Ansicht der Auto­ ren wurde diese große evolutionäre Spanne zwischen Handlungserkennung und intenti­ onalem Austausch in folgenden phylogeneti­ schen Entwicklungsschritten überbrückt:

222 

Kognition und Emotion

• Das Spiegelsystem ist zunächst Vorausset­ zung für eine unbewusste, unwillkürliche, nicht-intentionale Mitempfindung und Imi­ tation der beobachteten Handlung. Die Be­ deutung bleibt innerhalb dieser „mimeti­ schen Kapazität“ gleich. • Als Nächstes kann der Beobachter über das Spiegelsystem vermittelte spontan-imitati­ ve Antworten zunehmend willentlich kon­ trollieren und so eigene intentionale Signa­ le mit veränderter subjektiver Bedeutung senden. Ihm wird z. B. bewusst, ein wil­ lentliches Signal gesendet und damit beim Kommunikationspartner eine Verhaltens­ änderung – im Sinne einer nicht-imitati­ ven, intentionalen, bedeutungsdifferenten Antwort – bewirkt zu haben. Das hierüber entstehende Bewusstsein etabliert die Ur­ form des Dialogs: den „Proto-Dialog“. • Als weitere Ausdifferenzierung entwickelt sich sukzessive eine „Proto-Sprache“ mit einer „Proto-Grammatik“ für die interin­ dividuelle Bedeutungsübermittlung mit­ tels brachio-manualer (Gestik), oro-fazi­ aler (Mimik) und laryngealer (Stimme) Zeichensysteme, deren motorische Hand­ lungsgrundlage die im Broca-Bereich re­ präsentierten Organe Hand, Mund und Larynx sind. • Letztlich entwickelt sich aus diesen rela­ tiv geschlossenen und begrenzten Zeichen das offene, unbegrenzte, symbolische Zei­ chenrepertoire der lautlich vermittelten Sprache, die als evolutionäre Anpassung komplexere und abstraktere Bedeutungen schneller und über größere Distanz über­ mitteln kann. Ontogenese

In Ergänzung zum dargestellten phylogene­ tischen Konzept fokussieren eine Reihe von ontogenetisch orientierten Ansätzen die Be­ deutsamkeit der Affekte bzw. Emotionen und ihrer Kommunikation, Regulation und/oder Spiegelung in der Mutter-Kind-Beziehung: die bereits erwähnten psychoanalytischen Sprach­ entwicklungstheorien (u. a. Stern 2000 [i. O.

1985]), Dornes 2006), die interaktionistischen Spracherwerbsmodelle (u. a. Tomasello 2003, Bloom 22002) und diejenigen Theorien, die die kindliche „Intersubjektivität“ in den Mit­ telpunkt stellen (u. a. Bråten 1998, 2002, Tre­ varthen 1998, 2001, 2004) (vgl. zur Übersicht Klann-Delius 22008, Foolen et al. 2009, Lüdt­ ke 2006b, 2009) (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau, → Sprachdidaktiktheorie). Die Interaktion von Emotion und Sprache zeigt sich vor allem auch in der frühkindli­ chen Entwicklung. Bei der Geburt bringt das Kind ein Bedürfnis nach Zärtlichkeit mit – „affect hunger“, wie Goldschmidt (2006) es nennt. Dieses Bedürfnis wird von der Mutter durch Körperkontakt und emotionale Inter­ aktion beantwortet. So entsteht die „primäre Intersubjektivität“ (vgl. Trevarthen 2001). Die emotionale Interaktion ist in Bezug auf die sich später entwickelnde Sprache als eine Art „Proto-Konversation“ zu sehen (vgl. Abb.  3). Im Rahmen dieser Intersubjektivität (vgl. auch Hobson 2002, Greenspan & Shanker 2004, 2007) entwickelt sich eine geteilte Auf­ merksamkeit für „Objekte“, „joint attention“, die Tomasello (1988) als eine wichtige Vor­ aussetzung für die Entwicklung der Sprache hält (Tomasello & Carpenter 2006 betrachten „joint attention“ als Teil von „shared intenti­ onality“). Sprachentwicklung ist in diesen Ansät­ zen primär intersubjektive Bedeutungsent­ wicklung und diese gelingt nur auf Basis ei­ ner positiven Emotionalentwicklung, denn sprachliche Bedeutung ist im Gegensatz zur Konzeption der kognitiven Linguistik nicht primär sachlich-referenziell, sondern immer emotional markiert, da das Lernen von Be­ deutungen in intersubjektiv-emotionalen Si­ tuationen erfolgt. Ähnlich wie Rizzolatti & Arbib (1998) be­ schreibt auch Trevarthen (2001, 2004) (→ In­ tersubjektivität und Kommunikation) auf Spiegelmechanismen basierende Prototypen und Stufen der Sprachentwicklung im Sinne einer Bedeutungsentwicklung, denn im in­ tersubjektiven „meaning-attunement“ wird alterozentrisch das Senden/Antworten der ei­



Sprache und Emotion   223

genen Bedeutungen an die des Anderen ange­ passt (vgl. Bråten 1998): • Die erste Phase ist die der Imitation. Hier werden zunächst intuitiv die bedeutsamen Motive und Emotionen gespiegelt, die den wahrgenommenen Bewegungshandlungen zugrunde liegen, sie generieren. Der Zei­ chenträger-Imitation – z. B. ein Lächeln (Gesichtsmotorik) – unterliegt eine affekti­ ve Bedeutungsimitation: Zuneigung. • Die nächste Phase wird als „Geburt der Be­ deutung“ (Trevarthen 2004) bezeichnet: der Beginn der bewussten Bedeutungs­ spiegelung und damit internen Motiv-Re­ präsentation des Anderen. Eine bestimm­ te Handlung, Gesichts-, Augen- und/oder Mundbewegung wird für das Kind zum Sprach-Zeichen, indem es zum Träger ei­ ner in Relation, einer in einer Beziehung (i. O. „in relationship“) emotional erlebten Bedeutung, wird. Diese Zeichen sind sog. „Proto-Symbole“ (Trevarthen 2004, 110) – eine Zeichenkategorie, zu der auch Winni­ cotts (1965) Übergangsobjekte gehören. • Der Höhepunkt der Entwicklung ist mit der sog. „Bedeutungspermanenz“ erreicht, das heißt, mit dem Wissen über den ge­ meinsam ausgehandelten stabilen Bedeu­ tungsgehalt eines ebenfalls gemeinsam etablierten und zunehmend konventiona­ lisierten Zeichenträgers, z. B. einer Geste, eines Blickes, eines Wortes. Emotionaler Ursprung der Sprachentwicklung ist demnach das pränatal angelegte, relationale Bedürfnis, jemandem etwas zu be-deuten, und ihr Ziel, mit und für jemanden bedeutsam zu sein.

4.3 Aktuelle Forschungsrichtungen und Systematiken Die erwähnte „Arbeitsteilung“ zwischen ver­ baler und nonverbaler Kommunikation wird in letzter Zeit zunehmend in Frage gestellt. Die Erforschung der Gestik (→ Zeichen und Semiose, → Sehen und Gebärden) hat gezeigt, dass kognitive Inhalte teilweise auch nonver­

bal, durch begleitende Gesten, ausgedrückt werden, und umgekehrt werden immer mehr sprachliche Strukturen entdeckt, die einen emotional-expressiven Wert haben. Sprachli­ che Formen, die dem Ausdruck von Emotionen dienlich sind, bekommen in den letzten Jahren zunehmend Aufmerksamkeit. Hier wird häu­ fig eine Unterscheidung von emotionsbezeich­ nenden (vgl. 4.3.1) und emotionsausdrücken­ den (vgl. 4.3.2) Lexemen und Sätzen getroffen, die auf Bühlers Einteilung von darstellender und ausdrückender Zeichenfunktion basiert (Bühler 1965 [i. O. 1934]).  Emotionsbezeich­ nende Ausdrücke haben demzufolge vor allem die Funktion, Emotionen kognitiv zu bezeich­ nen, auf sie zu referieren, während emotions­ ausdrückende Formen direkt und unmittelbar der Expressivität emotionaler Zustände die­ nen (zu einer kritischen Stellungnahme hierzu vgl. Schwarz-Friesel 2007, 144 ff.). Emotionen bezeichnen

Im folgenden Abschnitt wird der Ausdruck von Emotionen thematisiert. Eine andere The­ matik betrifft aber zunächst das Benennen, Beschreiben und Bezeichnen von Emotionen. Im Prinzip kann über Emotionen genauso wie über andere Aspekte der Wirklichkeit gespro­ chen werden, obwohl die eigenen Emotionen manchmal schwer beschreibbar sind (vgl. das Problem der Alexithymie, Sundararajan & Schubert 2005). Alle Sprachen haben ein Emotionsvokabular (vgl. Athanasiadou & Tabakowska 1998). Da Emotionen, genau wie Farben, keine ein­ deutig aufteilbaren Gegenständlichkeiten bil­ den, ist anzunehmen, dass die Kognition in diesem Bereich einen mehr oder weniger grö­ ßeren Konzeptualisierungsspielraum hat. Dies eröffnet wiederum eine Forschungsper­ spektive, die sich von der Frage leiten lässt, inwieweit das emotionale Empfinden in ver­ schiedenen Kulturen sprachlich bedingt ist. So bilden auch Emotionen ein interessantes Anwendungsgebiet für die Sapir-Whorf-Hy­ pothese (vgl. Matsumoto 2000, Kap. 11, und Barrett et al. 2007).

224 

Kognition und Emotion

Wie bereits die frühen Phänomenologen be­ schrieben (vgl. u. a. Husserl 1993 [i. O. 1913], Merleau-Ponty 1945, Schmitz 1992), gehen Emotionen meistens mit leiblichen Effekten einher: schnellerer Herzschlag, ein weiches Gefühl in den Knien usw. Diese körperliche Seite der Emotionen spiegelt sich in den vie­ len sprachlichen festen Ausdrücken (Phraseo­ logismen) wider, die sich auf den Körper be­ ziehen (→ Sprache und Wahrnehmung), aber indirekt eine Emotion beschreiben: „Das Herz sank mir in die Hose.“ „Er kam mit hängen­ den Schultern rein.“ „Ich habe die Nase voll.“ „Er wartete händeringend.“ (vgl. Kövecses 2000). Solche somatischen Emotionsbeschrei­ bungen wirken expressiver als das „sachliche“ Emotionsvokabular (vgl. „Ich hatte Angst.“ gegenüber „Ich hatte weiche Knie.“). Die­ se Feststellung ruft die Frage hervor, ob wir strikt zwischen „Emotionen ausdrücken“ und „Emotionen beschreiben“ unterscheiden kön­ nen. Die Annahme eines Kontinuums – von eher deskriptiv zu eher expressiv – ist hier si­ cherlich adäquater (vgl. Schwarz-Friesel 2007, Kap. 5). Auch mittels emotionsbezeichnender Lexeme lassen sich Gefühle intensiv und ex­ pressiv ausdrücken: So wird eine Äußerung wie „Ich hasse und verachte dich abgrund­ tief “ emotional schärfer und wirkungsvoller sein als „Ih, Du Widerling!“. Der Emotions­ thematisierung dienen insbesondere auch me­ taphorische Konstruktionen, die oft emoti­ onsbezeichnende und emotionsausdrückende Lexeme miteinander verbinden (vgl. Skirl & Schwarz-Friesel 2007). Ein neuerer Forschungsschwerpunkt (vgl. weiterführend Klann-Delius 2008) liegt in diesem Zusammenhang auf der Analyse der Entwicklung der so genannten „internal state language“ bei Kindern (vgl. u. a. Bretherton et al. 1980, Klann-Delius & Kauschke 1996, Pa­ pafragou et al. 2007), das heißt, auf der Fähig­ keit, eigene innere Zustände wie z. B. Schmerz, Müdigkeit, Zuneigung oder Abneigung le­ xikalisch auszudrücken, wobei die Erwerbs­ reihenfolge der Wortkategorien von innerer Wahrnehmung über Physiologie und Affekt bis hin zu Moral verläuft (Klann-Delius 2008,

6 ff.). Eng damit verbunden ist die kindliche Fähigkeit, Gefühlszustände auch bei anderen Personen zu erkennen, zu bewerten und de­ notativ zu benennen – eine Kompetenz, die auf eine vorhandene „theory of mind“ hin­ weist (vgl. u. a. Bretherton et al. 1986) und die auch bei Kindern mit Entwicklungsbesonder­ heiten, z. B. mit Down Syndrom (Beeghly & Cicchetti 1997), festzustellen ist. Emotionen verbal ausdrücken

Die zweite Gruppe der emotionsausdrücken­ den sprachlichen Formen dient im Sinne Büh­ lers direkt und unmittelbar der Expressivität emotionaler Zustände. Zu diesen expressiven Formen gehören die Interjektionen (Nübling 2004), Ausrufesätze (als sekundärer Satztyp neben den Haupttypen Behauptungssatz, Fra­ gesatz und Imperativsatz, vgl. Krause & Ruge 2004) und auf der Inhaltsseite der Sprache Konnotation als emotionale „Zusatzbedeu­ tung“ zu einem kognitiven Kern (Allan 2007). Foolen (2004) zeigte, dass die binominale Kon­ struktion „ein Engel von Frau“ einen inhärent expressiven Wert hat. Weiter gibt es expressive morphologische Strukturen wie Diminutiv und intensivierende Formen wie „affen-(heiß)“, „schweine-(kalt)“ mit expressivem Wert. Man darf davon ausgehen, dass mehr sprachliche Strukturen expressiven Wert haben als bis­ her angenommen wurde. Hier eröffnet sich ein Forschungsfeld, auf dem in Zukunft be­ stimmt noch mehr Konstruktionen und mor­ phologische Verfahren entdeckt werden, die eine Funktion im emotional-expressiven Be­ reich haben (vgl. für das Japanische Maynard 2002 und für das Französische Drescher 2003). Auch die Analyse von mündlichen Dialogen (vgl. Weigand 2004) und Texten (vgl. Fries 2007, Schwarz-Friesel 2007) wird noch viele neue Einsichten ans Tageslicht bringen. Von Lascaratou (2007) stammt eine erste Studie, die das Sprechen über eine spezifische Emotion, nämlich das Schmerzgefühl, untersucht. Ihrer Studie liegt ein griechisches Korpus mit ArztPatient-Gesprächen zu Grunde. Die ersten um­ fassenden textlinguistischen Analysen zu Emo­



Literatur   225

tionsausdruck und expliziter wie impliziter Emotionsthematisierung in komplexen Texten finden sich bei Schwarz-Friesel (2007, 210 ff.). Es wird gezeigt, wie sich das Emotionspotenzi­ al eines Textes aus einer Interaktion verschie­ dener Faktoren (wie Lexemselektion, Satzmo­ dus, Informationsstrukturierung, Kohärenz und antizipierten Inferenzen) ergibt und lingu­ istisch beschrieben werden kann. Verschiede­ ne Textsorten thematisieren dabei spezifische Emotionen wie Angst, Liebe oder Hass auf spe­ zifische Weise. Die „emotive Wende“, die in der Psychologie schon weiter fortgeschritten ist, zeigt also auch in der Sprachwissenschaft (vgl. Schwarz 2008, 127 ff.) und Sprachdidaktik (vgl. Lüdtke 2006a/b) ihre Spuren.

5  Mehrsprachigkeit Wie die Sapir-Whorf-Hypothese impliziert (vgl. 2), bringt das Erlernen einer neuen Spra­ che (→ Interkulturalität und Mehrsprachig­ keit, → DaZ, → Frühenglisch) teilweise auch eine neue Kategorisierung der Wirklichkeit mit sich. Wenn Sprache nicht nur mit Kognition, sondern auch mit Emotion verbunden ist, er­ öffnet sich ein neues Feld, in der der Zusam­ menhang zwischen Mehrsprachigkeit und Ge­ fühlen erforscht wird: Inwieweit fühlt man sich wie „ein anderer Mensch“, wenn man eine an­ dere Sprache spricht? Erste Schritte auf diesem Gebiet sind von Pavlenko (2005, 2006) gemacht worden. Wenn bei der Speicherung von Erfah­ rungen im Gedächtnis die Sprache eine Rolle spielt, ist es bei mehrsprachigen Personen inte­ ressant zu fragen, welche Sprache mit bestimm­ ten Erfahrungen verbunden ist. Einerseits ist zu erwarten, dass das Abrufen und Nacherzäh­ len solcher Erfahrungen gerade in dieser ersten Sprache (L1) leichter ist als in einer (vielleicht später erworbenen) anderen, zweiten Sprache (L2). Aber wie Marian & Kaushanskaya (2008) zeigen, können schmerzhafte Erfahrungen oft gerade leichter in einer „anderen“ Sprache er­ zählt werden – etwas was Pavlenko (2005) „L2

detachment effect“ genannt hat. Diese Einsicht kann in einem (sprach)therapeutischen Kon­ text wichtig sein.

6  Ausblick In diesem Beitrag wurde gezeigt, dass die Ko­ gnition des Menschen wesentlich stärker mit der Emotion interagiert als bis vor kurzem an­ genommen wurde, und so kommt auch die Linguistik nicht um die Frage herum, inwie­ weit Sprache und Sprachverwendung durch emotionale Faktoren beeinflusst bzw. begleitet werden. Um diese Frage umfassend und prä­ zise beantworten zu können, bedarf es noch weiterer interdisziplinärer Forschung.

Literatur Allan, K. (2007): The pragmatics of connotation. Journal of Pragmatics 39, 6, 1047–1057. Allman, J. M., Hakeem, A., Erwin, J. M., Nimchins­ ky, E., & Hof, P. (2001): The anterior cingulate cor­ tex. The evolution of an interface between emotion and cognition. Annals of the New York Academy of Sciences 935, 107–117. Aristoteles (1994): Peri Hermeneias. Übersetzt und erläutert von Hermann Weidemann. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Athanasiadou, A. & Tabakowska, E. (Eds.) (1998): Speaking of emotions. Conceptualization and Ex­ pression. Berlin: de Gruyter. Bakhtin, M. (1981): The dialogical imagination. Aus­ tin: University of Texas Press. Barrett, L. F., Lindquist, K. A. & Gendron, M. (2007): Language as context for the perception of emotion. Trends in Cognitive Sciences 11, 8, 327–332. Barsalou, L. W. (2008): Grounded cognition. Annual Review of Psychology 59, 617–645. Bechera, A. & Bar-On, R. (2006): Neurological sub­ strates of emotional and social intelligence: Evi­ dence from patients with focal brain lesions. In: Cacioppo, J. T., Visser, P. S. & Pickett, C. L. (Eds.) (2006): Social Neuroscience: People thinking about thinking people (13–40). Cambridge (MA): MIT. Beeghly, M. & Cicchetti, D. (1997): Talking about Self and Other: Emergence of an Internal State Lexicon in Young Children with Down Syndrome. Deve­ lopment and Psychopathology 9, 4, 729–748.

226 

Kognition und Emotion

Bloom, L. (22002): The Transition from Infancy to Language. Acquiring the Power of Expression. Cambridge: Cambridge University Press. Bloomfield, L. (1933): Language. New York: Holt, Rinehart and Winston. Bråten, S. (Ed.) (1998): Intersubjective communica­ tion and emotion in early ontogeny. Cambridge: Cambridge University Press. Bråten, S. (2002): Altercentric perception by infants and adults in dialogue: Ego’s virtual participa­tion in alter’s complementary act. In: Stamenov, M. & Gallese, V. (Eds.): Mirror neurons and the evolution of brain and language (273–294). Amsterdam: Benjamins. Bretherton, I., Mc New, S. & Beeghly-Smith, M. (1980): Early person knowledge as expressed in gestural and verbal communication: When do in­ fants acquire a ‚theory of mind‘? In: Lamb, M. & Sherrod, L. R. (Eds.): Infant Social Cognition (333– 373). Hillsdale (NJ): Erlbaum. Bretherton, I., Fritz, J., Zahn-Waxler, C. & Ridgeway, D. (1986): Learning to talk about emotions: A func­ tional perspective. Child Development 57, 3, 529– 547. Bühler, K. (1968 [i. O. 1933]): Ausdruckstheorie. Das System an der Geschichte aufgezeigt. Stuttgart: Fi­ scher. Bühler, K. (31999 [i. O. 1934]): Sprachtheorie: Die Darstellungsfunktion der Sprache. Stuttgart: Lu­ cius & Lucius. Chomsky, N. (1957): Syntactic Structures. The Hague: Mouton. Chomsky, N. (1965): Aspects of the theory of syntax. Cambridge (MA): MIT. – Dt. (1973): Aspekte der Syntax-Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Ciompi, L. & Panksepp, J. (2005): Energetic effects of emotions on cognitions. Complementary psycho­ biological and psychosocial findings. In: Ellis, R. D. & Newton, N. (Eds.): Consciousness & Emotion. Agency, conscious choice, and selective perception (23–55). Amsterdam: Benjamins. Clark, A. (2006): Language, embodiment, and the cog­nitive niche. Trends in Cognitive Sciences 10, 8, 370–374. Colombetti, G. & Thompson, E. (2007): The feeling body: Toward an enactive approach to emotion. In: Overton, W. F., Müller, U. & Newman, J. (Eds.): Body in mind, mind in body: Developmental per­ spectives on embodiment and consciousness (45– 68). Mahwah (NJ): LEA. Damasio, A. (1994): Descartes’ Error. New York: Gros­ set/Putnam. – Dt. (41999): Descartes Irrtum. Füh­ len, Denken und das menschliche Gehirn. Mün­ chen: dtv. Damasio, A. (2000): The feeling of what happens. London: Vintage. – Dt. (2000): Ich fühle, also bin

ich: Die Entschlüsselung des Bewusstseins. Berlin: List. Damasio, A. (2003): Looking for Spinoza: Joy, Sorrow and the Feeling Brain. New York: Minerva. – Dt. (2005): Der Spinoza-Effekt: Wie Gefühle unser Le­ ben bestimmen. Berlin: List. Davidson, R. J. & Scherer, K. R. (2001): Editorial. Emotion 1, 1, 3–4. Darwin, Ch. (1998 [i. O. 1872]): The expression of the emotions in man and animals. Oxford: Oxford University Press. – Dt. (2000): Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren. Frankfurt a. M.: Eichborn. Dornes, M. (2006): Die Seele des Kindes. Entstehung und Entwicklung. Frankfurt a. M.: Fischer. Drescher, M. (2003): Sprachliche Affektivität. Dar­ stellung emotionaler Beteiligung am Beispiel von Gesprächen aus dem Französischen. Tübingen: Niemeyer. Ekman, P. (1999): Facial expressions. In: Dalgleish, T. & Power, M. (Eds.): Handbook of Cognition and Emotion (301–320). Chichester: Wiley. Elster, J. (2004): Emotions and rationality. In: Man­ stead, A., Frijda, N. & Fischer, A. (Eds.): Feeling and Emotions (30–48). Cambridge: Cambridge University Press. Foolen, A. (1997): The expressive function of lan­ guage: Towards a cognitive semantic approach. In: Niemeier, S. & Dirven, R. (Eds.): The Language of Emotions (15–31). Amsterdam: Benjamins. Foolen, A. (2004): Expressive binominal NPs in Ger­ manic and Romance languages. In: Radden, G. & Panther, K.-U. (Eds.): Studies in linguistic motiva­ tion (75–100). Berlin: de Gruyter. Frege, G. (2002 [i. O. 1892]): Über Sinn und Bedeu­ tung. In: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logi­ sche Studien. Sammlung Philosophie, Bd. 4. Göt­ tingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Fries, N. (1994): Grammatik, Emotionen und Äu­ße­ rungsbedeutung. Sprache und Pragmatik 33, 1–37. Fries, N. (2007): Die Kodierung von Emotionen in Texten, Teil 1: Grundlagen. Journal of Literary Theory 1, 2, 293–337. Gallagher, S. (2005): How the body shapes the mind. Oxford: Clarendon. Goldschmidt, W. (2006): The bridge to humanity. New York: Oxford University Press. Green, M. S. (2007): Self-Expression. Oxford: Claren­ don. Greenberg, J. (1963): Some universals of grammar with particular reference to the order of meaning­ ful elements. In: Greenberg, J. (Ed.): Universals of language (73–113). Cambridge (MA): MIT. Greenspan, S. I. & Shanker, S. G. (2004): The first idea: How symbols, language, and intelligence



Literatur   227

evolved from our primate ancestors to modern hu­ man. Cambridge (MA): Da Capo Press. Greenspan, S. I. & Shanker, S. G. (2007): The develop­ mental pathways leading to pattern recognition, joint attention, language and cognition. New Ideas in Psychology 25, 2, 128–142. Harmon-Jones, E. & Winkielman, P. (Eds.) (2007): Social neuroscience: Integrating biological and psychological explanations of social behavior. New York: Guilford. Heidegger, M. (2006 [i. O. 1927]): Sein und Zeit. Tü­ bingen: Niemeyer. Herder, J. G. (1965 [i. O. 1772]): Über den Ursprung der Sprache. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben. Hobson, P. (2002): The cradle of thought: Exploring the origins of thinking. Oxford: Pan. Humboldt, W. von (2003 [i. O. 1827–1829]): Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues. Wiesbaden: Fourier. Hurford, J. R. (2007): The origins of meaning. Lan­ guage in the light of evolution. Oxford: Oxford University Press. Husserl, E. (1993 [i. O. 1913]): Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philo­ sophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Tübingen: Niemeyer. Jakobson, R. (1960): Linguistics and Poetics. In: Se­ beok, Th. A. (Ed.): Style in Language (350–377). Cambridge (MA): MIT. Klann-Delius, G. (2008): Der kindliche Wortschatz­ erwerb. Die Sprachheilarbeit 53, 1, 4–14. Klann-Delius, G. (22008): Spracherwerb. Stuttgart: Metzler. Klann-Delius, G. & Kauschke, C. (1996): Die Ent­ wicklung der Verbalisierungshäufigkeit von inne­ ren Zuständen und emotionalen Ereignissen in der frühen Kindheit in Abhängigkeit von Alter und Affekttyp: Eine explorative, deskriptive Längs­ schnittstudie. Linguistische Berichte 161, 68– 89. Klein, M. (1962): Das Seelenleben des Kleinkindes. Stuttgart: Klett. Koenigs, M., Young, L., Adolphs, R., Tranel, D., Cush­ man, F., Hauser, M. & Damasio, A. (2007): Damage to the prefrontral cortex increases utilitarian mo­ ral judgments. Nature 446, 908–911. Konstantinidou, M. (1997): Sprache und Gefühl. Se­ miotische und andere Aspekte einer Relation. Pa­ piere zur Textlinguistik. Bd. 71. Hamburg: Buske. Kövecses, Z. (2000): Metaphor and emotion: Lan­ guage, culture, and body in human feeling. Cam­ bridge: Cambridge University Press. Krause, M. & Ruge, N. (Hrsg.) (2004): Das war echt Spitze! Zur Exklamation im heutigen Deutsch. Tü­ bingen: Stauffenburg.

Kristeva, J. (1978): Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kristeva, J. (1998): The subject in process. In: ffrench, P. & Lack, R.-F. (Eds.): The Tel Quel Reader (133– 178). London: Routledge. Kristeva, J. (2002): Desire in language. In: Oliver, K. (Ed.): The portable Kristeva. European perspec­ tives: A series in social thought & cultural criticism (93–115). New York: Columbia University Press. Lacan J. (31987): Das Seminar. Buch XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Weinheim: Beltz. Lascaratou, Ch. (2007): The language of pain. Ex­ pression or description? Amsterdam: Benjamins. Lakoff, G. & Johnson, M. (1980): Metaphors we live by. Chicago: University of Chicago Press. Langacker, R. (1987): Foundations of cognitive gram­ mar, Vol. 1. Stanford: Stanford University Press. LeDoux, J. E. (1998): The Emotional Brain. The Mys­ terious Underpinnings of Emotional Life. London: Weidenfeld & Nicolson. – Dt. (2001): Das Netz der Gefühle: Wie Emotionen entstehen. München: dtv. Leibniz, G. W. (1998 [i. O. 1714]): Monadologie. Stutt­ gart: Reclam. Levinson, S. (2003): Space in language and cogni­tion. Explorations in cognitive diversity. Cambridge: Cambridge University Press. Locke, J. (1975 [i. O. 1690]): An essay concerning hu­ man understanding. Oxford: Clarendon. – Dt. (2000): Ein Versuch über den menschlichen Ver­ stand. Hamburg: Meiner. Lucy, J. (1992): Grammatical categories and cogni­ tion: A case study of the linguistic relativity hypo­ thesis. Cambridge: Cambridge University Press. Lüdtke, U. (2006a): Emotion und Sprache: Neurowis­ senschaftliche und linguistische Relationen. Die Sprachheilarbeit 51, 4, 160–175. Lüdtke, U. (2006b): Intersubjektivität und Intertex­ tualität: Neurowissenschaftliche Evidenzen für die enge Relation zwischen sprachlicher und emotio­ naler Entwicklung. Sonderpädagogische Förde­ rung 3, 51, 275–297. Lüdtke, U. (2011): Relational Emotions in semiotic and linguistic development. Towards an intersub­ jective theory of language learning and language theory. In: Zlatev, J., Foolen, A., Racine, T. & ­Lüdtke, U. (Eds.) (2011): Moving ourselves, mov­ ing others: Motion and emotion, intersubjectivity, consciousness, and language. Consciousness and Emotion Series. Am­sterdam: Benjamins. Lüdtke, U. & Frank, B. (2007): Die Sprache der Ge­ fühle – Gefühle in der Sprache. Ausdruck, Ent­ wicklung und pädagogische Regulation von Emo­ tionen am Beispiel der Jugendsprache. In: Arnold, R. & Holzapfel, G. (Hrsg.): Emotionen und Ler­

228 

Kognition und Emotion

nen. Die vergessenen Gefühle in der Erwachse­ nenpädagogik. Reihe: Grundlagen der Berufs- und Er­wachsenenbildung (119–142). Hohengehren: Schnei­der. Malloch, S. (1999): Mother and infants and commu­ nicative musicality. Musicae Scientiae (Special Is­ sue 1999–2000), 29–57. Malloch, S. & Trevarthen, C. (2008): Communicative Musicality: Exploring the Basis of Human Compa­ nionship. Oxford: Oxford University Press. Marian, V. & Kaushanskaya, M. (2008): Words, fee­ lings, and bilingualism. Cross-linguistic differen­ ces in emotionality of autobiographical memories. The Mental Lexicon 3, 1, 72–90. Matsumoto, D. (2000): Culture and psychology. Bel­ mont (CA): Thomson/Watsworth. Maynard, S. K. (2002): Linguistic emotivity. Centra­ lity of place, the topic-comment dynamic and the ideology of pathos in Japanese discourse. Amster­ dam: Benjamins. Merleau-Ponty, M. (1945): Phénoménologie de la per­ ception. Paris: Gallimard. – Dt. (1976): Phänome­ nologie der Wahrnehmung. Berlin: de Gruyter. Moi, T. (Ed.) (1986): The Kristeva Reader. New York: Columbia University Press. Nöth, W. (22000): Handbuch der Semiotik. Stuttgart: Metzler. Nübling, D. (2004): Die prototypische Interjektion: Ein Definitionsvorschlag. Zeitschrift für Semiotik 26, 1–2, 11–45. Ochsner, K. (2006): Characterizing the functional ar­ chitecture of affect regulation: Emerging answers and outstanding questions. In: Cacioppo, J. T., Vis­ ser, P. S. & Pickett, C. L. (Eds.) (2006): Social Neu­ roscience: People thinking about thinking people (245–267). Cambridge (MA): MIT. Olsson, A. & Ochsner, K. (2008): The role of social cognition in emotion. Trends in Cognitive Scien­ ces 12, 2, 65–71. Panksepp, J. (1998): Affective Neuroscience. The foundations of human and animal emotions. Ox­ ford: Oxford University Press. Papafragou, A., Cassidy, K. & Gleitman, L. (2007): When we think about thinking: The acquisition of belief verbs. Cognition 105, 125–165. Pavlenko, A. (2005): Emotions and multilingualism. Cambridge: Cambridge University Press. Pavlenko, A. (Ed.) (2006): Bilingual minds. Emotio­ nal experience, expression and representation. Cle­ vedon: Multilingual Matters. Papoušek, M. & Papoušek, H. (1989): Stimmliche Kommunikation im frühen Säuglingsalter als Wegbereiter der Sprachentwicklung. In: Keller, H. (Hrsg.): Handbuch der Kleinkindforschung (465– 489). Berlin: Springer.

Rizzolatti, G., Fadiga, L., Fogassi, L. & Gallese, V. (1996): Premotor cortex and the recognition of motor actions. Cognitive Brain Research 3, 131– 141. Rizzolatti, G. & Arbib, M. (1998): Language within our grasp. Trends in Neurosciences 21, 188–194. Rizzolatti, G. & Craighero, L. (2004): The mirrorneuron system. Annual Review of Neuroscience 27, 169–192. Ruthrof, H. (2000): The body in language. London: Cassell. Saussure, F. de (1916): Cours de linguistique géné­rale. Paris: Payot. – Dt. (1931): Grundfragen der Allge­ meinen Sprachwissenschaft. Berlin: de Gruyter. Schmitz, H. (1992): Leib und Gefühl – Materialien zu einer philosophischen Therapeutik. Paderborn: Junfermann. Schwarz, M. (2008): Einführung in die Kognitive Linguistik. 3. aktualisierte Auflage. Tübingen und Basel: Francke. Schwarz-Friesel, M. (2007): Sprache und Emotion. Tübingen und Basel: Francke. Schwarz-Friesel, M. (2008): Sprache, Kognition und Emotion: Neue Wege in der Kognitionswissen­ schaft. In: Kämper, H. & Eichinger, L. (Hrsg.): Sprache – Kognition – Kultur. Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung (277– 301). Berlin: de Gruyter. Sebanz, N., Bekkering, H. & Knoblich, G. (2006): Joint action: Bodies and minds moving together. Trends in Cognitive Sciences 10, 2, 70–76. Skirl, H. & Schwarz-Friesel, M. (2007): Metapher. Heidelberg: Winter. Stamenov, M., Gallese, V. (Eds.) (2002): Mirror neu­ rons and the evolution of brain and language. Amsterdam: Benjamins. Stern, D. (2000 [i. O. 1985]): The interpersonal world of the infant. A view from psychoanalysis and de­ velopmental psychology. New York: Basic Books. – Dt. (2000): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett. Sundararajan, L. & Schubert, L. K. (2005): Verbal ex­ pressions of self and emotions. A taxonomy with implications for alexithymia and related disorders. In: Ellis, R. & Newton, N. (Eds.): Consciousness & emotion: Agency, conscious choices, and selective perception (243–284). Amsterdam: Benjamins. Talmy, L. (1988): Force dynamics in language and cog­nition. Cognitive Science 12, 1, 49–100. Tomasello, M. (1988): The role of joint attentional processes in early language development. Langua­ ge Sciences 10, 1, 69–88. Tomasello, M. (2003): Constructing a language: A usage-based theory of language acquisition. Har­ vard: Harvard University Press.



Literatur   229

Tomasello, M. & Carpenter, M. (2006): Shared inten­ tionality. Developmental Science 10, 1, 121–125. Trevarthen, C. (1979): Communication and coopera­ tion in early infancy: A description of primary in­ tersubjectivity. In: Bullowa, M. (Ed.): Before Speech (321–347). Cambridge: Cambridge University Press. Trevarthen, C. (1998): The concept and foundations of infant intersubjectivity. In: Bråten, S. (Ed.): In­ tersubjective communication and emotion in early ontogeny (15–46). Cambridge: Cambridge Univer­ sity Press. Trevarthen, C. (2001): The neurobiology of ­early com­ munication: Intersubjective regulations in  human brain development. In: Kalverboer, A. F., Gramsber­ gen, A. (Eds.): Handbook on brain and behavior in human development (841–882). Dordrecht: Kluwer. Trevarthen, C. (2004): How infants learn how to mean. In: Tokoro, M., Steels, L. (Eds.): A learning zone of one’s own. (SONY Future of Learning Se­ ries) (37–69). Amsterdam: IOS Press. Watts, F. (1987): Editorial. Cognition and Emotion 1, 1, 1–2. Weigand, E. (2004): Emotion in dialogic interaction. Amsterdam: Benjamins. Whorf, B. L. (1956): Language, thought and reality. Ed. by J. B. Carroll. Cambridge (MA): MIT.

Winnicott, D. W. (1965): The maturational process and the facilitating environment. London: Ho­ garth. Wundt, W. (2007 [i. O. 1900]): Völkerpsychologie. Erster Band: Die Sprache. Mainz: Philo. Young, G. (2008): Clarifying familiarity: Phenome­ nal experiences in prosopagnosia and the capgras delusion. Philosophy, Psychiatry & Psychology 14, 1, 29–37. Ziemke, T., Zlatev, J. & Frank R. M. (Eds.) (2007): Body, language and mind, Vol. 1: Embodiment. Berlin: de Gruyter. Zinken, J., Knoll, M. & Panksepp, J. (2007): Univer­ sality and diversity in the vocalisation of emotions. In: Izdebski, K. (Ed.): Emotions of the human voice. San Diego: Plural Publishing. Zlatev, J., Foolen, A., Racine, T. & Lüdtke, U. (Eds.) (2011): Moving ourselves, moving others: Moti­ on and emotion, intersubjectivity, consciousness, and language. Consciousness and Emotion Series. Amsterdam: Benjamins. Zwaan, R. A. (2004): The immersed experiencer: To­ ward an embodied theory of language compre­ hension. In: Ross, B. H. (Ed.): The Psychology of learning and motivation (35–62). Amsterdam: El­ sevier.

Sprache und Gehirn Eckart Rupp1

1 Die historische Entwicklung der Lokalisation von Sprache im Gehirn Der Beginn der wissenschaftlichen Debatte zur Lokalisation von Sprache im Gehirn wird in der Regel mit den Arbeiten von Paul Broca (u. a. 1861, 1869) in Zusammenhang gebracht. Angeregt durch eine von Ernest Aubertin be­ gonnene Debatte an der Anthropologischen Gesellschaft in Paris seziert Broca das Ge­ hirn seines verstorbenen Patienten Le­borgne („Monsieur Tan“), der seit seinem 31. Lebens­ jahr an einer Sprachstörung litt. ­Leborgne konnte sich nur noch durch Äußerung der Silbe „tan“ sprachlich mitteilen. Broca und Aubertin identifizieren die Hirnschädigung

im mittleren und unteren Bereich des Fron­ tallappens (Lobus frontalis, vgl. Abb.  1). Bro­ ca interpretiert die Läsion am Fuß der dritten Stirnhirnwindung (die pars opercularis [Po] des Gyrus frontalis inferior [Gfi], vgl. Abb. 1) als kausal für die Sprechstörung und bezeich­ net diese mit dem Terminus „Aphemie“. Der Begriff „Aphasie“ für eine neurogene, erwor­ bene Sprachstörung wird erst im Jahre 1864 durch Armand Trousseau in die wissenschaft­ liche Debatte eingeführt. Broca betrachtet das Defizit als Artikulationsstörung und damit nicht als aphasische Sprachstörung im enge­ ren Sinn. Zwischen 1861 und 1866 legt Bro­ ca weitere Fallstudien vor, die seine These von der Bedeutung des Fußes der dritten Frontal­ windung für die Sprechmotorik erhärten. Er ist damit der Erste, der in einer ausführlichen

Abb. 1:  Die linke Hirnhemisphäre mit Lappen, Windungen und Furchen (Fissura sylvii [Fs], Gyrus angularis [Ga], Gyrus frontalis inferior [Gfi], Gyrus frontalis medius [Gfm], Gyrus frontalis superior [Gfs], Gyrus occipitalis [Go], Gyrus orbitalis [Gorb], Gyrus parietalis superior [Gps], Gyrus postcentralis [Gpoc], Gyrus praecentralis [Gprc], Gyrus supramarginalis [Gsm], Gyrus temporalis inferior [Gti], Gyrus temporalis medius [Gtm], Gyrus temporalis superior [Gts], Pars opercularis [Po], Pars orbitalis [Porb], Pars triangularis [Ptri], Sulcus centralis [Sc], Sulcus präcentralis [Sprc], Sulcus temporalis superior [Sts], Temporalpol [Tp])



Die historische Entwicklung der Lokalisation von Sprache im Gehirn   231

Reihe von Falldarstellungen nachweist, dass eine spezifische Gehirnschädigung zu einer neurogenen Sprachstörung führt und zudem auf die Dominanz der linken Hemisphäre für die Sprachverarbeitung aufmerksam macht (vgl. u. a. Bro­ca 1861, 1869, Tesak 2005a). Auf­ grund seiner Pionierleistungen in der neuro­ anatomischen Lokalisation der Sprachproduk­ tion wird das motorische Sprachzentrum in der linken, unteren Stirnhirnwindung (Gyrus frontalis inferior der linken Hemisphäre) heu­ te üblicherweise als „Broca-Areal“ [BA] be­ zeichnet (vgl. Abb. 4).

1.1 Der klassische Lokalisationsansatz Neben den Arbeiten Brocas waren vor allem die Ideen Carl Wernickes wegweisend für die weitere Entwicklung der Lokalisationslehre (Wernicke 1874, Tesak 2005b). Wesentlich beeinflusst durch die Arbeiten seines Lehrers

Theodor von Meynert postuliert Wernicke eine theoretisch hergeleitete funktionelle Arbeits­ teilung im Gehirn (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau). Da die frontalen, vor bzw. an­ terior der Zentralfurche (Sulcus centralis [Sc], Abb. 1) gelegenen Gebiete generell mit motorischen Aspekten des Handelns in Verbin­ dung gebracht werden, dient die linke untere Stirnhirnwindung – das Broca-Areal – aus­ schließlich der Sprachproduktion. Das motorische Sprachzentrum (Brodmann-Areal [BA] 44, 45) liegt direkt vor den motorischen Arealen (Abb. 2) für Kehlkopf-, Lippen-, Wangenund Zungenbewegungen im Gyrus praecentralis ([Gprc], Abb. 1). Wernicke nimmt daher an, dass dort die abstrakten Artikulationsmus­ ter bekannter Wörter gespeichert sind, welche für die Äußerungsproduktion aufgerufen wer­ den müssen. Eine Verletzung des Broca-Areals führt daher zu einer „motorischen Aphasie“ – die „Broca-Aphasie“ der heutigen Termino­ logie – mit dem Unvermögen Lautsprache

Abb. 2: Modalitätsspezifische und supramodale Kortexareale auf einer zellarchitektonischen Karte nach Brodmann unimodale Kortexareale (eine Wahrnehmungsmodalität betreffend): • motorische Areale: primär (Brodmann Areal [BA] 4), sekundär-prämotorisch (BA 6, 8), motorisches Sprachzentrum (BA 44, 45); • somatosensible Areale: primär (BA 1, 2, 3), sekundär (BA 5, 7); • auditorische Areale: primär ([BA] 41), sekundär (BA 42, 22), sensorisches Sprach­zentrum (BA 22 posterior); • visuelle Areale: primär (BA 17), sekundär (BA 18, 19); supramodale Kortexareale (mehrere Wahrnehmungsmodalitäten integrierend): • tertiäre Areale (BA 9, 10, 11, 20, 21, 37, 38, 39, 40, 46)

232 

Sprache und Gehirn

Abb. 3:  Wernicke-Licht­ heim-Schema Schädigungen der einge­ zeichneten Zentren oder deren Verbindungsbahnen (Konnexionen) führen zu der durch die jeweilige Nummer angegebenen Form der Aphasie.

zu produzieren (→ Organische Sprach- und Sprechstörungen). Hinter bzw. posterior des Sulcus centralis und unterhalb der Sylvischen Furche (Fissura Sylvii [Fs], Abb. 1) liegen sensorische Rin­ dengebiete im Okzipital-, Parietal- und Tem­ porallappen für die visuelle (BA 17, 18, 19), taktile (BA 1, 2, 3, 5, 7) und auditorische (BA 41, 42, 22) Wahrnehmung (Abb. 2). Wernicke vermutet analog zu den Bewegungsbildern für Wörter, dass in der Umgebung der Endgebie­ te des Hörnerves (Nervus vestibulocochlearis) Klangbilder von gesprochenen Wörtern ab­ gelegt sein müssen (→ Hören und Sprechen). Der Nervus vestibulocochlearis projiziert au­ ditive Reize in den primären auditorischen Kortex (Gyrus temporalis transversus [BA 41] Abb. 2) im oberen Temporallappen (Gyrus temporalis superior [Gts], Abb. 1). Die audi­ tiven Klangfelder werden daher angrenzend an den primären auditorischen Kortex und posterior des Sulcus centralis im Gyrus tem­ poralis superior angenommen. Sie bilden das sensorische Sprachzentrum (BA 22 posterior, Abb. 2) – das so genannte „Wernicke-Areal“ ([WA], Abb. 4) –, nach dessen Schädigung eine „sensorische Aphasie“ hervorgerufen wird: die „Wernicke-Aphasie“ moderner Prägung. Das sensorische Sprachzentrum (Werni­ cke-Areal) ist mit dem motorischen Sprach­ zentrum (Broca-Areal) über Nervenfasern verbunden. Wernicke lokalisiert zunächst eine Vielzahl von Verbindungsfasern in der tief in der Sylvischen Furche gelegenen In­

selrinde (Insula, siehe Sylvische Fissur [Fs], Abb. 1) und glaubt, dass diese die Verbindung ([→], Abb. 4) bzw. Konnexion zwischen bei­ den Sprachzentren herstellen. Später erkennt er, dass ein massiver Fasertrakt, der Fasciculus arcuatus ([Fa], Abb. 4), die wichtigste Nervenverbindung zwischen beiden Zentren darstellt. Eine Schädigung des Fasciculus ar­ cuatus führt laut Wernicke zu einer so ge­ nannten „Leitungsaphasie“. Er belegt, dass Schädigungen der superioren Temporalwin­ dung (Gyrus temporalis superior [Gts]) tat­ sächlich zu Defiziten im Wortverständnis führen und stützt damit seine Theorie durch empirische Falldarstellungen. In einer spä­ teren Arbeit bespricht Wernicke die Fort­ entwicklung seines ursprünglichen Ansat­ zes durch Ludwig Lichtheim und versieht sie mit seiner eigenen Terminologie (Wernicke 1885/1886, Tesak 2005b). Er differenziert sei­ nen Ansatz weiter aus und unterscheidet in­ nerhalb der Störungsbilder „sensorische“ und „motorische Aphasie“ zwischen deren sub­ kortikalen, kortikalen und transkortikalen Unterformen (→ Organische Sprach- und Sprechstörungen). Das heute unter dem Be­ griff „Wernicke-Lichtheim-Schema“ bekann­ te Modell (vgl. Abb. 3) erlaubt es, aphasische Störungen vorherzusagen, die sich durch Schädigungen von Sprachzentren und deren Konnexionen herleiten lassen. Es stellt da­ mit einen Meilenstein in der neurologischen Erforschung der Sprache dar (→ Sprachent­ wicklung und Sprachabbau).



Die historische Entwicklung der Lokalisation von Sprache im Gehirn   233

1.2 Kritik und Renaissance der ­klassischen Lokalisationstheorie Anfang des 20. Jahrhunderts gerät die klas­ sische Lehrmeinung in die Krise. Eine Kritik manifestiert sich am Fehlen des Einbezugs grammatischer Defizite in die klassische Lo­ kalisationstheorie und ihre psychologische Modellierung. Der Begriff „Agrammatismus“ für syntaktische Störungen nach Hirnschädi­ gung wird von Arnold Pick (1913) durchge­ setzt. Pick beschreibt in einer Monographie detailliert den Akt der Versprachlichung von der kommunikativen Intention bis zur Formu­ lierung und erörtert ausführlich die syntakti­ sche Sprachstörung, welche er unter die Be­ zeichnung „Agrammatismus“ subsumiert. Er lokalisiert die zu einem Agrammatismus füh­ rende Schädigung im Temporallappen und ar­ gumentiert scharf gegen eine Lokalisation im Frontalhirn bzw. im Broca-Areal, da das Stirn­ hirn nur für motorische Aspekte wie Artikula­ tion und Sprechtempo zuständig sei (ebd., vgl. Abb. 2). Damit unterscheidet Pick die BrocaAphasie als Schädigung der Lautproduktion von dem Phänomen des Agrammatismus, wel­ ches heute als Leitsymptom der Broca-Aphasie betrachtet wird (vgl. Huber & Ziegler 2000). Der eigentliche Angriff auf die klassische Lehrmeinung (vgl. Tesak 2005a) erfolgt durch eine Kritik, die die Grundfesten der Zentren­ lehre erschüttert. Allen voran der Franzose Pierre Marie (1906) stellt die Annahmen von Broca und Wernicke in Frage. Aufgrund ei­ ner Neuuntersuchung der ehemaligen BrocaPatienten Leborgne und Lelong kommt er zu dem Befund, dass die Hirngewebeschädigun­ gen wesentlich umfangreicher sind, als dies von Broca dokumentiert wurde, und keines­ wegs nur klar eingrenzbare Areale des Kor­ tex betreffen. In einer neueren Evaluierung der historischen Fälle mit modernen bildge­ benden Verfahren dokumentieren Dronkers und Kollegen (2007) die Richtigkeit von Ma­ ries Kritik. Leborgnes Schädigungen umfas­ sen sowohl tiefer gelegene subkortikale Areale wie z. B. Basalganglien, Capsula interna und externa als auch weiträumige kortikale Are­

ale, unter anderem neben der Pars opercula­ ris [Po] auch die Pars triangularis [Ptri] der inferioren Stirnhirnwindung (Gyrus fronta­ lis inferior [GFi], Abb. 1) (ebd.). Die Inselrin­ de ist komplett zerstört. Bei Lelong liegt neben der Schädigung des klassischen Broca-Areals (Pars opercularis) eine starke generelle Atrophie (Abbau) der linken Hemisphäre vor, die auf ein demenzielles Syndrom (→ Organische Sprach- und Sprechstörungen) zurückzufüh­ ren ist. Beide Patienten haben Läsionen (Schä­ digungen), die tief bis in die unter der Hirnrin­ de gelegene weiße Substanz reichen und damit deutlich größere hirnstrukturelle Degenerati­ onen als von Broca geschildert (ebd.). Aktuel­ lere Überblicksarbeiten bestätigen, dass iso­ lierte Läsionen der dritten Stirnhirnwindung keine persistierenden Sprachstörungen, son­ dern nur „transiente Aphasien“ („small Broca’s aphasia“) zur Folge haben, die sich in der Re­ gel innerhalb weniger Tage oder Wochen kom­ plett zurückbilden (vgl. Ackermann et al. 1997, Mohr et al. 1978). Eine Broca-Aphasie tritt of­ fenbar nur nach umfassenderen Schädigungen der dritten Stirnhirnwindung auf, wenn auch tiefer gelegene Nervenkerne und Faserbah­ nen in Mitleidenschaft gezogen wurden. Be­ einflusst durch die Kritik an der klassischen Lokalisationslehre ist die strukturelle Bestim­ mung des Broca-Areals daher heute nicht ein­ heitlich und wird in der Regel zumindest um die Pars triangularis des Gyrus frontalis infe­ rior erweitert (Fuster 1989). Die fundamentalste Kritik übt Henry Head (1927) am klassischen „Lokalisationismus“. Er weist die Lokalisation sprachlicher Prozesse mit der Begründung zurück, sie simplifizierte die Komplexität der beschriebenen Kasuisti­ ken und verleiht seiner Abneigung gegen den Lokalisationsansatz verbalen Ausdruck, in­ dem er Wernicke und seine Schüler mit Bezug auf das Wernicke-Lichtheim-Schema abschät­ zig als „Diagramm-Macher“ tituliert. Die har­ sche Kritik der „Anti-Lokalisationisten“ an dieser Theorie führt dazu, dass diese Mitte des 20. Jahrhunderts stark an Bedeutung ver­ liert. Doch in den 60er Jahren des 20.  Jahr­ hunderts belebt der Bostoner Neurologe

234 

Sprache und Gehirn

Abb. 4:  Das WernickeGeschwind-Modell für das Nachsprechen eines gehör­ ten Wortes (Broca-Areal [BA], Fasciculus arcuatus [Fa], primär audito­ risches Areal [paA], primär motorisches Areal [pmA], Verbindungsbahnen [➝], Wernicke-Areal [WA])

Norman Geschwind die Lokalisationsdebatte neu. Er erkennt, dass Schädigungen von ver­ bindenden Fasertrakten zur Deafferenzierung von Kortexarealen (d. h. zu einem Verlust zu­ geführter Wahrnehmungsreize) und damit einhergehend zu den so genannten „Diskon­ nektionssyndromen“ (Verbindungsstörungs­ syndrome) führen (Geschwind 1965). Ge­ schwind führt visuelle Agnosien (Störungen des Erkennens), Apraxien (Störungen von Bewegungsabläufen) (→ Organische Sprachund Sprechstörungen) sowie Wernickes transkortikale Aphasien und Leitungsaphasi­ en (vgl. 1.1) auf die Dekonnektion von Hirn­ rindenarealen zurück und rehabilitiert damit Wernickes Konzeption der zugrundeliegen­ den Leitungsstörungen bei Aphasie (ebd.). Sei­ ne Auslegung geht als „Wernicke-GeschwindModell“ (vgl. Abb. 4) in die Literatur ein und liefert die neuroanatomische Unterfütterung des bis heute prägenden Syndromansatzes in der Aphasiologie (vgl. Tesak 1997).

1.3 Moderne Entwicklungen zur ­Lokalisation der Sprache Trotz der Ausdifferenzierung der Erkenntnisse entzündet sich in den 80er Jahren des 20. Jahr­

hunderts eine ähnliche Kritik am WernickeGeschwind-Modell wie bereits am klassischen Lokalisationsmodell. Einerseits wird die man­ gelnde Korrelation zwischen der Lokalisa­ tion der Schädigung und den auftretenden aphasischen Symptomen bemängelt: So wei­ sen beispielsweise nur 60 % der Patien­ten mit ­Broca-Aphasie auch eine Schädigung des Bro­ ca-Areals auf (Willmes & Poeck 1993). Ande­ rerseits wird die Zusammenfassung einzelner Symptome zu gemeinsamen Symptombün­ deln in Form von „Syndromen“ kritisiert, weil nahezu alle Symptome auch isoliert ohne die mit den Syndromen assoziierten Störungen vorkommen können. Als Reaktion entsteht das Paradigma der „Kognitiven Neurolingu­ istik“ (→ Sprachentwicklung und Sprachab­ bau), welches die neuroanatomisch fundier­ te „Aphasiologie“ ablöst und die linguistische Einzelfallanalyse als adäquateres Erkenntnis­ medium der Aphasieforschung  propagiert. Neben der kognitiven Neurolinguistik tra­ gen die Reaktionszeitstudien bzw. chronome­ trischen Studien in der Psycholinguistik und die Künstliche Intelligenz-Forschung durch die Simulierung von gesunder und gestörter Sprache anhand so genannter „konnektionis­ tischer Netzwerkmodelle“ (vgl. Abb. 7) zu ei­ nem umfassenderen Verständnis der kogni­



Netzwerke der ­Sprachprozessierung   235

tiven Grundlagen menschlicher Sprache bei. Durch die Entwicklung der funktionellen bildgebenden Verfahren – funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT), PositronenEmissions-Tomographie (PET), transkranielle Magnetstimulation (TMS) – und elektrophy­ siologischen Verfahren – ereigniskorrlierte Potenziale (EKP) und Magnetenzephalographie (MEG) – wird es zudem erstmals möglich, dem Gehirn in vivo bei der Arbeit zuzusehen. Dies lenkt das Interesse erneut auf das zen­ tralnervöse Substrat der Sprache. Anfang des 21. Jahrhunderts kristallisiert sich nun zuneh­ mend ein Bild heraus, welches die klassische Konzeption von relativ wenigen umschriebe­ nen Sprachzentren als neuronale Grundlage unserer Sprachfähigkeit verwirft. Vielmehr scheint ein weit verzweigtes Netzwerk teils rechts-, vorwiegend aber linkshemisphäri­ scher Hirnareale für die einzelnen Komponen­ ten der Sprachverarbeitung verantwortlich zu sein. In bildgebenden Verfahren (vgl. Abb. 9) ist die rechtshemisphärische Beteiligung in der Regel schwächer. Sie wird meist in den rechtsseitigen Homologen (Entsprechungen) der linkshemisphärischen Aktivierung nach­ gewiesen. Ein eigenständiger Beitrag der rech­ ten Hemisphäre könnte in der Interpretation prosodischer, figurativer („Metonymien“ und „Metaphern“) und/oder emotionaler Sprach­ inhalte bestehen (→ Kognition und Emotion).

2 Netzwerke der ­Sprachprozessierung Basierend auf der strukturellen und funktio­ nalen Organisation kortikaler und subkortika­ ler Hirngebiete geht man heute von einem in­ teraktiven Zusammenwirken wahrscheinlich mehrerer eng verschalteter „Sprachnetzwer­ ke“ aus (Vigneau et al. 2006). Uni- und supramodale Kortexareale (vgl. Abb. 2) sind sowohl über lange Assoziationsbahnen (Verbindungs­ bahnen) als auch über kurze, benachbarte Rin­ dengebiete miteinander verbindende Fasern

verknüpft (Catani & ffytche). Die Kommuni­ kation verläuft zumindest für die höheren ko­ gnitiven Funktionen, wie z. B. →  Lesen und Schreiben, bidirektional und kann je nach Art der beteiligten Neurotransmitter (u. a. Gluta­ mat, Gamma-Aminobuttersäure, Glycin, Nor­ adrenalin, Dopamin, Acetylcholin, Serotonin) erregenden oder hemmenden Einfluss aus­ üben. Dies erlaubt sowohl parallele wie se­ rielle Verarbeitung und damit einhergehend die hohe Flexibilität in der Reaktion auf ein­ gehende Informationen, die für die Sprachver­ arbeitung benötigt wird (Mesulam 1998). Im kleineren Maßstab dürften zwar anatomisch wie funktional erhebliche interindividuelle Unterschiede bestehen, da die Neuroarchitek­ tur der Sprache nicht unwesentlich durch die persönliche Lerngeschichte beeinflusst wird (ebd.). Doch in räumlich größeren Dimensio­ nen scheint die Sprachfähigkeit über Individu­ en und Einzelsprachen hinweg vergleichbar, nicht zuletzt weil die klassischen um die Syl­ vische Furche gelegenen Sprachareale offen­ sichtlich genetisch prädisponiert sind. Diese genetische Prädisposition zeigt sich vor allem durch die beobachteten Fälle von familiärer Häufung spezifischer Sprachentwicklungs­ störungen (SSES) bzw. Specific Language Impairment (SLI) (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau) und kindlichen Lese-Recht­ schreib-Schwierigkeiten (LRS) (→ Störungen der Lesefähigkeit bei Kindern mit ADHS). Für beide Störungsformen werden Mutationen be­ stimmter Gene (z. B. EKN1, ROBOI1 bei LRS und FOXP2 bei SLI) verantwortlich gemacht (vgl. Smith 2007).

2.1 Semantisch-konzeptuelles ­Netzwerk Wichtige Einblicke in die Struktur der seman­tisch-konzeptuellen Verarbeitung des Ge­hirns ergaben sich durch Fallstudien zu  ka­te­goriespezifischen Wortverarbeitungs­ stö­run­gen.  War­rington und Kollegen wiesen in mehreren Fallstudien nach, dass belebte Dinge (Tiere, Obst und Gemüse) und unbe­

236 

Sprache und Gehirn

lebte Objekte (Werkzeuge) unabhängig von­ einander durch eine Sprachstörung betroffen sein können (Warrington & McCarthy 1987). Die kategoriespezifischen Defizite traten nach Herpes simplex Enzephalitis auf, einer viralen Erkrankungsform, die in erster Linie den in­ ferioren Temporallappen betrifft. Es handelt sich dabei um eine Region, die bis vor kur­ zem nur mit der visuellen Repräsentation von Objekten in Verbindung gebracht wurde: dem so genannten unteren bzw. ventralen visuellen „Was-Pfad“ der linken und der rechten Groß­ hirnhemisphäre (vgl. Abb. 5). Im visuellen Sys­ tem findet eine Arbeitsteilung statt: Kategori­ ale Information, die Zuweisung bestimmter Formen zu einer taxonomischen Klasse von Objekten, wird im inferioren Temporallappen insbesondere im basaltemporalen Gyrus fusiformis ([Gf], Abb. 5b) und deren Endgebieten im ventralen Temporalpol verarbeitet. Da die Bedeutungen von Objekten stark von visuel­ len Erfahrungen (Aussehen, Farbe, Textur der Gegenstände) geprägt sind (→ Sprache und Wahrnehmung), kommt diesem Pfad auch für die verbal-semantische Verarbeitung hohe Bedeutung zu. Im Gegensatz zu früheren An­ nahmen dürfte der „Was-Pfad“ also vor allem polymodale (mehrere Sinneskanäle betreffen­ de) Areale umfassen, die Informationen aus verschiedenen sensorischen und limbischen Gebieten (Hirnareale, die für emotionale Be­ wertungen von Bedeutung sind; → Kognition und Emotion) zu Konzepten integriert (Bright et al. 2007). Visuelle Aspekte der semantischkonzeptuellen Integration scheinen allerdings zu dominieren (ebd.). Die semantischen Area­ le des inferioren Temporallappens sind mit an­ tero-dorsalen Aspekten des Temporallappens (anteriorer Gyrus temporalis superior [aGts], Gyrus temporalis medius [aGtm], Sulcus temporalis superior [aSts], Temporalpol [Tp]) und antero-ventralen Strukturen des Gyrus frontalis inferior ([Porb und Prti], Abb. 5, a/b) ver­ bunden (Catani et al. 2002; Schmahmann et al. 2007, Spitsyna et al. 2006). Die frontalen Are­ ale bilden das Ende des semantischen „WasPfades“, in dem sensorisch-semantische Infor­ mationen integriert und für zu bearbeitende

Aufgaben kurzzeitig aktiviert werden. Ihre Leistung wird daher mit der Funktion eines semantischen Arbeitsgedächtnisses assoziiert (Fie­ bach et al. 2007, Haxby et al. 2000, Martin & Chao 2001, Shvide & Thompson-Schill 2004). Auch der visuelle „Wie-Pfad“ (vgl. Abb. 5) scheint für die semantisch-konzeptuelle Ver­ arbeitung von Sprache wichtig zu sein. Der „Wie-Pfad“ dient der visuellen Kontrolle von sequenziellen Bewegungsabläufen, die bei­ spielsweise beim Greifen nach Gegenständen vonnöten sind. Er verläuft ausgehend vom Okzipitallappen über das parieto-temporale Übergangsgebiet (posteriorer Gyrus temporalis medius [pGtm], Gyrus angularis [Ga], posteriorer Sulcus temporalis superior [pSts]) zum Parietallappen (Gyrus supramarginalis [Gsm], Gyrus parietalis superior [Gps]) und von dort in die prämotorischen und motori­ schen Gebiete des Frontallappens (vgl. Abb. 5a). Untersuchungen mit bildgebenden Ver­ fahren zeigen, dass bei Verständnis und Abruf von Handlungskonzepten (Handlungsver­ ben, Werkzeugnamen) sowohl in parieto-tem­ poralen Gebieten wie auch in den (prä-)mo­ torischen Gesichts-, Hand- und Beinarealen des Frontallappens (posteriorer Gyrus frontalis medius [Gfm], Gyrus frontalis superior [Gfs], Gyrus praecentralis [GPrC], dorsale Pars opercularis [dPop] und dorsale Pars triangularis [dPrti]) vorwiegend linkshemisphä­ rische Aktivierungen auftreten (Grabowski et al. 1998, Pulvermüller et al. 2005, Tettamanti et al. 2005). Gallese und Lakoff (2005) gehen davon aus, dass eine wesentliche Aufgabe des prämotorischen Kortex darin besteht, menta­ le Simulationen für die Planung von motori­ schen Handlungen aufzurufen. Den prämoto­ rischen Arealen käme damit vergleichbar den frontalen semantischen Gebieten des „WasPfades“ die Rolle des Arbeitsgedächtnisses für den „Wie-Pfad“ zu (Haxby et al. 2000). In der Tat zeigten sich in einer neueren fMRI-Studie zur semantischen Kurzzeitspeicherung, in der verschiedene semantische Kategorien darge­ boten wurden, Aktivierungen im antero-ven­ tralen Frontallappen und im prämotorischen Kortex (Fiebach et al. 2007).

Netzwerke der ­Sprachprozessierung   237



Verschiedene semantische Kategorien werden offenbar aufgrund ihrer unterschiedlichen sensorisch-motorischen Assoziationen dif­ ferenziell bearbeitet. Dies erklärt, warum sie auch selektiv voneinander störbar sind. In der Regel ist allerdings von einer engen Interak­ tion beider Pfade auszugehen. Nur so können semantische Merkmale von Objekten zusam­ mengebunden werden, die sowohl über sen­ sorische wie motorische Merkmale verfügen (zum Beispiel Werkzeuge).

Hirnschädigungen, die Rindenbezirke  des semantisch-konzeptuellen Netzwerkes  oder deren verbindende Fasern betreffen, führen zu semantischen Defiziten. Zur Ausbildung des Vollbildes der klassischen WernickeAphasie (vgl. 1.1) bedarf es demnach zusätz­ lich zur Verletzung des posterioren WernickeAreals auch einer Zerstörung → Schädigung der lexikalischen Schnittstelle (siehe nächstes Kapitel) oder Dekonnek­tion von Teilen des semantisch-konzeptuellen Netzwerkes. Reine

dorsaler „Wie-Pfad“

dPop, Dptri, PGfm, pGfs, Gprc: Arbeits­gedächtnis für sem.-motorische Konzepte

Ga, Gps, Gsm, pGtm, pSts: semantisch-motorische Konzepte

ventraler „Was-Pfad“

Porb, vPtri: Arbeitsgedächtnis für sem.sensorische Konzepte

Gti, Gf, Tp: semantisch-sensorische Konzepte

Abb. 5:  Das semantisch-konzeptuelle Netzwerk der linken und rechten Hemisphäre a) lateraltemporale semantische Areale (linke Hemisphäre) b) basaltemporale semantische Areale (rechte Hemisphäre)   bidirektionale Verbindungen (anteriorer Gyrus   bidirektionale Verbindungen (Gyrus fusiformis temporalis medius [aGtm], anteriorer Gyrus tem­ [Gf], Gyrus temporalis inferior [Gti], Temporalpol poralis superior [aGts], anteriorer Sulcus temporalis [Tp]) superior [aSts], dorsale Pars opercularis [dPop], dorsale Pars triangularis [dPtr], Gyrus angularis [Ga], Gyrus praecentralis [Gprc], Gyrus parietalis superior [Gps], Gyrus supramarginalis [Gsm], Gyrus temporalis inferior [Gti], Pars orbitalis [Porb], posteriorer Gyrus frontalis medius [pGfm], posteriorer Gyrus frontalis superior [pGfs], Gyrus posteriorer temporalis medius [Gptm], posteriorer Sulcus temporalis superior [pSts], Temporalpol [Tp], ventrale Pars triangularis [vPtri]

238 

Sprache und Gehirn

Wortabruf- und -verständnisstörungen ohne begleitende Aphasie können nach ausschließ­ licher Schädigung des inferioren Temporallap­ pens und/oder des Parietallappens beobachtet werden. Meist treten solch umschriebene lexikalische Störungen als Folge von demenziellen (semantische Demenz, Demenz vom Alzhei­ mer Typ) oder entzündlichen Erkrankungen (Herpes simplex Enzephalitis) auf.

2.2 Phonologisch-artikulatorisches Netzwerk Wie für die semantische Verarbeitung besteht nach heutiger Auffassung auch für die Sprachperzeption (→ Hören und Sprechen) eine funk­ tionelle und für die Sprachproduktion Arbeits­ teilung. Der auditive „Was-Pfad“ (vgl. Abb. 6) ist für das Wort- und Satzverständnis zuständig. Gehörte Wörter werden vom primären Hörkor­ tex (Gts (BA 41); Abb. 2, 6) in den superioren Temporallappen geleitet. Dort erfolgt eine ers­ te auditiv-phonetische Analyse. Die abstrakte­ re phonologische Repräsentation (→ Sprachent­ wicklung und Sprachabbau) wird im Bereich der oberen und mittleren Temporalwindung und der dazwischen liegenden oberen Temporalfurche (Sulcus temporalis superior [Sts]) vermutet. In­ teressanterweise finden sich im anterioren und posterioren Sulcus temporalis superior [Sts] so­ wohl Aktivierungen bei phonologischen wie bei semantischen Aufgaben (vgl. Hickok & Poeppel 2004, Spitsyna et al. 2006, Vigneau 2006). Dieses Gebiet scheint daher ein guter Kandidat für eine lexikalische Schnittstelle (phonologisch-seman­ tische Integration) zu sein, wie sie im Rahmen von konnektionistischen Netzwerkmodellen des Wortabrufs postuliert werden (Dell 1986, Dell et al. 1997; vgl. Abb. 7). Im letzten Schritt wird der sprachliche Code in unteren Temporallappena­ realen semantisch interpretiert (Hickock & Po­ eppel 2004). Es herrscht Uneinigkeit über den genauen Verlauf des auditiven „Was-Pfades“. Während einige Forscher für eine Verknüp­ fung über den posterioren superioren Tempo­ rallappen zu den semantischen Arealen in den hinteren bzw. caudalen Bedeutungsarealen im

Schläfenlappen argumentieren (ebd.), plädieren andere für einen Verlauf über die vordere bzw. rostrale Route zum anterioren, superioren Tem­ porallappen, den vorne gelegenen semantischen Gebieten des Temporalpols und zum anterioren Gyrus temporalis infer­ior (Scott & Wise 2004). Möglicherweise existieren auch beide Verläufe für den „Was-Pfad“ (vgl. Spitsyna et al. 2006). Die Beleglage zu unterschiedlichen Verarbei­ tungsarealen für sensorische und motorische Information spricht für differenzielle Routen für spezifische semantische Kategorien. Zudem wurden mit bildgebenden Verfahren anteriore und posteriore Aktivierungen im mittleren und unteren Temporallappen beobachtet (ebd.). Der phonetisch-phonologische „Wie-Pfad“ (vgl. Abb. 6) ist für das Nachsprechen von zentraler Bedeutung. Gehörte Sprache wird zunächst im posterioren superioren Schlä­ fenlappen einschließlich des Sulcus tempo­ ralis superior phonetisch und phonologisch analysiert und auf die um das Ende der Syl­ vischen Furche [Fs] gelegene Gegend des Gyrus supramarginalis [Gsm] projiziert. Dieses Areal wirkt als auditiv-motorische Schnitt­ stelle für die Umwandlung bzw. Konversion des auditiv-phonologischen Codes in ein für die Sprachproduktion geeignetes artikula­ torisches Format (ebd.). Vom Gyrus supra­ marginalis aus werden die artikulatorischphonetischen Routinen für die Silbifizierung im Gebiet des inferioren Frontallappen (Pars opercularis) und im prämotorischen Kortex [Gfs, Gprc] aufgerufen (Hickok & Poeppel 2004, Indefrey & Levelt 2004). Eine beson­ dere Rolle für die Planung der Artikulation (→  Hören und Sprechen) kommt scheinbar auch der tief in der Sylvischen Furche gelege­ nen anterioren Inselrinde zu, deren Schädi­ gung mit sprechapraktischen Defiziten ein­ hergeht (Dronkers 1996). Andere Störungen des auditiven „Wie-Pfa­ des“ führen zu „phonologischen Paraphasien“ (phonologischen Entstellungen) beim Nach­ sprechen und in der Spontansprache, wie sie bei Leitungs-, Broca- und Wernicke-Aphasie beobachtet werden (→ Organische Sprachstö­ rungen). Ist die Verbindung zum semantisch-

Netzwerke der ­Sprachprozessierung   239



Pop, GPrc, Gfs, aIns: Silbifizierung und Artikulation

aGti, aGtm, Tp: anteriorer semanti­ scher Pfad

Gsm: auditiv-motorische Konversion

dorsaler „Wie-Pfad“

Sts: lexikalische Schnitt­ stelle

Gts (BA 42, 22): auditiv-phonetische Analyse

pGti, pGtm, Ga: posteriorer semantischer Pfad

ventraler „Was-Pfad“

Gts (BA 41): Hörkortex

Abb. 6:  Das phonologische Netzwerk der linken Hemisphäre   bidirektionale Verbindungen (anteriorer Gyrus temporalis inferior [aGti], anteriorer Gyrus temporalis medius [aGtm], anteriore Inselrinde (aIns], Brodmann Areal [BA], Gyrus angularis [Ga], Gyrus frontalis superior [Gts], Pars opercularis [Pop], posteriorer Gyrus temporalis medius [pGtm], posteriorer Gyrus temporalis inferior [pGti], Sulcus temporalis superior [Sts], Temporalpol [Tp])

konzeptuellen Netzwerk betroffen, so kommt es zu Sprachverständnisproblemen. Eine Schä­ digung der lexikalischen Schnittstelle kann sowohl phonologische wie semantische Defi­ zite nach sich ziehen.

2.3  Morpho-syntaktisches Netzwerk Die Repräsentation des morpho-syntaktischen Netzwerkes wird kontrovers diskutiert. Tradi­

tionelle, der generativen Grammatik (Choms­ ky 1957, 1965, 1995) verpflichtete Ansätze (→ Sprache und Sprechen) gehen von einer regel­ geleiteten, an syntaktischen Strukturen orien­ tierten Implementierung der Syntax im Gehirn aus. Aus dieser Perspektive bilden Hirn­areale, die mit prozeduralem Wissen (Handlungswis­ sen) in Verbindung gebracht werden, attrak­ tive Kandidaten für die morpho-syntaktische Verarbeitung. Prozedurales Wissen ist im Ge­ gensatz zu deklarativem Wissen (bewusst ab­

240 

Sprache und Gehirn

Abb. 7: Beispiel eines interaktiven-konnektionistischen Netzwerkmodells der Wortverarbeitung (aus: Martin & Saffran 2002)

rufbares Faktenwissen) hoch automatisiert und wird ohne bewusste Kontrolle abgerufen. Hierzu zählen neben hochüberlernten kogni­ tiven Fähigkeiten vor allem Bewegungsabläu­ fe wie Gehen oder Rad fahren. Entsprechend werden kortikale und subkortikale (prä-) motorische Areale als Strukturkomponen­ ten des prozeduralen Wissens genannt. Ull­ mann (2004) argumentiert ausführlich für ein (morpho-)syntaktisches Netzwerk aus in­ ferior frontalen (Broca-Areal) und parietalen Kortexgebieten inklusive der subkortikalen Basalganglien (Globus pallidus, Nucleus caudatus, Putamen) und des Kleinhirns. Tatsäch­ lich lässt sich immer wieder mit bildgebenden Verfahren die Beteiligung des Broca-Areals bei rezeptiven und produktiven morpho-syn­ taktischen Aufgaben nachweisen (Bornkessel & Schlesewsky 2006, Friederici 2002, Inde­ frey et al. 2004). Vor dem Hintergrund, dass ausschließliche Schäden des Broca-Areals aber nur zu transienten Aphasien führen (vgl. Ackermann et al. 1997, Mohr et al. 1978), be­

dürfen diese Ergebnisse einer weiterführen­ den Erörterung. Alternativ wird diskutiert, ob es sich bei der Aktivierung des Broca-Areals um ein Epiphänomen (Begleiterscheinung) der gesteigerten kognitiven Anforderungen bei schwierigen sprachlichen Aufgaben han­ deln könnte. Nach wie vor ist umstritten, ob das Broca-Areal an der Verarbeitung spezifi­ scher syntaktischer Prozesse beteiligt ist. Dronkers et al. (2004) machen auf die Be­ deutung des rostralen superioren Tempo­ rallappens für aphasische Satzverständnis­ schwierigkeiten aufmerksam. Diese Befunde decken sich mit den Ergebnissen der bildge­ benden und elektrophysiologischen Untersu­ chungen von Friederici (2002) und Bornkessel & Schlesewsky (2006). Die anterioren tempo­ ralen Areale könnten eine wichtige Rolle beim Zugriff auf lexikalisch-syntaktisches Wissen spielen (syntaktisch-semantische Schnittstel­ le; vgl. Indefrey & Levelt 2004). Gemäß neueren syntaktischen Theorien wird die strenge Trennung zwischen Syntax

Netzwerke der ­Sprachprozessierung   241



und Lexikon zunehmend in Frage gestellt, so dass syntaktische Strukturen in ähnlicher Weise und damit auch in ähnlichen Arealen wie lexikalische Information abgespeichert und verarbeitet werden könnten (Culicover & Jackendoff 2006). Dies könnte erklären, warum in einer Metaanalyse zwar mehrere autonome Regionen für phonologische und semantisch-konzeptuelle Prozessierung ge­ funden wurden, aber nur wenige kortikale pGfm, Pop: morpho-syntaktische Integration

Strukturen identifiziert werden konnten, die exklusiv morpho-syntaktischen Aufgaben dienen (Vigneau et al. 2006). Es scheint eini­ ges für ein enges Zusammenwirken syntak­ tischer und lexikalisch-semantischer Infor­ mation zu sprechen. Dem Broca-Areal (und Teilen des angrenzenden Gyrus frontalis me­ dius) käme in diesem Konzept die Rolle der prozeduralen Kontrolle zu, das heißt der zeit­ lichen und hie­rarchischen Integration pho­ Gsm, Gps: Verbkonzepte

aGtm, aGts, aSts, dTp: Aktivierung von lexika­ lischen Kategorien und syntaktischen Schab­ lonen

Porb, vPtri: semantische Integration

pGtm, pGts, pSts, Ga: Verarbeitung satzseman­ tisch-thematischer Rela­ tionen

Gti, Gf: nominale Konzepte

Abb. 8:  Das syntaktische Netzwerk der linken Hemisphäre   bidirektionale Verbindungen (anteriorer Gyrus temporalis medius [aGtm], anteriorer Gyrus temporalis superior [aGts], anteriorer Sulcus temporalis superior [Gps], Gyrus temporalis inferior [Gti], Pars opercularis [Pop], Pars or­ bitalis [Porb], posteriorer Gyrus frontalis medius [pGfm], posterioer Gyrus temporalis medius [pGtm], posteriorer Sulcus temporalis superior [pSts], ventrale Pars triangularis [vPtri], ventraler Temporalpol [vTp])

242 

Sprache und Gehirn

nologischer, semantischer und syntaktischer Sprachprozesse (Bookheimer 2002, Caplan & Waters 1999, Snyder et al. 2007), wobei satz­ semantische Relationen im antero-ventralen Aspekt [Porb, vPtri] und phonologische sowie morpho-syntaktische Informationen in der posterioren Broca-Region [dPtri, pGfm, Pop] verarbeitet werden. Im antero-dorsalen Tem­ porallappen [aGtm, aGts, aSts, dTp] werden wahrscheinlich lexikalische Wortkategorien und deren syntaktische Schablonen für die Bil­ dung einfacher Phrasenstrukturen aktiviert (Nominalphrasen, Verbalphrasen, Präposi­ tionalphrasen etc.; vgl. Bornkessel & Schle­ sewksy 2006, Dronkers 2004, Friederici 2002), wohingegen die posteriore Sprachregion [Ga, pGts, pGtm, pGti] für die Aktivierung oder Integration satzsemantisch-thematischer Re­ lationen (Agens, Patiens, Thema etc.) in Frage kommt (ebd.). Caplan und Mitarbeiter (2007) verweisen zudem auf die Bedeutung des infe­ rioren Temporallappens [Gti, Gf, vTp] und des superioren Parietallappens [Gps] für syntak­ tische Sprachverständnisleistungen. Shapiro und Kollegen (2006) fanden heraus, dass diese Areale die syntaktischen Kategorien Nomen (inferior-temporal) und Verben (dorso-pari­ etal) differenziell verarbeiten, also gesondert über die semantischen „Was-“ und „Wie-Pfa­ de“ prozessieren. Offenbar sind also auch diese Gebiete für die syntaktisch-semantische Ver­ arbeitung von Bedeutung. Wie diese seman­ tischen Verarbeitungswege mit den syntakti­ schen Arealen verknüpft sind, ist jedoch eine offene Frage. Caplan et al. (2007) plädieren zu­ dem gegen die feste Lokalisation syntaktischer Prozesse im Gehirn und vertreten die Ansicht, dass das syntaktische Netzwerk basierend auf der genetischen Disposition des Einzelnen und dessen spezifischer Lerngeschichte indi­ viduell organisiert ist. Die in Abbildung 8 ge­ zeigte Illustration fasst die oben geschilderten Erkenntnisse graphisch zusammen und ver­ sucht, eine mögliche Lokalisation des syntak­ tischen Netzwerkes vorbehaltlich der geschil­ derten Einwände zu veranschaulichen. Als relativ gesichert gilt, dass Läsionen der anterioren Sprachgebiete (Broca-Areal

und anteriorer Temporallappen) zu agrammatischer Spontansprache führen, während Schädigungen des posterioren Temporallap­ pens mit paragrammatischer Sprache in Ver­ bindung gebracht werden (→ Organische Sprachstörungen).

2.4  Netzwerke für Schriftsprache Auch für die schriftsprachlichen Leistungen (→ Lesen und Schreiben) bestehen ein ven­ traler und ein dorsaler Pfad. Während des Schriftspracherwerbs wird zunächst das seg­ mentale (buchstabierende) Lesen über die Graphem-Phonem-Korrespondenz-Route er­ lernt. Seit den klassischen Fallstudien von De­ jerine (1892) und deren Neubesprechungen durch Geschwind (1962) wird der Gyrus an­ gularis mit dieser Leistung in Verbindung ge­ bracht. Er könnte eine visuo-auditive Schnitt­ stelle zum dorsalen phonologischen Pfad bilden (posteriorer superiorer Temporallappen), der ebenfalls immer bei schriftsprachli­ chen Leistungen aktiviert ist. Mit zunehmen­ der Routine im Lesen etabliert sich ein zweites Schriftsprachareal im basaltemporalen Gyrus fusiformis (Salmelin et al. 1996). Diese Regi­ on wird als visuelles Wortformareal (VWFA; vgl. Abb. 9) bezeichnet und greift ganzheitlich auf die erworbenen visuellen Wortrepräsenta­ tionen zu (Vinckier et al. 2006). Nach erfolg­ ter Aktivierung der visuellen (ventraler Pfad) oder auditiv-phonologischen Wortformen (dorsaler Pfad) wird die semantische Reprä­ sentation kontaktiert und so das verstehende Lesen gewährleistet. Beide Verarbeitungspfa­ de konvergieren im Broca-Areal (Gyrus frontalis inferior [Gfi]) und prämotorischen Kor­ tex (posteriorer Gyrus frontalis medius [Gfm], Gyrus praecentralis [Gprc]; vgl. Abb. 9). Bei Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (LRS) (→ Beeinträchtigungen der Lesefähigkeit bei Kindern mit ADHD) kommt es in der Re­ gel wegen bestehender Probleme in der pho­ nologischen Verarbeitung zu Störungen der segmentalen Route. Das Lesen ist beschwer­ lich und unflüssig. Aufgrund dieser Defizite



Literatur   243

bleiben, aber durch strukturelle Schädigung keine Afferenzen (eingehende Informatio­ nen) aus den Seharealen erhalten (Geschwind 1962). Die reine Agraphie ohne Alexie kann in seltenen Fällen nach Verletzungen des Bro­ ca-Areals und des posterioren Gyrus frontalis medius auftreten (Hillis et al. 2004). Ob dies als Indiz für eine expressive Schriftsprach­ komponente im posterioren Frontallappen zu werten ist, bedarf weiterführender Forschung.

Anmerkung

Abb. 9: fMRT-Aktivierungen beim Lesen (aus: Vigneau 2005)

kann sich das ventrale visuelle Wortformareal nicht oder nicht komplett ausbilden, so dass kein schneller ganzheitlicher Zugriff auf die Wortrepräsentationen möglich ist (Salmelin et al. 1996). Erworbene neurogene Schädigun­ gen der dorsalen Aspekte der Schriftsprach­ routen ziehen „phonologische Alexien“ mit Problemen beim Lesen von grammatischen Morphemen und seltenen Wörtern nach sich. In vielen Fällen treten auch „semantische Pa­ ralexien“ auf; dann liegt eine „Tiefenalexie“ vor. Ist das ventrale Wortformenareal betrof­ fen, so kann bei der „Oberflächenalexie“ nur noch einzelheitlich, Buchstabe für Buchstabe, gelesen werden. Lese- und Schreibprozesse sind eng miteinander verwoben, so dass „Ale­ xien“ (Störungen des Lesens) und „Agraphi­ en“ (Störungen des Schreibens) normalerwei­ se assoziiert auftreten und die beobachteten Fehlertypen vergleichbar sind. Die am Lesen und Schreiben beteiligten hirnanatomischen Regionen dürften daher weitestgehend iden­ tisch sein. Selten treten modalitätsspezifische Schriftsprachstörungen auf. Die reine Alexie ohne Agraphie ist ein Diskonnektionssyn­ drom, das nur zu Tage tritt, wenn die linkshe­ misphärischen Schriftsprachareale verschont

1 Der Artikel war ursprünglich als Koproduktion von Jürgen Tesak und mir geplant. Tragischer­ weise verstarb Jürgen Tesak nach kurzer, heftiger Krankheit am 11. Juni 2007. Durch seinen uner­ warteten Tod verliert Deutschland einen seiner renommiertesten, klinischen Sprachforscher, des­ sen Lehre und Publikationen die deutsche Apha­ siologie nachhaltig geprägt haben. Ich widme ihm diesen Artikel und verabschiede mich von ihm, erfüllt von Dankbarkeit für viele anregende Ge­ spräche und voller Respekt vor seiner Lebensleis­ tung. Eckart Rupp

Literatur Ackermann, H., Wildgruber, D. & Grodd, W. (1997): Neuroradiologische Aktivierungsstudien zur zere­ bralen Organisation sprachlicher Leistungen: Eine Literaturübersicht. Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie 62, 337–344. Bornkessel, I. & Schlesewsky, M. (2006): The exten­ ded argument dependency model: A neurocogni­ tive approach to sentence comprehension across languages. Psychological Review 113, 4, 787–821. Bookheimer, S. (2002): Functional MRI of lan­g uage: New approaches to understanding the cortical or­ ganization of semantic processing. Annual Re­ views of Neurosciences 25, 151–188. Bright, P., Moss, H. E., Longe, O., Stamatakis, E. A. & Tyler, L. A. (2007): Conceptual structure modu­ lates anteromedial temporal involvement in pro­ cessing verbally presented object properties. Cere­ bral Cortex 17, 1066–1073. Broca, P. P. (1861): Perte de la parole, ramollissement chronique de destruction partielle du lobe anté­ rieur gauche du cerveau. Bulletins de la Société d’Anthropologie de Paris, 235–238.

244 

Sprache und Gehirn

Broca, P. P. (1869): Sur le siège de la faculté du langage articulé. Tribune Médicale 14, 254–256; 265–269. Catani, M., Howard, R. J., Pajevic, S. & Jones, D. K. (2002): Virtual in vivo interactive dissection of white matter fasciculi in the human brain. Neuro­ Image 17, 77–94. Catani, M. & ffytche, D. H. (2005): The rises and falls of disconnection syndromes. Brain 128, 2224– 2239. Caplan, D. & Waters, G. S. (1999): Verbal working me­ mory and sentence comprehension. Behavioral and Brain Sciences 22, 77–94. Caplan, D., Waters, G., Kennedy, D., Alpert, N., Mak­ ris, N., DeDe, G., Michaud, J. & Reddy, A. (2007): A study of syntactic processing in aphasia II: Neuro­ logical aspects. Brain and Language 101, 151–177. Chomsky, N. (1957): Syntactic structures. The Hague: Mouton. Chomsky, N. (1965): Aspects of the theory of syntax. Cambridge (MA): MIT. – Dt. (1973): Aspekte der Syntax-Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Chomsky, N. (1995): The minimalist program. Cam­ bridge (MA): MIT. Culicover, P. W. & Jackendoff, R. (2006): The simp­ ler syntax hypothesis. Trends in Cognitive Sciences 10, 9, 413–418. Damasio, H., Tranel, D., Grabowski, T., Adolphs, R. & Damasio, A. (2004): Neural systems behind word and concept retrieval. Cognition 92, 179–229. Dejerine, J. (1892): Contribution à l’étude anatomopathologique et clinique des différentes variétés de cécité verbale. Mémoires de la Société de Biologie 4, 61–90. Dell, G. S. (1986): A spreading activation theory of re­ trieval in sentence production. Psychological Re­ view 93, 3, 283–321. Dell, G. S., Schwartz, M. F., Martin, N., Saffran, E. M. & Gagnon, D. A. (1997): Lexical access in aphasic and nonaphasic speakers. Psychological Review 104, 4, 801–838. Dronkers, N. F. (1996): A new brain region for coor­ dinating speech articulation. Nature 384, 159–161. Dronkers, N. F., Wilkins, D. P., van Valin jr., R. D., Redfern, B. D. & Jaeger, J. J. (2004): Lesion analy­ sis of the brain areas involved in language compre­ hension. Cognition 92, 145–177. Dronkers, N. F., Plaisant, O., Iba-Zizen, M. T. & Caba­ nis, E. A. (2007): Paul Broca’s historic cases: High resolution MR imaging of the brains of Leborgne and Lelong. Brain 130, 1432–1441. Fiebach, C. J, Friederici, A. D., Smith, E. E. & Swinney, D. (2007): Lateral inferotemporal cortex maintains conceptual-semantic representations in verbal working memory. Journal of Cognitive Neurosci­ ence 19, 12, 2035–2049.

Friederici, A. D. (2002): Towards a neural basis of au­ ditory sentence processing. Trends in Cognitive Sciences 6, 2, 78–84. Fuster, J. M. (1989): The prefrontal cortex. Anatomy, physiology and neuropsychology of the frontal lobe. New York: Raven. Gallese, V. & Lakoff, G. (2005): The brain’s concepts: The role of the sensory-motor system in conceptu­ al knowledge. Cognitive Neuropsychology 22, 3/4, 455–479. Geschwind, N. (1962): The anatomy of acquired dis­ orders of reading. In: Money, J. (Ed.): Reading disa­ bility. Baltimore: Johns Hopkins Press. Geschwind, N. (1965): Disconnexion syndromes in animals and man. Brain 88, 237–294; 585–644. Grabowski, T. J., Damasio, H. & Damasio, A. R. (1998): Premotor and prefrontal correlates of cate­ gory-related lexical retrieval. NeuroImage 7, 232– 243. Haxby, J. V., Petit, L., Ungerleider, L. G. & Courtney, S. M. (2000): Distinguishing the functional roles of multiple regions in distributed neural systems for visual working memory. NeuroImage 11, 145–156. Head, H. (1926): Aphasia and kindred disorders of speech. Cambridge: Cambridge University Press. Hickock, G. & Poeppel, D. (2004): Dorsal and ventral streams: A framework for understanding aspects of the functional anatomy of language. Cognition 92, 67–99. Hillis, A. E., Chang, S., Breese, E. & Heidler, J. (2004): The crucial role of posterior frontal regions in mo­ dality specific components of the spelling process. Neurocase 10, 2, 175–187. Huber, W. & Ziegler, W. (2000): Störungen von Spra­ che und Sprechen. In: Sturm, W., Herrmann, M. & Wallesch, C. W. (Hrsg.): Lehrbuch der klinischen Neuropsychologie. Lisse: Swets & Zeilinger. Indefrey, P. & Levelt, W. J. M. (2004): The spatial and temporal signatures of word production compo­ nents. Cognition 92, 101–144. Indefrey, P., Hellwig, F., Herzog, H., Seitz, R. J. & Ha­ goort, P. (2004): Neural responses to the produc­ tion and comprehension of syntax in identical utte­ rances. Brain and Language 89, 312–319. Marie, P. (1906): Révision de la question sur l’aphasie: La troisième circonvolution frontale gauche ne joue aucun rôle spécial dans la fonction du langage. La Semaine Médicale 26, 241–247. Martin, A. & Chao, L. L. (2001): Semantic memory and the brain: Structure and processes. Current Opinion in Neurobiology 11, 194–201. Martin, N. & Saffran, E. M. (2002): The relation­ ship of input and output phonological processing: An evaluation of models and evidence to support them. Aphasiology 16, 1/2, 107–150.



Literatur   245

Mesulam, M. M. (1998): From sensation to cognition. Review article. Brain 121, 1013–1052. Mohr, J. P., Pessin, M. S., Finkelstein, S., Funkenstein, H. H., Duncan, G. W. & Davis, K. R. (1978): Bro­ ca aphasia: Pathologic and clinical. Neurology 28, 311–324. Pick, A. (1913): Die agrammatischen Sprachstörun­ gen. Studien zur psychologischen Grundlegung der Aphasielehre. Berlin: Springer. Pulvermüller, F., Hauk, O., Nikulin, V. V. & Ilmonie­ mi, R. J. (2005): Functional links between motor and language systems. European Journal of Neu­ roscience 21, 793–797. Salmelin, R., Service, E., Kiesilä, P., Uutela, K. & Salo­ nen, O. (1996): Impaired visual word processing in dyslexia revealed with magnetoencephalography. Annals of Neurology 40, 157–162. Schmahmann, J. D., Pandya, D. N., Wang, R., Dai, G., D’Arceuil, H. E., de Crespigny, A. J. & Wedeen, V. J. (2007): Association fibre pathways of the brain: Pa­ rallel observations from diffusion spectrum ima­ ging and autoradiography. Brain 130, 630–653. Scott, S. K. & Wise, R. J. S. (2004): The functional neu­ roanatomy of prelexical processing in speech per­ ception. Cognition 92, 13–45. Shapiro, K. A., Moo, L. R. & Caramazza, A. (2006): Cortical signatures of noun and verb production. Proceedings of the National Academy of Sciences 103, 5, 1644–1649. Shvide, G. & Thompson-Schill, S. L. (2004): Dissocia­ ting semantic and phonological maintenance using fMRI. Cognitive, Affective & Behavioral Neuro­ science 4, 1, 10–19. Smith, S. D. (2007): Genes, language development and language disorders. Mental Retardation and Developmental Disabilities Research Reviews 13, 96–105. Snyder, H. R., Feigenson, K. & Thompson-Schill, S. L. (2007): Profrontal cortices response to conflict du­ ring semantic and phonological tasks. Journal of Cognitive Neurosciences 19, 5, 761–775. Spitsyna, G., Warren, J. E., Scott, S. K., Turkheimer, F. E. & Wise, R. J. S. (2006): Converging language streams in the human temporal lobe. The Journal of Neuroscience 26, 28, 7328–7336. Tesak, J. (1997): Einführung in die Aphasiologie. Stuttgart: Thieme.

Tesak, J. (2005a): Geschichte der Aphasie. Idstein: Schulz-Kirchner. Tesak, J. (2005b): Der aphasische Symptomencom­ plex von Carl Wernicke. Idstein: Schulz-Kirchner. Tettamanti, M., Buccino, G., Saccuman, M. C., Gal­ lese, V., Danna, M., Scifo, P., Fazio, F., Rizzolatti, G., Cappa, S. F. & Perani, D. (2005): Listening to action-related sentences activates fronto-parietal motor circuits. Journal of Cognitive Neuroscience 17, 2, 273–281. Tranel, D., Martin, C., Damasio, H., Grabowski, T. J. & Hichwa, R. (2005): Effects of noun-verb homonymy on the neural correlates of naming concrete entities and actions. Brain and Language 92, 288–299. Trousseau, A. (1864): De l’aphasie, maladie décrite ré­ cemment sous le nom impropre d’aphemie. Gazet­ te des Hôpitaux civils et militaires 37, 13–14, 25– 26, 37–39, 48–50. Ullmann, M. T. (2004): Contributions of memory cir­ cuits to language: The declarative/procedural mo­ del. Cognition 92, 231–270. Vigneau, M., Beaucousin, V., Hervé, P. Y, Duffau, H., Crivello, F., Houdé, O., Mazoyer, B. & Tzourio-Ma­ zoyer, N. (2006): Meta-analyzing left hemisphere language areas: Phonology, semantics and senten­ ces processing. NeuroImage 30, 1414–1432. Vigneau, F., Jobard, G., Mazoyer, B. & Tzourio-Mazo­ yer, N. (2005): Word and non-word reading: What role for the visual word form area? NeuroImage 27, 694–705. Vinckier, F., Naccache, L., Papeix, C., Forget, J., HahnBarma, V., Dehaene, S. & Cohen, L. (2006): „What“ and „where“ in word reading: Ventral coding of written words revealed by parietal atrophy. Journal of Cognitive Neuroscience 18, 12, 1998–2012. Warrington, E. K. & McCarthy, R. A. (1987): Catego­ ries of knowledge. Further fractionations and an attempted integration. Brain 110, 1273–1296. Wernicke, C. (1874): Der aphasische Symptomen­ complex. Eine psychologische Studie auf anatomi­ scher Basis. Breslau: Cohn & Weigert. Wernicke, C. (1885/86): Einige neuere Arbeiten zur Aphasie, Kritisches Referat. Fortschritte in der Medicin 3, 824–830; 4, 371–377; 463–469. Willmes, K. & Poeck, K. (1993): To what extent can aphasic syndromes be localized? Brain 116, 1527– 1540.

Spracherwerb und Sprachverlust Christina Kauschke, Walter Huber & Frank Domahs

Sprache ist eine herausragende Fähigkeit des Menschen. Verbale oder nonverbale Kom­ munikationsmittel werden in jeder Phase des Lebens zur Verständigung mit anderen einge­ setzt. Dabei ist Sprache kein statisches Gebil­ de: Obwohl jeder Mensch prinzipiell über die Fähigkeit, Sprache zu verwenden, verfügt, ist diese Kompetenz nicht bei jedem und nicht zu jedem Zeitpunkt gleich ausgeprägt oder glei­ chermaßen verfügbar. Vielmehr variiert die Sprachbeherrschung in Abhängigkeit vom Lebensalter. Kinder erwerben Sprache meist ohne große Mühe in systematischen Entwick­ lungsschritten während ihrer ersten Lebens­ jahre. Im Laufe des Alterungsprozesses kön­ nen sich später allmähliche Einschränkungen der vorhandenen Sprachfähigkeiten zeigen. Unter bestimmten Bedingungen ist Sprache störanfällig, so dass in der Kindheit oder im Erwachsenenalter Störungen der Sprachbe­ herrschung auftreten können. Der vorliegende Beitrag fokussiert die Dynamik der Sprachbe­ herrschung über die Lebensspanne, wobei so­ wohl ungestörte Erwerbs- bzw. Abbauprozes­ se als auch Sprachstörungen bei Kindern und Erwachsenen einbezogen werden. Da sich die behandelten Prozesse unter einer einheitli­ chen psycholinguistischen Sichtweise betrach­ ten lassen, wird hier der Versuch einer ge­ meinsamen Darstellung unternommen. Damit wird gleichzeitig angestrebt, die derzeit beste­ hende weitgehende Trennung der beiden For­ schungsbereiche zu überwinden. Aus diesem Grund werden Forschungsergebnisse zur Re­ gressionshypothese vertieft diskutiert. Mög­ liche Parallelen zwischen Erwerb und Verlust („was früh erworben wird, ist robuster ge­ gen Störungen und Abbauprozesse“) legen es nahe, die Sprachverarbeitung in der Kindheit und im Erwachsenenalter bzw. im Alter aufein­ ander zu beziehen. Darüber hin­aus sind die Themenbereiche des gestörten Sprach­erwerbs

und des Sprachverlusts bzw. Sprachabbaus ge­ meinsame Gegenstände der klinischen Lingu­ istik und Sprachtherapie, die durch eine auf­ einander bezogene Betrachtung gewinnen können. In diesem Beitrag werden daher die bei­ den großen Themenbereiche nicht separat, sondern unter einer gemeinsamen Perspek­ tive und in einer parallelisierten Gliederung behandelt. Nach einer Darstellung der For­ schungsgeschichte und der Forschungsme­ thoden zu beiden Bereichen werden jeweils zentrale Fragestellungen formuliert, welche Forschungsaktivitäten ausgelöst und die Dis­ kussion bestimmt haben. Grundlegende Er­ kenntnisse werden dazu zusammengefasst, bevor dann der gegenwärtige Forschungs­ stand anhand aktueller Befunde aus empi­ rischen Studien detailliert dargestellt wird. Dies geschieht separat für die verschiedenen sprachlichen Ebenen (Phonetik/Phonologie, Lexikon und Semantik, Syntax und Morpho­ logie, Pragmatik). Die Aussagen zur Regres­ sionshypothese stellen ein verbindendes Ele­ ment dar, da hier Erkenntnisse aus beiden Bereichen direkt zusammenfließen. Das Fazit betont die Notwendigkeit einer intensiveren Verbindung der Theorie und Forschung von kindlichen Erwerbs- und altersbedingten Ab­ bauprozessen einerseits sowie entwicklungs­ bedingten und erworbenen Sprachstörungen andererseits.

1  Definitionen Ausgehend vom Begriff der menschlichen Sprachfähigkeit werden verschiedene Typen des Erwerbs und des Verlusts von Sprache kurz charakterisiert.



Definitionen   247

Menschliche Sprachfähigkeit ist die speziesspezifische Fähigkeit, ein kom­ plexes und arbiträres Symbol- und Regelsys­ tem mit rekursiven Eigenschaften zu erwerben und zur Kommunikation einzusetzen (→ Per­ son und Sprache, → Zeichen und Semiose). Erstspracherwerb, kindliche Sprachentwicklung bezeichnet den Erwerb der Muttersprache im Kindesalter. Der Erwerbsprozess setzt prä­ natal ein und erstreckt sich über das Kindesund Jugendalter. Die wesentlichen Struktu­ ren der Muttersprache werden in den ersten vier Lebensjahren erworben (→  Intersubjek­ tivität und Kommunikation). Dabei werden Entwicklungsmeilensteine durchlaufen, die einer geregelten Abfolge, aber auch interindi­ vidueller Variation unterliegen. Der Spracher­ werbsprozess umfasst die Wahrnehmung und Verarbeitung des sprachlichen Inputs und die Produktion sprachlicher Äußerungen. Bilingualer Spracherwerb bezeichnet den Erwerb zweier (oder mehre­ rer) Muttersprachen von Beginn der Sprach­ entwicklung an; im Idealfall werden beide Muttersprachen gleich gut erworben (→ In­ terkulturalität und Mehrsprachigkeit). Zweitspracherwerb/Fremdspracherwerb umfasst das Erlernen einer Fremdsprache nach Abschluss des Erstspracherwerbs. Im Zweitspracherwerb erfolgt dies weitgehend ungesteuert durch Kontakt zu Sprechern der Zweitsprache; im Fremdspracherwerb erfolgt das Lernen durch explizite Instruktion (→ DaZ). Wird ein Kind im Alter von drei bis fünf Jahren mit der zweiten Sprache konfrontiert, spricht man vom frühen Zweitspracherwerb (→ Interkulturalität und Mehrsprachigkeit). Sprache im Alter umfasst die zunehmenden Einschränkungen der sprachlichen Leistungsfähigkeit im Rah­ men des normalen Alterungsprozesses. Her­ ausragend betroffen sind die Wortfindung und die Verarbeitung komplexer syntakti­

scher Strukturen. Diese Veränderungen sind zunächst sehr subtil und bleiben – nicht zu­ letzt wegen der hohen Redundanz sprachli­ cher Kommunikation – über lange Zeiträume hinweg nahezu unbemerkt. Bestimmte andere sprachliche Leistungen zeigen keine nachweis­ baren Veränderungen im Verlauf des Erwach­ senenalters (z. B. metasprachliches Wissen oder die Selbstkorrektur von Versprechern). Spracherwerbsstörungen/Sprachentwicklungsstörungen bezeichnen eine Störung des Spracherwerbs, bei der die Meilensteine der ungestörten Sprachentwicklung verzögert, verlangsamt, unvollständig oder fehlerhaft vollzogen wer­ den. Die Symptome einer Spracherwerbsstö­ rung können alle sprachlichen Ebenen be­ treffen und die rezeptive und/oder expressive Modalität umfassen (→ Entwicklungsbeding­ te Sprachstörungen). Spracherwerbsstörungen können eingebettet in primäre Störungsbilder oder auch bei weitgehender Intaktheit nicht­ sprachlicher Entwicklungsbereiche auftreten. Im letzteren Fall spricht man von „spezifi­ schen Sprachentwicklungsstörungen“ (SSES). Sprachverlust/Aphasie bezeichnet eine plötzlich eintretende Störung der Sprachfunktion auf Grund einer Hirnschä­ digung nach bereits abgeschlossenem Sprach­ erwerb. Diese Störung kann alle sprachlichen Ebenen und Modalitäten betreffen, wenn auch oft mit unterschiedlicher Gewichtung. Andere kognitive Leistungen können dabei relativ gut erhalten bleiben. Aphasien haben in der Re­ gel erhebliche psychosoziale Beeinträchtigun­ gen zur Folge (→ Neurologische Sprach- und Sprechstörungen). Sprachabbau/Progrediente Sprachstörung umfasst die schrittweise zunehmende Ver­ schlechterung der Sprachfunktion in Folge ei­ ner demenziellen Erkrankung. Der Verlauf ist im Vergleich zu den Veränderungen im Rahmen normaler Alterungsprozesse (s. o.) schneller und umfassender. Dabei kann der Sprachabbau weitgehend isoliert erfolgen (sog. „Primär-

248 

Spracherwerb und Sprachverlust

Progressive Aphasie“) oder im Rahmen ei­ ner übergreifenden demenziellen Erkrankung (z. B. Alzheimer-Demenz) zusammen mit an­ deren kognitiven Ausfällen auftreten. Prinzi­ piell kann die Verschlechterung alle zentralen sprachlichen und sprecherischen Funktio­ nen betreffen. Wie bei plötzlich auftretenden Aphasien auch (s. o.) können die sprachlichen Ebenen bzw. Modalitäten jedoch in Abhängig­ keit vom Fokus des Hirnabbaugeschehens un­ terschiedlich starke Defizite aufweisen.

2 Begriffs- und ­Gegenstands­geschichte 2.1 Geschichte der ­Spracherwerbs­forschung

Abb. 1: Altersabhängige Entwicklung der mittleren Äußerungslänge (MLU) bei drei Kindern (nach Brown 1973)

Die Geschichte der systematischen Spracher­ werbsforschung (vgl. für einen Überblick ­Klann-Delius 22008) begann im 19. Jahrhun­ dert mit Tagebuchstudien. In ihrem Buch „Die Kindersprache“ (41928 [i. O. 1907]) dokumen­ tierten Clara und William Stern detailliert die Wortschatz- und Syntaxentwicklung ihrer drei Kinder und erklärten die Phänomene mit ei­ ner Konvergenztheorie, die sowohl internale Fähigkeiten des Kindes als auch Umweltein­ flüsse einbezieht. Den einzelfallbezogenen Be­ obachtungen folgten breiter angelegte Quer­ schnittsstudien, die den normalen Verlauf des Spracherwerbs durch die Untersuchung grö­ ßerer Stichproben abschätzten, ohne eine Er­ klärung dieser Verläufe anzustreben. Später wurde die Entwicklung von Kindern in Lon­ gitudinalstudien verfolgt, um Veränderungen der Sprachfähigkeiten mit zunehmendem Al­ ter zu erfassen. So zeigte Brown (1973) das Anwachsen der „durchschnittlichen Äuße­ rungslänge“ (mean length of utterance, MLU) in den ersten Lebensjahren bei drei Kindern auf (vgl. Abb. 1). Der MLU-Wert wird bis heu­ te als grobes Maß des Sprachentwicklungs­ standes und der grammatischen Komplexität herangezogen.

Durch die Aufzeichnung von Audio- und Vi­ deodaten konnte die kindliche Sprachpro­ duktion transkribiert und unter verschiede­ nen Gesichtspunkten analysiert werden. Eine Sammlung von Transkripten in einem ver­ einheitlichten Format bietet das internationa­ le CHILDES-Projekt (MacWhinney 1991) an. Die computergestützte und statistische Aus­ wertung verhalf zu einer Verarbeitung größerer Datenmengen, so dass sowohl durchschnittli­ che Tendenzen als auch die Varianzbreite er­ mittelt werden konnten. Neben der Erhebung spontansprachlicher Daten kann die kindliche Sprachkompetenz auch durch die Elizitation bestimmter Äußerungen oder durch gezielte Tests erfasst werden, die auch Verstehensleis­ tungen einschließen (vgl. 2.5). In den letzten beiden Jahrzehnten gewan­ nen experimentelle Methoden der Spracher­ werbsforschung zunehmend an Bedeutung (für Einzelheiten vgl. 2.5). Da diese Verfah­ ren Einblicke in die Sprachverarbeitungsfä­ higkeiten von Geburt an ermöglichten, wur­ den zahlreiche neue Erkenntnisse zur frühen Sprachwahrnehmung gewonnen, die das Wis­ sen über den zeitlichen Ablauf des Spracher­ werbs und über die Fähigkeiten, die schon



Begriffs- und ­Gegenstands­geschichte   249

sehr junge Kinder für den Spracherwerb nut­ zen, erheblich veränderten und erweiterten (→ Intersubjektivität und Kommunikation).

2.2 Geschichte der Erforschung von Spracherwerbsstörungen Die Beschäftigung mit Sprachentwicklungs­ störungen erfolgte zunächst vor allem von Sei­ ten der Medizin, z. B. durch Albert Liebmanns (1901) frühe Beschreibung des „agramma­ tismus infantilis“ (→ Geschichte, → Sprach­ didaktiktheorie). Die medizinische Sichtweise auf kindliche Sprachstörungen ist durch die Zuordnung von Symptomen zu Syndro­ men, die Suche nach biologischen Ursachen, die Bestimmung von Schweregraden und die Verwendung standardisierter Prüfverfahren geprägt. Erst in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden Sprachstörungen auch unter einer linguistischen Perspektive betrach­ tet (→ Geschichte, → Sprachdidaktiktheo­ rie). Das Interesse der Psycholinguistik rich­ tete sich auf die Frage, wie Menschen Sprache erwerben und verarbeiten und wie Sprache im kognitiven System des Menschen veran­ kert ist. Durch Einblicke in gestörte Verar­ beitungs- und Erwerbsprozesse erhoffte man sich Aufschlüsse über die Organisation und die Funktionsweise der menschlichen Sprach­ fähigkeit als Komponente der Kognition. Ein wesentliches Kennzeichen der psycholinguis­ tischen Orientierung ist die Abwendung von ätiologisch begründeten Störungsklassifika­ tionen zugunsten einer detaillierten, linguis­ tisch fundierten Beschreibung der sprachli­ chen Phänomene. Aufgrund der Heterogenität der Erscheinungen, die eine Zuordnung zu Syndromen erschwert, werden Einzelfallstudi­ en stärker gewichtet. Im weiteren Verlauf konzentrierten sich klinische Linguistik, Patholinguistik und Sprachheilpädagogik auf Sprachstörungen als eigenständiges Forschungsgebiet. Im Be­ reich der gestörten Kindersprache stehen seit­ her die Spezifischen Sprachentwicklungsstö­ rungen (SSES) bzw. im Englischen „specific

language impairments“ (SLI) im Zentrum des Interesses. Für dieses Störungsbild waren auch die Bezeichnungen „Entwicklungsdys­ phasie“, „kindlicher Dysgrammatismus“ und „Sprachentwicklungsverzögerung“ gebräuch­ lich, bevor sich der Terminus SSES etablierte (Grohnfeldt 2007). Über die Phänomenologie des Störungsbildes hinaus ist die Entwicklung von Diagnostik- und Therapieverfahren ein zunehmend wichtiges Feld klinischer For­ schung (→ Entwicklungsbedingte Sprachstö­ rungen).

2.3 Geschichte der Erforschung von erworbenen Sprachstörungen (Sprachabbau und Sprachverlust) Auch die systematische wissenschaftliche Be­ schäftigung mit erworbenen Sprachstörungen hat ihre Ursprünge im 19. Jahrhundert. Auch hier waren es naturgemäß zunächst Medizi­ ner – insbesondere „Nervenärzte“ –, die die Entwicklung vorantrieben und die Herange­ hensweise prägten. So sind die Anfänge der modernen Aphasiologie untrennbar mit den Namen Paul Broca (u. a. 1869) und Carl Wernicke (u. a. 1874) verbunden. Beide beschrieben den Zusammenhang bestimmter sprachlicher Symptome (eine herausragende Störung der Sprachproduktion im Fall von Broca bzw. des Sprachverständnisses im Fall von Wernicke) mit Läsionen bestimmter Hirnareale, die heu­ te nach ihnen benannt sind (vgl. Abb. 2) (→ Sprache und Gehirn, → Neurologische Sprachund Sprechstörungen). Recht bald gab es auch im Bereich der erworbenen Sprachstörungen Bestrebungen, die als systematisch postulierten Beziehungen zwischen Symptomen und Läsi­ onsorten durch eine Beschreibung der sprach­ lichen Symptome innerhalb eines Systems von Syndromen und Schweregraden zu ergänzen. So wurde der ursprünglich als Sprech- bzw. motorische Sprachstörung aufgefasste Apha­ sietyp Brocas später (ausgelöst beispielswei­ se durch die Arbeiten Karl Bonhoeffers [1902] und Karl Kleists [1914]) zusätzlich mit syntak­ tischen Störungen im Sinne eines „Agramma­

  

250 

Spracherwerb und Sprachverlust

Abb. 2:  Seitliche Ansicht des Gehirns von Brocas Patient Leborgne (Abbildung aus Dronkers et al. 2007). Die Läsion im unteren Stirnlappen der linken Hemi­ sphäre ist deutlich zu erkennen. Neuere Unter­ suchungen zeigen aber, dass auch weiter innen gelegene Areale betroffen waren.

 

tismus“ assoziiert. Schließlich wurden auch bestimmte prognostische Erwartungen an die Diagnose bestimmter aphasischer Syndrome geknüpft. Ein Aspekt dieser Bestrebungen, er­ worbene Sprachstörungen als klinisch relevan­ te Syndrome zu beschreiben, war der Nachweis ihrer relativen Autonomie von allgemeinen Störungen des Denkens. Damit einher ging viel Überzeugungsarbeit, die zu leisten war, um als „Idioten“ abgestempelte Patienten mit Aphasie vor den Irrenanstalten zu bewahren. Die wohl ernsthaftesten Zweifel am Syn­ dromansatz bezogen sich zunächst auf die Annahme der Organisation von Sprache in lokalisierbaren „Zentren“. Bereits Frederic Bateman (1870) äußerte empirisch fundierte prinzipielle Zweifel an der Lokalisierbarkeit sprachlicher Leistungen. Diese Skepsis am lo­ kalisatorischen Aspekt des Syndromansatzes fand und findet viele weitere Vertreter bis in die heutige Zeit (→ Sprache und Gehirn). His­ torisch gesehen äußerte sie sich in einer hef­ tigen Gegenbewegung von als „holistisch“ zu bezeichnenden Ansätzen, die eng mit den Na­ men Pierre Marie (u. a. Marie 1906) und Henry Head (u. a. Head 1920) verbunden sind. Ein weiterer wesentlicher Kritikpunkt am klassi­ schen Syndromansatz betrifft die konzeptu­ elle Haltbarkeit der postulierten Syndrome. Hier wurde insbesondere die starke Hetero­ genität der zu Syndromen gebündelten apha­ sischen Symptome ins Feld geführt. Der medizinisch geprägte Syndromansatz wurde zunächst durch linguistische, im letz­

ten Viertel des 20. Jahrhunderts zunehmend auch durch an Verarbeitungsmodellen orien­ tierte psycholinguistische Herangehensweisen ergänzt. Während erstere die beobachteten Symptome auf sprachliche Beschreibungs­ ebenen abzubilden versuchten (z. B. Phonolo­ gie, Semantik, Syntax), bezogen sich letztere auf Modelle ungestörter Sprachverarbeitung, um ein beobachtetes sprachliches Symptom funktional (das heißt innerhalb des zu Grun­ de gelegten Modells) zu lokalisieren. Diese Art von „Lokalisierung“ abstrahiert jedoch weitestgehend vom neuronalen Substrat der Schädigung. Es wird also nicht angenommen, dass bestimmte Komponenten der psycho­ linguistischen Verarbeitungsmodelle eindeu­ tig bestimmten Hirnarealen zuzuordnen sei­ en oder dass eine solche Zuordnung für die Diagnose und Therapie kognitiver Leistun­ gen relevant wäre (vgl. Caramazza & Martin 1983). Auch von ihren methodischen Heran­ gehensweisen her unterscheiden sich der Syn­ dromansatz und der modellgeleitete psycho­ linguistische Ansatz prinzipiell: Während ersterer typischerweise über möglichst große Gruppen von Patienten zu generalisieren ver­ suchte, betonte letzterer die Individualität der zu beobachtenden Störungsmuster (vgl. 2.5). Modellorientierte psycholinguistische An­ sätze im Rahmen der so genannten „Kogni­ tiven Neuropsychologie“ stützen sich auf vier Grundannahmen (vgl. Tab. 1). In der letzten Zeit gewann auch zuneh­ mend eine die psychosozialen Auswirkungen



Begriffs- und ­Gegenstands­geschichte   251

Tab. 1: Grundannahmen psycholinguistisch-modellorientierter Ansätze im Rahmen der kognitiven Neuropsychologie (vgl. Coltheart 2001) 1.  Funktionelle Modularität: Eine komplexe Gesamtrepräsentation oder ein komplexer Gesamtprozess ist in autonome Teilrepräsentationen bzw. -prozesse zerlegbar, die arbeitsteilig funktionieren. 2.  Anatomische Modularität (Fraktionierungsannahme): Funktionelle Module sind in anatomisch distinkten Regionen repräsentiert. Diese Annahme schließt auch die Möglichkeit einer netzwerkartigen neuronalen Repräsentation funktionaler Module mit ein, solange diese trotzdem unterschiedlich durch Hirnläsionen störbar sind. 3.  Universalitätsannahme: Die funktionale Architektur kognitiver Systeme (wie des Sprachsystems) ist interindividuell in wesentlichen Aspekten einheitlich. 4.  Subtraktivität (Transparenzannahme): Hirnschädigungen führen zum Verlust von Modulen oder Verarbeitungswegen, nicht aber zur Veränderung bestehender oder zur Hinzufügung neuer Module bzw. Routen. Daraus folgt, dass aus dem Leistungsprofil geschädigter und erhaltener kognitiver Funktionen Rückschlüsse auf unbeeinträchtigte kognitive Repräsenta­  tionen und Prozesse gezogen werden können.

 



  erworbener Sprachstörungen in den Vorder­ grund stellende Herangehensweise an Bedeu­ tung. Diese versucht nicht in erster Linie, die Defizite so genau wie möglich zu beschreiben. Sie betont vielmehr die Auswirkungen die­ ser Defizite auf die Teilhabe der Betroffenen am gesellschaftlichen Leben (→ Behinderung und Vulnerabilität). Operationalisiert wurde diese Herangehensweise insbesondere durch die „International Classification of Functio­ ning, Disability, and Health“ (ICF) der WHO (vgl. DIMIDI 2005) (→ Klassifikation). Eine ausführliche Abhandlung zur Wissenschafts­ geschichte der Aphasiologie findet sich in  Tesak (2005) (→ Sprache und Gehirn).     2.4 Versuch einer Synthese:  Die ­Regressionshypothese   Gibt es einen Zusammenhang zwischen den  Abweichungen von der zielsprachlichen Norm,  wie man sie im normalen Erwerbsprozess oder  bei kindlichen Sprachentwicklungsstörungen findet, und den sprachlichen Mustern nach erworbenen Sprachstörungen bei Erwachse­ nen? Schon Théodule Ribot (1883) äußerte die Vermutung, dass die Reihenfolge des Erwerbs sprachlicher Leistungen in der Kindheit beim Sprachverlust in umgekehrter Abfolge gespie­ gelt wird. Eine ähnliche, jedoch stärker sprach­

      







   





Abb. 3: Querschnitt der Entwicklung des Passivge­ brauchs im Englischen über die Lebensspan­ ne, gemessen als Anteil der verwendeten Passivkonstruktionen in allen Passivkontex­ ten (nach Bates & Goodman 1997) [AD = Patienten mit Alzheimer-Demenz]

wissenschaftlich fundierte Auffassung wur­ de von Roman Jakobson (1941) vertreten und unter der Bezeichnung „Regressionshypothe­ se“ bekannt. Dieser vor allem im Bereich der Phonologie ausgearbeiteten Hypothese zufol­ ge würden beispielsweise Lautpaare, die einen  starken Kontrast bilden, eher erworben (und später verloren) als Lautpaare, die weniger stark kontrastieren. So würde eine Entwick­ lung zu immer feiner differenzierten Kontras­ ten dazu führen, dass beispielsweise Liquide (→ Hören und Sprechen) spät erworben und früh verloren werden. Später wurde die Regres­



252 

Spracherwerb und Sprachverlust

sionshypothese auch auf anderen sprachlichen Ebenen, insbesondere im Bereich der Syntax untersucht (vgl. Abb. 3).

2.5  Forschungsmethoden Gruppen- vs. Einzelfallansatz

Im Rahmen des klassischen Syndromansat­ zes in der Aphasiologie versuchte man, medi­ zinische und sprachliche Symptome (z. B. Lä­ sionsort und syntaktische Leistungen) über möglichst große Gruppen von Patienten zu generalisieren. Eine klassische Art der Frage­ stellung war beispielsweise, ob Patienten mit einer Läsion im Broca-Areal typischerweise auch einen Agrammatismus aufweisen und sich damit von Patienten unterscheiden, die eine Läsion im Wernicke-Areal erlitten haben. Tatsächlich bietet eine solche Art der Heran­ gehensweise die Möglichkeit, klinisch relevan­ te Muster (und somit auch Diagnosen) aus den sehr komplexen Datensätzen herauszu­ filtern, die man schon bei der Durchführung von Standard-Aphasietests erhält. Allerdings geht die Beschränkung auf wenige (üblicher­ weise acht) aphasische Syndrome (→ Neu­ rologische Sprach- und Sprechstörungen) zu Lasten der Genauigkeit der Beschreibung. Ei­ nerseits ist der Zusammenhang zwischen Läsi­ onsort und sprachlichen Symptomen selbst im „Kernbereich“ der vaskulären Ätiologien bes­ tenfalls korrelativer Natur, andererseits sind die auftretenden Kombinationen sprachlicher Symptome sehr heterogen, so dass man sich zwischen zwei methodisch unbefriedigenden Alternativen entscheiden muss: Entweder man kann eine substanzielle Anzahl von Patienten keinem der Syndrome zuordnen oder man ordnet zwar die meisten Patienten einem der Syndrome zu, nimmt aber in Kauf, dass die so erhaltene Diagnose kaum konkrete und ver­ lässliche Aussagen über das tatsächliche Stö­ rungsbild impliziert. Aus diesem Dilemma heraus führt nur eine immer weitere Ausdifferenzierung des Klassi­ fikationssystems durch eine stärkere Homo­ genisierung der Syndrome, von denen jedes

einzelne in der Folge über immer weniger Pa­ tienten generalisiert. Als extremer Endpunkt dieser Entwicklung kann der Einzelfallansatz angesehen werden. Die Vertreter dieses Ansat­ zes haben zumeist einen psycholinguistischmodellorientierten Hintergrund (vgl. 2.3). Sie gehen davon aus, dass auf Grund der unüber­ schaubaren Vielzahl der zu beobachtenden Muster von Sprachstörungen kein Patient dem anderen gleicht und deshalb auch keine – auch noch so kleinen – wirklich homogenen Grup­ pen gebildet werden können. Wirklich genaue Aussagen ließen sich folglich nur über einzel­ ne, gut untersuchte Patienten machen (vgl. Caramazza & Mc Closkey 1988). Ein Höchst­ maß an Beschreibungsgenauigkeit wird somit mit einer stark eingeschränkten Generalisier­ barkeit von Störungsmustern erkauft. Im Forschungsfeld der spezifischen Sprach­ entwicklungsstörungen (→ Unterrichts- und Therapieforschung) haben sich Versuche, Subgruppen im Sinne von Syndromen zu bil­ den, nicht durchgesetzt, da die Heterogenität der Symptome und die unklare Ätiologie eine → Klassifikation erschwert. Indirekte Untersuchungsmethoden

Eine Möglichkeit zur Beurteilung sprachlichkommunikativer Leistungen, der Krankheits­ verarbeitung und der Lebensqualität bieten Auskünfte des Patienten selbst (Eigenanamne­ se) oder seines sozialen Umfeldes (Fremdana­ mnese). Dazu dienen in erster Linie klinische Interviews und das Ausfüllen von Fragebögen. Die Eigenanamnese kann bei Patienten mit stärkeren sprachlichen Beeinträchtigun­ gen naturgemäß erschwert sein. Die Anam­ nese mit den Eltern bzw. Bezugspersonen ei­ nes Kindes stellt einen unabdingbaren ersten Schritt bei der Untersuchung von Sprachent­ wicklungsstörungen dar (→  Interdisziplinä­ re Diagnostik). Elternfragebögen dienen der einschätzenden Bewertung früher Sprachfä­ higkeiten, insbesondere des Lexikonumfangs (→ Prävention, → Frühdiagnostik).



Begriffs- und ­Gegenstands­geschichte   253

Verhaltensbasierte Methoden

Die klassische Methode zur Untersuchung von gestörter Sprache bei Kindern und Erwachse­ nen ist die quantitative und qualitative Fehleranalyse. Fehlerarten und Fehlermuster lassen sich in Spontansprachanalysen oder anhand der Reaktionen in Testverfahren/Untersuchungsaufgaben ermitteln. Eine Fehleranalyse erfolgt prinzipiell offline, also ohne einen Bezug zur zeitlichen Dimension der Patientenreaktion. Eine gewisse Möglichkeit, auch diese Dimen­ sion zu betrachten, bietet in den Inputmodali­ täten eine sehr kurze Präsentation der Stimuli (z. B. Tachistoskopie). Reaktionszeitmessungen von manuellen (Knopfdruck) oder verbalen Antworten erlauben zeitliche Untersuchungen auch der Outputmodalitäten. Allerdings kann hierbei nur die Gesamtzeit bis zur Reaktion des Patienten gemessen werden; Aussagen über die Dauer einzelner Verarbeitungsschritte auf dem Weg zu dieser Reaktion sind höchstens indi­ rekt möglich. Eine etwas bessere zeitliche Auf­ lösung bieten beispielsweise Blickbewegungsmessungen bei der Untersuchung des Lesens oder der Objekterkennung. Insbesondere vor dem Aufkommen mo­ derner neurowissenschaftlicher Methoden (vgl. 2.5.4 und 2.5.5) versuchte man, über be­ stimmte Verhaltensmaße (Fehler- und Reak­ tionszeitanalysen) indirekt auch etwas über die für das jeweilige Verhalten verantwortli­ chen Hirnhemisphären zu erfahren. Hierzu werden die Stimuli lateralisiert dargeboten – auditiv beim dichotischen Hören und visuell bei Gesichtsfelduntersuchungen. Während die bisher erwähnten Methoden sich auf die Untersuchung des Patienten selbst beschränken, bietet eine linguistische Konversationsanalyse die Möglichkeit, die kommu­ nikative Interaktion des Patienten mit seinem sozialen Umfeld zu betrachten. Beobachtende neurowissenschaftliche Methoden

Die klassische Methode der Lokalisation ver­ haltensrelevanter Areale bestand in der Verhaltensbeobachtung und späteren Obduktion

(vgl. Abb. 2). Mit der Entwicklung verschiede­ ner strukturell-bildgebender Verfahren  – ins­ besondere Röntgen-Computertomografie (CT) und Magnetresonanztomografie (MRT) – konn­ ten Läsionen auch in vivo untersucht werden. Zusätzlich zur rein strukturellen Untersuchung von Läsionen kann auch die Untersuchung physiologischer Prozesse wie Durchblutung und Stoffwechsel durch die Positronen-Emissionstomografie (PET) und die Single Photon Emission Computed Tomography (SPECT) wertvolle Aussagen über die Funktionsfähig­ keit von Hirngewebe ermöglichen. Während die bisher genannten Verfah­ ren einen Zusammenhang zwischen Ver­ halten (z. B. Sprachverarbeitung) und einer Schädigung des Gehirns herstellen, wurden in den letzten etwa zwanzig Jahren zuneh­ mend Methoden entwickelt, die dem gesun­ den Hirn „bei der Arbeit zuschauen“ können. Dazu können in bestimmten, „funktionel­ len“ Untersuchungsdesigns sowohl PET als auch MRT eingesetzt werden. Letzteres wird in diesem Zusammenhang dann funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) genannt. Um eine praktisch risikolose funktionel­ le Bildgebung insbesondere auch mit klei­ nen Kindern durchführen zu können, eignet sich auch ein Verfahren, das weder Radioak­ tivität noch stärkere Magnetfelder nutzt, um Hirnaktivität zu untersuchen (wie PET und fMRT), sondern Lichtstrahlung in der Nähe des Infrarotspektrums: die Nahinfrarotspektroskopie (NIRS). Üblicherweise untersucht man mit den bisher genannten neurowissenschaftlichen Methoden die räumliche Lokalisation einer kognitiven Leistung im Gehirn. Die zeitliche Auflösung ist typischerweise schlecht. Die Möglichkeit der Untersuchung neurophysio­ logischer Prozesse mit hoher zeitlicher Auf­ lösung bieten insbesondere Messungen der elektrischen bzw. magnetischen Aktivität des Gehirns mittels ereigniskorrelierter elektrischer Potenziale (EKP) bzw. Magnetenzephalografie (MEG). In letzter Zeit kommt es je­ doch verstärkt zu einer Verschmelzung und Kombination der genannten Methoden, um

254 

Spracherwerb und Sprachverlust

für die jeweilige Fragestellung bestmöglich geeignete Verfahren zu erhalten. Manipulative neurowissenschaftliche Methoden

Mit beobachtenden neurowissenschaftlichen Verfahren (vgl. 2.5.4) versucht man, den Zu­ sammenhang zwischen (sprachlichem) Ver­ halten und Hirnaktivität zu beschreiben, ohne in diesen Zusammenhang selbst einzugreifen. Es gibt jedoch auch Verfahren, die über eine künstlich herbeigeführte Änderung der Hirn­ aktivität eine Veränderung im (sprachlichen) Verhalten erzeugen wollen, um daraus Rück­ schlüsse über die funktionelle Neuroanatomie der Sprache ziehen zu können. Zu diesen Ver­ fahren gehört bereits seit einigen Jahrzehnten die intraoperative Stimulation, bei der Ner­ venzellen während einer Operation am offe­ nen Schädel elektrisch gereizt und die Aus­ wirkungen dieser Reizung auf (sprachliches) Verhalten untersucht werden. Eine Möglich­ keit zur Untersuchung der Hemisphärendo­ minanz für bestimmte kognitive Leistungen besteht in der Injektion eines Betäubungsmit­ tels in jeweils eine der beiden Hirnhälften und eine anschließende Verhaltenstestung – dem so genannten Wada-Test. Für Leistungen, die unter Wirkung des Mittels schlechter erbracht werden können als ohne Medikament, ist im Wesentlichen die gerade betäubte Hemisphäre zuständig. Eine neuere Methode, die transkranielle Magnetstimulation (TMS), erzeugt durch Magnetimpulse künstliche transiente Läsio­ nen und untersucht dadurch ausgelöste Ände­ rungen im Verhalten. Dabei kann es sowohl zu Verschlechterungen als auch teilweise zu Ver­ besserungen kognitiver Leistungen kommen.

tude sucking) oder das Design des „preferen­ tial head turn“ bzw. des „preferential looking“. Dabei werden unmittelbare Reaktionen von Säuglingen und Kindern wie Saugen, Kopf­ drehen oder Blickrichtung genutzt (→ Inter­ subjektivität und Kommunikation). Diese Me­ thoden messen entweder, welche Reize Kinder präferieren oder ob sie nach der Gewöhnung an einen Reiz das Einsetzen eines neuen und damit die Unterschiedlichkeit zweier Stimuli bemerken („Habituationsparadigma“). Bei der Methode des „eye tracking“ werden auditive und visuelle Stimuli angeboten und die Blick­ bewegungen als Reaktion auf auditive Stimuli detailliert aufgezeichnet. Einblicke in die neu­ ronale Sprachverarbeitung bei Kindern wer­ den durch den Einsatz von neurowissenschaft­ lichen Methoden möglich, die die Reaktionen des Gehirns bei der Verarbeitung sprachlicher Stimuli messen. Dies ist bei der Ableitung ereigniskorrelierter Hirnpotenziale (EKP) und bei bildgebenden Verfahren (z. B. fMRT und NIRS) der Fall (vgl. 2.5.4). Die hier genannten experimentellen Methoden erlauben oft nur Aussagen über die Mittelung der Reaktionen von größeren Probandengruppen. Sie sind da­ mit wertvolle Forschungsinstrumente, um frü­ he Spracherwerbsfähigkeiten zu untersuchen, lassen sich jedoch nicht ohne Weiteres für eine individuelle Diagnostik gestörter Spracher­ werbsprozesse einsetzen.

3 Zentrale Fragestellungen, ­Probleme und Erkenntnisse 3.1 Spracherwerb

Experimentelle Methoden in der Spracherwerbsforschung

Neuere experimentelle Methoden erlauben es, bereits in sehr frühen Entwicklungsabschnit­ ten Verarbeitungsleistungen durch die kon­ trollierte und gezielte Präsentation von Stimulusreizen zu messen. Hierzu zählen die so genannten „Nuckelexperimente“ (high ampli-

Fragestellungen: Spracherwerb – Anlage oder Umwelt?

Zentrale Fragestellungen der Spracherwerbs­ forschung bestehen zunächst in der Charak­ terisierung der Erwerbsaufgabe und in der Erforschung der Entwicklungsverläufe auf den einzelnen Ebenen (Phonologie, Lexikon/



Zentrale Fragestellungen, ­Probleme und Erkenntnisse   255

Semantik, Grammatik) für die jeweilige Ein­ zelsprache. Kontroversen bestehen weniger hinsichtlich der Dokumentation des Erwerbs­ verlaufs als vielmehr hinsichtlich dessen Er­ klärung. So wird die Humanspezifik von Spra­ che thematisiert (→ Person und Sprache): • Sind nur Menschen in der Lage, ein kom­ plexes Kommunikationssystem zu erwer­ ben und worin besteht diese humanspezi­ fische Qualität (vgl. Hauser, Chomsky & Fitch 2002)? • Ist sprachliches Wissen angeboren oder wird es erlernt? In dieser Zuspitzung ist die grundlegende Fra­ ge nach der Angeborenheit, innateness, von Sprache enthalten, die seit jeher als Kernthema der Spracherwerbsforschung gilt (vgl. Tab.  2) (→ Sprachdidaktiktheorie): • Kommt das Kind vorgeprägt für Spra­ che auf die Welt, ausgestattet mit spezifi­ schen anlagebedingten Fähigkeiten, die in der menschlichen Entwicklungsgeschichte entstanden sind (nativistische Position)? • Oder lernt es Sprache vorrangig durch Kontakt und Kommunikation mit anderen Sprechern (interaktionistische Position)? • Fungiert das Sprachangebot lediglich als Auslöser (Trigger), der das Material zur Ableitung einzelsprachlicher Regularitä­ ten bereitstellt? • Oder wird Sprache maßgeblich im Rah­ men interaktiver Austauschprozesse ver­ mittelt?

nenspezifisches Wissen notwendig ist, das dar­auf spezialisiert ist, nur einen bestimmten Typus von Informationen zu verarbeiten. Erkenntnisse: Aktuelle Modellierungen des Spracherwerbs

Nach der Überwindung streng nativistischer bzw. rein interaktionistischer Extrempositi­ onen kristallisierte sich ein Konsens heraus, der ein dynamisches Wechselspiel innerer und äußerer Parameter im Spracherwerb an­ nimmt. In neueren Emergenzmodellen (z. B. Hollich et al. 2000; vgl. Tab. 2 und Abb. 4) wird Sprache als Entwicklungsprodukt verstanden, das aus einem Zusammenwirken von kindli­ chen Fähigkeiten und Umweltfaktoren her­ vorgeht. Demnach bringen Kinder förderliche Voraussetzungen für den Spracherwerb mit. Diese früh verfügbaren Fähigkeiten bestehen in grundlegenden Wahrnehmungsfunktio­ nen und Lernmechanismen, die es dem Kind ermöglichen, für die im Input reichlich vor­ handenen Hinweise auf sprachsystematische Regularitäten in besonderer Weise sensibel zu sein. Mit Hilfe dieser Prädispositionen verar­ beiten und gewichten sie die Inputinformatio­ nen in effektiver Weise und nutzen sie für den sukzessiven Aufbau sprachlichen Wissens. Unterstützend dazu gestalten die Bezugs­ personen ihr Sprachangebot meist in einer

Eine weitere Problemstellung bezieht sich auf den modularen Charakter (domain specificity) von Sprache: • Wird Sprache über sprachspezifische oder allgemein-kognitive Mechanismen erwor­ ben? Denkbar ist, dass allgemeine kognitive Pro­ zesse auf verschiedene Wissens- und Aufga­ benbereiche anwendbar sind und dement­ sprechend auch für den Spracherwerb genutzt werden. Eine andere Position besteht in der Annahme, dass für den Spracherwerb domä­

Abb. 4: Emergenzmodell für den Spracherwerb (nach Hollich et al. 2000) Verschiedene Hinweisreize werden im Verlauf der Entwicklung unterschiedlich stark gewichtet.

256 

Spracherwerb und Sprachverlust

Tab. 2: Ausgewählte Modellannahmen zur Erklärung des Spracherwerbs Nativistische Position: • Das Kind verfügt über angeborene Fähigkeiten, die es zum Spracherwerb befähigen. • Sprachentwicklung wird als biologisch vorprogrammierte Entfaltung vorhandener sprachlicher Fähigkeiten aufgefasst. • Der Input fungiert als Auslöser/Trigger zur Erkennung von sprachlichen Regularitäten. • Strukturorientierte nativistische Ansätze gehen von angeborenem strukturellen Wissen aus (Prinzipien und Parameter). • Prozessorientierte nativistische Ansätze gehen davon aus, dass Kinder über spezifische Mechanismen zur effizienten Verarbeitung von Sprache verfügen. Interaktionistische Position: • Das Sprachangebot und die Kommunikationsstrategien der Bezugspersonen erleichtern, unterstützen und lenken den Spracherwerb. • Sprache wird im interaktiven Austausch erworben. • Sozial-pragmatische Einflussfaktoren für den Spracherwerb werden betont. Emergenzmodelle: • Hybridmodell • Es werden Wechselwirkungen zwischen kindlichen Prädispositionen und Inputinformationen angenom­ men. • Das Kind nutzt die Hinweisreize des sprachlichen Inputs aktiv und gezielt für den Aufbau sprachlichen Wissens. • Sprache ist ein Entwicklungsprodukt, das aus den Kompetenzen des Kindes, den Charakteristika des sprach­ lichen Inputs und den Reaktionen der Bezugspersonen resultiert.

Weise, die auf das Niveau des Kindes abge­ stimmt ist und den interpersonalen Austausch fördert (→ Sprachdidaktiktheorie). Die Auf­ gabe aktueller Spracherwerbsforschung be­ steht darin, die Prädispositionen auf der einen Seite und die Eigenschaften des Sprachange­ botes auf der anderen Seite genauer zu bestim­ men und die Art der Interaktion beider Kom­ ponenten zu spezifizieren.

3.2  Sprachentwicklungsstörungen Fragestellungen: Charakterisierung von ­Sprach­entwicklungsstörungen

Im Themenbereich der gestörten Sprachent­ wicklung konzentriert sich die Forschung auf die Phänomenologie und die Ätiologie von kindlichen Sprachstörungen: • Welche Bedingungen sind Voraussetzung für einen ungestörten Spracherwerb, unter welchen Umständen sind Spracherwerbs­ störungen zu beobachten? • Wie entstehen Sprachentwicklungsstörun­ gen, durch welche klinischen Erschei­ nungsformen (Symptome) sind sie gekenn­ zeichnet?

• Inwieweit sind Sprachentwicklungsstörun­ gen mit weiteren Auffälligkeiten in nicht­ sprachlichen Entwicklungsbereichen as­ soziiert, das heißt, handelt es sich um eine sprachspezifische oder eine übergreifende Störung? • Lässt sich die Störung als Verzögerung des normalen Verlaufes oder als Abweichung von ungestörten Prozessen interpretieren? Die klinisch orientierte Forschung befasst sich darüber hinaus mit den Zielen, Prinzipien und Methoden in der Diagnostik und Therapie und entwickelt Vorgehensweisen für die Überprü­ fung der Effektivität und Effizienz von Sprach­ therapie bei Kindern (→ Unterrichts- und Therapieforschung, → Qualitätsentwicklung). Erkenntnisse: Klassifikation und Definition von Sprachentwicklungsstörungen

Obwohl der Prozess des Spracherwerbs von nativistisch ausgerichteten Forschern als rela­ tiv robust angesehen wird, ist das sichere Er­ reichen der vollen muttersprachlichen Kom­ petenz nicht garantiert. Liegen bei einem Kind primäre Störungs- oder Krankheitsbil­ der vor, die notwendige Voraussetzungen für



Zentrale Fragestellungen, ­Probleme und Erkenntnisse   257

Tab. 3: Zur Unterscheidung von Spezifischer Sprachentwicklungsstörung (SSES) und eingebetteter Sprach­entwicklungsstörung Spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES): • Beeinträchtigung des Spracherwerbs und des Aufbaus sprachlichen Wissens, die nicht auf organische, men­ tale oder gravierende sozio-affektive Defizite zurückgeführt werden kann. Eingebettete Sprachentwicklungsstörung: • Beeinträchtigung des Spracherwerbs und des Aufbaus des sprachlichen Wissens im Kontext eines primären Störungsbildes wie sensorische Beeinträchtigung, mentale Retardierung, neuronale Schädigung, schwer­ wiegende emotionale Störung (autistisches Spektrum) oder Schädigung der Sprechorgane.

den  Sprach­erwerb beeinträchtigen, so kann daraus eine eingebettete Störung der Sprach­ entwicklung resultieren. Dies kann bei sensorischen Beeinträchtigungen, wie Hör- und Sehbehinderungen (→ Hörstörungen), im Rahmen mentaler Retardierungen z. B. bei ge­ netischen Syndromen und anderen geistigen Behinderungen (→ FS geistige Entwicklung), bei fokalen Hirnverletzungen oder bei Anomalien der Sprechorgane (→ Aussprachestö­ rungen, → Schluckstörungen), der Fall sein. In diesen Fällen ist die Sprachentwicklungs­ störung im Kontext der atypischen Erwerbs­ bedingungen zu sehen. Jedoch verläuft der Spracherwerb bei etwa 5–8 % der Kinder eines Jahrgangs nicht ungestört, obwohl keine offen­ sichtlichen Kausalfaktoren auszumachen sind. Kinder mit diagnostizierbaren Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung, bei denen weder Hörstörungen, mentale Retardierungen, neu­ ronale Schädigungen, Beeinträchtigungen der Sprechwerkzeuge und ihrer Funktionen noch schwerwiegende soziale und emotionale Prob­ leme vorliegen, werden unter dem Begriff der „Spezifischen Sprachentwicklungsstörung“ (SSES) zusammengefasst (Leonard 1998) (vgl. Tab. 3). In der aktuellen Auseinandersetzung mit SSES werden die oben genannten traditio­ nellen Ausschlusskriterien kritisch hinter­ fragt und es findet eine stärkere Hinwendung zu einschließenden, positiven Kriterien statt (Tager-Flusberg & Cooper 1999). Obwohl die Gruppe der SSES-Kinder ein sehr heterogenes Erscheinungsbild aufweist, zeichnet sie sich generell durch einen verzögerten Beginn und verlangsamten Verlauf der Sprachentwicklung und durch rezeptive und/oder produktive De­

fizite auf verschiedenen sprachlichen Ebe­ nen aus. Zu den zentralen sprachspezifischen Symptomen können weitere nicht-sprachliche Auffälligkeiten hinzutreten, die als koexistie­ rende Bedingungen (Komorbiditäten), nicht jedoch als Ursache der Störung gewertet wer­ den. Über die zugrunde liegenden Defizite der SSES wird rege geforscht, ohne dass sich bis­ lang ein eindeutiger ursächlicher Faktor iden­ tifizieren ließe. Laut Bishop (2000) entsteht die SSES aufgrund einer nicht optimalen, un­ zureichenden Art der Verarbeitung und Re­ präsentation von Sprache. Da der Input nicht effektiv genutzt werden kann, verläuft der Spracherwerb langsamer, die Sprachverarbei­ tung erfolgt mühsam und bleibt fragil. Angesichts der Kenntnisse zum Erschei­ nungsbild und Verlauf der SSES gilt es heu­ te als unstrittig, dass eine frühe Identifikation (→ Prävention, → Frühdiagnostik) von auf­ fälligen Kindern und eine rechtzeitige Auf­ nahme von Interventionsmaßnahmen unab­ dingbar ist, um Sprachentwicklungsprozesse möglichst früh zu aktivieren, die Kommuni­ kationsfähigkeit und das sprachliche Wissen des Kindes zu verbessern und um Spätfolgen zu vermindern. Eine gezielte symptomorien­ tierte und sprachspezifische Therapie, die ggf. mit allgemeinen Fördermaßnahmen in vor­ schulischen und schulischen Einrichtungen sowie mit Elternberatung und Elterntraining kombiniert wird, sollte für die betroffenen Kinder zur Verfügung stehen.

258 

Spracherwerb und Sprachverlust

3.3  Sprachverlust und Sprachabbau Fragestellungen: Verschiedene Perspektiven auf erworbene Störungen der Sprache

Ein Themenbereich, mit dem sich die For­ schung in Bezug auf erworbene Sprachstörun­ gen von Anbeginn an beschäftigte, sind die hirnorganischen Grundlagen von Sprachab­ bau und Sprachverlust (vgl. 2.3 und Abb. 2) (→ Sprache und Gehirn). Dabei geht es ne­ ben den klinischen Ursachen und der Loka­ lisierbarkeit von Sprachfunktionen auch um die Frage nach den Möglichkeiten und Gren­ zen der Neuroplastizität im Erwachsenenalter und den Mechanismen der Reorganisation von Sprachfunktionen als Grundlage von Spon­ tanremission und therapeutischer Interven­ tion (vgl. Abb. 9). Hierzu gehören im weite­ ren Sinne auch Fragen nach systematischen Zusammenhängen zwischen einer medizini­ schen, einer linguistischen und einer psycho­ sozialen Beschreibungsebene von erworbenen Sprachstörungen. Ein anderer Forschungszweig beschäftigt sich damit, ob und wenn ja, welche Rück­ schlüsse Störungen eines entwickelten Sprach­ systems auf die Organisation von Sprache bei Gesunden und die Beziehung sprachlicher Funktionen untereinander und zu anderen kognitiven Domänen zulassen. Zu diesem Themenbereich gehören Fragen wie: • Sind Sprache und andere kognitive Domä­ nen modular organisiert, das heißt, sind sie unabhängig voneinander störbar (vgl. Tab. 1)? • Gibt es also systematische Assoziationen oder Dissoziationen zwischen verschiede­ nen kognitiven Leistungsbereichen? In einem klinisch-angewandten Themenkreis geht es um Diagnostik, Prognose und Thera­ pie von erworbenen Sprachstörungen: • Was sind die klinischen Erscheinungsfor­ men (Symptome und ggf. Syndrome) er­ worbener Sprachstörungen? • Wie unterscheiden sie sich vom Sprachab­ bau im Rahmen einer Demenz und im na­ türlichen Alterungsprozess?

• Was sind Ziele, Prinzipien und methodi­ sche Ansätze der Aphasietherapie? • Ist eine Therapie bei fortschreitendem Sprachabbau möglich und sinnvoll? • Was sind die Methoden und Ergebnisse der Überprüfung von Effektivität und Ef­ fizienz von Sprachtherapie? (vgl. zu Diag­ nostik und Therapie erworbener Sprach­ störungen → Neurologische Sprach- und Sprechstörungen). Erkenntnisse: Neuronale und funktionelle ­Dynamik sprachlicher Reorganisation

Nach Abschluss der kindlichen Hirnreifung ist das menschliche Gehirn für Sprache hoch spe­ zialisiert. Bei den meisten Menschen besteht eine Sprachdominanz der linken Hirnhälfte. Dies ermöglicht automatisierte, rasche und hochkomplexe Sprachbeherrschung. Wird das neuronale Substrat der Sprache geschädigt, dann betrifft dies je nach Art und Ausmaß der hirnorganischen Schädigung unterschiedliche Parameter der Sprachverarbeitung und des Sprachwissens. Die erworbenen Sprachstö­ rungen des Erwachsenenalters sind nicht not­ wendigerweise mit Störungen der kognitiven und/oder emotionalen Verarbeitung verbun­ den (→ Kognition und Emotion). Auch sind die Input- und Outputsysteme der Laut- und Schriftsprache getrennt störbar (→ Lesen und Schreiben). Aphasien betreffen die zentra­ le Sprachverarbeitung und das Sprachwissen. Bei Hirnabbauerkrankung im Alter werden je nach Erkrankungstyp in variabler Reihenfolge alle Domänen der kommunikativen Fähigkei­ ten des Menschen erfasst. Da der degenerati­ ve Verlust von neuronalem Gewebe anderen Gesetzmäßigkeiten folgt als Durchblutungs­ störungen bei einem Schlaganfall, entsprechen die resultierenden Störungsmuster bei progre­ dienten Sprachstörungen allerdings selten den klassischen aphasischen Syndromen (→ Neu­ rologische Sprach- und Sprechstörungen). Die gestörten sprachlichen Funktionen lassen sich in Modellen der normalen Sprach­ verarbeitung lokalisieren und ergeben so wichtige Evidenz für die Repräsentation und



Zentrale Fragestellungen, ­Probleme und Erkenntnisse   259

Verarbeitung von Sprache im menschlichen Gehirn (vgl. Tab. 1) (→ Sprache und Gehirn). Darüber hinaus ermöglicht eine Modellorien­ tierung eine störungsspezifische Planung und Kontrolle der Therapie. Die Rückbildung einer Aphasie beruht auf funktioneller Reorganisation der Sprach­ funktionen des Gehirns unter Beteiligung der nicht geschädigten protosprachlichen Funkti­ onen der nichtdominanten rechten Hirnhälf­ te (vgl. 4.5 und Abb. 9). Die Übertragung von sprachlichen Übungs­ effekten in den kommunikativen ­A lltag erfolgt nicht spontan, sondern erfordert besondere Maßnahmen zur Unterstützung von sozialer Partizipation und psychosozialer Krankheits­ verarbeitung einer Aphasie. Dies wird durch gezielte und intensive Sprachtherapie un­ terstützt, die sowohl störungsspezifische als auch kommunikationsorientierte Ansätze verfolgt.

3.4 Fragestellungen, ­Probleme und Erkenntnisse zur ­Regressionshypothese Aktuell lassen sich drei Denkansätze unter­ scheiden, die sich direkt oder indirekt auf die Regressionshypothese Jakobsons beziehen. Wissensbasierte linguistische Ansätze

Eine Gruppe von Ansätzen nimmt – wie schon der von Jakobson (1941) – den ent­ wicklungsbedingten bzw. erworbenen Mangel sprachlichen Wissens als Grundlage der spie­ gelbildlichen Gemeinsamkeiten zwischen Kin­ dersprache und gestörter Sprache im Erwach­ senenalter an. Für diese Art von Ansätzen sind Konzepte wie „linguistische Komplexität“ bzw. „Markiertheit“ die wichtigsten Faktoren in der gruppenübergreifenden Analyse sprachlicher Abweichungen von der Norm. So nimmt bei­ spielsweise Grodzinsky (1990) einen Sprach­ erwerbsprozess an, der ausgehend von ange­ borenen sprachlichen Universalien durch das Setzen von sprachspezifischen Parametern

von zunächst sehr eingeschränkten kindlichen Grammatiken hin zu immer größeren Men­ gen möglicher grammatischer Äußerungen verläuft. Die Sequenz wäre analog zu jener bei erworbenen Sprachstörungen – nur in umge­ kehrter Reihenfolge. Ressourcenbasierte Ansätze

Eine andere Gruppe von Ansätzen geht davon aus, dass es einen Mangel an Verarbeitungsressourcen – beispielsweise im Sinne einer einge­ schränkten Arbeitsgedächtniskapazität – gibt, der verhindert, dass das prinzipiell vorhande­ ne sprachliche Wissen richtig eingesetzt wer­ den kann. Diese Idee wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts von Max Isserlin (1922) und Arnold Pick (1913) für den Agrammatis­ mus von Aphasikern geäußert. Sie erfuhr eine Wiederbelebung durch die Arbeiten von Kolk (vgl. Kolk 1998). Kolk und Avrutin haben sie auch auf entwicklungsbedingte Sprachstö­ rungen und deren Vergleich mit erworbenen Sprachstörungen ausgeweitet (vgl. Avrutin 1999, Kolk 2001 und Abb. 10). Gedächtnisbasierte Ansätze

Schließlich gibt es eine Forschungsrichtung, die sich selbst wohl selten in der Tradition Ja­ kobsons sieht, aber über einen ganz anderen Zugang empirisch zu Ergebnissen kommt, die mit einer abgeschwächten Form der Regres­ sionshypothese vereinbar erscheinen. Diese Ansätze interessieren sich eher für Phänome­ ne und Gesetzmäßigkeiten von Lernen, Erin­ nern und Vergessen (→ Lehren und Lernen). Aus dieser Perspektive heraus konnte vielfach empirisch belegt werden, dass das Alter bzw. die Reihenfolge, in der bestimmte Gedächtnis­ inhalte erworben werden, sowohl den späte­ ren Abruf dieser Gedächtnisinhalte bei gesun­ den Erwachsenen als auch ihre Anfälligkeit bei erworbenen Sprachstörungen beeinflusst. Der Einfluss des Erwerbsalters kann in Kurz­ form wie folgt zusammengefasst werden: Je eher erworben, desto leichter abrufbar und desto besser gegen Vergessen bzw. Verlust ge­

260 

Spracherwerb und Sprachverlust

schützt. Dabei spielt es aus dieser Perspektive prinzipiell keine Rolle, warum die Gedächt­ nisinhalte ursprünglich einmal in dieser spe­ zifischen Reihenfolge erworben wurden. Es ist also denkbar, dass Effekte des Erwerbsal­ ters im Grunde sekundäre Auswirkungen von sprachlicher Komplexität oder Markiertheit, eingeschränkten kindlichen Verarbeitungsres­ sourcen oder anderen Faktoren (wie zum Bei­ spiel der individuellen oder gesellschaftlichen Wichtigkeit bestimmter Begriffe oder deren emotionaler Valenz) (→ Kognition und Emo­ tion) sind. Alle genannten Ansätze sind durch eine gewisse Vagheit in ihren Vorhersagen ge­ kennzeichnet. Das ist in gewissem Maße auch unvermeidlich, wenn man die inhärente He­ terogenität der zu beschreibenden Gruppen berücksichtigt. Es gibt eben nicht den Apha­ siker, so wie es auch nicht das sprachentwick­ lungsgestörte Kind gibt (vgl. 2.5). Zusätzlich dazu bleibt das methodische Problem, wel­ chen Zeitpunkt der kindlichen Entwicklung man denn mit welcher Art von erworbener Sprachstörung vergleichen soll. Eine geord­ nete Sequenz sprachlichen Abbaus gibt es ja nur bei demenziellen Erkrankungen bzw. im normalen Alterungsprozess – nicht aber bei Sprachverlust durch Schlaganfall oder Schä­ del-Hirn-Trauma. Es bleibt überhaupt unklar, ob der postulierte spiegelbildliche Zusam­ menhang auch für sprachentwicklungsgestör­ te Kinder und für den Sprachabbau im Rah­ men von demenziellen Erkrankungen oder im Rahmen des normalen Alterungsprozes­ ses gilt.

4  Aktueller Forschungsstand 4.1  Spracherwerb Frühe Sprachwahrnehmung

Durch experimentelle Studien mit Säuglingen und Kleinkindern hat sich das Wissen über die frühen Fähigkeiten der Sprachwahrnehmung

und -verarbeitung deutlich erweitert (vgl. für einen Überblick Jusczyk 1999) (→ Intersub­ jektivität und Kommunikation). Die Fähigkeit von Kindern, sprachliche Stimuli zu verarbei­ ten, beginnt bereits vor der Geburt. In den ers­ ten Lebenstagen ist eine hohe Sensitivität für Sprache und Stimmen und die Fähigkeit zur Diskriminierung unterschiedlicher Sprachen nachweisbar, im ersten Monat die Fähigkeit zur kategorialen Lautwahrnehmung. Im Ver­ lauf der Entwicklung nimmt die Differenzie­ rungsfähigkeit für nicht-muttersprachliche Kontraste allmählich ab. Wesentlich für die Identifikation und spätere Klassifikation der grundlegenden Einheiten der Sprache ist das Segmentieren des kontinuierlichen Sprach­ stroms. Um Wörter zu segmentieren, nutzt das Kind zunächst prosodische Informationen, bevor es lernt, verschiedene relevante Hin­ weise (prosodische, phonotaktische, distribu­ tionelle und frequenzbasierte Informationen) zu integrieren. Prosodische Hinweise werden auch für die Entdeckung größerer syntakti­ scher Einheiten (Phrasen) herangezogen. Der Ablauf der frühen Sprachwahrnehmung weist darauf hin, dass das Kind mit Hilfe initial ver­ fügbarer Prädispositionen dazu fähig ist, be­ stimmte Informationen aus dem Input gezielt zu suchen und zu verarbeiten. Phonetische und phonologische Entwicklung

Neben den rezeptiven Fähigkeiten der Laut­ wahrnehmung sind im ersten Lebensjahr auch produktive Entwicklungsschritte zu verzeich­ nen. Nach den anfänglichen Phasen des Schrei­ ens und des Gurrens erprobt und verfeinert das Kind seine stimmlichen und artikulatorischen Fertigkeiten in den Phasen des Babbelns. Diese führen über die Vorstufe des „marginal babb­ ling“ zur Produktion kanonischer Silben („ca­ nonical babbling“). Das Kind erweitert sein Lautrepertoire, die Vokalisationen werden strukturierter, vielfältiger und differenzierter („variegated babbling“). Eine schrittweise An­ gleichung an die suprasegmentalen und pho­ netischen Merkmale der Muttersprache findet statt. Papoušek (1994) betont die dialogische



Aktueller Forschungsstand   261

Funktion der frühen Vokalisationsentwick­ lung und wertet die stimmliche Kommunika­ tion zwischen Eltern und Kind als Wegbereiter für spätere Dialoge (→ Intersubjektivität und Kommunikation). Das kanonische Babbeln, das heißt, die Produk­tion wohlgeformter Sil­ ben, die aus Konsonant und Vokal bestehen, wird als Vorläufer der Sprachentwicklung an­ gesehen, dessen Ausbleiben oder verspäteter Beginn auf kommende Sprachentwicklungs­ probleme hinweisen kann (Oller et al. 1999). Die ersten Wörter des Kindes sind hin­ sichtlich ihrer phonologischen Komplexität noch stark vereinfacht. In einem Reorgani­ sationsprozess verändert sich die frühe ho­ listische Speicherung von Wörtern zu einer segmentorientierten Speicherung. Das pho­ nologische System des Kindes ist von sys­ tematischen Vereinfachungsprozessen ge­ prägt, die als regelhafte Abweichungen von zielsprachlichen Wortformen zu beschrei­ ben sind. Im Zuge der Erweiterung des Pho­ neminventars sowie der Ausdifferenzierung der Wort- und Silbenstrukturen werden die­ se allmählich überwunden, bis mit etwa vier Jahren das phonologische System der Mut­ tersprache im Wesentlichen etabliert ist (zur Reihenfolge der Überwindung phonologi­ scher Prozesse im Deutschen vgl. Fox & Dodd 1999) (→  ­Hören und Sprechen, → Ausspra­ chestörungen).

Lexikon- und Semantikerwerb

Der Lexikonerwerb ist ein zentraler Bestandteil des Spracherwerbs (vgl. für einen Überblick Rothweiler & Kauschke 2007). Beim Erwerb einer lexikalischen Einheit müssen Informa­ tionen phonologischer, morphologischer, syn­ taktischer und semantischer Art gespeichert werden. Der Lexikonerwerb umfasst den Er­ werb von Wörtern und Wortbedeutungen, den Aufbau eines lexikalischen Repertoires in der rezeptiven und produktiven Modalität, die Or­ ganisation des mentalen Lexikons im Sinne ei­ nes gegliederten ­Netzwerkes und den Zugriff auf gespeicherte Lexikon­einheiten in der aktu­ ellen Sprachproduktion. Der produktive Lexikonerwerb beginnt im ersten Lebensjahr mit Vorläuferformen, mit denen das Kind Referenz herstellt. Nach einer Phase der Protowörter, deren Verwendung in spezifische Handlungs- und Situations­ kontexte eingebettet ist, erscheinen mit etwa 13  Monaten die ersten „echten“ Wörter, die situationsunabhängig und mit einem festen inhaltlichen Bezug verwendet werden. Mit ca. 18 Monaten setzt der Wortschatzspurt ein; die Geschwindigkeit, mit der neue Wörter erwor­ ben werden, nimmt deutlich zu. Die quan­ titative Entwicklung des Vokabulars zeugt von der beachtlichen Fähigkeit von Kindern, schnell und effektiv neue Wortformen mit

Abb. 5:  Entwicklungsrei­ henfolge der Wortarten bei 32 Kindern (nach Kauschke 2000)

262 

Spracherwerb und Sprachverlust

Bedeutungen zu verknüpfen: das so genann­ te „fast mapping“. Dabei erschließt das Kind semantische Felder und differenziert seinen Wortschatz innerhalb dieser Felder weiter aus. Über- und Unterdehnungen charakte­ risieren den frühen Wortgebrauch und illus­ trieren die Dynamik der kindlichen Bedeu­ tungsentwicklung. Kontroverse Befunde liegen zur Auftre­ tensreihenfolge der Wortarten und zur Kom­ position des Lexikons vor. Hier zeigt sich, dass die Entwicklungsverläufe in Abhän­ gigkeit von der Einzelsprache variieren. Als Tendenz lässt sich feststellen, dass zu Be­ ginn personal-soziale Wörter (Grüße, Flos­ keln etc.), relationale Wörter, Lautmalereien und Personennamen verbreitet sind. Nomen treten ebenfalls früh auf und expandieren in den frühen Stadien, gefolgt von einem line­ aren Anstieg von Verben, deren Auftretens­ zeitpunkt und Anteil in verschiedenen Spra­ chen unterschiedlich ausfällt. Ein Anstieg der Funktionswörter markiert die letzte Welle in der Wortartenentwicklung (vgl. zum Deut­ schen Kauschke 2000, Kauschke & Hofmeis­ ter 2002). Da der Aufbau des Verblexikons eine wichtige Voraussetzung für den Gram­ matikerwerb darstellt, ist hier eine Schnitt­ stelle zwischen Lexikon- und Grammatik­ entwicklung zu sehen. Ein verspäteter Einsatz und verlangsamter Verlauf des Lexikoner­ werbs gilt als Initialsymptom für eine begin­ nende Sprachentwicklungsstörung. Grammatikerwerb: Morphologie

Der Erwerb der Morphologie umfasst die Be­ reiche Wortbildung und Flexion. Wortbildun­ gen tauchen im dritten Lebensjahr auf. In der kindlichen Spontansprache werden zunächst Kompositionen, später Derivationen beobach­ tet (Meibauer 1995, Rothweiler 2002). Innova­ tive Neubildungen belegen, dass Kinder pro­ duktiv mit den Prozessen der Komposition und Derivation umgehen, um lexikalische Lü­ cken zu füllen. Im Bereich der Nominalflexion im Deut­ schen wurden vor allem die Plural- und die

Kasusbildung untersucht. Das Pluralsystem des Deutschen ist ein komplexes System ohne eine einfache Unterscheidbarkeit regulärer und irregulärer Formen und damit ein eher langwieriger Lerngegenstand. Pluralmarkie­ rungen treten in der kindlichen Spontanspra­ che bereits mit 1;4 Jahren auf (Szagun 2001), wobei die Fehlerrate relativ hoch ist. Im Laufe des Vorschulalters wird die Anwendung der verschiedenen Pluralflexive nach und nach si­ cherer (Kauschke et al. 2011, Laaha et al. 2006). Der Erwerb des deutschen Kasussystems erfolgt in mehreren Phasen (Clahsen 1984). Nachdem nominale Satzglieder zunächst gar nicht markiert werden, tauchen kasusneutra­ le Markierungen auf (Nominativ). Im nächs­ ten Stadium wird der Akkusativ auch in Da­ tivkontexten verwendet. Die Komplexität und geringe Transparenz des deutschen Pluralund Kasussystems führt zu relativ langwieri­ gen Lernprozessen, die sich weit in das Vor­ schulalter hinein ziehen. Hinsichtlich des Erwerbs der Verbflexion konnte die von Clahsen (1986) erstellte Reihenfolge im Auftreten der Verbflexive in neueren Studien im Wesentlichen bestätigt werden. Bittner (2000) untersuchte in Ein­ zelfallstudien die allmähliche Entwicklung des verbalen Paradigmas im Deutschen. Die Entwicklung morphologischer Fähigkeiten weist enge Bezüge zur Syntax, insbesondere zur Wortstellung, auf. So korrespondiert die Subjekt-Verb-Kongruenz mit dem Erwerb der Verbzweitstellung; die Beherrschung der Ka­ susmarkierung erlaubt die Bewegung und To­ pikalisierung von Konstituenten. Grammatikerwerb: Syntax

Vorläufer der syntaktischen Entwicklung sind wesentlich früher zu beobachten als lange an­ genommen wurde. Weissenborn (2000) be­ schreibt, dass die Anfänge der syntaktischen Kategorisierung bereits im ersten Lebensjahr liegen, auch eine Sensitivität für Verstöße ge­ gen zielsprachliche grammatische Regularitä­ ten ist früh ausgeprägt. Deutlich vor den ersten produktiv geäußerten Konstruktionen ist im­



Aktueller Forschungsstand   263

plizites Wissen über Grammatik offensichtlich vorhanden. Die produktive Syntaxentwick­ lung setzt mit dem Auftreten von Wortkom­ binationen ein, die einen wichtigen Meilen­ stein der Sprachentwicklung markieren. Eine Verzögerung kann auf spätere Sprachentwick­ lungsstörungen hinweisen. Mit den typischen frühen Zweiwortäußerungen, die in ähnlicher Form in unterschiedlichen Sprachen erschei­ nen, drückt das Kind grundlegende Relatio­ nen aus. Die weitere syntaktische Entwick­ lung ist zunächst durch einen Anstieg der Äußerungslänge (MLU) gekennzeichnet: Die Anzahl der Konstituenten pro Äußerung so­ wie die Anzahl der Elemente innerhalb einer Phrase steigen an. Zunehmend werden obli­ gatorische Elemente realisiert, die Auslassung von Artikeln oder Subjekten nimmt allmäh­ lich ab. Weitere Fortschritte bestehen in einer wachsenden Komplexität (z. B. Erwerb von Nebensätzen mit circa drei Jahren) und Flexi­ bilität (z. B. Objekttopikalisierung, Passiv) der Satzstrukturen. Ein zentraler Lerngegenstand innerhalb der Syntax ist der Erwerb der zielsprachlichen Wortstellung in einfachen und komplexen Sät­ zen, bei Fragen, in Negationen etc. Clahsen et al. (1996) untersuchten die Position des Verbs in Aussagesätzen in der frühen Kinderspra­ che unter Berücksichtigung seiner Finitheit. Für frühe Kinderäußerungen sind infinite Verben in der finalen Satzposition typisch. Diese Infinitivkonstruktionen stehen in Ein­ klang mit den syntaktischen Regularitäten des Deutschen, nach denen unflektierte Teile des Prädikates am Satzende stehen. Parallel zum Erwerb der Verbflexion werden flektierte Ver­ ben an die zweite Position bewegt. Flektierte Verben am Satzende und infinite Verbformen in Zweitstellung treten in der deutschen Kin­ dersprache seltener auf. Die Verbzweitstellung wird mit ca. 2;6 Jahren erworben. Solange das Kind die zielsprachlichen Re­ geln für bestimmte Strukturen noch nicht aufgebaut hat, vereinfacht es seine Äußerun­ gen laut Weissenborn (2000) nach dem „Prin­ zip der minimalen Struktur“, um den Verar­ beitungsaufwand zu reduzieren. So entstehen

typische kindersprachliche Äußerungen. Die­ se Verstöße gegen die zielsprachliche Gram­ matik sind entwicklungslogische Zwischen­ schritte, die das Kind bis zur Beherrschung des muttersprachlichen grammatischen Re­ gelsystems durchläuft. Erwerb pragmatischer Fähigkeiten

Um kommunikative Ziele zu erreichen, müs­ sen Kinder die interpersonale Funktion von Sprache erkennen und deren Anwendung in Dialogen und Gesprächen beherrschen. Bereits im ersten Lebensjahr entstehen wesentliche Grundqualifikationen wie die Hinwendung zu sozialen Reizen, der Einsatz nonverbaler Kommunikationsmittel und die Fähigkeit zur Intersubjektivität (→ Intersubjektivität und Kommunikation) und zur gemeinsamen Auf­ merksamkeitsausrichtung  („joint attention“). Diese frühen pragmatischen Fähigkeiten sind eine wichtige Voraussetzung für den Aufbau sprachstrukturellen Wissens (Tomasello 2003). Hinsichtlich ihres Kommunikationsver­ haltens sind Kinder anfangs stärker von der Unterstützung Erwachsener abhängig, bevor sie als selbständige Gesprächspartner agieren können. In den ersten Lebensjahren verfei­ nert das Kind seine kommunikativen Fähig­ keiten, indem es Regeln der Gesprächsorga­ nisation („turn-taking“) beherrschen lernt. Pan & Snow (1999) zeigen die Entwicklung konversationeller und diskursiver Fähigkei­ ten wie Themeninitiierung und Themenfort­ führung, Reparaturmechanismen, Beachtung von Konversationsmaximen und Einnehmen der Hörerperspektive auf, wobei die enge Ver­ knüpfung pragmatischer Entwicklungsas­ pekte mit sozialen und kognitiven Entwick­ lungsschritten deutlich wird. Für den Aufbau narrativer Fähigkeiten muss das Kind lernen, über die Satzebene hin­ aus Texte/Erzählungen zu konstruieren, die hinsichtlich ihrer Gliederung und inhaltli­ chen Struktur kohärent sind und sich in ihrer sprachlichen Gestaltung durch kohäsive Mit­ tel auszeichnen (Karmiloff & Karmiloff-Smith 2001). Die Ausbildung von Diskursfähigkeit

264 

Spracherwerb und Sprachverlust

und narrativer Kompetenz gehört zu den spä­ teren Entwicklungsstufen im Sprach­erwerb. Erwerb metasprachlicher Fähigkeiten

Kinder durchlaufen die bis hierher dargestell­ ten Entwicklungssequenzen und Meilenstei­ ne überwiegend ohne explizite Instruktion und ohne bewusste Vermittlung und Refle­ xion der zugrunde liegenden Regularitäten. In späteren Phasen des Spracherwerbs bau­ en sie darüber hinaus auch metalinguistische Bewusstheit auf, das heißt, sie können forma­ le Elemente der Sprache ohne Bezug zu ihrer Bedeutung erfassen und reflektieren. Beson­ dere Bedeutung wird dabei der Entwicklung der phonologischen Bewusstheit beigemessen. Unter diesem Begriff wird die Fähigkeit ver­ standen, die phonologische Struktur eines Wortes unabhängig von dessen Semantik zu analysieren. Phonologische Bewusstheit im Vorschulalter umfasst z. B. das Segmentieren von Wörtern als Erkennen der Silbenstruktur (Silbenklatschen) und das Erkennen von Rei­ men. Im Grundschulalter lernen Kinder dann die Analyse von immer kleineren sprachlichen Segmenten. Dies umfasst die Identifikation und Lokalisation von Phonemen, das Segmen­ tieren eines Wortes in Phoneme, die Synthese eines Wortes aus Phonemen und die Manipu­ lation der Wortstruktur (Fricke, Stackhouse & Wells 2007). Der metalinguistische Anspruch steigt mit zunehmender Explizitheit der Ope­ ration und mit abnehmender Größe der lin­ guistischen Einheit (Silbe – Reim – Phonem). Phonologische Bewusstheit in diesem enge­ ren Sinne bildet sich in enger Interaktion mit dem Schriftspracherwerb heraus. Inwieweit die phonologische Bewusstheit als notwendige Voraussetzung und Vorläuferfähigkeit für den Schriftspracherwerb oder gar als Indikator für eine erfolgreiche Aneignung der Schriftspra­ che gewertet werden kann, wird kontrovers diskutiert (Marx 2007) (→ Lesen und Schrei­ ben).

4.2 Mehrsprachiger Spracherwerb in der Kindheit Neben dem monolingualen Spracherwerb ist der gleichzeitige oder kurz aufeinander folgen­ de Erwerb von zwei oder mehr Sprachen ein verbreitetes und weiter zunehmendes Phäno­ men (→ Interkulturalität und Mehrsprachig­ keit, → DaZ). Beim „doppelten“ Erstsprach­ erwerb/bilingualen Spracherwerb werden Kinder von frühester Kindheit an mit zwei Sprachen konfrontiert, wobei verschiedene Erwerbskonstellationen unterschieden wer­ den (Müller et al. 2006). Beim frühen sukzes­ siven Erwerb setzt der Kontakt mit der zwei­ ten Sprache zwischen drei und fünf Jahren ein; beim kindlichen Zweitspracherwerb zwischen 5 und 10 Jahren (Rothweiler & Kroffke 2006). Die Einstellungen gegenüber dem Erwerb mehrerer Sprachen im Kindesalter haben sich im Laufe der Zeit merklich gewandelt (Tra­ cy & Gawlitzek-Maiwald 2000). Mittlerwei­ le hat sich die Sichtweise durchgesetzt, dass die Konfrontation mit zwei Sprachen ein Kind weder überfordert noch das Gelingen des Spracherwerbs gefährdet, dass Phäno­ mene der Sprachmischung (code-switching, borrowing) als effektive Strategie bzw. ad­ äquate stilistische Mittel gewertet werden und dass Mehrsprachigkeit allein weder eine Sprachentwicklungsstörung auslöst noch die Ausprägung einer SSES negativ beeinflusst (Rothweiler 2007). Dies schließt nicht aus, dass ungünstige Inputbedingungen oder be­ stimmte Erwerbsszenarien den Erwerbspro­ zess generell erschweren können oder dass in einzelnen Strukturbereichen kurzfristige Verunsicherungen durch Interferenzen auf­ treten können. Untersuchungen des Verlaufs des bilingualen Spracherwerbs zeigen, dass es zahlreiche Übereinstimmungen in den Entwicklungs­ sequenzen gibt, das heißt, der Spracherwerb entspricht im Wesentlichen den Meilenstei­ nen der ungestörten monolingualen Ent­ wicklung der jeweiligen Sprache (Hua & Wei 2005). Gleichzeitig sind subtile quantitative und qualitative Unterschiede zwischen den



Aktueller Forschungsstand   265

Erwerbstypen nicht auszuschließen. Beson­ derheiten können in einer leicht asynchronen zeitlichen Entwicklung der beiden Sprachen liegen, in „silent periods“ für eine Sprache oder in gelegentlichen Transfer- und Inter­ ferenzfehlern. Besonderheiten können aber auch darin bestehen, dass bestimmte Meilen­ steine im kindlichen Zweitspracherwerb so­ gar schneller erreicht werden als es aus dem monolingualen Erwerb bekannt ist, da sich die kognitive Entwicklung und das schon vorhandene Wissen über Sprache beschleu­ nigend auswirken (vgl. Dimroth & Haberzettl 2008 zum schnellen Erwerb der Verbflexion). Für die klinische Praxis ist wesentlich, dass typische Phänomene einer mehrspra­ chigen Erwerbssituation nicht vorschnell als Störungsmerkmale gewertet werden. Dies er­ fordert adäquate Testverfahren, eine kulturell angemessene Untersuchungssituation und eine genaue Erfassung der Sprachbiographie und des Sprachangebots (Wei et al. 2005).

4.3 Störungen der Sprachentwicklung Gut abgesichertes Wissen über den erwart­ baren Sprachentwicklungsstand von sprach­ un­auffälligen Kindern ist eine notwendige

Voraussetzung für die Einschätzung von Stö­ rungen der Sprachentwicklung. Sprachent­ wicklungsgestörte Kinder erreichen die Mei­ lensteine der ungestörten Sprachentwicklung später, nicht in ausreichendem Maße oder bei einer Plateaubildung möglicherweise auch gar nicht. Es kann zu einer erhöhten Fehlerquote bei bestimmten Strukturen, zu einer Stagna­ tion auf nicht mehr altersangemessenen Er­ werbstufen und zu einem unausbalancierten Sprachentwicklungsprofil kommen (Leonard 1998, vgl. Abb. 6). Zum Verlauf der Spezifischen ­Sprachentwicklungsstörung (SSES)

Erste Anzeichen einer SSES sind bereits mit 24  Monaten erkennbar, wenn das produkti­ ve Vokabular eines Kindes unter 50 Wörtern liegt und keine Wortkombinationen auftreten. Haben diese so genannten „Late Talker“ ihren Rückstand bis zum Alter von 36 Monaten nicht aufgeholt, wird eine Sprachentwicklungsstö­ rung festgestellt. Die Symptomatik kann sich rezeptiv und/oder expressiv äußern und ver­ schiedene sprachliche Ebenen betreffen. Je nachdem, wie viele und welche Ebenen von der Störung auffällig sind, ergeben sich unterschied­ liche Profile der SSES, die sich im Vorschulalter

Abb. 6:  Verlauf der SSES: Altersabhängige Sprach­ entwicklung im ungestör­ ten Spracherwerb und bei Kindern mit Verzögerung bzw. Plateau (nach Leonard 1998)

266 

Spracherwerb und Sprachverlust

herauskristallisieren. Dabei sind ebenenüber­ greifende Störungen häufiger als isolierte. Aussprachestörungen (phonetische und/oder phonologische Störungen)

Störungen auf den Ebenen Phonetik und Pho­ nologie werden als → Aussprachestörungen zusammengefasst, die wiederum einen pho­ netischen oder phonologischen Störungs­ schwerpunkt aufweisen können. Meist werden phonologische Prozesse nicht altersgerecht überwunden, in der Aussprache des Kindes beeinträchtigen Substitutionen, Auslassungen oder Fehlbildungen von Lauten die Verständ­ lichkeit. Störungen des Wortschatzes (lexikalische und semantische Störungen)

Lexikalische Störungen können sich in Form eines eingeschränkten rezeptiven und/oder expressiven Wortschatzes, eines ungenügend strukturierten semantischen Systems oder auch in Form von Zugriffsstörungen mani­ festieren (Kauschke & Rothweiler 2007). Bei letzteren hat das Kind Probleme, im aktuel­ len Produktionsprozess auf Wortformen zu­ zugreifen. Störungen der Grammatik (morphologische und/ oder syntaktische Störungen)

Störungen der Grammatik können die Syntax betreffen; hier ist im Deutschen vor allem die Verbzweitstellung störanfällig: Sprachentwick­ lungsgestörte Kinder halten länger als sprach­ un­auffällige an infiniten Verben in finaler Po­ sition fest oder bewegen auch das flektierte Verb nicht in die zweite Position. Morphologi­ sche Probleme wie Auffälligkeiten in der Plu­ ral- oder Kasusmarkierung sind ebenfalls ein häufiges Symptom. In der späteren Kindheit und im Jugendalter kann die sprachliche Sym­ ptomatik persistieren (Dannenbauer 2003) und sich auf den Umgang mit der Schriftspra­ che, auf metasprachliche Fähigkeiten und die Text­ebene erstrecken.

Störungen der Pragmatik

Meist sind pragmatische und kommunikative Fähigkeiten bei Kindern mit SSES besser ent­ wickelt als die sprachsystematischen. Treten pragmatische Symptome auf, so können die­ se in eingeschränkten Kommunikations- und Dialogfähigkeiten (z. B. Blickkontakt, Spre­ cherwechsel), in einem erschwerten Verständ­ nis von Sprechakten oder in Problemen bei der Nutzung und Entschlüsselung nonverbaler Kommunikationsmittel bestehen. Für primäre pragmatische Auffälligkeiten wurde auch der Begriff „pragmatic language impairment“ vor­ geschlagen. Bei derartigen Störungen ist die Abgrenzung zum autistischen Spektrum der­ zeit unklar (Bishop 2000). Zur Diagnostik der gestörten Kinderspra­ che stehen eine Vielzahl unterschiedlicher Verfahren zur Verfügung (→ Interdisziplinä­ re Diagnostik, → Frühdiagnostik): Beobach­ tungsverfahren, Befragungsmethoden und Checklisten für Eltern, Screeningverfahren, die der ersten orientierenden Einschätzung dienen, standardisierte Sprachtests, die das Vorliegen einer Störung durch Vergleich mit einer Normstichprobe konstatieren, umfas­ sende Instrumente zur Profildiagnostik, die die Fähigkeiten auf allen sprachlichen Ebe­ nen erfassen sowie informelle Verfahren zur vertiefenden Überprüfung spezifischer Fra­ gestellungen. Je nach Anlass und Ziel der Diagnostik (Reihenuntersuchung zur Erfas­ sung von auffälligen Kindern oder intensive Diagnostik zur Ermittlung des Sprachent­ wicklungsstandes und zur Ableitung weiterer Maßnahmen) werden unterschiedliche Me­ thoden ausgewählt und kombiniert. Die therapeutischen Maßnahmen leiten sich aus der individuellen und umfassenden sprachlich-kognitiven Befunderhebung unter Berücksichtigung des medizinischen Befun­ des ab (→ Entwicklungsbedingte Sprachstö­ rungen). Ziele der sprachtherapeutischen In­ tervention bei Kindern sind die Aktivierung des verzögerten oder stagnierten Spracher­ werbs, die Dynamisierung eines verfestigten und/oder die Synchronisierung eines unaus­



Aktueller Forschungsstand   267

Abb. 7:  Positionseffekt für Laute bzw. Buchstaben bei Störung eines sprachlichen Kurzzeitspeichersystems; Fehlerraten eines Patienten beim schriftlichen Benen­ nen und Schreiben nach Diktat (nach Jonsdottir et al. 1996)

balancierten Sprachsystems, was letztlich zu einer Verbesserung der sprachlichen Fähig­ keiten und zu einer erhöhten Kommunikati­ onsfähigkeit des Kindes führen soll.

(insbesondere die Wortmitte) stärker als ande­ re (Wortanfang und -ende) (vgl. Jonsdottir et al. 1996 und Abb. 7). Lexikalische Störungen

4.4 Sprachabbau und Sprachverlust Phonologische Störungen

Störungen auf der lautlichen Ebene können sowohl das Sprachverständnis (z. B. Diskriminierungsstörungen) als auch die Produktion (phonematische Paraphasien bzw. phonematische Neologismen) betreffen. Phonologische Fehler lassen sich durch die Art und Anzahl von der Zielform abweichender phonolo­ gischer Merkmale qualitativ und quantita­ tiv beschreiben. Fehlbildungen auf der laut­ lichen Ebene folgen oft Regularitäten auf der suprasegmentalen Ebene. Dies kann sich bei­ spielsweise im Beachten phonotaktischer Be­ schränkungen wie dem Sonoritätsprinzip (vgl. Stenneken et al. 2005) oder in Regularisierun­ gen auf der prosodischen Ebene durch seg­ mentale Fehler äußern (vgl. Janßen & Domahs 2008). Wenn Störungen auf der segmentalen Ebene in sprachspezifischen Kurzzeitspeicher­ systemen entstehen, kommt es zu charakteris­ tischen Wortlängen- und Positionseffekten, das heißt, lange Wörter sind stärker betroffen als kurze und bestimmte Positionen im Wort

Das häufigste Symptom aller Formen von Sprachabbau und Sprachverlust sind Wortfindungsstörungen. Hier zeigen sich typischer­ weise Effekte der Faktoren Frequenz und Er­ werbsalter, das heißt, häufig verwendete und früh erworbene Wörter bleiben besser erhalten als seltene, spät erworbene (vgl. 4.6.2). In der Inputverarbeitung ist auch ein gestörtes lexi­ kalisches Entscheiden typischerweise von die­ sen Faktoren beeinflusst (vgl. 4.6.2). Man hat versucht, zwischen einer Störung des lexikali­ schen Wissens selbst („Speicherstörung“) und einer Störung des Zugriffs auf prinzipiell er­ haltenes Wissen („Zugriffsstörung“) zu unter­ scheiden (vgl. Warrington & Cipolotti 1996). Als Kriterien für eine solche Unterscheidung werden insbesondere die Fehlerkonsistenz (konsistente Fehler sprächen eher für eine Speicherstörung), Frequenzeffekte (sprächen eher für eine Speicherstörung), Primingeffek­ te und Effekte der Stimuluspräsentationsra­ te (sprächen beide eher für eine Zugriffsstö­ rung) diskutiert. Bei partiellen Störungen des Wort­abrufs kann es zum so genannten „Tipof-the-tongue-Phänomen“ kommen, bei dem ein Wort zwar nicht vollständig abgerufen

268 

Spracherwerb und Sprachverlust

werden kann, aber trotzdem einige Informa­ tionen dar­über (z. B. Anfangslaut[e], proso­ disches Muster, ggf. Genusinformation) aktiv oder passiv verfügbar sind (vgl. Goodglass et al. 1976). Semantische Störungen

Semantische Störungen sind prinzipiell sup­ ramodal, das heißt, sie betreffen alle In- und Outputmodalitäten gleichermaßen. Sie lassen sich durch Art und Anzahl der abweichenden semantischen Merkmale beschreiben. Es wur­ den wiederholt kategoriespezifische seman­ tische Störungen beschrieben (beispielsweise herausragende Störungen für Lebewesen im Vergleich zu unbelebten Objekten) (vgl. Cara­ mazza & Mahon 2003). Bei fortgeschrittenem Verlust semantischen Wissens, insbesondere im Verlauf einer so genannten „Semantischen Demenz“, werden semantische Merkmale zu­ nehmend unspezifisch realisiert, was zur ver­ mehrten Produktion von Oberbegriffen führt (z. B. „Tier“ statt „Pferd“) (vgl. Murre et al. 2001). Die Produktion semantischer Fehler al­ lein ist nicht hinreichend für die Diagnose ei­ ner Störung des semantischen Wissens selbst, da sie auch durch eine Beeinträchtigung auf der Ebene der Output-Lexika bedingt sein kann (vgl. Caramazza & Hillis 1990).

Morphologische Störungen

Es wird intensiv diskutiert, ob es rein mor­ phologische Störungen überhaupt gibt oder ob morphologische Fehler eher als Folge phono­ logischer und/oder semantischer Störungen angesehen werden müssen. So kann offenbar eine phonologische Störung auch ohne asso­ ziierte morphologische Störung auftreten; die Produktion morphologischer Fehler ist aber in der Regel auch mit einer phonologischen Out­ putstörung assoziiert (Miceli et al. 2004). Vielfach belegt sind Dissoziationen zwischen regelmäßigen und unregelmäßigen morpho­ logischen Bildungen. Auch diese Dissoziatio­ nen werden im Spannungsfeld zwischen Pho­ nologie und Semantik diskutiert. So wurden insbesondere regelmäßige morphologische Paradigmen mit phonologischen Leistungen in Verbindung gebracht, während die erfolg­ reiche Produktion unregelmäßiger Bildungen eher mit dem Grad des erhaltenen semanti­ schen Wissens zu korrelieren scheint (vgl. Pat­ terson et al. 2001). Syntaktische Störungen

Syntaktische Störungen haben schon früh eine große Aufmerksamkeit in der wissenschaft­ lichen Debatte erfahren (vgl. 2.3). Auch zum jetzigen Stand der Forschung gibt es wohl kei­

Abb. 8:  Unterschiedliche Schweregrade einer syn­ taktischen Störung nach der „Tree-Pruning-Hypo­ these“ (nach Friedmann & Grodzinsky 1997) Je tiefer in der Struktur die syntaktische Repräsenta­ tion gekappt ist, desto schwerer die Störung.



Aktueller Forschungsstand   269

Abb. 9: Neuronale Reorganisation der Sprachverarbeitung nach Schlaganfall am Beispiel einer auditiven Sprach­ verständnisaufgabe (Abbildung aus Saur et al. 2006) Es können drei Phasen des Krankheitsverlaufs unterschieden werden (rechts von der gestrichelten Linie): Akut­ phase (hier ca. 1,8 Tage nach Schlaganfall), subakute Phase (ca. 12,1 Tage) und chronische Phase (321 Tage): 1. In der Akutphase (Ex1) kommt es zunächst zu einer Minderaktivierung der verbliebenen linkshemisphärischen Sprachareale. 2. In der darauf folgenden subakuten Phase (Ex2) ist eine Hochregulierung der Aktivierungen gerade auch in der rechten Hemisphäre zu beobachten. 3. Schließlich kommt es in der chronischen Phase (Ex3) zu einer Normalisierung der Aktivierungen und damit zu einer Angleichung an das Muster bei gesunden Vergleichspersonen (C, links von der gestrichelten Linie). Aller­ dings erreichen nicht alle Patienten diese Stufe.

ne andere sprachliche Störungsebene, die so kontrovers diskutiert wird. Das hängt offen­ sichtlich damit zusammen, dass es auch im Bereich der Theoriebildung zur Syntax noch vergleichsweise wenige konsensfähige Positio­ nen gibt. Zudem muss man gerade im Bereich der Syntax von starken Unterschieden zwi­ schen verschiedenen Sprachen ausgehen, was einen sprachübergreifenden Erklärungsan­ satz erschwert. Zwar gab es vielversprechende (psycho-)linguistische Erklärungsansätze für syntaktische Verarbeitungsstörungen – her­ ausragend genannt seien die „Spurentilgungs­ hypothese“ (vgl. Grodzinsky 1995) und die so genannte „Tree-Pruning-Hypothese“ (vgl. Friedmann & Grodzinsky 1997 und Abb. 8) –, aber empirische Befunde zeigen, dass bisher kein Modell alle Daten erfolgreich integrieren kann (vgl. Burchert & Druks 2000). So ist es gerade auch der Bereich der syntaktischen Stö­

rungen, bei dem nichtlinguistische (ressour­ cenbasierte) Erklärungsversuche am inten­ sivsten diskutiert werden (vgl. 3.4 und 4.6.3). Textverarbeitungsstörungen

Sprachstörungen auf der Ebene der Textverar­ beitung sind auf Grund der bereits auf nied­ rigeren Ebenen (v. a. Morphologie, Semantik, Syntax) bestehenden Probleme oft schwer zu beurteilen. Besonders Patienten mit Läsio­ nen im Bereich des Stirnhirns haben aber ty­ pischerweise Defizite in der Verarbeitung von Textualitätskriterien wie Kohäsion und Kohä­ renz (Ferstl et al. 2002) und im zielgerichteten Enkodieren von Propositionen (Ferstl et al. 1999).

270 

Spracherwerb und Sprachverlust

4.5 Neuronale Reorganisation von Sprache nach erworbenen ­Störungen Erste Befunde bildgebender Studien deuten darauf hin, dass im Vergleich zu gesunden Kontrollprobanden nach einem Hirninsult sowohl kontralaterale (das heißt in der Regel rechtshemisphärische) als auch periläsionale Areale zusätzlich aktiviert werden, um sprach­ liche Aufgaben zu bewältigen (vgl. Grande & Huber 2007, Meinzer & Breitenstein 2008). Dies scheint in drei Phasen abzulaufen: 1. Nach einer anfänglichen starken Reduk­ tion der Aktivierungen der verbliebenen linksseitigen Sprachareale in der Akut­ phase, 2. kommt es in der darauf folgenden subakuten Phase zu einer verstärkten Rekrutie­ rung der homologen Areale in der rechten Hemisphäre, die mit einer Verbesserung sprachlicher Leistungen einhergeht. 3. Schließlich ist in der chronischen Phase eine Normalisierung der linkshemisphärischen Aktivierungsmuster mit einer Konsolidie­ rung der sprachlichen Leistungen verbun­ den (vgl. Saur et al. 2006 und Abb. 9). Prinzipiell ist also eine neurofunktionale Re­ organisation möglich. Allerdings erreichen of­ fenbar nicht alle Patienten die als Konsolidie­ rung beschriebene Phase (Saur et al. 2006).

4.6 Forschungsergebnisse zur ­Regressionshypothese Phonologie

Auf der lautlichen Ebene wurde ein spiegel­ bildliches Verhältnis von Erwerbsreihenfolge und Sequenz des sprachlichen Abbaus bei­ spielsweise im Rahmen einer Primär-Progres­ siven Aphasie beobachtet (Ukita et al. 1999). Lexikon und Semantik

Eine Vielzahl von Befunden in unterschiedli­ chen Patientenpopulationen (demenzielle Er­

krankungen, Aphasie nach Schlaganfall u. a.) zeigt, dass auch auf der Ebene lexikalischen Wissens früh erworbene Wörter länger erhal­ ten bleiben als spät erworbene (z. B. Hirsh & Funnel 1995, Kremin et al. 2001, Lambon-Ral­ ph et al. 1998, Ukita et al. 1999). Zudem zeigen gesunde Erwachsene Effekte des Erwerbsal­ ters bei verschiedenen lexikalischen und se­ mantischen Aufgaben (lexikalisches Entschei­ den, Benennen, semantisches Kategorisieren) (vgl. Bonin et al. 2001, Brysbeart et al. 2000, Kauschke & von Frankenberg 2008, Turner et al. 1998). Diese Effekte sind offensichtlich im fortgeschrittenen Alter noch ausgeprägter (Hodgson & Ellis 1998). Was die Verarbeitung einzelner Wortarten angeht, so findet sich ein Vorteil für Nomen nicht nur im Spracherwerb, sondern auch bei aphasischen Patienten (de Bleser & Kauschke 2003). Dieser Befund weist auf eine spezifische Parallelität beim Erwerb und Verlust sprachlicher Kategorien hin. Syntax

Anders als in den Bereichen Phonologie, Lexi­ kon und Semantik werden Parallelitäten zwi­ schen kindlichem Spracherwerb und Sprachab­ bau bzw. -verlust im Erwachsenenalter auf der syntaktischen Ebene in der Regel nicht aus der Perspektive des Erwerbsalters beschrie­ ben, sondern aus der Perspektive sprachlicher Komplexität (vgl. 3.4). Bei der Betrachtung der Sprachproduktion von agrammatischen Patienten und Kindern im normalen Spra­ cherwerb fallen einige Gemeinsamkeiten auf (vgl. Abb. 10): Das Vorherrschen von Ein- und Zweiwortäußerungen, die Verwendung vieler Ellipsen, das Auslassen von Funktionswör­ tern und obligatorischen Konstituenten sowie die Verwendung von unflektierten Verben in Finalposition (vgl. de Roo 2001, Kolk 2001). Weitere Befunde deuten auf spezifische Prob­ leme in der syntaktischen Verbbewegung (Zu­ ckermann et al. 2001) oder in der Entfaltung des syntaktischen Baumes bis zur Comple­ mentierer-Phrase (CP). Allerdings gibt es wi­ dersprüchliche Ansichten, was die Verfügbar­ keit der CP bei Kindern und agrammatischen



Aktueller Forschungsstand   271

Abb. 10: Sprachliche Muster von sprachgesunden Kindern [K (ungestört)], Kindern mit Spe­ zifischen Sprachentwicklungsstörungen [K (SSES)] und aphasischen Patienten mit Agrammatismus [P (agrammat.)] (nach ­Bastiaanse & Bol 2001) Gruppenmittelwerte der Äußerungslänge [MLU], Type-Token-Ratio der Verben [TTR (V)] und Finitheit der Verben [FIN].

Aphasikern angeht (Penke 2001, Platzack 2001). Unklar ist auch, wie syntaktische Sym­ ptome bei sprachentwicklungsgestörten Kin­ dern zu werten sind. So treten im Rahmen des Dysgrammatismus häufig flektierte Verben in Endstellung bei gleichzeitigem Vorhandensein aller obligatorischen Konstituenten auf, was in dieser Form weder im ungestörten Spracher­ werb noch beim Agrammatismus zu beobach­ ten ist. Als Erklärung der gruppenübergreifen­ den Phänomene wurde entweder ein Man­ gel an sprachlichem Wissen oder ein Man­ gel an Verarbeitungskapazität angenommen (vgl.  3.4). Sprachliche Vereinfachungen, z. B. die Verwendung von Ellipsen oder der Ver­ zicht auf Verbbewegung, wurden häufig als Ausdruck eingeschränkter Ressourcen ge­ wertet (vgl. Crain et al. 2001, Kolk 2001). Auf diese Erklärung deuten auch Befunde von Bastiaanse & Bol (2001), die zeigten, dass so­ wohl bei Kindern mit SSES als auch bei Pati­ enten mit erworbenem Agrammatismus ent­ weder die Bandbreite der verwendeten Verben (als Ausdruck lexikalisch-semantischer Ver­ arbeitung) oder die Realisierung der Finitheit des Verbs (syntaktische Verarbeitung) ein un­ gestörtes Niveau erreichten, aber nicht beides

gemeinsam. Auch dieser Befund spricht für eine ressourcenbasierte Grundlage syntakti­ scher Normverletzungen in beiden Gruppen. Allerdings wurde kein vergleichbares Muster bei sich normal entwickelnden Kindern fest­ gestellt, was mit der ursprünglichen Form der Regressionshypothese nicht in Einklang zu bringen ist (für weitere Daten zum gruppen­ übergreifenden Zusammenhang zwischen le­ xikalischer und syntaktischer Verarbeitung vgl. auch Bates & Goodman 1997). Fazit

Der Überblick über den Forschungsstand zur Regressionshypothese zeigt, dass das Er­ werbsalter in den Bereichen Phonologie, Le­ xikon und Semantik einen Einfluss sowohl auf die gesunde Sprachverarbeitung als auch auf die Muster von Sprachabbau und -verlust zu haben scheint. Hier wirkt sich die Tatsache aus, dass früh erlernte Informationen leichter zugänglich und robuster gegenüber Störungen sind. Im Bereich der syntaktischen Leistungen, das heißt bei der Anwendung sprachlichen Re­ gelwissens, ist die Befundlage hingegen wider­ sprüchlich. Dies kann zum einen daran liegen, dass sich die Aussagen nahezu ausschließlich auf Produktionsdaten stützen und Dissoziati­ onen zwischen Produktions- und Verstehens­ leistungen nicht berücksichtigt werden. Insbe­ sondere bei jungen sprachgesunden Kindern sind die Sprachwahrnehmungsfähigkeiten jedoch wesentlich früher ausgeprägt als ent­ sprechende produktive Leistungen (vgl. 4.1.1). Obwohl sich also eine Parallelität sprachlicher Äußerungen in der Kindersprache und bei er­ worbenen Sprachstörungen beobachten lässt (vgl. Abb. 10), ist dies nicht notwendigerweise auf identische zugrunde liegende Sprachverar­ beitungsprozesse zurückzuführen. Zum anderen trägt ein methodischer As­ pekt zur Widersprüchlichkeit der Daten bei (vgl. 2.5.1). Einige Parallelitäten, z. B. ein Vor­ teil von Nomen gegenüber Verben, zeigen sich eher bei einer gruppenbezogenen Un­ tersuchung. Andere Zusammenhänge dage­ gen werden erst bei der Analyse individuel­

272 

Spracherwerb und Sprachverlust

ler Daten sichtbar. So wäre das Wechselspiel zwischen lexikalisch-semantischer und syn­ taktischer Verarbeitung in der Studie von Bastiaanse & Bol (2001) auf Gruppenebene unentdeckt geblieben. Bei der Betrachtung von Einzelfällen lassen sich manchmal je­ doch sogar konträre Muster finden. So wur­ den bei flüssigen Aphasieformen größere Ein­ schränkungen bei Nomen gegenüber Verben beschrieben, was nicht im Einklang mit der Erwerbsreihenfolge steht. Gerade die noch bestehenden Widersprüchlichkeiten geben Anlass zu künftigen Forschungsbemühun­ gen, bei denen sich die Forschung zum unge­ störten und gestörten Spracherwerb und die Forschung zu Sprachabbau und -verlust er­ gänzen und bereichern können.

5 Ausblick: Gemeinsame ­Perspektiven Die hier skizzierten Fakten zeigen, dass sich die Betrachtung entwicklungsbedingter und erworbener Sprachstörungen zwischen zwei Polen bewegt: dem Bemühen um größtmög­ liche Verallgemeinerung auf der einen Seite und der Berücksichtigung der enormen Hete­ rogenität zwischen verschiedenen Individuen, Gruppen und Sprachen auf der anderen. Einen Erklärungsansatz, der sowohl universell in der Gültigkeit als auch detailliert in der Beschrei­ bung ist, wird es deshalb wohl auch in Zukunft nicht geben können. Die Forschung zum Sprachabbau sowohl im Rahmen des normalen Alterns als auch im Rahmen demenzieller Erkrankungen steckt noch in den Anfängen. Ihre Bedeutung wird aber angesichts der demografischen Entwick­ lung rasant zunehmen. Auch die Erforschung der neurofunktionellen Grundlagen von Ler­ nen, Erinnern und Vergessen von Sprache im Kindes- und Erwachsenenalter hat – his­ torisch gesehen – gerade erst begonnen. Von Fortschritten in diesem Bereich darf man sich wirklich kausale Therapien für eine Vielzahl

sprachlicher Störungen im Sinne von neuro­ restaurativen Ansätzen erhoffen. Ein weiterer Bereich, der zukünftig eine stärkere Hinwendung der Forschung erfahren wird, ist der Zusammenhang von Mehrspra­ chigkeit und Spracherwerb und der Einfluss von Mehrsprachigkeit auf entwicklungsbe­ dingte und erworbene Sprachstörungen. Bis­ lang hat sich die Forschung zu Sprachentwick­ lungsstörungen und zu Aphasien vorrangig auf monolinguale Probanden und Patienten konzentriert. Da dies nicht der Sprachbio­ graphie großer Bevölkerungsteile entspricht, werden Sprachstörungen unter der Bedin­ gung von Mehrsprachigkeit zunehmende Be­ achtung finden (→ Norm und Differenz). Die Forschungsbemühungen zu Sprach­ erwerbsstörungen und Sprachabbau und Sprachverlust laufen derzeit weitgehend iso­ liert voneinander. Diese Parallelkulturen sollten zur gegenseitigen Bereicherung stär­ ker miteinander kommunizieren. Die bisher erzielten Erfolge in beiden Bereichen sollen jedoch keineswegs kleingeredet werden. Es gibt bereits jetzt Modelle und Methoden so­ wohl in der Aphasiologie als auch in der For­ schung zum ungestörten und gestörten Spra­ cherwerb, die zu nachweisbaren und teilweise substanziellen Therapieerfolgen führen. Das ist letztendlich das entscheidende Kriterium. Gerade in den Bereichen der modellorientier­ ten, detaillierten Beschreibung sprachlicher Symptome und der Therapieevaluation ist ein intensiverer Austausch der Forschungen zu erworbenen und entwicklungsbedingten Sprachstörungen jedoch wünschenswert.

Literatur Avrutin, S. (1999): Development of the syntax-dis­ course interface. Dordrecht: Kluwer. Bastiaanse, R. & Bol, G. (2001): Verb inflection and verb diversity in three populations: Agrammatic speakers, normally developing children, and child­ ren with specific language impairment (SLI). Brain and Language 77, 3, 274–282. Bateman, F. (1870): On aphasia, or loss of speech, and the localisation of the faculty of articulate lan­ guage. London: Churchill & Sons.



Literatur   273

Bates, E. & Goodman, J. C. (1997): On the insepara­ bility of grammar and the lexicon: Evidence from acquisition, aphasia, and real-time processing. Language and Cognitive Processes 12, 5/6, 507– 584. Bishop, D. V. M. (2000): How does the brain learn language? Insights from the study of children with and without language impairment. Developmental Medicine & Child Neurology 42, 2, 133–142. Bishop, D. V. M. (2000): Pragmatic language impair­ ment: A correlate of SLI, a distinct subgroup, or part of the autistic continuum? In: Bishop, D. V. M. & Leonard, L. B. (Eds.). Speech and language im­ pairments in children: Causes, characteristics, in­ tervention and outcome (99–113). Hove: Psycholo­ gy Press. Bittner, D. (2000): Early verb development in one German-speaking child. ZAS Papers in Linguistics 18, 11, 21–38. Bonhoeffer, K. (1902): Zur Kenntnis der Rückbil­ dung motorischer Aphasien. Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie 10, 203– 224. Bonin, P., Fayol, M., & Chalard, M. (2001): Age of ac­ quisition and word frequency in written picture naming. Quarterly Journal of Experimental Psy­ chology. Section A: Human Experimental Psycho­ logy 54, 2, 469–489. Broca, P. (1869): Sur le siège de la faculté du langage articulé. Tribune Médicale 14, 254–256, 265–269. Brown, R. (1973): A first language. The early stages. Cambridge (MA): Harvard University Press. Brysbeart, M., Van Wijnendaele, I., & De Deyne, S. (2000): Age-of-acquisition effects in semantic pro­ cessing tasks. Acta Psychologica 104, 2, 215–226. Burchert, F. & Drucks, J. (2000): Ein Überblick über Studien zu syntaktischen Sprachverständnisstö­ rungen. Linguistische Berichte 184, 423–439. Caramazza, A. & Hillis, A. E. (1990): Where do se­ mantic errors come from. Cortex 26, 1, 95–122. Caramazza, A. & Mahon, B. Z. (2003): The organiza­ tion of conceptual knowledge: The evidence from category-specific semantic deficits. Trends in Cog­ nitive Sciences 7, 8, 354–361. Caramazza, A. & Martin, R. (1983): Theoretical and methodological issues in the study of aphasia. In: Hellige, J. B. (Ed.): Cerebral hemisphere asymme­ try: Method, theory and application (18–45). Es­ sex, UK: Abbey. Caramazza, A. & McCloskey, M. (1988): The case for single-patient studies. Cognitive Neuropsychology 5, 5, 517–527. Clahsen, H. (1984): Der Erwerb von Kasusmarkie­ rungen in der deutschen Kindersprache. Linguis­ tische Berichte 89, 1–31.

Clahsen, H. (1986): Die Profilanalyse. Ein linguisti­ sches Verfahren für die Sprachdiagnose im Vor­ schulalter. Berlin: Marhold. Clahsen, H., Eisenbeiß, S. & Penke, M. (1996): Le­ xical  learning in early syntactic development. In: Clahsen, H. (Ed.): Generative perspectives on lan­ guage acquisition (129–159). Amsterdam: Benja­ mins. Coltheart, M. (2001): Assumptions and methods in cognitive neuropsychology. In: Rapp, B. (Ed.): The Handbook of Cognitive Neuropsychology (3–22). Philadelphia (PA): Psychology Press. Crain, S., Ni, W. J. & Shankweiler, D. (2001): Gram­ matism. Brain and Language 77, 3, 294–304. Dannenbauer, F. M. (2003): Spezifische Sprachent­ wicklungsstörungen. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopä­ die. Bd. 2: Erscheinungsformen und Störungsbil­ der (48–74). Stuttgart: Kohlhammer. de Bleser, R. & Kauschke, C. (2003): Acquisition and loss of nouns and verbs: Parallel or divergent pat­ terns? Journal of Neurolinguistics 16, 2–3, 213–229. de Roo, E. (2001): Root nonfinite and finite utteran­ ces in child language and agrammatic speech. Brain and Language 77, 3, 398–406. DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Doku­ mentation und Information) (2005): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorgani­ sation (WHO). Neu-Isenburg: MMI. Dimroth, C. & Haberzettl, S. (2008): Je älter desto besser. Lernen Kinder Deutsch als Zweitsprache schneller als Deutsch als Erstsprache? In: Ahren­ holz, B., Bredel U., Klein, W., Rost-Rot, M. & Skiba, R. (Hrsg.): Empirische Forschung und Theoriebil­ dung. Beiträge aus der Soziolinguistik, Gesproche­ ne Sprache-Forschung und Zweitspracherwerbs­ forschung (227–239). Berlin: Lang. Dronkers, N. F., Plaisant, O., Iba-Zizen, M. T. & Caba­ nis, E. A. (2007): Paul Broca’s historic cases: High resolution MR imaging of the brains of Leborgne and Lelong. Brain 130, 5, 1432–1441. Ferstl, E. C., Guthke, T. & von Cramon, D. Y. (1999): Change of perspective in discourse comprehensi­ on: Encoding and retrieval processes after brain injury. Brain and Language 70, 3, 385–420. Ferstl, E. C., Guthke, T. & von Cramon, D. Y. (2002): Text comprehension after brain injury: Left pre­ frontal lesions affect inference processes. Neuro­ psychology 16, 3, 292–308. Fox, A. V. & Dodd, B. J. (1999): Der Erwerb des pho­ nologischen Systems in der deutschen Sprache. Sprache – Stimme – Gehör 23, 4, 183–191. Fricke, S., Stackhouse, J. & Wells, B. (2007): Phonolo­ gische Bewusstseinsfähigkeiten deutschsprachiger

274 

Spracherwerb und Sprachverlust

Vorschulkinder – Eine Pilotstudie. Forum Logopä­ die 3, 21, 14–19. Friedmann, N. & Grodzinsky, Y. (1997): Tense and agreement in agrammatic production: Pruning the syntactic tree. Brain and Language 56, 3, 397–425. Goodglass, H., Kaplan, E., Weintraub, S. & Acker­ man, N. (1976): Tip-of-Tongue phenomenon in aphasia. Cortex 12, 2, 145–153. Grande, M. & Huber, W. (2007): Aphasie. In: Schnei­ der, F. & Fink, G. (Hrsg.): fMRI in Neurologie und Psychiatrie (429–442). Berlin: Springer. Grodzinsky, Y. (1990): Theoretical perspectives on language deficits. Cambridge (MA): MIT. Grodzinsky, Y. (1995): Trace deletion, Q-roles, and cog­nitive strategies. Brain and Language 51, 3, 469–497. Grohnfeldt, M. (Hrsg.) (2007): Lexikon der Sprach­ therapie. Stuttgart: Kohlhammer. Hauser, M. D., Chomsky, N. & Fitch W. T. (2002): The faculty of language: What is it, who has it, and how did it involve? Science 298, 5598, 1569–1579. Head, H. (1920): Aphasia: An historical review. Brain 43, 390–411. Hirsh, K. W. & Funnel, E. (1995): Those old familiar things: Age of acquisition, familiarity, and lexical access in progressive aphasia. Journal of Neurolin­ guistics 9, 1, 23–32. Hodgson, C. & Ellis, A. W. (1998): Last in, first to go: Age of acquisition and naming in the elderly. Brain and Language 64, 1, 146–163. Hollich, G. J., Hirsh-Pasek, K., Tucker, M. L. & Mich­ nick Golinkoff, R. (2000): The change is afoot: Emergentist thinking in language acquisition. In: Anderson, P. B. (Ed.): Downward causation (143– 178). Aarhus: Aarhus University Press. Hua, Z. & Wei, L. (2005): Bi- and multilingual lan­ guage acquisition. In: Ball, M. J. (Ed.): Clinical So­ ciolinguistics (165–179). Oxford: Blackwell. Isserlin, M. (1922): Über Agrammatismus. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 75, 1, 332–410. Jakobson, R. (1941): Kindersprache, Aphasie und all­ gemeine Lautgesetze. Uppsala: Almqvist & Wiksell. Janßen, U. & Domahs, F. (2008): Going on with op­ timised feet: Evidence for the interaction between segmental and metrical structure in phonological encoding from a case of primary progressive apha­ sia. Aphasiology 22, 11, 1157–1175. Jonsdottir, M. K., Shallice, T. & Wise, R. (1996): Pho­ nological mediation and the graphemic buffer dis­ order in spelling: Cross-language differences? Co­ gnition 59, 2, 169–197. Jusczyk, P. W. (1999): Narrowing the distance to lan­ guage: One step at a time. Journal of Communica­ tion Disorders 32, 6, 207–22.

Karmiloff, K. & Karmiloff-Smith, A. (2001): Pathways to language. From fetus to adolescent. Cambridge (MA): Harvard University Press. Kauschke, C. (2000): Der Erwerb des frühkindlichen Lexikons – Eine empirische Studie zur Entwicklung des Wortschatzes im Deutschen. Tübingen: Narr. Kauschke, C. & Hofmeister, C. (2002): Early lexical development in German: A study on vocabulary growth and vocabulary composition during the se­ cond and third year of life. Journal of Child Lan­ guage 29, 2, 735–757. Kauschke, C., Kurth, A. & Domahs, U. (2011): Acqui­ sition of German noun plurals in typically develop­ ing children and children with Specific Language Impairment. Child Development Research. Kauschke, C. & Rothweiler, M. (2007): Lexikalischsemantische Entwicklungsstörungen. In: Schöler, H. & Welling, A. (Hrsg.): Handbuch Sonderpäda­ gogik. Bd. 3: Sonderpädagogik der Sprache (239– 246). Göttingen: Hogrefe. Kauschke, C. & von Frankenberg, J. (2008): The diffe­ rential influence of lexical variables on naming la­ tencies in German – A study on noun and verb pic­ ture naming. Journal of Psycholinguistic Research 37, 4, 243–257. Klann-Delius, G. (22008): Spracherwerb. Stuttgart: Metzler. Kleist, K. (1914): Aphasie und Geisteskrankheit. Muen­ chener Medizinische Wochenschrift LXI, 1, 8–12. Kolk, H. H. J. (1998): Disorders of syntax in aphasia: Lin­ guistic-descriptive and processing approaches. In: Stemmer, B. & Whitaker, H. (Eds.): Handbook of neu­ rolinguistics (250–261). San Diego: Academic Press. Kolk, H. H. J. (2001): Does agrammatic speech con­ stitute a regression to child language? A three-way comparison between agrammatic, child, and nor­ mal ellipsis. Brain and Language 77, 3, 340–350. Kremin, H., Perrier, D., de Wilde, M., Dordain, M., Le Bayon, A., Gatignol, P., Rabine, C., Corbineau, M., Lehoux, E. & Arabia, C. (2001): Factors predicting success in picture naming in Alzheimer’s disease and primary progressive aphasia. Brain and Cog­ nition 46, 1–2, 180–183. Laaha, S., Ravid, D., Korecky-Kröll, K., Laaha, G. & Dressler, W. U. (2006): Early noun plurals in Ger­ man: Regularity, productivity or default? Journal of Child Language 33, 2, 271–302. Lambon-Ralph, M. A., Graham, K. S., Ellis, A. W., & Hodges, J. R. (1998): Naming in semantic dementia – What matters? Neuropsychologia 36, 8, 775–784. Leonard, L. B. (1998): Children with specific language impairment. Cambridge (MA): MIT. Liebmann, A. (1901): Agrammatismus infantilis. Ar­ chiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 34, 1, 240–252.



Literatur   275

MacWhinney, B. (1991): The CHILDES project: Tools for analyzing talk. Hillsdale: Erlbaum. Marie, P. (1906): Révision de la question sur l’aphasie: L’aphasie de 1861 à 1866. Essai critique historique sur la genèse de la doctrine de Broca. La Semaine Médicale 26, 565–571. Marx, H. (2007): Theorien und Determinanten des Erwerbs der Schriftsprache. In: Schöler, H. & Wel­ ling, A. (Hrsg.): Handbuch Sonderpädagogik. Bd. 3: Sonderpädagogik der Sprache (92–147). Göt­ tingen: Hogrefe. Meibauer, J. (1995): Neugebildete -er Derivate im Spracherwerb. Ergebnisse einer Langzeitstudie. Sprache und Kognition 14, 3, 138–207. Meinzer, M. & Breitenstein, C. (2008): Functional imaging studies of treatment-induced recovery in chronic aphasia. Aphasiology 22, 12, 1251–1268. Miceli, G., Capasso, R. & Caramazza, A. (2004): The relationships between morphological and phono­ logical errors in aphasic speech: Data from a word repetition task. Neuropsychologia 42, 3, 273–287. Müller, N., Cantone, K., Kupisch, T. & Schmitz, K. (2006): Einführung in die Mehrsprachigkeitsfor­ schung. Deutsch, Französisch, Italienisch. Tübin­ gen: Narr. Murre, J. M. J., Graham, K. S. & Hodges, J. R. (2001): Semantic dementia: Relevance to connectionist mo­ dels of long-term memory. Brain 124, 4, 647–675. Oller, K. D., Eilers, R. E., Neal, R. A. & Schwartz, H. K. (1999): Precursors to speech in infancy: The pre­ diction of speech and language disorders. Journal of Communication Disorders 32, 4, 223–247. Pan, B. A. & Snow, C. E. (1999): The development of conversational and discourse skills. In: Barrett, M. (Ed.): The development of language (229–250). Hove: Psychology Press. Papoušek, M. (1994): Vom ersten Schrei zum ersten Wort. Anfänge der Sprachentwicklung in der vor­ sprachlichen Kommunikation. Bern: Huber. Patterson, K., Ralph, M. A. L., Hodges, J. R. & McClel­ land, J. L. (2001): Deficits in irregular past-tense verb morphology associated with degraded seman­ tic knowledge. Neuropsychologia 39, 7, 709–724. Penke, M. (2001): Controversies about CP: A compa­ rison of language acquisition and language impair­ ments in Broca’s aphasia. Brain and Language 77, 3, 351–363. Pick, A. (1913): Die agrammatischen Sprachstörun­ gen. Berlin: Springer. Platzack, C. (2001): The vulnerable C-domain. Brain and Language 77, 3, 364–377. Ribot, T. A. (1883): Les maladies de la mémoire. Paris: Libraire Germani Baillière. Rothweiler, M. (2002): Spracherwerb. In: Mei­bauer, J., Demske, U., Geilfuß-Wolfgang, J., Pafel, J.,

Ramers, K. H., Rothweiler, M. & Steinbach, M. (Hrsg.): Einführung in die germanistische Lingu­ istik (251–293). Stuttgart: Metzler. Rothweiler, M. (2007): Spezifische Sprachentwick­ lungsstörung und Mehrsprachigkeit. In: Schöler, H. & Welling, A. (Hrsg.): Handbuch Sonderpäda­ gogik. Bd. 3: Sonderpädagogik der Sprache (254– 258). Göttingen: Hogrefe. Rothweiler, M. & Kauschke, C. (2007): Lexikali­ scher Erwerb. In: Schöler, H. & Welling, A. (Hrsg.): Handbuch Sonderpädagogik. Bd. 3: Sonder­ pädagogik der Sprache (42–56). Göttingen: Hog­ refe. Rothweiler, M. & Kroffke, S. (2006): Bilingualer Sprach­erwerb: Simultane und sukzessive Mehr­ sprach­igkeit. In: Siegmüller, J. & Bartels, H. (Hrsg.): Leitfaden Sprache – Sprechen – Schlucken – Stimme (44–49). München: Elsevier. Saur, D., Lange, R., Baumgaertner, A., Schraknepper, V., Willmes, K., Rijntjes, M. & Weiller, C. (2006): Dynamics of language reorganization after stroke. Brain 129, 6, 1371–1384. Stenneken, P., Bastiaanse, R., Huber, W., & Jacobs, A. M. (2005): Syllable structure and sonority in language inventory and aphasic neologisms. Brain and Language 95, 2, 280–292. Stern, C. & Stern, W. (41928): Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersu­ chung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesell­ schaft. Szagun, G. (2001): Learning different regularities: The acquisition of noun plurals by German-spea­ king children. First Language 21, 62, 109–141. Tager-Flusberg, H. & Cooper, J. (1999): Present and future possibilities for defining a phenotype for specific language impairment. Journal of Speech, Language and Hearing Research 42, 5, 1275–1278. Tesak, J. (2005): Geschichte der Aphasie. Idstein: Schulz-Kirchner. Tomasello, M. (2003): Constructing a language: A usage-based theory of language acquisition. Cam­ bridge (MA): Harvard University Press. Tracy, R. & Gawlitzek-Maiwald, I. (2000): Bilingu­ alismus in der frühen Kindheit. In: Grimm, H. (Hrsg.): Enzyklopädie der Psychologie. Serie III. Bd. 3: Sprachentwicklung (495–536). Göttingen: Hogrefe. Turner, J. E., Valentine, T. & Ellis, A. W. (1998): Con­ trasting effects of age of acquisition and word fre­ quency on auditory and visual lexical decision. Memory & Cognition 26, 6, 1282–1291. Ukita, H., Abe, K. & Yamada, J. (1999): Late acqui­ red words in childhood are lost earlier in prima­ ry progressive aphasia. Brain and Language 70, 3, 205–219.

276 

Spracherwerb und Sprachverlust

Warrington, E. K. & Cipolotti, L. (1996): Word com­ prehension – The distinction between refractory and storage impairments. Brain 119, 611–625. Wei, L., Miller, N., Dodd, B. & Hua, Z. (2005): Child­ hood Bilingualism: Distinguishing Difference from Disorder. In: Ball, M. J. (Ed.): Clinical Socio­ linguistics (193–206). Oxford: Blackwell. Weissenborn, J. (2000): Der Erwerb von Morpholo­ gie und Syntax. In: Grimm, H. (Hrsg.): Sprach­ entwicklung. Enzyklopädie der Psychologie, The­

menbereich C: Theorie und Forschung. Serie III: Sprache (141–169). Göttingen: Hogrefe. Wernicke, C. (1874): Der aphasische Symptomen­ complex. Eine psychologische Studie auf anatomi­ scher Basis. Breslau: Cohn & Weigert. Zuckerman, S., Bastiaanse, R. & van Zonneveld, R. (2001): Verb movement in acquisition and apha­ sia: Same problem, different solutions – Evidence from Dutch. Brain and Language 77, 3, 449– 458.

Hören und Sprechen Anja Fiori, Dirk Deuster & Antoinette G. am Zehnhoff-Dinnesen

Für eine unbeeinträchtigt verlaufende zwi­ schenmenschliche Kommunikation stellen Hören und Sprechen unabdingbare Voraus­ setzungen dar. Phoniatrische, pädaudiologi­ sche und linguistische Fachkenntnisse bilden die Grundlage für das Verständnis der beim Hör- und Sprechvorgang beteiligten Struk­ turen und ihrer Funktionsweise. Um Beein­ trächtigungen des Hörens und Sprechens und ihren Einfluss auf die Kommunikationsent­ wicklung Betroffener im Sinne des Integra­ tions­gedankens bewerten zu können, ist es unumgänglich, auf grundlegendes Wissen über die anatomischen und physiologischen Voraussetzungen  und Entwicklungsaspekte dieser Funktionen zurückgreifen zu können. Der hier skizzierte aktuelle Forschungsstand versteht sich somit  als Rahmen, in den sich Störungen des Hörens und Sprechens sowie För­derkonzepte und Therapiemaßnahmen ein­ordnen lassen.

1  Hören Das Hören stellt die wichtigste sensorische Vor­ aussetzung der lautsprachlichen Kommuni­ kation dar. Zentrales Grundlagenwissen über Anatomie, Physiologie und Entwicklung des Hörens bildet deshalb die Voraussetzung für eine → Klassifikation von → Hörstörungen, für ein Verständnis über die Auswirkung von Hörstörungen auf die Sprachentwicklung, für den Einsatz audiometrischer Diagnostik sowie für therapeutische Interventionen u. a. auf der Grundlage von Hörgeräten oder Cochlea-Im­ plantaten (Lamprecht-Dinnesen 1984).

1.1 Anatomie und Physiologie des Hörens Das äußere Ohr (vgl. Abb. 1) beginnt mit der Ohrmuschel (Auricula) als Schalltrichter und

Abb. 1: Das menschliche Hörorgan (modifiziert nach Schindelmeiser 2005, 198)

278 

Hören und Sprechen

setzt sich im äußeren Gehörgang (Meatus acusticus externus) fort, dessen Konfiguration die Sprachfrequenzen durch Resonanzphänome­ ne verstärkt. Der Meatus acusticus externus endet am Trommelfell (Membrana tympanica), einer hauchdünnen, straff gespannten Membran, der ersten Struktur des Mittelohrs (Auris media) (Boenninghaus & Lenarz 2000, 4 ff.). Die Schallwellen versetzen die Membrana tym­ panica in Schwingungen. Die Bewegungen werden auf die Gehörknöchelchen (Ossicula auditoria) Hammer (Malleus), Amboss (Incus) und Steigbügel (Stapes) in der Pauken­ höhle (Cavitas tympanica) übertragen. Diese wird über die Eustachische Röhre bzw. Ohr­ trompete (Tuba auditiva) (vgl. Abb. 1), die im

Nasenrachen (Epipharynx) beginnt und Luft­ druckschwankungen ausgleicht, belüftet. Mit 20-facher Druckverstärkung kommt es zu einer Auslenkung der Stapesfußplatte im ovalen Fenster (Fenestra vestibuli) des Innenohres (Auris interna) mit Volumenver­ schiebung der angrenzenden Perilymphe in der Hörschnecke (Cochlea; vgl. Abb. 2) beste­ hend aus dem Schneckengang (Ductus cochlearis; vgl. Abb. 1–3) und dem Labyrinthus cochlearis. Die zweieinhalb Windungen der knöchernen Cochlea sind in zwei schlauchförmige Räume, die Scala vestibuli und die Scala tympani, geteilt (vgl. Abb. 2 und 3). Diese beiden Etagen sind an der Spitze der Cochlea durch das Helicotrema verbunden. Sie sparen seit­

Abb. 2:  Die Cochlea (modifiziert nach Schindelmeiser 2005, 216) 1 = Paries vestibularis ductus cochlearis (Reissner-Membran) 2 = Lamina basilaris (Basilarmembran) 3 = Stria vascularis



Hören   279

Abb. 3:  Der Ductus cochlearis (modifiziert nach Schindelmeiser 2005, 217)

lich ein kleines Dreieck aus, in dem sich die mit Endolymphe gefüllte häutige Cochlea be­ findet. Diese auch als Ductus cochlearis (vgl. Abb.  3) bezeichnete Struktur endet blind in der Spitze der Cochlea. Die obere Seite des Dreiecks des Ductus cochlearis (vgl. Abb. 3) wird von der Reissner Membran (Membrana vestibuli) gebildet, die seitliche Begrenzung trägt die Endolymphbildende Stria vascularis. Den Boden bildet die Basilarmembran (Lamina basilaris), der

das Corti-Organ (Organum spirale) aufsitzt (vgl. Abb. 3 und 4). Das Corti-Organ (vgl. Abb. 3 und 4) ent­ hält Stützzellen, eine Reihe innerer sowie drei Reihen äußerer Haarzellen und zwei mit Cor­ ti-Lymphe gefüllte Tunnelräume. Die Sinnes­ haare der äußeren Haarzellen stehen mit der Membrana tectoria in Verbindung, die das Organum spirale überlappt. Die durch die Schallwellen ausgelöste Vo­ lumenverschiebung der Perilymphe führt zu

Abb. 4: Das Corti-Organ (modifiziert nach Schindelmeiser 2005, 218)

280 

Hören und Sprechen

Abb. 5:  Die Hörbahn (modifiziert nach Schindel­ meiser 2005, 219)

einer Auslenkung des Ductus cochlearis und damit der Lamina basilaris. Die resultierende Wanderwelle erreicht ihre maximale Auslen­ kung bei Schallwellen hoher Frequenz nahe dem Fenestra vestibuli, bei Schallwellen nied­ riger Frequenz nahe dem Helicotrema. Die Ausbauchung der Lamina basilaris führt bei Verschiebung der Membrana tectoria zu ei­ ner Abscherung der Sinneshaare der äußeren Haarzellen (Probst et al. 2000, 160 ff.). Ionen­ kanäle an den oberen Zellpolen öffnen sich, Kaliumionen aus der Endolymphe strömen in die Zellen ein, die elektrische Spannungs­ änderung bewirkt eine Kontraktion der äu­ ßeren Haarzellen, die muskuläre Elemente beinhalten. Im Bereich des Amplitudenma­ ximums der Wanderwelle wird die Schwin­ gung verstärkt. Dadurch wird bei Verschie­ bung der Cortilymphe auch eine Abscherung

der Sinneshaare der inneren Haarzellen ge­ gen die Membrana tectoria möglich. Die Spannungsänderung in der inneren Haarzelle führt zu einer Freisetzung von Transmitter­ stoffen am unteren Zellpol in den synaptischen Spalt zwischen Zelle und Nervenfaser. Die erregten inneren Haarzellen leiten ein elektrisches Signal an die Hörnervenfasern (Nervi cochleares; vgl. Abb. 4) nach zentral weiter. Der Hörnerv (Nervus vestibulocochlearis) verlässt den Meatus acusticus internus durch den Porus acusticus internus und tritt in Höhe des Kleinhirnbrückenwinkels (Angulus pontocerebellaris) in den Hirnstamm ein (vgl. Abb. 5). In den Cochleariskernen (Nuclei cochlearis) werden etwa 90 % aller Fasern zur Gegenseite umgeschaltet, 10 % verlaufen weiter ipsilateral. Es erfolgt außerdem eine



Sprechen   281

Aufteilung in eine „schnelle“, synapsenarme Bahn, die direkt zum Colliculus inferior führt, und eine „langsame“, synapsenreiche Verbin­ dung über weitere Verschaltungsstellen nach zentral in den Cortex (vgl. Abb. 5). Die „lang­ samere“ Verbindung verläuft über den oberen Olivenkern (Nucleus olivaris superior), in dem die Informationen beider Ohren miteinander verrechnet werden, den Colliculus inferior, in dem die schnelle und die langsame Bahn wie­ der zusammentreffen, und über das Corpus geniculatum mediale zur Heschl-Querwindung (vgl. Abb.  5) im Temporallappen, dem Bereich der Hirnrinde, der den primären auditorischen Cortex und ein auditorisches As­ soziationsfeld umfasst (→ Sprache und Ge­ hirn).

1.2 Frühe Hörentwicklung Zu Beginn der Hörentwicklung (vgl. Eysholdt 2005) entwickelt sich das Hörorgan im Rah­ men der Embryonalentwicklung sehr früh. Bereits ab der dritten Schwangerschaftswoche (SSW) sind die Anlagen hierzu vorhanden. Die Ausdifferenzierung des Labyrinths ist in der zwölften SSW abgeschlossen. Ab der zwei­ undzwanzigsten Schwangerschaftswoche re­ agiert der Fötus mit veränderter Herzfrequenz und Bewegungen auf akustische Reize. Nach der Geburt findet kein Wachstum des Hörorgans mehr statt. Die zentralen Hörbah­ nen sind bereits vorhanden; Myelinisierung und Synapsenbildung erfolgen jedoch postna­ tal. Dabei findet die Myelinisierung reifungs­ bedingt im ersten Lebensjahr statt und führt zu einer Beschleunigung der Reizverarbei­ tung, während die Synaptogenese (Bahnung) bis zum zweiten bis vierten Lebensjahr in Ab­ hängigkeit von kontinuierlicher akustischer Stimulation stattfindet. Dabei gehen seltener aktivierte kortikale Synapsen zugrunde, wäh­ rend häufiger verwendete erhalten bleiben. Die Bahnung vollzieht sich bevorzugt wäh­ rend kritischer Zeitfenster, den so genannten sensiblen Phasen. Außerhalb dieser Phasen verläuft sie weniger intensiv.

Das Neugeborene zeigt Reaktionen auf über­ schwellige Hörreize (etwa 80 dB) mit Bewegungsveränderungen, Schreckreaktionen  und beschleunigter Atmung (→ Intersubjektive Kom­ munikation). Die Reaktionsschwelle nimmt, be­ dingt durch die Hörbahnreifung, im Laufe der ersten zwei Lebensjahre kontinuierlich ab. Ab der zwölften Lebenswoche setzt die erste Lallperiode ein, in der das Kind lustvoll seine stimmlichen und sprechmotorischen Möglichkeiten ausprobiert. Die Laute sind universell und nicht auf das Lautinventar der Muttersprache reduziert. In der zweiten Lallperiode, die zwischen dem sechsten und neunten Lebensmonat ein­ setzt, ahmt das Kind zunächst eigene, dann zunehmend Lautproduktionen aus der Umge­ bung nach und nähert sein Lautinventar dem Gehörten der Muttersprache an (→ Sprach­ entwicklung und Sprachabbau). Das Ausblei­ ben dieser an der lautsprachlichen Umwelt orientierten zweiten Lallperiode kann Anzei­ chen einer → Hörstörung sein und sollte in jedem Falle zur Überprüfung des Hörvermö­ gens führen.

2  Sprechen Analog zum rezeptiven Hörvorgang stellt das Sprechen die wichtigste motorische Voraus­ setzung der lautsprachlichen Kommunika­ tion dar. Grundkenntnisse der anatomischen und physiologischen Bedingungen der Stimm­ gebung und des Sprechens, der phonetischen Grundlagen der Lautbildung sowie der Entwicklung dieser Funktionen bilden deshalb die Voraussetzung für eine → Klassifikation von Stimmstörungen, → Schluckstörungen und →  Sprechstörungen sowie deren Diagnostik und Therapie. In einer fachsystematischen Darstellung sind dabei die Begriffe „Sprache“ und „Spre­ chen“ grundsätzlich voneinander abzugrenzen (→ Sprache und Sprechen): Während Sprache bzw. Sprachkompetenz sich auf das abstrakte

282 

Hören und Sprechen

Regelsystem Sprache – unterteilt in die lingu­ istischen Ebenen Pragmatik/Kommunikation, Semantik/Lexikon, Syntax/Mor­phologie so­ wie Phonologie – und dessen Erwerb und An­ wendung beziehen (→ Sprache und Gehirn, →  Sprachentwicklung und Sprachabbau), stellt das Sprechen das reale Medium direkter, interpersoneller lautsprachlicher Kommuni­ kation dar. Es beinhaltet Stimmgebung, Laut­ bildung, Koartikulation, Suprasegmentalia sowie zentrale Steuerungs- und Planungspro­ zesse und ist der linguistischen Ebene der Pho­ netik zuzuordnen.

2.1 Anatomie und Physiologie des Sprechens Beim Sprechvorgang stellt die Stimme die Hörbarkeit des Gesagten sicher. Um das fertige „Endprodukt“ der gesprochenen Sprache ein­ schätzen zu können, ist ein Grundverständnis der aufeinander aufbauenden und miteinan­ der verwobenen Prozesse der Atmung (Respiration), Stimmgebung (Phonation) und Laut­ bildung (Artikulation) unabdingbar.

Respiration Grundlage der Respiration ist der so genann­ te „Atmungsapparat“ bzw. Respirationstrakt (vgl. Abb. 6) mit den anatomischen Struktu­ ren Zwerchfell (Diaphragma), Atemhilfsmus­ kulatur, Lunge (Pulmo) mit den Lungenlappen (Lobi pulmonales) und Lungenbläschen (Alveo­ len), Luftröhre (Trachea), Kehlkopf (Larynx), Rachen (Pharynx), Mundhöhle (Cavitas oris), Nase (Cavitas nasi) und Nasennebenhöhlen (Sinus paranasales). Die primäre Funktion der Respiration ist die des Gasaustausches. Bei der Einatmung (Inspiration) passiert der Atemstrom die Nase, den Mund- und Rachenraum, den Larynx und die Trachea, um in der Lunge den Gas­ austausch über die Alveolen zu ermöglichen. Dabei erfolgt durch Weitung des Brustkorbes (Thorax) und Absenken des Zwerchfells eine passive Ausdehnung der Lunge, die sich mit Atemluft füllt. Bei der Ausatmung (Exspira­ tion) hebt sich das Zwerchfell, der Thorax senkt sich und durch elastische Rückstellkräf­ te verringert sich das Lungenvolumen. Die Luft entweicht über die genannten anatomischen Strukturen. Je nach Schwerpunkt der Atem­

Abb. 6: Der Respirationstrakt (modifiziert nach Sobotta 1993)



Sprechen   283

Abb. 7:  Der Larynx im Querschnitt (modi­ fiziert nach Schindel­ meiser 2005, 85)

bewegungen wird der überwiegend thorakale („Brustatmung“) vom überwiegend abdominalen („Bauchatmung“) Atemtyp abgegrenzt. Die Mischform der costoabdominalen Atmung wird als physiologische Phona­tionsatmung beschrieben, bei der ein optimales Kräfte­ gleichgewicht zwischen Atem- und Kehlkopf­ muskulatur vorliegt.

Phonation Dem Kehlkopf (vgl. Abb. 7) wird eine doppel­ te Funktion zugeordnet: Die primäre, reflek­ torische Sphinkterfunktion zum Schutz der unteren Atemwege vor Fremdkörpern, Sekret oder Nahrungsbestandteilen und die sekundä­ re Funk­tion als Tongenerator bei der Phonation.

Abb. 8a: Stimmlippen in Respirationsstellung (geöffnet)

Abb. 8b: Stimmlippen in Phonationsstellung (geschlossen)

284 

Hören und Sprechen

Während die „Stimmritze“ (Glottis) bei der Respiration geöffnet ist (Atemdreieck), wird sie durch Veränderung der Position der Stellknor­ pel (Cartilagines arytaenoidei) und Anein­ anderlegen der Stimmlippen (Plicae vocales)1 bei Phonationsabsicht geschlossen (vgl. Abb. 8a und 8b). Aufgrund des subglottischen Anblase­ drucks werden die Stimmlippen auseinander­ getrieben, nach schneller Ausströmung der Atemluft durch den Bernoulli-Effekt mit Sog­ wirkung wieder geschlossen und bei Wieder­ holung dieser Abläufe in regelmäßige Schwin­ gungen versetzt (Böhme & Gross 2001) (vgl. Abb. 9). Auf diese Weise wird der primäre Kehlkopfton erzeugt. Durch die individuelle Konfiguration des so genannten „Ansatzroh­ res“ (vgl. Abb. 10) erhält die Stimme aufgrund von Resonanzphänomenen ihren charakte­ ristischen Klang. Tonhöhen- und Lautstärke­ unterschiede werden durch Variationen der

Länge und Spannung der Stimmlippen und des subglottischen Anblasedrucks erreicht. Artikulation An der Artikulation der Laute einer Sprache sind die Ansatzräume (vgl. Abb. 10) beteiligt (Wirth, 2000). Die Lautbildung erfolgt primär durch koordinierte Bewegungen der Lippen (Labia), der Zunge (Lingua) und des Unter­ kiefers (Mandibula). Das „Gaumensegel“ (Palatum molle, Velum palatinum) trennt den Na­ senrachen (Nasopharynx) vom Mundrachen (Oropharynx). Seine Bewegungen bestimmen das Ausmaß nasaler Resonanz beim Spre­ chen. Ein funktionierender velopharyngealer Abschluss ist Voraussetzung für einen hinrei­ chenden oralen Druckaufbau zur Bildung ora­ ler Laute (vgl. Böhme 42003). Exkurs: Phonetische Grundlagen

Die Phonetik setzt sich mit den physiologischen Bedingungen der Lautbildung und Lautwahr­ nehmung auseinander (vgl. u. a. Pétursson & Neppert 1991). Es werden auf der Ebene des Sprechens die Eigenschaften der Laute (Phone) beschrieben, ohne dass der Systemcha­ rakter des Lautinventars der Sprache bzw. der Sprachkompetenz berücksichtigt wird. Aussa­ gen hierüber oder über die Funktion der Lau­ te sind der Ebene der Phonologie zuzuordnen (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau). Es lassen sich mehrere Beschreibungsebenen ein­ teilen: • die artikulatorische Phonetik beschreibt Aufbau und Funktion des Sprechappara­ tes, • die akustische Phonetik die Struktur des Sprachschalls und • die perzeptive Phonetik die auditive Wahr­ nehmung des Sprechproduktes beim Re­ zipienten, aber auch die kinästhetische Wahrnehmung der Artikulationsorgane beim Sprecher.

Abb. 9: Schematische Darstellung des Schwingungs­ ablaufs der Stimmlippen (aus: Wendler et al. 2005, 79 [Ausschnitt])

Wichtiges Beschreibungsinstrument ist das von der 1886 in Paris gegründeten International Phonetic Association erstmals 1888 veröffent­



Sprechen   285

Abb. 10: Die Ansatzräume im Sagittalschnitt (modifiziert nach Sobotta 1993)

lichte und seitdem bis zum Jahr 2005 kontinu­ ierlich überarbeitete Internationale Phonetische Alphabet (IPA, vgl. Abb. 11–12, Tab. 1). Seine Symbole – speziell auch die diakritischen Zei­ chen – sind Grundlage der Transkription ge­ sprochener Sprache und deren Verwendung in der Diagnostik (→ Sprechstörungen, → Ent­ wicklungsbedingte Sprachstörungen). Bezüglich der Lautbildung wird prinzi­ piell zwischen Vokalen und Konsonanten unterschieden. Vokale sind Laute, die ohne Hindernis im Mund- und Rachenraum bei

weitgehendem velopharyngealen Abschluss gebildet werden. Durch den Grad der Kiefer­ öffnung und die Zungen- und Lippenstellung bei Phonation entsteht der charakteristische Klang eines Vokals. Dabei dienen die Ansatz­ räume als Resonator. Je nach Stellung der be­ teiligten Organe werden bestimmte Frequen­ zen oberhalb des primären Kehlkopftons verstärkt, andere abgeschwächt. Die so entste­ henden Formanten (vgl. Abb. 11) bestimmen maßgeblich das charakteristische Klangbild der Vokale (Friedrich 2000).

286 

Hören und Sprechen

Abb. 11: Vokale und Formanten (aus: Wendler et al. 2005, 22)

Konsonanten sind Laute, die durch Überwindung eines Hindernisses (Verschluss oder Enge) im Mund- und/oder Rachenraum durch den Ausatemstrom entstehen. Ein solches Hinder­ nis wird zum Beispiel gebildet durch Anlegen der Zungenspitze an den harten Gaumen (Palatum durum). Eine erste Einteilung der Kon­ sonanten (vgl. Abb. 12) erfolgt nach den Artikulationszonen, die dem Sagittalschnitt durch die Ansatzräume zugeordnet werden (vgl. Abb. 12). Bei der Beschreibung des Phoninventars einer Sprache werden die Konsonanten nach den Parametern Artikulationsort (gem. Sa­ gittalschnitt, Abb. 12), Artikulationsart und Stimmbeteiligung (stimmhafte vs. stimmlose Laute) eingeteilt. Anhand der Artikulations­ art wird beschrieben, auf welche Weise das

im Mund- und Rachenraum hergestellte Hin­ dernis durch den Ausatemstrom überwunden wird. Unterschieden werden demnach Plosive (explosionsartige Öffnung eines Verschlus­ ses), Frikative (Entstehen eines Reibege­ räuschs bei Überwindung einer Enge), Nasale (nasale Passage der Ausatemluft bei Phonati­ on durch Absenken des Velums und Öffnung des Nasenrachens), Vibranten (intermittie­ render Verschluss), Laterale (seitliche Passa­ ge) und Affrikate (Kombination eines Plosivs mit einem Frikativ). Aufgrund dieser Syste­ matik kann jeder konsonantische Laut einer Sprache eindeutig beschrieben werden (vgl. Tab. 1). Anhand der oben beschriebenen Kriterien werden „Idealtypen“ der Phone einer Sprache beschrieben. Bei der tatsächlichen Realisie­ rung der Laute im Sprechfluss kommt es zu Veränderungen in Abhängigkeit von der laut­ lichen Umgebung, die als Koartikulation oder assimilatorische Vorgänge bezeichnet werden. Das Erkennen eines Sprachlauts anhand der distinktiven Merkmale stellt demnach bereits eine Abstraktionsleistung dar, da irrelevan­ te akustische Variationen bei der Lautunter­ scheidung ausgeblendet werden müssen. Die Phonotaktik beschreibt die Regeln, nach denen die Laute einer Sprache zu Wör­ tern zusammengefügt werden dürfen. Die

Abb. 12: Die Artikulationszonen (aus: Weinrich & Zehner 2003, 7)



Sprechen   287

Tab. 1:  Lautinventar Konsonanten (Phone, die nicht zur deutschen Sprache gehören, sind in grau abgedruckt. Gibt es von einem Laut eine stimm­ lose und eine stimmhafte Variante, so ist die stimmhafte unter der stimmlosen aufgeführt.)

möglichen Lautfolgen einer Sprache unter­ liegen phonotaktischen Gesetzmäßigkei­ ten. Auf suprasegmentaler (lautübergreifen­ der) Ebene wird der Sprachschall prosodisch strukturiert. Prosodische Merkmale sind der Tonhöhenverlauf, die Dynamik (Lautstär­ keänderungen), das Sprechtempo und die Pausensetzung. Sie markieren Akzente beim Sprechen von Wörtern und Sätzen.

2.2  Entwicklung des Sprechens Der kindliche Lauterwerb wird innerhalb psy­ cholinguistischer Theorien mit unterschied­ lichen Schwerpunkten beschrieben. Noch für die heutige Zeit prägend sind die Untersu­ chungen von Roman Jakobson (1969), der in seinem universalistischen Ansatz strukturalis­ tische Entwicklungsgesetze (→ Zeichen und Semiose) des Lautsystems beschrieben hat. Nach einer unsystematischen vorsprachlichen Phase (1. Lallperiode) (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau), die vor allem für die Aus­ differenzierung des sprechmotorischen Be­ wegungsrepertoires genutzt wird, erfolgt der

systematische Sprachlauterwerb, der univer­ sellen Gesetzmäßigkeiten folgt. Zu nennen ist hier der Grundsatz des maximalen Kontrasts, nach dem Lautoppositionen in ihren distink­ tiven Merkmalen in einer bestimmten Reihen­ folge erlernt werden. Der früheste Kontrast ist demnach der zwischen den Merkmalen „kon­ sonantisch“ (maximaler Verschluss, [p]) und „vokalisch“ (maximale Öffnung, [a]), dann folgt der zwischen oral ([p]) und nasal ([m]). So differenziert sich das Lautsystem kontinu­ ierlich weiter „…  vom Einfachen und Unge­ gliederten zum Abgestuften und Differenzier­ ten …“ (Jakobson 1969, 93) aus. Nach diesen universalistischen Ansätzen (Jakobson 1969, Stampe 1979) steht zunächst die rein sprech­ motorische Lautbildung im Vordergrund, woran sich der Aufbau des Lautsystems an­ schließt. Demgegenüber stehen interaktionistische und kognitivistische Ansätze (Ferguson & Farwell 1975, Macken & Ferguson 1983), die die Individualität und Variabilität der kind­ lichen Lautentwicklung in den Vordergrund stellen. Vertreter dieser Ansätze gehen da­ von aus, dass ein Kind sich das Lautsystem

288 

Hören und Sprechen

Alter

75 %-Kriterium b

p

v

f

d

t

n

90 %-Kriterium l

g

k

h

m  b  d  t  n

1;6–1;11

m

2;0–2;5

pf

p  f  v  l

2;6–2;11

l  ŋ  ç  x  ʁ

x  g  k  h  ʁ  pf j  ŋ

3;0–3;5 3;6–3;11

Tab. 2:  Phonerwerb des Deutschen nach Fox & Dodd (1999)

ʃ

4;0–4;5

ç

4;6–4;11

ʃ

5;0–5;5

seiner Sprache aktiv, beeinflusst durch au­ ditive, sprechmotorische und kognitive Fak­ toren, aneignet und dabei hypothesengeleitet vorgeht. Sie betonen die Selektivität und Kre­ ativität des Kindes in der Lautverwendung. Tabelle 2 zeigt den Phonerwerb des Deut­ schen bei Kindern von 1;6 bis 5;11 Jahren, wie er von Fox & Dodd (1999) beschrieben wur­ de. Dabei wird nach dem 75 %-Kriterium ein Laut als erworben betrachtet, wenn 75 % der Kinder einer Altersgruppe ihn mindestens zweimal korrekt produziert haben, nach dem 90 %-Kriterium, wenn dies für 90 % der Kin­ der einer Altersgruppe zutrifft, unabhängig von der korrekten phonologischen Lautver­ wendung. Birner-Janusch (2007) beschreibt den Er­ werb der Praxie als kognitiven Entwicklungs­ prozess, bei dem die systematische Verzah­ nung zwischen Artikulationsbewegungen und der auditiven Wahrnehmung ab der zwei­ ten Lallperiode im Sinne eines sensomotorischen Integrationsprozesses stattfindet. Dabei stellt die Silbe die maßgebliche Sprechein­ heit dar. Der Beginn des kanonischen Lal­ lens (Ketten von Konsonant-Vokal-Silben) im zweiten Lebenshalbjahr ist der auslösende Entwicklungsschritt zum Erwerb der Praxie. Praxie wird als neurologischer Prozess de­ finiert, durch den die Kognition die Moto­ rik steuert (→ Sprache und Gehirn). Für das Sprechen ist die motorische Planung und Pro­ grammierung der Sprechbewegungen, der Übergang der Artikulatoren von Sprechbe­ wegung zu Sprechbewegung im Sinne einer Generierung willkürlicher Bewegungsmuster,

Bewegungsauswahl, -planung, -organisation und Initiierung des motorischen Musters zu erwerben.

3 Forschungsperspektiven Vor dem Hintergrund der dargestellten Kennt­ nisse zur Notwendigkeit einer frühen und kontinuierlichen akustischen Stimulation für eine adäquate Hörbahnreifung stehen für die zukünftige Forschung vor allem die Aspek­ te der Früherkennung von Hörstörungen (vgl. American Academy of Pediatrics, Joint Com­ mittee on Infant Hearing 2007) und damit verbunden der frühen apparativen Versor­ gung und Förderung hörgeschädigter Kinder im Vordergrund (Neumann et al. 2006, KieseHimmel & Reeh 2007, Eisenberg et al. 2007, Durieux-Smith et al. 2008). Um verantwor­ tungsvolles Handeln im Sinne der Betroffenen zu ermöglichen, ist es notwendig, Normda­ ten zur frühen Kommunikationsentwicklung und normierte Materialien zur Überprüfung und Verlaufsdokumentation für den deutsch­ sprachigen Raum zu entwickeln, zu erproben und flächendeckend zur Verfügung zu stellen. Interventionsprogramme sollten anhand ent­ sprechender Materialien auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden. Bezüglich des Sprechens ist die stärkere in­ terdisziplinäre Verzahnung des Grundlagen­ wissens wünschenswert. Auf der Grundlage psycholinguistischer Modelle sollten Norm­



Literatur   289

daten zur Entwicklung der Sprechverarbei­ tung und der Praxie ermittelt werden, um für die Beurteilung abweichender Entwicklungs­ verläufe Referenzdaten zur Verfügung zu ha­ ben. Auch hier sind Wirksamkeits­nachweise im Sinne einer evidence based prac­tice prakti­ zierter Fördermaßnahmen notwendig (→ Un­ terrichts- und Therapieforschung, →  Quali­ tätsentwicklung).

Anmerkung 1 Hier werden, je nach Fachdisziplin, unterschied­ liche Termini zur Bezeichnung der beteiligten Strukturen verwendet. Während im medizi­ nisch-funktionellen Kontext wie im Text von den „Stimmlippen“ (plicae vocales) gesprochen wird, womit die Schleimhautstrukturen gemeint sind, die bei der Stimmgebung in Schwingung versetzt werden, verwendet die Anatomie den Begriff „Stimmband“ oder ligamentum vocalis, der sich hier in Abbildung 7 findet, aus funktioneller Sicht jedoch ungenau ist. Die anatomische Lage ist die gleiche, da die Schleimhautstrukturen dem ei­ gentlichen Stimmband aufliegen.

Literatur American Academy of Pediatrics, Joint Committee on Infant Hearing (2007): Year 2007 position state­ ment: Principles and guidelines for early hearing detection and intervention programs. Pediatrics 120, 4, 898–921. Böhme, G. (42003): Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen. München: Urban & Fischer. Böhme, G. & Gross, M. (2001): Stroboskopie und andere Verfahren zur Analyse der Stimmlippen­ schwingung. Heidelberg: Median. Birner-Janusch, B. (2007): Sprechapraxie im Kindes­ alter. In: Springer, L. & Schrey-Dern, D. (Hrsg.): Sprechapraxie im Kindes- und Erwachsenenalter (72–127). Stuttgart: Thieme. Boenninghaus, H.-G. & Lenarz, T. (2000) (Hrsg.): Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde für Studierende der Medizin. Heidelberg: Springer.

Durieux-Smith, A., Fitzpatrick, E. & Whittingham, J. (2008): Universal Newborn hearing screening: A question of evidence. International Journal of Au­ diology 47, 1, 1–10. Eisenberg, L. S., Widen, J. E., Yoshinaga-Itano, C., Norton, S., Thal, D., Niparko, J. K. & Vohr, B. (2007): Current state of knowledge: implications for developmental research – Key issues. Ear and Hearing 28, 6, 773–777. Eysholdt, U. (2005): Entwicklung und Reifung. In: Wendler, J., Seidner, W. & Eysholdt, U. (Hrsg.): Lehrbuch der Phoniatrie und Pädaudiologie (366– 368). Stuttgart: Thieme. Ferguson, C. A. & Farwell, C. B. (1975): Words and sounds in early language acquisition. Language 51, 2, 419–439. Fox, A. V. & Dodd, B. J. (1999): Der Erwerb des pho­ nologischen Systems in der deutschen Sprache. Sprache – Stimme – Gehör 23, 4, 183–191. Friedrich, G. (2000): Resonanzfunktion und Vokal­ entstehung. In: Friedrich G., Bigenzahn W. & Zo­ rowka P. (Hrsg.): Phoniatrie und Pädaudiologie. Bern: Huber. Jakobson, R. (1969): Kindersprache, Aphasie und ­a llgemeine Lautgesetze. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kiese-Himmel, C. & Reeh, M. (2007): Orale Sprach­ entwicklung bilateral schallempfindungsgestörter Kinder – Ein empirischer Längsschnitt. Gesund­ heitswesen 69, 4, 249–255. Lamprecht-Dinnesen, A. (1984): Beidseitige Hörres­ tigkeit/Taubheit und Cochlear Implants. In: Pa­ scher W. & Bauer H.: Differentialdiagnose von Sprach-, Stimm- und Hörstörungen. Frankfurt a. M.: Wötzel. Macken, M. & Ferguson, C. A. (1983): Cognitive as­ pects of phonological development: Model evi­ dence and issues. In: Nelson, K. E. (Ed.): Children’s Language. Vol. 4. Hillsdale: Earlbaum. Neumann, K., Gross, M., Böttcher, P., Euler, H. A., Spormann-Lagodzinski, M. & Polzer, M. (2006): Effectiveness and efficiency of a universal new­ born hearing screening in Germany. Folia Phonia­ trica 58, 6, 440–455. Pétursson, M. & Neppert, J. (1991): Elementarbuch der Phonetik. Hamburg: Buske. Probst, R., Grevers, G. & Iro, H. (Hrsg.) (2000): HalsNasen-Ohren-Heilkunde. Stuttgart: Thieme. Stampe, D. (1979): A dissertation on natural phonolo­ gy. New York: Garland.

Lesen und Schreiben Claudia Osburg & Renate Valtin

1  Einleitung Lesen- und Schreibenlernen beginnen lange vor der Schule. Die 4-jährige Lena „liest“ ih­ rem kleinen Bruder ein Bilderbuch vor: „Ja, sagte der Igel zum Fuchs, lass uns ein Wettren­ nen machen.“ Sie kennt kaum Buchstaben und kann im eigentlichen Sinn nicht lesen, aber sie hat bereits eine grundlegende Funktion von Schrift erkannt. Der 6-jährige Manuel sagt zu seiner 3-jährigen Schwester: „Hier musst du unterschreiben, wenn du mitspielen willst.“ Er gibt ihr einen Stift und sie kritzelt etwas auf die Stelle, die er ihr zeigt (vgl. Abb. 1). Auch diese Kinder haben bereits Erfahrungen mit Schrift erworben.

Abb. 1:  Die Unterschrift als „Kritzelbrief“

Die ersten kindlichen Schrifterfahrungen sind ungelenkt. In der Schule sollen sich die Kin­ der aber auf gelenkte und strukturierte Weise unser Schriftsystem aneignen. Dies stellt so­ wohl für Kinder – insbesondere für jene mit (sprachlichen) Auffälligkeiten – als auch für Lehrende eine besondere Herausforderung dar.

2 Zur Geschichte der Schrift oder Schrift als Kulturtechnik Die Geschichte des Schreibens ist immer zu­ gleich auch eine Geschichte der Schrift, die sich in der Ontogenese partiell phylogene­ tisch wiederholt. Genauso wenig wie Kinder, die Fahrradfahren lernen, das Rad neu erfin­ den müssen, haben Lese- und Schreibanfänger die Phylogenese zu durchleben, um Lesen und Schreiben zu lernen. Aber sie müssen Beson­ derheiten des Gegenstandes erkennen, um Er­ folg beim Lernen zu haben. „Ich hatte Angst, mich mit meinem Nach­ barn zu unterhalten, weil ich fürchtete, sie könnten hören, dass ich nicht lesen und schrei­ben kann“ (Giese & Gläß 1984, 30). Der erwachsene „Analphabet“ zeigt in dem Zitat von Heinz Giese und Bernhard Gläß bereits ein hohes Maß an Reflexion. Schreibenkön­ nen verändert das Sprechen, so könnte das Zi­ tat – ungeachtet der individuellen Probleme – reformuliert werden. Auch diese – ontogenetische – Aussage hat phylogenetische Wurzeln und ist charak­ teristisch für eine literalisierte Kultur. „Das Schreiben konstruiert das Denken neu“, wie Walter Ong (1987) postuliert, oder die ge­ schriebene Sprache sei ein „wesentliches Mit­ tel der Denkprozesse“, so konkretisiert es Aleksandre Lurija (1982, 244). Das Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache unterliegt einem stetigen Wandel und wird sich auch weiterhin neu definieren müssen, da sich mit der Etablierung neuer → Medien (wie des technischen Zeitalters) auch kultu­ relle Veränderungen ergeben (vgl. im Folgen­ den Osburg 2000, 10 ff.). Was als Schrift zu verstehen ist, hängt ebenso von der jeweiligen Definition ab wie der Beginn des Schriftspracherwerbs bei Kin­



Zur Geschichte der Schrift oder Schrift als Kulturtechnik   291

Abb. 2: Höhlenzeichnungen in der Höhle von Lascaux (aus: Delluc et al. 1991)

dern. Walter Ong (1987, 86) verweist auf The­ orien, die bereits jedes semantische Zeichen (→ Zeichen und Semiose) als „Schrift“ deu­ ten. Hiernach wäre die geschriebene Spra­ che fast so alt wie die gesprochene. Die ersten Aufzeichnungen sind auf die Wiedergabe von Inhalten gerichtet. Sie haben die Funktion ei­ ner Gedächtnisstütze und sollen Botschaften hinterlassen. Dabei dienen Höhlenzeichen genauso wie Phraseogramme oder Logo­ gramme als schriftliche Repräsentationssys­ teme (vgl. Abb. 2, 3a und 3b). Adrian Fruti­ ger sieht Funde aus der Eiszeit vor mehr als 60 000 Jahren unserer Zeitrechnung als Vor­ läufer der Schrift, die „aber niemals direkt in

Verbindung stehend Vorlagen von dem [sind], was wir heute eine ‚Schrift‘ (selbst eine Bilder­ schrift) nennen“ (Frutiger 1981, 11). Die ersten lautlichen Beziehungen von ge­ sprochener und geschriebener Sprache kön­ nen um 1500 v. Chr. verankert werden (vgl. Ong 1987, 91) (→ Person und Sprache). Bei diesen Schriften von semitischen Völkern fehlen aber die Vokale. Mit der Erfindung des griechischen Alphabets (vgl. Abb. 3c) hat in unserer westlichen Kultur eine individu­ elle und kulturelle Revolution stattgefunden (vgl. Coulmas 1981, Frutiger 1981, Havelock 1990, Ludwig 1994). Das griechische Alphabet schließt die Vokale mit ein und zerlegt „den Klang auf abstraktere Weise in räumliche Komponenten“ (Ong 1987, 92). Das Besonde­ re der Alphabetschrift ist ihre Abstraktheit – aber gerade hierin liegt eine Schwierigkeit für den Lernenden. Anfänglich dient das grie­ chische Alphabet der Produktion und Repro­ duktion von gesprochener Sprache mit dem Ziel, Inhalte wiederzugeben. Das Bedienen von Graphemen, die in Verbindung zu Lauten stehen, ist dabei nur Mittel zum Zweck. Ziel ist es nie gewesen, Laute wiederzugeben. Auch das Prestige und der Umgang mit Schrift unterliegen einem Wandel. Im Mit­ telalter ist die gesellige Form der geschriebe­ nen Sprache vorherrschend (vgl. Knoop 1993, 218 ff.). Schreiben gilt als niedrige Tätigkeit und wird wie ein Handwerk angeboten. Briefe werden diktiert und müssen dem Empfänger vorgelesen werden. Es ist damit kein Privi­

Abb. 3a: Das Phraseogramm (schriftliche Repräsentation einer ganzen Phrase) (aus: Bodmer 1997)

292 

Lesen und Schreiben

leg, Lesen und Schreiben zu können, sondern es ist Privileg, sich einer Person bedienen zu können, die dieses Handwerk beherrscht. Le­ sen ist an lautes Lesen, an Vorlesen gebunden, und eine rein schriftliche Verständigung ist zunächst nicht beabsichtigt. Das Verhältnis von gesprochener und ge­ schriebener Sprache ändert sich grundlegend, nachdem der Wert des leisen Lesens entdeckt wird. Die geschriebene Sprache wird nun si­ tuationsunabhängig und ist nicht mehr in mündliche Kontexte und Situationen einge­ bunden. Die geschriebene Sprache setzt sich allmählich in allen Bevölkerungsschichten durch (vgl. Ludwig 1994) – der Nährboden für eine kulturelle Revolution ist geschaf­ fen. Schrift kann zum Gegenstand der Be­ trachtung gemacht werden. Damit hat die geschriebene Sprache auch Rückwirkungen auf die gesprochene. Der Wortschatz vergrö­ ßert sich, morphologisch komplexere Einhei­ ten setzen sich durch und die Silbigkeit der Wörter nimmt zu. Eine bis dahin weitgehend verschlossene Klangwelt wird aufgebrochen, analysiert und in eine räumliche Dimension übertragen. Diese visuellen Äquivalente sind Grundlage für spätere beeindruckende Er­ kenntnisse und „Wegbereiter und Vorausset­

zung für die späteren analytischen Glanzta­ ten“ (Ong 1987, 92). „Sprache macht uns menschlich – Schrift­ sprache macht uns kultiviert.“ David Olson (1977) verweist mit dieser Feststellung auf die besondere Bedeutung der geschriebenen Sprache. Weil beim Schreiben von Situa­tion und Kommunikationspartner abstrahiert wird, erfordert dies eine maximal entfaltete Sprachnorm (elaboriert, kontextunabhängig, explizit und kohärent) (vgl. Vygotskij 51972 [i. O. 1934]) und potenziert dadurch die Mög­ lichkeiten der Sprache als Werkzeug der Weltund Selbsterkenntnis sowie des Problemlö­ sens. Erst diese Sprachform ermöglicht ein wissenschaftliches Vorgehen, wie es uns heu­ te selbstverständlich ist. Wenn man Gedanken, begriffliche Zu­ sammenhänge und Argumente schriftlich festhält, werden vertieftes Problembewusst­ sein, gründliche Reflexion und Kritik (eige­ ne und fremde) möglich – und die Tradierung von Kultur. Schrift konstituiert Geschicht­ lichkeit und Tradition, denn sie erlaubt die Weitergabe religiöser, philosophischer, litera­ rischer und wissenschaftlicher Texte und die Kodifizierung des Rechts. Schriftsprache als besondere Sprachform erfordert und beein­ flusst das Denken und die Reflexionsfähigkeit des Menschen. Allen Kindern und Jugendli­ chen Schriftkultur nahe zu bringen, ermög­ licht also nicht nur die Teilhabe an der Kultur, sondern auch die Möglichkeit der Selbst-Bil­ dung.

3 Zum Verhältnis von ­gesprochener und ­geschriebener Sprache

Abb. 3b: Das Logogramm (schriftliche Repräsenta­ tion eines ganzen Wortes) (aus: Bodmer 1997)

Die deutsche Schrift gehört zwar zur Gruppe der phonographischen Schriften, in denen pri­ mär lautliche Eigenschaften der gesprochenen Sprache verschriftet werden, doch es existie­ ren unterschiedliche Ansätze zum Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache,



Forschungen zum Lesen und Schreiben   293

Abb. 3c: Das Phonogramm (schriftliche Repräsenta­ tion eines Phonems) (aus: Bodmer 1997)

die im Folgenden kurz charakterisiert werden sollen. In abhängigkeitstheoretischen Positionen wird die geschriebene Sprache der gespro­ chenen untergeordnet (vgl. Heinz-Unterberg 1988, 129 ff.). Die geschriebene Sprache wird als sekundär bezeichnet und als abhängig von der gesprochenen definiert. Diese Funktion der geschriebenen Sprache – so impliziert die­ ses Verhältnis – sei eine Widerspiegelung der gesprochenen Sprache. Abhängigkeitstheo­ retische Positionen sind bereits in der Antike zu finden. Da schon Aristoteles von der ge­ schriebenen Sprache als sekundärer Sprache spricht, wird diese Position auch als Aristo­ telestradition bezeichnet (vgl. Augst & Faigel 1986, 6). Geschriebene Sprache wird als In­ strument gesehen, damit gesprochene Sprache wiedergegeben werden kann, und nicht zum Gegenstand der Betrachtung gemacht, wäh­ rend die gesprochene Sprache immer zugleich Gegenstand und Instrument der Betrachtung ist. Selbst die Sprachwissenschaft hat Schrift erst relativ spät als Gegenstand der Betrach­ tung entdeckt (vgl. Coulmas 1981, 12). Ver­ treter der strukturalistischen Linguistik for­ derten sogar, die Schrift aus der Linguistik zu verbannen (vgl. u. a. Heinz-Unterberg 1988,

129) (→  Sprache und Sprechen). Ferdinand de Saussure (32001 [i. O. 1931]) begründet dies mit dem Argument, die gesprochene Sprache sei das primäre Sprachsystem und Schrift ein sekundäres, dem es nicht gelinge, den tatsäch­ lichen Sprachzustand, um den es in der Lingu­ istik gehe, wiederzugeben (vgl. Coulmas 1981, 22). Laut Gerhard Augst & Peter Faigel (1986, 5) äußerten zum ersten Mal einige Prager Struk­ turalisten erhebliche Kritik an der abhängig­ keitstheoretischen Betrachtungsweise (vgl. auch Havelock 1990). In Folge davon enthebt insbesondere Derrida (102006 [i. O. 1967]) die geschriebene Sprache ihrer sekundären Funk­ tion. Schrift sei zwar ein System, das in Ver­ bindung mit der gesprochenen Sprache stehe, unterliege aber eigenen strukturellen Regel­ haftigkeiten (vgl. Müller 1990). Elisabeth Feld­ busch (1985) geht sogar soweit, die geschrie­ bene Sprache als ein von der gesprochenen Sprache unabhängiges System mit eigenstän­ diger Funktion zu sehen. Vertreter der relativierenden und autonomietheoretischen An­ sätze sehen die gesprochene und geschriebene Sprache als zwei Aspekte von Sprache, als zwei verschiedene Sprachformen (vgl. Glück 1987). Wenn der oben erwähnte 6-jährige Manu­ el seiner 3-jährigen (nicht schreibkundigen) Schwester eine „Unterschrift“ abverlangt, dann vollzieht er bereits symbolisches schrift­ sprachliches Handeln und ist nicht darum be­ müht, gesprochene Sprache abzubilden.

4 Forschungen zum Lesen und Schreiben 4.1 Theoretische Modelle des Lesens und Schreibens Zur Erklärung des Lesens bzw. des Lesenler­ nens werden seit Beginn der Leseforschung Ende des 19. Jahrhunderts unzählige Mo­ delle entwickelt (vgl. Rudell et al. 1994). Zu­ nächst untersuchen vor allem Experimental­

294 

Lesen und Schreiben

Abb. 4: Modell des Erlesens eines Wortes im Satzzusammenhang (nach Scheerer-Neumann 1997)

psychologen die Prozesse der Wahrnehmung bei tachistoskopischer Darbietung einzelner Wörter. Lesen wird im Wesentlichen als ein Wahrnehmungsprozess aufgefasst (→ Sprache und Wahrnehmnug), wobei die Leser die Un­ terscheidung von Graphemen sowie ihre Ver­ knüpfung mit Lauten, Lautfolgen bzw. Einhei­ ten der gesprochenen Sprache zu leisten haben. Ende der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts wird diese Betrachtungsweise erweitert. Lin­ guisten betonen, dass Lesen und ­Schreiben als ein Sprachprozess zu betrachten sei. Den unterschiedlichen sprachwissenschaftlichen Ansätzen ist die Annahme gemeinsam, dass beim Lesen auf unterschiedliche sprachliche Informationen zurückgegriffen wird: grapho­ phonemische bzw. orthographische, syntakti­ sche und semantische Merkmale. Lesen wird als „psycholinguistisches Ratespiel“ angesehen (Goodman 1976). In der psychologischen Le­ seforschung entstehen mit Beginn der kogni­ tiven Psychologie zahlreiche Modelle, die den komplexen Leseprozess in Teilprozesse unter­ gliedern und deren Zusammenspiel untersu­ chen. Viele dieser Modelle sind der Informa­ tionsverarbeitungstheorie verpflichtet (z. B. Kintsch 1994). Dabei ist es üblich und sinnvoll geworden, zwei Aspekte des Lesens zu unter­ scheiden: das Worterkennen sowie die Hypo­ thesenbildung aufgrund des Satz- und Textzu­ sammenhangs. Zunächst ging es um die Frage, ob die Worterkennung eher mit bottom-upProzessen des Umkodierens und ­Dekodierens der Graphem-Laut-Korrespondenzen sowie direkter visueller Erkennungsroutinen zu er­

klären sei oder mit top-down-Prozessen der lin­ guistischen Spracherfahrung, Worterwartung und Kontextausnutzung. Inzwischen geht man von interaktionistischen Modellen aus, die eine wechselseitige Beeinflussung von Wort­ erkennen und Kontextnutzung betonen. In Deutschland bekannt geworden ist das Modell von Gerheid Scheerer-Neumann (1981, 1997), das im obigen Schaubild (vgl. Abb. 4) darge­ stellt ist und die einzelnen Komponenten beim Lesen eines Wortes im Satzzusammenhang verdeutlicht. Das Worterkennen umfasst verschiede­ ne Verarbeitungsstufen: die visuellen Ope­ rationen der Merkmalsanalyse und der Seg­ mentierung der Verarbeitungseinheiten, die Reproduktion der Lautform (phonologische Kodierung) und die Bedeutungserfassung (semantische Dekodierung). Bei einem kom­ petenten Leser sind diese einzelnen Teilope­ rationen beim Worterkennen weitgehend automatisiert, so dass er seine gesamte Auf­ merksamkeit der Bedeutungsentschlüsselung des Gelesenen widmen kann. Bei ungeübten Lesern erfordern diese einzelnen Operationen derart viel Aufmerksamkeit, dass wegen der begrenzten Kapazität des Kurzzeitgedächt­ nisses nicht nur die Wort- und Sinnvermu­ tung, sondern auch die Bedeutungserfassung beeinträchtigt sind (vgl. Scheerer-Neumann 1981). Wie das Schaubild verdeutlicht, sind schon beim Worterkennen mehrere Teilprozesse beteiligt. Beim Lesen eines Textes kommen weitere Verarbeitungsebenen hinzu. Lesever­



Forschungen zum Lesen und Schreiben   295

Abb. 5: Determinanten der Leseleistung (nach Artelt 2004)

ständnis ist das vielschichtige Ergebnis kom­ plexer kognitiver und nicht nur lesespezifi­ scher Prozesse (vgl. Scheerer-Neumann 1997, Artelt 2004). Das gegenwärtig verbreitete Konzept von Lesekompetenz, wie es auch den internationa­ len Schulleistungsstudien wie PISA und IGLU zugrunde liegt, fasst Lesen als interaktiven Prozess der Konstruktion von Bedeutung auf – und nicht als (passiven) Prozess der Sinn­ entnahme (→ Sprache und Sprechen). Beim Lesen konstruiert der Leser die Bedeutung, indem er ein inneres Modell eines Textes auf­ baut. Leser konstruieren die Bedeutung eines Textes auf verschiedenen Ebenen der Textre­ präsentation und auf unterschiedliche Weise. Sie konzentrieren sich auf bestimmte Inhal­ te, setzen das Gelesene miteinander in Bezie­ hung, ziehen einfache und komplexe Schluss­ folgerungen, assimilieren das Gelesene an ihr Vorwissen und an ihre Erwartungen und ent­ wickeln sogar neue Begriffe, wenn das Gele­ sene nicht in vorhandene Wissensstrukturen eingeordnet werden kann. Alle diese Prozes­ se hängen mit dem sprachlichen Vermögen, dem Niveau der kognitiven Differenziertheit, dem Wissen und den Lebenserfahrungen zu­ sammen und können von unterschiedlicher

Qualität sein, und zwar sowohl bei Lesern, die identische Texte lesen (inter-individuelle Differenzen) wie auch beim wiederholten Le­ sen desselben Textes (intra-individuelle Diffe­ renzen). Bedeutsam sind auch metakognitive Prozesse und Strategien, die vom Lesenden eingesetzt werden können, um Verständnis­ probleme zu bewältigen und den Ertrag des Gelesenen einzuschätzen. Die Lesekompetenz ist also von verschiedenen Determinanten ab­ hängig, die von Cordula Artelt (2004) in ei­ nem Tetraedermodell dargestellt wurden (vgl. Abb. 5). Dabei lassen sich vier Merkmalsklas­ sen unterscheiden. Die Prozesse des Schreibens (vgl. Sieber 2003) sind international und national bei weitem nicht so gut erforscht wie die Lese­ prozesse. Einigkeit besteht, dass es sich um einen Prozess handelt, bei dem gedankliche Inhalte in ein geordnetes Nacheinander von schriftsprachlichen Einheiten verschlüsselt werden. Dabei lassen sich folgende Prozess­ ebenen unterscheiden: die gedankliche Fas­ sung der Botschaft, die Übersetzung in eine innere Sprache sowie der technische Vorgang des Schreibens unter Beachtung orthogra­ phischer Regelungen. In der deutschen For­ schung hat bislang das Erlernen und die An­

296 

Lesen und Schreiben

wendung orthographischer Regelungen (vgl. Augst & Dehn 32007) mehr Aufmerksamkeit erfahren als das Produzieren von Texten. Vor allem das Erlernen der Orthographie im Kon­ text entwicklungspsychologischer Modelle ist recht gut erforscht (vgl. 4.2).

4.2 Kognitiv-entwicklungs­ psychologische Ansätze des Schriftspracherwerbs In den letzten 20 Jahren hat sich ein neu­ er Zweig der Leseforschung etabliert, der die Prozesse beim Schriftspracherwerb untersucht und innerhalb eines kognitiv-entwicklungs­ psychologischen Ansatzes deutet. Didaktisch besonders fruchtbar ist die Theorie der „kog­ nitiven Klarheit“, die besagt: Beim Lesen- und Schreibenlernen muss das Kind die Einsichten in die Sprache, welche die Erfinder des Schrift­ systems besaßen (vgl. 2), rekonstruieren und die Kodierungsregeln für sich neu entdecken (vgl. Downing 1984). Der Rekonstruktions­ prozess beim Schriftsprach­erwerb bezieht sich auf zwei Aspekte: • die Erkenntnis der kommunikativen Funktion von Schrift (Schrift ist eine besondere Form von Sprache und nicht Zeichen belie­ bigen auswechselbaren Inhalts, und sie hat einen bestimmten Gebrauchswert) und • die Erkenntnis bestimmter sprachstruktureller Merkmale, die in unserem alphabeti­ schen Schriftsystem repräsentiert sind, wie Laute, Wörter und Sätze. Darüber hinaus benötigen die Lernenden metakognitives Wissen in Bezug auf geeignete Lern- und Übungsstrategien sowie effektive Lesestrategien. In diesem Modell, das Schriftspracherwerb als aktiven Konstruktionsprozess begreift, müssen die Lernenden beim Schriftspracher­ werb zu einer gedanklichen Klarheit in Bezug auf Funktion und Aufbau der Schrift gelangen und die folgenden, im Wesentlichen sprach­ analytischen und metakognitiven Fähigkeiten erwerben (vgl. Downing & Valtin 1984):

• Vergegenständlichung von Sprache: Ab­ straktion von Handlungs- und Bedeu­ tungskontext, • Segmentierung von Äußerungen in Wör­ ter und Erwerb des linguistischen Wortbe­ griffs, • Phonembewusstsein (Verständnis von Pho­ nemen als abstrakte Kategorie und Klasse von Sprechlauten mit bedeutungsunter­ scheidender Funktion) und Fähigkeit der Segmentierung von Wörtern in Sprachlau­ te (Phonem- bzw. Lautanalyse), • Erkennen des Zusammenhangs von Pho­ nem-Graphem-Korrespondenzen und or­ thographischer Prinzipien. Die ersten drei hier genannten Einsichten wer­ den von einigen Psychologen unter das Kon­ zept „phonologische Bewusstheit“ (vgl. 6) ge­ fasst (u. a. Marx & Weber 2006). Es erscheint aber sinnvoll, diese sprachanalytischen Fähig­ keiten stärker zu differenzieren und in ein psy­ cholinguistisches Modell der Sprachbewusst­ heit einzuordnen, zumal sie unterschiedliche Bedeutungen für den Schriftspracherwerb haben (vgl. Andresen 1985, 2006). Während die Vergegenständlichung von Sprache, zu der auch die Fähigkeiten der Silbengliederung von Wörtern und der Reimbildung gehören, als Voraussetzung zum Erlernen der Alphabet­ schrift anzusehen sind, handelt es sich bei dem Wortkonzept, dem Phonembewusstsein und der Phonemanalyse um Einsichten bzw. Fä­ higkeiten, die erst im Verlauf der Aneignung des alphabetischen Prinzips gewonnen werden (vgl. Valtin 1984a, 1984b, Andresen 1985). In unserer Alphabetschrift werden nämlich Wör­ ter (durch Lücken getrennt) als eine Abfolge von Graphemen wiedergegeben, die ihrerseits Sprachlauten entsprechen. Diese Einsichten und Kenntnisse wer­ den von Kindern nicht schlagartig von heu­ te auf morgen und auch nicht kontinuierlich erworben, vor allem mit der vollständigen Phonemanalyse eines Wortes haben Kinder Schwierigkeiten. Es lassen sich charakteristi­ sche Stufen beim Schreiben und Lesen unbe­ kannter Wörter beobachten (bekannte Wör­



Konzepte des Lesens und Schreibens in der didaktischen Diskussion   297

ter werden zunächst nur auswendig gelernt), die jeweils durch eine dominante Strategie gekennzeichnet sind, wie die vorphonetischlogographische, die phonetisch-alphabetische und die orthographische Strategie (vgl. Valtin 2000).

5 Konzepte des Lesens und Schreibens in der didaktischen Diskussion Verfolgt man die didaktische Diskussion der letzten 50 Jahre, so wird deutlich, dass sich der zugrunde gelegte Lesebegriff geändert und vor allem ausgeweitet hat. Begriffe wie „basale Le­ sefertigkeit“, „sinnverstehendes Lesen“, „Lese­ kompetenz“, „Lesekultur“ und „Schriftkultur“ (literacy) stehen für unterschiedliche Positio­ nen und daraus abgeleitete didaktisch-metho­ dische Konsequenzen, die den Anfangsunter­ richt, den weiterführenden Unterricht, aber auch die vorschulische Förderung betreffen. In Bezug auf den Erstleseunterricht (→ Schriftspracherwerb im ­Unterrichtskontext Deutsch) unterscheidet man üblicherwei­ se die „klassischen“ Verfahren (die syntheti­ schen und analytischen Methoden) von „neu­ eren“ Verfahren (analytisch-synthetische Methode, „Spracherfahrungsansatz“, „Lesen durch Schreiben“).

5.1 Klassische Leselehrverfahren Bis in die 1950er Jahre wurde Lesen im Sin­ ne der elementaren Lesefertigkeit themati­ siert – als Zusammenziehen von Lauten zu einem Wort – und synthetische Leselehrver­ fahren propagiert. Beginnend mit der Lautge­ winnung über die Lautverschmelzung sollen Kinder zum Erlesen von Silben und Wörtern gelangen. Die Lautgewinnung wird beispiels­ weise durch die Verwendung von Sinnlauten oder Anlauten vorgenommen, indem Kinder einen Laut mit einem bestimmten Sinn (z. B.

den Ausruf „Iiiih!“ für Ekel) oder einen be­ stimmten Buchstaben mit einem konkreten Bild ( wie „Mama“) verbinden. Die Arbeit mit Sinn- und Anlauten führt Kinder von der Alphabetstruktur der Schriftsprache weg auf sachfremde Sinnzusammenhänge und kann deshalb das Erlernen des Lesens erheblich er­ schweren. Außerdem werden beim Sprechen nicht Laute einfach aneinandergereiht, son­ dern koartikuliert; die Summe der schnell nacheinander gesprochenen Einzellaute ergibt nicht das korrekt gesprochene Wort. Zu kriti­ sieren ist außerdem, dass synthetische Lese­ lehrmethoden die Lesetechnik in den Mit­ telpunkt stellen und die Sinnentnahme beim Lesen vernachlässigen. Als synthetische Methode ist auch die Lautgebärdenmethode zu bezeichnen (→ Se­ hen und Gebärden), die vor allem in der son­ derpädagogischen Förderung eingesetzt wird, um Graphem-Phonem-Korrespondenzen zu erarbeiten, Wörter zu durchgliedern und das „Zusammenziehen“ der Laute durch Bewe­ gungen zu unterstützen. Mit der Verwendung von Lautgebärden soll die Buchstabenform bzw. die Artikulation des dazugehörigen Lau­ tes „veranschaulicht“ werden – Schrift soll in Motorik transformiert werden, um sen­ sorische Erfahrungen einzubeziehen. Ohne Zweifel sind Lautgebärden sinnvolle Hilfs­ mittel für Kinder mit Hörbehinderungen. Jedoch muss kritisch betrachtet werden, ob die Verwendung von Lautgebärden bei allen Kindern ohne Hörbehinderungen hilfreich ist (→ Hörstörung als Sprach- und Kommu­ nikationsstörung). Denn neben Buchstaben und Phonemen wird mit den Lautgebärden ein drittes Zeichensystem (→ Zeichen und Semiose) eingeführt. Statt der beabsichtigten Vereinfachung kann die Einbeziehung dieses dritten Zeichensystems eine Komplexitätser­ höhung darstellen, die insbesondere von Kin­ dern mit unzureichender kognitiver Klarheit und oder sprachlich erschwerten Ausgangs­ bedingungen nur schwer zu bewältigen ist. Als Reaktion auf dieses verkürzte Lesever­ ständnis wird bei den analytischen Methoden vorrangig das Sinnverständnis betont. Ausge­

298 

Lesen und Schreiben

gangen wird von „Ganzheiten“ wie Wörtern oder Sätzen, indem zunächst ganze Sätze oder Wörter gelesen werden, bevor mit der Durch­ gliederung der Wörter begonnen wird und Kinder schließlich in der Lage sind, selbst­ ständig neue Wörter durch die Nutzung von Sinnzusammenhängen und Wortauf- bzw. Wortabbau zu erlesen. Die Kritik setzte vor al­ lem an den theoretischen Grundlagen an: Die lesepsychologische Forschung erbrachte, dass beim Lesen keine Wortbilder oder Schablonen von Wörtern gespeichert werden, sondern charakteristische Merkmale von Buchstaben oder Buchstabengruppen (vgl. Brügelmann 2 1986, Scheerer-Neumann 1997). Ferner wur­ de auf die besonderen Schwierigkeiten der Lernanfänger mit diesem Verfahren verwie­ sen: Da unsere Schrift zunächst wie eine Be­ griffsschrift abgehandelt wird, verführt dies zum Raten. Die Kinder haben zwar zunächst schnelle Erfolgserlebnisse, dann kann aber ein Motivationsverlust beim Erlernen neuer Wörter eintreten, wenn die naiv-ganzheitli­ che Lesestrategie nicht mehr greift, u. a. des­ halb, weil die Kinder zu viele Wörter auswen­ dig lernen müssen. Da Kinder zunächst nicht systematisch in den Buchstaben-Laut-Bezug eingeführt werden, orientieren sie sich an ir­ relevanten Merkmalen der Schrift, wie das Beispiel eines Kindes zeigt: „Maus erkenne ich an den Mauseöhrchen“, erklärte es und zeigte auf die Spitzen des Buchstabens .

5.2  Neuere Leselehrverfahren Neuere Leselehrverfahren betonen die Eigen­ tätigkeit des Kindes und sind im Unterschied zu den historischen Leselehrverfahren auf die kommunikative Funktion der Schrift fokus­ siert, wie die analytisch-synthetische Methode, welche die Einheit von Lesetechnik und Sinn­ entnahme betont und die Lernenden direkt zur Struktur der Alphabetschrift führt. Die Kinder prägen sich zunächst einfach struktu­ rierte Wortbilder („Schlüsselwörter“) ein, die von Anbeginn an voll durchgegliedert werden. Diese Analyse erfolgt mit allen Sinnen: visu­

elles Erfassen und Gliedern, lautliches Unter­ scheiden, Mitartikulieren und Nachsprechen, Hantieren mit Buchstaben- und Wortkarten, Legen, Nachfahren und Schreiben von Buch­ staben und Wörtern. Die Funktion der Schrift­ zeichen (Grapheme) als Repräsentant eines Wortes innerhalb einer Klangfolge wird somit von Anfang an den Lernenden bewusst ge­ macht und die Beziehung von Graphem und Phonem sowie das Durchgliedern der Wörter konsequent vermittelt. Lese- und Schreiblehr­ gang sind integriert. Vielen Erstleselehrgän­ gen liegt die analytisch-synthetische Methode zugrunde, die sich gut einbetten lässt in Ver­ fahren, die dem so genannten „Spracherfah­ rungsansatz“ (vgl. Brügelmann 21986, Good­ man 1986) entstammen. Der „Spracherfahrungsansatz“ basiert auf der Annahme, dass die Eigeninteressen und Eigenthemen des Kindes der beste Zugang zu Schrift und Schriftkultur sind. Eine schrift­ reiche Umgebung führe dazu, dass Kinder sich Schrift selbstständig durch entdeckendes Lernen aneignen. Erwachsene vertrauen dar­ auf, dass Kinder das Lesen und Schreiben in dieser anregenden Umgebung ebenso auf „na­ türlichem Wege“ lernen wie das Sprechen – dennoch ist pädagogische Unterstützung bzw. eine direkte Instruktion notwendig. Beim Le­ sen- und Schreibenlernen müssen Kinder verschiedene Fähigkeiten erwerben. In der didaktischen Landkarte des Spracherfah­ rungsansatzes sind dies: das Symbolverständ­ nis, die Sprachanalyse, der Schriftaufbau, die Schriftverwendung, die Buchstabenkenntnis, die Bausteingliederung, der Sichtwortschatz und der Textgebrauch (vgl. Brügelmann 1986). Die Bereiche bedingen sich teilweise gegenseitig, sind nicht hierarchisch zu verste­ hen, bieten aber insbesondere für Lehrende die Möglichkeiten zur gezielten Beobachtung und zum Darbieten von Förderangeboten (→  Schriftspracherwerb im Unterrichtskon­ text Deutsch). Ein weiterer Schwerpunkt soll­ te auf die Ausdifferenzierung kognitiver Klar­ heit gelegt werden. Der aktuell viel diskutierte Ansatz „Lesen durch Schreiben“ (Reichen 1982) basiert auf



Konzepte des Lesens und Schreibens in der didaktischen Diskussion   299

einer Anlauttabelle, mit deren Hilfe Kinder schon in den ersten Tagen des Anfangsun­ terrichts Wörter und Texte schreiben sollen (→  Schriftspracherwerb im Unterrichtskon­ text Deutsch). Wie der Name des Konzepts bereits sagt, lernen die Kinder zunächst das Schreiben im Vertrauen darauf, dass sich das Lesen von selbst, ohne spezielle Unterweisung einstellen wird. Dieser Ansatz, der in den ers­ ten Phasen die Kinder ausschließlich zum freien Verschriften der von ihnen gewählten Wörter und Texte anhält, stellt sehr hohe An­ forderungen an die Lernvoraussetzungen der Kinder: Sie müssen die Vergegenständlichung von Sprache und die Abstraktion vom Bedeu­ tungskontext begreifen, ohne das dafür hilf­ reiche Schriftbild vor Augen zu haben, und sie müssen zu einer vollständigen Lautanalyse befähigt sein, was – wie das Stufenmodell des Schriftspracherwerbs zeigt – jedoch eine rela­ tiv späte Errungenschaft ist (vgl. Valtin 2000, Dehn 2007). Kinder lernen mit Hilfe von An­ lauttabellen die Strategie „Schreibe-wie-dusprichst“, eine zwar wichtige, aber häufig un­ zureichende Strategie, die zudem höchstens dann erfolgreich ist, wenn die Kinder über die hochdeutsche Aussprache und – im Fal­ le von Kindern nicht deutscher Mutterspra­ che – über gute deutsche Sprachkenntnisse verfügen. Dies ist aber nicht immer der Fall (→ Interkulturalität und Mehrsprachigkeit, → Entwicklungsbedingte Sprachstörungen). Deshalb findet man in freien Verschriftungen häufig dialektale Verfärbungen (z. B. wenn ein bayerisches Kind das Wort „Bäckergesel­ le“ phonetisch völlig richtig als verschriftet) (→ Norm und Differenz). Die Kritik an diesem Verfahren richtet sich insbe­ sondere auf das weitgehende Fehlen von „Vor­ gaben“ im Sinne von „orthographisch rich­ tig“ geschriebenen Wörtern. Jene können den Schreiber entlasten und ein mühsames Er­ schreiben eines Wortes entzerren (vgl. Osburg 1998). Eine Analyse der verschiedenen empi­ rischen Studien zur Überprüfung der Effek­ tivität dieses Verfahrens zeigt (→  Therapieund Unterrichtsforschung), dass es nicht für alle geeignet ist, zum Beispiel nicht für Kin­

der mit Lernschwierigkeiten (→ Übergang der Förderschwerpunkte Sprache/Lernen) oder für Kinder mit Migrationshintergrund (→ DaZ) (vgl. Schründer-Lenzen 2004, 173 f.).

5.3 Weiterführender Unterricht: Lesekompetenz, Lesekultur und Schriftkultur Nach PISA und IGLU hat sich die didaktische Diskussion von der basalen Lesefertigkeit auf das Leseverständnis im Sinne von Lesekompetenz verlagert. Dieses Konzept stammt aus der angelsächsischen literacy-Tradition, in der in pragmatischer Absicht grundlegende Kompe­ tenzen definiert werden, die in der Wissens­ gesellschaft bedeutsam sind. Mit „reading literacy“ wird die Fähigkeit bezeichnet, Lesen in unterschiedlichen, für die Lebensbewälti­ gung praktisch bedeutsamen Verwendungs­ situationen einsetzen zu können. Zur Förde­ rung dieser Art von Lesekompetenz haben sich verschiedene Ansätze als erfolgreich her­ ausgestellt, z. B. das Programm zur Förderung des Leseverstehens von Annegret von WedelWolff, das gezielte Übungen zum Nutzen von Sinnstützen, von syntaktischen Begrenzungen, von Wörtern und Wortteilen sowie von Gra­ phem-Phonem-Beziehungen zur Hypothesen­ überprüfung enthält (Wedel-Wolff & Crämer 2007). Auch gezielte Übungen zum Erwerb von Lesestrategien haben sich als erfolgreich herausgestellt (Gold 2005, Rühl 2005, Schee­ rer-Neumann & Hofmann 2005). Bettina Hurrelmann (2004) hat den Begriff der Lesekompetenz erweitert und spricht von „Lesekultur“ bzw. „Leseförderung“ als kultu­ reller Praxis, wobei es um die Weckung und die Aufrechterhaltung der Lesemotivation, die Förderung der Lesefreude und die Fähig­ keit zur Literaturauswahl und -beschaffung geht. Ein noch umfassenderes didaktisches Kon­zept bezieht sich auf die Schriftkultur: Schrift­ kultur umfasst nicht nur die Lese- und Schreibkompetenz, sondern auch eine Hal­ tung der Wertschätzung dieser Kommunika­

300 

Lesen und Schreiben

tionsform gegenüber, die vom Schön­schreiben bis hin zum gelingenden sprachlichen Aus­ druck in Rede und Schrift reicht, und auch die Freude am Lesen und Schreiben umfasst. Zur Förderung von Schriftkultur sind umfas­ sende unterrichtliche, schulische und gesell­ schaftliche Anstrengungen notwendig.

6 Phonologische Trainings zur Vorbereitung auf das Lesenund Schreibenlernen Gegenwärtig wird die Bedeutung phonologi­ scher Fähigkeiten und des Sprachbewusstseins erneut kontrovers diskutiert (vgl. Downing & Valtin 1984, Andresen 1985, Valtin 2010) (→ Schriftspracherwerb im Unterrichtskontext Deutsch). Die „Phonologische Bewusstheit“ wird insgesamt als ein wesentlicher Indikator für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb gesehen. Dabei handelt es sich um zentrale Teilprozesse, die beim Erlernen einer Alpha­ betschrift erworben werden müssen. Zentral ist die Frage, welche Fähigkeiten wie intensiv bereits vor dem Schriftspracherwerb ausge­ bildet sein sollten und welche erst aufgrund der Spezifität der geschriebenen Sprache und des Operierens mit ihr durch die Auseinandersetzung mit Sprache entstehen können. Rena­ te Valtin (1984b) und Ingrid Schmid-Barkow (1999) kommen zu der Schlussfolgerung, dass Einsicht in den Aufbau der Schrift, das Wort­ konzept, das bewusste Operieren mit Lauten, die Phonemanalyse etc. schriftspracherwerbs­ spezifische Fähigkeiten sind, das heißt, primär erst durch den Schriftspracherwerb erworben werden. Kognitive Basis-Funktionen und „pho­ nologisches Wissen“ als Voraussetzung des Schriftspracherwerbs werden häufig als Ur­ sache für Erschwernisse beim Schriftspra­ cherwerb angenommen. Aber nur wenige Kinder haben in Grundfunktionen wie generellem Wiedererkennen grafischer Details,

Farben und Formen bzw. Geräusche unter­ scheiden etc. Schwierigkeiten. Eine Förde­ rung nicht-schriftsprachspezifischer Basis­ fähigkeiten  und -funktionen hat aufgrund ihrer Unspezifität keine Wirksamkeit für die Förderung der phonologischen Bewusstheit bzw. für das Lesen- und Schreibenlernen (vgl. Günther 1994). Ein vorschulisches isoliertes Training von Lautanalyse und -synthese ist zwar in begrenztem Umfang möglich (s. dazu die Zusammenfassung zahlreicher, zwar äl­ terer, aber immer noch gültiger Studien bei Valtin 1984a, vgl. auch Hartmann 2006), hat auch einen signifikanten Effekt auf den Erfolg im Lesenlernen (Schneider & Näslund 1999), doch scheint ein derart aufwändiges isolier­ tes Training aus pädagogischen Gründen we­ nig sinnvoll, zumal der Lernerfolg größer ist, wenn ein solches Training in Verbindung mit Schriftzeichen stattfindet (vgl. Brügelmann 2005). Schriftsprachspezifische Fähigkeiten (wie z. B. Phonemanalysen) sind wesentlich effektiver im Kontext einer angeleiteten Be­ gegnung mit Schrift zu erlernen. Sie sind zu­ dem kein zuverlässiger Indikator für Erfolg bzw. Misserfolg beim Schriftlernen. Gegen­ wärtig zeichnet sich ein Dissens ab zwischen Psychologen und Lesedidaktikern. Während Psychologen sich dafür aussprechen, eine ge­ zielte vorschulische Förderung der phonologi­ schen Bewusstheit (zum Teil in Kombination mit einem gezielten Buchstaben-Laut-Zuord­ nungstraining) als wirksame Vorbeugung von Schwierigkeiten beim Erwerb der Schrift­ sprache zu betreiben, befürworten Pädago­ gen und Lesedidaktiker die Einbindung eines derartigen Trainings in den Unterricht zum Schriftspracherwerb in den ersten Schulmo­ naten (vgl. Kirschhock 2004) bzw. verweisen darauf, dass derartige Übungen ohnehin Be­ standteil der anerkannten analytisch-synthe­ tischen Leselehrmethode und des spontanen Schreibens sind (vgl. Valtin 2003). Hans Brü­ gelmann (2005) und Peter Marx & Jutta We­ ber (2006) belegen, dass es der Grundschule gelingt, etwaige oder vermeintliche „Defizite“ von Schulanfängern in sprachanalytischen Leistungen auszugleichen.



Schriftspracherwerb bei ­Kindern mit sprachlichen ­Auffälligkeiten   301

Aus pädagogischer und sprachdidaktischer Sicht ist es als Vorbereitung auf das schuli­ sche Lernen bei Kindern im Vorschulbereich empfehlenswerter, durch Vorlesen und den Umgang mit Büchern die Motivation zum Le­ senlernen zu fördern sowie durch spielerische Übungen zur Vergegenständlichung von Spra­ che anzuleiten (Lenkung der Aufmerksamkeit auf die Lautung durch Zungenbrecher, Silben­ klatschen, Reimebilden, Anlauterkennen: „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das beginnt mit /R/“).

7 Schriftspracherwerb bei ­Kindern mit sprachlichen ­Auffälligkeiten Da der Erwerb der geschriebenen Sprache an „sprachliche Fähigkeiten“ anknüpft, können Kinder mit sprachlichen Auffälligkeiten spe­ zifische Schwierigkeiten bekommen – insbe­ sondere dann, wenn ihre Schwierigkeiten di­ daktisch zu wenig berücksichtig werden (vgl. Füssenich 2004, Osburg 2002, Schöler & Wel­ ling 2007). Im Folgenden sollen einige Aspekte exemplarisch aufgezeigt werden, um präventi­ ve Ableitungen treffen zu können (vgl. Osburg 2001, 122 ff.; 2002) (→ Prävention von Sprach­ entwicklungsstörungen). • Rund 20 % der Leistungsstreuung beim Er­ werb der geschriebenen Sprache kann nach Hans Brügelmann (21986) durch eine auf­ fällige Sprachentwicklung geklärt werden. Unzureichende kognitive Erfahrungen im Hinblick auf die Symbolbewusstheit, wie z. B. Zeichen vereinbaren und entschlüs­ seln, Sprache deuten etc., können Schrift­ spracherwerbsprobleme mit bedingen. Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen (→ Entwicklungsbedingte Sprachstörun­ gen) verfügen häufig über ein geringer aus­ geprägtes Symbolverständnis oder haben diese Fähigkeit erst spät erworben (vgl. Günther 1985).

• Spezifische Fähigkeiten und Kenntnis­ se des Lesen- und Schreibenlernens wer­ den als ein zentraler Faktor im Hinblick auf Prognosen für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb gesehen. Beispiels­ weise zeigen Untersuchungen einen Zu­ sammenhang von Buchstabenkenntnis vor Schulbeginn und einem erfolgreichen Schriftspracherwerb (vgl. Hüttis-Graff & Widmann 1996). Das kann so gedeutet werden: Der Schriftspracherwerb ist das Ergebnis vielfältiger Fähigkeiten, Erfah­ rungen und kognitiver Einsichten. Kinder, die bereits viele spezifische Fähigkeiten hiervon erworben haben, verfügen über günstigere Startbedingungen und „mehr“ Erfahrungen. Didaktisch hieße dies, Kin­ dern mit erschwerten Ausgangsbedingun­ gen individuelle Angebote zu machen, um sich dem Gegenstand Schrift zu nähern. Aufgabe der Schule ist es, den Lernstand der Kinder zu erkennen und ihnen gezielte fachspezifische Angebote zu unterbreiten, wie es im Konzept der Förderdiagnostik (→ Interdisziplinäre Diagnostik) realisiert wird (vgl. Hofmann & Valtin 2007). • Aktuell dominieren Ansätze, die (u. a.) Schriftspracherwerbsprobleme als LehrLernstörung auffassen, das heißt, die die Bedeutsamkeit der Lehrperson (→ Inter­ disziplinäre Theorie sprachlichen Lehrens und Lernens) im Hinblick auf Erfolg oder Misserfolg beim Schriftspracherwerb her­ vorheben (vgl. z. B. Valtin 1996, Osburg 2002, Augst & Dehn 2007). • Die Bedeutung der phonologischen Be­ wusstheit, als Teil des metasprachlichen Wissens, wird in der Literatur für sprach­ lich auffällige Kinder genauso unterschied­ lich behandelt wie für nicht sprachlich auf­ fällige Kinder (vgl. 6). Sprachauffällige Kinder haben in der Regel zwar weniger Vorerfahrungen in den Bereichen, von ei­ nem Mangel an phonologischer Bewusst­ heit kann aber nicht prinzipiell gesprochen werden, da „verschiedene Komponenten der ‚phonologischen Bewusstheit‘ auf sehr unterschiedliche Weise ausgeprägt sein“

302 

Lesen und Schreiben

können (Schmid-Barkow 1999, 315). Zu ei­ nem ähnlichen Fazit kommen Alfons Wel­ ling und Christiane Grümmer (2000, 162 f.) in einer ausführlichen Recherche zur Vari­ abilität sprachlicher Heterogenität und Er­ fahrungen: „Sprachliche Bewusstheit ent­ wickelt sich bei Kindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen – wie bei anderen Kin­ der auch – in großer Variabilität und Un­ einheitlichkeit. […] Und Schriftsprach­ lernen, so kann angenommen werden, ist nicht nur eine Folge, sondern zugleich auch eine Voraussetzung dieser Bewusst­ heit.“ Wenngleich Zusammenhänge zwischen sprach­ lichen Auffälligkeiten und Problemen beim Schriftspracherwerb bestehen können und sprachlich auffällige Kinder statistisch gese­ hen potenzielle Risikokinder sein können, unterscheiden sich jene Kinder nicht generell von sprachlich unauffälligen Kindern. Lern­ verläufe sind nicht durch individuelle Voraus­ setzungen vorhersagbar (vgl. Dannenbauer 2001, Brügelmann 2005, 156). Zu fragen wäre nach jenen Bedingungen, die „erfolgreiches“ schriftsprachliches Handeln erschweren.

Literatur Andresen, H. (1985): Schriftspracherwerb und die Entstehung von Sprachbewusstheit. Opladen: Westdeutscher Verlag. Andresen, H. (2005): Vom Sprechen zum Schreiben. Stuttgart: Klett. Artelt, C. (2004): Lesekompetenz und Selbstregulier­ tes Lernen. Synopse zur kumulativen Habilitati­ onsschrift. Potsdam: Universität Potsdam. Augst, G. & Dehn, M. (32007): Rechtschreibung und Rechtschreibunterricht. Stuttgart: Klett. Augst, G. & Faigel, P. (1986): Von der Reihung zur Gestaltung. Untersuchungen zur Ontogenese der schriftsprachlichen Fähigkeiten von 13–23 Jahren. Frankfurt: Lang. Bodmer, F. (1997): Die Sprachen der Welt. Köln: Parkland. Brügelmann, H. (21986): Kinder auf dem Weg zur Schrift. Konstanz: Faude. Brügelmann H. (2005): Das Prognoserisiko von Ri­ sikoprognosen – Eine Chance für „Risikokinder“?

In: Hofmann, B. & Sasse, A. (Hrsg.): Übergän­ ge. Berlin: Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schrei­ben (DGLS). Coulmas, F. (1981): Über Schrift. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dannenbauer, F. M. (2001): Spezifische Sprachent­ wicklungsstörungen. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopä­ die. Bd. 2: Erscheinungsformen und Störungsbil­ der (48–74). Stuttgart: Kohlhammer. Dehn, M. (2007): Kinder & Lesen und Schreiben. Was Erwachsene wissen sollten. Seelze-Velber: Klett. Delluc, B., Delluc, G. & Delvert, R. (1991): Die Höhle von Lascaux. Bordeaux: Sud-Oest. Derrida, J. (102006 [i. O. 1967]): Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Downing, J. (1984): Task awareness in the develop­ ment of reading skill. In: Downing, J. & Valtin, R. (Eds.): Language awareness and learning to read (27–56). New York: Springer. Downing, J. & Valtin, R. (Eds.) (1984): Language ­awareness and learning to read. New York: Springer. Feldbusch, E. (1985): Geschriebene Sprache. Unter­ suchungen zu ihrer Herausbildung und Grundle­ gung ihrer Theorie. Berlin: de Gruyter. Frutiger, A. (1981): Der Mensch und seine Zeichen. Frankfurt a. M.: Marix. Füssenich, I. (2004): Lesen und Schreiben lernen bei sprachgestörten Kindern und Jugendlichen. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachbe­ hindertenpädagogik und Logopädie. Bd. 5: Bil­ dung, Erziehung und Unterricht (234–247). Stutt­ gart: Kohlhammer. Giese, H. W. & Gläß, B. (1984): Analphabetismus und Schriftkultur in entwickelten Gesellschaften. Das Beispiel der Bundesrepublik Deutschland. Der Deutschunterricht 30, 6, 25–37. Glück, H. (1987): Schrift und Schriftlichkeit. Eine sprach- und kulturwissenschaftliche Studie. Stutt­ gart: Metzler. Goodman, K. S. (1976): Die psycholinguistische Na­ tur des Leseprozesses. In: Hofer, A. (Hrsg.): Lesen­ lernen: Theorie und Unterricht (139–151). Düssel­ dorf: Schwann. Goodman, K. S. (1986): What’s whole in whole lan­ guage? Portsmouth (NH): Heinemann. Gold, A. (2005): Textdetektive lesen strategisch. In: Sasse, A. & Valtin, R. (Hrsg.): Lesen lehren (13– 31). Berlin: Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schrei­ben (DGLS). Günther, K.-B. (1985): Schriftspracherwerb bei hörund sprachbehinderten Kindern. Heidelberg: Gross. Günther, K.-B. (1994): Vergleich der symbolisch vi­ suellen Wahrnehmungs- und visomotorischen Produktionsfähigkeit von sprachentwicklungsge­



Literatur   303

störten, gehörlosen und nichtbehinderten Kindern (VIS). Frankfurt a. M.: Lang. Hartmann, E. (2002): Möglichkeiten und Grenzen ei­ ner präventiven Intervention zur phonologischen Bewusstheit von lautsprachgestörten Kindergar­ tenkindern. Fribourg: Sprachimpuls. Havelock, E. A. (1990): Schriftlichkeit. Das griechi­ sche Alphabet als kulturelle Revolution. Wein­ heim: VCH Acta Humaniora. Heinz-Unterberg, R. (1988): Zum Verhältnis von schriftlicher und mündlicher Sprache in Schule, Legastheniebetreuung und Sprachtherapie. In: Ke­ gel, G., Arnhold, T., Dahlmeier, K., Schmid, G. & Tischer, B. (Hrsg.): Sprechwissenschaft und Psy­ cholinguistik 2. Beiträge aus Forschung und Praxis (127–217). Opladen: Westdeutscher Verlag. Hofmann, B. & Valtin, R. (Hrsg.) (2007): Förderdia­ gnostik beim Schriftspracherwerb. Beiträge 4 der DGLS. Berlin: Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben (DGLS). Hüttis-Graff, P. & Widmann, A. (1996): Elementa­ re Schriftkultur als Prävention von Lese-/Recht­ schreibschwierigkeiten und Analphabetismus bei Grundschulkindern. Abschlussbericht des Mo­ dellversuchs der BLK-Kommission für Bildungs­ planung und Forschungsförderung. Hamburg. Hurrelmann, B. (2004): Informelle Sozialisations­ instanz Familie. In: Groeben, N. & Hurrelmann, B. (Hrsg.): Lesesozialisation in der Mediengesell­ schaft (169–201). Weinheim: Juventa. Kintsch, W. (1994): Kognitionspsychologische Mo­ delle des Textverstehens: Literarische Texte. In: Reusser-Weyeneth, M. (Hrsg.): Verstehen: Psycho­ logischer Prozeß und didaktische Aufgabe (39–53). Bern: Huber. Kirschhock, E.-M. (2004): Entwicklung schrift­ sprachlicher Kompetenzen im Anfangsunterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Knoop, U. (1993): Zum Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache aus historischer Sicht. In: Baurmann, J., Günther, H. & Knoop, U. (Hrsg.): Homo scribens. Perspektiven der Schriftlichkeits­ forschung (217–229). Tübingen: Niemeyer. Ludwig, O. (1983): Writing systems and written lan­ guage. In: Coulmas, F. & Ehlich, K. (Hrsg.): Wri­ ting in focus (31–45). Berlin: de Gruyter. Ludwig, O. (1994): Geschichte des Schreibens. In: Günther, H. & Ludwig, O. (Hrsg.): Schrift und Schriftlichkeit. Writing and its use. Ein interdis­ ziplinäres Handbuch internationaler Forschung. Bd. 1 (48–65). Berlin: de Gruyter. Lurija, A. R. (1982): Sprache und Bewusstsein. Köln: PRV. Marx, P. & Weber, J. (2006): Vorschulische Vorher­ sage von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten. Neue

Befunde zur prognostischen Validität des Bielefel­ der Screenings. Zeitschrift für Pädagogische Psy­ chologie 20, 4, 251–259. Müller, K. (1990): „Schreibe wie du sprichst!“ Eine Maxime im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Eine historische und systematische Untersuchung. Frankfurt a. M.: Lang. Olson, D. R. (1977): From utterance to text: The bias of language in speech and writing. Harvard Educa­ tional Review 47, 3, 257–281. Ong, W. J. (1987): Oralität und Literalität. Die Tech­ nologisierung des Wortes. Opladen: Westdeut­ scher Verlag. Osburg, C. (1998): Anlauttabellen im Unterricht – Methodische Neuheit oder didaktischer Umbruch? In: Osburg, C. (Hrsg.): Textschreiben, Rechtschrei­ ben, Alphabetisierung (97–136). Baltmannsweiler: Schneider. Osburg, C. (2000): Gesprochene und geschriebene Sprache. Aussprachestörungen und Schriftspra­ cherwerb. Baltmannsweiler: Schneider. Osburg, C. (2001): ­Sprachentwicklungsstörungen und Störungen des Schriftspracherwerbs. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheil­ pädagogik und Logopädie. Bd.  2: Erscheinungs­ formen und Störungsbilder (113–125). Stuttgart: Kohlhammer. Osburg, C. (2002): Begriffliches Wissen am Schul­ anfang. Schulalltag konstruktivistisch analysiert. Freiburg i. B.: Fillibach. Ruddell, R. B., Ruddell, M. R. & Singer, H. (41994): Theoretical models and processes of reading. Ne­ wark: International Reading Association. Rühl, K. (2005): Strategieorientiertes Unterrichten. In: Sasse, A. & Valtin, R. (Hrsg.): Lesen lehren (32– 42). Berlin: Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben (DGLS). Saussure, F. de (32001 [i. O. 1931]): Grundfragen der all­ gemeinen Sprachwissenschaft. Berlin: de Gruyter. Scheerer-Neumann, G. (1981): Prozeßanalyse der Le­ seschwäche. In: Valtin, R., Jung, U. O. H. & Schee­ rer-Neumann, G. (Hrsg.): Legasthenie in Wis­ senschaft und Unterricht (183–210). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Scheerer-Neumann, G. (1997): Lesen und Lese­ schwierigkeiten. In: Weinert, F. E. (Hrsg.): Psycho­ logie der Schule und des Unterrichts (279–325). Weinheim: Hogrefe. Scheerer-Neumann, G. & Hofmann, C. D. (2005): Di­ mensionen der Lesekompetenz analysieren und fördern. In: Sasse, A. & Valtin, R. (Hrsg.): Lesen lehren (43–59). Berlin: Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben (DGLS). Schmid-Barkow, I. (1999): „Phonologische Bewusst­ heit“ als Teil der metasprachlichen Entwicklung im

304 

Lesen und Schreiben

Kontext von Spracherwerbsprozessen und Sprach­ erwerbsstörungen. Die Sprachheilarbeit 44, 6, 307– 317. Schneider, W. & Näslund, J. C. (1999): The impact of early phonological skills on reading and spelling in school: Evidence from the Munich Longitudinal Study. In: Weinert, F. E. & Schneider, W. (Eds.): In­ dividual development from 3 to 12: Findings from the Munich Longitudinal Study (126–147). Cam­ bridge, UK: Cambridge University Press. Schöler, H. & Welling, A. (Hrsg.) (2007): Sonderpäda­ gogik der Sprache. Göttingen: Hogrefe. Schründer-Lenzen, A. (2004): Schriftspracherwerb und Unterricht. Opladen: Leske + Budrich. Sieber, P. (2003): Modelle des Schreibprozesses. In: Bredel, U., Günther, H., Klotz, P., Ossner, J. & Sie­ bert-Ott, G. (Hrsg.): Didaktik der deutschen Spra­ che. Ein Handbuch. Bd. 1 (208–223). Paderborn: Schöningh. Valtin, R. (1984a): Awareness of features and func­ tions of language. In: Downing, J. & Valtin, R. (Eds.): Language awareness and learning to read (227–260). New York: Springer. Valtin, R. (1984b): The development of metalinguis­ tic abilities in children learning to read and write. In: Downing, J. & Valtin, R. (Eds.): Language awa­ reness and learning to read (207–226). New York: Springer. Valtin, R. (1996): Zur Entstehung von Lern-Behin­ derungen durch falsche Lehr-/Lernkonzepte beim Schriftspracherwerb. In: Eberwein, H. (Hrsg.):

Handbuch Lernen und Lern-Behinderungen (369– 387). Weinheim: Beltz. Valtin, R. (2000): Stufen des Lesen- und Schreibenler­ nens – Schriftspracherwerb als Entwicklungspro­ zess. In: Haarmann, D. (Hrsg.): Grundschule. Ein Handbuch. Bd. 2 (76–88). Weinheim: Beltz. Valtin, R. (2003): Methoden des basalen Lese- und Schreibunterrichts. In: Bredel, U., Günther, H., Klotz, P., Ossner, J. & Siebert-Ott, G. (Hrsg.): Di­ daktik der deutschen Sprache. Ein Handbuch. Bd. 2 (760–771). Paderborn: Schöningh. Valtin, R. (2010): Phonologische Bewusstheit – eine notwendige Voraussetzung beim Lesen- und Schreibenlernen? In: Leseforum. Online Plattform für Literalität. http://leseforum.ch/sysModules/ obxLeseforum/Artikel/426/2010_2_Valtin_PDF (Zugriff am 13. 7. 2011). Vygotskij, L. S. (51972 [i. O. 1934]): Denken und Spre­ chen. Frankfurt a. M.: Fischer. Wedel-Wolff, A. v. & Crämer, C. (2007): Förderung im Lesen nach dem Erwerb der alphabetischen Phase. In: Hofmann, B. & Valtin, R. (Hrsg.): För­ derdiagnostik beim Schriftspracherwerb. Berlin: Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben (DGLS). Welling, A. & Grümmer, C. (2000): ­Variabilität sprach­ licher Bewusstheit und Heterogenität sprachlicher Erfahrung. In: Balhorn, H., Giese, H. W. & Osburg, C. (Hrsg.): Betrachtungen über Sprachbetrachtun­ gen. Jahrbuch DGLS (154–165). Seelze: Kallmeyer­ sche Verlagsbuchhandlung.

Sehen und Gebärden Horst Ebbinghaus

1  Begriffsklärung Eine „Gebärde“ ist ein sichtbares Zeichen (→  Zeichen und Semiose), das durch Bewe­ gungen des Körpers hervorgebracht wird, an denen vorwiegend Hand, Kopf, Arm, Schul­ terregion und Gesichtsmuskulatur entweder allein oder in unterschiedlichen Kombinatio­ nen beteiligt sind. Eine derartige Bestimmung ist allerdings nicht hinreichend, da die ge­ nannten Merkmale ebenso auf den Begriff der „Geste“ zutreffen. Auch wenn sich in der Form beider Zeichen keine allgemeingültigen Un­ terscheidungskriterien finden, so lassen sich doch gewisse Anhaltspunkte für die sprach­ geschichtlich nachweisbaren unterschiedli­ chen Verwendungsweisen beider Wörter aus­ machen. Danach haftet der Gebärde ein eher ganzheitlicher und natürlicher Charakter an, während die Geste tendenziell einen höheren Grad an Intentionalität voraussetzt. Oft kann man das differenzierende Moment am Ver­ hältnis zum Sprachlichen festmachen. Die Ge­ bärde wurde in der Vergangenheit bevorzugt als sichtbarer Ausdruck einer Gemütsbewe­ gung aufgefasst (→ Kognition und Emotion), der sich vollkommen unabhängig von sprach­ lichen Äußerungen manifestieren kann (vgl. Schiller 1986 [i. O. 1787]: „mit den Gebärden eines Wütenden | sah ich ihn eben diesen Saal verlassen“). Dagegen impliziert der Begriff der Geste häufig einen unmittelbaren Bezug zum gesprochenen Wort. Schon die Römer bezeichneten mit gestus vor allem die Hand­ bewegung und das Mienenspiel des Redners oder Schauspielers. Sieht man von den über­ tragenen Bedeutungen (vgl. beispielsweise Gesten der Freundschaft) ab, so sind auch nach unserem heutigen Verständnis Gesten kultu­ rell normierte Körperbewegungen – insbe­ sondere der Hand –, die Rede begleitend oder

auch sprachliche Ausdrücke ersetzend (wenn etwa jemand „einen Vogel zeigt“), gebraucht werden. Im modernen, fachspezifischen Sinn ver­ steht man unter Gebärden Handzeichen ei­ nes gebärdensprachlichen Systems, wie es in Gehörlosengemeinschaften Verwendung fin­ det. Das Wort Gebärde hebt sich dabei von der international gängigen Terminologie ab; denn abgesehen vom Niederländischen und Deutschen führen die Sprachen Gehörloser üblicherweise den Begriff des Zeichens im Namen (British Sign Language, Dansk Tegnsprok, Lingua Brasileira de Sinais usw.). Die Vielfalt der Namen verweist auf die Existenz zahlreicher unterschiedlicher Ausprägungen von Gebärdensprache, woran zugleich deut­ lich wird, dass es sich hierbei nicht um ein naturwüchsiges und universelles Ausdrucks­ mittel handelt. Gebärdensprachen sind kon­ ventionelle visuelle Sprachsysteme, die weder künstlich erschaffen noch normiert wurden. Vielmehr entwickeln sie sich – nicht anders als gesprochene Sprachen – in den Gemein­ schaften ihrer Benutzer und werden durch sie tradiert. Gebärdensprachen sind an kulturell, sozial und politisch definierte Verbreitungs­ gebiete gebunden, die häufig, aber nicht not­ wendigerweise mit staatlichen oder national­ sprachlichen Grenzen zusammenfallen. Die Autonomie von Gebärdensprachen zeigt sich unter anderem daran, dass zwischen ihnen andere Verwandtschaftsbeziehungen beste­ hen können als zwischen den gesprochenen Sprachen ihrer jeweiligen Umgebung. So steht die American Sign Language aus historischen Gründen der Langue des Signes Française nä­ her als der British Sign Language. Anderer­ seits ist die im frankophonen Teil Kanadas gebräuchliche Langue des Signes Québécoise nicht identisch mit der Gebärdensprache ge­ hörloser Franzosen. Ihrer Abgrenzung nach

306 

Sehen und Gebärden

Abb. 1a:  FRAU (bayerischer Dialekt)

Abb. 1b:  FRAU (norddeutscher Dialekt)

außen entsprechend weisen Gebärdenspra­ chen auch eine dialektale Binnendifferenzierung (→ Norm und Differenz) auf, die sich ganz überwiegend an Unterschieden im Ge­ bärdenwortschatz festmacht. So benutzen deutsche Gehörlose zahlreiche lokal- und re­ gionaltypische Gebärden, und zwischen dem Norden und Süden Deutschlands verläuft eine markante Dialektgrenze (vgl. Abb. 1a und 1b). Von den autonomen Gebärdensprachen der Gehörlosen sind jene Kommunikations­ mittel zu unterscheiden, die Handzeichen ei­ ner Gebärdensprache zur visuellen Repräsen­ tation der gesprochenen Sprache entlehnen. Dies kann spontan und unreglementiert ge­ schehen oder durch künstliche Systeme, die zum Gebrauch in schulischen Zusammen­ hängen (→ FS Hören) entwickelt worden sind, vorgegeben sein. Im deutschen Sprachraum hat sich dafür die Bezeichnung Lautsprachbegleitendes Gebärden (LBG) durchgesetzt. Von den künstlichen Gebärdensystemen haben insbesondere die beiden um 1970 in Amerika entwickelten und unter dem ge­ meinsamen Kürzel SEE (Seeing Essential English bzw. Signing Exact English) bekannt ge­ wordenen Verfahren einen großen Einfluss auf die Schulen in den USA und auf ähnliche pädagogische Bemühungen in vielen ande­ ren Ländern gehabt. Beide Verfahren bedie­ nen sich einer Gebärde der amerikanischen Gebärdensprache gewissermaßen als Stamm eines Wortes und fügen dem künstlich ge­ schaffene Handzeichen hinzu, die grammati­ sche Informationen transportieren sollen. Ein

Wort der gesprochenen Sprache wird deshalb oft durch mehr als eine Gebärde wiedergege­ ben. Daneben finden vor allem Techniken der Wortschatzerweiterung Verwendung, die auf der Wiedergabe von Buchstaben eines engli­ schen Wortes durch das Fingeralphabet beru­ hen (vgl. 3.4). Die im deutschsprachigen Raum etwa zwei Jahrzehnte nach den amerikanischen Vor­ bildern entwickelten lautsprachbegleitenden bzw. lautsprachunterstützenden Gebärden­ verfahren bemühen sich um eine stärkere In­ haltsbezogenheit als ihre Vorläufer, gestalten sich allerdings aufgrund der größeren mor­ phologischen Komplexität des Deutschen als schwerfälliger. Gegenstand der folgenden Darstellung werden allerdings keine künstlich geschaffe­ nen Systeme, sondern ausschließlich die au­ thentischen Gebärdensprachen Gehörloser und hierbei insbesondere die unter dem Kür­ zel DGS bekannt gewordene Deutsche Gebärdensprache sein, die von etwa 0,5–1 ‰ der Gesamtbevölkerung verwendet wird.

2 Gebärdensprachen als mehrdimensionale ­Kommunikationssysteme Dass sprachliche Kommunikation norma­ lerweise hörbar ist oder zumindest hörbar gemacht werden kann, scheint zu selbstver­



Zeichenvielfalt und ­Zeichenrelationierung   307

ständlich, als dass wir uns der besonderen Rahmenbedingungen bewusst wären, die das auditive Medium der gesprochenen Sprache setzt. Eine lautsprachliche Äußerung ist linear, eindimensional und abstrakt relational organi­ siert, weil die lautliche Erscheinungsform ihrer Zeichen sich mit einer anderen Art der struk­ turellen Organisation nur schlecht vereinba­ ren ließe. Linearität, Eindimensionalität und Abstraktheit hängen aufs Engste mit den Pro­ duktionsbedingungen und Wahrnehmungsei­ genschaften lautlicher Zeichen (→ Hören und Sprechen) zusammen: • Bedeutungstragende Elemente treten nach­ einander auf und sind selbst aus Folgen von Einheiten zusammengesetzt, weil un­ terscheidbare Laute nur nacheinander und nicht gleichzeitig produziert werden kön­ nen. • Es gibt im Wesentlichen nur eine Art von Zeichen, weil Sprachlaute von einem ein­ zigen Artikulationsorgan hervorgebracht werden, das sich auf die Produktion einer Zeichenart spezialisiert hat. • Form und Inhalt von Wörtern sind will­ kürlich miteinander verbunden, weil die sprachlich zu fassenden Objekte und Vor­ gänge meist keine charakteristischen laut­ lichen Eigenschaften haben, an denen sie eindeutig zu identifizieren wären. Ein auf Lauten basierendes Zeichen kann deshalb Bedeutung normalerweise nicht durch Nachahmung erzeugen. • Die grammatischen Mittel sind abstrakt, weil linear angeordnete Zeichen nicht un­ mittelbar miteinander in Beziehung treten können, sondern nur durch Reihenfolge, grammatische Markierung und Intonation vermittelt aufeinander verweisen. Obwohl sich die wesentlichen Eigenschaften gesprochener Sprachen weitgehend aus ihrer besonderen medialen Verfassung erklären, be­ stimmen diese doch unsere Vorstellung vom Sprachlichen schlechthin. Die lautsprachlich geprägte Perspektive hat der Gebärdensprache in der Vergangenheit unausweichlich negati­ ve Zuschreibungen eingetragen, da ihr Wert

stets danach beurteilt wurde, ob sie über iden­ tische Systemeigenschaften wie die Lautspra­ che verfügt. Dies ist jedoch eine fehlgeleitete Erwartung: In gleicher Weise wie die gespro­ chene Sprache durch ihre auditive Form deter­ miniert ist, werden Charakter und Leistungs­ fähigkeit der Gebärdensprache durch ihre visuelle Erscheinungsform bestimmt, die den Gebrauch mehrerer Kommunikationskanä­ le und die systematische Nutzung des Raums begünstigt. Die dadurch konstituierte Mehr­ dimensionalität von Gebärdensprache spiegelt sich in ihren räumlichen Fügungsmitteln und im simultanen Zusammenspiel unterschiedli­ cher Arten von Zeichen.

3 Zeichenvielfalt und ­Zeichenrelationierung Die gebärdensprachliche Mehrdimensionalität ist in der Verfügbarkeit mehrerer Artikulatoren (→ Hören und Sprechen) begründet: Sichtbare Bewegungen von Händen, Armen, Oberkör­ per, Kopf und Gesicht erzeugen Zeichen, die nicht nur nacheinander, sondern auch gleich­ zeitig auftreten können. In der Deutschen Ge­ bärdensprache kommen dabei im Wesentli­ chen drei Zeichentypen vor: Handzeichen, im weitesten Sinne mimische Elemente und laut­ los artikulierte deutsche Wörter. Bei den Handzeichen lassen sich wieder­ um drei Arten unterscheiden: Konventionelle Manualzeichen, also Gebärden in einem en­ geren Sinn, sogenannte produktive Gebärden sowie Zeichen des Fingeralphabets.

3.1  Konventionelle Manualzeichen Konventionelle Gebärden machen den festen lexikalischen Bestand der Gebärdensprache aus und besitzen unabhängig von ihrem Kon­ text eine konstante Form mit einer je spezifi­ schen Bedeutung. Entgegen einem verbrei­ teten Vorurteil ist eine Gebärde weder eine

308 

Sehen und Gebärden

ganzheitliche Gestalt noch erschließt sich ihre Bedeutung durch Anschauung. Willliam C. Stokoe (1965) begründete die moderne Ge­ bärdensprachforschung mit seiner struktura­ listischen Analyse (→ Zeichen und Semiose, → Sprache und Sprechen), nach der alle Ge­ bärden aus einem begrenzten Inventar von Handformen, Bewegungen und Ausführungs­ orten zusammengesetzt sind und derzufolge diese Aspekte einer Gebärde in gleicher Wei­ se Bedeutungsunterschiede hervorbringen wie die Phoneme eines gesprochenen Wortes. Demnach sind also auch Gebärden aus kleine­ ren Bestandteilen zusammengesetzt, nur dass diese Einheiten nicht, wie im Wort nacheinan­ der, sondern gleichzeitig in Erscheinung tre­ ten (vgl. Baker & Battison 1980). Edward Klima und Ursula Bellugi (1979) mitsamt ihren Mitarbeitern vom Salk-Institute gelang später der Nachweis, dass es sich bei den von Stokoe isolierten Einheiten nicht um rein theoreti­ sche Konstrukte handelte, sondern dass diese manuellen „Phoneme“ bei der Wahrnehmung und Produktion gebärdensprachlicher Äuße­ rungen eine entscheidende Rolle spielen. Sobald die Annahme, Gebärden seien ganzheitliche Gestalten, als widerlegt gelten musste, relativierte sich auch die scheinbar offensichtliche Bildhaftigkeit von Gebärden­ sprache. Zwar dürfte der Ursprung fast aller Gebärden auf einen bildhaften Gehalt zu­ rückgehen; dennoch ist die Gebärdenspra­ che keine „Bildersprache“. Gebärden sind Zeichen, und als solche bezeichnen sie nicht notwendigerweise das, was sie in ihrer Form abbilden, sondern, was ihnen durch Konven­ tion an Bedeutung zugeschrieben wird. So wird etwa bei einer traditionellen Gebärde zur Bezeichnung von Behinderung die Ver­ kürzung von Gliedmaßen angedeutet (vgl. Abb. 2), ohne dass damit jedoch der Begriff auf eine bestimmte Behinderungsart oder auf die äußerlichen Merkmale einer Behinderung beschränkt würde. In vergleichbarer Wei­ se entstehen zahlreiche abstrakte Gebärden durch Assoziation mit einem konkreten Vor­ gang oder Gegenstand. Es ist heute nur noch schwer nachzuvollziehen, dass dieser im Zei­

Abb. 2:  BEHINDERT

chencharakter der Gebärde begründete Un­ terschied zwischen Form und Bedeutung lan­ ge Zeit ignoriert wurde und sich nicht zuletzt in der Gebärdensprachpädagogik über viele Jahrzehnte hartnäckig das Vorurteil halten konnte, Gebärdensprache sei dem Konkreten verhaftet und behindere das abstrakte Den­ ken. Ohnehin ist der bildliche Gehalt von Ge­ bärden oft kaum mehr greifbar. Durch An­ passung an sprachsystematische Regulari­ täten und durch die mit dem regelmäßigen Gebrauch einhergehende Stilisierung schleift sich das nachahmende Moment so stark ab, dass sich dem uneingeweihten Betrachter die Herkunft einer Gebärde in den meisten Fäl­ len nicht mehr erschließt. Auch wer die Ge­ bärdensprache beherrscht, kann nicht immer das hinter der Gebärde ursprünglich stehen­ de Bild erklären. Für die Sprachverarbeitung scheint der mehr oder minder große ikoni­ sche Gehalt einer konventionellen Gebärde von untergeordneter Bedeutung zu sein, und Kinder gehörloser Eltern lernen die Bedeu­ tung und Verwendung bestimmter Gebärden, ohne schon über die lebensweltlichen Erfah­ rungen zu verfügen, um den Zusammenhang zu dem mit der Gebärde nachgeahmten Vor­ gang oder Objekt herstellen zu können. Bei­ spielsweise wird die Gebärde MILCH – die Hände ahmen hierbei in stilisierter Form die Tätigkeit des Melkens nach – meist frühzei­ tig im Erstspracherwerb angeeignet, lange be­ vor den Kindern die Herkunft des Nahrungs­



Zeichenvielfalt und ­Zeichenrelationierung   309

mittels bewusst wird, ja noch bevor sie jemals eine Kuh zu Gesicht bekommen haben.

3.2  Produktive Manualzeichen Neben diesem festen Bestand konventioneller Handzeichen verfügt die Gebärdensprache al­ lerdings über hochgradig ikonische Mechanismen (→ Zeichen und Semiose) zur Bildung neuer Zeichen. Bei diesen produktiven Gebärden unterscheidet man nach der Art, wie Wirklichkeit mit der Hand abgebildet wird, „Manipulatoren“, „Substitutoren“ und „skiz­ zierende Gebärden“. Im ersten Fall entspricht Form und Be­ wegung der gebärdenden Hand einer täti­ gen Hand, die einen Gegenstand manipuliert oder sonst eine instrumentelle Handlung aus­ führt. Manipulatoren erlauben auf diese Wei­ se die Integration stilisierter, quasi-pantomi­ mischer Aktionen – etwa die Handhabung eines imaginären Werkzeugs – in den sprach­ lichen Kontext (vgl. Abb. 3). Bei den sogenannten Substitutoren steht die Hand bzw. einer oder mehrere ihrer Finger für einen Gegenstand; Fahrzeuge werden so durch die flache Hand (vgl. Abb. 4), aufrech­ te Objekte wie Menschen oder Telefonmas­ ten, durch einen aufgerichteten Zeigefinger dargestellt (vgl. Abb. 5). Diese Handformen bilden wesentliche sichtbare Eigenschaften des bezeichneten Gegenstandes ab, und ganz

Abb. 3: MANIPULATOR-hämmern/MANIPULATORdünnen-Gegenstand-halten

Abb. 4:  SUBSTITUTOR-Fahrzeug

Abb. 5:  SUBSTITUTOR-Person

so wie Pronomen in lautsprachlichen Sätzen für Substantive stehen, ersetzen sie in einer gebärdensprachlichen Äußerung konventio­ nelle Gebärden. Mit ihrer Hilfe können Ak­ tionen oder räumliche Verhältnisse zwischen Objekten dargestellt werden, da sie aufgrund ihrer einfachen Gestalt überall platziert und im Gebärdenraum frei bewegt werden kön­ nen. Mit den beiden beispielhaft genannten Handformen lassen sich derart die Bewegun­ gen von Personen und Fahrzeugen modell­ haft nachbilden, wozu die konventionellen Gebärden für AUTO oder BUS (vgl. Abb. 6) bzw. PERSON oder VATER (vgl. Abb. 7) nicht geeignet sind. Sowohl Manipulatoren als auch Substi­ tutoren erlauben es, Vorgänge szenisch-mo­ dellhaft im Gebärdenraum zu gestalten. Die dabei gegebene Freiheit der Bewegungsaus­

310 

Sehen und Gebärden

Abb. 6:  BUS

führung ermöglicht eine potenziell unbe­ grenzte Anzahl von alternativen Formen. Gleichermaßen sind die skizzierenden Gebärden, die Umriss oder Ausdehnung eines Gegenstandes umschreiben, in ihrer Abbil­ dungstreue nicht festgelegt. So lässt sich etwa die Silhouette eines Gebirgsmassivs durch eine mit der flachen Hand geschwungene Linie nur andeuten oder präzise und detail­ genau nachzeichnen. Tatsächlich wird die prinzipiell in den produktiven Formen an­ gelegte Variabilität jedoch bei weitem nicht ausgeschöpft. Die Zwänge anatomischer Ge­ gebenheiten, menschlichen Diskriminations­ vermögens  und der Sprachökonomie führen letztlich zu einer Beschränkung auf ein doch relativ überschaubares Inventar miteinander gut kontrastierender Bewegungen. Produktive Gebärden ahmen Gegenstände und Vorgänge der realen Welt nach, indem sie sich dazu eines begrenzten Formenbestandes und fester Konventionen bedienen. Aufgrund seines Doppelcharakters erlaubt dieses Dar­ stellungsprinzip, eine mit den Augen erlebte Welt relativ direkt in eine sprachliche Form zu überführen. Daraus resultiert auch die im Vergleich mit der gesprochenen Sprache gro­ ße Zahl von spontanen Neuschöpfungen, die lexikalische Lücken schließen helfen und die, wenn sie von anderen aufgegriffen werden und Verbreitung finden, allmählich in den festen lexikalischen Bestand übergehen kön­ nen. Dabei verlieren die ehemals produktiven Gebärden häufig ihre konkrete räumliche Be­ deutung: So hat sich etwa die Gebärde TREF­

Abb. 7:  VATER

Abb. 8:  TREFFEN

FEN (vgl. Abb. 8) aus der Annäherung und der Berührung zweier Personen-Substitutoren entwickelt, wobei die Art der Bewegung und die räumlichen Verhältnisse bei der konventi­ onellen Gebärde vollkommen bedeutungslos werden können: Die konventionelle Gebärde impliziert dann nicht mehr das Zusammen­ treffen zweier Personen an einem bestimmten Ort, sondern lediglich die Vorstellung von ei­ ner irgendwie gearteten Zusammenkunft. Die meisten lexikalischen Gebärden dürften in vergleichbarer Weise durch die Konventionalisierung produktiver Formen entstanden sein.

3.3 Die räumliche Dimension ­gebärdensprachlicher Grammatik Der bei den produktiven Gebärden beschrie­ benen Art und Weise, wie Vorgänge oder Be­ ziehungen zwischen Personen bzw. Objekten



Zeichenvielfalt und ­Zeichenrelationierung   311

Abb. 9:  FRAGEN

modellhaft im Gebärdenraum nachgeahmt werden, verdanken sich auch die Grundprin­ zipien der gebärdensprachlichen Verbgrammatik. Die grammatische Beziehung zwischen dem Verb und seinen Mitspielern, dem Sub­ jekt und den Objekten, wird in der Gebär­ densprache nach Möglichkeit verräumlicht. Handlungsträger und Gegenstände der Hand­ lung werden mit räumlichen Positionen iden­ tifiziert, und die Gerichtetheit von Handlun­ gen – wer an wem oder was eine Handlung vollzieht – kommt in der Bewegungsrichtung der Gebärde zum Ausdruck. Die übergeord­ nete Bedeutung dieser räumlichen Analogiebildung zeigt sich unter anderem darin, dass Stellungsregeln für die Gebärdenabfolge da­ durch neutralisiert werden. Während bei einer Gebärde wie FRAGEN (vgl. Abb. 9) die Bewe­ gung vom logischen Subjekt (dem Frager) zum logischen Objekt (dem Befragten) verläuft, nimmt sie bei der Gebärde EINLADEN (vgl. Abb. 10) ihren Ausgang beim logischen Objekt (dem Eingeladenen) und endet an der Position des Subjekts (des Einladenden). Die beiden Hauptklassen gerichteter bzw. direktionaler Gebärden lassen sich genau danach unterscheiden, ob eine Gebärde an der Position des Handlungsträgers oder an dem Punkt, auf den die Handlung gerichtet ist, ihre Bewegungsbahn beginnt. In Über­ einstimmung mit diesen Prinzipien liegen Anfangs- und Endpunkt einer solchen di­ rektionalen Verbgebärde nicht fest, sondern variieren in Abhängigkeit von der jeweiligen syntaktischen Bedeutung (vgl. Abb. 11).

Abb. 10:  EINLADEN

Abb. 11:  person1-FRAGEN-person2

Auch semantisch bedeutsame Formverände­ rungen gehen auf nichtlineare Abwandlun­ gen der Gebärdenform zurück. So lassen sich beispielsweise durch Veränderung des Bewe­ gungsparameters bestimmter Gebärden be­ sondere zeitliche Aspekte, wie das Andauern oder die Wiederkehr von Handlungen ausdrü­ cken, was funktional Morphemen in Lautspra­ chen entspricht, die wie im Griechischen oder Russischen der Verbbedeutung einen durati­ ven (vgl. Abb. 12a) bzw. iterativen (vgl. Abb. 12b) Aspekt hinzufügen. Ebenso wie Wörter gesprochener Sprachen verändern also auch Gebärden ihre Form in systematischer Weise, um bestimmte syntak­ tische und morphologische Funktionen zu erfüllen. Anders als gesprochene Sprachen fügen sie zu diesem Zweck jedoch nicht ei­ nen Stamm und eine Endung oder mehrere Morpheme aneinander, sondern modifizie­ ren die Bewegung des Zeichens. Die Dreidi­

312 

Sehen und Gebärden

Abb. 12a: ARBEITEN-durativ: „ununterbrochen arbeiten“

Abb. 12b: ARBEITEN-iterativ: „regelmäßig arbeiten“

mensionalität des Bewegungsaspekts sowie die Möglichkeiten räumlicher Relationierung sind der Grund dafür, warum Gebärdenspra­ chen auf Endungen, die morphosyntaktische Informationen kodieren, verzichten können. Endungslosigkeit ist also keinesfalls mit feh­ lender Grammatikalität gleichzusetzen, wie das in der Vergangenheit mit Blick auf die uns vertrauteren Strukturen europäischer Laut­ sprachen immer wieder behauptet wurde, sondern Folge eines anderen, an die visuellräumliche Modalität in besonderer Weise an­ gepassten Funktionsprinzips.

des Einzelbuchstabens ist statisch, lediglich Z und J werden mit einer spezifischen Bewe­ gung, die den Umriss des Buchstabens skiz­ ziert, ausgeführt. Versierte Anwender verbin­ den die statischen Handzeichen allerdings zu einer fließenden Bewegung, die dann von entsprechend kompetenten Rezipienten un­ mittelbar als ganzheitliche Gestalt wahrge­ nommen werden kann. Verschleifung und Auslassung von einzelnen Buchstaben tun dabei der ganzheitlichen Wahrnehmung kei­ nen Abbruch. Das Fingeralphabet hat seinen festen Platz in diversen didaktisch-methodischen Konzeptionen der Gehörlosenbildung wie in der so­ genannten „französischen Methode“. Aus­ gehend von der Verwendung im schulischen Zusammenhang ist es aber von manchen Ge­ hörlosengemeinschaften in die Alltagskom­ munikation übernommen worden. Besonders tiefe Wurzeln hat das Fingeralphabet in der American Sign Language (→ vgl. Abb. 11 und 12, Zeichen und Semiose) geschlagen. In Deutschland ist das international ver­ breitete Fingeralphabet geringfügig modifi­ ziert und vor allem an die Besonderheiten der deutschen Orthographie angepasst worden. Diese adaptierte Version hat mit Beginn der 1970er Jahre des letzten Jahrhunderts nach und nach Einzug in die Schulen gehalten, und zwar in Ost und West unabhängig voneinan­ der, wenn auch nahezu zeitgleich. Der kur­ zen Verbreitungsgeschichte ist es geschuldet, dass viele ältere Gehörlose keinerlei Kennt­

3.4  Fingeralphabet Abgesehen von den eigentlichen Gebärden be­ dienen sich einige Gebärdensprachen auch be­ stimmter Handzeichen zur Repräsentation von Buchstaben, mit denen Wörter der geschrie­ benen Sprache in eine gebärdensprachliche Äußerung integriert werden können. Da­ bei bedienen sich die meisten heute üblichen Handalphabete nur einer Hand (→ Zeichen und Semiose). Zum Teil ahmen die Handformen des bei uns gebräuchlichen Fingeralphabets die Form von Buchstaben nach (C, D, I, O), zum Teil weisen sie aber auch keine unmittelbare Ähn­ lichkeit auf (A, B, E, G, S). Manche Handzei­ chen unterscheiden sich nur in der Orientie­ rung der Hand voneinander (z. B. U und H, K und P oder G und D). Die Präsentation



Zeichenvielfalt und ­Zeichenrelationierung   313

nisse des Fingeralphabets haben und auch die mittlere Generation ihren Gebrauch oft nicht beherrscht. Aufgrund der eingeschränkten Kompetenz beschränkt sich die Anwendung des Fingeralphabets bei vielen darauf, den Anfangsbuchstaben eines durch Ablesen zu identifizierenden Namens oder Begriffs ma­ nuell anzuzeigen. Unter jüngeren, besser aus­ gebildeten und international erfahrenen Ge­ hörlosen dagegen scheint die kompetente Handhabung des Fingeralphabets auch in der alltäglichen Kommunikation zuzunehmen, um Eigennamen, Fremdwörter oder fach­ sprachliche Termini wiederzugeben.

3.5  Ablesewörter Neben dem Fingeralphabet, das den Wort­ bestand der gesprochenen Sprache manuell verfügbar macht, nutzt die Deutsche Gebär­ densprache auch ganz direkt den visuell un­ mittelbar zugänglichen Anteil gesprochener Sprache. Sprachlaute werden durch spezifische Arti­ kulationsbewegungen hervorgebracht (→ Hö­ ren und Sprechen), und insoweit diese sicht­ bar sind, erlaubt ihre Identifikation den Rückschluss auf die Lautgestalt eines Wortes. Ein Großteil des Artikulationsvorgangs ent­ zieht sich jedoch der Betrachtung, weshalb das reine Lippenlesen nur höchst bruchstück­ hafte Ergebnisse hervorbringt und in seiner Leistungsfähigkeit häufig überschätzt wird. Werden Wörter jedoch in einen eindeutigen situativen Zusammenhang gestellt, so lassen sie sich aufgrund der kontextuellen Hinweise wesentlich leichter identifizieren. Hinweisen­ de Zeigegesten beispielsweise schaffen derart die Bedingungen dafür, dass auch Ungeüb­ te ein in größerer Entfernung gesprochenes Wort rein visuell entschlüsseln können (wenn etwa der gestische Verweis auf einen Kiosk das im Umgebungslärm untergehende Wort „Zeitung“ ablesbar werden lässt). Gebärden stellen als konventionalisier­ te, gut wahrnehmbare Zeichen hervorragen­ de Kontexthinweise dar, und im Rahmen ge­

bärdensprachlicher Äußerungen können sie deshalb neben ihren anderen Funktionen ge­ wissermaßen als „Stichwortgeber“ zur Identi­ fikation von lautlosen Ablesegestalten dienen. Solche Ablesewörter – gelegentlich auch als „Mundbilder“ bezeichnet – treten regelmä­ ßig in gebärdensprachlichen Äußerungen auf, wenn Gegenstände, Vorgänge oder Begriffe zu benennen sind. Die Technik der wechselseitigen Kontextualisierung von Wort und Gebärde schafft die Voraussetzungen der visuellen Wahrneh­ mung eines an sich auditiven Zeichens. Sie ermöglicht den Zugriff auf den Wortbestand der gesprochenen Sprache im visuellen Medi­ um und erlaubt damit vorwiegend im Bereich der Nomina lexikalische Lücken zu schließen oder semantische Differenzierungen vorzu­ nehmen. Dabei ist die Funktion der Ablesewörter rein semantisch. Morphosyntaktische Eigen­ schaften, wie sie in den Endungen deutscher Substantive kodiert sind, bleiben im gebär­ densprachlichen Äußerungszusammenhang funktionslos und werden deshalb meist gar nicht reproduziert. Die einzelnen Ablesewör­ ter stehen für sich und gehen in der Regel un­ tereinander keine Beziehungen ein, sondern sind allein auf die zeitgleich erscheinende Ge­ bärde bezogen. Den grammatischen Zusam­ menhang stiften die Gebärdenzeichen und sie bedienen sich dazu der oben beschriebenen modalitätstypischen Prinzipien (vgl. Ebbing­ haus 1998).

3.6  Mimische Zeichen Eine weitere Dimension steuern mimische Zeichen zum simultanen gebärdensprachlichen Äußerungsgefüge bei. Sie gehen entweder auf den Gesichtsausdruck, bedeutungsvoll inten­ dierte Kopfbewegungen oder auf ganzkörper­ liche Darstellungen zurück. Im engeren Sinn nonmanuelle Zeichen erfüllen kommunikative Funktionen, die syntaktischen Markierungen in gesprochenen Sprachen entsprechen: Satz­ negation, Topikalisierung, Frage- und Kondi­

314 



Sehen und Gebärden

DRAUSSENNM:cond

REGENNM:cond

ICH

KOMMNM:negation

Abb. 13: Konditionalsatz: „Wenn es regnet, komme ich nicht.“

tionalsatz können allein durch nonmanuelle Merkmale bezeichnet sein. So wird der Bedin­ gungssatz an der Vorneigung des Kopfes und gehobenen Augenbrauen erkennbar, was mit gegenläufigen Bewegungen – der Kopf wird betont zurückgenommen und die Augen­ brauen entspannt – im bedingten Hauptsatz kontrastiert (vgl. Abb. 13). Dem Blick kommt gliedernde Funktion zu, und er kann auch als hinweisende Zeigegeste eingesetzt werden, um auf Positionen im Gebärdenraum zu ver­

Abb. 14:  GROSS-(nonmanuell: mächtig): „sehr groß“

Abb. 15: KLEIN-(nonmanuell: geringfügig): „winzig“

weisen, die mit bestimmten Referenzobjekten identifiziert sind. Neben diesen gewissermaßen arbitrari­ sierten Funktionen der Mimik spezifiziert der Gesichtsausdruck attributartig andere Zeichen (vgl. Abb. 14) oder bringt Haltungen des Sprechers zum Gesagten zum Ausdruck (z. B. durch einen abschätzigen oder anerken­ nenden „Blick“). Häufig spielt der Mund eine zentrale Rolle bei mimischen Zeichen. So verweist beispiels­ weise das Zeigen der Zungespitze zwischen den Zähnen auf geringe Quantität bzw. Aus­ dehnung (vgl. Abb. 15). oder zeitliche Nähe (vgl. Abb. 16). Regelmäßig ist das Gesicht auch Bestand­ teil komplexer mimischer Zeichen, die sich als Nachahmung von Verhalten auffassen las­ sen. Indem der Sprecher sich selbst zum Mit­ tel der Darstellung macht, wird das Verhalten von Menschen gleichsam inszeniert. Körper­ orientierung und Blickverhalten ist im Allge­ meinen Teil dieser gebärdensprachlich insze­ nierten Rollenübernahmen. Solche szenisch bezogenen Körperaktionen dienen in erster

Abb. 16: VORHER-(nonmanuell: unmittelbar): „gerade eben“



Gesellschaftliche ­Auswirkungen und ­aktuelle Tendenzen der Gebärdensprachforschung   315

Linie der Wiedergabe dialogischer Interak­ tion, weshalb man sie gelegentlich mit der rhetorischen Figur der direkten Rede vergli­ chen hat. Allerdings erfolgen Rollenübernah­ men manchmal lediglich, um Haltungen oder Reaktionen einer Person zu schildern. Diese Art der ganzkörperlichen Darstellungen dürfte für den Eindruck verantwortlich sein, Gebärdensprache sei eine Art Pantomi­ me. Gebärdensprachliche Inszenierungen un­ terscheiden sich jedoch im Allgemeinen recht deutlich von pantomimischen Bühnendarbie­ tungen durch die Integration konventioneller gebärdensprachlicher Zeichen, durch Art und Grad der Stilisierung sowie durch die erheb­ lich stärker komprimierten zeitlichen Abläu­ fe. Im Gegensatz zur detaillierten pantomi­ mischen Nachahmung beschränkt sich die Übernahme einer bestimmten Sprecherrolle oft auf die Wiedergabe einer knappen Reak­ tion, die nicht länger als den Bruchteil einer Sekunde in Anspruch zu nehmen braucht. Die oben im Einzelnen vorgestellten ge­ bärdensprachlichen Bedeutungsträger treten in der Regel nicht alleine und isoliert in Er­ scheinung. Da sie sich auf unterschiedliche Artikulatoren verteilen, können sie simultan hervorgebracht werden. Dabei entsteht ein Geflecht vielfältiger kontextueller Beziehun­ gen zwischen arbiträren und motivierten Zei­ chen, das der Gebärdensprache ihren einzig­ artigen Charakter verleiht.

4 Gesellschaftliche ­Auswirkungen und ­aktuelle Tendenzen der Gebärden­ sprachforschung Nachdem in den 1960er und 1970er Jahren die Gebärdensprachforschung sich vor allem in den USA dem Nachweis systemlinguistischer Merkmale (→ Sprache und Sprechen) von Gebärdensprache gewidmet hatte, erwei­ terte sich das Forschungsspektrum in den bei­

den folgenden Jahrzehnten auf psycholinguistische (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau) (Klima & Bellugi 1979) und soziolinguistische (→ Norm und Differenz) (Lucas 2001), spä­ ter auch auf neurolinguistische Fragestellungen (→ Sprache und Gehirn) (Poizner, Klima & Bellugi 1990). Das zunächst an der American Sign Language entzündete Interesse hat sich im gleichen Zeitraum auf zahlreiche andere Ge­ bärdensprachen ausgedehnt, und in der Folge ist eine umfängliche wissenschaftliche Litera­ tur sowohl zu systemlinguistischen als auch anwendungsbezogenen Aspekten entstanden (Prillwitz & Joachim 1996). Die ersten Jahrzehnte der Gebärdensprach­ forschung waren angesichts der traditionellen Vorurteile darauf ausgerichtet, den prinzi­ piell sprachlichen Charakter von Gebärden­ sprache nachzuweisen. Es erklärt sich aus dieser Konstellation, dass die vergleichende Perspektive auf die gesprochenen Sprachen zunächst forschungsleitend war und die mo­ dalitätsbedingten Unterschiede eher vernach­ lässigt wurden. Dessen ungeachtet erwies sich die systemlinguistische Betrachtung der Ge­ bärdensprache als überaus folgenreich. Die grundlegenden Erkenntnisse der Gebärden­ sprachlinguistik bahnten nicht nur einem heute international etablierten Forschungs­ zweig den Weg, sondern legten das Funda­ ment für die gesellschaftliche Anerkennung der Gebärdensprache, die sich in allgemeiner Form in der UNO-Konvention zum Schutz der Rechte Behinderter aus dem Jahr 2006 wi­ derspiegelt und die in einer wachsenden Zahl von Ländern institutionellen Ausdruck ge­ funden hat. Auch in Deutschland ist die Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache als eigenständige Sprache seit einigen Jahren in Gesetzen des Bundes und der Länder fest­ geschrieben. Der in nur wenigen Jahrzehnten vollzogene radikale Wandel in der Auffas­ sung von der Gebärdensprache hat weder das Selbstbild noch die Wahrnehmung ihrer Be­ nutzer durch die Gesellschaft unberührt ge­ lassen. Es wird heute besser verstanden, wenn Gehörlose nicht primär über ihre Sinnesbe­ hinderung, sondern über die ihre Gemein­

316 

Sehen und Gebärden

schaft stiftende Sprache definiert sein wol­ len und warum sie das Recht beanspruchen, am gesellschaftlichen Diskurs mit ihren ei­ genen kommunikativen Mitteln teilzuhaben (→ Behinderung und Vulnerabilität). Rege­ lungen der öffentlichen Hand zur Übernah­ me von Dolmetschkosten in einigen Lebens­ bereichen und die Etablierung akademischer Ausbildungsstätten für Gebärdensprachdol­ metscher sind wichtige institutionelle Konse­ quenzen eines neuen Integrationsverständnisses, das ohne die gewachsene Wertschätzung der Gebärdensprache kaum denkbar wäre. Die Gehörlosenpädagogik ist der linguis­ tischen Betrachtung Gehörloser und ihrer Sprache anfangs überwiegend skeptisch und ablehnend begegnet, und manche ihrer Ver­ treter tun sich bis heute schwer, überkomme­ ne Vorstellungen von der Gebärdensprache im Lichte sprachwissenschaftlicher Erkennt­ nisse zu überprüfen. In den letzten beiden Jahrzehnten haben jedoch die Gehörlosenpä­ dagogen an Einfluss gewonnen, die der Ge­ bärdensprache ausdrücklich eine wichtige Rolle in der Erziehung und schulischen Bil­ dung gehörloser Kinder zuweisen (→ FS Hö­ ren). Heute, nachdem Gebärdensprachen An­ erkennung und gesellschaftliche Wertschät­ zung erfahren haben, ist der Legitimations­ druck, der auf der Forschung gelastet hat, weitgehend gewichen, und es rücken zuneh­ mend Phänomene in den Mittelpunkt des In­ teresses, die von lautsprachlichen Gegeben­ heiten abweichen und die sich mit einem an den gesprochenen Sprachen orientierten Bild von Grammatikalität nicht immer leicht zur Deckung bringen lassen: Zum einen geht es dabei um die Beziehung einer Gebärdenspra­ che zu der sie umgebenden Lautsprache (vgl. Boyes Braem & Sutton-Spence 2001) und zum anderen um die theoretische Einordnung der dem grammatischen System von Gebärden­ sprache zugrunde liegenden Ikonizität (vgl. Liddell 2003). Die aus semiotischer Sicht vielleicht grund­ legendste Frage scheint bislang jedoch nur un­ zureichend problematisiert worden zu sein:

Lassen sich Gebärdensprachen, die ungeachtet ihrer zweifellos vorhandenen Sprachfunktio­ nalität einem eigenen Sprachtyp zuzurechnen sind, unter herkömmlichen Sprachtheorien (→ Person und Sprache) subsumieren oder verlangen die in ihrer Mehrdimensionalität begründeten Besonderheiten einen eigenen theoretischen Rahmen? Die Auseinander­ setzung mit dieser Frage stellt die vielleicht größte Herausforderung für eine zukünftige wissenschaftliche Beschäftigung mit der Ge­ bärdensprache dar.

Literatur Baker, C. & Battison, R. (Eds.) (1980): Sign language and the deaf community. Essays in honor of Wil­ liam C. Stokoe. Silver Spring: NAD. Boyes Braem, P. (31995): Einführung in die Gebär­ densprache und ihre Erforschung. Internationale Arbeiten zur Gebärdensprache und Kommunika­ tion Gehörloser, Bd. 11. Hamburg: Signum. Boyes Braem, P. & Sutton-Spence, R. (Eds.) (2001): The hands are the head of the mouth: The mouth as articulator in sign languages. Hamburg: Sig­ num. Ebbinghaus, H. (1998): Warum deutsche Wörter we­ sentliche Bestandteile der Deutschen Gebärden­ sprache sind. Das Zeichen 12, 45, 443–451 und 12, 46, 594–611. Ebbinghaus, H. & Heßmann, J. (1989): Gehörlose – Gebärdensprache – Dolmetschen. Chancen der Integration einer sprachlichen Minderheit. In­ ternationale Arbeiten zur Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser, Bd. 7. Hamburg: Sig­ num. Edmondson, W. & Wilbur, R. (Eds.) (1996): Interna­ tional review of sign linguistics, Vol. 1. Mahwah (NJ): Erlbaum. Eichmann, H., Heßmann, J. & Hansen, M. (Hrsg.) (2011): Handbuch Deutsche Gebärdensprache. Hamburg: Signum. Heßmann, J. (2001): GEHÖRLOS SO! Materialien zur Gebärdensprache. Bd 1: Grundlagen und Ge­ bärdenverzeichnis; Bd. 2: Gebärdensprachtexte & VHS-Videoband. Internationale Arbeiten zur Ge­ bärdensprache und Kommunikation Gehörloser, Bd. 32. Hamburg: Signum. Klima, E. & Bellugi, U. (1979): The signs of language. Cambridge (MA): MIT. Lucas, C. (Ed.) (2001): The sociolinguistics of sign lan­ guages. Cambridge: Cambridge University Press.



Literatur   317

Liddell, S. (2003): Grammar, gesture and meaning in American Sign Language. Cambridge: Cambridge University Press. Marshark, M. & Spencer, P. E. (Eds.) (2003): Oxford handbook of Deaf Studies, language and educa­ tion. Oxford: Oxford University Press. Poizner, H., Klima, E. & Bellugi, U. (1990): Was die Hände über das Gehirn verraten. Hamburg: Signum. Prillwitz, S. & Joachim, G. (Eds.) (1996): Internati­ onal bibliography of sign language. International studies on sign language and communication of

the deaf, Vol. 21. Washington: Gallaudet Universi­ ty Press. (aktualisierte online-Version unter URL: www.sign-lang.uni-hamburg.de/BibWeb). Sandler, W. & Lillo-Martin, D. (2006): Sign language and linguistic universals. Cambridge: Cambridge University Press. Schiller, F. v. (1986 [i. O. 1787]): Don Carlos. Stuttgart: Reclam. Stokoe, W., Casterline, D. & Croneberg, C. (1965): A dictionary of American Sign Language on lingu­ istic principles. Silver Spring: Linstok.

 III  Beeinträchtigungen der Sprache

Klassifikation Roswitha Romonath

1 Internationale ­Klassifikationssysteme Die „Allgemeine Erklärung der Menschen­ rechte“ der Vereinten Nationen (UN 1948, Art. 25) beinhaltet das Recht auf einen Lebens­ standard, der dem einzelnen Individuum und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewähr­ leistet. Dieser Anspruch auf Gesundheit wird im „Internationalen Pakt über wirtschaftli­ che, soziale und kulturelle Rechte“ (UN 1966, Art. 12) als ein Recht auf den besten erreichba­ ren Gesundheitszustand bekräftigt und präzi­ siert. Dabei wird Gesundheit in einem breiten und biopsychosozialen Verständnis definiert: „Gesundheit ist ein Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohl­ befindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen. (Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of diseases or infirmity)“ (WHO, Verfassung 1946). Diese „Abwesenheit“ bzw. der Verlust der Ge­ sundheit wird dabei in der Diskussion der in­ ternationalen Staatengemeinschaft nicht nur als ein Verlust für die betroffene Person, son­ dern ebenso für ihre Familienangehörigen wie auch für die Gesellschaft als Ganzes interpre­ tiert. Die Aufgabe der Verbesserung der Ge­ sundheit des Individuums bzw. der Bevölke­ rung als Gesamtheit wird daher nicht allein in der Reduzierung der Sterblichkeit infolge von Krankheiten oder Verletzungen, sondern ebenso in der Erhaltung der menschlichen Funktionsfähigkeit, dem Vermögen der indi­ viduellen Lebensführung wie auch der gesell­ schaftlichen Teilhabe (WHO 2002) gesehen (→ Behinderung und Vulnerabilität).

Um den Diskurs der internationalen Staa­ tengemeinschaft über die Rolle der Gesundheit in der Entwicklung von Gesellschaften und die Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszu­ standes vergleichend zu ermöglichen, bedarf es einer standardisierten Sprache mit allgemein praktizierten Begrifflichkeiten und Klassifi­ kationen von Gesundheitsproblemen, ihren Ursachen und Folgen sowie ihren relevanten Umweltfaktoren, die eine kultur­unabhängige und interdisziplinär verständliche Anwend­ barkeit gewährleistet (WHO 2001). Mit der „International Statistical Classifi­ cation of Diseases and Related Health Prob­ lems“ (ICD-10; WHO 1992) und der „Inter­ national Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF; WHO 2001) wur­den von der WHO zwei ­komplementäre Klassifikationssysteme geschaffen, die die Mit­gliedsstaaten mit einem außerordentlich umfangreichen und dennoch präzisen Instru­ mentarium versorgen, um den Gesundheits­ zustand der jeweiligen Bevölkerung zu er­ fassen und zu verstehen, wie die interaktiven Beziehungen zwischen dem Individuum und seiner Umgebung die Gestaltung eines erfüll­ ten Lebens einschränken oder fördern (WHO 2002). Während die ICD-10 Krankheiten als Todesursachen für statistische Zwecke klassi­ fiziert und ein Ordnungssystem für Gesund­ heitsprobleme wie Krankheiten, Gesund­ heitsstörungen oder Verletzungen darstellt (Schopen 1999), klassifiziert die ICF die funk­ tionale Gesundheit aus einer biopsychosozi­ alen Perspektive, die von einem Verständnis der Universalität geleitet ist (Skarakis-Doyle & Doyle 2008). Demzufolge bildet sich Ge­ sundheit und Funktionsfähigkeit aller Men­ schen, einschließlich der von Behinderungen Betroffenen, auf einem Kontinuum ab. Die Variabilität von Fähigkeiten ist somit eher die Norm menschlicher Bedingungen als ein

322 

Klassifikation

Merkmal spezieller Minderheiten (→  Norm und Differenz). Da jeder Mensch vorübergehend oder dau­ erhaft im Laufe seines Lebens von Funktions­ einschränkungen betroffen sein kann, kann er auch zu einem gewissen Grad Behinderung und/oder Verlust an Lebensqualität erlei­ den. Behinderung von unterschiedlicher Dau­ er und Intensität ist daher in der Perspektive der ICF ein inhärenter Bestandteil menschli­ cher Existenz (Skarakis-Doyle & Doyle 2008) (→ Behinderung und Vulnerabilität) und be­ darf der Gesundheitsvorsorge. Die Anwendung der ICF zur Klassifizie­ rung der Gesundheitsprobleme von Kindern und Jugendlichen erwies sich jedoch als un­ zureichend, da das Kategoriensystem den Ent­ wicklungsaspekt nicht ausreichend widerspie­ gelt (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau). Darüber hinaus erforderte die Implementie­ rung der „UN-Kinderrechtskonvention“ (UN 1989), die einen Zugang zum Gesundheits­ system, zu Bildungseinrichtungen und sozia­ len Sicherungssystemen einschließt, und der „UN-Konvention über die Rechte von Men­ schen mit Behinderungen“ (UN 2006) in den Mitgliedsstaaten ein Klassifikationssystem, das die spezifischen physischen, sozialen und psychologischen Merkmale von Kindern und Jugendlichen abbildete (WHO 2007). Ende November 2007 folgte daher die für die Alters­ gruppe der Kinder und Jugendlichen von 0–17 Jahren spezifizierte „International Classifi­ cation of Functioning, Disability and Health. Children and Youth Version“ (ICF-CY; WHO 2007). Sie ermöglicht es, nun auch die Wachs­ tums-, Reifungs-, Lern- und Lebensbedingun­ gen dieser Altersgruppe kategorial darzustel­ len und zu klassifizieren. Die ICD-10 wurde am 1. 01. 2000 offiziell in Deutschland in einer modifizierten Version (ICD-10-SGB-V) zur einheitlichen und kon­ sistenten medizinischen Verschlüsselung und Dokumentation von Krankheiten und Ge­ sundheitsproblemen verbindlich eingeführt. Aktuell gilt für die stationäre und ambulan­ te Versorgung die „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwand­

ter Gesundheitsprobleme. 10. Revision – Ger­ man Modification“ (ICD-10-GM-2011) aus dem Jahr 2011 (vgl. DIMDI 2011). Es finden Anpassungen im Jahresrhythmus statt. Eine deutsche Fassung der ICF – die „In­ ternationale Klassifikation der Funktionsfä­ higkeit, Behinderung und Gesundheit“ – exis­ tiert seit 2002 (vgl. DIMDI 2005) und ist in die Sozialgesetzgebung, die Rehabilitationsricht­ linien und in die Verordnung von Heil- und Hilfsmitteln eingegangen (Nüchtern 2005) (→ Institutionen). Während die ICD-10 im internationalen sprachtherapeutischen Diskurs kaum aufge­ griffen wurde, haben die Einführung der ICF und die Frage ihrer Anwendbarkeit zur Klas­ sifikation von Kommunikationsstörungen inzwischen weltweite Aufmerksamkeit er­ fahren und rege Diskussionen ausgelöst (vgl. u. a. Threats & Worrall 2004, Threats 2006, 2008, Simmons-Mackie 2004, Cruice 2008, Howe 2008). Insbesondere ihre holistische Perspektive, die biologische, psychologische und soziale Aspekte integriert, und ihr Fokus auf die funktionalen Aspekte von Gesund­ heit, erscheinen vielen Sprachtherapeutinnen und Sprachtherapeuten – Klinikern wie For­ schern – ein vielversprechendes Potenzial zu bieten, um die Komplexität und dimensionale Spannweite von Kommunikationsstörungen besser verstehen und differenzierter abbilden zu können. Als Folge wird eine größere Annä­ herung an das Ziel erwartet, die sprachthera­ peutische Versorgung individueller an die Be­ dürfnisse betroffener Menschen anpassen zu können (vgl. u. a. Threats 2006, 2008, Howe 2008, Worrall & Hickson 2008, O’Halloran & Larkins 2008, McLeod 2006, Grötzbach 2006, Rentsch 2005, Neumann & Romonath 2008).

2 Entwicklung und Aufbau der ICF Bereits Ende des 19. Jahrhunderts entstand eine von Jacques Bertillon (1893) erarbeitete syste­



Entwicklung und Aufbau der ICF   323

Abb. 1: Linear-kausales Krankheitsfolgenkonzept der ICIDH (WHO 1980)

matische Klassifikation der Todesursachen: das „Internationale Todesursachenverzeichnis“ (vgl. Lux 2005). Mit Gründung der WHO im Jahre 1948 wurde diese von der Organisation als verbindliche nosologische Klassifikation in einer 6. Revision um Krankheiten und Verlet­ zungen erweitert. Bis zur ICD-9 (WHO 1976) erfolgten aufgrund der raschen medizinischen Fortschritte etwa alle 10 Jahre Änderungen und Ergänzungen. Die Arbeiten an der ICD-11 haben im Frühjahr 2007 begonnen.

2.1  ICIDH Da Klassifizierungssysteme grundsätzlich neben ihren unbestreitbaren Potenzialen, komplexe Domänen einer überschaubaren Ordnung zuzuführen und diese auch doku­ mentieren und gesundheitspolitisch nutzen zu können, gleichzeitig aber implizit Informati­ onsverlust und Simplifizierung bedeuten, er­ wuchs zunehmend Kritik an der ausschließlich medizinischen Krankheitsperspektive (Lux 2005). Die Folgen der Erkrankung und da­ mit die betroffene Person blieben ausgeblen­ det, was beispielsweise im Bereich der Sprach­ therapie eine Fokussierung auf die Ursachen und die gestörte Sprache selbst bedeutete. Die aus Stimm-, Sprech-, Sprach-, Redefluss- und Schluckstörungen resultierende Kommunika­ tionsstörung ließ sich durch eine ausschließ­ lich medizinische Konzeptualisierung nicht abbilden. Die WHO veröffentlichte daher im Jahre 1980 ein komplementäres Klassifikati­ onssystem: die „International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps“

(ICIDH; WHO 1980). Diese Klassifikation, die im Gegensatz zur späteren ICF niemals von der WHO verabschiedet wurde und vor­ nehmlich der Diskussion dienen sollte (Ma et al. 2008), stellte den ersten bedeutenden Ver­ such dar, Gesundheit zu klassifizieren und die Folgen von Krankheiten und Gesundheitspro­ blemen für das Individuum zu beschreiben. Diese Konsequenzen wurden auf drei Ebenen angesiedelt (Ma et al. 2008, Washington 2007) (vgl. Abb. 1): 1. Schädigung (impairment) auf der Körper­ ebene, 2. Behinderung (disability) auf der individu­ ellen Ebene und 3. Beeinträchtigung (handicap) auf der sozia­ len Ebene. Eine Schädigung wird in der ICIDH als Ver­ lust oder Abweichung von der normalen psy­ chischen bzw. physiologischen Funktion oder anatomischen Struktur definiert. Die daraus entstehende Behinderung oder Fähigkeitsein­ schränkung führt wiederum zu einer Beein­ trächtigung oder Einschränkung, soziale Rol­ len wahrzunehmen.

2.2  ICF Die grundlegenden Annahmen dieses Modells hatten einen biomedizinischen Fokus und sie­ delten Schädigung und Behinderung inner­ halb des Individuums an. Die Beziehung zwi­ schen den Ebenen Schädigung, Behinderung und Beeinträchtigung wurde als linear und kausal interpretiert. Der Kontextfaktor wur­

324 

Klassifikation

de zwar als bedeutsam anerkannt, aber nicht ausgearbeitet. Diese kritisch gesehene Begren­ zung der Perspektive der ICIDH auf das Indi­ viduum und die Linearität des zugrundelie­ genden Modells führten zur Entwicklung der 2001 von der WHO verabschiedeten „Interna­ tional Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF). Die ICF repräsentiert in Erweiterung des ICIDH-Modells eine holistische Konzeptua­ lisierung von Gesundheit und Gesundheits­ zuständen, die biologische, psychologische und soziologische Aspekte integriert und im Ergebnis eine Zusammenführung medizini­ scher und sozialwissenschaftlicher Modell­ vorstellungen leistet. Ihr Ziel liegt in einer systematisch angelegten Klassifikation der Gesundheitscharakteristiken von Menschen im Kontext ihrer individuellen Lebenssitua­ tion und den Einflüssen der Umwelt. Sie stellt Beschreibungskategorien von Situationen in Bezug auf menschliche Funktionsfähigkei­ ten und deren Restriktion zur Verfügung und dient als ein Rahmen, um diese Informatio­ nen allgemein verbindlich zu organisieren (WHO 2001). Die ICF ist hierarchisch aufgebaut und be­ steht aus insgesamt vier Ebenen: zwei Teilbe­

reichen mit jeweils 2 Komponenten, die wie­ derum jeweils in verschiedene Domänen mit einzelnen Kategorien untergliedert sind (vgl. Abb. 2): • Teil 1: „Funktionsfähigkeit und Behinde­ rung“ umfasst die Komponenten a) „Körperfunktionen und -strukturen“ sowie b) „Aktivitäten“ und „Partizipation“. • Teil 2: „Kontextfaktoren“ ist differenziert nach a) „Umweltfaktoren“ und b) „personbezogenen Faktoren“, die im letzteren Fall jedoch nicht weiter ausdif­ ferenziert und verschlüsselt werden. Im Modell der ICF kann sich jede der Kom­ ponenten in einer positiven und einer nega­ tiven Ausprägung darstellen. Während in der positiven Ausprägung eine Unversehrtheit der Körperfunktionen und -strukturen ange­ nommen wird, stellt eine Abweichung von all­ gemein anerkannten Standards bezüglich des biomedizinischen Zustands des Körpers und seiner Funktionen (einschließlich psychologi­ scher) eine Schädigung dar, die entsprechend ihres Schweregrades oder des quantitativen bzw. des qualitativen Ausmaßes mit Hilfe von

Abb. 2: Graphische Darstellung der Komponenten der ICF (DIMDI 2005)



Entwicklung und Aufbau der ICF   325

Abb. 3: Struktur der ICF/ICF-CY mit verdeutlichenden Beispielen (in Anlehnung an DIMDI 2005) (Neumann & Romonath 2008)

Beurteilungsmerkmalen (sog. qualifiers) ge­ kennzeichnet wird. Unter „Aktivitäten und Partizipation“ wird die Durchführung einer Aufgabe oder einer Handlung durch einen Menschen und sein Einbezogensein in eine Lebenssituation verstanden. Bedeutet dies im positiven Fall, die eigenen Handlungsziele zu verwirklichen und sozia­le Rollen auszufüh­ ren und damit Autonomie zu gewinnen (vgl. Rentsch 2005), so stellen Einschränkungen in der Durchführung von Aktivitäten und Beein­ trächtigungen der Partizipation die Gegenpole dar, die als Gesundheitsprobleme wahrgenom­ men werden und damit das Wohlbefinden ei­ nes Menschen mindern. Beide Komponenten werden ungetrennt in einer Liste operationa­ lisiert und durch die qualifiers für situative Leistungen (performance) und generelle Leis­ tungsfähigkeit (capacity) näher bestimmt. „Kontextfaktoren“ repräsentieren die voll­ ständigen Lebensbezüge eines Individuums. Beide in der ICF verankerten Komponen­

ten „Umweltfaktoren“ und „personbezogene Faktoren“ können einen Einfluss auf die Ge­ sundheit und Gesundheitsprobleme ausüben (WHO 2007): • Die Umweltfaktoren bestehen aus der phy­ sikalischen und sozialen Umgebung eines Individuums sowie Einstellungen seiner Umwelt. Sie unterliegen nicht seiner Kon­ trolle und können Förderfaktoren oder Barrieren für seinen Gesundheitszustand bilden. Ihre Beurteilung erfolgt aus der Sicht des Individuums auf einer quantifi­ zierten positiven (Förderfaktor) oder nega­ tiven (Barriere) Skala. • Personbezogene Faktoren umfassen den spezifischen Lebenshintergrund einer Person unabhängig vom Gesundheitszu­ stand. Sie schließen Merkmale wie Rasse, Geschlecht, Alter, Bildungsgrad wie auch Bewältigung und Lebensstil sowie über­ dauernde Persönlichkeitsmerkmale ein.

326 

Klassifikation

Aufgrund ihrer großen Variabilität zwi­ schen den Kulturen (→ Person und Spra­ che) sind sie nicht kodiert, auch wenn ihr Einfluss auf die Funktionsfähigkeit und das Ergebnis von Interventionen unbestrit­ ten ist (vgl. Cruice 2008, Howe 2008). Die drei anderen Komponenten Körperfunk­ tionen und -strukturen, Aktivitäten und Parti­ zipation sowie Umweltfaktoren sind in Domä­ nen untergliedert, die eine inhaltlich sinnvolle Menge von Items innerhalb einer Komponen­ te zusammenfassen. Weiterhin werden sie in einzelne Kategorien bzw. Unterkategorien dif­ ferenziert und mit Beurteilungsmerkmalen bei der Anwendung versehen (vgl. Abb. 3).

2.3  ICF-CY Der ICF-CY (vgl. Abb. 3) liegt der gleiche Auf­ bau wie der Ursprungsversion ICF zugrunde. Wesentliche Ausdifferenzierungen sind durch die Aufnahme entwicklungsrelevanter Kate­ gorien mit ihren Unterkategorien bzw. von Unterkategorien bei bereits bestehenden Ka­ tegorien in allen Komponenten erfolgt (vgl. Neumann & Romonath 2008). Insbesondere im Bereich der Aktivitäten und Partizipation haben sich neue Kategorien, wie z. B. „Lernen durch Aktionen und Objekte“, „Vorschulisches Leben und relevante Aktivitäten“, „Spracher­ werb“ oder „Erwerb einer zusätzlichen Spra­ che“ und „Vorsprachliche Äußerungen“, zur Abbildung von Entwicklungs- und Lernpro­ zessen als notwendig erwiesen. Um einen Entwicklungsfortschritt doku­ mentieren zu können, wurde das Beurteilungs­ merkmal der „Verzögerung“ (developmental delay) eingeführt (WHO 2007), das fünf Ab­ stufungsgrade umfasst: von 0 (keine Verzöge­ rung) bis 4 (Verzögerung voll ausgeprägt). Ab­ weichend von ihrer Vorgängerver­sion ICIDH implizieren das ICF-Modell und die ICF-CY, dass eine interaktionale Beziehung zwischen den einzelnen Komponenten besteht. Funkti­ onsfähigkeiten und Funktionseinschränkun­ gen sind demnach das Ergebnis eines komple­

xen und multidimensionalen Wechselspiels zwischen dem Gesundheitszustand und den Umgebungsfaktoren eines Individuums. Die Übertragung eines solchen auf vielfältige Zie­ le ausgerichteten, differenzierten Klassifi­ kationssystems in ein benutzerfreundliches klinisches In­strumentarium ist als eine lang­ fristige multidisziplinäre Herausforderung zu betrachten. Um diesen Prozess zu unterstüt­ zen und die Schwierigkeiten der klinischen In­ terpretation der ICF in der Praxis zu reduzie­ ren wird ein „Procedural Manual and ­Guide for the Standardized Application of the ICF by Health Professionals“ gemeinsam von der WHO und der American Psychological Association entwickelt, dessen Erscheinen zunächst für Ende 2008 geplant war, jedoch gegenwär­ tig noch nicht erfolgt ist (vgl. ­Threats 2008).

3 Ziele und ­Anwendungsbereiche Die lange Entwicklungsgeschichte der Klassi­ fikationssysteme der WHO hat dazu geführt, dass heute vielfältige Zielsetzungen mit der ICF verbunden werden. Sie soll Folgendes leis­ ten (vgl. WHO 2001): • eine wissenschaftliche Basis für das Ver­ stehen und die Untersuchung von Ge­ sundheit und gesundheitsbezogenen Problemen, Ergebnissen und Determi­ nanten bereitstellen; • eine allgemein akzeptierte Terminologie für die Beschreibung von Gesundheit und Gesundheitsproblemen etablieren, um die Kommunikation zwischen un­ terschiedlichen Anwendern (wie Fach­ leuten im Gesundheitswesen, Forschern, Gesundheits­politikern und Öffentlich­ keit einschließlich von Menschen mit Behinderung) zu verbessern; • Datenvergleiche zwischen Ländern, Ge­ sundheitsdisziplinen und -diensten syn­ chron wie diachron ermöglichen;



Ziele und ­Anwendungsbereiche   327

• systematische Kodierungen für elektroni­ sche Informationssysteme im Gesund­ heitswesen zur Verfügung stellen. Im Einzelnen ergeben sich daraus Anwen­ dungsgebiete im Bereich der Statistik, der For­ schung, der Gesundheitsversorgung, der Sozi­ alpolitik und der Ausbildung. Damit wendet sich die ICF an unterschiedliche Institutionen, Berufsgruppen und Fachdisziplinen. Die potenzielle Bedeutung, aber auch die Probleme der Anwendung der ICF und ICFCY in den genannten Handlungsfeldern in Bezug auf Kommunikations- und Schluckstö­ rungen werden in vielen aktuellen Publika­ tionen diskutiert (u. a. McLeod 2006, Threats 2006, 2007, 2008, Campbell & Skarakis-­Doyle 2007, Simmons-Mackie & Kagan 2007, Wa­ shington 2007, Westby 2007, Yaruss 2007, Cruice 2008). So wird hervorgehoben, dass die Epidemiologie von Kommunikationsstö­ rungen bisher nur geringe Fortschritte auf­ zuweisen hat (vgl. Threats 2006). Vorliegende internationale Ergebnisse zur Prävalenz und Inzidenz von Stimm-, Sprech-, Sprach-, Re­ defluss- und Schluckstörungen sind lücken­ haft und aufgrund eines bisher fehlenden all­ gemein akzeptierten Klassifikationssystems kaum vergleichbar. Der Gebrauch der ICF könnte daher die Zuverlässigkeit der Schät­ zung von Auftretens- und Vorkommensraten zukünftig erhöhen, da sie spezifische Codes für Stimme, Artikulation, Redeflüssigkeit, Sprachverständnis und -produktion, Konver­ sation, augmentative Systeme (→ Unterstützte Kommunikation) sowie → Schluckstörungen enthält. Fundierte epidemiologische Daten könnten dazu beitragen, die öffentliche Wahr­ nehmung der Bedeutung von Kommunikati­ onsstörungen zu verbessern und damit auch die Notwendigkeit für die Bereitstellung von finanziellen und personellen Ressourcen evi­ denzbasiert zu begründen (vgl. Threats 2006). Gesundheitsversorgungssysteme stehen weltweit unter einem zunehmendem Druck, ihre Effektivität und Effizienz durch For­ schungsergebnisse belegen zu müssen. Dabei

stellt sich die Frage nach der Auswahl und Begründung des Forschungsgegenstandes und der geeigneten Methoden. Wurden bis­ her im Bereich sprachtherapeutischer For­ schung vornehmlich die gestörten physio­ logischen und psychologischen Funktionen von Stimm-, Sprech-, Sprach-, Redefluss- und Schluckstörungen und ihre Therapie fokus­ siert, so erweitert die ICF insbesondere im Be­ reich der Aktivitäten und Partizipation und der Kontextfaktoren die Forschungsperspek­ tive (→ Unterrichts- und Therapieforschung). Threats (2006) betont daher, dass eine evi­ denz-basierte holistisch ausgerichtete Thera­ pie insbesondere folgende Forschungsfrage­ stellung aufwirft: 1. die Untersuchung der Beziehung zwi­ schen Körperfunktionen/-strukturen und Aktivitäten/Partizipation; 2. die Entwicklung reliabler und valider Messinstrumente für die Aktivitäten-/ Partizipationskonstrukte; 3. die methodisch fundierte Erhebung der Effekte von Umweltfaktoren im Rehabi­ litationsprozess; 4. die Analyse der Beziehung der ICF-Kon­ strukte zum Konstrukt der Lebensquali­ tät; und 5. die Abklärung der Rolle der personenbe­ zogenen Faktoren in der Intervention. Um diese komplexen Forschungsaufgaben im internationalen wie interdisziplinären Feld einlösen zu können, bietet die ICF zukünftig einen theoretisch und methodisch geeigneten Referenzrahmen, der die erzielten Ergebnisse auch vergleichbar und kommunizierbar macht (vgl. Worrall & Hickson 2008). Fachdisziplinäre Diskussionen über die Implementierung der ICF in der klinischen Praxis verweisen auf weitreichende Konse­ quenzen für die Behandlung von Kommu­ nikations- und Schluckstörungen. Insbeson­ dere trägt sie zur Erweiterung des Spektrums sprachtherapeutischer Aufgabenstellung um die Dimension der Herstellung kommuni­ kativer Funktionsfähigkeit im konkreten, si­

328 

Klassifikation

tuativen Alltagshandeln von Betroffenen bei (→ Sprachtherapie). Der Erfolg einer Thera­ pie bemisst sich daher an dem Gelingen der Partizipation an für das Individuum bedeut­ samen Lebenssituationen. Diese an sozialwis­ senschaftlichen Modellvorstellungen orien­ tierten Zielsetzungen haben insbesondere in Deutschland längere Tradition. Sie wurden jedoch nur wenig präzisiert und kontrollier­ bar wie auch interdisziplinär kommunizier­ bar ausgearbeitet. Das Kategoriensystem der ICF stellt nun ein international akzeptiertes Instrumentarium zur Verfügung, das durch seine umfassenden operationalisierten Be­ schreibungsparameter von sprachlichen Ge­ sundheitsproblematiken Möglichkeiten für die Formulierung und Begründung von an der Lebensqualität ausgerichteten sprach­ therapeutischen Zielen und Maßnahmen er­ öffnet. Dieses erscheint nicht nur für die öf­ fentliche Wahrnehmung der Notwendigkeit von sprachtherapeutischen Rehabilitations­ maßnahmen von Bedeutung, sondern bietet ebenso die Chancen einer stärkeren gesund­ heitspolitischen Anerkennung der Belange von Menschen mit Stimm-, Sprech-, Sprach-, Redefluss- und Schluckstörungen, die auch eine der ICF-Philosophie verpflichteten Qualifizierung von Sprachtherapeutinnen und Sprachtherapeuten einschließt (Threats 2006, Skarakis-Doyle & Doyle 2008).

4  Entwicklungsperspektiven Die Integration der medizinischen und sozial­ wissenschaftlichen Perspektive in die ICF stellt gegenüber ihrer Vorgängerversion ICIDH ei­ nen qualitativen Entwicklungssprung im Um­ gang mit Gesundheit und Gesundheitsproble­ men dar. Sie ist weltweit in unterschiedlichsten Fachdisziplinen auf eine breite Resonanz ge­ stoßen, wird mit ihr doch durch ihre Verbind­ lichkeit eine große Chance zur Verbesserung der Gesundheitsfürsorge und der Rehabilita­ tion in den WHO-Mitgliedsstaaten verbun­

den (→ Qualitätsentwicklung und Evaluati­ on). Auch im Bereich der Sprachtherapie hat ein internationaler wissenschaftlicher Diskurs um den Nutzen und die Probleme der Anwen­ dung der ICF und der ICF-CY in den verschie­ densten Handlungsfeldern und Institutionen eingesetzt. Es werden gegenwärtig relevante Fragestellungen herausgearbeitet, die es in den kommenden Jahren einer wissenschaftlich fundierten Lösung zuzuführen gilt, um eine Implementierung der ICF und ihrer zugrunde­ liegenden Philosophie in die Versorgung von Menschen mit Stimm-, Sprech-, Sprach-, Re­ defluss- und Schluckstörungen sicherzustel­ len. Diese offenen Fragen betreffen die Inter­ pretation, Angemessenheit und den Umfang der Kategorien, um Kommunikationsstörun­ gen zu klassifizieren; die Entwicklung von me­ thodisch geeigneten Instrumentarien zur Er­ hebung von therapierelevanten Daten zu den Komponenten Aktivitäten, Partizipation und Kontextfaktoren; sowie die Operationalisie­ rung der personbezogenen Faktoren, die zwei­ felsohne insbesondere in der Intervention bei Kommunikationsstörungen einen bedeutsa­ men Einfluss ausüben. In diesem Kontext sind auch Erörterungen über den Zusammenhang zwischen den grundlegenden Annahmen des biopsychosozialen Rahmens der ICF und dem Konstrukt der Lebensqualität zu sehen (Cruice 2008), deren Verbesserung letztendlich als Ziel aller rehabilitativen sprachtherapeutischen Maßnahmen gilt. Die ICF hat bisher nur in ge­ ringem Maß Eingang in klinische Kontexte ge­ funden (Ma et al. 2008). Es bedarf daher der Entwicklung von sprachstörungsspezifischen „Core Sets“ (vgl. Neumann & Romonath 2008), die eine evidenzbasierte Vorauswahl von Klas­ sifikationskategorien zur Beschreibung des je­ weiligen Störungsbildes zur Verfügung stellen, um den Praxisbedingungen zeitlich knapper Ressourcen zu entsprechen. Der Gebrauch des ICF-Codes wurde trotz aller noch ungelösten Fragen bereits im Jahr 2007 von der International Organization for Standardization über­ nommen (vgl. ISO 9999: 2007 „Assistive pro­ ducts for persons with disability-classification and terminology“). Bei der Implementierung



Literatur   329

der ICF fällt auch den Fachverbänden eine entscheidende Rolle zu. Sprachtherapeutische Organisationen in den USA, Australien und in England haben die ICF als Grundlage zur Festlegung von sprachtherapeutischen Qua­ litätsstandards genutzt (Brown & Hasselkus 2008). So basieren z. B. die von der American Speech-Language-Hearing Association (ASHA) formulierten „Preferred Practice Patterns for the Profession of Speech-Language Pathology“ (ASHA 2004) explizit auf dem Modell der ICF. Eine entscheidende Rolle für das Gelingen der Implementierung der ICF in den Rehabilitati­ onsprozess bei Kommunikations- und Schluck­ störungen kommt gesetzgeberischen Organen der Mitgliedsstaaten der WHO zu. Sie haben Sorge zu tragen, dass entsprechende gesetzli­ che Regelungen getroffen und die notwendigen finanziellen, institutionellen und personellen Ressourcen auch bereitgestellt werden.

Literatur ASHA (American Speech-Language-Hearing Asso­ ciation) (2004): Preferred practice patterns for the profession of speech-language pathology. Rock­ ville (MD). Brown, J. E. & Hasselkus, A. L. (2008): Professional associations’ role in advancing the ICF in speechlanguage pathology. International Journal of Speech-Language Pathology 10, 1–2, 78–82. Campbell, W. N. & Skarakis-Doyle, E. (2007): Schoolage children with SLI: The ICF as a framework for collaborative service delivery. Journal of Commu­ nication Disorders 40, 513–535. Cruice, M. (2008): The contribution and impact of the International Classification of Functioning, Disa­ bility and Health on quality of life in communi­ cation disorders. International Journal of SpeechLanguage Pathology 10, 1–2, 38–49. DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Doku­ mentation und Information) (1994): Internationa­ le statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Neu-Isen­ burg: MMI. DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Doku­ mentation und Information) (2005): Internatio­nale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Be­hin­de­ rung und Gesundheit (ICF) der Welt­ge­sund­heits­or­ ga­ni­sation (WHO). Neu-Isenburg: MMI.

DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Do­ kumentation und Information) (2011): ICD-10GM 2011 Alphabetisches Verzeichnis. Internati­ onale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. 10. Revisi­ on – German Modification. Version 2011 – Stand 05. 10. 2010. Köln: Deutscher Ärzte Verlag. Grötzbach, H. (2006): Die Bedeutung der ICF für die Aphasietherapie in der Rehabilitation. Forum Lo­ gopädie 20, 1, 26–30. Howe, T. J. (2008): The ICF Contextual Factors related to speech-language pathology. International Jour­ nal of Speech-Language Pathology 10, 1–2, 27–37. International Organization for Standardization (2007): ISO 9999: 2007 Assistive products for persons with disability-classification and terminology. Geneva: International Organization for Standardization. Lux, R. (2005): Medizinische Klassifikationssysteme: Geschichte, Interaktionen und Perspektiven sowie ihre Verwendung in der Orthopädie und Trauma­ tologie. Unveröffentlichte Dissertation, MHH. Ma, E. P.-M., Worrall, L. E. & Threats, T. T. (2007): Introduction. The International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) in clini­ cal practice. Seminars in Speech and Language 28, 4, 241–243. Ma, E. P.-M., Threats, T. T. & Worrall, L. E. (2008): An introduction to the International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) for speech-language pathology: Its past, present and future. International Journal of Speech-Language Pathology 10, 1–2, 2–8. McLeod, S. (2006): A holistic view of a children with unintelligible speech. Insights from the ICF and ICF-CY. Advances in Speech-Language Pathology 8, 3, 293–315. McLeod, S. & Threats, T. T. (2008): The ICF and children with communication disabilities. Inter­ national Journal of Speech-Language Pathology 10, 1–2, 92–100. Neumann, S. & Romonath, R. (2008): Kinder mit LKGS-Fehlbildungen im Spiegel der ICF-CY: Ent­ wicklung eines sprachtherapeutischen Core Sets. Die Sprachheilarbeit 53, 5, 264–273. Nüchtern, E. (2005): Die Internationale Klassifika­ tion der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) in der vertragsärztlichen Ver­ sorgung. Neurologie und Rehabilitation 11, 3, 227– 235. O’Halloran , R. & Larkins , B. (2008): The ICF Acti­ vities and Participation related to speech-language pathology. International Journal of Speech-Lan­ guage Pathology 10, 1–2, 18–26. Rentsch, H. P. (2005): Grundlagen der „Internatio­ nal Classification of Functioning, Disability and

330 

Klassifikation

Health“ (ICF). In: Rentsch, H. P. & Bucher, P. O. (Hrsg.): ICF in der Rehabilitation. Die praktische Anwendung der internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit im Rehabilitationsalltag (17–44). Idstein: SchultzKirchner. Schopen, M. (1999): Die Einführung der International Classification of Diseases (ICD-10) in Deutschland. Werkzeuge und Informationen im Internet. In: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 11, 42, 827–833. Simmons-Mackie, N. (2004): Cautiously embracing the ICF. Advances in Speech-Language Pathology 6, 1, 67–70. Simmons-Mackie, N. & Kagan, A. (2007): Applica­ tion of the ICF in aphasia. Seminars in Speech and Language 28, 4, 244–253. Skarakis-Doyle, E. & Doyle, P. C. (2008): The ICF as a framework for interdisciplinary doctoral educa­ tion in rehabilitation: Implications for speech-lan­ guage pathology. International Journal of SpeechLanguage Pathology 10, 1–2, 83–91. Threats, T. T. (2006): Towards an international frame­ work for communication disorders: Use of the ICF. Journal of Communication Disorders 39, 1–2, 251–265. Threats, T. T. (2007): Use of the ICF in dysphagia ma­ nagement. Seminars in Speech and Language 28, 4, 323–333. Threats, T. T. (2008): Use of the ICF for clinical practice in speech-language pathology. International Jour­ nal of Speech-Language Pathology 10, 1–2, 50–60. Threats, T. T. & Worrall, L. (2004): Classifying com­ munication disability using the ICF. Advances in Speech-Language Pathology 6, 1, 53–62.

Washington, K. N. (2007): Using the ICF within speech-language pathology: Application to de­ velopmental language impairment. Advances in Speech-Language Pathology 9, 3, 242–255. Westby, C. (2007): Application of the ICF in children with language impairments. Seminars in Speech and Language 28, 4, 265–272. WHO (World Health Organization) (1976): Interna­ tional Statistical Classification of Diseases and Re­ lated Health Problems, 9. Revision (ICD-9). Gene­ va: WHO. WHO (World Health Organization) (1980): Interna­ tional Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH). Geneva: WHO. WHO (World Health Organization) (1992). Interna­ tional Statistical Classification of Diseases and Re­ lated Health Problems, 10. Revision (ICD-10). Ge­ neva: WHO. WHO (World Health Organization) (2001): Interna­ tional Classification of Functioning, Disability and Health (ICF). Geneva: WHO. WHO (World Health Organization) (2002): Dr. G. H. Brundtland: Conference on Health and Disability, Trieste, 18th April 2002. WHO (World Health Organization) (2007): Interna­ tional Classification of Functioning, Disability and Health. Children and Youth Version (ICF-CY). Geneva: WHO. Worrall, L. & Hikson, L. (2008): The use of the ICF in speech-language pathology research: Towards a research agenda. International Journal of SpeechLanguage Pathology 10, 1–2, 72–77. Yaruss, J. S. (2007): Application of the ICF in fluency disorder. Seminars in Speech and Language 28, 4, 312–322.

Entwicklungsbedingte Sprachstörungen Iris Füssenich

1 Beeinträchtigungen der Sprach- und ­Sprechaktivität: Definition, Begriffs- und ­Gegenstandsgeschichte von entwicklungsbedingten Sprachstörungen Unter „entwicklungsbedingten Sprachstörun­ gen“ werden Störungen verstanden, bei de­ nen der Erwerb der Sprache beeinträchtigt ist (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau). Sy­ nonyme oder ähnliche Bezeichnungen sind „Sprachentwicklungsstörungen“, „Störungen des Spracherwerbs“ und „kindliche Sprach­ störungen“. Knura (1980) und Braun (32006) zeigen die unterschiedlichen Klassifikatio­ nen auf, die sich nicht vereinheitlichen lassen: „Es gibt eine Reihe ähnlicher Begriffsbezeich­ nungen, die nicht nur die Uneinheitlichkeit im Begriffsverständnis, sondern vor allem die Ungeklärtheit des Phänomens ‚Sprach­ entwicklungsstörung‘ widerspiegelt“ (Braun 3 2006, 157 ff.). Kinder mit Deutsch als Erstsprache weisen entwicklungsbedingte Sprachstörungen auf, wenn sie nicht die Erstsprache regelhaft der Altersnorm entsprechend erwerben, gebrau­ chen und verstehen (Knura 1980). Es wird zwischen Kindern unterschieden, die die Phasen des Spracherwerbs nur zeitlich verzö­ gert durchlaufen, und Kindern, deren Sprach­ entwicklung vollständig oder in Teilaspek­ ten nicht diesen Stufen zuzuordnen ist. Ihr Sprach­erwerb lässt sich mit den Erwerbspha­ sen normal entwickelter Kinder nicht oder nur in einzelnen Bereichen mit den Phasen des normalen Erwerbs vergleichen. Sie erwer­ ben Sprache oder Fähigkeiten auf einzelnen Sprach­ebenen in einer anderen Reihenfol­ ge oder zeigen eine unausbalancierte Ent­

wicklung, indem sie in einigen Bereichen der Sprachentwicklung normale Erwerbsphasen durchlaufen, in anderen stagnieren oder un­ gewöhnliche Entwicklungen aufweisen (z. B. Hacker 52002). Mit zunehmendem Blick auf mehrsprachig aufwachsende Kinder (→ Interkulturalität und Mehrsprachigkeit) werden die Begriffe Erstsprache und Altersnorm differenzierter betrachtet. Kinder mit Deutsch als Zweitsprache (→ DaZ) weisen entwicklungsbeding­ te Sprachstörungen auf, wenn sie in ihrem sprachlichen Lernen stagnieren, was sich in ihrer Erst- und Zweitsprache zeigen kann. Die auftretenden Symptome können hierbei sehr unterschiedlich sein. Diese Schwierigkeiten zeigen sich z. B. darin, dass diese betroffenen Kinder über keine oder nur geringe Fähig­ keiten verfügen, ihre sprachlichen Fähigkei­ ten zu erweitern, was sich beim Erwerb von Erst- oder Zweitsprache und auch in beiden Sprachen zeigen kann. Diese Schwierigkei­ ten treten meist beim Bedeutungserwerb auf. Sie können darüber hinaus auch auf anderen Sprachebenen vorhanden sein. Die Kinder fragen meist auch nicht nach, wenn sie etwas nicht verstehen, und stellen selten oder kaum Fragen. Sie antworten oft mit nonverbaler Kommunikation, wie z. B. durch Zeigen oder Nicken. Ebenso gibt es Kinder, die über die entwicklungsbedingten üblichen Interferen­ zen oder Sprachmischungen hinaus in ihren Äußerungen zeigen, dass sie die Regelsysteme der Sprachen nicht oder nur begrenzt erwer­ ben. Die Sprachentwicklung der Kinder an den Erwerbsstufen und der Altersnorm von einsprachig aufwachsenden Kindern zu mes­ sen, ist nicht sinnvoll. Zeitpunkt und situative Rahmenbedingungen sind bestimmend für den Erwerb von Erst- und Zweitsprache und variieren bei Kindern (Füssenich 2010). Da der Spracherwerb ebenfalls von emotionalen

332 

Entwicklungsbedingte Sprachstörungen

Faktoren (→  Kognition und Emotion) und weiteren nicht-sprachlichen Aspekten be­ stimmt wird, spielen Bedeutung und Ansehen von Erst- und Zweitsprache eine bedeutende Rolle für den Spracherwerb. Manche Kinder mit Migrationshintergrund erleben, dass ihre Erstsprache nicht zu den Prestigesprachen (→ Norm und Differenz) wie Deutsch und Eng­ lisch in unserer Gesellschaft gehören, und weigern sich deshalb, ihre Erstsprache zu ge­ brauchen und erweitern somit nicht ihre Fä­ higkeiten. Dies kann dazu führen, dass sich Kinder mit wichtigen Familienangehörigen, meist ist dies die Mutter, kaum unterhalten können (Füssenich & Geisel 2008). Entwicklungsbedingte Sprachstörungen können individuell unterschiedliche Ursachen, Entwicklungsverläufe sowie Ausprägungsgrade aufweisen und vorübergehend oder lang andauernd sein. Die Schwierigkei­ ten zeigen sich auf den Sprachebenen Pragmatik (vgl. 2.1), Semantik (vgl. 2.2), Grammatik (vgl. 2.3), Aussprache (vgl. 2.4) und im metasprachlichen Bereich (vgl. 2.5) sowie beim Er­ werb der Schrift (Baumgartner & Füssenich 5 2002, Füssenich & Löffler 22008, 22009). Sie entstehen auch im Zusammenhang mit ande­ ren Behinderungen. Bei einigen Kindern kön­ nen Folgeprobleme wie Vermeidungsverhalten oder andere Formen von auffälligem Verhal­ ten auftreten. Bei vielen Kindern sind entwicklungsbe­ dingte Sprachstörungen nicht nur auf einer Sprachebene, sondern auf mehreren vorhan­ den, beispielsweise Schwierigkeiten auf der Ebene der Aussprache im Zusammenhang mit Problemen beim Erwerb grammatischer Fähigkeiten (Füssenich & Heidtmann 1995). Insgesamt herrscht Konsens in der Annahme, dass Kinder mit Unterstützungsbedarf unter­ schiedliche Fähigkeiten und Schwierigkeiten beim Spracherwerb aufweisen, weitere nichtsprachliche Entwicklungsbereiche betroffen sein können und dass sie auf unterschiedli­ che Ursachen zurückzuführen sind. Es wird von einem Symptomkomplex ausgegangen, der sich je nach Entwicklung und Alter unter­ schiedlich zeigt.

2 Forschungsstand zu ­entwicklungsbedingten Sprachstörungen 2.1 Störungen beim Erwerb ­pragmatischer Fähigkeiten Entwicklungsbedingte Sprachstörungen auf der Ebene der Pragmatik zeigen sich meist da­ rin, dass Kinder nicht in der Lage sind, ihre kommunikativen Bedürfnisse mitzuteilen (sie stellen z. B. keine Fragen und äußern keine Bit­ ten). Sie können gemeinsame Handlungssitu­ ationen nicht sprachlich strukturieren und sie sprechen nicht adressatenbezogen. Weiterhin verfügen sie über geringe Fähigkeiten, im Di­ alog mit Kommunikationspartnerinnen ihre Fähigkeiten zu erweitern. Deshalb besteht ein enger Zusammenhang zwischen Fähigkeiten und Schwierigkeiten auf der pragmatischen sowie der semantischen Ebene und dem Er­ werb metasprachlicher Fähigkeiten.

2.2 Störungen beim Erwerb ­semantischer Fähigkeiten Kinder mit semantischen Problemen verfügen über einen reduzierten Wortschatz. Sie erwei­ tern ihre sprachlichen Fähigkeiten nicht, weil sie kaum nachfragen und auch nicht mitteilen, wenn sie Kommunikationspartnerinnen nicht verstehen. Sie nehmen oft Ersetzungen aus demselben semantischen Feld vor und grei­ fen auf nonverbale Kommunikationsfor­men zurück. Klassifikationen nach Oberbe­griffen sind eher selten. Meist haben sie Schwierig­ keiten mit dem Sprachverständnis. Viele Kin­ der weisen zudem Wortfindungsstörungen auf. Die Schwierigkeiten beim Bedeutungs­ erwerb lassen sich sehr oft bei Kindern be­ obachten, die mehrsprachig aufwachsen, tre­ ten aber auch bei einsprachig aufwachsenden Kindern auf. Trotz gemeinsamer Symptomatik gibt es Unterschiede zwischen Kindern. Man­ chen Kindern sind viele Begriffe bekannt. An­ hand ihrer Umschreibungen lässt sich aber er­



Forschungsstand zu ­entwicklungsbedingten Sprachstörungen   333

kennen, dass ihnen nur die entsprechenden Wörter fehlen. Andere Kinder kennen weder Begriffe noch Wörter. Meist fehlen Ihnen Er­ fahrungen im Alltag, was eine Voraussetzung für die Erweiterung von semantischen Fähig­ keiten darstellt.

gende Äußerung zeigt: „Man hat so gedenkt zum gebaut so so mit fünf Teile so so so und so ein und so und so gedenkt.“ (Man hat sich gedacht, dass man es so mit fünf Teilen zu­ sammen baut. So baut man es zusammen, hat man gedacht.) (Adim, 5;6 Jahre alt).

2.3 Störungen beim Erwerb ­grammatischer Fähigkeiten

2.4 Störungen beim Erwerb ­phonetisch-phonologischer ­Fähigkeiten

Typische Merkmale von entwicklungsbeding­ ten Sprachstörungen auf der grammatischen Ebene bei Kindern mit Deutsch als Erstsprache sind verspäteter oder inkonstant verlaufender Erwerb der Grammatik und die Beschrän­ kung auf nur wenige Satztypen. Weiterhin tre­ ten auf: • die Auslassung von obligatorischen Ele­ menten, wie die Auslassung von Wortarten und Satzgliedern, z. B. „Du Mutter sagen“ • die Verbstellung in Hauptsätzen, z. B. „Mädchen Anna heißen“ • fehlende Subjekt-Verb-Kongruenz, z. B. „Wie du noch mal heißen?“ • keine Auflösung zusammengesetzter Ver­ ben, z. B. „komisch aussehen“ • keine Inversion bei Fragen, z. B. „Du haben gelbe Sonne“ • Artikel- und Kasus-Probleme, z. B. „Du haben roten Tonne“ Die wenigen Untersuchungen, die es zum Er­ werb Deutsch als Zweitsprache gibt, legen die Vermutung nahe, dass diese Kinder in der Re­ gel kaum Probleme mit der Verbstellung ha­ ben. Ihre Schwierigkeiten liegen eher beim Er­ werb der Artikel, vor allem der bestimmten. Viele Kinder benutzen keine („Ich glaub, das ist Hund“) oder bevorzugen die unbestimm­ ten Artikel. Weiterhin treten Probleme mit dem Kasus auf („Ich hab schon ein Mütze und ein Regenschirm“). Manche Äußerungen von mehrsprachig aufwachsenden Kindern sind so gut wie un­ verständlich, da diese Kinder sowohl Schwie­ rigkeiten beim Erwerb semantischer als auch grammatischer Fähigkeiten haben, wie fol­

Auf der Ebene der Aussprache wird zwischen phonetischen und phonologischen Störungen unterschieden. Bei phonetischen Störungen (→ Hören und Sprechen) werden Sprachlaute gar nicht oder nicht korrekt gebildet, wie z. B. beim Sigmatismus. Phonetische Störungen führen zu keinen Bedeutungsveränderungen. Wenn z. B. in dem Wort „Susanne“ der [s]Laut falsch gebildet wird, bleibt die Bedeutung trotzdem erhalten. Dies sieht bei phonologi­ schen Störungen (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau) anders aus. Wenn ein Kind z. B. [k] durch [t] ersetzt, wird das Wort „Keller“ als „Teller“ ausgesprochen und erhält eine an­ dere Bedeutung. Kinder mit phonologischen Störungen sind in der Regel schwer verständ­ lich. Sie können meist Laute isoliert bilden, haben sie aber in ihr eigenes Lautsystem nicht oder nicht umfassend integriert. Es gibt Kin­ der, die sowohl phonologische als phonetische Störungen aufweisen. Kinder mit phonologi­ schen Störungen und Deutsch als Erstsprache zeigen phonologische Prozesse, die im norma­ len Erwerb von Kindern ihres Alters bereits überwunden sind, z. B. die Plosivierung von Frikativen. Sie weisen ungewöhnliche Prozes­ se auf, die im normalen Erwerb entweder gar nicht oder nur kurz auftreten, z. B. den Prozess der Öffnung. Oder ihr phonologisches System entspricht einer unausbalancierten Entwick­ lung, das heißt, es sind phonologische Prozes­ se vorhanden, die beim normalen Erwerb in unterschiedlichen Entwicklungsphasen auf­ treten, z. B. treten noch Assimilationen auf, obwohl Kinder Vorverlagerungen entspre­ chender  Laute bereits überwunden haben.

334 

Entwicklungsbedingte Sprachstörungen

Einige Kinder zeigen eine Lautpräferenz, was sich darin zeigt, dass einzelne Konsonanten be­ vorzugt geäußert und andere ersetzt werden. Über den Erwerb des phonologischen Sys­ tems mehrsprachiger Kinder gibt es keine ver­ lässlichen Untersuchungen. Es können Inter­ ferenzen mit ihrer Erstsprache auftreten.

Durch metakommunikative Äußerungen versuchen Kinder schon während des Er­ werbs der mündlichen Sprache, Kommuni­ kationsschwierigkeiten im Gespräch zu be­ heben. Wenn ein Kind eine Äußerung nicht versteht, fragt es nach und der Dialog wird anschließend fortgesetzt, z. B. „Warum heißt das geboren? Ist das wie bohren?“

2.5 Störungen beim Erwerb ­metasprachlicher Fähigkeiten

Kinder mit Schwierigkeiten: • fragen kaum nach unbekannten Begriffen, • können ihre eigene Sprache nicht verän­ dern, wenn die Kommunikationspartne­ rinnen sie nicht verstehen, • korrigieren selten ihre Sprache und die der Kommunikationspartnerinnen, • zeigen kein Interesse an Sprachspielen, • können keine Reime bilden.

Neben dem Erwerb der bereits genannten sprachlichen Fähigkeiten und auftretenden Schwierigkeiten erwerben Kinder bereits im dritten Lebensjahr die Fähigkeit, über Spra­ che nachzudenken (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau), was sich vor allem im kre­ ativen Umgang mit Sprache zeigt (Füssenich 5 2002): • Kinder erfinden eigene Wortschöpfungen. • Kinder korrigieren sich selbst, um sich ver­ ständlicher zu machen. • Kinder fragen nach, wenn sie etwas nicht benennen können. • Kinder korrigieren andere Sprecherinnen, wenn sie Fehler vermuten. • Kinder verändern ihre Sprache, wenn Zu­ hörerinnen sie nicht verstehen. • Kinder haben Spaß, mit Sprache zu spie­ len, indem sie Reime und Sprachspiele er­ finden. Diese Strategien zeigen, dass Kinder sprach­ analytisch tätig sind. Dabei entdecken sie lin­ guistische Einheiten wie Wörter, Lexeme, Pho­ neme und operieren mit ihnen. Autoren wie Andresen (2002) und Augst (1978) unterscheiden zwischen metasprachli­ chen Fähigkeiten, die vor allem mit der mündlichen Sprache erworben werden, und solchen, die eher durch die Auseinandersetzung mit der Schriftsprache (→ Lesen und Schreiben) gelernt werden. Um das unterschiedliche Ni­ veau dieser metasprachlichen Äußerungen zu verdeutlichen, unterscheidet Augst zwischen „Metakommunikation“ und „Extrakommu­ nikation“.

Dies hat zur Folge, dass sie in Kommunika­ tionssituationen nicht lernen, mit sprachlichen Einheiten wie Lexemen, Wörtern und Phone­ men zu operieren. Fehlende metasprachli­ che Fähigkeiten und Schwierigkeiten auf der semantischen Ebene werden oft von Eltern, aber auch von Lehrerinnen und Sprachthera­ peutinnen nicht wahrgenommen und deshalb nicht als Problembereiche erkannt. So ver­ schleppen viele Kinder ihre Schwierigkeiten. Oft werden diese erst nach der Einschulung entdeckt, dabei wird meist nicht der Bezug zur mündlichen Sprache gesehen, sondern diese Schwierigkeiten werden dann mit fehlender Merkschwäche oder Teilleistungsstörungen in Verbindung gebracht. Kinder mit Problemen beim Erwerb prag­ matischer und semantischer Fähigkeiten ver­ fügen über geringe oder keine Fähigkeiten, nach Begriffen und Wörtern zu fragen und stagnieren beim Erwerb metasprachlicher Fä­ higkeiten. Dies zeigt sich z. B. auch darin, dass sie ihre Äußerungen meist nur wiederholen können, wenn sie nicht verstanden werden. Sie sind nicht in der Lage, sie umzuformulie­ ren, um sich verständlicher zu machen. Dies zeigt folgendes Beispiel: E: Was habt ihr da gespielt? K: Des da alles.



Diagnostik und Förderung bei entwicklungsbedingten Sprachstörungen   335

E: Alles? Was zum Beispiel? K: Des da, und die Rutsche, des da drüben, und des da und des. E: Was spielst du am liebsten? K: Des. E: Jetzt weiß ich aber nicht mehr, was du meinst. K: Nebe, da drüben, wo die Rutsche ist. E: Ah, du kletterst gerne. K: Ja. Zur Extrakommunikation gehören Äußerun­ gen, die explizit sprachliche Phänomene thema­ tisieren, ohne dass Kommunikationsschwierig­ keiten auftreten, z. B. „Tiger ist ein Namenwort“.

3 Diagnostik und Förderung bei entwicklungsbedingten Sprachstörungen Kinder mit Schwierigkeiten beim Sprach­erwerb können aus den Alltagsroutinen in Familie und Kindertageseinrichtung nicht die wesentlichen Sprachelemente übernehmen, die sie benöti­ gen. Deshalb strukturiert die Sprachtherapie Handlungskontexte, damit Kinder ihren Fä­ higkeiten entsprechend Sprache aufnehmen und erweitern können. Dannenbauer (52002) bezeichnet die Sprachtherapie als „inszenierten Spracherwerb“, denn sie orientiert sich an dem kindlichen Entwicklungsniveau und -tempo (→ Aufgabenfeld Sprachtherapie).  Sie fördert Aufbau und Entfaltung kindlichen Sprachhan­ delns. Das Kind soll Fähigkeiten entwickeln können, Sprache handlungsbegleitend und handlungsleitend zu verstehen und zu äußern. Dabei sind sowohl Sprachproduktion als auch -verstehen von Bedeutung. Die von Bruner (22002 [i. O. 1983]) auf­ gezeigte Bedeutung von Formaten für die Sprachentwicklung ist auch für die Sprach­ therapie bedeutsam. Sie findet nicht als Vorund Nachsprechübung statt, sondern in für Kinder bedeutsamen Handlungszusammen­ hängen, die im Sinne von Alltags- oder Spiel­

formaten strukturiert sind. Sprachtherapie hat nicht die Aufgabe, in einem Schnellkurs fehlendes Wissen zu vermitteln, sondern gemeinsam mit Kindern Möglichkeiten zu fin­ den, in denen sie „Lust am Lernen“ (wie­ der-)entdecken (→ Interdisziplinäre Theorie sprachlichen Lehrens und Lernens). Es wer­ den Handlungskontexte geschaffen, in de­ nen Formen kommunikativer Verständigung stattfinden, mit denen Kinder selbstständig ihre Umgebung erkunden. Die in der Sprach­ therapie erworbenen Fähigkeiten können Kinder auf andere Situationen übertragen. Kinder müssen zuerst verstehen, dass Handlungen kommunikativ sind und dass durch sie Realität beeinflussbar und veränder­ bar ist. Darüber hinaus erfahren Kinder, dass sie mit ihren kommunikativen Handlungen eine Veränderung von Handlungsabläufen be­ wirken können. Für den ausgewählten Spiel­ rahmen gilt es, vorhandene Interessen und Spielideen von Kindern aufzugreifen und zu erweitern. Weiterhin geht es um das Kennen­ lernen von sprachlichen und kommunikativen Zielsetzungen. Der Einstieg in diesen Prozess erfolgt über die Schaffung eines gemeinsamen Handlungskontextes, der von den beteiligten Personen jederzeit verändert werden kann. Auf der Basis einer fundierten Diagnos­ tik (→ Interdisziplinäre Diagnostik) werden sprachtherapeutische Ziele festgelegt. Dabei wird erstens herausgefunden, welche Fähig­ keiten und Schwierigkeiten ein Kind auf al­ len Sprachebenen hat und überlegt, auf wel­ cher Sprachebene die Sprachtherapie ansetzt. Spricht ein Kind so gut wie nicht und nur in kurzen Äußerungen, beginnt sie bei prag­ matischen und semantischen Fähigkeiten, wie bereits Liebmann (1901, 252) feststellt: „[…] Kindern durch geeignete Demonstra­ tion in natura oder in effigie die fehlenden Begriffe beizubringen […]“, damit sich dann auch weitere Fähigkeiten entwickeln kön­ nen. Zweitens wird berücksichtigt, an welcher sprachlichen Ebene die Sprachtherapie be­ ginnt. Hacker (52002) diskutiert die Auswahl von therapeutischen Zielen am Beispiel der

336 

Entwicklungsbedingte Sprachstörungen

Überwindung phonologischer Prozesse. Da­ bei sind vor allem Aspekte von Bedeutung wie die Berücksichtigung vorhandener Fä­ higkeiten, der Bezug zu Phasen des normalen Spracherwerbs, die Auswirkung der entwick­ lungsbedingten Sprachstörung auf die Ver­ ständlichkeit und vor allem die Frage, ob ein Kind schon Anzeichen zeigt, seine Fähigkei­ ten zu erweitern. Kinder erreichen nicht sofort eine er­ wünschte Sprachnorm (→ Norm und Dif­ ferenz) und übernehmen auch nicht sofort sprachliche und kommunikative Angebo­ te von Erwachsenen. Zwischenschritte beim sprachlichen Lernen werden als Fortschritt gesehen. Ein Indikator für Fortschritte sind kindliche Korrekturen (Füssenich 52002). Spielhandlungen werden so strukturiert, dass Kinder lernen, auf (sprachliche) Handlungen zu achten, sie zu verstehen und zu überneh­ men. Haben Kinder diese Fähigkeit erwor­ ben, werden sie „wie von selbst“ Korrekturen aufgreifen und Selbstkorrekturen äußern. Kinder mit entwicklungsbedingten Sprach­ störungen weisen oft Defizite im meta­ sprachlichen Bereich auf und deshalb kann die Schule nicht ohne weiteres voraussetzen, dass Kinder zur Extrakommunikation in der Lage sind. Der Unterricht sollte eher an den me­ tasprachlichen Fähigkeiten von Kindern an­ knüpfen bzw. berücksichtigen, dass es Kinder gibt, die über nur geringe Fähigkeiten verfü­ gen. Außerdem fehlen Kindern mit entwick­ lungsbedingten Sprachstörungen oft Begriffe, um über Sprache zu sprechen (Füssenich & Löffler 22008, 22009). Eine Sprachtherapie bei Beeinträchtigungen der sprachlichen Kom­ munikation auf der Ebene der Metasprache sollte im Zusammenhang mit der Förderung der Semantik und der Schriftsprache erfolgen. Da der Schriftspracherwerb Teil der sprachlich-kognitiven Entwicklung ist (Füs­ senich 2011), haben Kinder mit mündlichen Sprachstörungen in der Regel Schwierigkei­ ten beim Erwerb der Schrift (→ Schriftspra­ cherwerb im Unterrichtskontext Deutsch). Dass Schrift für die Therapie der mündlichen Sprache genutzt werden kann, haben u. a.

Hansen (1927) und Osburg (1997) für den Be­ reich der Aussprache gezeigt.

4  Ausblick Beeinträchtigungen beim Erwerb von Spra­ che sind vielfältig und im Forschungsinteresse zahlreicher Berufsgruppen, die unterschiedli­ che Zugriffsweisen, Klassifikationen und För­ deransätze vertreten. Die am Spracherwerb orientierte Sicht, die Sprachentwicklung von Kindern und Schwierigkeiten im Dialog mit Kindern und Erwachsenen zu erfassen, und den Fortschritt des Spracherwerbs vor allem daran zu messen, ob Kinder ihre Interessen und ihre Bedürfnisse kommunikativ einbringen, wird zunehmend durch den Einsatz von Test­ verfahren abgelöst. Diese Ergebnisse sind nur bedingt geeignet, kommunikative Fähigkeiten von Kindern zu erfassen und entsprechende Fördermaßnahmen abzuleiten. Auch entspre­ chende Klassifikationen des Symptomkomple­ xes entwicklungsbedingte Sprachstörungen, wie „Spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES)“ (→ Sprachentwicklung und Sprachab­ bau), basieren auf der Auswertung von Daten, die durch Testverfahren erhoben werden, und geben nicht Fähigkeiten und Schwierigkei­ ten von Kindern im Dialog mit anderen Per­ sonen wieder (→ Sprache und Sprechen).

Literatur Andresen, H. (2002): Interaktion, Sprache und Spiel. Zur Funktion des Rollenspiels für die Sprachent­ wicklung im Vorschulalter. Tübingen: Narr. Augst, G. (1978): metakommunikation als element des spracherwerbs. Wirkendes Wort 28, 5, 328–339. Baumgartner, S. & Füssenich, I. (Hrsg.) (52002): Sprach­t herapie mit Kindern – Grundlagen und Ver­fahren. München: UTB. Braun, O. (32006): Sprachstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Diagnostik – Therapie – Förderung. Stuttgart: Kohlhammer. Bruner, J. (22002 [i. O. 1983]): Wie das Kind sprechen lernt. Bern: Huber.



Literatur   337

Dannenbauer, F. M. (52002): Grammatik. In: Baum­ gartner, S. & Füssenich, I. (Hrsg.): Sprachtherapie mit Kindern – Grundlagen und Verfahren (105– 161). München: UTB. Füssenich, I. (52002): Semantik. In: Baumgartner, S. & Füssenich, I. (Hrsg.): Sprachtherapie mit Kindern – Grundlagen und Verfahren (63–104). München: UTB. Füssenich, I. (2010): Den Sprachstand messen – aber wie? Ein Leitfaden kindlicher Sprachaneignung. In: Deutsch differenziert. Heft 2, S. 15 f., M1–M3. Füssenich, I. (2011): Vom Sprechen zur Schrift. Was Erwachsene über den Erwerb der Schrift im Ele­ mentarbereich wissen sollten. WiFF Expertise. Band 9. München. Füssenich, I. & Heidtmann, H. (1995): Formate und Korrekturen als zentrale Elemente in der Sprach­ therapie: Das Beispiel Mirco. In: Wagner, K. R. (Hrsg.): Sprechhandlungserwerb (102–122). Essen: Die blaue Eule. Füssenich, I. & Geisel, C. (2008): Literacy im Kinder­ garten. Vom Sprechen zur Schrift. München: Rein­ hardt.

Füssenich, I. & Löffler, C. (22008): Schriftsprach­ erwerb. Einschulung, erstes und zweites Schuljahr. München: Reinhardt. Füssenich, I. & Löffler, C. (22009): Materialheft Schrift­spracherwerb. München: Reinhardt. Hacker, D. (52002): Phonologie. In: Baumgartner, S. & Füssenich, I. (Hrsg.): Sprachtherapie mit Kindern – Grundlagen und Verfahren (13–62). München: Reinhardt. Hansen, K. (1929): Die Problematik der Sprachheil­ schulen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Hal­ le: Marhold. Knura, G. (1980): Grundfragen der Sprachbehin­ dertenpädagogik. In: Knura, G. & Neumann, B. (Hrsg.): Handbuch der Sonderpädagogik. Bd. 7: Pädagogik der Sprachbehinderten (3–66). Berlin: Marhold. Liebmann, A. (1901): Agrammatismus infantilis. Ar­ chiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 34, 1, 240–252. Osburg, C. (1997): Gesprochene und geschriebene Sprache. Aussprachestörungen und Schriftsprach­ erwerb. Baltsmannweiler: Schneider.

Psychoreaktive Redestörungen Katja Subellok & Nitza Katz-Bernstein

1 ­Beeinträchtigungen der ­Partizipation: Psycho­ reaktive ­Redestörungen und ICF-Modell In Anlehnung an das ICF-Modell der Funkti­ onsfähigkeit und Behinderung (DIMDI 2005) (→ Qualitätsentwicklung und Evolutionsfor­ schung) werden in diesem Beitrag die sprach­ lichen Gesundheitsprobleme, welche vor allem die Rede und Kommunikation betreffen, aus sprachheilpädagogischer Perspektive beleuch­ tet. „Stottern“, „Poltern“ und „Mutismus“ ist es gemeinsam, dass die Kontextfaktoren (Umwelt und Person) in enger Wechselwirkung zu den Körperfunktionen (Rede bzw. Redefluss) selbst stehen und alle deshalb als „psychoreaktive Redestörungen“ bezeichnet werden. Da die­ se Auffälligkeiten kommunikative Aktivitäten und eine gleichberechtigte Partizipation am sozialen Leben bedeutend erschweren oder behindern können, können sie unter den „Stö­ rungen der Sprachpartizipation“ subsumiert werden (→ Beeinträchtigungen der Sprach­ strukturen und Sprachfunktionen: Organische Sprach- und Sprechstörungen, → Beeinträch­ tigungen der Sprach- und Sprechaktivität: Entwicklungsbedingte Sprachstörungen). Ihre folgende Beschreibung wird unter besonderer Akzentuierung pädagogischer und therapeuti­ scher Interventionen mit dem übergreifenden Ziel der Partizipation vorgenommen. Dabei werden die relevanten Übergänge zwischen sich erweiternden sozialen Umweltausschnit­ ten, ausgehend von dyadischen Einzelmaß­ nahmen über trianguläre Kleingruppen und die Zusammenarbeit mit Eltern bzw. Angehö­ rigen bis zum Alltagsgeschehen in verschiede­ nen sozialen und Bildungskontexten, fokus­ siert (→ Aufgabenfeld Sprachtherapie).

In Analogie zum ICF-Modell ist die Dar­ stellung der Interventionen in drei Ebenen unterteilt: • Die Symptomebene entspricht dem Be­ reich der Körperfunktionen. In welchen Kontexten sind die Funktionen beein­ trächtigt bzw. treten die Symptome nicht oder weniger auf? Darüber hinaus wird be­ schrieben, welche Aktivitäten und Leistungen durch beeinträchtigte Körperfunktio­ nen betroffen sein können und wie diesen therapeutisch begegnet werden kann. • Die Strukturebene bezieht sich auf die intrapersonellen bzw. personenbezogenen Faktoren, die die Entstehung der Be­ einträchtigung beeinflussen oder zu ihrer Aufrechterhaltung beitragen. Beispielswei­ se ist es für den selektiven Mutismus die interpersonelle Logik des Schweigens, oder für das Stottern sind es Anspruchshaltung oder Coping-Strategien des Betroffenen. • Die Systemebene beschreibt die interakti­ onalen Faktoren bzw. Familien- und Umweltfaktoren, die an der Störung beteiligt sein können und/oder diese aktuell auf­ rechterhalten bzw. verstärken. Vor allem soll im ressourcenorientierten Sinne be­ rücksichtigt werden, welche protektiven, unterstützenden Möglichkeiten einer ko­ ordinierten Kooperation im Gesamtsys­ tem zu finden sind.

2  Stottern 2.1  Deskription In der einschlägigen Fachliteratur lässt sich keine einheitliche Definition des „Stotterns“ (Balbuties, stuttering, stammering) ausmachen



Stottern   339

(Yairi & Seery 2011). Vielmehr wird von ei­ nem Syndrom ausgegangen, das sich aus indi­ viduell unterschiedlichen Symptomen konsti­ tuiert. Deskriptiv betrachtet handelt es sich auf der Ebene der Körperfunktionen um Störun­ gen oder Unregelmäßigkeiten des Redeflus­ ses, die sich durch Wiederholungen (Kloni), Dehnungen (Prolongationen) oder Blockie­ rungen (Toni) von Satzteilen, Wörtern, Silben oder Lauten kennzeichnen lassen (Kernsymptomatik). Diese können durch sprachliche und nichtsprachliche Phänomene wie Flicklaute, Starter, Ersetzen von Wörtern und Satzteilen, Mitbewegungen von Körperteilen, mimische Zuckungen, stockende Atmung, Vermeidung des Blickkontakts sowie reduzierte Körper­ sprache begleitet werden (Begleitsymptomatik). Aufgrund kommunikativer Ängste kann darüber hinaus ein sprachliches und situatives Vermeideverhalten zu beobachten sein, womit bereits die weiteren Elemente der Aktivitäten, Partizipation und personenbezogenen Fakto­ ren angesprochen werden. Inwieweit ursächlich die Ebene der Kör­ perstrukturen betroffen ist, kann abgesehen von Sonderformen des Stotterns im Falle um­ schriebener neurologischer Erkrankungen (→ Beeinträchtigungen der Sprachstrukturen und Sprachfunktionen: Organische Sprachund Sprechstörungen) nicht eindeutig be­ stimmt werden. Allgemein wird von verschie­ denen neurophysiologischen oder organisch konstitutionellen, psycholinguistischen oder sozial-emotionalen Dispositionen bzw. ei­ nem multifaktoriellen Bedingungsgefüge zur Entstehung, Auslösung und Aufrechterhal­ tung des Stotterns ausgegangen (Sandrieser & Schneider 2004, Ochsenkühn & Thiel 2005, Yairi & Seery 2011, Howell & von Borsel 2011). Bei bis zu etwa 80 % aller Kinder zeigen sich im Rahmen ihrer Sprachentwicklung mehr oder weniger stark ausgeprägte entwicklungsbedingte Redeunflüssigkeiten (→ Beein­ trächtigungen der Sprach- und Sprechaktivi­ tät: Entwicklungsbedingte Sprachstörungen), die in der Regel nach einigen Monaten wie­ der verschwinden. Der Übergang zu einem beginnenden Stottern ist fließend, und eine

Differenzialdiagnose darf nicht nur punktu­ ell, sondern muss prozessorientiert erfolgen. Neben Qualität und Quantität der Kernsymp­ tomatik muss insbesondere ein etwaiges Ver­ meideverhalten als Abgrenzungskriterium beachtet werden. Die Pubertät gilt als kriti­ sche Phase zur Manifestierung des Stotterns. Spontane oder therapeutisch bedingte Remis­ sionen sind bis zu diesem Alter nicht unwahr­ scheinlich. Aktuell wird in Deutschland da­ von ausgegangen, dass 3–5 % der Kinder und 1 % der Erwachsenen ein Stottern aufweisen (Natke 22005).

2.2  Interventionen Die Interventionen im frühen Kindesalter sind grundsätzlich anders ausgerichtet als bei Erwachsenen. Geht es bei Kindern noch um die generelle Beeinflussbarkeit einer noch nicht manifesten Problematik, für die es gilt, präventiv auf mögliche Risikofaktoren einzu­ wirken (→ Prävention von Sprachentwick­ lungsstörungen), stehen bei Jugendlichen und Erwachsenen die direkte Arbeit an der Sym­ ptomatik sowie das Coping des Stotterns im Vordergrund. Symptomebene

Diagnostisch geht es um die Erfassung von Quantität und Qualität der Unflüssigkeiten in strukturierten, freien und stressbelasteten Sprechsituationen, für die mehrere Inventare und Beobachtungshilfen zur Verfügung ste­ hen. Prognostisch ist es bei Kindern ebenso re­ levant, die Dauer und den Verlauf der Störung zu beurteilen. Die Sprechsymptomatik liefert wichtige Hinweise zur Differenzialdiagnostik: Spannungsfreie Satzteil-, Wort- und Silben­ wiederholungen, die seltener als sechs Mal pro hundert Wörter auftreten, sprechen für eine altersgemäße Entwicklungsunflüssigkeit, wo­ hingegen beispielsweise Lautwiederholungen, stumme Blockaden, spannungsvolle längere Dehnungen, Pausen und häufigere Unflüssig­ keiten eher ein beginnendes Stottern nahe le­

340 

Psychoreaktive Redestörungen

gen (Ochsenkühn & Thiel 2005). Schwächen anderer Entwicklungsbereiche, insbesondere der Sprachentwicklung (→ Sprachentwick­ lung und Sprachabbau), müssen außerdem als mögliche Risikofaktoren einbezogen werden. Traditionell wird zwischen den „direkten“, bewusst machenden und den „indirekten“, nicht bewusst machenden Therapieansätzen unterschieden, wobei aktuelle Konzepte eine individuell angepasste Integration verschie­ denster Zugänge (Ochsenkühn & Thiel 2005, Hansen & Iven 22006) favorisieren: • Fluency-Shaping-Ansätze haben flüssiges Sprechen zum Ziel. Es handelt sich da­ bei um lerntheoretisch strukturierte Pro­ gramme, mittels derer flüssige Anteile des Sprechens verstärkt werden. Ein aktuel­ ler Ansatz ist das „Lidcombe-Programm“, dessen Einsatz gerade bei Vorschulkindern Erfolg versprechend zu sein scheint (Lat­ termann 2010). • Ziel der Stotter-Modifikations- bzw. NonAvoidance-Ansätze ist primär nicht das flüssige Sprechen, sondern das flüssi­ ge Stottern. Maßgeblich geht es um eine bewusste Wahrnehmung und Kontrol­ le sowie Modifikation der Art des Stot­ terns. Ihren Ursprung haben diese An­ sätze im Konzept von van Riper (1986), welches zunächst von Dell (1996) für Kin­ der modifiziert und später erweitert wurde (z. B.  „KIDS“ von Sandrieser & Schneider 2 2004). • Eine Veränderung der gesamten Sprech­ weise und damit Verflüssigung des Rede­ flusses wird auch über Sprechtechniken wie spürendes oder betontes Sprechen, Atemtechniken, weicher Stimmeinsatz oder „WWL – weich, langsam und leicht“ (Hansen & Iven 22006) erzielt, die auch „versteckt“ bzw. spielerisch vermittelt wer­ den können (Katz-Bernstein 2003). Ziel ist eine Übernahme der als erfolgreich erleb­ ten Sprechweise in die Spontansprache.

Strukturebene

Diagnostisch wird hier der Bereich der psychischen Faktoren angesprochen, die eng mit der Symptomebene korrespondieren: Die wahrge­ nommenen Wiederholungen oder Blockaden lösen beim Betroffenen Gefühle zum Spre­ chen und zum Stottern (Scham, Tabuisierung), zu sich selbst (eigene Anspruchshaltung) und zu den Kommunikationspartnern aus. Es ent­ stehen Bilder und Vorstellungen, die bestim­ mend auf das kommunikative Verhalten oder etwaige Konfliktlösungsversuche einwirken. Diese wiederum lassen Aufschluss über den Umgang mit bzw. die Bewältigung der Pro­ble­ matik zu. Therapeutisch ist es bei Kindern relevant, einem (etwaigen) Leidensdruck durch Erhalt der Kommunikationsfreude vorzubeugen, in­ dem der körpersprachliche, emotionale und kreative Ausdruck gefördert (Katz-Bernstein 8 2003) sowie Sprechängste und kommuni­ katives Vermeideverhalten abgebaut wer­ den. Die so genannte „Enttabuisierung“ oder „Entmystifizierung“ (Dell 1996) des Stotterns ist hier ein weiteres therapeutisches Element. Für jüngere Kinder empfiehlt sich ein behut­ sames und dem kognitiven und emotionalen Entwicklungsstand angepasstes Vorgehen zur Thematisierung des Stotterns (→ Kognition und Emotion). Bei älteren Kindern und Ju­ gendlichen kann eine schrittweise „Desensi­ bilisierung“ (van Riper 1986) helfen, das Stot­ tern und kommunikative Situationen nicht zu vermeiden, sondern lieber zu stottern als zu schweigen. Übergeordnete Zielsetzung insbe­ sondere für Erwachsene ist es, mehr auf die Kommunikation als die Sprechweise zu ach­ ten, sich als Stotternder der Umwelt zuzumu­ ten und das Stottern nicht als Behinderung der Partizipation (soziale Kontakte, Partner­ schaft, Beruf) zu etablieren. Systemebene

Die Arbeit mit den Bezugspersonen stottern­ der Kinder ist ein elementarer Bestandteil jed­ weder Stottertherapie. Neben der Information



Poltern   341

zum Stottern und zu beeinflussenden Fak­ toren geht es um konkrete Hinweise für den Alltag, wie kommunikative Situationen po­ sitiv gestaltet werden können. Da die eigene Betroffenheit der Eltern groß ist, gilt es, deren Bewältigung des Stotterns in positiver, resili­ enter Weise zu (re)aktivieren (Subellok 2005). Ihre Entlastung, besonders im Hinblick auf et­ waige Schuldgefühle sowie emotionale Stabi­ lisierung, kann wesentlich zur Akzeptanz des Stotterns, Entspannung und damit Reduzie­ rung negativer Einflussvariablen beitragen. Über die Familie hinaus ist es unerlässlich, ein professionell-soziales Netz – vor allem im Hinblick auf die Schule – zu schaffen (→ In­ stitutionen und ihr gesellschaftlicher Rahmen­ kontext).

3  Poltern 3.1  Deskription „Poltern“ (Tachylalie, cluttering) gilt laut ICD10 (DIMDI 2008) als Ausschlusskriterium für das Stottern. Auch wenn Mischformen und gleitende Ausprägungen zwischen Poltern und Stottern die Regel sind, existieren differenzi­ aldiagnostische Kriterien, die es vom „reinen Stottern“ unterscheiden lassen (Iven 2001, 181). Dazu zählen das „gehäufte Auftreten phonetischer Auffälligkeiten wie Auslassun­ gen und Verschmelzungen von Lauten und Silbenfolgen, Lautersetzungen und Lautver­ änderungen“ (Sick 2004, 13), oft begleitet von überhastetem, beschleunigtem Sprechtempo und Sprechrhythmus, was häufig zur Unver­ ständlichkeit von Äußerungen führt. Jedoch treten weniger Blockaden (Toni) und Deh­ nungen (Prolongationen) auf. Hinzu gesellen sich Unflüssigkeiten des Redeflusses wie (eher seltene) Silben- und Lautwiederholungen so­ wie (eher häufige) lockere Wort- und Satzteil­ wiederholungen (ebd.). Kognitive, linguisti­ sche, pragmatische und (sprech-)motorische Dimensionen können mit betroffen sein (Daly

& Burnett 21999). Unregelmäßigkeiten beim Erwerb des sprachlichen Regelsystems sind nicht selten zu beobachten (Übersicht bei Sick 2004).

3.2  Interventionen Symptomebene

Differenzialdiagnostisch deuten auffällige Anam­nese, verspäteter Sprechbeginn, gehäuf­te Sprach­schwächen sowie Rechtschreibschwä­che auf das Poltern hin. Aufforderungen zur Kon­ trolle des Sprechablaufs bewirken eine Verbes­ serung. Basierend auf aktuellen Studien wird die zentral-auditive, phonologische Differen­ zierungsschwäche (→ Hören und Sprechen) als ätiologische Grundlage des Polterns betont. Im Vergleich zum Stottern gibt es eher wenige speziell auf das Poltern ausgerichtete Therapieansätze. Sie greifen Teilaspekte auf und fokussieren jeweils den Sprach-, Rhythmus-, Wahrnehmungs- oder Verhaltensaspekt (bei Kindern z. B. Katz-Bernstein 1986; bei Erwachsenen z. B. Daly & Burnett 21999). Zu­ sammengefasst sind auf dieser Ebene folgende therapeutischen Bausteine zu benennen (vgl. auch Sick 2004): • Aufbau eines Aufmerksamkeitsbogens • Arbeit an der Atmung und der Stimmfüh­ rung • Auditive Differenzierungsübungen und das Training phonologischer Bewusstheit • motorische Koordination und Rhythmus­ gefühl (→ Rhythmus) • Aufbau und Kompensation linguistischsprachlicher Kompetenzen • Aufbau von diskursiven und sprachstruk­ turierenden Kompetenzen • Modifikation des Sprechtempos • die Überwindung von Sprechunflüssigkei­ ten. Strukturebene

Das polternden Menschen häufig attestier­ te „fehlende Störungsbewusstsein“ wird zwar

342 

Psychoreaktive Redestörungen

häufig als Zuschreibung kritisiert (Iven 2001), weist aber dennoch auf das Eigenerleben des Betroffenen bezüglich sozialer Kontakte, Ak­ tivitäten und somit der Partizipation hin und hat relevante Folgen für die Gestaltung der Therapie. Folgende therapeutischen Bausteine können auf dieser Ebene einbezogen werden: • Arbeit an der Motivation zur Therapie • Aushandeln, Festlegen und Durchhalten von Handlungs- und Therapiezielen • Vermittlung und Unterstützung von Struk­ turierungshilfen • Aufbau der Körper- und der Selbstwahr­ nehmung • Arbeit an Kommunikations- und Dialog­ strukturen • Stärkung der pragmatischen Rollenkom­ petenz • Arbeit an intrapersonellen Einstellungen und sozialem Verhalten. Systemebene

Die → Beratung von Eltern fehlt in keinem der aktuellen Ansätze (St. Louis & Myers 21997, Daly & Burnett 21999, Sick 2004). Schwer­ punkt ist eine Strukturgebung im Alltag, die zwischen Anforderung und Kapazität einer Selbstregulation des Kindes pendelt. Eine der wichtigsten Erziehungsfragen ist, wie gesetz­ te äußere Strukturen sukzessive durch Über­ nahme von eigener Verantwortlichkeit auf­ gelockert werden können. Ein individuelles Empowerment-basiertes Konzept der Eltern­ beratung ist mit der Anforderung nach Selbst­ bestimmtheit der Betroffenen und ihren An­ gehörigen (Subellok & Katz-Bernstein 2006) durchaus „ICF-kompatibel“.

4  Selektiver Mutismus 4.1  Deskription „Selektiver Mutismus“ (Mutitas, selective mutism) gilt in der Klassifikation der WHO als

eine „Störung sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ (DIMDI 2008, ICD-10, 94.0), die als eine umfassende, in der Regel über sechs Monate andauernde Sprachlo­ sigkeit in mindestens einer spezifischen Situa­ tion oder bei einem bestimmten Personenkreis trotz der Fähigkeit auftritt, in anderen Situati­ onen zu sprechen. In unterschiedlichen Klas­ sifikationen von Störungsbildern der Kindheit wird der Mutismus häufig mit den Gruppen der sozialen Phobien oder Angststörungen as­ soziert (Bergmann et al. 2002, Chavira et al. 2007, Manassis et al. 2007). Der selektive Mutismus tritt etwas häufi­ ger bei Mädchen als bei Jungen auf (Dummit et al. 1997). Verschiedene Studien belegen, dass Sprachstörungen als mit bedingende Faktoren in Betracht kommen (Spasaro & Schaefer 1999, Cline & Baldwin 22004). Un­ ter den selektiv mutistischen Kindern sind laut einiger Studien um die 50 % und mehr zwei- und mehrsprachige Kinder anzutreffen (Toppelberg et al. 2005). Die Bewältigung von Mehrsprachigkeit, vor allem jedoch die Über­ windung der Fremdheit einer neuen Kultur (→  Interkulturalität und Mehrsprachigkeit), scheint das mutistische Phänomen zu be­ günstigen (Katz-Bernstein 22007).

4.2  Intervention Zwei Hauptprobleme gilt es in der Interventi­ on bei (selektiv-)mutistischen Kindern zu lö­ sen: Das erste betrifft die Diagnostik. Neben non-verbalen Tests und der Befragung von Angehörigen müssen oft die Interventionen schon beginnen, bevor eine präzise Diagnose vorliegt. Diese kann aufgrund der Komplexi­ tät oft erst nach und nach gestellt werden. Das zweite Problem betrifft die berufliche Zustän­ digkeit: Psychotherapie oder Sprachtherapie? (Katz-Bernstein & Subellok 2009) Es bedarf einer gemeinsamen Klärung, um das richtige Kind zur richtigen Fachperson zu vermitteln. Innerhalb beider Berufsgruppen sind eine Spe­ zialisierung und eine kontinuierliche, supervi­ sorische Begleitung unbedingt erforderlich.



Selektiver Mutismus   343

Therapeutische Maßnahmen sollen die von der ICF erfassten Faktoren berücksichtigen und individuell eingesetzt werden. In der Pra­ xis hat sich ein flexibles Baukastensystem be­ währt (Katz-Bernstein 22007). Symptomebene

Selektiv mutistische Kinder zeigen eine unter­ schiedliche Symptomatik. Manche frieren bei einer direkten Ansprache wie bei einer mas­ siven Schreckreaktion regelrecht ein oder ver­ meiden es, überhaupt (Körper-)Geräusche zu erzeugen. Manche jedoch vermögen nonverbal zu kommunizieren, legen sich eine Zeichen­ sprache (→ Zeichen und Semiose) zu oder wählen eine Person als Sprechrohr, der sie die Antworten zuflüstern. Es ist wichtig, dass Kontexte und Situationen des Sprechens und des Schweigens genau erfasst werden (Katz-Bern­ stein 22007, 68 ff.), um dort bei der Therapie­ planung anzusetzen und der Evaluation Fort­ schritte oder auch Stagnationen aufzuzeigen. Dabei wird festgestellt, welche Körperfunktio­ nen in welchen Kontexten beeinträchtigt bzw. nicht beeinträchtigt und welche Leistungen da­ durch betroffen sind (Hartmann 41997, Spasa­ ro & Schaefer 1999, Cline & Baldwin 22004, Katz-Bernstein 22007, Bergmann et al. 2008). Therapeutisch relevant ist es, über den Aufbau einer nicht-verbalen Kommunikati­ on und die Fähigkeit, im geschützten Raum (safe place) zu sprechen, eine sukzessive Re­ duzierung der Angst sowie Aufbau und Er­ weiterung der Kontexte zu erzielen, in denen Lautsprache verwendet wird. Wichtig ist da­ bei eine weitgehende Mitbestimmung des Be­ troffenen sowie Anpassung des Prozesses in Tempo und Verlauf an Ressourcen und Ent­ wicklungsstand. Strukturebene

Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie ist, ein Verständnis für die subjektive Logik des Phänomens Mutismus zu entwickeln (Bahr 3 2003). Daraus werden eine sorgfältige Gestal­ tung der Therapie und das Tempo des Vorge­ hens abgeleitet und dabei die Motivation des

Betroffenen sowie seine Bewältigungsfähig­ keiten, Ressourcen und Möglichkeiten einbe­ zogen. Eine zentrale Bedeutung erfährt dabei die therapeutische Beziehung (→ Aufgaben­ feld Sprachtherapie), die über jegliche Krisen hinweg, welche für diese Auffälligkeit typisch sind, standhält (Katz-Bernstein 22007, 82 ff.). Hayden (1980, in Katz-Bernstein 22007, 25 f.) bündelt ätiologische Faktoren und diffe­ renziert vier Arten von Mutismus, die auf die subjektive Logik des Schweigens als Bewälti­ gungsstrategie im Hinblick auf überfordern­ de Lebensumstände hinweisen: • „Symbiotic mutism“, der auf einer unsiche­ ren Bindung zu den Bezugspersonen ba­ siert, • „Speech phobic mutism“, der auf eine genu­ ine Angst und Lähmung der Stimmgebung und des Sprechaktes in bestimmten Situa­ tionen hinweist, • „Reactive mutism“, dem ein einmaliges, einschneidendes (traumatisches) Ereignis zugrunde liegt, • „Passive aggressive mutism“, der durch eine deutlich aufsässige Verweigerung zu spre­ chen („Schweigen als Verteidigungswaffe“) auffällt. Allein die Tatsache, dass es sich um die Unfä­ higkeit handelt, in manchen, insbesondere in öffentlichen und/oder fremden Kontexten zu sprechen, kann als ein sinnvolles Konkretisie­ ren des ICF-Modells der „Funktionsfähigkeit und Behinderung“ angesehen werden. Obwohl keine Schädigung der Primärfunk­tionen zu finden ist, sind die sozialen Aktivitäten bzw. die Teilhabe im bedeutenden Maße eingeschränkt. Es ist wichtig zu bemerken, dass es sich bei dieser Auffälligkeit nicht um ein „freiwilliges Schweigen“ handelt, sondern nachweislich um eine Störung, die das Sprachzentrum blockiert und dem Betroffenen nicht ermöglicht, wil­ lentlich sprachlich zu kommunizieren. Systemebene

Der Einbezug dieser Ebene gibt Auskunft über die Familien- und Umweltfaktoren, die das

344 

Psychoreaktive Redestörungen

schweigende Verhalten mit bedingen und es aufrechterhalten können. Die therapeutische Relevanz liegt in der Kraft, die durch Vernetzung der unterstützenden Ressourcen des Umfeldes geschöpft wird. Ohne eine solche Ver­ netzung sind kontinuierliche Fortschritte, ein Durchhalten von Krisen und Aufrechterhal­ ten des (therapeutischen) Optimismus nicht denkbar. Deshalb ist eine Zusammenarbeit mit Angehörigen, der Familie, Ärzten, päda­ gogischen Fachpersonen und weiteren Insti­ tutionen unerlässlich, um das Hauptziel, eine barrierefreie Partizipation dieser Personen­ gruppe im sozialen Leben, zu ermöglichen (Kearney 2010) (→ Institutionen und ihr ge­ sellschaftlicher Rahmenkontext).

5 Weitere Maßnahmen zur Förderung der sozialen ­Partizipation Bei den psychoreaktiven Auffälligkeiten han­ delt es sich in den wenigsten Fällen um eine primäre Beeinträchtigung der Körperstruktu­ ren. Vielmehr geht es um sekundäre Funkti­ onen, um die Auflösung verhinderter Aktivi­ täten in Form erfolgreicher kommunikativer Handlungen und im weiteren Sinne um die unbehinderte soziale Partizipation. Die Bar­ riere hat häufig mit nicht bzw. weniger gelun­ genen Coping-Strategien des Betroffenen und seiner Angehörigen zu tun. Dadurch kann sich ein Teufelskreis etablieren, der mit Scham, Schuld und Selbstvorwürfen besetzt ist und zur Aufrechterhaltung der Störung und Ver­ schlimmerung der Funktionen von Rede und Kommunikation beiträgt. Aus diesem Zusammenhang heraus kann sich eine Therapie nicht lediglich um Tech­ niken zur Verbesserung des Redeflusses und der kommunikativen Kompetenz begnügen. Ebenso müssen relevante Übergänge zwi­ schen spezifischen Einzelmaßnahmen und Alltagsgeschehen in verschiedenen Lebens­

kontexten berücksichtigt und in die Inter­ ventionen einbezogen werden, wenn „Parti­ zipation“ als übergreifende Zielsetzung der pädagogischen und therapeutischen Bemü­ hungen bei Redestörungen ernst genommen wird. Konkret lassen sich mögliche Zwischen­ schritte aufzeigen: Gruppentherapeutische Angebote Eine Gruppentherapie als ergänzendes An­ gebot zur Einzeltherapie und -förderung ist schon länger bekannt. Sie wird entwicklungs­ psychologisch als „sozialer Übergangsraum“ zwischen einer dyadischen Kommunikation zur sozialen Interaktion verstanden. Ist in der Einzeltherapie der basale Aufbau von dyadi­ schen kommunikativen Kompetenzen im Vor­ dergrund, so bietet die therapeutische Klein­ gruppe einen genuinen Aufbau der sozialen Kompetenz, die zur sozialen Partizipation führt (Katz-Bernstein 82003, Katz-Bernstein & Subellok 2002). Einbezug schulischer und weiterer interdisziplinärer Kontexte Bei den drei psychoreaktiven Redestörungen ist die Transferarbeit von basalen kommunika­ tiven Kompetenzen, Sprechtechniken, Selbst­ wahrnehmung sowie das Selbstsicherheits­ training und funktionales Copingverhalten in Stresssituationen usw. unerlässlich. Eine Zu­ sammenarbeit mit Lehrpersonen, Ärzten so­ wie weiteren Fachpersonen und Institutionen ist deshalb zwingender Bestandteil jeglicher Intervention, um die Übergänge zu sichern. Einbezug von Angehörigen In kaum einem anderen Bereich des Sprach­ heilwesens stand die Zusammenarbeit mit Angehörigen derart im Mittelpunkt wie bei den Redestörungen, vor allem beim kindli­ chen Stottern (Katz-Bernstein 1991, Subellok 2005). Doch auch beim Mutismus wird die El­ ternarbeit als unerlässlich betrachtet (Spasa­ ro & Schaefer 1999, Cline & Baldwin 22004, Katz-Bernstein 22007, Kearney 2010). Aktuelle Konzepte beruhen auf einem demokratischen, kooperativen Einbezug der Eltern (Ritterfeld



Literatur   345

2007) und zielen auf „Empowerment“ sowie auf die Stärkung von „resilienten“ Kräften der Eltern zur Bewältigung der Störungen (Subel­ lok & Katz-Bernstein 2006). Kontexte der Selbsthilfe Im deutschsprachigen Raum haben sich für den Bereich des Stotterns bereits vor mehre­ ren Jahren („Demosthenes Institut“), für den des selektiven Mutismus in jüngster Zeit viele Initiativen etabliert, die über Öffentlichkeits­ arbeit, Vernetzung sowie Weiterbildung auf die Situation der Betroffenen und ihrer Ange­ hörigen erfolgreich einwirken und damit ei­ nen verdienstvollen Beitrag zur Aktivität und Partizipation leisten. Wegen ihrer Komplexität gelten psy­ choreaktive Redestörungen für die sprach­ therapeutische Ausbildung und Praxis als anspruchsvoll. Daher werden zur Qualitätssicherung (→ Qualitätsentwicklung und Eva­ luationsforschung) ein kollegialer Austausch, eine fachliche Weiterbildung sowie Supervisi­ on oder Intervision als unerlässlich erachtet. Fachliche bzw. berufliche Zusammenschlüsse wie die „Interdisziplinäre Vereinigung Stot­ tertherapie e. V.“ (IVS) unterstützen dieses wichtige Anliegen und tragen unter anderem engagiert dazu bei, dass eine Anbindung der Praxis an aktuelle Forschungserkenntnisse gewährleistet bleibt.

6  Stand der Forschung In der Forschung (→ Unterrichts- und The­ rapieforschung) ist die Suche nach einer effi­ zienten Methode zur „Heilung“ des Stotterns immer wieder anzutreffen. Bisher gilt jedoch, dass unterschiedliche Methoden, idiogra­ phisch angepasst, am erfolgreichsten zu sein scheinen. Neuere Erkenntnisse der Neurowissenschaften und Genforschung legen einen Zusammenhang zwischen erworbenen moto­ risch-prozeduralen Abläufen mit genetischer Disposition nahe. Im Gespräch sind auch

Neuroleptika, die die therapeutischen Bemü­ hungen bei Redestörungen flankieren und Angst- sowie Stresserscheinungen mindern sollen. Im europäischen Raum treffen solche Maßnahmen auf unseres Erachtens begrü­ ßenswerte Vorsicht, insbesondere bei jüngeren Betroffenen. Bei allen drei reaktiven Arten von Redestörungen zeigt sich in der Forschung die Notwendigkeit einer interdisziplinären Ver­ netzung, um deren Komplexität gerecht zu werden.

Literatur Bahr, R. (32003): Schweigende Kinder verstehen. Kommunikation und Bewältigung bei selektivem Mutismus. Heidelberg: Winter. Bergman, R. L., Piacentini, J. & McCracken, J. T. (2002): Prevalence and description of selective mu­ tism in a school-based sample. Journal of the Ame­ rican Academy of Child & Adolescent Psychiatry 41, 8, 938–946. Bergman. R. L., Keller, M. L., Piacentini, J. & Berg­ man, A. J. (2008): The development and psycho­ metric properties of the selective mutism questi­ onnaire. Journal of Clinical Child & Adolescent Psychology 37, 2, 456–464. Chavira, D. A., Shipon-Blum, E., Hitchcock, C., Co­ han, S. & Stein, M. B. (2007): Selective mutism and social anxiety disorder: all in the family? Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry 46, 11, 1464. Cline, T. & Baldwin, S. (22004): Selective mutism in children. London: Whurr. Daly, D. A. & Burnett, M. L. (21999): Cluttering: Tra­ ditional views and new perspectives. In: Curlee, R. F. (Ed.): Stuttering and related disorders of flu­ ency (222–254). New York: Thieme. Dell, C. (1996): Therapie für das stotternde Schul­ kind. Köln: Demosthenes. DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Do­ kumentation und Information) (2005): Internati­ onale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Be­hinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesund­ heitsorganisation (WHO). Neu-Isenburg: MMI. DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Doku­ mentation und Information) (2008): ICD10 – In­ ternationale Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation (WHO). 10. Revi­ sion. Neu-Isenburg: MMI. Dow, S. P., Sonies, B. C., Scheib, D., Moss, S. E., & Leo­ nard, H. L. (1999): Practical guidelines for the as­

346 

Psychoreaktive Redestörungen

sessment and treatment of selective mutism. In: Spasaro, A. & Schaefer, E. (Eds.): Refusal to speak. Treatment of selective mutism in children (19–44). Northvale, NJ: Aronson. Dummit, E. S., Klein, R. G., Tancer, N. K., Asche, B., Martin, J. & Fairbanks, J. A. (1997): Systematic assessment of 50 children with selective mutism. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatrie 36, 5, 653–660. Hansen, B. & Iven, C. (22006): Stottern und Sprech­ flüssigkeit. Sprach- und Kommunikations­t herapie mit unflüssig sprechenden (Vor-)Schulkindern. München: Urban & Fischer. Hartmann, B. (41997): Mutismus: Zur Theorie und Kasuistik des totalen und elektiven Mutismus. Ber­ lin: Marhold. Howell, B. & Van Borsel, J. (Eds.) (2011): Multilingu­ al aspects of fluency disorders. Bristol, Buffalo, To­ ronto: Multilingual Matters. Iven, C. (2001): Poltern. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopä­ die. Bd. 2: Erscheinungsformen und Störungsbil­ der (173–182). Stuttgart: Kohlhammer. Katz-Bernstein, N. (1986): Poltern – Therapieansatz für Kinder. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete (VHN) 55, 4, 413–426. Katz-Bernstein, N. (1991): Therapiebegleitende El­ tern­arbeit in der Behandlung von stotternden Kin­ dern: Einzelgespräche, Müttergruppen, Elternbe­ ratung. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Handbuch der Sprachtherapie. Bd. 5: Störungen der Redefähig­ keit (378–398). Berlin: Marhold. Katz-Bernstein, N. (82003): Aufbau der Sprach- und Kommunikationsfähigkeit bei redeflussgestörten Kindern: Ein sprachtherapeutisches Übungskon­ zept. Luzern: Edition SZH. Katz-Bernstein, N. (22007): Selektiver Mutismus bei Kindern: Erscheinungsbilder, Diagnostik, Thera­ pie. München: Reinhardt. Katz-Bernstein, N. & Subellok, K. (Hrsg.) (2002): Gruppentherapie mit stotternden Kindern und Ju­ gendlichen. Konzepte für die sprachtherapeutische Praxis. München: Reinhardt. Katz-Bernstein, N. & Subellok, K. (2009): Selektiver Mutismus bei Kindern: Ein Thema für die Sprach­ therapie? Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 78, 4, 308–320. Kearney, C. (2010): Helping children with selective mutism and their parents: a guide for school-based professionals. Oxford: Oxford University Press.

Lattermann, Ch. (2010): Das Lidcombe-Programm zur Behandlung des frühkindlichen Stotterns. Neuss: Natke. Manassis, K., Tannock, R., Garland, E., Minde, K., McInnes, A. & Clark, S. (2007): The sounds of si­ lence: Language, cognition, and anxiety in selecti­ ve mutism. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry 46, 9, 1187–1195. Natke, U. (22005): Stottern: Erkenntnisse, Theorien, Behandlungsmethoden. Bern: Huber. Ochsenkühn, C. & Thiel, M. (2005): Stottern bei Kin­ dern und Jugendlichen. Bausteine einer mehrdi­ mensionalen Therapie. Heidelberg: Springer. Riper, C. van (1986): Die Behandlung des Stotterns. Solingen: Bundesvereinigung-Stotterer-Selbsthilfe. Ritterfeld, U. (2007): Elternpartizipation. In: Schöler, H. & Welling, A. (Hrsg.): Handbuch Sonderpäda­ gogik. Bd. 1: Sonderpädagogik der Sprache. (922– 949). Göttingen: Hogrefe. Sandrieser, P. & Schneider, P. (22004): Stottern im Kindesalter. Stuttgart: Thieme. Sick, U. (2004): Poltern. Theoretische Grundlagen – Diagnostik – Therapie. Stuttgart: Thieme. Spasaro, S. A. & Schaefer, C. E. (Eds.) (1999): Refusal to speak. Treatment of selective mutism in Chil­ dren. Northvale (NJ): Aronson. St. Louis, K. O. & Myers, F. L. (21997): Management of cluttering and related fluency disorders. In: Curlee, R. & Siegel, G. (Eds.): Nature and treatment of stut­ tering. New York: New Directions. Subellok, K. (2005): Was brauchen Eltern stotternder Kinder? Eine Untersuchung zu professionellen Bera­ tungs- und Interventionsangeboten. In: Subellok, K., Bahrfeck-Wichitill, K. & Dupuis, G. (Hrsg.): Sprach­ therapie: Fröhliche Wissenschaft oder blinde Pra­ xis? Ausbildung akademischer Sprachtherapeutin­ nen in Dortmund (177–205). Ober­hausen: Athena. Subellok, K. & Katz-Bernstein, N. (2006): Die unter­ stellte Resilienz: Wie eine Negativspirale in der Ko­ operation mit Eltern (nicht nur) sprachauffälliger Kinder und Jugendlicher durchbrochen werden kann. L.O.G.O.S. Interdisziplinär 14, 3, 164–172. Toppelberg, C. O., Tabors, P., Coggins, A., Lum, K. & Burger, C. (2005): Differential diagnosis of selec­ tive mutism in bilingual children. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psy­ chiatry 44, 6, 592–595. Yairi, E. & Seery, C. (2011): Stuttering. Foundations and clinical applications. New Jersey: Pearson Education.

Aussprachestörungen Anja Fiori & Antoinette G. am Zehnhoff-Dinnesen

1 Klassifikation kindlicher ­Aussprachestörungen Aussprachestörungen im Kindesalter kön­ nen in Verbindung mit unterschiedlichsten Störungsbildern auftreten. In der sprachthe­ rapeutischen Praxis stellen entwicklungsbe­ dingte Störungen der Aussprache den größten Teil der Therapieindikationen dar (Prävalenz: 3–10 %, National Institute of Deafness and other Communication Disorders 1994; Gierut 1998). Abhängig von Ursache und Symptoma­ tik sind völlig unterschiedliche therapeutische Vorgehensweisen erforderlich. Zur → Klassifi­ kation kindlicher Aussprachestörungen findet sich eine Vielzahl von Ansätzen. Ätiologisch orientierte Klassifikationen Eine erste ätiologisch orientierte Einteilung ist die in „organisch bedingte“ und „funktionelle“ Aussprachestörungen: Organisch bedingte Aussprachestörungen (vgl. 2) können vorliegen als • zentral bedingt (vgl. 2.1) in Form von kindlichen Dysarthrien (kongenital oder erworben), • peripher bedingt (vgl. 2.2) in Form von Dysglossien, • audiogene Aussprachestörungen (im Rahmen von → Hörstörungen) oder • Teilsymptomatik einer so genannten „geistigen Behinderung“. Funktionelle Aussprachestörungen (vgl. 3.1) lassen sich unterteilen in: • „phonetische Störungen“ (Synonym: „Ar­ tikulationsstörungen“), als Störungen der Artikulationsmotorik, und • „phonologische Störungen“, als sprach­ systematische Störungen.

Dabei sind die bis heute häufig verwendeten Termini „Dyslalie“ und „Stammeln“ als ver­ altet zu betrachten, da sie einseitig eine peri­ phere, artikulationsmotorische Pro­blematik suggerieren. Im Zuge des zunehmenden Ein­ flusses der kognitiven Neuropsychologie so­ wie linguistischer und psycholinguistischer Modellvorstellungen setzt sich die oben ge­ nannte Unterscheidung nach phonetischen und phonologischen Störungen (→ Sprachent­ wicklung und Sprachabbau) mit dem Oberbe­ griff „kindliche Aussprachestörungen“ durch. Eine Sonderstellung nehmen die verbalen Entwicklungsdyspraxien bzw. kindlichen Sprech­apraxien (vgl. 3.2) ein, die aufgrund der angenommenen neurologischen Ursa­ chen den organischen Störungen zuzuord­ nen wären, bei deren Vorliegen aber bislang keine neurologischen Störungen nachweisbar waren (Fox 2007, 92). Sie werden daher, zu­ sammen mit den phonetischen und phonolo­ gischen Störungen unter dem Begriff entwicklungsbezogene Störungen (vgl. 3) subsumiert. Es handelt sich um Störungen der zentralen Planung und Steuerung der Artikulation, de­ ren Differen­zialdiagnostik eine besondere Herausforderung darstellt. Des Weiteren ist im Rahmen von Ausspra­ chestörungen auch das sog. „Näseln“ (Rhinophonie, Rhinolalie) (vgl. 4) zu berücksichtigen, wobei hier ebenfalls zwischen organischen und funktionell bedingten Formen differen­ ziert wird.

2 Organisch bedingte kindliche Aussprachestörungen Grundsätzlich ist zwischen „zentral“ und „pe­ ripher“ bedingten kindlichen Sprechstörun­

348 

Aussprachestörungen

gen zu unterscheiden. Zentral bedingt sind Sprechstörungen, denen eine Schädigung auf neuronaler Ebene zu Grunde liegt, peripher bedingte Sprechstörungen liegen vor bei Schä­ digung der Artikulationsorgane oder der ver­ sorgenden peripheren Nerven.

2.1 Zentral bedingte ­Sprechstörungen: kindliche ­Dysarthrien Zentral bedingte Sprechstörungen können als Sprechapraxien oder Dysarthrien vorliegen. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf kindliche Dysarthrien. Klinik

Definition „Dysarthrien“ als zentrale Störungen der Sprechmotorik sind neurogene Sprechstörun­ gen (→ Neurologische Sprach- und Sprechstö­ rungen), die durch Läsionen der am Sprechen beteiligten neuronalen Strukturen zustande kommen. Sie äußern sich in einer Störung der Steuerung und Ausführung von Sprechbe­ wegungen, die sich als Schwäche, Verlangsa­ mung, Fehlkoordination, veränderter Muskel­ tonus, motorische Fehlfunktion (Dyskinesie) und/oder Störung der Sprechmelodie (Dysprosodie) zeigen können. Zusätzlich können At­ mung und Phonation beeinträchtigt sein. Die schwerste Form der Dysarthrie ist die „Anar­ thrie“, die vollständige Unfähigkeit, Artikula­ tionsbewegungen auszuführen (→ Unterstütz­ te Kommunikation). Klassifikation Abhängig von der Lokalisation der Schädi­ gung werden verschiedene Formen erwor­ bener Dysarthrien des Erwachsenenalters beschrieben (vgl. weiterführund → Neurolo­ gische Sprach- und Sprechstörungen). Diese Einteilung lässt sich nicht ohne weiteres auf kindliche Dysarthrien übertragen. Murdoch et al. (1990, 308–341) schlagen aus pragmati­ schen Gründen ein Klassifikationssystem er­ worbener kindlicher Sprechstörungen vor, das

sich an Klassifikationen erworbener Dysarth­ rien des Erwachsenenalters orientiert: „While the difficulty of applying models and theories developed for adults with acquired neurolo­ gical disorders to children, particularly those still acquiring language, is acknowledged, un­ til more information becomes available to re­ fute their appropriateness it appears that such models are all that is available, at this stage, to help clinicians in the assessment and treat­ ment of children with acquired speech disor­ ders“ (Murdoch et al. 1990, 308). Zur Notwendigkeit einer eigenen Klassi­ fikation erworbener kindlicher Dysarthrien vgl. dagegen van Mourik et al. (1997, 1998). Dysarthrische Störungen, die angeboren, das heißt kongenital im Rahmen von Zereb­ ralparesen auftreten, sind von den erworbenen Dysarthrien abzugrenzen. Kongenitaler Bedingungshintergrund Bei kongenitalen kindlichen Dysarthrien ver­ stärkt sich das Problem der mangelnden Über­ tragbarkeit von Erkenntnissen zu neurogenen Sprechstörungen des Erwachsenenalters auf das noch in der Entwicklung befindliche hirn­ geschädigte Kind. So sind Beschreibungen von Symptomen der Sprechstörungen im Zusam­ menhang mit kongenitalen Hirnschädigun­ gen eher allgemeiner Natur. Genannt werden Störungen der Gesichts- und Mundmotorik, gestörte Willkürmotorik des Mundes, das Persistieren früher oraler Reflexe sowie Be­ einträchtigungen von Atmung und Phonation (Hinum 2000, 270–287). Erkrankungen und Schädigungen des Ge­ hirns (Enzephalopathien) im Kindesalter ver­ ursachen häufig Störungen der Sprach- und Sprechentwicklung. Zu nennen sind u. a. ze­ rebrale Fehlbildungen, intrazerebrale Blutun­ gen (besonders bei Frühgeburten), zerebra­ le Schädigungen infolge eines so genannten „Wasserkopfes“ (Hydrozephalus), genetisch bedingte Enzephalopathiesyndrome, viral bedingte Enzephalopathie (z. B. Cytomegalievirus, CMV), Epilepsien oder SauerstoffUnterversorgung (Hypoxien). Bei kongenital bedingten Zerebralparesen kommen Dys­

Organisch bedingte kindliche Aussprachestörungen   349



arthrien häufig vor (etwa 30 % der Patienten mit zerebraler Bewegungsstörung, Bigenzahn 2008). Medizinisch-diagnostische Verfah­ ren sind die Computertomographie (CT), die Magnetresonanztomographie (MRT), die Li­ quoruntersuchung sowie Blut- und Urinana­ lysen. Otapowicz et al. (2007) propagieren CT und MRT als sensitives Diagnostikum zur Vorhersage des Schweregrades und Verlaufs von Dysarthrien im Rahmen zerebraler Be­ wegungsstörungen. Erworbener Bedingungshintergrund Von den kongenitalen zerebralen Hirnschä­ digungen sind die erworbenen abzugrenzen, die durch ein plötzliches Ereignis im Entwick­ lungsverlauf hervorgerufen werden und die Sprechfunktionen beeinträchtigen können. Symptomatik und Verlauf müssen unter Be­ rücksichtigung des bisher erworbenen Sprach­ entwicklungsstandes betrachtet werden. Hier sind Traumata, Blutungen, Hypoxien infolge von Unfällen, Hirntumore, Infektionen und – im Kindesalter selten – Hirninfarkte (Apoplexien) zu nennen. Bei all diesen schwerwiegenden neurolo­ gischen Störungen stellen sprechmotorische Probleme im Sinne von Dysarthrien in der Regel nur ein Teilsymptom eines komplexen Störungsbildes dar, bei dem die einhergehen­ den ganzkörperlichen Bewegungsstörungen im Vordergrund stehen. Diagnostik

Die sprachtherapeutische Diagnostik erfolgt ausgehend von der anamnestischen Erfragung von Besonderheiten im Entwicklungsverlauf wie Schwierigkeiten der Nahrungsaufnahme, Auffälligkeiten der Sprachentwicklung, un­ deutliches Sprechen oder Probleme im Sozial­ verhalten. Eine umfassende Diagnostik beinhaltet die Beurteilung folgender Teilfunktionen: • Untersuchung der Grob- und Feinmoto­ rik, insbesondere Haltung, Rumpfstabi­ lität, Mobilität

• Beweglichkeit der Extremitäten • Beurteilung von Atmung und Phonation • Einschätzung der Sensibilität und Re­ flexaktivität im Mund- und Gesichtsbe­ reich • Überprüfung der willkürlichen Beweg­ lichkeit der Artikulationsorgane • eine Beurteilung der Nahrungsaufnah­ me bei verschiedenen Konsistenzen zur Abklärung einer Dysphagie (→ Schluck­ störungen) • Beurteilung der sprachsystematischen Fähigkeiten und Sprechfunktionen • Einschätzung der Verständlichkeit. Je nach Ausmaß der Beeinträchtigungen wer­ den ggf. die allgemeinen pragmatisch-kom­ munikativen Kompetenzen mit dem Ziel einer Versorgung mit Hilfsmitteln zur → Unter­ stützten Kommunikation überprüft. Therapie

In dem komplexen, interdisziplinären Gesamt­ konzept der Therapie zerebraler Bewegungs­ störungen stellt die Behandlung der dysar­ thrischen Symptome nur einen von mehreren Schwerpunkten dar (vgl. Stiller 2006). Das sprachtherapeutische Gesamtkonzept umfasst folgende Schwerpunkte: • Hemmung pathologischer Bewegungs­ muster • Mund- und Esstherapie, Verbesserung orofazialer Funktionen • sprachsystematische Förderung • Behandlung dysarthrischer Störungen • Einsatz unterstützender und alternativer Kommunikationssysteme • begleitende Elternberatung. Oft können schon durch die Hemmung pa­ thologischer Bewegungsmuster und die Mund- und Esstherapie Verbesserungen der Sprechmotorik erreicht werden. In diesem Zusammenhang ist als verbreitete Methodik die orofaziale Regulationstherapie (CastilloMorales et al. 1998) zu nennen (→ Schluck­

350 

Aussprachestörungen

störungen). Spezifische Artikulationstherapie erfolgt individualisiert und ggf. unter Ein­ satz von Biofeedback-Verfahren. Eine Stu­ die zum Einsatz der Elektropalatographie als Biofeedback-Verfahren schildern Morgan et al. (2007). Schwerpunkte der Behandlung er­ geben sich aus der Primärsymptomatik. Eine Unterscheidung zwischen primär hyper- oder hypotoner Symptomatik erweist sich hier als sinnvoll. Hypotone Kinder profitieren eher von aktivierenden, tonuserhöhenden Übun­ gen; bei hypertonen Kindern sollte dagegen eine zu starke Tonuserhöhung vermieden wer­ den. Die Prognose der dysarthrischen Stö­ rungen ist bei Kindern mit cerebralen Bewe­ gungsstörungen eher schlecht.

2.2 Peripher bedingte ­Sprechstörungen: kindliche ­Dysglossien Klinik

In Abgrenzung von den zentral bedingten Störungen des Sprechens sind die „Dysglos­

sien“ als Störungen der Aussprache durch or­ ganische Veränderungen an den peripheren Sprechorganen oder den versorgenden peri­ pheren Nerven definiert. Ätiologisch können kongenital, paralytisch, hormonal, traumatisch oder postoperativ bedingte Dysglossien un­ terschieden werden. Anhand der Lokalisation werden labiale, dentale, linguale, veolopharyn­ geale und nasale Dysglossien unterschieden. Eine besondere Form der kongenitalen, und damit im Kindesalter relevanten Dysglossie, stellen die „Lippen-Kiefer-Gaumenspalten“ (LKGS) dar, die neben dem Kardinalsymptom des „offenen Näselns“ (vgl. 4) mit Störungen der Sprachentwicklung, der Phonation, der Artikulationsmotorik und Praxie einhergehen und einer umfassenden, zeitlich exakt abge­ stimmten interdisziplinären Behandlung ein­ schließlich des operativen Spaltenverschlusses bedürfen. Die Abbildungen 1–5 stellen Bei­ spiele für unterschiedliche Ausprägungen von Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten dar, jeweils vor und nach operativem Verschluss. Die häufigen Mittelohrbelüftungsprobleme mit Schleim- und Flüssigkeitsansammlung in der Paukenhöhle (Seromukotympanon) und

Abb. 1:  Inkomplette Lippenspal­ te; Vergleich von 1994 und 2006 (mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. U. Joos, Universitäts­ klinik Münster)

Abb. 2: Isolierte Velumspalte, prä- und postoperativ (mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. U. Joos, Univer­ sitätsklinik Münster)

Organisch bedingte kindliche Aussprachestörungen   351



Abb. 3: Einseitige komplette Lippen-Kiefer-Gaumenspalte; Vergleich 1983 und 2002 (mit freundlicher Genehmi­ gung von Prof. U. Joos, Universitätsklinik Münster)

konsekutiver Schallleitungsschwerhörigkeit (→ Hörstörungen) erfordern HNO-ärztliche und pädaudiologische Kontrollen und oftmals auch operative Therapiemaßnahmen zur Tu­ benbelüftung (z. B. Einlage von Paukenröhr­ chen). Die reine Sprech-Therapie, die etwa im dritten Lebensjahr einsetzt und das betroffe­ ne Kind bis zur Einschulung (und ggf. auch länger) begleitet, umfasst tonusregulieren­ de Maßnahmen, Wahrnehmungsförderung, Atem- und Stimmtherapie, Muskelfunktions­ training und Lautanbahnung. Für eine aus­ führliche Darstellung vgl. Wohlleben (2006). Als weitere kraniofaziale Fehlbildungssyn­ drome nennt Böhme (2003): • • • • •

submuköse Gaumenspalte velokardiofaziales Syndrom Down-Syndrom Apert-Syndrom Crouzon-Syndrom

• • • • • •

Franceschetti-Syndrom Goldenhar-Syndrom Pfaundler-Syndrom Waardenburg-Syndrom Sedlackova-Syndrom Pierre-Robin-Syndrom.

Die deutlich erhöhte Inzidenz von Schalllei­ tungs- und Schallempfindungsstörungen bei nahezu allen Formen der kraniofazialen Fehl­ bildungen erfordert vor Aufnahme therapeu­ tischer Maßnahmen stets eine Abklärung des Hörvermögens. Diagnostik

Zur ärztlichen Diagnostik peripher bedingter Sprechstörungen führt Böhme (2003) folgen­ de Schritte auf: Inspektion und Palpation der Artikulationsorgane, kieferorthopädische Un­ tersuchungen, Ultraschalluntersuchung von

352 

Aussprachestörungen

Abb. 4: Komplette Lippen-Kiefer-Gaumenspalte links, inkomplette Lippen-Kiefer-Gaumenspalte rechts; Vergleich 1997 und 2006 (mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. U. Joos, Universitätsklinik Münster)

Artikulation und Schluckmuster, Videokine­ matographie, Erhebung des neurologischen Status sowie die akustische Beurteilung (Laut­ prüfung, elektroakustische Schallanalysen). Die Diagnostik aus sprachtherapeuti­ scher Sicht umfasst die Beurteilung der Na­ salität, die Einschätzung der Beweglichkeit der Artikulationsorgane, die Beurteilung der Schluckfunktion, die Überprüfung der Arti­ kulation und Verständlichkeit sowie den Aus­ schluss sprachsystematischer Entwicklungs­ störungen. Therapie

Das sprachtherapeutische Vorgehen erfolgt in­ dividualisiert aufgrund der spezifischen Sym­ ptomkonstellation des einzelnen Kindes. Es werden individuelle Therapieziele mit dem

betroffenen Kind und (altersabhängig) unter Einbezug der Eltern entwickelt. Therapieinhalte können folgendes Spekt­ rum umfassen: • Stimulationstechniken im Sinne der orofazialen Regulationstherapie (Castil­ lo Morales et al. 1998) • Erweiterung der Beweglichkeit der Arti­ kulationsorgane • Regulierung der Schluckfunktion • Regulierung der Nasalität • Artikulationstherapie • sprachsystematische Förderung • Erarbeitung kompensatorischer Tech­ niken zur Optimierung des Schluckvor­ gangs und/oder der Artikulation • Biofeedback



Entwicklungsbezogene ­Aussprachestörungen   353

Abb. 5: Extreme Lippen-Kiefer-Gaumenspalte beidseits; Vergleich 1992 und 2006 (mit freundlicher Genehmi­ gung von Prof. Dr. U. Joos, Universitätsklinik Münster)

3 Entwicklungsbezogene ­Aussprachestörungen Entwicklungsbezogene Aussprachestörungen können abhängig vom jeweiligen theoreti­ schen Bezugssystem unterschiedlich klassifi­ ziert werden. Quantitativ-qualitative Einteilungen Quantitativ lassen sich Aussprachestörungen nach der Anzahl der betroffenen Laute bei­ spielsweise als „isoliert“, „partiell“, „multipel“ oder „universell“ einteilen, was einen An­ haltspunkt bezüglich der Verständlichkeit der Spontansprache zulässt (vgl. Tab. 1). Eine ergänzende qualitative Einteilungs­ möglichkeit ist die nach Konstanz und Konsequenz bzw. Konsistenz der Fehlbildungen. Konstante Lautfehlbildungen oder -erset­

zungen treten in jeder Position und in jedem sprachlichen Kontext auf, inkonstant ist eine Lautfehlbildung, wenn der Laut in bestimm­ ten Kontexten korrekt gebildet werden kann. Eine konsequente Fehlbildung liegt vor, wenn der Laut immer auf dieselbe Art realisiert wird, eine inkonsequente, wenn verschiedene fehlerhafte Realisierungen eines Lautes vor­ kommen. Linguistisch-deskriptive Ansätze Linguistisch-deskriptive Ansätze beschreiben auf Segmentebene die von der Aussprachestö­ rung betroffenen Laute: Der griechischen Lautbezeichnung wird die Endsilbe „-ismus“ oder „-zismus“ angehängt (z. B. „Kappazis­ mus“, wenn der Laut [k] betroffen ist). Die Vorsilbe „A-“ bezeichnet die völlige Auslas­ sung (z. B. „Asigmatismus“: [zi:p]/ → [i:p]), die Vorsilbe „Para-“ die Ersetzung eines Lautes

354 

Aussprachestörungen

Tab. 1: Quantitative Einteilung der Aussprache­störungen quantitative Einteilung der Aussprachestörung

Anzahl betroffenen Laute

isoliert

1 Laut

partiell

2–3 Laute

multipel

> 3 Laute

universell

größter Teil der Laute erhebliche Einschränkung der Verständlichkeit

durch einen anderen (z. B. „Parasigmatismus“: [bus] → [but]). Auch die Unterscheidung zwischen pho­ netischen und phonologischen Störungen (mit diagnostischer Erhebung des Phonemin­ ventars und phonologischer Prozessanalyse; →  Sprachentwicklung und Sprachabbau) ist den linguistisch-deskriptiven Ansätzen zu­ zuordnen. Fox (2007, 95) kritisiert hier jedoch den rein deskriptiven Anspruch ohne Aussa­ ge dazu, ob die Lautrealisierungen altersge­ mäß sind oder nicht. Psycholinguistischer Ansatz Im psycholinguistischen Ansatz werden die Aussprachestörungen modellorientiert be­ stimmten Verarbeitungsstufen zugeordnet mit dem Ziel, differenzielle Therapieansätze zu finden. Fox (2007) zitiert in diesem Zusam­ menhang das Sprechverarbeitungsmodell von Stackhouse & Wells (1997, vgl. Abb. 6): Hier­ nach werden Prozesse der Inputverarbeitung von Prozessen der Speicherung und der Outputgenerierung unterschieden. Je nachdem, auf welcher Modellebene eine Aussprachestörung anzusiedeln ist, sind unterschiedliche thera­ peutische Maßnahmen erforderlich.

3.1 Funktionelle kindliche Aussprache­störungen: ­Phonetische Störungen Klinik

Im Gegensatz zu den „phonologischen Stö­ rungen“, die den sprachsystematischen Störun-

gen zuzuordnen sind (vgl. weiterführend →  Sprachentwicklung und Sprachabbau), handelt es sich bei den „phonetischen Stö­ rungen“ um Sprechstörungen im eigentlichen Sinne. Im natürlichen Sprechfluss ist die mo­ torische Realisierung eines Lautes gestört und der Ziellaut wird durch einen nicht-mutter­ sprachlichen oder konstant durch einen mut­ tersprachlichen Laut ersetzt. Auch auf isolier­ ter Lautebene ist das Kind nicht in der Lage, den Ziellaut korrekt zu bilden. Häufig vor­ kommende Beispiele sind die Störungen bei der s-Laut-Bildung (Sigmatismen). Ihre Häu­ figkeit (30–40 % aller Kinder mit Artikulati­ onsstörungen, Fox 2007) erklärt sich dadurch, dass die korrekte Bildung des s-Lautes eine sehr präzise taktil-kinästhetische Wahrneh­ mung und motorische Feinregulierung der Zungenlage erfordert. Angesichts des extrem hohen Anteils an Kindern mit Sigmatismen schlägt Fox (2007, 237) vor, dieses Phänomen weniger als Störung denn als Normvariante (→ Norm und Differenz) zu definieren. Da nur 7 % der Kinder mit isolierten Sigmatis­ men mundmotorische Auffälligkeiten zeigen, ist die häufigste Ursache ein falsch erworbenes Artikulationsmuster (Fox 2007, 192). Die häu­ figste Form ist der Sigmatismus interdentalis; es können jedoch eine Vielzahl weiterer Va­ rianten der s-Laut-Bildung beschrieben wer­ den. Böhme (2003, 77) beispielsweise unter­ scheidet 16 verschiedene Sigmatismusformen. Ein weiteres Phänomen ist die multiple Interdentalität, bei der mehrere oder alle Al­ veolare (→ Hören und Sprechen) interdental realisiert werden. Sie tritt oft im Zusammen­



Entwicklungsbezogene ­Aussprachestörungen   355

Abb. 6: Sprechverarbeitungsmodell nach Stackhouse & Wells (1997) – Prozesse der Inputverarbeitung: einfache Kästen – Prozesse der Speicherung: fett umrahmte Kästen – Prozesse der Outputgenerierung: mit Doppellinien umrahmte Kästen

hang mit orofazialen Muskelfunktionsstö­ rungen oder orofazialen Dysfunktionen (Böh­ me 2003, 83–92) auf (→ Schluckstörungen). Die eingangs eingeführte strikte Trennung zwischen phonetischen und phonologischen Störungen ist allerdings vornehmlich theore­ tischer Natur. In der Praxis treten beide Stö­ rungsbilder häufig kombiniert auf. Diagnostik

Anamnese Bei Vorliegen einer kindlichen Aussprachestö­ rung ist zunächst eine ausführliche Anamne­ se Ausgangspunkt jeder weiteren Diagnostik. Hierbei werden Risikofaktoren wie Komplika­ tionen bei Schwangerschaft und Geburt oder

Hinweise auf eine familiäre Disposition er­ fragt, Daten zur motorischen, sensorischen, orofazialen, sprachlichen und Verhaltensent­ wicklung erhoben, Hinweise auf Hörstörun­ gen oder mögliche neurologische Erkran­ kungen ermittelt. Ärztlicherseits muss der Ausschluss einer → Hörstörung und von zen­ tralen oder peripheren Störungen der Arti­ kulationsmotorik erfolgen. Gegebenenfalls ist eine weiterführende Diagnostik im Sinne ei­ ner allgemeinen Entwicklungsdiagnostik mit Intelligenzdiagnostik, einer gezielten Über­ prüfung der Wahrnehmungsfunktionen oder einer Verhaltensdiagnostik erforderlich. In jedem Fall sollte die sprachbezogene auditive Wahrnehmung, dabei insbesondere die Laut­ differenzierung überprüft werden. Eventuell

356 

Aussprachestörungen

ergibt sich aufgrund der Anamnese und der Beobachtung der Spontansprache die Not­ wendigkeit einer vollständigen Sprachentwicklungsdiagnostik (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau). Optional kann zur genaueren Analyse der Artikulationsbewegungen zusätz­ lich eine Palatographie durchgeführt werden, bei der Bewegungen der Zunge und Kontakt­ stellen am Gaumen computergestützt visua­ lisiert werden. In der klinischen Praxis spielt

dieses Verfahren jedoch eine untergeordnete Rolle. Ausspracheüberprüfung und phonologische Prozessanalyse Kernstück der Diagnostik stellt die Über­ prüfung der Lautbildung anhand von standardisierten Tests dar. Für den deutschen Sprach­raum liegt hierzu eine Vielzahl an dia­ gnostischen Verfahren vor. Für einen aktuel­

Tab. 2: Übersicht über deutschsprachige prozessorientierte Verfahren zur Diagnostik kindlicher Aussprache­ störungen (gekürzt, nach Allemand et al. 2008) Benenntest

Zielgruppe

linguistische Item­auswahl

Itemumfang/ Darstellung

DatenNotierung

Normierung

LOGO-Ausspracheprü­ fung (Wagner 1994)

Kinder mit multip­ ler oder universeller Dyslalie ab 2;8 J.

• K und KV in allen Positionen • 1–5-Silber

• 108 farbige Zeichnungen • DIN A4 Ring­ buch

• Transkription • vollständige Äußerung

Nein

ADD Aachener Dyslaliedia­ gnostik (Stiller & Tockus 2000)

Vorschul­ kinder

• nicht alle K und KV ­unter Berücksichti­ gung der Wortposi­ tionen • 1–3-Silber

• 98 Farbfotos • PC-Version

• Transkription • vollständige Äußerung • PC-Eingabe möglich

Nein

AVAK Analyseverfahren zu Aussprachestörungen bei Kindern (Hacker & Wilgermein 2002)

Vorschul­ kinder

• K in allen Positio­ nen, einige KV nicht in allen Positionen • 1–5-Silber

• 113 s/w-Zeich­ • Transkription nungen • vollständige • DIN A4-Blatt Äußerung

Patholinguistische Diagnostik von Sprach­ entwicklungsstörungen (Kauschke & Siegmüller 2002)

Kinder mit Aussprache­ störung

• K und KV in allen Positionen • 1–3-Silber

• 85 farbige Zeichnungen • DIN A4 Ring­ buch

Bilderbuch zur Aus­ spracheprüfung von Kindern (Hild 2002)

Kinder mit Aussprache­ störung

• K in allen Positi­ onen, KV nicht in allen Positionen • 1–4-Silber

• 114 s/w-Zeich­ • Transkription nungen • vollständige • DIN A4 Ring­ Äußerung buch

Nein

PAP Pyrmonter Aussprache­ prüfung (Babbe 2003)

Vorschul­ kinder

• K in allen Positi­ onen, KV nicht in allen Positionen • 1–4-Silber

• 100 s/w• Transkription Zeichnungen • vollständige • DIN A4 Ordner Äußerung

Nein

PLAKSS Psycholinguistische Analyse kindlicher Aus­ sprachestörungen (Fox 2005)

Kinder mit Aussprache­ störung

• K und KV in allen Positionen • 1–3-Silber • Inkonsequenztest

• 99 farbige Zeichnungen • DIN A4 Ring­ buch

Ja

K = Konsonanten, KV = Konsonantenverbindungen, s/w = schwarz/weiß

• Transkription • vollständige Äußerung

• Transkription • vollständige Äußerung

Nein

Ja



Entwicklungsbezogene ­Aussprachestörungen   357

len Überblick vgl. Allemand et al. (2008). Die Spontansprachanalyse spielt als Diagnostikver­ fahren zur Ausspracheentwicklung eher eine untergeordnete Rolle. Sie kann relevant sein, wenn ein Benenntest mit einem Kind nicht durchführbar ist, oder als Verlaufskontrolle zur Überprüfung des Transfers von Therapieinhal­ ten. Ein Vorschlag zur Ausspracheüberprüfung anhand einer Spontansprachanalyse findet sich bei Schrey-Dern (2006). Die übliche Methode ist jedoch die Durchführung eines Benenntests, bei dem Bildbenennungen des Kindes syste­ matisch analysiert werden. Dabei entsprechen segmentorientierte Verfahren, die lediglich das Ziel der Aufdeckung fehlerhafter Realisierun­ gen von Sprachlauten haben, nicht mehr dem aktuellen Forschungsstand. Zur sinnvollen Differenzialdiagnose und zur Ableitung von Therapiezielen ist ein prozessorientiertes Ver­ fahren zu bevorzugen. Notwendig ist dabei eine vollständige Transkription der kindlichen Äußerungen, eine Itemmenge, die die ein- bis zweimalige Überprüfung aller Phoneme des Deutschen in jeder möglichen Wortposition und mindestens aller wortinitialen Konsonan­ tenverbindungen sowie unterschiedlicher Sil­ benstrukturen ermöglicht. Eine phonologische Prozessanalyse (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau) ist für die Differenzialdiagno­ se und die Festlegung der Therapieziele not­ wendig. Ausnahmen stellen isolierte Lautfehl­ bildungen und inkonsequente Störungen dar. Hier erübrigt sich die Durchführung der auf­ wändigen phonologischen Prozessanalyse. Die einzigen Verfahren für den deutschsprachigen Raum, die sich auf aktuelle Normdaten stützen, sind die „Patholinguistische Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen“ (Kauschke & Siegmüller 2002) und die „Psycholinguistische Analyse Kindlicher Aussprachestörungen  – PLAKSS“ (Fox 2005). Die PLAKSS bietet zu­ sätzlich als einziges Verfahren die Möglichkeit eines Inkonsequenztests (25-Wörter-Test). Ta­ belle 2 zeigt die deutschsprachigen prozessori­ entierten Verfahren im Überblick. Ein Vorschlag zur Berücksichtigung des psycholinguistischen Modells von Stackhouse & Wells (1997) findet sich bei Fox (2007).

Abklärung einer myofunktionellen Störung Bei Vorliegen einer isolierten phonetischen Störung sind die Überprüfung der orofazi­ alen sensomotorischen Funktionen und die Abklärung einer möglichen myofunktio­nellen Störung notwendig. Während in der logopä­ dischen/sprachtherapeutischen Praxis eine Überprüfung der Mundmotorik noch heute einen großen Raum bei der Diagnostik jeg­ licher kindlicher Aussprachestörungen ein­ nimmt, stellt Fox (2007, 230 f.) die Relevanz dieses Bereiches für die spätere Therapie bei einem Großteil der betroffenen Kinder in ­Frage. Therapie

Bei reinen phonetischen Störungen empfiehlt sich die Durchführung der Behandlung nach dem Therapiekonzept von van Riper & Irwin (51994, „klassische Artikulationstherapie“). Es umfasst 3 Bereiche: 1. mundmotorische Übungen zur Verbesse­ rung des Muskeltonus und der Wahrneh­ mung der zu erarbeitenden korrekten Ar­ tikulationsstelle 2. Hörübungen zur Identifikation des Ziel­ lautes und zur Abgrenzung von inkorrek­ ter und korrekter Lautbildung 3. Lautanbahnung in hierarchisch geglieder­ ter Abfolge bezüglich der Komplexität des sprachlichen Kontextes (➝ isoliert, auf ➝ Silben-, ➝ Wort- und ➝ Satzebene, ➝ ge­ lenkte Spontansprache, ➝ Spontanspra­ che) und bezüglich der Lautposition (➝ in­ itial, ➝ medial, ➝ final). Zur Therapie der isolierten Sigmatismen ohne myofunktionelle Störung fordert Fox (2007, 237 ff.) angesichts der hohen Inzidenz und der motivationsbedingt häufigen Therapieresistenz dieser relativ geringgradigen Störung eine Öko­ nomisierung im Sinne eines Gruppenangebo­ tes und einer klaren zeitlichen Begrenzung. Von diesem Konzept der klassischen Ar­ tikulationstherapie klar abzugrenzen ist die Therapie der phonologischen Störungen (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau).

358 

Aussprachestörungen

3.2 Verbale Entwicklungsdyspraxie/ kindliche Sprechapraxie Klinik

Die Terminologie zur Beschreibung von kindli­ chen Störungen der „Praxie“ ist nicht einheitlich: Begriffe wie „verbale Entwicklungs­dyspraxie“, „kindliche Sprechapraxie“, „artikulatorische Entwicklungsdyspraxie“ werden synonym ver­ wendet. Auch die Definition des Störungsbil­ des ist nicht einheitlich. Birner-Janusch zi­ tiert 9 verschiedene Definitionsansätze, die sie wie folgt zusammenfasst: „Allen Definitionen ist gemeinsam, dass die willkürliche Planung und Programmierung der Sequenzierung von Sprechbewegungen für die Kinder mit Sprecha­ praxie das Kardinalsymptom darstellt. Andere Symptome können, müssen aber nicht hinzu­ kommen“ (Birner-Janusch 2007, 74). Zur Diskussion um die Existenz des Stö­ rungsbildes vgl. Hall (1992). Leitsymptome sind inkonsistente Sprechproduktionen, pro­ sodische Auffälligkeiten und Schwierigkei­ ten bei der willkürlichen Sequenzierung von Sprechbewegungen. Eine Abgrenzung von der „bukkofazialen Apraxie“ bzw. „oralen Dyspraxie“, bei der die Steuerung nichtsprachlicher willkürlicher Be­ wegungen der Artikulationsmuskulatur ge­ stört ist, ist differenzialdiagnostisch sinnvoll, oft tritt jedoch eine Kombination beider Stö­ rungsbilder auf. Als mögliche Ursachen kommen geneti­ sche, metabolische und neurologische Fak­ toren in Betracht. Eine endgültige Abklärung der Ursachen steht jedoch noch aus. Diagnostik

Der Verdacht einer verbalen Entwicklungs­ dyspraxie besteht bei stark unverständlichem Sprechen (universelle Aussprachestörung, vgl. Tab. 1) mit deutlich inkonsequenten Lautrea­ lisierungen und häufigen Suchbewegungen. In diesem Fall sollte der Ausschluss dieser relativ seltenen Störung (3–5 % aller Kinder mit Aus­ sprachestörungen, Shriberg 1994) erfolgen. Zur Diagnostik zitiert Birner-Janusch (2007)

ein englischsprachiges standardisiertes Ver­ fahren, das „Verbal Motor Production Assess­ ment for Children“ (Hayden & Square 1999). Hayden (1994) definiert das Störungsbild als Ausschlussdiagnose. Vor Diagnosestellung müssen folgende Befunde ausgeschlossen wer­ den: • Hörstörung • kraniofaziale Störung • Intelligenzminderung • Störung des Sprachverständnisses • emotionale Störung • Störung des pragmatischen Sprachgebrauchs. Für die deutsche Sprache liegt noch kein nor­ miertes und standardisiertes Verfahren vor. Birner-Janusch (2007) empfiehlt folgende di­ agnostische Kriterien: • Ausschluss einer allgemeinen orofazia­ len Schwäche oder eingeschränkten Be­ weglichkeit der Artikulatoren • deutlich bessere rezeptive als expressive Sprachleistungen • Überprüfung der Fehlerkonsistenz anhand des 25-Wörter-Tests aus der PLAKSS (Fox 2005): Werden bei 3-ma­ liger Benennung der Wörter mindestens 12 nicht konsistent produziert, wird eine inkonsequente phonologische Störung angenommen. Ein Ausschluss einer ver­ balen Entwicklungsdyspraxie muss in diesem Fall erfolgen. • Ermittlung des Prozentsatzes inkorrek­ ter Produktionen bezogen auf die Wort­ anzahl. • Ermittlung der generellen Konsistenz des Fehlertyps (Werden eher konstant dieselben Fehlertypen gemacht, oder wird ein Wort unterschiedlich fehlerhaft realisiert?) – Eine geringe Konsistenz ist ein typisches Symptom der verbalen Ent­ wicklungsdyspraxie. • Konsistenz des am häufigsten gemachten Fehlertyps. Eine hohe Konsistenz des am häufigsten gemachten Fehlertyps spricht gegen eine verbale Entwicklungsdyspra­ xie.

Näseln im Kindesalter ­(Rhinophonie, Rhinolalie)   359



• Durchführung von Nachsprechaufgaben (bezogen auf Vokale, Konsonanten, Pseu­ dowörter und Wörter). Insbesondere das Nachsprechen artikulatorisch komplexer Pseudowörter stellt für die betroffenen Kinder eine große Schwierigkeit dar und ist demnach als wichtiges differenzialdia­ gnostisches Kriterium zu werten. • Ermittlung der diadochokinetischen Ra­ te  (maximale Wiederholungsgeschwin­ digkeit bei wechselnden Silbenfolgen, wie pa-ta-ka) und der Frikativhalte­ dauer als Teilaspekte mit extrem hoher Sensitivität bei der Diagnosefindung • automatisierte Sprache: Eine höhere ar­ tikulatorische Konsistenz bei automa­ tisiertem Sprechen im Vergleich zum spontanen Sprechen ist ein weiteres In­ diz für das Vorliegen einer verbalen Entwicklungsdys­praxie. • Prosodie – Beurteilung von Lautstär­ ke, Tonhöhenverlauf und Wort- und Satzakzentuierung in der Spontanspra­ che, Beurteilung des Betonungsmusters (jambisch oder trochäisch) im 25-Wör­ ter-Test der PLAKSS (Fox 2005).

• Zeitintervall zwischen Stimulus und Reak­ tion. Grundsätzlich werden häufige Wiederholun­ gen und ein multimodales, spielerisches Vor­gehen angestrebt. Der Nutzen isolierter mundmotorischer Übungen wird kontrovers diskutiert: Die Argumentation reicht von der Betrachtung als obligatorischer Therapiebe­ standteil bis hin zum völligen Verzicht. Prin­ zipiell lassen sich einzellautorientierte Ansät­ ze von silben- und wortorientierten Ansätzen unterscheiden. Nach der Form der Stimula­ tion können taktil-kinästhetische von rhyth­ misch-melodischen und gestenunterstützten Ansätzen abgegrenzt werden. In Tabelle 3 sind die differenzialdiagnosti­ schen Kriterien zur Unterscheidung phoneti­ scher, phonologischer Störungen und verba­ ler Entwicklungsdyspraxien zusammen­gefasst. Phonologische Störungen sind entwicklungs­ bedingte Aussprachestörungen, die in Abgren­ zung zu den phonetischen auf sprachsystemati­ scher Ebene anzusiedeln sind (vgl. ausführlich → Sprachentwicklung und  Sprach­ab­bau, → Entwicklungsbedingte Sprach­stö­run­gen).

Eine objektive Schweregradeinteilung ist nach Birner-Janusch (2007) mangels normierter Di­ agnostikverfahren für den deutschen Sprach­ raum nicht möglich.

4 Näseln im Kindesalter ­(Rhinophonie, Rhinolalie)

Therapie

Klinik

Eine ausführliche Übersicht zu Therapieansät­ zen bei verbaler Entwicklungsdyspraxie findet sich bei Birner-Janusch (2007). Grundsätz­ lich sollte die Therapie der Entwicklungsdys­ praxie so frühzeitig und so hochfrequent wie möglich erfolgen. In einem individualisierten Therapieplan können folgende Variablen den Grenzen und Ressourcen und den kommuni­ kativen Bedürfnissen des einzelnen Kindes an­ gepasst werden:

Besondere Berücksichtigung in Diagnostik und Therapie erfordern das „offene“ (aperta) oder „geschlossene“ (clausa) Näseln, die im Kontext unterschiedlicher Störungsbilder auf­ treten können. Beim „Näseln“ ist das Gleich­ gewicht zwischen nasaler und oraler Luft­ stromlenkung bei Phonation und Lautbildung gestört. Es kommt zu einer charakteristischen Stimmklangveränderung (Rhinophonia) und eventuell zu Lautveränderungen (Rhinolalia) durch ein „Zuviel“ (Rhinolalia aperta) oder „Zuwenig“ (Rhinolalia clausa) an nasaler Be­ teiligung. Gemischte Formen werden als Rhi­ nophonia/Rhinolalia mixta bezeichnet. Auch

• Komplexität der Stimuli • Auswahl der zu trainierenden Äußerungen • Kriterien für das Erreichen der nächsten Schwierigkeitsstufe

360 

Aussprachestörungen

Tab. 3: Differenzialdiagnose kindlicher Aussprachestörungen im Überblick, Erweiterung des Klassifikations­ modells nach Dodd (1995)

Kindliche Aussprachestörungen Diagnose

Definition

Artikulationsstörung/ phonetische Störung Unfähigkeit, eine wahrnehmungsmäßig annehm­ bare Version eines Phons zu produzieren, isoliert und in jeglichem phonetischen Kontext

Phonologische Störungen Verzögerte phonologische Entwicklung

Konsequente phonologische Störung

Inkonsequente phonologische Störung

Alle vom Kind produzierten phonologi­ schen Prozesse entsprechen der physiologischen Entwicklung, aber mindestens ein Prozess ist untypisch für das chronologische Alter des Kindes.

Mindestens ein vom Kind produzierter phonologischer Prozess kommt nicht in der physiologischen Entwicklung vor. Zusätzlich können physiologische, altersentspre­ chende oder -un­ typische Prozesse vorkommen.

Bei dreimaliger Produktion von 25 Wörtern wer­ den mindestens 40 % der Wörter inkonsequent produziert. Die Verteilung physiologischer wie unphysiolo­ gischer Prozesse sieht bei jeder Diagnostik an­ ders aus.

Verbale Entwicklungs­ dyspraxie Störung der willkürlichen Planung und Program­ mierung der Sequenzierung von Sprech­ bewegungen

Die Sprachlaute können isoliert korrekt gebildet werden, werden jedoch im sprachlichen Kontext fehlerhaft verwendet. Störungsebene im Modell nach Stackhouse und Wells (1997)

Output­ generierung: motorische Ausführung

kein spezifisches Defizit (Fox 2007, 113)

Fehlerkonstanz und -konsequenz

inkonstant konsequent

inkonstant konsequent

hier wird unterschieden zwischen organisch und funktionell bedingten Störungen. Für eine Übersicht vgl. Tabelle 4. Velopharyngeale Funktionsdiagnostik

Im Rahmen der Diagnostik des Näselns wird zunächst die Beschaffenheit des Naseninnen­ raums und des Nasopharynx durch anterio­ re und posteriore Rhinoskopie beurteilt und ergänzend erfolgt eine Inspektion des har­ ten und weichen Gaumens. Nach der akus­ tischen Beurteilung des Sprechstimmklangs

Inputverarbeitung: phonologi­ sches Erkennen

Speicherung: motorisches Programm

Speicherung: motorisches Programm

Speicherung: phonologische Repräsentation

Outputgenerierung: motorische Planung (zusätzlich: phonologisches Arbeitsgedächtnis)

Output­ generierung: motorisches Programmieren, motorisches Planen

inkonstant konsequent

inkonstant inkonsequent

inkonstant inkonsequent

bei verschiedenen Testwörtern und Silbenrei­ hen schließen sich unterschiedliche subjektive und/oder objektive Funktionsprüfungen an. Subjektive Verfahren: • Hauchspiegelprobe nach Czermak Auf einem kalten, horizontal zwischen Nase und Oberlippe gehaltenen Spiegel wird bei Artikulation der Nasale physio­ logisch ein Beschlag sichtbar. Beim offe­ nen Näseln tritt dieses Phänomen auch bei oralen Lauten und Vokalen auf.



Näseln im Kindesalter ­(Rhinophonie, Rhinolalie)   361

• A-I-Probe nach Gutzmann Kommt es bei fortlaufender Phonation der Vokale [a] und [i] durch Zuhalten der Nase zu einer Klangveränderung, weist dies auf offenes Näseln hin. • Phonendoskop nach Gutzmann Über einen Schlauch, dessen eine Ende in die Nase des Patienten, das andere ins Ohr des Untersuchers gesteckt wird, werden unphysiologische Nasengeräusche beim Sprechen eindeutig hörbar. • Kopfdrehsymptom nach Nadoleczny relevant bei Gaumensegellähmungen: Bei einseitigen Lähmungen wird die Symp­ tomatik des Näselns durch Drehung des Kopfes zur gesunden Seite verstärkt, durch Drehung zur gelähmten Seite verringert. • Wangen aufblasen Das Aufblasen der Wangentaschen ist bei eingeschränktem velopharyngealen Ver­ schluss nicht möglich. Eine Kompensation durch Bewegungen des Zungenrückens ist möglich, im Zweifelsfall soll das WangenAufblasen mit herausgestreckter Zunge erfolgen. • transnasale flexible Endoskopie Dieses Verfahren dient zur Beurteilung des velopharyngealen Ver­schluss­mecha­ nis­­mus. Objektive Verfahren: • Nasometer Bestimmt wird das Verhältnis zwischen nasaler und oraler Schallenergie („Nasa­ lanz“) beim Sprechen. Dieses Verfahren spielt eher bei der Therapiekontrolle eine Rolle. • Rhinomanometrie Bestimmung des nasalen Luftwiderstan­ des • Radiologische Diagnostik Darstellung des weichen Gaumens, der hinteren Rachenwand und der lateralen Pharynxwände bei Phonation und Res­ piration • Hochfrequenzkinematographie • Videofluoroskopie

Therapie

Die Behandlung des Näselns ist abhängig von der Primärsymptomatik und der zugrunde lie­ genden Primärerkrankung: • Liegt ein geschlossenes, offenes oder ge­ mischtes Näseln vor? • Wie stark ist die Symptomatik ausgeprägt? • Handelt es sich um ein organisches oder funktionell bedingtes Näseln? • Tritt die Störung im Rahmen einer peri­ pheren oder zentralen Schädigung auf? • Handelt es sich um ein isoliertes Symptom oder tritt es im Zusammenhang mit kom­ plexen Störungsbildern, wie zum Beispiel Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten oder kon­ genitalen Syndromen auf? Nicht zuletzt bestimmt das Alter des Kindes maßgeblich über Zielsetzung und Methodik der Behandlung. In dem Bewusstsein dieser großen Variationsbreite sollen einige Grund­ prinzipien der funktionellen Übungsbehand­ lung beim Näseln skizziert werden: Fokus­ siert man auf den Aspekt der Nasalität, steht (oftmals nach Schaffung der anatomischen Voraussetzungen auf chirurgischer Seite) die Erarbeitung einer hinreichenden nasalen Luft­ stromlenkung (bei geschlossenem Näseln) bzw. einer hinreichenden oralen Luftstrom­ lenkung, verbunden mit einem angemesse­ nen velopharyngealen Abschluss (bei offenem Näseln) im Vordergrund. Entsprechend stel­ len neben Tonusregulierung und Regulation der Stimmfunktion, Übungen zur Luftstrom­ lenkung und motorischen Funktionsübun­ gen der Artikulationsorgane auch Stimulati­ onstechniken zur Regulation der Sensibilität im orofazialen Bereich sowie akustische und taktil-kinästhetische Wahrnehmungsübungen Behandlungsschwerpunkte dar, um eine hin­ reichende Eigenkontrolle bzgl. Stimmgebung und Artikulation zu erreichen. Oberstes Ziel ist dabei die Verbesserung der Tragfähigkeit der Stimme und der artikulatorischen Ver­ ständlichkeit, die nur in einem für das Kind motivierenden und kommunikativ sinnvol­ len Setting erreicht werden kann. Im Einzel­ fall kann auch der Abbau kompensatorischer

362 

Aussprachestörungen

Tab. 4: Näseln: Ursachen und Symptome der verschiedenen Varianten Näseln

offen

organisch

funktionell

• (Lippen-, Kiefer-), Gaumenspalten • submuköse Gaumenspalte • verkürztes Gaumensegel • Gaumensegel-Lähmungen (können erste Hinweise auf ernste neurologische Erkran­ kungen sein. Unbedingt weiterführende Diagnostik.)

• nachlässige Artikulation • unökonomische Sprechhygiene • gezierte Sprechweise • Gewohnheit nach abgeklungenen Lähmun­ gen • Schonhaltung nach Tonsillektomie (Gau­ menmandelentfernung) oder Adenotomie (Rachenmandelentfernung)

• alle oralen Laute können betroffen sein • keine oder geringe phonatorische Gaumen­ • Luft entweicht nasal („nasaler Durchschlag“) segelhebung Symptomatik • Ausmaß ursachenabhängig • reflektorisch ist Gaumensegelhebung mög­ • gesteigerte nasale Resonanz bei Vokalen lich • betrifft vorwiegend Vokalresonanz

geschlossen

Symptomatik gemischt

• akute/chronische/allergische Rhinitis • Nasenmuschelhyperplasie (Vergrößerung der Nasenmuscheln) • Polyposis nasi • endonasale Tumoren • Choanalatresie (Verknöcherung der hinte­ ren Nasenausgänge) • Choanalpolyp • Hyperplasie der Rachenmandel • Tumoren des Nasopharynx • velopharyngeale Vernarbungen

• hyperfunktionell bedingter gestörter velo­ pharyngealer Abschluss • Fehlfunktion des Gaumensegels

•  orale Bildung der nasalen Laute (n, m, ng) •  verringerte nasale Resonanz bei Vokalen • organische Veränderungen der Nasenhaupthöhle oder des Velopharynx in Verbindung mit organischen oder funktionellen Erkrankungen des Gaumensegels

mimischer Mitbewegungen Ziel der therapeu­ tischen Bemühungen sein. Um einen hinrei­ chenden Alltagsbezug und Möglichkeiten zum Transfer zu gewährleisten, ist eine umfassen­ de, begleitende Anleitung und Beratung der primären Bezugspersonen unerlässlich. Für ausführliche Überblicke zur Diagnos­ tik und Therapie des Näselns vgl. u. a. Böh­ me (2003, 2006), Wendler et al. (2005) sowie Hirschberg & Gross (2006).

Literatur Allemand, I., Fox-Boyer, A. V. & Gumpert, M. (2008): Diagnostikverfahren bei kindlichen Aussprache­ störungen – ein Überblick. Forum Logopädie 22, 1, 14–21. Babbe, T. (2003): PAP – Pyrmonter Ausspracheprü­ fung. Köln: Prolog.

Bigenzahn, W. (42008): Dysarthrien. In: Friedrich, G., Bigenzahn, W. & Zorowka, P. (Hrsg.): Phoniatrie und Pädaudiologie (206–211). Bern: Huber. Birner-Janusch, B. (2007): Sprechapraxie im Kindes­ alter. In: Springer, L. & Schrey-Dern, D. (Hrsg.): Sprechapraxie im Kindes- und Erwachsenenalter (72–127). Stuttgart: Thieme. Böhme, G. (42003): Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen. Bd. I: Klinik. Jena: Urban & Fi­ scher. Böhme, G. (2006): Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen. Bd. II: Therapie. München: El­ sevier. Campiche Weber, M. (2006): Therapie der orofazia­ len Dysfunktionen. In: Böhme, G. (Hrsg.): Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen. Bd. II: Therapie (67–79). Elsevier: München. Castillo Morales, R., Brondo, J. J., Haberstock, B. (21998): Die orofaziale Regulationstherapie. Mün­ chen: Pflaum. Dodd, B. (1995): Differential diagnosis and treatment of children with speech disorders. London: Whurr.



Literatur   363

Floßmann, I., Schrey-Dern, D. & Tockuss, C. (2006): Therapie bei kindlichen Sprach- und Sprechstö­ rungen. In: Böhme, G. (Hrsg.): Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen. Bd. II: Therapie (3–35). Elsevier: München. Fox, A. V. (2005): PLAKSS – Psycholinguistische Analyse kindlicher Sprechstörungen. Frankfurt: Harcourt Test Services. Fox, A. V. (42007): Kindliche Aussprachestörungen. Idstein: Schulz-Kirchner. Friedrich, G. (42008): Dysglossien. In: Friedrich, G., Bigenzahn, W. & Zorowka, P. (Hrsg.): Phoniatrie und Pädaudiologie (136–143). Bern: Huber. Gierut, J. A. (1998): Treatment efficacy: Functio­ nal phonological disorders in children. Journal of Speech, Language and Hearing Research 41, 1, 85–100. Hacker, D. & Wilgermein, H. (22002): AVAK – Analy­ severfahren zu Aussprachestörungen bei Kindern. München: Reinhardt. Hall, P. K. (1992): At the center of controversy: De­ velopmental apraxia. American Journal of Speech Language Pathology 1, 3, 23–25. Hayden, D. (1994): Differential diagnosis of motor speech dysfunction in children. Clinics in Com­ munication Disorders 4, 2, 119–141. Hayden, D. C. & Square, P. A. (1999): Verbal produc­ tion assessment for children. San Antonio: Psycho­ logical Corporation. Hild, U. (2002): Bilderbuch zur Ausspracheprüfung von Kindern. Kassel: Orca. Hinum, G. (2000): Die Sprachheilpädagogik inner­ halb des Münchner Tageskonzeptes auf neuro­ physiologischer Grundlage. In: Stotz, S. (Hrsg.): Therapie der infantilen Cerebralparese (270–287). München: Pflaum. Hirschberg, J. & Gross, M. (2006): Velopharyngeale Insuffizienz mit und ohne Gaumenspalte. Diag­ nostik und Therapie der Hypernasalität. Heidel­ berg: Median. Kauschke, C. & Siegmüller, J. (2002): Patholinguisti­ sche Diagnostik von Sprachentwicklungsstörun­ gen. München: Urban & Fischer.

Murdoch, B. E., Ozanne A. E., Cross, J. A. (1990): Ac­ quired childhood disorders: Dysarthria and apra­ xia. In: Murchoch, B. E. (Eds.): Acquired neuro­ logical speech language disorders in childhood (308–341). London: Taylor & Francis. National Institute of Deafness and other Communi­ cation Disorders (1994): National strategic plan. Bethesda (MD): Department of Health and Hu­ man Communication Services. Otapowicz, D., Sobaniec, W., Kulak, W. & Sendrow­ ski, K. (2007): Severity of dysarthric speech in children with infantile cerebral palsy in correlation with the brain CT and MRI. Advances in Medical Science 52, Suppl. 1, 188–190. Schrey-Dern, D. (2006): Sprachentwicklungsstörun­ gen. Logopädische Diagnostik und Therapiepla­ nung. Stuttgart: Thieme. Stackhouse, J. & Wells, B. (1997): Children’s speech and literacy difficulties. London: Whurr. Stiller, U. & Tockus, C. (2000): ADD – Aachener Dys­ laliediagnostik. Braunschweig: Schubi. Stiller, U. (2006): Therapie bei zerebralen Bewegungs­ störungen. In: Böhme, G. (Hrsg.): Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen. Bd. II: Therapie (279–290). München: Elsevier. Van Mourik, M., Catsman-Berrevoets, C. E., Paquier, P. F., Yousef-Bak, E. & van Dongen, H. R. (1997): Acquired childhood dysarthria: Review of its cli­ nical presentation. Pediatric Neurology 17, 4, 299– 307. Van Riper, C. & Irwin, J. (51994): Artikulationsstö­ rungen. Berlin: Marhold. Wagner, I. (1994): LOGO-Ausspracheprüfung zur differenzierten Analyse von Dyslalien. Wildeshau­ sen: LOGO. Wendler, J., Seidner, W. & Eysholdt, U. (2005): Lehr­ buch der Phoniatrie und Pädaudiologie. Stuttgart: Thieme. Wohlleben, U. (2006): Funktionelle Therapie von Pa­ tienten mit Lippen-Gaumenspalten. In: Böhme, G. (Hrsg.): Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstö­ rungen. Bd. II: Therapie (89–97). München: Else­ vier.

Hörstörungen Anja Fiori & Antoinette G. am Zehnhoff-Dinnesen

1  Klinik Im Rahmen einer klinischen Darstellung kön­ nen Hörstörungen (→ Hören und Sprechen) grundsätzlich nach Schweregrad (vgl. 1.1), Lokalisation (vgl. 1.2) oder Eintrittsalter (vgl. 1.3) klassifiziert werden. Die Auswirkungen einer Hörbeeinträchtigung auf die Kommunikati­ onsfähigkeit eines Menschen hängen jedoch nicht nur von den genannten objektiven Pa­ rametern, sondern auch von den persönli­ chen Kompensationsfähigkeiten und den so­ ziokulturellen Bedingungen des Betroffenen ab. Daher steht bei einer fundierten Diagnostik (vgl. 2) wie einer therapeutischen Intervention (vgl. 3) grundsätzlich das Individuum in seinem Umfeld mit seinen Bedürfnissen und Möglichkeiten im Vordergrund.

1.1 Schweregradeinteilung Die Einteilung von Hörstörungen nach dem Schweregrad ist nicht hilfreich für die Erstel­ lung einer Systematik (→ Klassifikation), da Hörstörungen unterschiedlichster Ursache mit dem gleichen Schweregrad einhergehen können. Sie ist jedoch notwendig, um die Fol­ gen für die Sprachentwicklung abschätzen und damit die notwendigen Therapie- und För­ dermaßnahmen ableiten zu können. Tabelle 1

zeigt die übliche Schweregradeinteilung (vgl. u. a. Jacobs et al. 1996). Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Darstellung der sprachrelevanten Fre­ quenzbereiche und ihre Zuordnung zu durch­ schnittlichen Schalldruckpegeln bei normaler Sprechlautstärke anhand der so genannten „Sprachbanane“ (vgl. Abb.  1), wird die Rele­ vanz des Schweregrades der Hörstörung für die Aneignung des Lautsystems evident.

1.2 Einteilung nach der Lokalisation Entsprechend der anatomischen und physio­ logischen Grundlagen des Hörens (vgl. Abbil­ dungen in → Hören und Sprechen) werden grundsätzlich die „Schallleitungsschwerhö­ rigkeit“ (SLS) und die „Schallempfindungs­ schwerhörigkeit“ (SES) unterschieden, die al­ lerdings auch kombiniert auftreten können. Die Schallleitungsschwerhörigkeit (SLS)

Die Übertragung der Schallwellen ist bei der  Schallleitungsschwerhörigkeit (SLS) (vgl. Abb.  2b) durch eine Schwingungseinschrän­ kung des Trommelfells oder eine eingeschränk­ te Bewegungsfähigkeit einzelner oder mehre­ rer Gehörknöchelchen gestört. Als Ursachen kommen u. a. Fehlbildungen des äußeren oder des Mittelohres, ein Ohrenschmalzpropf

Tab. 1:  Schweregradeinteilung von Hörstörungen

























Klinik   365



 



Abb. 1:  Die „Sprachbanane“

(Cerumen) oder Fremdkörper im  äußeren Gehör­gang, entzündliche oder traumatische Veränderungen des Trommelfells oder der Gehörknöchelchen, eine Verknöcherung der Gehörknöchelchenkette (Otosklerose) mit Fi­ xierung der Steigbügelfußplatte, eine Belüf­ tungsstörung des Mittelohres, eine laterobasale Schädelfraktur oder Tumoren in Betracht. Das therapeutische Vorgehen beinhaltet schwer­ punktmäßig medikamentöse oder operative Maßnahmen. Die Schallempfindungsschwerhörigkeit (SES)

Die Schallempfindungsschwerhörigkeit (SES) (vgl. Abb. 2a) bzw. „sensorineurale Hör­stö­ rung“ ist wie folgt zu differenzieren: Cochleäre Hörstörung Angeborene genetisch bedingte Funktionsstö­ rungen der Haarzellen können isoliert oder im Rahmen von Fehlbildungssyndromen auftre­ ten. Erworbene Innenohrschwerhörigkeiten können pränatal, z. B. durch eine Infektion während der Schwangerschaft, perinatal, z. B. durch Frühgeburtlichkeit, Sauerstoffmangel unter der Geburt oder das Gehör schädigende

(ototoxische) Medikamente, und postnatal, z. B. durch eine Meningitis, Infektionen, Traumata oder Lärm, entstehen. Neben ursachenspezi­ fischen therapeutischen Maßnahmen steht in der Behandlung die Versorgung mit techni­ schen Hörhilfen wie Hörgeräten und Cochlea Implantaten (elektronischen Innenohrprothe­ sen) im Vordergrund (vgl. 3). Auditorische Neuropathien Auditorische Neuropathien entstehen durch den Verlust innerer Haarzellen, eine Funkti­ onsstörung der Synapsen oder eine Schädi­ gung der Hörnervenfasern. Ihre Prävalenz wird in der Literatur mit 8,44 bis 14,6 % bei Kindern mit hochgradiger Hörstörung ange­ geben. Typisch sind messbare Hörantworten äußerer Haarzellen, so genannte „otoakusti­ sche Emissionen“ (OAE), bei pathologischem Beschallungs-EEG. Die Sprachdiskriminati­ on ist deutlich schlechter als vom Tonaudio­ gramm her zu erwarten (vgl. Abb. 2a). The­ rapeutisch kommen bei intaktem Hörnerv die Versorgung mit technischen Hörhilfen, ansonsten der Einsatz des Mundbildes und/ oder des phonembestimmten Manualsystems (PMS), das zusätzlich zu ablesbaren Phonem­

366 

Hörstörungen

merkmalen Hand- und Fingerpositionen zur Verdeutlichung von Artikulationsort, -weise und Stimmhaftigkeit nutzt (Schulte 1974) so­ wie die Nutzung der Gebärdensprache (→ Se­ hen und Gebärden, → FS Hören) und der Schriftsprache als ergänzende Kommunikati­ onssysteme in Frage. Retrocochleäre Schwerhörigkeit/ zentrale Schwerhörigkeit Retrocochleäre Hörstörungen betreffen den Nervus vestibulocochlearis. Sie treten z. B. bei Akustikusneurinomen (gutartige Tumore am Nervus vestibulocochlearis) im inneren Ge­ hörgang (Meatus acusticus internus) oder am Kleinhirnbrückenwinkel auf, aber auch bei multipler Sklerose. Traumatische, entzündli­ che oder tumoröse Schädigungen der Struk­ turen der zentralen Hörbahn (→  Hören und Sprechen) führen typischerweise zu Hörer­ müdung, Reduktion des Sprachverstehens bei gutem Tongehör, Veränderungen des dicho­ tischen Hörens (Verstehen von zwei unter­ schiedlichen mehrsilbigen Wörtern, die dem rechten und linken Ohr gleichzeitig angeboten werden) und des Richtungshörens (Lehnhardt 2001, 227 ff.). Ursachen- und defizitspezifische Maßnahmen stehen therapeutisch im Vorder­ grund. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS) Die auditive Verarbeitung betrifft die Weiter­ leitung, Vorverarbeitung und Filterung, die au­ ditive Wahrnehmung und die bewusste Analy­ se auditiver Signale. Kinder mit AVWS haben bei normalem Tonaudiogramm u. a. Proble­ me mit der Lautdiskrimination, beim Sprach­ verstehen im Störgeräusch, mit der auditiven Merkspanne, der Mustererkennung in auditi­ ven Signalen und dem Richtungshören. AVWS können in Kombination mit anderen Störun­ gen wie Aufmerksamkeitsstörungen (→ Be­ einträchtigungen der Lesefähigkeit), Lernstö­ rungen oder Sprachentwicklungsstörungen (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau, → Entwicklungsbedingte Sprachstörungen) auf­ treten. Defizitspezifische übende Verfahren,

kompensatorische Strategien wie das Ablesen des Mundbildes und eine Verbesserung des Signalstörschallverhältnisses durch Verände­ rung der akustischen Situation in Schulräumen oder Anpassung von drahtlosen Signalübertra­ gungsanlagen, den so genannten FM-Anlagen (FM = Frequenzmodulation: drahtlose Über­ tragung der Stimme des Sprechers auf das vom betroffenen Kind in der Schule getragene Hör­ system) gehören zu den Behandlungsmöglich­ keiten (Nickisch et al. 2007). Kombinierte Schwerhörigkeit Hier tritt eine Kombination von Schalllei­ tungsschwerhörigkeit (SLS) und Schallemp­ findungsschwerhörigkeit (SES) auf.

1.3 Auswirkungen von Hörstörungen auf die Hörund ­Sprechentwicklung Oftmals werden prä- oder perinatale schwe­ re Hörbeeinträchtigungen oder Taubheit trotz der U3- bis U8-Untersuchungen beim Kinder­ arzt nicht oder verspätet erkannt (→ Frühdia­ gnostik). Eltern bemerken Abweichungen von der normalen Entwicklung oft zuerst auf der Verhaltensebene. Beobachtungen und Sorgen der Eltern sollten generell ernst genommen werden, da durch Nichterkennen der Proble­ matik eine gezielte Förderung versäumt wird. Folgende Symptomkonstellationen können in Abhängigkeit von Schweregrad und Eintritts­ alter der Hörstörung unterschieden werden: Prälinguale hochgradige Hörstörung Bei Neugeborenen mit angeborener Hörstö­ rung unterbleibt ohne frühzeitige Hörgerä­ teversorgung die sinnesadäquate Stimulation der Hörbahnstrukturen, die eine notwendi­ ge Voraussetzung der synaptischen Ausdiffe­ renzierung des zentralen Hörsystems darstellt (→ Hören und Sprechen). Daraus resultieren irreversible Defizite in der Hörbahnreifung und damit in der Vernetzung mit anderen sensorischen und motorischen Strukturen als Grundlage der Sprachentwicklung.

Klinik   367



Auch von Geburt an gehörlose oder hochgra­ dig schwerhörige Kinder durchlaufen die ers­ te Lallphase und experimentieren mit ihren Sprechorganen (→ Hören und Sprechen). Die durch die Imitation des Phoneminventars der Muttersprache geprägte zweite Lallphase fin­ det jedoch nur in Ansätzen statt; häufig fällt das Kind durch hohes, lautes ­Schreien auf. Auf Ansprache reagiert es nicht, nutzt auffäl­ lig stark den visuellen Kanal und ist motorisch unruhig, da es seine Wünsche an die hören­ de Umwelt nicht befriedigend kommunizieren kann. So können erhebliche Störungen in der Interaktion zwischen Kind und Eltern entste­ hen. Eine möglichst frühzeitige Diagnosestel­ lung ist von größter Bedeutung, um einerseits das Kind optimal sprachlich zu fördern und andererseits die Beziehung zu seinen Bezugs­ personen zu stabilisieren. Die Auswertung von Elternfragebögen kann hier einen Aus­ gangspunkt für eine eingehende Hördiagnos­ tik bieten (→ Frühdiagnostik). Weitere Konse­ quenzen einer nicht behandelten angeborenen Hörstörung sind kognitive, emotionale und psychosoziale Entwicklungsbeeinträchtigun­ gen sowie Einschränkungen der schulischen und beruflichen Möglichkeiten. Perilingual erworbene Hörstörung Bei einer erworbenen starken Hörverschlech­ terung oder Gehörlosigkeit während der Sprachentwicklung kommt es zu einem Still­ stand der Syntaxentwicklung und des rezep­ tiven und expressiven Wortschatzerwerbs, teilweise zu einem Verlust bereits erlernter grammatischer Strukturen und zu einer auf­

fälligen Veränderung der Lautsprache. Diese äußert sich bei erhöhter Sprechanstrengung in einer Lenisierung von Plosiven, einem Ver­ schleifen von Frikativen (→ Hören und Spre­ chen, → Sprechstörungen), einer Hyperna­ salierung und dem Wegfall von Morphemen. Die beeinträchtigte auditive Rückkopplung führt auch zu einer überhöhten Sprechstimm­ lage und einer gestörten Atem-/Stimm-Ko­ ordination (→ Stimmstörungen). Die Kin­ der reagieren häufig verhaltensauffällig und aggressiv. Eltern und Ärzte sollten bei ersten Hinweisen umgehend eine Hördiagnostik ver­ anlassen. Leicht- bis mittelgradige Hörstörung Eine von Geburt an bestehende leichte bis mit­ telgradige Schwerhörigkeit wird oft erst im Vorschulalter, manchmal sogar im Grund­ schulalter bemerkt, da die Kinder die Hör­ minderung durch gesteigerte Aufmerksam­ keit kompensieren und „unauffällig“ wirken können. Diese Anstrengung kann jedoch im schulischen Kontext durch Dekompensation zu Unaufmerksamkeit und motorischer Unru­ he führen. Im weiteren Verlauf kann eine Be­ einträchtigung des Schriftspracherwerbs vor­ liegen (→ Lesen und Schreiben). Rezidivierende Paukenergüsse Bei rezidivierenden Paukenergüssen, das heißt wiederholt auftretenden Flüssigkeitsansamm­ lungen im Mittelohr, besteht eine vorüber­ gehende gering- bis mittelgradige Schwerhö­ rigkeit, die sich dauerhaft nicht zwangsläufig negativ auf das Sprechen auswirken muss. Al­

Tab. 2: Schweregradabhängige Folgen für die Sprachentwicklung 

 



 





   

  



          

        

368 

Hörstörungen

lerdings können Abweichungen der phonolo­ gischen Entwicklung, Einschränkungen der auditiven Merkspanne und Schwierigkeiten bei der Analyse gesprochener Sprache entstehen, die sich in Aussprachestörungen (→  Sprech­ störungen) und/oder Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb manifestieren können. Ausschlaggebend ist die so genannte „JahresHörbilanz“, das heißt, die Dauer der Phasen im Jahr ohne Paukenergüsse (Böhme 42003, 59 ff.). Postlingual erworbene hochgradige Hörstörung Bei erworbener hochgradiger Hörstörung oder Taubheit nach Abschluss der Sprachentwick­ lung kann es bei längerem Bestehen zu charak­ teristischen Veränderungen des Sprechens und der Stimmgebung, wie Ungenauigkeiten in der Artikulation der Frikative, Abweichungen der Nasalität sowie erhöhte Sprechstimmlage und erhöhte Sprechlautstärke, kommen. Das Sprachverständnis ist in Abhängigkeit vom Grad der Hörstörung beeinträchtigt bis aufge­ hoben; zu einem Abbau syntaktisch-morpho­ logischen und semantisch-lexikalischen Wis­ sens kommt es jedoch nicht. Die spezifischen Folgen einer Hörstörung sind neben individuellen psychosozialen Fak­ toren u. a. abhängig von Manifestationszeit­ punkt, Schweregrad und Frequenzgang des Hörverlustes sowie dem Alter bei Hörgerä­ teversorgung. Die schweregradabhängigen Folgen für die Sprachentwicklung sind in Ta­ belle  2 zusammengefasst. Sie sind als grobe Orientierung zu sehen. Grundsätzlich ist eine starke interindividuelle Variabilität zu be­ rücksichtigen.

2  Audiometrische Diagnostik Zur Einschätzung des Schweregrades sowie zur Lokalisation und Bestimmung der Ursa­ chen von Hörstörungen stehen zu verschiede­ nen Untersuchungszeitpunkten (vgl. 2.1) un­ terschiedliche audiometrische Verfahren zur Verfügung.

Prinzipiell werden „subjektive“ Hörprü­ fungen (vgl. 2.2) von den „objektiven“ (vgl. 2.3) unterschieden. Die subjektiven Hörtests ba­ sieren auf den Angaben des Prüflings bezüg­ lich seines Höreindruckes, also des subjektiv Empfundenen. Sie erfordern ein Mindestmaß an bewusster Mitarbeit und sind bei kleinen Kindern nur bedingt einsetzbar. Anhand der objektiven Hörtests werden Werte unabhän­ gig von der Mitarbeit des Patienten („objek­ tiv“) erhoben.

2.1 Universelles NeugeborenenHörscreening (UNHS) Die Prävalenz von angeborenen versorgungs­ relevanten Hörstörungen liegt in Deutsch­ land bei circa 2 bis 3 auf 1000  Neugebore­ ne. Für Kinder mit Risikofaktoren, z. B. bei ­Frühgeburtlichkeit, perinataler Asphyxie (Sau­ er­stoffmangel unter der Geburt), familiä­ ren  Hörstörungen, intrauterinen Infektionen, Chromosomenanomalien, wird die Prävalenz auf 2 bis 3 % geschätzt. Das Diagnosealter für kindliche Hörstörungen lag ohne Neugebo­ renen-Hörscreening bei etwa 21–47 Mona­ ten; eine Hörgeräteversorgung erfolgte durch­ schnittlich erst in einem Alter von 3–5 Jahren. Zur Gewährleistung einer möglichst re­ gelrechten Hörbahnreifung und Sprachent­ wicklung werden international aufgrund ent­ wicklungsphysiologischer Erkenntnisse eine Diagnosestellung in den ersten drei Lebens­ monaten und eine Hörgeräteversorgung in­ nerhalb der ersten sechs Lebensmonate ge­ fordert (→ Prävention, → Frühdiagnostik). Beim „Universellen Neugeborenen-Hörscree­ ning“ (UNHS) wird nicht nur bei Risikokin­ dern, sondern bei allen Neugeborenen ein Hörscreening durchgeführt. Methodisch wer­ den die Ableitung von otoakustischen Emis­ sionen (OAE) (vgl. 2.3) und das automatisch ausgewertete Beschallungs-EEG (Brainstem Au­ditory Response Audiometry, BERA) ein­ gesetzt. Neben Maßnahmen der Qualitätssiche­ rung sind ein zentrales Tracking (Nachver­

Audiometrische Diagnostik   369





 Abb. 2a:  Tonaudiogramm: Beispiel A – Normakusis (rechtes Ohr) –g  eringgradige Schallempfindungsschwerhörigkeit (SES) (linkes Ohr) [Luftleitungsschwelle (durchgezogene Linie) und Knochenleitungsschwelle sind gleichermaßen erniedrigt.]







 Abb. 2b:  Tonaudiogramm: Beispiel B

– Schallleitungsschwerhörigkeit (SLS) (rechtes Ohr) [Die Luftleitungsschwelle ist erniedrigt, die Knochenleitungs­ schwelle normal.] – an Taubheit grenzende Innenohrschwerhörigkeit (linkes Ohr) [Die Pfeile deuten an, dass die Hörschwelle unter­ halb der Nachweisgrenze liegt.]

folgen der im UNHS auffälligen Kinder) und ein zentral organisiertes Follow up (Kon­ trolluntersuchungen) mit der Sicherstellung umgehender fachärztlicher Abklärung und Therapieeinleitung weitere Grundlagen der Früherkennung und Frühversorgung kindli­ cher Hörstörungen (Joint Committee on In­ fant Hearing 2007).

2.2  Subjektive Hörtests Bei kleinen Kindern wird die so genannte „Ab­ lenkaudiometrie“ im Freifeld gewählt, um Re­ aktionen des Kindes auf über Lautsprecher dar­ gebotene auditive Reize beobachten zu können. Sind die Kinder bereits etwas älter, wird die „Spielaudiometrie“ eingesetzt. Die Kinder füh­

370 





Hörstörungen

ren nach gehörten akustischen Signalen eine vorher vereinbarte Spielhandlung aus. Bei der „Tonschwellenaudiometrie“ werden über Kopfhörer Sinustöne dargeboten, um die Hörschwelle in Luft- und Knochenleitung bei verschiedenen Frequenzen zu ermitteln. Die Abbildungen 2a und 2b zeigen exemplarisch unterschiedliche diagnostische Ergebnisse. Zur Erhebung des Sprachverstehens liegen verschiedene sprachaudiometrische Tests vor. Je nach Alter und Mitarbeit des Kindes sol­ len in unterschiedlichen Schallstärken dar­ gebotene Wörter aus einer Auswahlmenge von Abbildungen ausgewählt oder nachge­ sprochen werden (vgl. Beispiel in Abb. 3). Ge­ messen wird der prozentuale Anteil korrekt erkannter Wörter in Abhängigkeit vom jewei­ ligen Schalldruckpegel. Tabelle 3 fasst gängige sprachaudiometri­ sche Tests mit orientierenden Angaben zur Alterszuordnung zusammen. Ausschlagge­ bend für die Auswahl eines Testverfahrens ist der Entwicklungsstand des Kindes. Von besonderer Bedeutung für die Alltags­ bewältigung ist die Sprachaudiometrie im Störgeräusch, insbesondere auch im Rahmen 

der Erfolgskontrolle nach Anpassung von Hörhilfen (vgl. 3).

2.3  Objektive Hörtests Trotz größter Sorgfalt der Untersucher können bei subjektiven Hörtests Mess- und Interpre­ tationsfehler auftreten. Die Ergebnisse dieser Höruntersuchungen werden daher u. a. durch die nachfolgend skizzierten objektiven Tests ergänzt: Impedanzmessung Die Impedanzmessung überprüft die Beweg­ lichkeit des Trommelfells und der Gehörknö­ chelchenkette und liefert daher Informationen über die Schallleitung im Mittelohr. Mit über­ schwelligen Lautstärken können dort Schall­ schutzreflexe ausgelöst werden. Beim Stape­ diusreflex wird der Stapes aus dem ovalen Fenster herausgehebelt (→ Hören und Spre­ chen), um das Innenohr zu schützen. Dieser Reflex kann zur Überprüfung der Reflexbahn und eingeschränkt zur Schwellenbestimmung genutzt werden.

Abb. 3:  Sprachaudiogramm – normale Sprachverstehensleistung (rechtes Ohr) – verminderte Sprachverstehensleistung (linkes Ohr) [Das Sprachaudiogramm zeigt die Sprachverständlichkeit in Prozent der korrekt nachgesprochenen Wörter (horizontale Achse) in Abhängigkeit vom Schalldruckpegel in dB (vertikale Achse) an. Dabei markieren die schwarzen Linien den Normbereich.]



Audiometrische Diagnostik   371

Tab. 3:  Sprachaudiometrische Tests Testverfahren

Zielgruppe

Mainzer Kindersprachtest I (Biesalski et al. 1974)

< 4 Jahre

Mainzer II (Biesalski et al. 1974)

4–5 Jahre

Mainzer III (Biesalski et al. 1974)

6–8 Jahre

Göttinger Kindersprachverständnistest I (Chilla 1976) Göttinger II (Gabriel et al. 1976) Freiburger Sprachverständnistest (Hahlbrock 1970) Oldenburger Kinderreimtest (OLKI) (Kliem & Kollmeier 1995)

Zielsetzung

Zuordnung von Abbildungen aus einer Auswahlmenge zu vorgesprochenen Wörtern (closed set)

junge Kindergartenkinder Vorschulkinder Verstehen von Zahlen und Einsilbern anhand einer Nach­ sprechaufgabe (open set)

ab Schulalter schwerhörige Kinder, normalhörende Kinder mit phonema­ tischer Differenzierungsschwäche

Otoakustische Emissionen Otoakustische Emissionen (OAE) stellen Ant­ worten auf Beschallung dar, die durch Bewe­ gungen der äußeren Haarzellen beim Hör­ vorgang entstehen und retrograd in den Gehörgang abgestrahlt werden. Dort sind sie nach Verstärkung akustisch messbar. Sie geben Informationen über die Funktion der äußeren Haarzellen; eine Differenzierung nach Schwe­ regraden der Hörstörung ist nur bei speziellen Messungen möglich. Hirnstammaudiometrie BERA Die Hirnstammaudiometrie BERA (Brainstem Electric Response Audiometry) stellt ein Beschallungs-EEG dar. Die Lautstärke eines breitbandigen Clickreizes wird solange redu­ ziert, bis keine Potenzialantworten mehr abge­ leitet werden können. Diese Form der Schwel­ lenfindung gelingt bei der Notched Noise BERA (schmalbandiger Reiz mit Maskierung der be­ nachbarten Frequenzbänder) frequenzspezi­ fisch (500 bis 4000  Hz). Während der Test­ durchführung muss die Testperson etwa eine Stunde lang motorisch ruhig bleiben. Bei klei­ nen oder unruhigen Kindern kann die Unter­ suchung nach Schlafentzug im Spontanschlaf und/oder nach Gabe des Schlafhormons Me­ latonin, in Sedierung oder in Verbindung mit

Überprüfung der phonemati­ schen Diskrimination

einem HNO-ärztlichen Eingriff (z. B. Einlegen von Paukenröhrchen, Adenotomie) in Narko­ se durchgeführt werden. Auditory Steady-State Response (ASSR/Chirp) Aussichtsreich zur Erzielung einer höheren Frequenzspezifität und einer kürzeren Un­ tersuchungsdauer sind eine modifizierte Me­ thode der Messung der Auditory Steady-State Response (ASSR), bei der die akustische Sti­ mulation mit einem amplituden-modulierten Ton erfolgt (Stürzebecher et al. 2006), und die Beschallung mit einem Chirp, einem Ton mit ansteigender Frequenz (Wegner & Dau 2002). Elektrocochleographie Die Ableitung kortikaler Hörantworten und die Elektrocochleographie bleibt besonderen Fra­ gestellungen vorbehalten (Seifert et al. 2005). Weiterführende Diagnostik Radiologische Bildgebung der Strukturen des Hörsystems durch hochauflösende Compu­ tertomographie (CT) und Magnetresonanz­ tomographie (MRT), serologische und im­ munologische Untersuchungen, genetische, kinderärztliche, kinderneurologische, kinder­ psychologische und augenärztliche Abklärung runden im Einzelfall die Diagnostik ab.

372 

Hörstörungen

3  Therapie Nach der Feststellung einer Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit wird als Basis für alle wei­ teren Maßnahmen zunächst die beste appara­ tive Hörunterstützung gesucht (Kim & Barrs 2006) (→ Sehen und Gebärden, → FS Hören). Von der Diagnosestellung an ist eine professi­ onelle Begleitung und Unterstützung der Be­ troffenen und ihrer Angehörigen unerlässlich. Für die bestmögliche Nutzung von Hörhilfen sind nicht nur eine optimale Hörgeräteanpas­ sung, sondern auch die Trageakzeptanz, die Unterstützung durch die Umwelt und die Ei­ genmotivation des Patienten von großer Be­ deutung.

3.1  Hörgeräte Grundlagen der Hörgeräteversorgung stellen die frequenzspezifische Ermittlung der Hör­ schwelle, die Unbehaglichkeitsschwelle, wenn möglich sprachaudiometrische Messungen und Informationen über die Übertragungs­ eigenschaften des Gehörganges dar. Die Vor­ einstellung der Hörgeräte erfolgt anhand von Anpassregeln, im Rahmen engmaschiger Kon­ trolluntersuchungen werden bei Erprobung verschiedener Hörgeräte die Parameter der Feineinstellung festgelegt. Luftleitungs-Hörgeräte

Im Kindesalter kommen in der Regel Luftleitungs-Hörgeräte in Form von „Hinter-demOhr-Geräten“ (HdO) zum Einsatz (→ FS Hö­ ren). Die zusätzliche Anpassung einer „FMAnlage“ (s. o.) verbessert das Sprachverstehen in Kindergarten und Schule. Angenehm sit­ zende und rückkopplungsfreie Ohrpassstücke sowie eine Schulung der Eltern zur täglichen Wartung und Überprüfung der Hörgeräte sind weitere Elemente der Hörgeräteversorgung. Eine spezifische Frühförderung ist als Grund­ lage einer möglichst normalen Hör- und Sprachentwicklung umgehend einzuleiten.

Auch geringgradige Hörstörungen sollten frühzeitig erkannt und versorgt werden. Bei diagnostischen Unsicherheiten in der Abklä­ rung vorübergehender Schalleitungsstörun­ gen ist im Vorfeld weiterer Untersuchungen eine Mittelohrsanierung anzustreben. Gege­ benenfalls ist eine entwicklungsbegleitende Hörgeräteversorgung indiziert. Bei älteren Kindern mit Problemen im Schulalltag kann eine FM-Anlage erprobt werden. Auch einseitige Hörstörungen werden versorgt, da sie das Richtungshören und das Sprachverstehen im Störlärm beeinträchtigen. Wenn die Differenz zum normalhörenden Ohr 60  dB übersteigt, sollte im Kindergar­ tenalter eine FM-Anlage, im Schulalter eine „CROS-Versorgung“ (Contralateral Routing of Signals) getestet werden. Dabei wird der akustische Input der hörgestörten Seite über ein Mikrophon aufgenommen und dem nor­ malhörenden Ohr zugeleitet. Knochenleitungs-Hörgeräte

Bei beidseitiger Gehörgangsatresie (Verknö­ cherung des Gehörgangs) wird ab dem dritten Lebensmonat eine Versorgung mit Knochenleitungs-Hörgeräten durchgeführt. Knochen­ verankerte Hörgeräte können etwa ab dem dritten Lebensjahr eingesetzt werden. Der Schall wird über den Schädelknochen auf das Innenohr übertragen. Voraussetzung ist eine zur Verankerung der Implantatschrau­ be ausreichende Dicke des Schädelknochens. Ab dem Vorschulalter können nach radiolo­ gischer Diagnostik rekonstruktive operative Maßnahmen angedacht werden. Bei einseiti­ ger Gehörgangsatresie sollte ein Versuch mit einem Knochenleitungs-Hörgerät durchge­ führt werden. Bei positivem Ergebnis kann im späteren Verlauf ein knochenverankertes Hörgerät sinnvoll sein. Bei einer Mittelohr­ fehlbildung bietet sich die Versorgung mit einem normalen Luftleitungs-Hörgerät an. Nutzen und Risiken einer operativen Hörver­ besserung müssen sorgfältig abgewogen wer­ den (Seifert et al. 2005). Aktive implantierba­ re Mittelohr-Hörgeräte übertragen den Schall



Therapie   373

auf die Gehörknöchelchen oder direkt auf das Innenohr. Auch bei Fehlbildungen des äuße­ ren Gehörganges und des Mittelohres können sie zur funktionellen Kompensation eingesetzt werden.

3.2  Cochlea-Implantat (CI) Das „Cochlea-Implantat“ (CI) wird bei gehör­ losen oder höhergradig schwerhörigen Kin­ dern, die von Hörgeräten für ihren Sprach­ erwerb keinen ausreichenden Nutzen haben, eingesetzt (Balkany et al. 2002). Hinter dem Ohr wird ein Sprachprozessor getragen, an dessen Ende sich zur Aufnahme und elek­ troakustischen Umwandlung des Schalls ein Mikrophon befindet (vgl. Abb. 4). Der Schall wird in ein elektrisches Muster umgewandelt. Dieses Muster wird über eine Sendespule der Empfangselektronik des Implantats draht­ los gesendet. Das Implantat ist hinter dem

Warzenfortsatz (Processus mastoideus) in ei­ ner operativ angelegten knöchernen Vertie­ fung verankert. Über ein Kabel, das durch das Mittelohr zum Innenohr führt, wird das elektrische Reizmuster auf den Nervus ves­ tibulocochlearis übertragen (→ Hören und Sprechen). Indikation

Voraussetzung für die Indikationsstellung ist die Funktionstüchtigkeit des Hörnervs. Da der auditive Input im ersten Lebensjahr für die späteren Hör- und Sprachleistungen von aus­ schlaggebender Bedeutung ist (→ Hören und Sprechen), sollte die Indikation so früh wie möglich gestellt werden. Bei Zustand nach Me­ ningitis muss die Cochlea-Implantation recht­ zeitig vor einem bindegewebigen oder knö­ chernen Umbau der Cochlea durchgeführt werden. Bei Kindern im Alter von vier bis sechs Jahren ist ein CI bei prälingualer Resthörigkeit

Abb. 4: Die Bestandteile eines Cochlea-Implantates (aus: Böhme et al. 2003, 296)

374 

Hörstörungen

nur noch nach vorausgegangener Hörgeräte­ versorgung und bei lautsprachlicher Kompe­ tenz zu erwägen. Bei einer erworbenen Rest­ hörigkeit/Gehörlosigkeit sollte der Eingriff so früh wie möglich erfolgen. Kontraindikationen sind in einer fehlenden Anlage der Cochlea, einer Schädigung des Nervus vestibulococh­ learis, einer Stenose (Verengung) des Meatus acusticus internus (inneren Gehörgangs), einer aktiven Mittelohrpathologie, geringer Unterstützung durch die Familie, fehlenden Rehabilitationsmöglichkeiten und schweren Zusatzbehinderungen mit Einschränkungen von Lernfähigkeit und Mitarbeit zu sehen. Bei Mehrfachbehinderung (→  FS körperliche und motorische Ent­wicklung, → Unterstützte Kommunika­tion) ist die Indikation nach einer längeren Beobachtungsphase unter Beteiligung von Eltern, Pädagogen und Therapeuten indi­ viduell zu entscheiden. Präoperative Diagnostik

Die präoperative Diagnostik umfasst neben Anamnese und HNO-Status altersspezifische subjektive pädaudiologische Tests, ggf. die Aufblähkurve mit Hörgeräten, die Bestim­ mung der Unbehaglichkeitsschwelle, wenn möglich die Messung des Hörfeldes zwischen frequenzspezifischen Hör- und Unbehaglich­ keitsschwellen sowie objektive audiometrische Verfahren. Bei älteren Kindern kann zur Funk­ tionsüberprüfung des Nervus vestibulococh­ learis eine Elektroaudiometrie (s. o.) durch­ geführt werden: Das Kind beschreibt seine Höreindrücke nach elektrischer Stimulation über eine Gehörgangselektrode. Durch die hoch auflösende Computertomographie des Felsenbeins und die Magnetresonanztomogra­ phie werden anatomische Kontraindikationen ausgeschlossen. Weiterhin erfolgen eine Ent­ wicklungsdiagnostik, eine neuropädiatrische und augenärztliche Abklärung, die Erhebung des Sprachstatus und die Unter­suchung der kognitiven Fähigkeiten des Kindes.

Beratung und Förderung

Die Elternberatung umfasst Informationen über das CI, die Operation, die Wundhei­ lungsphase und die Notwendigkeit der post­ operativen Hör-/Sprachtherapie (→ Bera­ tung). Sie berücksichtigt auch die individuelle Variabilität der Hör- und Sprachentwicklung mit CI. Die Kontaktaufnahme zu Familien mit bereits implantierten Kindern kann hilfreich sein. Die intensive Kooperation mit den be­ treuenden Sonderpädagogen und Therapeu­ ten ist die Voraussetzung für die gemeinsame Beratung bzgl. Kommunikationsmodus und Beschulungsart (→ FS Hören). Die notwendigen elektrischen Reizstärken werden bei der Einstellung des Sprachprozes­ sors ermittelt; regelmäßige Kontrollen sind erforderlich. Zu den habilitativen/rehabilita­ tiven Maßnahmen gehören die Hörerziehung einschließlich Hörtaktik und die Sprachthe­ rapie nach den Kriterien der hörgerichtetkommunikativen Förderung (vgl. 3.3). Von besonderer Bedeutung ist die Optimierung der Eltern-Kind-Interaktion (→ Intersubjek­ tivität und Kommunikation). Nach Einstellung des Sprachprozessors lernt das Kind, Geräusche, menschliche Stim­ men und Sprachlaute zu unterscheiden. Eine Verbesserung des Sprachverstehens in ge­ räuschvoller Umgebung ist durch Kombina­ tion des CI mit einer FM-Anlage möglich. Bei einseitigem CI kann eine Hörgerätever­ sorgung der Gegenseite sinnvoll sein. Ist der Höreindruck im Vergleich zum CI nicht ak­ zeptabel, empfiehlt sich bei entsprechendem Hörverlust die bilaterale CI-Versorgung. Die­ se bietet sich auch an, wenn die Resthörigkeit der Gegenseite für eine Hörgeräteversorgung nicht ausreicht. Die bilaterale CI-Versor­ gung verbessert das Richtungsgehör und die Sprach­erkennung im Störgeräusch (Murphy & O’Donoghue 2007). Beschulung

Bei gutem Erfolg der Hör-/Sprachtherapie und der medizinischen und technischen Nachsor­ ge sowie bei positiver Unterstützung durch die



Therapie   375

Eltern kann ein Kind nach früher CochleaImplantation eine Sprachkompetenz gewin­ nen, die ihm den Besuch der Regelschule er­ möglicht. Derzeit besuchen viele Kinder mit Cochlea-Implantat die Förderschule mit dem Schwerpunkt Hören und Kommunika­tion (→ FS Hören), teilweise auch Sonderklassen mit Kindern mit AVWS. Zukünftig könnte der Re­ gelschulbesuch die Norm für Kinder mit Coch­ lea-Implantat werden (Seifert et al. 2005). Mangelnde familiäre Unterstützung, me­ dizinische Probleme mit möglichen Reim­ plantationen, kognitive Probleme des Kindes, eine mögliche Ablehnung durch gehörlose Freunde reduzieren die Erfolgschancen er­ heblich und führen schlimmstenfalls zu einer kompletten Ablehnung des Implantats. Bei Ausbleiben oder erheblicher Einschränkung der lautsprachlichen Entwicklung trotz CIVersorgung sollte einem Kind in jedem Fal­ le der Erwerb der Gebärdensprache (→ Sehen und Gebärden, → FS Hören) ermöglicht wer­ den, um eine altersgemäße Kommunikation und Impulse für die weitere kognitiv-soziale Entwicklung zu ermöglichen.

3.3  Logopädie/Sprachtherapie In der Therapie stehen grundsätzlich das Kind und seine Bezugspersonen im Mittelpunkt. Unterschieden werden die Schwerpunkte Eltern- bzw. Angehörigenberatung, Hörtraining und Sprachtherapie. Eltern- bzw. Angehörigenberatung/ Methodendiskussion

Ziele der Elternberatung (→ Beratung) sind eine sichere Handhabung, Pflege und Wartung der apparativen Hilfen, vorrangig jedoch das Erreichen einer optimalen Sprachförderung im häuslichen Kontext. Angesichts des zuneh­ mend jüngeren durchschnittlichen Implanta­ tionsalters steht dieser Bereich in der sprachli­ chen Förderung deutlich im Vordergrund. Während im deutschen Sprachraum bzgl. der pädagogischen Vorgehensweisen und

Zielsetzungen der Hör- und Sprachförde­ rung hörgestörter Kinder seit Jahrzehnten eine starke Kontroverse besteht (→ Gebärden und Sehen, → FS Hören), stehen bei internati­ onaler Betrachtung verschiedene Zugangswe­ ge zur Sprache gleichwertig nebeneinander. Grob kann zwischen drei unterschiedlichen Ansätzen unterschieden werden: 1. Hörgerichtete Ansätze, deren Vertreter sich argumentativ zwischen dem aus­ schließlichen Nutzen des Hörens (Uni­ sensorik) (vgl. u. a. Löwe 1996, 1998, Schmidt-Giovannini 1996, Estabrooks 2006) bis hin zum Zulassen des natürli­ chen Einflusses aller Sinne für den Laut­ spracherwerb (vgl. u. a. Clark 2006, Bat­ liner 2005, 2008) bewegen. Ziel ist hier der Lautspracherwerb entlang der Mei­ lensteine der normalen Sprachentwick­ lung . 2. Gebärdengestützte Ansätze streben den Lautspracherwerb über Ohr und Auge an und lassen prinzipiell visuelle Zei­ chensysteme wie lautsprachbegleitende Gebärden oder das phonembestimm­ te Manualsystem als Unterstützung des Kommunikationserfolges zu (für eine Übersicht vgl. Lyans 1999). 3. Bilinguale Ansätze, bei denen die Laut­ sprache als Zweitsprache, aufbauend auf ein intaktes gebärdensprachliches Kom­ munikationssystem, erworben wird (vgl. u. a. Prillwitz 1991, Hansen 1991, Gün­ ther et al. 2004, 2009). Für eine ausführliche Darstellung der ver­ schiedenen Ansätze der „Hörgeschädigten­ pädagogik“ vgl. Leonhardt (22002), für eine Übersicht verschiedener Kommunikationssys­ teme vgl. Lyans (1999) und für eine Übersicht zur Gebärdensprachforschung (→ Gebärden und Sehen) vgl. Boyes-Braem (31995). Vor allem in der Frühförderung stehen heute interaktionistische und kommunikati­ onsorientierte, multisensorische Ansätze im Vordergrund.

376 

Hörstörungen

Hörtraining

Das Hörtraining umfasst verschiedene Stu­ fen, die nicht obligatorisch durchlaufen wer­ den müssen, sondern in Abhängigkeit von den individuellen Kompetenzen des Kindes mehr oder weniger intensiv berücksichtigt werden. Es orientiert sich grundsätzlich an den Stufen der Entwicklung der auditiven Verarbeitung nach Erber (1982) (vgl. Abb. 5). Abhängig von den lautsprachlichen Vor­ aussetzungen des Betroffenen wird zunächst

im nonverbalen Bereich auf Geräusch- und Klangebene gearbeitet bzw. bei bereits vor­ handenen lautsprachlichen Kompetenzen so­ fort auf sprachlicher Ebene begonnen. Sprachtherapie

Abhängig vom individuellen Sprachstatus er­ folgt eine spezifische Förderung der Sprach­ entwicklung auf den verschiedenen sprachsyste­ matischen Ebenen Pragmatik/Kom­mu­nikation, Semantik/Lexikon, Phonetik/Phonologie, Syn­ tax/Morphologie (Thiel 2000) (→ Entwick­ lungsbedingte Sprachstörungen). Bei Einschrän­ kungen der Aussprache stellt eine phonologisch orientierte Therapie die Methode der Wahl dar. Grundsätzlich ist auch hier zu beachten, dass das Ziel aller therapeutischen Bemühun­ gen die Erarbeitung einer optimalen Kommu­ nikationsfähigkeit im Alltag darstellt. Bei hochgradigen Hörstörungen, die mit er­ höhter Sprechanstrengung, überhöhter Sprech­ stimmlage und erhöhtem Phonationsdruck einhergehen, sind Elemente aus der Stimmthe­ rapie indiziert (→ Stimmstörungen). Bei geringgradigen Schwerhörigkeiten ist eine logopädische/sprachtherapeutische Be­ handlung nicht zwingend notwendig, aller­ dings sollte die phonologische Entwicklung (→  Sprachentwicklung und Sprachabbau) überprüft werden. Kommt es in diesem Bereich zu Einschränkungen, kann es erforderlich sein, im Rahmen einer Therapie die Verwendung von Sprachlauten, die Lautanalyse und -syn­ these und nicht zuletzt die phonologische Be­ wusstheit (→ Lesen und Schreiben) zu fördern, um günstige Voraussetzungen für einen unge­ störten Schrift­sprach­erwerb zu schaffen.

Literatur

Abb. 5: Die Entwicklungsstufen der auditiven Wahr­ nehmung nach Erber (1982)

Balkany, T. J., Hodges, A. V., Eshraghi, A. A., Butts, S., Bricker, K., Lingvai, J., Polak, M. & King, J. (2002): Cochlear implants in children – A review. Acta Otolaryngologica 22, 4, 356–362. Batliner, G. (2005): Natürlich-hörgerichtete Förde­ rung hochgradig hörgeschädigter Kinder in der Praxis. Spektrum Hören 3, 3, 29–33.



Literatur   377

Batliner, G. (2008): Praxis der Frühförderung im ersten Lebensjahr. Sprache – Stimme – Gehör 32, 1, 26–29. Biesalski, P., Leitner, H., Leitner, E. & Gangel, D. (1974): Der Mainzer Kindersprachtest. Sprachau­ diometrie im Vorschulalter. HNO 22, 3, 160–161. Böhme, G. (42003): Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen. Bd. I: Klinik. Jena: Urban & Fi­ scher. Boyes Braem, P. (31995): Einführung in die Gebär­ densprache und ihre Erforschung. Internationale Arbeiten zur Gebärdensprache und Kommunika­ tion Gehörloser, Bd. 11. Hamburg: Signum. Chilla, R. (1976): Der Göttinger Kindersprachver­ ständnistest I. HNO 24, 4, 342–46. Clark, M. (2006): A practical guide to quality interac­ tion with children who have a hearing loss. Oxford: Plural Publishing. Erber, N. (1982): Auditory training. Washington: Bell. Estabrooks, W. (2006): Auditory-verbal therapy and practice. Washington: Bell. Gabriel, P., Chilla, R., Kiese, C., Kabas, M. & Bänsch, D. (1976): Der Göttinger Kindersprachverständ­ nistest II. HNO 24, 4, 399–402. Günther, K.-B., Schäfke, I., Poppendieker, R., Staab, A., Thiel-Holtz, V. & Wiechel, A. (2004): Bilinguale Erziehung als Förderkonzept für gehörlose Schü­ lerInnen. Abschlussbericht zum Hamburger Bilin­ gualen Schulversuch. Hamburg: Signum. Günther, K.-B., Hennies, J. & Hintermair, M. (2009): Trends and developments in deaf education in Germany. In: Moores, D. & Miller, M. (Eds.): Deaf­ ness around the world: Educational, developmen­ tal, and social perspectives. Washington: Gallaudet University Press. Hahlbrock, K. H. (1970): Sprachaudiometrie. Stutt­ gart: Thieme. Hansen, B. (1991): Tendenzen auf dem Weg zu ei­ ner bilingualen Erziehung und Bildung gehörloser Kinder in Dänemark. In: Prillwitz, S. & Vollha­ ber, T. (Hrsg.): Gebärdensprache in Forschung und Praxis (63–78). Hamburg: Signum. Jacobs, H., Schneider, M. & Weishaupt, J. (1996): Hören – Hörschädigung. Informationen und Un­ terrichtshilfen für allgemeine Schulen. Der Pa­ ritätische Wohlfahrtsverband in Hessen (Hrsg.). Obertshausen: Imprenta. Joint Committee on Infant Hearing (2007): Year 2007 Position Statement: Principles and Guidelines for Early Hearing Detection and Intervention Pro­ grams. Pediatrics 120, 4, 898–921. Kim, H. H. & Barrs, D. M. (2006): Hearing aids: A re­ view of what’s new. Otolaryngology – Head and Neck Surgery 134, 6, 1043–1050. Kliem, K. & Kollmeyer, B. (1995): Überlegungen zur Entwicklung eines Zweisilber-Kinder-Reimtests

für die klinische Audiologie. Audiologische Akus­ tik 34, 1, 6–10. Lehnhardt, E. (2001): Zentrale Hördiagnostik. In: Lehnhardt, E. & Laszig, R. (Hrsg.): Praxis der Au­ diometrie. Stuttgart: Thieme. Leonhardt, A. (22002): Einführung in die Hörgeschä­ digtenpädagogik. München: Reinhardt. Löwe, A. (1996): Hörerziehung für hörgeschädig­ te Kinder: Geschichte, Methoden, Möglichkeiten. Eine Handreichung für Eltern, Pädagogen und Therapeuten. Heidelberg: Winter. Löwe, A. (1998): Hörgeschädigtenpädagogik interna­ tional. Heidelberg: Winter. Lyans, W. (1999): Communication options. In: Stokes, J. (Ed.): Hearing impaired infants – Support the first eighteen months (98–128). London: Whurr. Murphy, J., O’Donoghue, G. (2007): Bilateral coch­ lear implantation: An evidence-based medicine evaluation. Laryngoscope 117, 8, 1412–1418. Nickisch, A., Gross, M., Schönweiler, R., Uttenweiler, V., am Zehnhoff-Dinnesen, A., Berger, R., Radü, H. J. & Ptok, M. (2007): Auditive Verarbeitungsund Wahrnehmungsstörungen. Konsensus-State­ ment der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. HNO 55, 1, 61–72. Prillwitz, S. (1991): Der lange Weg zur Zweisprachig­ keit Gehörloser im deutschen Sprachraum. In: Prillwitz, S. & Vollhaber, T. (Hrsg.): Gebärdenspra­ che in Forschung und Praxis (17–34). Hamburg: Sig­num. Schmidt-Giovannini, S. (1996): Hören und Sprechen. Anleitungen zur auditiv-verbalen Erziehung hör­ geschädigter Kinder. Zürich: Internationales Bera­ tungszentrum Meggen. Schulte, K. (1974): Phonembestimmtes Manualsys­ tem (PMS). Villingen-Schwenningen: Neckar Ver­ lag. Seifert, E., Brosch, S., Dinnesen, A. G., Keilmann, A., Neuschaefer-Rube, C., Goldschmidt, O., Nickisch, A., Reuter, W., Röhrs, M. & Tigges, M. (2005): Pe­ riphere Hörstörungen im Kindesalter. Ergebnisse einer evidenzbasierten Konsensuskonferenz. HNO 53, 4, 376–382. Stürzebecher, E., Cebulla, M., Elberling, C. & Ber­ ger, T. (2006): New efficient stimuli for evoking frequency-specific auditory steady-state responses. Journal of the American Academy of Audiology 17, 6, 448–461. Thiel, M. (2000): Logopädie bei kindlichen Hörstö­ rungen. Ein mehrdimensionales Konzept für The­ rapie und Beratung. Berlin: Springer. Wegner, O. & Dau, T. (2002): Frequency specificity of chirp-evoked auditory brainstem responses. The Journal of the Acoustical Society of America 111, 3, 1318–1329.

Stimmstörungen Anja Fiori & Dirk Deuster

1  Klinik Eine „Stimmstörung“ bzw. „Dysphonie“ wird definiert als Veränderung des Stimmklangs (meist im Sinne von Heiserkeit) und/oder Ein­ schränkung der stimmlichen Leistungsfähig­ keit und/oder als subjektive Missempfindung. Klinisch findet im europäischen Raum fol­ gende → Klassifikation der Dysphonien An­ wendung (vgl. Wendler & Seidner 2005, 139– 189): • Organische Dysphonien Primär liegt eine pathologische morpho­ logische Veränderung vor (vgl. 1.1). • Funktionelle Dysphonien Eine organische Ursache ist nicht er­ kennbar (vgl. 1.2). • Organische Sekundärmanifestation einer funktionellen Dysphonie Die organische Veränderung ist infolge einer funktionellen Störung entstanden (vgl. 1.3).

ratur bietet eine Vielzahl weiterer möglicher Klassifikationen (vgl. Böhme 42003, 187 ff.).

1.1  Organische Dysphonien Organische Veränderungen an den stimm­ bildenden Organen (vgl. anatomische Abbil­ dungen in → Hören und Sprechen), die in der Regel mit Stimmklangveränderungen einher­ gehen, sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Phonationsverdickungen entstehen als Re­ aktion der Schleimhautstrukturen auf eine stimmliche Fehlfunktion. Zunächst kommt es zu einer Ödembildung (Wasseransamm­

Weiterhin lassen sich beispielsweise entwick­ lungsbezogene und hormonell bedingte Dys­ phonien beschreiben. Die internationale Lite­

Abb. 2:  Stimmlippenpolyp links

Abb. 1a: Stimmlippenknötchen bei Phonation

Abb. 1b: Stimmlippenknötchen bei Respiration

Klinik   379

Tab. 1:  Organische Dysphonien Organische Veränderung Phonationsverdickungen (vgl. Abb. 1a und 1b)

Mögliche Ursachen

Besonderheiten

• entzündlich und/oder funktio­ nell

Ödeme (Reinke-Ödem) Polypen (vgl. Abb. 2) Kontaktveränderungen (Rötungen, Erosionen, Pachydermien)

• gastro-oesophagealer Reflux • psychosomatische Ursachen • hyperfunktionelle Stimmge­ bung

Dysplastische Dysphonien

• angeborene Formanomalien des Kehlkopfes

Laryngitis (akut/chronisch)

• entzündlich

• Vorkommen vorwiegend bei Männern, betreffen den hinte­ ren Glottisbereich

Refluxlaryngitis Monochorditis vasomotorica Perichondritis Tuberkulose Arthritis des Kehlkopfes

• Bewegungseinschränkung bis zum Stimmlippenstillstand • Schwellung/Rötung des ­Aryknorpelbereichs • Schmerzen bei Phonation

Zysten, Zelen

• operative Entfernung • Indikation abhängig von Phonations- und Atmungs­ beeinträchtigung

Larynxpapillome dyschylische Taschenfaltenpseudotumoren

• gutartige (benigne) Kehl­ kopftumoren

bösartige (maligne) Kehlkopftumoren

• Plattenepithelkarzinome der Schleimhaut

Vokalismyositis

• Muskelschädigung • Störung der neuromuskulären Überleitung

spasmodische Dysphonie Myasthenia gravis pseudoparalytica

lung im Gewebe), die später in eine Fibrosie­ rung (bindegewebiger Umbau) in Form so ge­ nannter harter „Stimmlippenknötchen“ (vgl. Abb. 1a/b) übergehen kann. Polypen sind gutartige Gewebsneubil­ dungen der Schleimhaut, die eine charakte­ ristische Form (sackförmige Ausstülpung) aufweisen. Sie können infolge von Entzün­ dungen oder stimmlicher Überbelastung auf­ treten.

• Differenzierung nach: Lokalisation, Größe, Ausmaß des Tiefenwachstums

Hormonelle Dysphonien

Insbesondere die Sexualhormone können die Stimmfunktion beeinflussen. Bei Frauen kann es bereits im Rahmen des normalen Zyklus­ verlaufs, bedingt durch vermehrte Bindung von Wasser in den Stimmlippen und eine er­ höhte Gefäßpermeabilität vor und während der Menstruation, zu Veränderungen der weiblichen Sprech- und Singstimme kommen,

380 

Stimmstörungen

die nicht zwangsläufig als Einschränkung empfunden werden. Auch im Rahmen einer Schwangerschaft können charakteristische Resonanz- und Stimmveränderungen (Rhinopathia gravidarum, Laryngopathia gravidarum) auftreten. Nach der Geburt des Kindes gehen die Symptome wieder zurück. Stimm­ veränderungen können auch als Nebenwir­ kungen von Hormonpräparaten (Androgene, Anabolika, Gestagene, Ovulationshemmer) auftreten. Vor allem die männlichen Sexual­ hormone können zu einer Vermehrung der Stimmlippenschleimhaut, einer Massenzu­ nahme des Musculus vocalis und zu einer Ab­ senkung der Stimme führen. Da Stimmklang­ veränderungen aufgrund von Hormongaben rasch irreversibel werden, sind eine frühe Di­ agnosestellung und ein frühzeitiges Absetzen der Präparate notwendig. Als weitere spezifische Krankheitsbilder, die mit Stimmklangveränderungen einherge­ hen können, sind Intersexualität, Transsexu­ alität, Keimdrüsenerkrankungen, Hypophysenerkrankungen, Schilddrüsenerkrankun­ gen, Nebenschilddrüsenerkrankungen und Nebennierenerkrankungen zu nennen.

Bei den neurogen bedingten Dysphonien wer­ den zentrale und periphere Kehlkopflähmun­ gen unterschieden. „Zentral“ sind in diesem Sinne alle neuronalen Schädigungen, die Re­

gionen oberhalb der Hirnnervenkerne be­ treffen, „peripher“ alle Störungen unterhalb dieser Ebene (→ Sprache und Gehirn, → Neu­ rologische Sprach- und Sprechstörungen). Periphere Kehlkopflähmungen entstehen aufgrund von Schädigungen des Nervus vagus (zehnter Hirnnerv), seiner Abzweigungen Nervus laryngeus superior und inferior und dessen Aufzweigungen (Ramus anterior und posterior). Der N. laryngeus inferior versorgt die inneren Kehlkopfmuskeln. Im klinischen Jargon ist für diesen Nerv aufgrund seines rekurrierenden Verlaufs der Begriff „Rekur­ rens“ gebräuchlich (vgl. anatomische Abbil­ dung in → Hören und Sprechen); Lähmungen aufgrund von Schädigungen dieses Nervenas­ tes werden entsprechend als „Rekurrenspa­ resen“ bezeichnet. Sie haben Auswirkungen auf die respiratorische Beweglichkeit und die Spannung der Stimmlippen. Aufgrund der Lähmung der Muskeln bleibt die betroffene Stimmlippe in einer bestimmten, von Art und Umfang der Schädigung abhängigen Stellung stehen. Unterschieden werden die Median(Schlussposition), die Paramedian- und die Intermediärstellung (zwischen Phonationsund Respirationsstellung, vgl. Abb. 3a/b). Bei einseitigen Lähmungen steht die Beeinträchti­ gung des Stimmklangs im Vordergrund. Die noch bewegliche Stimmlippe der Gegensei­ te kann die entstandene Schlussinsuffizienz umso besser ausgleichen, je näher zur Mit­ te die gelähmte Stimmlippe steht. Bei beid­

Abb. 3a: Rekurrensparese links, Intermediärstellung, bei Phonation

Abb. 3b: Rekurrensparese links, Intermediärstellung, bei Respiration

Neurogen bedingte Dysphonien



Klinik   381

seitigen Stimmlippenlähmungen steht dage­ gen eine mögliche Atemnot im Vordergrund, die umso ausgeprägter ist, je deutlicher die Stimmlippen in Medianstellung fixiert sind. Lähmungen des externen (M. cricothyreoideus, bei Schädigung des N. laryngeus supe­ rior) und des internen Stimmlippenspanners (M. vocalis) gehen mit einem Spannungsver­ lust einher (vgl. anatomische Abbildungen in → Hören und Sprechen). Je nachdem, ob die Stimmlippenspanner betroffen sind, unter­ scheidet man schlaffe und straffe Lähmun­ gen. Periphere Kehlkopfparesen können als Komplikation einer Schilddrüsenoperation, infolge von Unfällen, idiopathisch – wahr­ scheinlich im Rahmen einer viralen Neuritis (Nervenentzündung) – oder im Zusammen­ hang mit Tumoren auftreten. Zentrale Kehlkopflähmungen zeigen sich als Aufhebung der Willkürmotorik bei erhal­ tener reflektorischer Beweglichkeit. Supra­ nukleäre zerebrale Schädigungen führen in der Regel nicht zu einfachen Lähmungen, sondern zu komplexen Bewegungsstörungen der Stimmlippen. Meistens treten zentrale Kehlkopflähmungen nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit komplexeren Stö­ rungen wie Dysarthrien oder Apraxien auf (→  Neurologische Sprach- und Sprechstö­ rungen, → Schluckstörungen). Traumatisch bedingte Dysphonien

Kehlkopftraumata können in Form von me­ chanischen Gewalteinwirkungen und als ­Inhalationsschädigungen vorliegen. Gewalt­ ein­wir­kungen von außen, zumeist im Zu­ sammenhang mit Unfällen, können u. a. zu Stimmlippenkontusionen (Erschütterungen), Läsionen der Musculi cricothyroidei und La­ rynxfrakturen führen. Zu Dysphonien füh­ rende, bleibende Schädigungen müssen meist kehlkopfchirurgisch behandelt werden; eine Stimmübungsbehandlung und eventuell eine psychologische Betreuung können im weite­ ren Verlauf notwendig sein. Innere Kehlkopfverletzungen infolge von Intubationen oder Endoskopien können zu

Aryknorpelluxationen, Intubationsgranulo­ men, Vernarbungen, Fibrosierungen und Schleimhautverletzungen führen. Entwicklungsbedingte Dysphonien

Dysphonien des Kindesalters können im Zu­ sammenhang mit Syndromen, nach zerebra­ len Schädigungen, bei Stoffwechseldefekten und bei Erkrankungen der Atmungsorgane auftreten (→ Entwicklungsbedingte Sprach­ störungen, → Sprechstörungen). Der größte Teil der kindlichen Dysphonien entsteht je­ doch durch eine Überanstrengung der Stim­ me bei lebhaftem Verhalten und bildet sich im Verlauf der Entwicklung in vielen Fällen zurück. Therapeutisch steht hier eine stimm­ hygienische → Beratung im Vordergrund; die  In­dikation ­einer Stimmübungsbehand­ lung  ist abhängig von der Motivation und Koopera­tionsbereitschaft des Kindes und sei­ ner El­tern. Normalerweise findet im Alter zwischen 11 und 16 Jahren, ausgelöst durch die Aus­ schüttung der Geschlechtshormone, die so genannte Mutation (Stimmwechsel) statt, bei der sich die männliche Stimme um etwa eine Oktave, die weibliche um etwa eine Terz bis Quinte absenkt. Ein Ausbleiben, ein zu frühes oder zu spätes Einsetzen der Mutation oder eine Ausdehnung über einen Zeitraum von 2 Jahren hinaus wird als pathologische Muta­ tion gewertet und bedarf differenzialdiagnos­ tischer Abklärung. Folgende Störungsbilder werden beschrieben: • Mutatio praecox als verfrühtes Einsetzen der Mutation durch vermehrt ausgeschüttete Sexual­ hormone bei Tumoren des endokrinen Systems oder durch Hormonpräparate; • Mutatio incompleta deren Ursache in hormonellen Rezeptor­ störungen oder funktionellen Störungen vermutet wird; • Mutationsfistelstimme als rein funktionelle Fehlleistung mit psychischer Ursache, bei der die kind-

382 

Stimmstörungen

liche Stimmgebung trotz erfolgter mor­ phologischer Veränderungen im Rah­ men der Mutation beibehalten wird (bei frontalem Druck auf den Schildknorpel (Bresgen-Handgriff) sinkt die Stimmla­ ge sofort um eine Oktave ab); • Mutatio perversa ein extremes Kehlkopfwachstum bei Mädchen mit Absenkung der Stimme bis hin zu Tenor-, Bariton- oder Bassklang. Eine endokrinologische Abklärung ist dringend erforderlich. Neben den endokrinen Dysfunktionen kön­ nen ursächlich auch psychische, nervale oder psychiatrische Faktoren eine Rolle spielen. Im Erwachsenenalter kann es bei Frauen zur Ausbildung einer Dysphonie im Rahmen des Klimakteriums kommen. Durch Alterungs­ prozesse kommt es nach dem sechzigsten Le­ bensjahr allmählich zu charakteristischen Stimmklangveränderungen, der so genannten „Altersstimme“ (Presbyphonie).

1.2  Funktionelle Dysphonien Funktionelle Dysphonien sind definiert als Stimmstörungen ohne Vorliegen einer organi­ schen Veränderung des Stimmapparates. Eine schematische Einteilung ist aufgrund des kom­ plexen Bedingungsgefüges, aus dem heraus eine Dysphonie entsteht, nicht unproblema­ tisch. Funktion und organische Veränderun­ gen bedingen sich gegenseitig und psychosozi­ ale Faktoren spielen eine wesentliche Rolle für die Stimmgesundheit. Ob einer Veränderung des Stimmklangs Krankheitswert beigemes­ sen wird, hängt vom subjektiven Krankheits­ empfinden des Patienten und vom Verhältnis zwischen seinen konstitutionellen Vorausset­ zungen und den vorhandenen Umweltanfor­ derungen ab. Grob lassen sich die verschiedenen For­ men funktioneller Dysphonien durch einen Mangel an muskulärer Spannung oder eine gesteigerte muskuläre Anspannung bei der

Phonation beschreiben (vgl. anatomische Ab­ bildungen in → Hören und Sprechen). Pri­ mär ist damit das Verhältnis zwischen der Akti­v ität des Atemapparates und dem glot­ tischen  Widerstand gemeint. Eine ganzheit­ liche Betrachtungsweise berücksichtigt auch die Spannung im Bereich der Ansatzräume und die ganzkörperliche Spannung: eine Hypofunktion, das heißt, ein „Zuwenig“ an Span­ nung, ist charakterisiert durch eine eher leise, wenig klangvolle, leistungsschwache Stimme, während bei einer Hyperfunktion ein „Zuviel“ an Spannung bei der Stimmgebung, aber auch im Sinne eines erhöhten Tonus im gesamten Körper zu beobachten ist. Die symptomatisch orientierte Einteilung nach hyperfunktionellen vs. hypofunktionellen Dysphonien erweist sich als nur bedingt ge­ eignet, da eine eindeutige diagnostische Tren­ nung oft nicht möglich ist. Sinnvoller ist es, sich auf die Bezeichnung „funktionelle Dys­ phonie“ zu beschränken, wenn kein patholo­ gischer Organbefund vorliegt. Die diagnos­ tische Klassifizierung erfolgt dann aufgrund einer ausführlichen Anamneseerhebung, ei­ ner Beurteilung von Körperhaltung, Atmung, Artikulation, der Erhebung eines laryngolo­ gischen Befundes und einer Beurteilung des Stimmklangs nach mittlerer Sprechstimmla­ ge, Tonhöhen- und Dynamikumfang sowie nach Stimmeinsätzen und Stimmklang auf verschiedenen Steigerungsstufen. Neben diesen primären Formen kann eine hyperfunktionelle Dysphonie klinisch als Kompensation einer primären Hypofunktion vorliegen, aber auch der umgekehrte Weg ist möglich: die hypofunktionelle Dysphonie als Dekompensation einer primären Hyperfunk­ tion. Beide Formen können mit sekundär­ en organischen Veränderungen einhergehen. Eine eindeutige ätiologische Klassifikation ist bei Vorliegen einer Dysphonie häufig nicht möglich. Während eine ­differenzialdiagnostische Ab­grenzung psychogener Dysphonien von den funktionellen Dysphonien äußerst schwie­rig ist, ist die Extremform der psychogenen Aphonie eindeutig zu diagnostizieren: Es handelt



Klinik   383

sich um einen plötzlich einsetzenden Stimm­ verlust, die Stimmgebung ist reflektorisch (beim Husten) jedoch möglich und es sind keine morphologischen Veränderungen des Kehlkopfes feststellbar.

Als weitere Folgen funktioneller Dyspho­ nien sind sekundäre laryngeale Befunde zu nennen. Durch die dauerhafte Fehlbelastung des Stimmapparates kommt es sekundär zu morphologischen Veränderungen der Stimm­ lippen, z. B. als:

1.3 Folgezustände funktioneller ­Dysphonien

• Hyperämie (verstärkte Durchblutung), • weiche oder harte Phonationsverdickungen („Stimmlippenknötchen“, vgl. Abb. 1a/b) oder als • Taschenfaltenstimme als Extremform einer kompensatorisch gesteigerten Stimman­ strengung. Die Stimme entsteht hier durch supraglottisches laryngeales Pressen mit erhöhtem subglottischen Druck, der die

Bei stimmintensiven Berufen, z. B. als Lehre­ rin oder Lehrer, kann eine Dysphonie im Sin­ ne einer existenziellen Bedrohung zu einer psychischen Belastung führen, ebenso wie die Befürchtung, an einer bösartigen Erkrankung zu leiden.

Abb. 4: Stimmfeld (Normalbefund) Sing- und Sprechstimmfeld einer 36jährigen Probandin. Die schwarze Linie begrenzt das gemessene Sing­ stimmfeld, die grauen Linien begrenzen Normstimmfelder: Die drei unterschiedlichen Linien/Felder begrenzen Singstimmfelder, die gerade in der Norm liegenden, durchschnittlichen oder sehr guten Stimmleistungen entsprechen. Die Sprechstimmfelder sind in dieser Darstellung auf die Sprechstimmlagen reduziert: S: leises Sprechen, N: normal lautes Sprechen, L: lautes Sprechen, Δ: Rufstimme (Durchgeführt mit lingWAVES, Fa. LingCom GmbH, D-Forchheim).

384 

Stimmstörungen

Taschenfalten in Schwingung versetzt und in einen extrem rauen, gepressten Stimm­ klang resultiert. Diese unökonomische Art der Stimmerzeugung kann im Sinne einer Kompensation bei schweren Läsionen im Glottisbereich erwünscht sein.

handlungen, auch im Hinblick auf mögliche Nebenwirkungen von Medikamenten, erfragt werden. Eine Beurteilung der Atemfunktion kann klinisch und geräteunterstützt (Spirometrie) erfolgen. Beurteilung des Kehlkopfes

2  Stimmdiagnostik Eine umfassende Stimmdiagnostik stützt sich zunächst auf eine ausführliche Anamnese­ erhebung, bei der neben einer Beschreibung der subjektiv empfundenen Symptomatik der Beginn und zeitliche Verlauf der Dysphonie, Hinweise auf auslösende Faktoren, mögliche beeinflussende Umweltfaktoren (psychosozi­ ale Einflüsse, Noxen) und bisher erfolgte Be­

Der Kehlkopf wird von außen inspiziert und palpiert (abgetastet), eine Beurteilung des Kehlkopfinneren erfolgt durch die indirekte Laryngoskopie mittels Kehlkopfspiegel oder Lupenlaryngoskop. Bei der indirekten Laryn­ goskopie wird unter Ausleuchtung des Ra­ chens der Kehlkopfspiegel bzw. das Laryngo­ skop oberhalb der Larynxebene gehalten und der Untersucher kann die Kehlkopfstruktu­ ren betrachten. Diese Methode eignet sich zur Feststellung deutlicher Befunde wie z. B. Ent­ zündungen, Tumore oder Lähmungen. Für die

Abb. 5: Dysphonia Severity Index (DSI), Normalbefund Dysphonia Severity Index (DSI): Bestimmung einer 36-jährigen Probandin. Die Berechnung erfolgt aus den am un­ teren Rand angegebenen Parametern „geringste mögliche Lautstärke“ und „höchste Tonhöhe“ (entnommen aus dem Singstimmfeld, Abb. 4) sowie „maximale Phonationszeit“ und „Jitter“. Die übrigen angegebenen Parameter geben zusätzliche Informationen über die Stimmleistungsfähigkeit.

Stimmdiagnostik   385

Tab. 2:  Verfahren zur Stimmdiagnostik







   



   



     





   

   

            



   



     

 Diagnostik subtilerer Befunde muss auf wei­ tere Verfahren zurückgegriffen werden. Die ­direkte Laryngoskopie wird im Zusammen­ hang mit phonochirurgischen Eingriffen unter Vollnarkose durchgeführt. Zur Dokumenta­ tion des Kehlkopfbefundes eignen sich Video­ systeme oder digitale Verfahren. Zur Beurteilung der Stimmlippenschwin­ gungen kann die Stroboskopie herangezogen werden. Hierbei wird der Schwingungsver­ lauf der Stimmlippen bei Phonation durch Beleuchtung mit einer Folge von Lichtblit­ zen sichtbar gemacht. Die Lichtblitzfrequenz wird der Stimmgrundfrequenz so angepasst,

dass der Schwingungsablauf der Stimmlip­ pen wie unter „Zeitlupe“ beobachtet werden kann. Durch Variation der Lichtblitzfrequenz können unterschiedliche Phasen des Schwin­ gungsverlaufs visualisiert werden. Weite­ re Verfahren zur Untersuchung der Beweg­ lichkeit und des Schwingungsverhaltens der Stimmlippen sind die Hochgeschwindigkeitsglottographie und die Elektroglottographie. Böhme & Gross (2001) und Eysholdt & Loh­ scheller (2007) geben einen Überblick über Verfahren zur Analyse der Stimmlippen­ schwingungen.

386 

Stimmstörungen

Beurteilung des Stimmschalls

Zentral für die Diagnosefindung ist die Be­ urteilung des Stimmschalls nach Tonhöhe, Stimmstärke, Klangfarbe, mittlerer Sprech­ stimmlage, Stimmeinsatz, Tonhöhenumfang, Steigerungsfähigkeit und Tonhaltedauer. Ne­ ben diesen qualitativen Beurteilungskriterien gibt es computergestützte Methoden der akus­ tischen Stimmschallanalyse. Das „Stimmfeld“ (vgl. Abb. 4) und ein Stimmbelastungstest die­ nen dazu, die Leistungsgrenzen der Stimme abzubilden. Der „Dysphonia Severity Index“ (DSI) (Wuyts et al. 2000, vgl. Abb. 5) gewichtet folgende Maße der Stimmqualität: höchste mögliche Stimmhöhe, geringste mögliche In­ tensität, maximale Phonationsdauer und Jitter (Frequenzschwankungen bei der Stimm­ gebung). Der Schweregrad einer Dysphonie wird im Sinne eines Skalenwertes ermittelt. Der Index ist besonders geeignet für die Ver­ laufskontrolle nach operativer Behandlung oder bei einer Übungstherapie. Die Verfahren zur Stimmdiagnostik sind in Tabelle 2 zusammengefasst. Selbstbewertung der Stimme

Zusätzlich gibt es verschiedene Ansätze, die Selbstbewertung der Stimme durch den Pati­ enten standardisiert zu erfassen (vgl. Tab. 3): Der „Voice Handicap Index“ (Jacobson et al. 1997), der je 10 Fragen zu 3 Bereichen um­ fasst, und seine deutsche, auf 12 Fragen re­ Tab. 3: Fragebogen zur subjektiven Selbsteinschät­ zung der Stimme Fragebogen Voice Handicap Index (Jacobson et al. 1997) Stimmstörungsindex (Nawka et al. 2002) Voice-Related Quality of Life (American Academy of Otolaryngology 2003)

Inhaltlicher Schwerpunkt Krankheitserleben des Patienten

stimmbezogene Lebensqualität

duzierte Entsprechung, der „Stimmstörungs­ index“ (Nawka et al. 2002), zielen auf das Krankheitserleben des Patienten ab. Der Fra­ gebogen „Voice-related Quality of Life“ (Ame­ rican Academy of Otolaryngology 2003) zielt auf die stimmbezogene Lebensqualität des Pa­ tienten ab. Das „Stimmdiagnostik-Protokoll“ der European Laryngological Society (Friedrich & Dejonckere 2005) stellt ein multidimensiona­ les Protokoll dar, das objektive und subjektive stimmdiagnostische Befunde standardisiert zusammenfasst.

3  Therapie 3.1  Operative Therapie Operative Eingriffe des Kehlkopfinneren kön­ nen unter indirekter Laryngoskopie und Ober­ flächenanästhesie oder direkter Laryngosko­ pie in Narkose durchgeführt werden (vgl. 2). Die indirekte Laryngoskopie ist bei Eingriffen kleineren Umfangs wie der Abtragung kleiner gutartiger Schleimhautveränderungen oder Injektionen möglich. Für Eingriffe in indirek­ ter Laryngoskopie kommen gebogene Opera­ tionsinstrumente zum Einsatz, die durch den Mund des Patienten bis zum Kehlkopf ge­ führt werden. Der Vorteil dieser Technik ist die Möglichkeit einer unmittelbaren auditiven und visuellen (stroboskopischen) Kontrolle. Da eine Hand des Operateurs das Laryngos­ kop führen muss, steht für die Operationsin­ strumente nur eine Hand zur Verfügung. In der direkten Laryngoskopie wird dem nar­ kotisierten und beatmeten Patienten ein starres Endoskopierohr bis zum Kehlkopf eingeführt. Das Endoskopierohr wird mit einer Brust­ stütze fixiert („Stützlaryngoskopie“) und der Kehlkopf mit einem binokularen Mikroskop betrachtet („Mikrolaryngoskopie“). Der Ope­ rateur kann beidhändig und beidäugig (ste­ reoskopisch) mit geraden Operationsin­stru­ menten Eingriffe am Kehlkopf vornehmen.



Therapie   387

Gutartige und bösartige Tumoren der Stimm­ lippen können zu organischen Dyspho­nien führen (vgl. Tab. 1). Bei bösartigen Tumoren wie den Plattenepithelkarzinomen des Kehl­ kopfs ist nicht die Stimmverbesserung, son­ dern die vollständige Tumorentfernung das Operationsziel, insoweit die Ausdehnung des Tumors dies zulässt. Je nach Ausdehnung kann eine teilweise (Resektion) oder vollständige Entfernung des Kehlkopfs (Laryngektomie) mit Anlegen eines Tracheo­stomas (Luftröhrenaus­ gang über den Hals, → Schluckstörungen) not­ wendig werden mit der Folge postoperativer organischer Dysphonien oder Aphonien (voll­ ständigem Stimmverlust). Bei der Operation gutartiger Veränderungen wie Stimmlippenpo­ lypen, -granulomen oder -ödemen wird hinge­ gen großer Wert auf die Schonung der stimm­ bildenden schwingenden Strukturen gelegt. Chirurgische Maßnahmen, die primär der Verbesserung, Wiederherstellung oder Erhal­ tung der Stimmfunktion dienen, werden un­ ter dem Begriff „Phonochirurgie“ subsumiert (Wendler et al. 2005). Hierzu zählen Eingrif­ fe an den Stimmlippen und dem knorpeligen Rahmen (Kehlkopfskelett). Bei der Augmentation werden künstliche Substanzen wie Kol­ lagen und Silikon oder körpereigenes Fett in eine oder beide Stimmlippen injiziert. Sie wird angewendet, wenn die Stimmlippen morpho­ logisch keinen vollständigen Stimmlippen­ schluss erreichen können (Schlussinsuffizi­ enz). Operationen am knorpeligen Rahmen (Thyreoplastiken) werden zu verschiedenen Zwecken eingesetzt: Eingriffe, die die Glot­ tis verengen oder erweitern (insbesondere bei Stimmlippenlähmungen), und Eingriffe, die die Stimmlippenspannung erhöhen oder vermindern (beispielsweise zur Veränderung der Stimmlage bei transsexuellen Menschen). Die Erhöhung der Stimmlage ist auch durch Eingriffe an den Stimmlippen selbst mög­ lich. Diese die Gestalt der Stimmlippen ver­ ändernden Eingriffe (Glottoplastiken) werden auch bei Fehlbildungen der Stimmlippen wie einem Segel (Diaphragma), zwischen oder ei­ ner Rinnenbildung in der Stimmlippe (Sulcus glottidis), eingesetzt. Ein deutschsprachiger

Überblick zu Eingriffen am Kehlkopf findet sich bei Theissing et al. (2006).

3.2  Konservative Verfahren Medikamentöse Therapie

Eine lokale medikamentöse Behandlung kann bei akuten oder chronischen Entzündungen der Schleimhaut unterstützend eingesetzt ­werden. Je nach Krankheitsbild können über geeignete Inhalationsgeräte schleimlösende, abschwellen­ de, entzündungshemmende oder schleimhaut­ pflegende Substanzen den Kehlkopf erreichen. Botulinumtoxin wird bei der spasmodischen Dysphonie eingesetzt. Diese nach heu­ tigem Kenntnisstand neurologische Erkran­ kung führt in einer ihrer Erscheinungsformen („Adduktortyp“) zu einem Aufeinanderpres­ sen der Stimmlippen und damit zu Schwin­ gungsabbrüchen. Es resultiert ein stark ge­ presster Stimmklang. Das Botulinumtoxin, ein Produkt des Bakteriums Clostridium botulinum, verhindert die Reizüberleitung vom motorischen Nerv auf die Muskelfasern. Die Injektion in die Stimmlippen und/oder Ta­ schenfalten führt zu einer zeitlich begrenzten teilweisen Lähmung der betroffenen Muskeln und verbessert durch Reduzierung der spon­ tanen Stimmlippenadduktionen die Stimm­ qualität. Bisher besteht keine Zulassung des Botulinumtoxins für die Behandlung der spasmodischen Dysphonie; die Anwendung erfolgt als „Off-Label-Use“. Übende Verfahren

Bei primär funktionell bedingten Dysphoni­ en steht die konservative Übungsbehandlung mit dem Ziel einer Optimierung der Stimm­ gebung und der Erarbeitung einer Eigenkon­ trolle im Vordergrund. Im Vorfeld sollten eine Dysphonie begünstigende Faktoren wie Rau­ chen, gastroösophagealer Reflux (Rückfluss von Mageninhalt in den Ösophagus), Laryngi­ tiden, Kieferhöhlenentzündungen, behinder­ te Nasenatmung oder Bronchitiden möglichst behoben werden. Auch bei der Rehabilita­tion

388 

Stimmstörungen

nach chirurgischen Eingriffen und bei Rekur­ rensparesen schließt sich in der Regel eine Übungsbehandlung an. Generelles Ziel ist es, bei minimalem Kraftaufwand auf Glottisebene eine maximale stimmliche Leistungsfähigkeit in unterschiedlichen kommunikativen Situa­ tionen zu erreichen. Das Verhältnis zwischen subglottischem Druck, myoelastischen Kräf­ ten der Glottis und Ausnutzung der Ansatz­ räume als Resonanzräume soll optimiert wer­ den. Dabei ist eine Stimmtherapie nur dann zielführend, wenn neben konkreten Funkti­ onsübungen ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt wird, bei dem psychische und Umweltfaktoren berücksichtigt werden und stimmungsgetra­ gene, situationsgebundene, partnerorientierte Übungsformen integriert werden (Gunder­ mann 1994) (→ Sprachtherapie). Aufbauend auf Entspannungstechniken, Wahrnehmungsschulung, ­Haltungskorrektur und Atemübungen stehen verschiedenste Me­ thoden zum Funktionstraining zur Ver­f ü­ gung. Dabei ist zu betonen, dass eine isolierte Therapie der Atemfunktion nicht zielführend für eine Verbesserung der Stimmgebung ist. Vielmehr sollte von Beginn an eine Verbes­ serung der Atem-Stimm-Koordination erar­ beitet werden, wie sie u. a. in den Konzepten von Coblenzer & Muhar (1993), Fernau-Horn (1955), Schlaffhorst-Andersen (Saatweber 1997) oder Spiecker-Henke & Tuschy-Nitsch (2007) angestrebt wird. Je nach vorherrschender Symptomatik können unterschiedliche Schwerpunkte fest­ gelegt werden: • Methoden, die eher dem Ziel des Tonusabbaus bei einer Hyperfunktion im Sinne einer übermäßigen Anspannung dienen, sind u. a. Übungen zur Lockerung der An­ satzräume, Resonanz- und Nasalierungs­ übungen (vgl. u. a. Pahn 2000) und die Kaumethode nach Fröschels (1952). • Methoden, die eher dem Tonusaufbau bei zu Grunde liegender Hypofunktion dienen, sind z. B. Atemwurfübungen nach FernauHorn (1955) und Übungen, die unterstüt­ zende ganzkörperliche Bewegungen wie

das Vorstoßen der Arme bei Phonation ein­ beziehen. Solche Kraftübungen werden ne­ ben der Reizstrombehandlung (Radü et al. 2001) speziell zur Optimierung des Glottis­ schlusses bei Rekurrensparesen eingesetzt. Als Beispiel für einen ganzheitlichen Ansatz ist die „Akzentmethode“ (Thyme & Frokjaer-Jen­ sen 2001) zu nennen, bei der eine Stabilisie­ rung der Stimmfunktion durch die Koordina­ tion der Stimmgebung mit ganzkörperlichen Bewegungen in unterschiedlichen Tempi an­ gestrebt wird, ohne dass eine Festlegung auf bestimmte Symptomkonstellationen erfolgt. Ein weiterer umfassender Ansatz ist die „Funk­ tionale Stimmtherapie“ nach Kruse (1991), bei der die Nutzung der laryngealen Doppelven­ tilfunktion im Vordergrund steht. Vorrangig soll die einatmungsgesteuerte Glottisfunktion für die Stimmgebung genutzt werden. Gene­ relles Ziel ist die Weitstellung des Vokaltraktes und die Tiefstellung des Kehlkopfes bei Pho­ nation, wobei gesamtkörperliche Einflüsse ge­ nutzt werden. Dabei wird eine Eigenkontrolle durch den Patienten angestrebt. Im Rahmen der Rehabilitation nach chirur­ gischen Eingriffen bei Kehlkopftumoren hän­ gen Zielsetzung und Methodik vom Ausmaß der Resektion ab. Nach kehlkopferhaltenden Operationen steht der Aufbau einer indivi­ duell optimalen Ersatzphonation im Vorder­ grund. So kann je nach Ausmaß der Resekti­ on eine glottische (auf Stimmlippenenbene), ventrikuläre (auf Taschenfaltenebene) oder ary-epiglottische (auf der Ebene des Kehlkopf­ eingangs) Ersatzphonation angestrebt werden (Kruse 2006). Überblickswerke zur Darstellung stimm­ therapeutischer Behandlungsansätze finden sich bei Kruse (2006), Strauch & Wanetsch­ ka (2006) sowie Spiecker-Henke & TuschyNitsch (2007). Stimmrehabilitation nach Laryngektomie

Eine völlig andere Ausgangslage für die Re­ habilitation bietet die Laryngektomie (voll­ ständige Kehlkopfentfernung). Aufgrund der künstlichen Trennung von Luft- und Speise­



Literatur   389

weg durch Anlegen eines Tracheostomas (Luft­ röhrenausgang über den Hals; → Schluckstö­ rungen) kann die Atemluft nicht mehr für die Phonation genutzt werden. Neben der Erarbei­ tung einer Ersatzstimme steht hier eine Versor­ gung mit Hilfsmitteln und eine → Beratung zum Umgang mit dem verlegten Atemweg an. Optimaler Weise wird eine körpereigene Er­ satzstimme, die so genannte „Ructusstimme“ bzw. „Ösophagusstimme“, erarbeitet, bei der durch Ansammlung und kontrolliertes Ablas­ sen von Luft aus dem Ösophagus (Speiseröh­ re) das pharyngo-oesophageale Segment für die Stimmgebung genutzt wird. Verbreitet ist auch die operative Anlage einer Shunt-Prothese (Provox®), das heißt, eines Ventils zwischen Trachea und Ösophagus, wodurch die pulmo­ nale Luft für die Ersatzstimmbildung genutzt werden kann. In Einzelfällen muss jedoch auf apparative Hilfen zur Stimmerzeugung (z. B. Servox®) zurückgegriffen werden.

4  Ausblick Im Sinne einer evidenzbasierten Praxis sollte die Dokumentation und Evaluation integra­ ler Bestandteil jeglicher stimmtherapeutischer Bemühungen sein (→ Qualitätsentwicklung). Mindeststandard sollte hier eine Erhebung des Stimmstatus und eine Dokumentation des Stimmklanges anhand eines Tonträgers, wenn möglich auch die Erstellung eines Stimmfeldes vor und nach der Übungsbehandlung sein. Für eine wissenschaftlich fundierte Evaluation for­ dert Kruse (2006) die Anwendung standardi­ sierter Verfahren.

Literatur Böhme, G. & Gross, M. (2001): Stroboskopie und andere Verfahren zur Analyse der Stimmlippen­ schwingungen. Heidelberg: Median. Böhme, G. (42003): Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen. Bd. I: Klinik. Jena: Urban & Fi­ scher.

Coblenzer, H. & Muhar, F. (1993): Atem und Stimme. Wien: Österreichischer Bundesverlag Schulbuch. Eysholdt, U. & Lohscheller, J. (2007): Diagnostik bei unklarer Heiserkeit – Bildgebung von Stimmlip­ penschwingungen. Deutsches Ärzteblatt 104, 51– 52, 3556–3561. Fernau-Horn, H. (1955): Prinzip der Weitung und Fe­ derung in der Stimmtherapie. HNO 25, 5, 102–105. Friedrich, G. & Dejonckere, P. H. (2005): Das Stimm­ diagnostik-Protokoll der European Laryngological Society (ELS) – Erste Erfahrungen im Rahmen ei­ ner Multicenterstudie. Laryngo-Rhino-Otologie 84, 10, 744–752. Froeschels, E. (1952): Chewing Method as therapy. Archives of Otolaryngology 56, 5, 427–434. Gundermann, H. (1994): Die kommunikative Stim­ me. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Handbuch der Sprachtherapie. Bd. 7 (157–171). Berlin: Marhold. Kruse, E. (1991): Funktionale Stimmtherapie – the­ rapeutisch-konzeptionelle Konsequenz der laryn­ gealen Doppelventilfunktion. Sprache – Stimme – Gehör 15, 3, 127–134. Kruse, E. (2006): Systematik der konservativen Stimmtherapie. In: Böhme, G. (Hrsg.): Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen (117–132). Bd. II: Therapie. München: Urban & Fischer. Pahn, J. & Pahn, E. (2000): Die Nasalierungsmetho­ de. Roggentin/Rostock: Oehmke. Radü, H., Pahn, J. & Ptok, M. (2001): Neue Wege der Stimmtherapie. In: Gross, M. & Kruse, E. (Hrsg.): Aktuelle phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte. Bd. 8 (92–93). Heidelberg: Median. Saatweber, M. (1997): Einführung in die Arbeitsweise Schlaffhorst-Andersen. Idstein: Schulz-Kirchner. Spiecker-Henke, M. & Tuschy-Nitsch, D. (2007): Leit­ linien der Stimmtherapie. Stuttgart: Thieme. Strauch, Th. & Wanetschka, V. (2006): Behandlung der Dysphonien aus stimmtherapeutischer Sicht. In: Böhme, G. (Hrsg.): Sprach-, Sprech-, Stimmund Schluckstörungen. Bd. II: Therapie (133–152). München: Urban & Fischer. Theissing, J., Rettinger, G. & Werner, J. A. (2006): HNO-Operationslehre. Stuttgart: Thieme. Thyme, K. & Frokjaer-Jensen, B. (2001): The Accent Method. A rational voice therapy in theory and practise. Oxon: Speechmark. Wendler, J., Seidner, W. & Eysholdt, U. (2005): Lehr­ buch der Phoniatrie und Pädaudiologie. Stuttgart: Thieme. Wuyts, F. L., de Bodt, M. S., Molenberghs, G., Remacle, M., Heylen, L., Millet, B., van Lierde, K., Raes, J. & van de Heyning, P. H. (2000): The Dysphonia Severi­ ty Index: An objective measure of vocal quality based on a multiparameter approach. Journal of Speech, Language and Hearing Research 43, 3, 796–809.

Neurologische Sprach- und Sprechstörungen Ernst G. de Langen

1 Neurologische Sprachund Sprechstörungen im ­Erwachsenenalter: Stand der Forschung In der folgenden Darstellung der Beeinträch­ tigungen von Sprachstrukturen und Sprach­ funktionen geht es schwerpunktmäßig um die organisch bedingten Kommunikations­ störungen. Aus monistischer Sicht und auch im Lichte der modernen Hirnforschung ha­ ben alle Störungen der Kommunikation, ob es nun die Sprache, das Sprechen oder die Stim­ me betrifft, ein organisches Korrelat. Auch wenn wir ein Störungsbild mit dem Zusatz „psychogen“ bezeichnen, wissen wir, dass sich auch bei solchen Beeinträchtigungen mit den modernen Methoden der bildgebenden Ver­ fahren in den meisten Fällen ein hirnorga­ nisches Korrelat nachweisen lässt, während der Auslöser eine psychoreaktive Reaktion ist (→ Psychoreaktive Redestörungen). Auch bei den → entwicklungsbedingten Störungen der Kommunikation wissen wir mittlerweile, dass hier genetische Prädispositionen eine wichti­ ge Rolle spielen. Bei den organischen Sprach-, Sprech- und Stimmstörungen können wir also im Wesentlichen vier verschiedenen Ursa­ chen unterscheiden: eine genetische Ursache, eine psychische Ursache, eine hirnschädigen­ de Ursache und eine anatomisch bedingte An­ omalie. Letztere Ursache kann natürlich auch genetisch bedingt sein. In diesem Beitrag soll es vorrangig um solche organischen Sprachund Sprechstörungen gehen, die durch eine Hirnschädigung nach bereits erfolgtem Er­ werb ausgelöst wurden (vgl. 2–3). Diese wer­ den allgemein als „neurologische Sprach- und Sprechstörungen“ bezeichnet. Weiter sollen solche Störungen besprochen werden, de­

nen eine – zumeist kongenitale – anatomische Ano­malie zugrunde liegt (vgl. 4). Die Darstellung der verschiedenen Sprachund Sprechstörungen kann in zweierlei Form geschehen. Die klassische Darstellungswei­ se ist die symptom- bzw. syndromorientierte Einteilung, die medizinisch bzw. neuropsy­ chologisch begründet und defizitorientiert ist. Eine alternative Darstellung folgt den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2001), die die „International Classifi­ cation of Functioning, Disability and Health“ (ICF) entwickelt hat (vgl. DIMDI 2005). Letz­ tere stellt einen theoretischen Rahmen zur Verfügung, der es erlaubt, Krankheiten in­ nerhalb der Dimensionen Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Partizipa­ tion zu beschreiben. Weiter können inner­ halb des ICF Umweltfaktoren, die in Bezug zu den Gesundheitsproblemen stehen, beschrie­ ben werden, personenbezogene Faktoren da­ gegen jedoch nicht. Diese Einteilungen stel­ len keinen Gegensatz dar, sondern ergänzen sich, denn es macht Sinn, zunächst genau zu diagnostizieren, um welche Beeinträchtigun­ gen der Sprachstrukturen bzw. -funktionen es sich handelt und welche zugrundliegende Ursache dafür verantwortlich ist, bevor man über die Auswirkungen dieser Beeinträch­ tigungen auf der Ebene der Alltagsaktivität und der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nachdenken kann. Natürlich kann man über die Folgezustände eines Problems, das einem phänomenologisch bekannt ist, reflektieren; als Therapeut hat man – mit dem Vorsatz, zu intervenieren – jedoch die Verpflichtung, die genaue Ursache in Erfahrung zu bringen, da­ mit eine möglichst kausale Therapie durchge­ führt werden kann.



Neurologische ­Sprachstörungen: Aphasien   391

2 Neurologische ­Sprachstörungen: Aphasien 2.1  Klinik Die durch eine erworbene Hirnschädigung auftretenden Sprachstörungen werden als „Aphasien“ bezeichnet. In den meisten Fällen werden diese durch Hirninfarkte verursacht, andere Ursachen sind Schädel-Hirn-Trauma­ ta, entzündliche Prozesse oder neurochirur­ gische Eingriffe. Die Anzahl der Menschen, die jährlich eine Aphasie erleiden, beträgt in Deutschland ca. 25 000. Die Hirnschädigung betrifft dabei meistens sprachrelevante Anteile der linkshemisphärischen Großhirnrinde, die sogenannte perisylvische Region; es können aber auch extrasylvische Areale und subkorti­ kale Strukturen betroffen sein (→ Sprache und Gehirn, → Sprachentwicklung und Sprachab­ bau). Eine aktuelle Übersicht über die Klinik und die Therapie der Aphasien findet sich bei Huber, Poeck & Springer (2006), Siegmüller & Bartels (2006), Grohnfeldt (2007) und Blanken & Ziegler (2008). In vielen Fällen sind bei einer Aphasie so­ wohl die produktive als auch die rezeptive Funktion betroffen, meistens sind die schrift­ sprachlichen Fähigkeiten stärker gestört als die Produktion bzw. das Verstehen von Laut­ sprache. Es gibt aber häufig auch Dissoziatio­ nen, das heißt, dass der Störungsgrad in den jeweiligen sprachlichen Modalitäten zum Teil recht unterschiedlich sein kann. Die sprach­ lichen Strukturebenen Semantik, Phonologie, Syntax und Pragmatik können gleichzeitig gestört sein; in den meisten Fällen lassen sich aber auch hier Leistungsunterschiede zwi­ schen diesen strukturellen Ebenen feststellen. Eine sehr anschauliche Darstellung der lingu­ istischen Aspekte der Aphasie findet sich bei Tesak (2006). In der anglo-amerikanischen Literatur (vgl. u. a. Goodglass & Kaplan 1983, Gordon 1998) wird oft zwischen flüssigen und nichtflüssigen Aphasien unterschieden. Für die­ se Unterscheidung wird die Spontansprache

hinsichtlich sechs verschiedener Kriterien auf einer sieben-stufigen Skala beurteilt. Aller­ dings besteht bei diesem Verfahren eine rela­ tiv geringe Interrater-Reliabilität, so dass die Zuweisung der vorliegenden Aphasieart recht unsicher ist. In Deutschland hat sich eine Ein­ teilung der Aphasien etabliert, die zwischen Standardsyndromen und Sonderformen un­ terscheidet: Standardsyndrome

Sonderformen

• • • •

• Transkortikal-motori­ sche Aphasie • Transkortikal-sensori­ sche Aphasie • Transkortikalgemischte Aphasie • Leitungsaphasie

Globale Aphasie Broca-Aphasie Wernicke-Aphasie Amnestische Aphasie

Die Störungen der Lese- und Schreibleistung (→ Lesen und Schreiben, → Beeinträchtigun­ gen der Lesefähigkeit) können sich – unab­ hängig vom jeweiligen Aphasiesyndrom – sehr unterschiedlich darstellen und bilden wieder­ um eigenständige Syndrome. Diese „Alexien“ und „Agraphien“ (→ Sprache und Gehirn) werden bei de Langen (2001) ausführlich dar­ gestellt.

2.2  Diagnostik Die Diagnostik der Aphasie kann formal er­ folgen, das heißt, sie untersucht die forma­ len Aspekte der gestörten Sprache entweder auf der neurolinguistisch-deskriptiven Ebene oder auf der theoriegeleiteten kognitiven Ebe­ ne (de Langen 2003). Die formale Diagnos­ tik hat – auf der neurolinguistisch-deskriptiven Ebene – eine lange Tradition, der eine erheb­ liche klinische Relevanz unterstellt wird und die entsprechend häufig im klinischen Alltag Anwendung findet. Hierzu gibt es in Deutsch­ land mehrere normierte Untersuchungsver­ fahren, wie z. B. den „Aachener Aphasie Test“ (Huber et al. 1983) oder die „Aphasie-CheckListe“ (Kalbe et al. 2002). Der kognitiv-neurolinguistische Ansatz hat sich seit gut 20 Jahren

392 

Neurologische Sprach- und Sprechstörungen

etabliert und ist innerhalb der kognitiv-neuro­ psychologischen Forschung zum Standard ge­ worden. Allerdings wird aktuell noch darüber diskutiert, ob der so genannte „Syndroman­ satz“ legitim ist, denn die mit den klassischen Testverfahren diagnostizierten Syndromgrup­ pen erweisen sich bei näherer Betrachtung generell als äußerst inhomogen, nicht nur im Sinne des Schweregrades, was legitim wäre, sondern auch hinsichtlich der Symptomqua­ lität. Deshalb verzichtet der kognitive Ansatz in der Aphasiologie zunehmend auf Syndrom­ bezeichnungen und versucht mit modellge­ leiteten Diagnostikverfahren, die Module des Sprachverarbeitungssystem zu untersuchen und somit die den Symptomen zugrundelie­ genden Störungsursachen zu eruieren. Letz­ tere Vorgehensweise führt eher zu einem stö­ rungsspezifischen Therapieansatz, weil die „funktionale Läsion“ im Sprachsystem behan­ delt wird. Die rein deskriptiv erfassten Phä­ nomene, die einer Syndrombezeichnung zu­ gewiesen werden, lassen eine automatische Schlussfolgerung im Hinblick auf die Stö­ rungsursache dagegen nicht zu. Die Störungen, die die formale Diagnos­ tik aufdeckt, erlauben keine zuverlässige Ein­ schätzung der Beeinträchtigung der Aktivi­ täten bzw. der Partizipation der jeweiligen Patienten im Alltag. Deshalb wird zusätzlich eine pragmatisch-funktionale Diagnostik be­ nötigt, die die sprachliche Leistungsfähigkeit der Patienten bei Aktivitäten des täglichen Lebens untersucht und die Frage beantwor­ ten kann, inwiefern die betroffene Person auf fremde Hilfe angewiesen ist. Für die funktio­ nale Diagnostik gibt es zur Zeit einige wenige normierte Verfahren, wie z. B. ANELT* und CETI* (de Langen 2003), andere Instrumen­ te befinden sich noch in einem Entwicklungs­ stadium (de Langen 2008).

2.3  Therapie Die Diversität der Methoden in der Diagnos­ tik findet sich auch bei den verschiedenen An­ sätzen der Aphasietherapie wieder. Eine gute

Übersicht über die klassischen Therapieschu­ len bieten Howard & Hatfield (1987). Gegen­ wärtig gibt es in Deutschland im Wesentlichen drei unterschiedliche Therapierichtungen: • Die neurolinguistische Aphasietherapie (Ho­ward & Hatfield 1987) beinhaltet eine gezielte Behandlung einer bestimmten ge­ störten linguistischen Struktur, zum Bei­ spiel die Therapie grammatischer Struktu­ ren, der phonologischen Struktur oder des semantischen Lexikons. • Der kognitive Therapieansatz (Cholewa 2002) dagegen beinhaltet die Therapie ­eines oder mehrerer Aspekte des modula­ ren Sprachsystems, wie zum Beispiel die Verbesserung des graphematischen Out­ put-Lexikons, des auditiven Input-Lexi­ kons oder der Phonem-Graphem-Konver­ tierung. • In den letzten Jahren definiert sich zuneh­ mend eine alltagsorientierte Aphasietherapie (Glindemann et al. 2002), die in ih­ rer Zielsetzung zwar nicht wirklich neu ist, sich aber vermehrt systematisiert und durch die ICF einen Rahmen gefunden hat, in dem sie sich leichter beschreiben und strukturieren lässt. Bei dieser Therapie­ form geht es um eine stark alltagsbezogene Zielsetzung, die individuell auf die Bedürf­ nisse der Patienten zugeschnitten ist und dem Patienten die Teilhabe an definierten Alltagsaktivitäten wieder weitgehend er­ möglichen soll. Eine Überlegenheit der einen oder anderen Therapiemethode wurde bislang nicht nach­ gewiesen. Allerdings ist man zunehmend da­ rum bemüht, durch Therapiestudien zu ei­ ner evidenzbasierten Therapie zu kommen und somit eine Qualitätssicherung zu errei­ chen (→ Unterrichts- und Therapieforschung, → Qualitätsentwicklung).

Neurologische Sprech- und Stimmstörungen   393



3 Neurologische Sprech- und Stimmstörungen: Dysarthrien und Sprechapraxien 3.1  Klinik Für die erworbenen neurologischen Sprechund Stimmstörungen wird üblicherweise der Begriff „Dysarthrie“ verwendet (für eine Über­ sicht vgl. Ziegler & Vogel 2008). Dabei kann eine Störung der Sprech- und/oder Stimm­ funktion vorliegen. Häufige Ursachen für das Auftreten einer Dysarthrie sind Schädel-HirnTraumata, Hirninfarkte und degenerative Er­ krankungen, die unterschiedliche Hirnstruk­ turen betreffen können. Je nach Lokalisation der Hirnschädigung können wir zwischen pe­ ripheren und zentralen Dysarthrien unter­ scheiden. Dysarthrien sind Störungen der ele­ mentaren motorischen Prozesse der Steuerung und Ausführung von Sprechbewegungen, die auf eine Lähmung zurückzuführen sind. Eine andere Art der neurologischen Sprechstörun­ gen stellt die „Sprechapraxie“ dar, bei der der Zugriff auf Bewegungsprogramme gestört ist, während die Ausführungsorgane selber nicht gelähmt sind. Bei den Dysarthrien können wir differen­ zialdiagnostisch nach der Beeinträchtigung unterschiedlicher Funktionssysteme, also den Ort der Beeinträchtigung unterscheiden. Die­ se Funktionssysteme unterliegen zum Teil unterschiedlichen neurophysiologischen Or­ ganisationsprinzipien und können bei einer Hirnschädigung auch in unterschiedlichem Ausmaß betroffen sein. Sie sind zum Teil von­ einander abhängig, zum Teil auch unabhän­ gig. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Funktionssysteme: • • • • •

das labio-mandibuläre Funktionssystem, das linguo-mandibuläre Funktionssystem, das velopharyngeale Funktionssystem, das laryngeale Funktionssystem, das respiratorische Funktionssystem.

Ein weiteres Kriterium, nach dem wir zwi­ schen verschiedenen Dysarthrien unterschei­ den können, ist die Art der zugrundeliegenden Bewegungsstörung. Diese neurophysiologische Differenzialdiagnostik orientiert sich an den Begrifflichkeiten, die für die Extremitätenmo­ torik Verwendung finden und überprüft Kraft, Tonus und Bewegungsparameter. Dabei wird folgende Syndromklassifikation verwendet: • • • • •

schlaff, spastisch, hypokinetisch, hyperkinetisch, ataktisch.

3.2  Diagnostik Bei der Syndromklassifikation wird in erster Linie auf die Beurteilung der auditiven Merk­ male von Sprechproben zurückgegriffen, die im Rahmen von standardisierten Untersu­ chungsverfahren erhoben werden. Dabei wer­ den folgende Ebenen unterschieden: • • • •

Sprechatmung, Stimme, Artikulation, Prosodie.

Daneben kommen in einzelnen Fällen auch apparative Verfahren zum Einsatz, wobei zwi­ schen physiologischen, aerodynamischen und akustischen Verfahren unterschieden werden kann. In der Diagnostik muss eine mögliche Sprechapraxie von einer Dysarthrie abge­ grenzt werden. Dabei spielt die Frage der Ätiologie eine bedeutsame Rolle, denn die Sprechapraxien treten nahezu ausschließ­ lich nach Infarkten oder Blutungen im Ver­ sorgungsgebiet der mittleren Hirnarterie der linken Hemisphäre auf (→ Sprache und Ge­ hirn), während den Dysarthrien sehr stark unterschiedliche Lokalisationen der Hirn­ schädigung zugrunde liegen können. Wich­ tige Kriterien, die für das Vorliegen einer Dysarthrie sprechen und somit die Diagnose

394 

Neurologische Sprach- und Sprechstörungen

einer Sprechapraxie unwahrscheinlich ma­ chen, sind: • das Auftreten konstanter phonetischer Störungsmerkmale, • das Bestehen einer der artikulatorischen Störung annährend vergleichbaren Dys­ phonie, • das Fehlen phonematischer Zeichen, • das Fehlen von Suchbewegungen. Auch bei den Dysarthrien und den Sprech­ apraxien kann eine Übertragung der Stö­ rung auf die ICF-Komponenten stattfinden. Die objektiven Störungen, die auf so genann­ ten Dysarthrieskalen mit einer Schweregrad­ seinteilung erfasst werden können, erlau­ ben für sich alleine genommen keine sichere Vorhersagbarkeit für die Einschränkungen bei Aktivitäten des täglichen Lebens und der gesellschaftlichen Partizipation. Durch Ver­ ständlichkeitsprüfungen, die die Auswirkung der Sprechstörung objektivieren, können sol­ che Vorhersagen eher getroffen werden. Aber auch mögliche Umweltfaktoren spielen eine Rolle, denn Faktoren wie Umgebungslärm und Hörfähigkeit der Familienangehörigen können bedeutsam sein und interindividuell stark variieren.

3.3  Therapie Die Behandlungsansätze bei neurologischen Sprech- und Stimmstörungen sind teilweise sehr unterschiedlich. Mitentscheidend in ei­ ner Therapie ist, wie gut ein Patient lernt, sich selbst wahrzunehmen und möglicherweise bei sich selbst korrektiv einzugreifen. Der Patient muss zu einem „Laienphonetiker“ werden. Oft ist die vorliegende Schädigung an sich nicht re­ versibel, so dass verhaltensmodifizierende Be­ handlungsansätze eine wichtige Rolle spielen können. Aber auch prothetische und instru­ mentelle Behandlungsmethoden können zum Einsatz kommen, in manchen Fällen auch eine pharmakologische Behandlung. Bei den kommunikativen und alltagsorien­ tierten Ansätzen spielt die Veränderung des

sprachlichen Verhaltens eine wichtige Rolle. Der Patient soll Kompensationstechniken er­ lernen, mit denen er die Verständlichkeit und die Dauerbelastbarkeit beeinflussen kann. Korrekturtechniken sollen systematisch ge­ übt und in konkreten und für den Patienten relevanten Situationen ausprobiert werden und so zur Ökonomisierung des Sprecherver­ haltens beitragen.

4 Periphere und kongenitale Sprech- und Stimmstörungen Unter diesem Oberbegriff findet sich eine Vielzahl von äußerst unterschiedlichen Stö­ rungsbildern, die den orofazialen Bereich be­ treffen. Im Einzelnen handelt es sich um fol­ gende Syndrome: • Dysglossien, • Rhinolalien-Palatolalien/Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten (LKGS), • Orofaziale Dysfunktionen. Eine gute Einführung in diese Sprech- und Stimmstörungen findet sich bei Friedrich et al. (2005). Dysglossien

Als „Dysglossien“ bezeichnet man Störungen der Aussprache infolge organischer Verände­ rungen an den peripheren Artikulationsor­ ganen. In den meisten Fällen ist die Ursache eine kongenitale Anomalie, in anderen Fällen liegt eine traumatische Ursache, ein postope­ rativer Folgezustand oder eine periphere Ner­ venlähmung vor. Die Dysglossien können un­ terschiedliche Bereiche des orofazialen Raums (→ Hören und Sprechen) betreffen: • labial (Lippen), • dental (Zähne), • lingual (Zunge), • palatal (Gaumen), • nasal (Nase). Die Behandlung erfolgt in der Regel im Rah­ men chirurgischer Rekonstruktionsverfahren



Literatur   395

im Bereich der HNO-Heilkunde bzw. der Zahn- und Kieferorthopädie. Anschließend stehen sprechtherapeutische Maßnahmen oder Kau- und Schluckübungen im Vordergrund, damit ein physiologischer Prozess angebahnt werden kann. Rhinolalien-Palatolalien/LKGS

Bei diesem Störungsbild, das auch als „Näseln“ bezeichnet wird, unterscheidet man zwischen funktionellen – ohne organpathologischen Be­ fund – und organischen Störungen. Weiter kann man im Einzelfall zwischen einem „offe­ nen Näseln“ (Hyperrhinophonie), einem „ge­ schlossenen Näseln“ (Hyporhinophonie) und einem „gemischten Näseln“ unterscheiden. In der Mehrzahl der Fälle liegt eine organi­ sche angeborene Entwicklungsstörung vor und zwar in Form einer Lippenspalte, Lippen-Kie­ ferspalte oder einer Lippen-Kiefer-Gaumen­ spalte (LKGS). Dadurch entsteht im Falle des offenen Näselns ein insuffizienter Gaumenra­ chenabschluss mit einem Überschuss des nasa­ len Klanganteils. Für das geschlossene Näseln ist bei Kindern in den meisten Fällen die ver­ größerte Rachenmandel verantwortlich. The­ rapeutisch stehen zunächst operative (rekon­ struktive) Maßnahmen im Vordergrund. Nach Abschluss der bei LKGS oft mehrfach konse­ kutiv durchgeführten Operationen ist eine sprechtherapeutische Behandlung erforderlich, ebenso bei den funktionellen Störungen. Orofaziale Dysfunktionen

Das orofaziale System ist eine komplexe funk­ tionelle Einheit, die die mimische Muskulatur, die Kaumuskulatur, die Zungenmuskulatur und die Schluckmuskulatur umfasst. Die Ur­ sachen für Dysfunktionen in diesem Bereich sind vielfältig. Die Ätiologie kann genetisch, habituell oder organisch bedingt sein oder die Dysfunktion ist die Folge einer zerebralen Be­ wegungsstörung. Die Defizite führen zu Ar­ tikulations- und/oder Schluckstörungen. Die häufigsten Symptome, die auftreten können sind:

• • • • •

unvollständiger Lippenschluss, Mundatmung, Zungenpressen, interdentale Zungenruhelage, vermehrter Speichelfluss.

Bei einer organischen Genese soll zunächst ein chirurgischer Eingriff, wie z. B. eine operative Entfernung der Gaumenmandeln (Tonsillektomie), erfolgen. Falls erforderlich kann ab dem achten Lebensjahr eine kieferorthopädische Behandlung durchgeführt werden. Ansonsten ist eine myofunktionelle Therapie erforderlich, bei der je nach Schweregrad, Alter, Genese und betroffener Struktur zwischen verschiedenen Therapieformen differenziert werden kann.

Literatur Blanken, G. & Ziegler, W. (2008): Klinische Lingu­ istik und Phonetik. Ein Lehrbuch für die Diagno­ se und Behandlung von erworbenen Sprach- und Sprechstörungen im Erwachsenenalter. Mainz: HochschulVerlag. Cholewa, J. (2002) Der kognitive Ansatz in der klini­ schen Sprachtherapieforschung. Tübingen: Stauf­ fenburg Verlag. DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Doku­ mentation und Information) (2005): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorgani­ sation (WHO). Neu-Isenburg: MMI. Friedrich, G., Bigenzahn, W. & Zorowka, P. (2005): Phoniatrie und Pädaudiologie. Bern: Huber. Glindemann, R., Ziegler, W. & Kilian, B. (2002): Aphasie und Kommunikation. In: Goldenberg, G., Pössl, J. & Ziegler, W. (Hrsg.): Neuropsychologie im Alltag. Stuttgart: Thieme. Goodglass, H. & Kaplan, E. (1983): The assessment of aphasia and related disorders. Philadelphia: Lea & Febiger. Gordon, J. K. (1998): The fluency dimension in apha­ sia. Aphasiology 12, 7/8, 673–688. Grohnfeldt, M. (Hrsg.) (2007): Lexikon der Sprach­ therapie. Stuttgart: Kohlhammer. Howard, D. & Hatfield, F. (1987): Aphasia Therapy: Historical and contemporary issues. Hove: Erl­ baum. Huber, W., Poeck, K., Weniger, D. & Willmes, K. (1983): Der Aachener Aphasie Test. Göttingen: Hogrefe. Huber, W., Poeck, K. & Springer, L. (2006): Klinik und Rehabilitation der Aphasie. Stuttgart: Thieme.

396 

Neurologische Sprach- und Sprechstörungen

Kalbe, E., Reinhold, N., Ender, U. & Kessler, J. (2002): Aphasie-Check-Liste (ACL). Köln: Prolog. Langen, E. G. de (2001): Kognitive und klinische As­ pekte der Schriftsprache aus neurolinguistischer und neuropsychologischer Sicht. Neurolinguistik 15, 1–2, 7–195. Langen, E. G. de (2003): Neurolinguistisch-forma­ le und pragmatisch-funktionale Diagnostik bei Aphasie. Neurolinguistik 17, 1, 5–32. Langen, E. G. de (2008): Pragmatisch-funktionale Me­ thoden der Aphasiediagnostik. In: Blanken, G. & Ziegler, W. (Hrsg.): Klinische Linguistik und Pho­ netik. Ein Lehrbuch für die Diagnose und Behand­ lung von erworbenen Sprach- und Sprechstörungen im Erwachsenenalter. Mainz: HochschulVerlag.

Siegmüller, J. & Bartels, H. (2006): Leitfaden Sprache – Sprechen – Stimme – Schlucken. München: Ur­ ban & Fischer. Tesak, J. (2006): Einführung in die Aphasiologie. Stuttgart: Thieme. Ziegler, W. & Vogel, M. (2008): Dysarthrie. Stuttgart: Thieme. *ANELT: Amsterdam-Nijmegen Everyday Language Test von L. Blomert & D. C. Buslach (1994). Lisse: Swetes & Zeitlinger. *CETI: Communicative Effectiveness Index von J. Lomas et al. (1989), modifiziert von C. Brunner & J. Steiner (2009), Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich.

Schluckstörungen Eva Ojeda

1  Klinik Essen und Trinken – und somit auch der Schluckakt – sind für uns völlig selbstverständ­ liche und alltägliche Tätigkeiten, die meist mit Genuss assoziiert werden und von großer so­ ziokultureller Bedeutung sind, wenn sie z. B. im Kreis von Freunden und Familie stattfin­ den. Störungen des zum Teil automatisiert, zum Teil willkürlich ablaufenden sensomo­ torischen Schluckvorgangs, durch den Flüs­ sigkeiten, Nahrung und Speichel vom Mund in den Magen transportiert werden, sind für den betroffenen Menschen häufig von großer Tragweite, denn sie bedingen einen großen Verlust an Lebensqualität. Störungen der Zerkleinerung, des Trans­ ports und des Schluckens von Material, das heißt, passagere oder permanente Störungen der oralen Nahrungsaufnahme, werden als „Schluckstörungen“ (Dysphagien) bezeichnet (Müller & Lorenz 2005). Sie treten im Rah­ men vieler Krankheitsbilder auf und betref­ fen etwa 40 % aller Erwachsenen über dem 60.  Lebensjahr und viele Millionen Kinder (Robbins 2006). Die genaue Auftretenshäufigkeit von Dysphagien ist auch aufgrund der un­ terschiedlichen Diagnostikmöglichkeiten in Krankenhäusern, Kliniken, sprachtherapeu­ tischen Praxen und Pflegeheimen im Detail schwer abzuschätzen. In der Akutphase eines Schlaganfalles beträgt sie ca. 50 % (Prosiegel 2002) und fast die Hälfte der Pflegeheimbe­ wohner leidet an Problemen der oralen Nah­ rungsaufnahme (Müller & Lorenz 2005). Schluckstörungen in Folge eines Schlaganfalles sind in der Regel mit einer verlän­ gerten stationären Aufenthaltsdauer, einer schlechteren Prognose und einer erhöhten Sterblichkeitsrate verbunden (Smithard et al. 2007). Eine nicht rechtzeitig erkannte Dys­

phagie kann schwerwiegende Folgen haben und zu Lungenentzündungen aufgrund von verschlucktem Sekret, Nahrung etc. (sog. Aspirationspneumonien) bis hin zum Tode füh­ ren. Aus den gravierenden Auswirkungen auf die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme er­ geben sich häufig weitreichende Konsequen­ zen wie Unterernährung (Malnutration) und Mangel an Flüssigkeit (Dehydratation). Ge­ rade ältere oder chronisch kranke Menschen haben dem häufig wenig entgegenzusetzen, so dass es aufgrund von verminderter Nah­ rungsaufnahme häufig zu Austrocknung (Exsikkose) und Auszehrung (Kachexie) kommt, das Immunsystem geschwächt wird und sich der Genesungsverlauf meist noch weiter ver­ schlechtert. Der fachkompetenten Diagnostik (vgl. 2) und Therapie (vgl. 3) kommt deshalb eine entscheidende Bedeutung zu. Hinsichtlich einer → Klassifikation wer­ den Schluckstörungen grob nach dem Ort der Störung in „oropharyngeale“ und „ösophage­ ale Dysphagien“ unterteilt. Weiterhin können Dysphagien ätiologisch (vgl. Tab. 1) aufgrund von strukturellen Veränderungen des oropha­ ryngealen Traktes – z. B. einer Vergrößerung der Schilddrüse (Struma), Lippen-KieferGaumenspalten (→ Sprechstörungen im Kin­ desalter) oder Kopf-Hals-Tumoren – von den­ jenigen Schluckstörungen abgegrenzt werden, die auf funktionelle Veränderungen zurück­ zuführen sind. Diese können neurogen sein (→  Neurologische Sprachstörungen)  – etwa nach Schlaganfällen, neurodegenerativen oder entzündlichen Erkrankungen  –, den neuromuskulären Übergang betreffen, aber auch muskulärer oder psychogener Natur sein (→ Psychoreaktive Redestörungen). Weiterhin ist eine Unterscheidung die­ ser primären Störungsformen von sekundären Dysphagien sinnvoll, welche unabhängig von der Grunderkrankung als Folge von An­

398 

Schluckstörungen

Tab. 1:  Ätiologie der Dysphagien

  

 























 

  

 



   







 



 



 



 







 





 











triebs- bzw. Bewusstseinsstörungen, z. B. re­ duzierter Wachheit (Vigilanz), auftreten. Exkurs: Anatomie und Physiologie des Schluckaktes

Der Schluckakt ist als zeitlich und räumlich fein abgestimmtes Zusammenspiel von ca.

24  Muskelgruppen ein hochkomplexer Vor­ gang. Die Erkennung und Behandlung von Schluckstörungen erfordert fundierte Kennt­ nisse seiner Physiologie und Pathologie und der zugrunde liegenden anatomischen Struk­ turen (vgl. Abb. 1). Dazu gehören zunächst der Gesichts- und Mundraum – der sog. fazioorale Bereich – und seine Muskulatur mit den

Klinik   399



  1 Oberlippe   2 Unterlippe   3 Unterkieferknochen   4 Zähne   5 Zunge   6 Kehldeckel   7 Kehlkopf mit Stimmbändern   8 Luftröhre   9 Lunge 10 Speiseröhre 11 Zäpfchen 12 weicher Gaumen 13 harter Gaumen 14 Nase 15 Zungenbein A Resonanzräume

Abb. 1:  Sprech- und Schluckorgane in Ruhe­ stellung (mit freundlicher Genehmigung des Verlags Elsevier)

Lippen, der Zunge, dem Gaumensegel (Velum) und den Kiefern. Der Rachen (Pharynx) wird untergliedert in Naso-, Oro- und Hypopharynx. Als Teil des Hypopharynx kommt dem Kehlkopf (Larynx) eine besondere Rolle beim Schlucken und bei der Stimmbildung zu (vgl. anatomische Abbildungen in → Hören und Sprechen). Neuroanatomisch (vgl. anatomische Ab­ bildungen in → Sprache und Gehirn) sind zum einen Großhirnanteile bzw. umschrie­ bene Schluckareale, u. a. des unteren ­Gyrus prae- und postcentralis (frontoparietales Oper­culum) und der vorderen Insel auf der Ebene des Hirnstammes, für den Schluckbe­ wegungsablauf relevant; zum anderen wer­ den so genannte „Schluckzentren“ (Central Pattern Generators for Swallowing, CPGs) im verlängerten Mark (Medulla oblongata) ver­ mutet, die den Schluckakt koordinieren (Pro­ siegel 2002, vgl. Abb. 2). Weiterhin sind an der Steuerung des Schlu­ ckens die ebenfalls im Hirnstamm angesie­ delten motorischen Kerne des V., VII., IX., X. und XII. Hirnnervs und deren sensorische Fa­

sern, ferner auch Basalganglien und Kleinhirn beteiligt (vgl. Abb. 3). Die schluckrelevante Muskulatur ist dabei in beiden Hirnhälften repräsentiert (vgl. Abb. 2); bei den meisten Menschen scheint jedoch eine Hemisphäre die schluckdominante zu sein (Prosiegel 2002). Folglich kann es im Rahmen vieler neurologi­ scher Erkrankungen wie beispielsweise einem Schlaganfall, vor allem wenn davon der Hirn­ stamm betroffen ist (sog. Hirnstammischämien), zu Schluckstörungen kommen. Physiologisch wird der Schluckakt meist in 4–5 Phasen unterteilt (vgl. Abb. 4). Präorale Phase Als antizipatorischer Teil der Nahrungsauf­ nahme geht dem Schluckakt zunächst die häufig vernachlässigte „fünfte“ bzw. präora­ le Phase voraus. Dazu gehört die sensorische Wahrnehmung, das heißt das Sehen, Riechen und Schmecken der Nahrung. Diese Pha­ se sollte berücksichtigt werden, da sie für die Abfolge der folgenden Anteile des Schluckens und somit auch für Diagnostik und Therapie von nicht unwesentlicher Bedeutung ist.

400 

Schluckstörungen

eine ungestörte Zungenbeweglichkeit. Bedeut­ sam sind auch die Kieferöffnung und -rotation, die Lippenkraft und -beweglichkeit, die Wan­ gentonisierung sowie die Kontraktion und da­ durch Hebung des Velums (Anteriorstellung). Die sensorische Rückmeldung ist bei dieser wie bei allen anderen Phasen von entscheidender Bedeutung, um beispielsweise die Nahrung im Mund platzieren und am Ort, das heißt, in der Zungenschüssel halten zu können und ein vor­ zeitiges Abgleiten der Nahrung in den Pharynx (sog. Leaking) zu verhindern (vgl. Abb. 6). Orale Transportphase Die so aufbereitete Nahrung wird in der oralen Transportphase über die Hinterzunge in Rich­ tung Pharynx befördert. Die orale Phase läuft dabei willkürlich ab, während die nun folgen­ den Phasen unwillkürlicher Natur sind.

Abb. 2: Schematische Darstellung des Schluck-Kortex und seiner absteigenden Bahnen zum unte­ ren Hirnstamm (mit freundlicher Genehmi­ gung von Dr. med. M. Prosiegel, Zentrum für Schluckstörungen, Fachklinik Bad Heilbrunn) Stellvertretend für die schluckrelevanten Hirnnerven­ kerne ist der Nucleus ambiguus (NA) – das Kerngebiet des IX. und X. Hirnnerven (N. glossopharyngeus und N. vagus) – dargestellt; außerdem ist die vermutliche Lage der dorsomedialen und ventrolateralen „Central Pattern Generators (CPGs) for Swallowing“ und die auf der Ebene des Hirnstamms kreuzenden Fasern hervorgehoben.

Pharyngeale Phase In der pharyngealen Phase wird der Schluck­ reflex durch den geformten Bolus „getriggert“,

Mittelhirn (Mesencephalon N. III

N. IV Brücke (Pons)

N. V

VCPG = ventrolateraler CPG DCPG = dorsomedialer CPG NTS = Nucleus tractus solitarii NA = Nucleus ambiguus

Orale Vorbereitungsphase Die orale Vorbereitungsphase dient der Vor­ bereitung der Nahrung für das Schlucken, das heißt der Bildung des Bolus (Bissen) und des­ sen Bereitstellung. Hier wird die Nahrung zu­ nächst analysiert, zerkleinert und mit Speichel durchmischt, bis sie die zum Schlucken geeig­ nete Konsistenz aufweist. Beeinflussende Fak­ toren sind ein angemessener Gebisszustand, die intakte Funktion der Speicheldrüsen und

N. VII N. VIII N. IX N. X

verlängertes Mark (Medulla oblongata) N. XI Kreuzung der Pyramidenbahn

N. XII

Rückenmark

Abb. 3: Vorderansicht des Hirnstamms mit den für den Schluckvorgang relevanten Hirnnerven (unterstrichen) (modifiziert nach Schindel­ meiser 2005; mit freundlicher Genehmigung des Verlags Elsevier)



Klinik   401

Abb. 4: Die Phasen des Schluckaktes (mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. med. P. Pokieser, Medizinische Universität Wien) a) Orale Phase: Der Bolus wird in der Mundhöhle kontrolliert. b) Beginn der pharyngealen Phase: Einleitung des unwillkürlichen Schluckaktes, Schutz der Atemwege. c) Spätere pharyngeale Phase: Der obere ösophageale Sphinkter ist geöffnet, der Bolus tritt in den zervikalen Ösophagus ein. d) Ösophageale Phase: Der Bolus wird von der ösophagealen Kontraktionswelle erfasst.

das heißt, durch die sensorische Stimulation von Feldern des weichen Gaumens, der Hin­ terzunge und der Pharynxhinterwand ausge­ löst. Die Atemwege werden dabei durch das angehobene, gespannte Velum nach oben ab­ gedichtet (velopharyngealer Abschluss), was ein Eintreten von Nahrung in die Nase (nasale Penetration) verhindert. Ein reflektori­ scher Atemstillstand (sog. Schluck-Apnoe) und ein dreifacher Verschluss des Larynx (Glottisschluss, Taschenfaltenschluss und EpiglottisKippung) schützt die unteren Atemwege (vgl. anatomische Abbildungen in → Hören und Sprechen). Gemeinsam mit der Anteriorbe­ wegung und Hebung des Kehlkopfes (Larynx­ elevation) und des Zungenbeins (os hyoideum bzw. Hyoid), der Schubkraft der Zunge und der pharyngealen Peristaltik (Kontraktion der so genannten „Schlundschnürer“-Muskula­ tur) führt dieser komplexe Mechanismus zum Transport der Nahrung in die Speiseröhre. Ösophageale Phase Die Speiseröhre (Ösophagus) ist als muskulä­ rer Schlauch am oberen und unteren Ende je­ weils mit einem ringförmigen Schließmuskel (oberer und unterer Ösophagussphinkter, ÖOS) ausgestattet. Durch peristaltische Wellen wird

der Nahrungsbrei in der ösophagealen Phase schließlich in den Magen transportiert. All diese physiologischen Mechanismen pas­ sen sich dabei dem jeweiligen Bolus an und sind abhängig von dessen Volumen und des­ sen Grad der Festigkeit (Konsistenz) bzw. Zä­ higkeit (Viskosität). Störungen des Schluckaktes/Pathologie

Störungen des Schluckaktes können in all die­ sen Phasen auftreten: Die geschluckte Sub­ stanz verfolgt möglicherweise den falschen Weg, wird unvollständig transportiert oder fließt wieder zurück. Auf der Ebene der oralen Phase kann die Boluskontrolle beispielsweise durch eine Hypoglossus-Parese (Lähmung des N. hypoglossus) und die damit verbundene ein­ geschränkte Zungenbeweglichkeit beeinträch­ tigt oder unmöglich werden. Ist kein vollstän­ diger Lippenschluss möglich, läuft oder fällt die Nahrung möglicherweise aus dem Mund (sog. Drooling). Auch ist eine hohe Koordina­ tion von Atmung und Schlucken erforderlich, um einen reibungslosen Schluckbewegungs­ ablauf zu ermöglichen. Störungen der Auf­ merksamkeit, des Antriebs, des Bewusstseins

402 

Schluckstörungen

Abb. 5: Aufsicht auf den Aditus laryngis in Respirati­ onsstellung (mit freundlicher Genehmigung von Dr. med. A. Schelling, Neurologisches Krankenhaus München) SP = Sinus piriformis, SL = Stimmlippen, V = Valleculae, E = Epiglottis

oder des Verhaltens wirken sich dabei ebenso auf den Schluckakt aus wie Medikamente, ins­ besondere Beruhigungsmittel (Sedativa). Bei neurogenen Dysphagien (→ Neurolo­ gische Sprachstörungen) dominieren meist Störungen der oralen und/oder der pharynge­ alen Phase (oropharyngeale Dysphagien). Al­ lerdings kann auch die ösophageale Phase be­ troffen sein, etwa als Motilitätsstörungen der Speiseröhre bei Morbus Parkinson. Störungen im Verlauf können zur Penetration oder im schlimmsten Falle zur Aspiration, das heißt, dem Eindringen von Nahrung, Flüssigkeit oder Sekret in den Kehlkopfein­ gang (Aditus laryngis, vgl. Abb. 2) bis zum Ni­ veau der Stimmbänder (Penetration) bzw. bis unter die Glottisebene (Aspiration) führen. Es werden verschiedene Arten einer Aspiration unterschieden: • Eine deglutitive Aspiration ist die Folge ei­ nes vorzeitigen Übertritts (Leaking, vgl. Abb. 6) von Nahrung oder Flüssigkeit in den Hypopharynx und folglich in die Atemwege, bevor der Schluckreflex ausge­ löst und der Larynx verschlossen worden ist. Dies kann beispielsweise die Folge einer

gestörten Boluskontrolle oder einer verzö­ gerten Schluckreflexauslösung sein. • Die intradeglutitive Aspiration dagegen bezeichnet das Eindringen von im Pha­ rynx aufgestauten Materials in den sub­ glottischen Raum während des Schluckak­ tes. Dazu kommt es meist aufgrund einer schwachen oder aufgehobenen Kontrak­ tion des Pharynx, einer gestörten Larynx­ elevation und verzögerten Senkung des Kehldeckels zum Verschluss des Kehlkop­ fes und/oder einer Öffnungsstörung des oberen Ösophagussphinkters. • Zur postdeglutitiven Aspiration führen Res­te (Residuen) des Bolus z. B. in den Valleculae (den Gruben, die von den vom Zun­gen­grund zur Epiglottis ziehenden Schleim­haut­fal­ten gebildet werden) oder im Sinus piriformis (der Schleimhautbucht zwischen Schildknorpel und Plica aryepiglottica, das heißt, der Schleimhautfal­ te zwischen Stellknorpelspitze und seit­ lichem Kehldeckelrand), die nach dem Schluckakt in die Atemwege eindringen (vgl. Abb. 6 und 7; Eisenhuber 2002). • Eine besondere Rolle nimmt die so ge­ nannte stille Aspiration ein, bei welcher der Patient auf eine Aspiration nicht mit den entsprechenden Schutzmechanismen, z. B. mit einer Hustenreaktion, reagiert. Dies ist

Abb. 6: Leaking von flüssigem Bolus in den Aditus laryngis (mit freundlicher Genehmigung von Dr. med. A. Schelling, Neurologisches Kran­ kenhaus München)

Diagnostik   403



2  Diagnostik Zur Diagnostik gehören eine ausführliche Anamnese, die klinische Untersuchung und ge­ gebenenfalls apparative Untersuchungen. Anamnese

Abb. 7: Bolus in den Valleculae und im Sinus piriformis (mit freundlicher Genehmigung von Dr. med. A. Schelling, Neurologisches Krankenhaus München)

meist durch mangelhafte laryngeale Sen­ sibilität verursacht, was eine Erkennung anhand einer rein klinischen Befundung praktisch unmöglich macht.

Im Rahmen der Anamnese sind soweit als möglich Informationen vom Patienten selbst, den Angehörigen, dem ärztlichen und pflege­ rischen Personal oder der Krankenakte zu eru­ ieren, die über direkte und/oder indirekte Hinweise auf eine Schluckstörung im Vorfeld und zum aktuellen Zeitpunkt Aufschluss geben können (vgl. Tab. 2). Klinische Untersuchung

Zur klinischen Untersuchung gehören die Überprüfung der sensiblen und motorischen

Tab. 2: Hinweise auf eine Schluckstörung  































 





  

































404 

Schluckstörungen

Funktionen des fazio-oralen und – soweit dies rein klinisch möglich ist – des pharyngealen Traktes. Dazu zählt die Beurteilung von Mo­ tilität, Kraft und Tonus der Muskulatur in Ru­ hestellung und bei willkürlichen Bewegungen. Weiterhin sind reflektorische Bewegungen (z. B. Würgreflex) von Bedeutung, ebenso die Larynxelevation im Moment des Schluckak­ tes. Eine auditive Kehlkopfbeurteilung erfolgt ebenso wie Schluckversuche mit unterschied­ lichen Konsistenzen. Als aussagekräftiges Screening-Verfahren gilt der „50 ml-Wassertest“ in Kombination mit der Pulsoximetrie (vgl. Prosiegel 2002; zu den unterschiedlichen Variationen die­ ses Screening-Verfahrens vgl. Martino et al. 2005). Dabei werden zunächst sukzessive klei­ ne Mengen (5 ml) und beim Fehlen von Hin­ weisen auf eine mögliche Aspiration schließ­ lich der Rest des Wassers getrunken. Eine orale Nahrungsaufnahme ist möglich, wenn weder ein Verschlucken, Würgen, Husten oder eine belegte/gurgelige Stimmqualität auf die Notwendigkeit differenzierter Diagnos­ tikmaßnahmen hinweist. Die Pulsoximetrie ermöglicht die Überprüfung des O2-Gehaltes des Blutes. Ein Abfall der Sauerstoffsättigung des Blutes um mehr als 2 % gilt dabei als Indi­ kator einer Aspiration (Lim et al. 2001). Die Konsistenz der in der Folge verabreich­ ten Nahrung und die Bedingungen, unter de­ nen diese aufgenommen werden kann, hängen von weiteren Gegebenheiten ab und sollten Eingang in den diagnostischen Prozess fin­ den (z. B. die Körperhaltung, alle denkbaren Konsistenzen soweit möglich, evtl. Trink- und Esshilfen etc.). So sind neuropsychologische oder motorische Einschränkungen wie ein Neglect oder eine Hemiparese, aber auch das Essverhalten von Patienten, die an einer Demenz oder fluktuierenden Vigilanz leiden, als beeinflussende Faktoren zu berücksichtigen. Schluckversuche sollten nur bei ausreichend wachen Patienten und vorhandenem Schluck­ reflex, bei entsprechender Lagerung, das heißt im Sitzen, durchgeführt werden und bei tra­ cheotomierten Patienten außerdem nur mit entblockter Kanüle (vgl. 4.3). Eine bekann­

te Aspirationsgefährdung ist dabei als Aus­ schlusskriterium zu werten; eine Beurteilung der Schluckfunktion sollte dann über einen Leer- bzw. Speichelschluck erfolgen. Ansons­ ten ist die Auswahl der bei Schluckversuchen verabreichten Nahrung von hoher Relevanz, da etwa die Gabe keimhaltigen Materials, wie beispielsweise Joghurt, bei einer möglichen Aspiration eine schwere Pneumonie mit allen Konsequenzen nach sich ziehen kann. Zu den bereits genannten Hinweisen auf eine Dyspha­ gie gehören mögliche Residuen von Nahrung in der Mundhöhle, die beispielsweise auf eine Sensibilitätsstörung hinweisen können, eine Dysarthrie bzw. Dysarthrophonie (→ Neurolo­ gische Sprechstörungen, → Stimmstörungen) sowie ein deutlich verlangsamter oder unko­ ordinierter Schluckbewegungsablauf. Der klinischen Befundung allein sind da­ bei Grenzen gesetzt. Die pharyngeale Phase

Pharynx (Schlund) gemeinsamer Weg für Luft und Speisen Kehldeckel geöffnet

Trachea (Luftröhre) Ösophagus (Speiseröhre zusammengefaltet)

Abb. 8: Videofluoroskopische Aufnahme (VFSS) des pharyngealen Traktes im Ruhezustand (mit freundlicher Genehmigung des Verlags Elsevier)



Diagnostik   405

Abb. 9a–d: Videofluoroskopische Diagnostik (mit freundlicher Genehmigung des Karlsbader Schluckzentrums, SRH Klinikum Karlsbad-Langensteinbach) a) Physiologische anatomische Strukturen b) Patientin mit Zustand nach Stammganglieninfarkt: u. a. Störung der Öffnung des oberen Ösophagussphinkters mit Überlaufen in den Aditus laryngis mit tiefer Penetration bei 1 TL Flüssigkeit c) Reste in den Valleculae und in den Recessi piriformis bei 1 TL Flüssigkeit d) Postdeglutitive Penetration und Reste in den Valleculae und Recessi piriformis bei 1 TL Flüssigkeit

des Schluckaktes ist einer Betrachtung von außen nicht zugänglich, so dass das Ausmaß einer Aspiration, die Effektivität der Reini­ gungsmechanismen (des sog. Clearing) und vor allen Dingen eine stille Aspiration nicht beurteilt werden können. Stille Aspiratio­ nen treten bei ungefähr 40 % der betroffenen Personen auf, die allenfalls anhand der emp­ fohlenen Screening-Methode, nicht jedoch mit einer sonstigen nicht-apparativen Dia­ gnostik erkannt werden können (vgl. Kley et al. 2001). Ösophageale Funktionsstörun­ gen und ihre Erkrankungen können ebenso wenig klinisch, sondern am ehesten durch eine videofluoroskopische Untersuchung er­ kannt werden  – Dysfunktionen des oberen

Ösophagussphinkters sind dabei als häufi­ ges Störungsmuster von Bedeutung (Prosiegel 2 2002). Apparative Untersuchungen

Ist eine allein klinische Begutachtung nicht ausreichend, um über die orale Nahrungsund Flüssigkeitsaufnahme zu entscheiden, ste­ hen verschiedene apparative Untersuchungen zur Verfügung. Die erwähnte Videofluoroskopie (VFSS, Video Fluoroscopic Swallowing Study) gilt dabei häufig als „Gold-Standard“ der Dysphagie-Diagnostik (Prosiegel 2003; vgl. auch Wuttge-Hannig & Hannig 2002, Martino et al. 2005). Dabei handelt es sich um eine ra­

406 

Schluckstörungen

dender Stellenwert zu. Die Möglichkeit, zu­ mindest bei allein klinisch nicht zu beurtei­ lenden Symptomkomplexen auf apparative Verfahren zurückgreifen zu können, sollte zur Grundausstattung jedes Therapeuten und somit jedes Krankenhauses, jeder Rehabilita­ tionsklinik und vor allen Dingen jeder Stroke Unit gehören, da mit ihrer Hilfe am bes­ ten Schluckstörungen erkannt und beurteilt werden können. Zusammengefasst sollte eine umfassende Dypshagiediagnostik folgende Grundsätze berücksichtigen: Abb. 10: Lupenlarnygoskopische Untersuchung (FEES): Ansammlung von Speichel im Aditus laryngis (mit freundlicher Genehmigung von Dr. med. A. Schelling, Neurologisches Krankenhaus München)

diographische Untersuchung des Schluckens bei Gabe kontrastmittelhaltiger Boli, die be­ züglich Menge und Konsistenz kontrolliert werden (vgl. Abb. 8 und 9). Komplementär steht der VFSS die lupenlarnygoskopische Untersuchung des Schlu­ ckens (FEES, Fiberoptic Endoscopic Evaluation of Swallowing) gegenüber, wobei mittels eines über die Nase eingeführten und bis in den Rachen geschobenen flexiblen Endoskops u. a. ein Blick auf den Larynx (vgl. Abb. 5, 6, 7 und 10) möglich ist (→ Stimmstörungen). Beide Verfahren weisen unterschiedliche Vorund Nachteile auf und ergänzen sich hinsicht­ lich ihrer Aussagekraft. Neben den genannten Verfahren werden je nach Bedarf u. a. auch die zervikale Auskultation, die ph-Metrie, die ösophageale Manometrie, radiologische Zusatzuntersuchungen, Ultraschall-Untersuchungen, die Szintigraphie oder die Elektromyographie (EMG) zur diag­ nostischen Abklärung genutzt (vgl. Ramsey et al. 2003, Marik & Kaplan 2003, Kley et al. 2001). Im Rahmen der Diagnostik müssen die Ursachen einer gestörten Funktion und wenn möglich der Störungsschwerpunkt erfasst und das therapeutische Vorgehen abgeleitet werden. Deshalb kommt einer ausführlichen und kompetenten Diagnostik ein entschei­

• Alle Schlaganfallpatienten sollten ein Dysphagie-Screening durchlaufen, be­ vor sie oral Nahrung oder Flüssigkeiten erhalten. • Patienten, die die Grundbedingungen für eine Dysphagie-Diagnostik nicht er­ füllen, sollten in kurzen Abständen auf Verbesserungen überprüft werden. • Die Gabe notwendiger Medikamente muss sichergestellt werden. • Eine Gefährdung hinsichtlich Malnutri­ tion oder Dehydratation muss entspre­ chend beantwortet, die Ein- und Ausfuhr sowie das Gewicht regelmäßig kontrol­ liert werden. • Eine nasogastrale Sondenernährung sollte durch die Ernährung über eine Perkutane Endoskopische Gastrostomie (PEG) ersetzt werden, wenn abzusehen ist, dass eine künstliche Ernährung über mehr als 4 Wochen notwendig ist. • Eine adäquate Diagnostik umfasst ne­ ben der fachkompetenten klinischen Be­ fundung durch eine Sprachtherapeutin apparative Verfahren, sofern dies not­ wendig ist (vgl. Abb. 7 und 8). • Hinsichtlich ihrer Konsistenz modifi­ zierte Nahrungsmittel und Getränke sollten möglichst appetitlich gereicht werden und Wahlmöglichkeiten bieten. • Eine gründliche Oralhygiene gehört zur Grundversorgung aller Patienten, die für diese nicht alleine sorgen können.

Therapie   407



3  Therapie Der Therapieansatz der funktionellen Dyspha­ gietherapie unterwirft sich als problemorien­ tierte Vorgehensweise keiner speziellen The­ rapierichtung. Je nach den Ergebnissen der umfassenden Diagnostik und den Bedürfnis­ sen des jeweiligen Patienten wird ein individu­ eller Therapieplan zusammengestellt, der sich beispielsweise Therapieansätzen wie der „Pro­ priozeptiven Neuromuskulären Fazilitation“ (PNF) nach Kabat & Knott (vgl. Knott & Voss 2 1968), der „Behandlung neuromuskulärer Dysfunktionen“ nach Rood (1956) oder dem „Bobath-Konzept“ (vgl. Biewald 2003) bzw. der darauf aufbauenden Therapie des facio-oralen Traktes „F.O.T.T.“ (Nusser-Müller-Busch 2004) bedient und restituierende, kompensatorische und adaptative Verfahren umfasst (vgl. Tab. 3). Die unterschiedlichen Ziele und Inhalte der Therapie lassen sich dabei häufig allen

drei Verfahren zuordnen. Tabelle 4 skizziert einige Beispiele für Maßnahmen vor dem Hintergrund der zugrundeliegenden Störung. Auch so genannte eingeschränkt koopera­ tive oder bewusstseinsgeminderte Patienten können bereits von einer Behandlung profi­ tieren – etwa indem eine passive Stimulation durchgeführt wird (vgl. Nusser-Müller-Busch 2004). Als selbstverständlich wird vorausge­ setzt, dass in Abhängigkeit von den Bedürf­ nissen des Patienten neben der Nahrungsauf­ nahme auch alle anderen sprachtherapeutisch zugänglichen Funktionsbereiche, wie die ver­ bale und nonverbale Kommunikation sowie ­Atem-, Sprech- oder Stimmstörungen, in die Behandlung integriert werden. Als selbstverständlich erachtet wird au­ ßerdem die weitestgehende multidisziplinä­ re Zusammenarbeit mit allen involvierten Berufsgruppen. Im Sinne einer alltagsorien­ tierten Therapie und durch die Überlappung von Therapieinhalten ergeben sich gemein­

Tab. 3: Einteilung der Verfahren funktioneller Schlucktherapie 



  

 

 

 

    

   

   

        -                      



408 

Schluckstörungen

Tab. 4: Therapieziele der häufigsten Störungsmuster und wichtigste zugehörige Methoden funktioneller Schlucktherapie Therapieziele der häufigsten Störungsmuster

Restituierende Verfahren

Kompensatorische Verfahren

Adaptative Verfahren

• maximale Steigerung der Boluskontrolle (z. B. bei Austritt des Bolus aus dem Mundwinkel bei Fazialisparese)

→ Übungen zur Verbesserung der Lippenkraft und des Lippenschlusses → Pinsel-/Vibrations-/Eisbe­ handlung zur Tonusregulie­ rung

→ Haltungsänderung: leichte Rotation des Kopfes zur nichtbetroffenen Seite und nach hinten

→ Platzierung der Nahrung auf der nicht-betroffenen Seite → Trinken mit dem Strohhalm

• maximale Steigerung der Boluskontrolle bei verminderter Zungenmobilität (u. a. bei Leaking)

→ Übungen zur Verbesserung von Zungenmotorik und -kraft (z. B. mundmotorische Übungen, Spatelübungen), Masako-Manöver → Erarbeitung eines bewussten Schluckaktes durch Druck der Zunge an die oberen Alveolaren und Ausführung einer Rückwärts-/Aufwärtsbe­ wegung

→ Haltungsänderung beim Schlucken: An­ teflexion des Kopfes, dadurch Erweite­ rung der Valleculae, Verengung des Aditus laryngis, Annäherung der Zungenbasis an die Rachenhinterwand

→ diätetische Anpassung der Nahrungskonsistenz (pürierte oder wenn möglich weiche Kost), Andicken von Flüssigkei­ ten → ggf. Platzierung der Nahrung auf der Hinterzunge (in Ab­ hängigkeit vom Befund)

• Verbesserung der Schluckreflextrigge­ rung

→ Stimulation des Schluckrefle­ xes mit der Thermosonde und saurem Reiz → Übungen zur Verbesserung von Zungenmotorik und -kraft (z. B. mundmotorische Übungen, Spatelübungen), Masako-Manöver

→ Haltungsänderung beim Schlucken: Ante­ flexion des Kopfes → Strategie: supraglotti­ sches Schlucken

→ diätetische Anpassung der Nahrungskonsistenz (pürierte oder wenn möglich weiche Kost), Andicken von Flüssigkei­ ten → Nutzung von stärkeren Temperatur- und Geschmacks­ reizen (z. B. heiße oder saure Nahrungsmittel) zur Erhöhung des sensorischen Inputs

• Steigerung der Funktionsfähigkeit des oberen ÖsophagusSphinkters (OÖS)

→ Übungen zur Verbesserung der Larynxelevation (z. B. Ton­ höhen- und Sprechübungen) sowie Zungenschubkraft und -rückenhebung → Kräftigung der suprahyoi­ dalen Muskulatur durch das Shaker-Manöver oder Kopf­ hebung und -senkung gegen Widerstand (Bartolome 1999)

→ Strategie: Mendel­ sohn-Manöver, kraft­ volles Schlucken → Willentliche Verlänge­ rung der Larynxeleva­ tion und dadurch der Öffnung des OÖS

→ orale Karenz, wenn möglich Aufnahme dünnflüssiger Konsistenz (bevorzugt, da sie eine kleine/kurze Öffnung schneller und besser passieren kann), ggf. auch anderer Konsistenzen (in Abhängigkeit vom Befund)

• Verbesserung des Glottis-Schlusses (z. B. bei Recurrens-Parese)

→ Phonations- und Atemübun­ gen → Übungen zur Verbesserung der Spannung und Kräftigung der umliegenden Muskel­ gruppen (Kompensation durch die gesunde Stimmlip­ pe)

→ Haltungsänderung: Kopf­rotation zur be­ troffenen/nicht-betrof­ fenen Seite (abhängig vom Befund) → Strategie: supraglotti­ sches Schlucken (zum willkürlichen Glottis­ schluss und Schutz der Atemwege)

→ diätetische Anpassung der Nahrungskonsistenz (pürierte oder wenn möglich weiche Kost), Andicken von Flüssigkei­ ten

• Steigerung der Zungenschubkraft zur Verhinderung oder Reduzierung von Resi­ duen in den Valleculae oder Globusgefühl

→ Übungen zur Steigerung der Zungenschubkraft und -rückenhebung (z. B. Spatel­ übungen, Masako-Manöver)

→ Haltungsänderung: Anteflexion des Kopfes → kraftvolles Schlucken, Mendelsohn-Manöver

→ diätetische Anpassung: Nahrungskonsistenz zwischen püriert und fest (je nach Ressourcen des Patienten) → vorsichtiges Nachtrinken nach jedem Bissen und mehrfaches Schlucken



Therapie   409

Abb. 11: Diagnostisch-therapeutisches Vorgehen bei Dysphagie (mit freundlicher Genehmigung von Dr. med. P. Diesener, Neurologisches Fachkrankenhaus und Rehabilitationszentrum Gailingen)

410 

Schluckstörungen

same Arbeitsfelder beispielsweise bei der Er­ arbeitung einer adäquaten Haltung und La­ gerung (Physiotherapie), der Versorgung mit Hilfsmitteln (Ergotherapie) oder der Ver­ besserung von Zusammenarbeit bzw. Compliance und Gedächtnis (Neuropsychologie). Kognitive  Störungen wie Gedächtnisdefizite oder eine mangelhafte Compliance können sich negativ auf den Therapieverlauf auswir­ ken, wenn etwa vereinbarte Schluckstrate­ gien nicht erinnert werden können oder die Einsicht in Sinn und Zweck der Therapie und z. B. einer bestimmten Diät nicht gegeben ist. Zu den Aufgaben von Sprachtherapeu­ tinnen und Sprachtherapeuten gehört nicht nur die Entscheidung, ob und was ein Pa­ tient ­essen und trinken darf, sondern auch für sichere Nahrungsbedingungen im All­ tag zu sorgen. Dazu gehört die → Beratung bzw. Schulung von betreuenden Personen der Pflege oder der Angehörigen hinsichtlich der Schluckstörung, ihrer Symptome, einer sinn­ vollen und sicheren Nahrungsaufnahme und der alltäglichen Umsetzung von Schluckstra­ tegien oder diätetischen Maßnahmen. Eine Diagnostik- bzw. Therapiesituation ist immer ein künstlicher Zustand und eine Momentauf­ nahme, deren Grundlage sich ändert, wenn der Patient beispielsweise morgens besonders vigilanzgemindert ist, und die Nahrungskon­ sistenz deshalb in der Frühe möglicherweise eine andere sein muss als am Abend. Ebenso kann die Lagerung bei der Nahrungsaufnah­ me oder die Supervision von Schluckstrate­ gien von entscheidender Bedeutung sein. Medikamentöse Verfahren zur Behand­ lung neurogener Dysphagien bzw. häufig assoziierter Symptome wie Mundtrocken­ heit, ein übermäßiger Speichelfluss (Hypersalivation), Dysfunktionen des oberen Öso­ phagussphinkters oder Reflux finden sich in den Leitlinien der DGNKN (Prosiegel 2003, 163). Möglichkeiten der künstlichen Ernährung sind neben nasogastralen Sonden die perkutanen Sonden (PEG), anhand derer eine Versorgung des Patienten mit einer ausrei­ chenden Kalorien- und Flüssigkeitsmenge ge­ sichert werden kann.

Die Eingangs- und Verlaufsdiagnostik und die daraus abgeleiteten Therapieinhalte bzw. das weitere Vorgehen ergänzen sich in einem stän­ digen Prozess. Im Verlauf der Therapie muss deren Erfolg ständig anhand diagnostischer Mittel überprüft werden, und nur mit Hilfe ei­ ner ständigen Verlaufsdiagnostik ist eine sinn­ volle Therapie möglich (vgl. Abb. 11).

4  Spezielle Bereiche Die Abläufe des Schluckaktes, die Muskulatur und die zentrale Steuerung des Schluckaktes unterliegen altersspezifischen Veränderun­ gen. Schluckstörungen im Alter und viel mehr noch kindliche Dysphagien stellen deshalb wie die Behandlung tracheotomierter Patienten be­ sondere Bereiche der Diagnostik und Thera­ pie dar.

4.1  Kindliche Dysphagien Dysphagien im Säuglings-, Kindes- und Ju­ gendalter sind eine häufige und nicht selten eine kurzfristig lebensentscheidende Diagno­ se. Die Auftretenshäufigkeit (Inzidenz) ist dabei steigend, auch weil Frühgeburten (→  Intersubjektivität und Kommunikation) heutzutage deutlich bessere Überlebenschan­ cen haben (Lefton-Greif & Arvedson 2007). Ursachen für kindliche Schluckstörungen sind neben der Unreife von Frühgeborenen – häu­ fig ist eine künstliche Ernährung anfangs un­ umgänglich – äußerst vielfältig (vgl. Tab. 5). Assoziiert mit kindlichen Dysphagien ist häufig gastroösophagealer Reflux (Hall 2001). Nicht selten sind Nahrungsverweigerung oder häufiges Erbrechen die einzigen zunächst sichtbaren Symptome einer Dysphagie, da Säuglinge beispielsweise ihre Beschwerden natürlich nicht verbalisieren können, was die Erkennung und Einordnung schwierig macht. Die Kenntnis des physiologischen und pa­ thologischen Trink- und Essverhaltens vor

Spezielle Bereiche   411

Tab. 5:  Ätiologie kindlicher Dysphagien

  •

  

•

 

•



  





 











 

  

  

 dem Hintergrund des Lebensalters ist neben kindgerecht eingesetzten apparativen Ver­ fahren ein Standbein der Diagnostik (vgl. Hall 2001). Der Schluckakt bei Kindern unter­ scheidet sich von dem Erwachsener zunächst durch die Unterschiede in den anatomischen Verhältnissen: Die Mundhöhle ist auch durch den zurückgezogenen Unterkiefer wesentlich kleiner, die Zungenruhelage ist vorverlagert und die Wangenstabilität durch Fettpolster größer. Larynx und Zungenbein liegen hö­ her und die Glottis als Eingang der Atemwe­ ge wird durch ihre Lage unter der Zunge und der Epiglottis geschützt; der Pharynx ist ins­ gesamt kürzer. Lateral- sowie Auf- und Ab­ bewegungen der Zunge, die fast den gesam­ ten Mundraum ausfüllt, sind zunächst nicht möglich; Vor- und Rückbewegungen dagegen sind für das Saugen beim Stillen bzw. beim Trinken von großer Bedeutung. Ein wesentlicher Unterschied zur Dia­ gnostik und Therapie von Dysphagien bei

Erwachsenen ist vor allem die enge Zusammenarbeit mit den Eltern. Die Nahrungsauf­ nahme nimmt in der Eltern-Kind-Beziehung eine besondere Rolle ein, da sie einen wesent­ lichen Bestandteil der Fürsorge der Eltern für ihr Kind darstellt und Versagensängste und Selbstzweifel auf Seiten der Eltern diese in ihrem Verhalten beeinflussen und reakti­ ve Verhaltensstörungen bei den kleinen Pati­ enten zur Folge haben können. Somit erfolgt die Diagnostik und die Behandlung kindli­ cher Dysphagien selbstverständlich in Ab­ hängigkeit vom Alter des Kindes und soweit als möglich mit den Eltern, die für die Ana­ mnese und Behandlung unersetzbar sind. Die ideale Körperhaltung für das Schlucken ist bei Säuglingen eine andere als bei erwachsenen Patienten. Schluckstrategien und Übungen müssen kindgerecht eingesetzt und angeleitet werden. Schließlich müssen die oft raschen und großen Entwicklungsschritte im Verlauf der Behandlung berücksichtigt werden.

412 

Schluckstörungen

Zu den therapeutischen Maßnahmen zäh­ len die Modifikation der Umwelt sowie der Bedingungen der Nahrungsaufnahme (bei­ spielsweise durch Beruhigungs- oder Lage­ rungstechniken), Kräftigungsübungen für die fazio-orale Muskulatur, Stimulation zur Er­ leichterung (Fazilitation) erwünschter und Hemmung (Inhibition) unerwünschter Reak­ tionen und die Adaptation der Nahrungskon­ sistenz bzw. der Einsatz geeigneter Hilfsmittel (vgl. Bell 2007, Hall 2001). Als therapeuti­ sche Ansätze bieten sich neben der funktio­ nellen Dysphagie-Therapie Elemente u. a. der „Orofazialen Regulationstherapie“ (CastilloMorales 1991), der Therapie des fazio-ora­ len Traktes „F.O.T.T.“ (Nusser-Müller-Busch 2004) oder des „Neuro-Entwicklungsphysio­ logischen Aufbaus“ nach Pörnbacher (Pörnba­ cher 42006) an. Fundierte Informationen über kindliche Schluckstörungen und ihre Therapie finden sich beispielsweise bei Bell (2007), Hall (2001), Bentele (2004), Arvedson (2001) oder Diesener (2005).

4.2 Schluckstörungen im Alter (Presbyphagien) Im Verlauf des Alterungsprozesses unterliegen auch die für das Kauen und Schlucken rele­ vanten anatomischen Strukturen physiologi­ schen Veränderungsprozessen, die bei jedem Menschen unterschiedlich ausfallen (vgl. Ma­ rik & Kaplan 2003, Kwetkat 2002). Schluckrelevante Veränderungen im Alter sind u. a.: • Abnahme des Hunger- und Durstempfin­ dens • Abnahme der Muskelmasse der für die Zerkleinerung, den Transport und das Schlucken relevanten Organe (orofaziale, pharyngeale, laryngeale und ösophageale Muskulatur), u. a. auch reduzierter Ruhe­ verschlussdruck der Ösophagussphinkter • Abnahme des Bindegewebes dieser Organe mit folglich tieferer Position der Zunge und des Hyoids • veränderter Zahnstatus

• abnehmende Speichelproduktion • verzögerte Schluckreflextriggerung durch verminderte Speichelproduktion, abneh­ mende sensorische Wahrnehmung und verminderte Zungenschubkraft (reduzier­ ter Bolustransport) • insgesamt verlangsamter Schluckbewe­ gungsablauf. Diese Veränderungen können zunächst so unauffällig bleiben, dass sie einer sprach­ therapeutischen Behandlung nicht bedürfen. Als „Presbyphagie“ wird deshalb einer durch diese altersbedingten Prozesse veränderter Schluckakt bezeichnet, der aber dennoch si­ cher, d. h. ohne Aspirationsrisiko ablaufen kann (vgl. Marik & Kaplan 2003). Mit steigen­ dem Lebensalter erhöht sich jedoch auch die Inzidenz zerebrovaskulärer und degenerativer neurologischer Erkrankungen (→ Sprachent­ wicklung und Sprachabbau, → Neurologische Sprachstörungen). Kommt zu den beschriebe­ nen Veränderungen eine zusätzliche Erkran­ kung dazu, können diese – wie etwa eine ab­ nehmende Muskelkraft der Zunge, die sich auf deren Kraft und somit die Kaufähigkeit, Bolusformung und -transport auswirken – nicht mehr kompensiert werden und führen zu erkennbaren Schwierigkeiten und somit zur Dysphagie. Werden Zahnprothesen nicht regelmäßig getragen, können diese aufgrund sich verändernder Zahndämme schnell ihre Passgenauigkeit verlieren. Viele ältere Men­ schen essen jahrelang ohne Prothesen auch feste Kost, was vor dem Hintergrund aktuel­ ler Erkrankungen dann vielleicht nicht mehr möglich ist, ohne ein Verschlucken zu riskie­ ren. Zusätzlich führen kognitive Faktoren etwa im Rahmen einer allgemein körperlichen oder demenziellen Erkrankung häufig zu Appetit­ losigkeit bzw. Verweigerung der Nahrungs­ aufnahme, oder der ältere Mensch kann sich aufgrund einer Verhaltensbesonderheit oder allgemeinen Kraftlosigkeit nicht mehr ausrei­ chend oral ernähren (vgl. Ojeda 2004). Bei demenziellen Erkrankungen können agnostische, apraktische oder affektive Probleme beim Es­ sen und Trinken – beispielsweise die Zurück­



Spezielle Bereiche   413

haltung der Nahrung in der Mundhöhle, ohne abzuschlucken – eine Hilfestellung notwen­ dig machen, etwa im Sinne einer Stimulation, Anleitung oder Sicherstellung ausreichender Mengen (vgl. Jerrard-Dunne 2001). Bei älte­ ren Menschen besteht durch eine evtl. Multi­ morbidität eine besonders große Gefahr einer Malnutrition und Dehydratation. Eine 1999 präsentierte paneuropäische Studie der „European Study Group on Dys­ phagia“ fasst die Problematik zusammen: In Interviews mit älteren Menschen (55–80 Jahre alt), die sich in Pflegeheimen oder Kranken­ häusern aufhielten, gaben 44 % an, innerhalb des letzten Jahres aufgrund von Schluckpro­ blemen an Gewicht verloren zu haben. 30 % hatten auch nach den Mahlzeiten noch Hun­ ger oder Durst, 41 % litten während der Nah­ rungsaufnahme unter Angst oder Panik (vgl. Müller 2000).

4.3  Dysphagien und Trachealkanülen Auch Dysphagien in Verbindung mit Trache­ alkanülen und deren Management sowie als Zustand nach Bestrahlung/Operationen im HNO-Bereich stellen ein breites und kom­ plexes Feld dar. Eine Schluckstörung kann beispielsweise so schwerwiegend sein, dass bereits der eigene Speichel nicht geschluckt werden kann, so dass es notwendig ist, den Patienten zu tracheotomieren, das heißt, den Luftweg unterhalb des Larynx zwischen dem 2. bis 4. Trachealknorpel operativ zu eröffnen (vgl. Schelling 2002) und für Speicheleintritt in die Luftröhre zu verschließen. Weitere wichtige Gründe für die Anlage eines Tracheostomas und die Versorgung mit einer Trachealkanüle sind eine respiratorische Insuffizienz mit der Notwendigkeit, den Pa­ tienten über einen längeren Zeitraum hinweg zu beatmen oder eine Verletzung oder Verle­ gung der Atemwege (Atemwegsobstruktion) z. B. durch einen Tumor oder eine beidseiti­ ge Recurrensparese mit Stridor, das heißt mit einem pfeifenden Atemgeräusch aufgrund der Lähmung beider Stimmlippen und da­

durch bedingten Verengung der Atemwege. Auch erfolgt eine Tracheotomie vor großen Kopf-Hals-Operationen wie z. B. der Kehl­ kopfentfernung (Laryngektomie) (→ Stimm­ störungen). Die Tracheotomie erleichtert die Atmung durch die entstandene Totraumver­ kleinerung und macht eine Bronchialtoilette über eine Absaugung möglich. Unterschieden wird die Tracheostomie von der Tracheotomie: Tracheostomie

operative Eröffnung der Luftröhre und Anlage eines plastischen, epithelisier­ ten Tracheostomas durch die Vernä­ hung der Schleimhaut der Luftröhre mit der Haut des Halses

Tracheotomie

operative Eröffnung der Luftröhre und Anlage eines nicht-epithelisierten, nicht-plastischen Tracheostomas

Einer der Nachteile des epithelisierten Tra­ cheostomas ist seine hohe Schrumpfungsnei­ gung, was z. B. den Kanülenwechsel schwieri­ger macht. Weiterhin können sich Granulationen (Gewebeneubildungen im Rahmen einer Entzündung) bilden. Ein plastisches Tracheo­ stoma dagegen macht einen Kanülenwechsel durch den stabilen Tracheostomiekanal deut­ lich einfacher, muss in der Regel jedoch nach Dekanülierung operativ verschlossen werden. Es existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Arten von Trachealkanülen (vgl. Abb. 12). Neben Unterschieden in der Materialbeschaf­ fenheit (flexibles kontra starres Material), der Krümmung und Größe werden vor allen Din­ gen folgende Kanülentypen unterschieden (vgl. Schelling 2002): • Blockbare Trachealkanülen verfügen am unteren Ende über eine aufblasbare Man­ schette (Cuff), die mit einem äußeren Bal­ lon zur Kontrolle und zum Ausgleich der Druckverhältnise verbunden ist. Diese dient dazu, die Trachea nach oben hin so weit als möglich abzudichten und zu ver­ hindern, dass Sekret etc. in die unteren Atemwege eindringt und wird deshalb bei Patienten eingesetzt, die selbst ihren eige­ nen Speichel aspirieren würden. Das auf­

414 

Schluckstörungen

gestaute Sekret kann bei Entblockung über die Kanüle abgesaugt werden. Blockbare Trachealkanülen unterbinden die Phona­ tionsmöglichkeit, da bei der Ausatmung keinerlei Luft die Stimmlippen in Schwin­ gung versetzen könnte. Einige Hersteller bieten inzwischen blockbare Trachealka­ nülen mit Absaugvorrichtung an. • Nicht-blockbare Trachealkanülen dagegen verfügen über keine Manschette, und as­ piriertes Material gelangt praktisch unge­ hindert in die unteren Atemwege. • Weiterhin lässt sich bei verschiedenen Ka­ nülentypen die sogenannte „Innenseele“ (Innenkanüle) austauschen. Diese kann gefenstert oder ungefenstert sein, das heißt, sie ist nach oben hin mit einem (meist perforierten) Fenster versehen, was eine Phonation und eine teilweise physiologi­ sche Atemführung unter normalen Um­ ständen ermöglicht. Dazu ist es allerdings notwendig, die Trachealkanüle mit einem Sprechventil zu verschließen, um den Aus­ atemstrom nach oben zu leiten, während weiterhin über das Ventil eingeatmet wer­ den kann. Derartige Sprechkanülen (→ Stimmstörungen) mit festem Sprechven­ til und austauschbarer Innenseele sind aus Silber oder Kunststoff gefertigt. • Schließlich wird bei der Kehlkopfentfer­ nung (Laryngektomie) häufig ein phono­ chirurgischer Eingriff durchgeführt, bei dem zwischen Luft- und Speiseröhre ein sog. Shunt-Ventil eingesetzt wird, um die Luftzufuhr von der Lunge in den Ösopha­

Abb. 12: Blockbare Trachealkanüle mit Sprechaufsatz

gus mit einem sog. tracheo-ösophagealen Shunt zu regulieren und somit eine Stimm­ gebung zu ermöglichen (vgl. Abb. 13). Vor- und Nachteile

Trachealkanülen sind meist Lebensretter und durchaus mit erheblichen Vorteilen verbun­ den wie etwa der erleichterten Bronchialtoilet­ te, haben jedoch auch negative Konsequenzen. Der Verlust der physiologischen Atemführung (Ein- und bei der geblockten Kanüle auch die Ausatmung verlaufen über deren Öffnung) führt in der Regel zu einem Sensibilitätsver­ lust im Pharynx, so dass Retentionen, eine Pe­ netration oder Aspiration nicht ausreichend wahrgenommen werden. Auch ein Verlust der olfaktorischen und gustatorischen Wahrneh­ mung ist zu nennen, weiterhin die mechani­ sche Einschränkung der Larynxbeweglichkeit durch die Fixierung der Kanüle am Hals des Patienten. Schließlich besteht das Risiko ei­ ner Tracheomalazie bzw. -stenose. Träger von Trachealkanülen sind neben der erheblichen Stigmatisierung auch mit der Einschränkung bzw. dem Verlust der Sprechfähigkeit häu­ fig erheblich belastet und durch den fehlen­ den Glottisschluss nicht in der Lage, effektiv zu husten oder sich zu schnäuzen. Außerdem ergibt sich eine erhöhte Gefahr broncho-pul­ monaler Infekte und eine Haltungsänderung (Schonhaltung) mit Fixierung des Schulterund Nackenbereichs (hinsichtlich der Nach­ teile von Trachealkanülen vgl. Frank 2007, Herbst 22002).

Abb. 13: Patient mit blockbarer Trachealkanüle und Sprechaufsatz



Psychosoziale und ethische ­Aspekte von Schluckstörungen   415

Dekanülierung

Das Management von Trachealkanülen hat idealerweise die Oralisierung bzw. den Auf­ bau der Nahrungsaufnahme und den Wechsel zu einer Kanüle, die mit weniger Einschrän­ kungen verbunden ist, bzw. die Dekanülierung zum Ziel. Schluckversuche mit geblock­ ter Trachealkanüle sind dabei kontraindiziert, da zum einen eine völlige Blockung aufgrund eines möglichen Nachlassens des Cuffdrucks nicht garantiert werden kann. Außerdem kön­ nen Nahrungsreste, die auf dem Cuff liegen bleiben, Entzündungen der Schleimhaut zur Folge haben. Durch die Manschette besteht ein dauerhafter Druck auf Trachea und Ösopha­ gus, der sich durch einen passierenden Bolus weiterhin erhöht und eine tracheoösophageale Fistel zur Folge haben kann. Schluckversuche sollten deshalb erst dann stattfinden, wenn zu­ mindest eine zeitweise Entblockung möglich ist. Eine Dekanülierung sollte schrittweise bzw. gerade nach langer Tragezeit als lang­ same Entwöhnung von der Trachealkanü­ le erfolgen. Die Voraussetzungen sind eine suffiziente Atmung über die oberen Atem­ wege, eine ausreichende Vigilanz, ein vor­ handener Hustenreflex in Kombination mit einem suffizienten Hustenstoß, verbesserter Sensibilität im Oro- und Hypopharynx und möglichst aspirationsfreies Abschlucken des Speichels. Durch ein Pulsoximeter kann die O2-Sättigung des Blutes während der Entblo­ ckung kontrolliert werden. Eine Entblockung erfolgt immer mit parallel stattfindender Ab­ saugung. Der Weg der Dekanülierung erfolgt in der Regel von der geblockten zur entblock­ ten Trachealkanüle, die nach einer (abgestöp­ selten) Sprechkanüle durch einen Platzhalter ersetzt und schließlich zur vollständigen De­ kanülierung führt. Der gesamte Prozess soll­ te unter ständiger Beobachtung des Patienten erfolgen und umfasst meistens viele Wochen Therapie, bevor ein endgültiger Tracheo­ stomaverschluss möglich ist (zur Vorgehens­ weise bei Dekanülierung siehe Frank 2007, Herbst 22002).

5 Psychosoziale und ethische ­Aspekte von Schluckstörungen Eine Schluckstörung wirkt sich in der Regel negativ auf die Lebensqualität des betroffe­ nen Menschen aus (→ Behinderung und Vul­ nerabilität). Die Bewältigung der veränderten Lebensbedingungen und der oft immensen Stigmatisierung durch besondere Ernährungs­ bedingungen (Husten, Konsistenz, Strate­ gien) oder das Tragen einer Trachealkanüle gehört ebenso zum therapeutischen Arbeits­ feld wie die Behandlung der Schluckstörung selbst. Diese Aspekte fordern der behandeln­ den Therapeutin häufig großes Einfühlungs­ vermögen und eine Handlungskompetenz ab, die in den meisten logopädischen bzw. sprach­ therapeutischen Ausbildungsformen zu kurz kommen oder schlicht fehlen. Um diesen Menschen behandeln zu können, muss sein (Nicht-)Handeln verstanden werden, wenn er beispielsweise eine Nahrungsaufnahme ohne Beobachtung, d. h. alleine, vorzieht, um sich dieser Stigmatisierung zu entziehen. Auch können Entscheidungen nie gegen den Wil­ len eines Patienten getroffen werden, sondern allenfalls Empfehlungen ausgesprochen und Angebote gemacht werden. Es verbietet sich aus ethischen Gründen, einen Patienten gegen seinen ausdrücklichen Wunsch zu behandeln. Dies ist angesichts einer lebensrettenden Ad­ aptation der Nahrungskonsistenz, der Ver­ sorgung mit einer blockbaren Trachealkanüle oder der Verhängung oraler Karenz, jedoch häufig ausgesprochen schwierig und stellt an­ gesichts der lebensbedrohlichen Konsequen­ zen nicht selten die einzige Option dar. Angesichts der Bedeutung einer Dysphagie für den betroffenen Menschen, die meist dem Hintergrund einer Vielzahl komplexer me­ dizinischer und auch sprachtherapeutischer Handlungsfelder steht, ist eine Einbindung der Angehörigen praktisch unverzichtbar. Diese sind Partner bei der Bewältigung der großen Anforderungen, die sich dem Patien­ ten stellen, manchmal sogar dessen Dolmet­ scher, Informationsquelle für Vorlieben und

416 

Schluckstörungen

Gewohnheiten und Abneigungen, die der Pa­ tient vielleicht nicht selbst verbalisieren kann und nicht zuletzt wichtig bei der Umsetzung von Schluckstrategien oder der Adaptation der Nahrungskonsistenz. Weiterhin gehören Information und Aufklärung der Partner und das Anbieten von Hilfestellung zum Arbeits­ feld einer jeden Therapeutin (→ Sprachthera­ pie, → Beratung). Individuen mit Schluckproblemen sind eine sehr heterogene Gruppe. Viele älte­ re Menschen und somit eine große Zahl der Patienten im geriatrischen Spektrum ha­ ben Schluckprobleme, auch wenn sie in ihrer Krankengeschichte keine der für eine Dys­ phagie relevanten Diagnose aufweisen (Ojeda 2004). Nicht jedes Problem beim Essen und Trinken ist jedoch eine behandlungsbedürf­ tige Schluckstörung. Jedoch sollte bei älteren Menschen aufgrund der Konsequenzen, die eine unzureichende Aufnahme von Flüssig­ keiten und Nahrung haben kann, ein beson­ derer Augenmerk auf eventuelle Schluck- und Nahrungsaufnahmestörungen gerichtet sein. Grundsätzlich bedürfen sie der gleichen diag­ nostischen Abklärung und der gleichen the­ rapeutischen Versorgung wie jüngere Men­ schen. Der Ausschluss oder der Abbruch einer sprachtherapeutischen Behandlung ist ethisch allenfalls dann vertretbar, wenn der betrof­ fene Mensch dies wünscht und ist unabhän­ gig von seinem Lebensalter. Nicht das biolo­ gische, sondern das funktionelle Lebensalter sollte Beachtung finden (Ojeda 2004). Ebenso besteht hinsichtlich künstlicher Ernährungs­ formen die Pflicht der Aufklärung über deren Charakteristika, Anlage und Konsequenzen. Besonders hier sind ethische Aspekte wich­ tige und beeinflussende Faktoren, wenn bei­ spielsweise der Patient selbst oder seine Ange­ hörigen als sein „Sprachrohr“ eine künstliche Ernährung als lebensverlängernde Maßnah­ me ablehnen.

6  Ausblick Das enorme Handlungsfeld, das in diesem Beitrag unmöglich erschöpfend behandelt werden kann, ist erfreulicherweise in ständi­ ger Bewegung. Hierzu gehören Aktivitäten zur Outcomeerfassung bzw. Messung der Effektivi­ tät der therapeutischen Maßnahmen ebenso wie die Bemühung um eine Standardisierung der Dysphagiediagnostik und -behandlung, wie sie mit den Leitlinien der ­DGNKN als „Qualitätskriterien und Standards für die Diagnostik und Therapie von Patienten mit neurologischen Schluckstörungen“ formu­ liert wurden (Prosiegel 2003) (→ Qualitäts­ entwicklung). Die Effizienz einzelner thera­ peutischer Verfahren konnte bereits belegt werden (vgl. Prosiegel 2002, Robbins 2006), hinsichtlich der Erforschung der Wirksamkeit von therapeutischen Maßnahmen im Rah­ men der evidenz-basierten Medizin besteht je­ doch auch weiterhin großer Handlungsbedarf (→ Unterrichts- und Therapieforschung). Dysphagien mit allen angesprochenen und sich in Zukunft bietenden Aspekten müssen in der Ausbildung bzw. dem Studium von Lo­ gopädinnen, Sprachtherapeutinnen, Ärzten und Pflegekräften den ihnen gebührenden Platz finden. Die Anforderungen an diese Be­ rufsgruppen und ihre Aufgaben – beispiels­ weise die viel und kontrovers diskutierte Frage, wer für ein Dysphagie-Screening bei Schlaganfall-Patienten zuständig ist – müs­ sen klar definiert werden (vgl. Colodny 2001). Dazu gehören auch apparative Verfahren und ihre Auswertung. Schließlich bedeutet die ständige Weiter­ erforschung von Dysphagien – etwa vor dem Hintergrund demenzieller Erkrankungen oder der pädiatrischen Klientengruppe – neue oder weiterentwickelte Therapiemöglichkei­ ten, die hinsichtlich ihrer Anwendungsfor­ men und ihrer Effizienz geprüft werden müs­ sen (z. B. die neuromuskuläre elektrische Stimulation, vgl. Carnaby-Mann 2007) und möglicherweise vielversprechende Ansätze darstellen.



Literatur   417

Literatur Arvedson, J. C., Brodsky, L. (22001): Pediatric swal­ lowing and feeding: Assessment and management (Dysphagia Series). Singular Publishing Group Inc. Bartolome, G. (21999): Grundlagen der funktionel­ len Dysphagietherapie (FDT). In: Bartolome, G., Buchholz, D. W., Feussner, H., Hannig, Ch., Neu­ mann, S., Prosiegel, M., Schröter-Morasch, H. & Wuttge-Hannig, A. (Hrsg.): Schluckstörungen. Di­ agnostik und Rehabilitation (179–277). Stuttgart: Urban & Fischer. Bell, H. R. & Sheckman Alper, B. (2007): Assess­ ment and intervention for dysphagia in infants and children: Beyond the neonatal intensive care unit. Seminars in speech and language 28, 3, 213– 222. Bentele, K. H. P. (2004): Dysphagie im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter. Notfall und Hausarzt­ medizin 30, 1, 34–40. Biewald, F. (Hrsg.) (2003): Das Bobath-Konzept. Wurzeln, Entwicklungen, neue Aspekte. Mün­ chen: Elsevier. Carnaby-Mann, G. (2007): Update on assessment and management of dysphagia post stroke. Northeast Florida Medicine 58, 2, 31–34. Castillo-Morales, R. (1991): Die orofaziale Regulati­ onstherapie. München: Pflaum. Colodny, N. (2001): Construction and validation of the Mealtime and Dysphagia Questionnaire: An instrument designed to assess nursing staff rea­ sons for noncompliance with SLP dypshagia and feed recommendations. Dysphagia 16, 4, 263– 271. Diesener, P. (2005): Kommunikation und Kostauf­ bau. Ein Leitfaden für Behandelnde und Pflegende in der neurologischen Frührehabilitation und zu­ standserhaltenden Pflege nicht nur von Kindern und Jugendlichen. Gailingen am Hochrhein: He­ gau-Jugendwerk. Eisenhuber, E., Schima, W., Schober, E., Pokieser, P., Stadler, A., Scharitzer, M. & Oschatz, E. (2002): Vi­ deofluoroscopic assessment of patients with dys­ phagia: Pharyngeal retention is a predictive factor for aspiration. American Journal of Roentgenology 178, 2, 393–398. Frank, U., Mäder, M. & Sticher, H. (2007): Dysphagic patients with tracheotomies: A multidisciplinary approach to treatment and decannulation manage­ ment. Dysphagia 22, 1, 20–27. Hall, K. D. (2001): Pediatric dysphagia resource ­g uide. San Diego: Singular. Herbst, W. (22002): Neurogene Dysphagien und ihre Therapie bei Patienten mit Trachealkanülen. Id­ stein: Schulz-Kirchner.

Jerrard-Dunne, P., Farrell, Z. & O’Neill, D. (2001): Dementia with oropharyngeal dysphagia and myo­ pathy. Dysphagia 16, 3, 196–199. Kley, C., Kaiser, J. & Bieniek, R. (2001): Dysphagie: Diagnostik auf der Intensivstation. Videoendosko­ pische und akustische Diagnostik. Intensivmedi­ zin und Notfallmedizin 38, 6, 524–529. Knott, M. & Voss, D. E. (21968): Proprioceptive neu­ romuscular facilitation. New York: Harper & Row. Kwetkat, A. (2002): Geriatrische Aspekte von Schluck­ störungen. In: Prosiegel, M. (Hrsg.): Praxisleitfa­ den  Dysphagie (162–172). Bad Homburg: Hygie­ neplan. Lefton-Greif, M. A. & Arvedson, J. C. (2007): Paedi­ atric feeding and swallowing disorders: State of health, population trends, and application of the International Classification of Functioning, Disa­ bility, and Health. Seminars in Speech and Lan­ guage 174, 3, 161–165. Lim, S. H. B., Lieu, P. K., Phua, S. Y., Seshadri, R., Ven­ ketasubramanian, N., Lee, S. H. & Choo, P. W. J. (2001): Accuracy of bedside clinical methods com­ pared with Fiberoptic Endoscopic Examination of Swallowing (FEES) in determining the risk of ­aspiration in acute stroke patients. Dysphagia 16, 1, 1–6. Marik, P. E. & Kaplan, D. (2003): Aspiration pneumo­ nia and dysphagia in the elderly. Chest 124, 328– 336. Martino, R., Foley, N., Bhogal, S., Diamant, N., Speechley, M. & Teasell, R. (2005): Dysphagia after stroke. Incidence, diagnosis and pulmonary com­ plications. Stroke 36, 12, 2756–2763. Müller, C. & Lorenz, J. (2005): Dysphagie. Der Pneu­ mologe 5, 2, 367–378. Müller, S.-D. (2000): Dysphagie. Wachsendes Ge­ sundheitsrisiko in der Geriatrie. Schweizerische Zeitschrift für Ganzheits-Medizin 12, 7/8, 355– 359. Nusser-Müller-Busch, R. (2004): Die Therapie des fa­ cio-oralen Trakts. Heidelberg: Springer. Ojeda, E. (2004): Sprachtherapie mit älteren Men­ schen – Ein Stiefkind der Sprachtherapie. In: Lüdt­ ke, U. (Hrsg.): Fokus: MENSCH. Subjektzentrierte Unterrichts- und Therapiemodelle in der Sprach­ behindertenpädagogik (266–278). Würzburg: von freisleben. Pörnbacher, T. (42006): Kau-, Trink- und Schluckstö­ rungen im Säuglings- und Kindesalter. In: Böhme, G. (Hrsg.): Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluck­ störungen. Bd. 2: Therapie (367–392). Jena: Urban & Fischer. Prosiegel, M. (2002): Neurologie von Schluckstörun­ gen. In: Prosiegel, M. (Hrsg.): Praxisleitfaden Dys­ phagie (9–46). Bad Homburg: Hygieneplan.

418 

Schluckstörungen

Prosiegel, M. (2003): Qualitätskriterien und Stan­ dards für die Diagnostik und Therapie von Pa­ tienten mit neurologischen Schluckstörungen. Neurogene Dysphagien – Leitlinien der DGNKN. Neurologie & Rehabilitation 9, 3–4, 157–181. Prosiegel, M., Heintze, M., Wagner-Sonntag, E., Han­nig, C., Wuttge-Hannig, A. & Yassouridis, A. (2002): Schluckstörungen bei neurologischen Pa­ tienten. Eine prospektive Studie zu Diagnostik, Störungsmustern, Therapie und Outcome. Ner­ venarzt 73, 4, 364–370. Ramsey, D., Smithard, D. G. & Kalra, L. (2003): Ear­ ly assessments of dysphagia and aspiration risk in acute stroke patients. Stroke 34, 5, 1252–1257. Robbins, J. (2006): Preface: New frontiers in dyspha­ gia rehabilitation. Seminars in speech and lan­ guage 27, 3, 217–218.

Rood, M. S. (1956): Neurophysiological mechanisms utilizes in the treatment of neuromuscular dys­ functions. American Journal of Occupational The­ rapy 10, 220–225. Schelling, A. (2002): Tracheotomie und Kanülenver­ sorgung. In: Prosiegel, M. (Hrsg.): Praxisleitfaden Dysphagie (134–144). Bad Homburg: Hygieneplan. Schindelmeiser, J. (2005): Anatomie und Physiologie für Sprachtherapeuten. München: Elsevier. Smithard, D. G., Smeeton, N. C. & Wolfe, C. D. A. (2007): Long-term outcome after stroke: Does dys­ phagia matter? Age and Ageing 36, 1, 90–94. Wuttge-Hannig, A. & Hannig, C. (2002): Radiolo­ gische Untersuchung des Schluckens – Video­ fluoroskopie. In: Prosiegel, M. (Hrsg.): Praxis­ leitfaden Dysphagie (81–88). Bad Homburg: Hygieneplan.

Beeinträchtigung der Lesefähigkeit Barbara Bental

1 Beeinträchtigung der ­Lesefähigkeit bei Kindern mit ADHS Umschriebene Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (LRS) und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) sind zwei der häu­ figsten Beeinträchtigungen bei Schulkindern. Oft beobachtet man ein paralleles Auftre­ ten beider Schwierigkeiten. Daher ist es not­ wendig, diagnostisch zu klären, wodurch das gleichzeitige Erscheinen beider Auffälligkeiten bedingt ist, um die Komponenten eines sinn­ vollen therapeutischen Programms festlegen zu können. Im Folgenden werden zunächst die Kernschwierigkeiten von LRS und ADHS aufgezeigt und verglichen, um im Anschluss daran einige aktuelle Forschungsbeiträge zur Untersuchung des parallelen Auftretens nä­ her zu beleuchten. Dabei steht die Frage im Zentrum, wie die zentralen Probleme beider Schwächen bei gleichzeitigem Auftreten (Komorbidität) zum Ausdruck kommen und auf welche Art sie sich gegenseitig beeinflussen. Anschließend werden Therapieschwerpunkte vorgestellt, die die besonderen Merkmale der Komorbidität berücksichtigen.

2 Kernschwierigkeiten von LRS und ADHS Unter einer „Lesestörung“ im Sinne der ICD 10 versteht man spezifische Schwierigkeiten beim Erwerb des Lesens (→ Lesen und Schrei­ ben), die nicht auf eine allgemeine Intelligenz­ minderung, eine Beeinträchtigung der senso­ rischen Wahrnehmung oder unzureichende

Beschulung zurückzuführen sind. Einschrän­ kungen des Dekodierens werden durch eine geringe Lesegenauigkeit und/oder geringen Lesefluss charakterisiert. Häufig liegen den Leseproblemen unzureichende analytischsynthetische Fähigkeiten zu Grunde. Diese können auf Beeinträchtigungen in der Kennt­ nis der Phonem-Graphem-Beziehungen und/ oder auf einem niedrigen Automatisierungs­ niveau beim Rekodieren beruhen. Aber auch elementare Synthese- und Segmentierungs­ probleme sowie ein verlangsamter Zugriff auf das phonologische Lexikon können die Ursache sein (Naegele & Valtin 2000). Recht­ schreibschwierigkeiten und langsames, ange­ strengtes Lesen bleiben ein anhaltendes Merk­ mal bis ins Erwachsenenalter. Zu den Kernsymptomen der ADHS gehö­ ren eine Beeinträchtigung der Aufmerksam­ keit und/oder eine allgemeine motorische Unruhe sowie geringe Impulskontrolle. Bei ADHS treten diese Symptome auffällig öf­ ter und stärker auf als bei Kindern gleicher Entwicklungsstufe und führen zu erhebli­ chen Beeinträchtigungen im Familienleben, in der Schule und bei Freizeittätigkeiten. Die Verhaltensauffälligkeiten müssen schon vor Schulantritt bemerkbar sein und in verschie­ denen Kontexten auftreten.

3 Doppelte Dissoziation der ­Basisfunktionen Studien, in denen die Profile von Kindern mit LRS bzw. ADHS verglichen wurden, weisen auf eine so genannte doppelte Dissoziation der Funktionen hin, die in beiden Störungen be­ einträchtigt sind (vgl. Felton et al. 1987, Pen­

420 

Beeinträchtigung der Lesefähigkeit

nington et al. 1993, Willcutt et al. 2001). Das heißt, dass Kernkomponenten beeinträchtig­ ter Funktionen bei LRS nicht zum Profil bei ADHS gehören und umgekehrt. Bei ADHS steht eine Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit, der exekutiven Funktionen und der Merkfähigkeit kürzlich angeeigneter Information im Vordergrund. Dabei versteht man unter „exekutiven Funktionen“ Kon­ trollfunktionen der Selbstregulierung, die in den meisten Modellen Komponenten der Aufgabenanalyse, der Strategieauswahl und der Strategieüberwachung mit einschließen (Borkowski & Burke 1996). Zu den Strategien gehören beispielsweise das „Definieren eines Problems“, „systematisches Datensammeln“, „Planen einer Handlungsreihe zur Problem­ lösung“ und „Überprüfen der Lösungsergeb­ nisse“, wobei Fehler ausgenützt werden, um Lösungswege zu verbessern. Diese Kontroll­ funktionen stehen in engem Zusammenhang mit einer Verzögerung der Antwortreaktionen. In Barkley’s Modell (1997) wird Impul­ sivität sogar als primär angesehen, die zudem eine Beeinträchtigung anderer selbstregulie­ render Funktionen nach sich zieht. Biochemi­ sche, neurophysiologische, radiologische, nu­ klear-medizinische und molekulargenetische Untersuchungen zu möglichen Ursachen der ADHS weisen auf eine eingeschränkte Funk­ tion auf der Ebene der Botenstoffe im fronto­ strialen Hirnsystem (→ Sprache und Gehirn) hin, wobei vor allem der Botenstoff Dopamin betroffen zu sein scheint (Krause et al 2000). Forschungen, die die Sprachfähigkeiten von Kindern mit ADHS untersuchten, weisen auf die zahlreichen sprachlichen Auffälligkeiten hin, wodurch es kaum gelingt, bei Kindern mit „reiner“ ADHS die Sprachfunktionen zu untersuchen (Cohen et al. 2000). Studien, die die so genannte Komorbidität mit Sprachstö­ rungen kontrollieren, zeigen, dass bei Kin­ dern mit ADHS die Sprachwahrnehmung unauffällig ist, sie aber Probleme mit der Or­ ganisation ihrer Sprachproduktion haben (Purvis & Tannock 1996). Im Gegensatz dazu stehen bei „echter LRS“ lautanalytische Probleme, also Einschränkun­

gen der sprachperzeptiven Funktionen im Vordergrund. Die beeinträchtigte Entwick­ lung phonologischer Fertigkeiten und Verzö­ gerungen beim schnellen Benennen von Zif­ fern und Buchstaben treten als Kernprobleme auf (Wolf et al. 2000). Dabei lassen sich hin­ sichtlich phonologischer Verarbeitungspro­ zesse drei Komponenten unterscheiden: • die Sensitivität für und der Zugriff auf Klänge bzw. Phoneme der gesprochenen Sprache (phonologische Bewusstheit), • das phonetische Rekodieren im phonologi­ schen Arbeitsgedächtnis, und • der Abruf des phonologischen Kodes aus dem Langzeitgedächtnis (Banaschewski et al. 2000). Untersuchungen zur neurologischen Grundla­ ge der Lesestörung unterstützen die Hypothe­ se, dass sie mit Beeinträchtigungen in einem ausgedehnten Areal des funktionalen Hirn­ systems verbunden ist. Dieses schließt hinte­ re Hirnregionen sowie parieto-temporale und occipito-temporale Gebiete ein (Shaywitz et al. 2002). Beeinträchtigungen der exekutiven Funktionen gehören jedoch nicht zu den cha­ rakteristischen Merkmalen von Kindern mit Lesestörungen. Vor diesem Hintergrund ist es auffällig, dass Lese- und Aufmerksamkeitsschwächen überzufällig oft gemeinsam auftreten (Bana­ schewski 2000): Bei 25 % bis 40 % der Kinder mit ADHS werden Leseprobleme beobachtet. Zugleich erfüllen 15 % bis 35 % aller Kinder, die wegen lang andauernder Schwierigkeiten beim Lesen zu einer Untersuchung vorgestellt werden, die Kriterien für eine Diagnose von ADHS.

4 Komorbidität von LRS und ADHS Untersuchungen zur Klärung des häufig be­ obachteten parallelen Auftretens beider Sym­ ptomkomplexe weisen auf unterschiedliche

Komorbidität von LRS und ADHS   421



Tab. 1: Vergleich der kognitiven Profile bei ADHS + LRS, bei ADHS und bei LRS

Autorinnen & Autoren

Funktionsbereiche

Bental & Tirosch 2007

phonologische und Kontrollfunktionen

Rucklidge & Tannock 2002

phonologische und Kontrollfunktionen

Willcutt et al. 2001

phonologische und Kontrollfunktionen

Banaschewski et al. 2000

phonologische und linguistische Funktionen

Purvis & Tannock 2000

phonologische und Kontrollfunktionen

Purvis & Tannock 1996

linguistische Funktionen

Verknüpfungen hin. Zwei wesentliche Zu­ sammenhänge sind dabei voneinander zu un­ terscheiden: Durch Beeinträchtigung in dem einen Bereich können Symptome in dem an­ deren hervorgerufen werden. Es können aber auch relativ unabhängig voneinander Störun­ gen in jedem Bereich auftreten. Im ersten Fall ist eine Störung (ADHS oder LRS) primär und die andere tritt sekundär auf, ohne dass bei dieser die Grundfunktionen beeinträchtigt sind. So kann das Lesenlernen von primären Schwierigkeiten im Bereich der Aufmerksamkeit ganz erheblich sekundär be­ einträchtigt werden. Andererseits kann eine Schwäche der Sprachfunktionen zu primären Schwierigkeiten beim Erwerb des Lesens füh­ ren und die davon ausgelösten Frustrationen können Verhaltensauffälligkeiten im Bereich der Aufmerksamkeit und motorische Unruhe bewirken. Längsschnittanalysen zeigen deut­ lich, dass weder ADHS zwingend zu späteren Lesestörungen führt, noch dass anhaltende Lesestörungen zur Entwicklung von ADHS führen müssen (Chadwick et al. 1999). Dar­ aus folgt, dass einer Verknüpfung dieser Art keine echte Komorbidität zu Grunde liegt. Im zweiten Fall können Beeinträchtigun­ gen der charakteristischen Kernfunktionen beider Störungsbilder beobachtet werden.

→ Ergebnis → ADHS + LRS  beeinträchtigt in beiden Funktionsbereichen → ADHS + LRS  beeinträchtigt in beiden Funktionsbereichen → ADHS + LRS  beeinträchtigt in beiden Funktionsbereichen → ADHS + LRS beeinträchtigt als LRS → ADHS + LRS  beeinträchtigt in beiden Funktionsbereichen → ADHS + LRS beeinträchtigt als LRS

zusätzliche Beeinträchtigung bei ASHS + LRS verbales Arbeitsgedächtnis, schnelles Benennen schnelles Benennen ― ― ― ―

Hierbei tritt die Frage auf, ob diese Komorbi­ dität additive Merkmale aufweist, es sich also um jeweils eigenständige Störungen handelt, oder ob sie beide Ausdruck einer gemeinsa­ men primären Beeinträchtigung sind. In den meisten Studien zur Klärung dieser Frage werden die neurokognitiven Profile die­ ser Kinder mit den Profilen von Kindern mit „reiner“ ADHS oder LRS sowie mit den Pro­ filen unauffälliger Kinder verglichen. Dazu werden Tests eingesetzt, welche die charakte­ ristisch auffälligen Grundfunktionen beider Störungen erfassen, das heißt sowohl die pho­ nologische Bewusstheit und das schnelle Be­ nennen wie auch die Impulsivität und weitere Kontrollfunktionen. Die Forschungen mit vergleichender Vor­ gehensweise münden in der Annahme, dass die so genannte komorbide Gruppe Beein­ trächtigungen in den Grundfunktionen bei­ der Störungen zeigt, das heißt, sowohl Beein­ trächtigungen im Bereich der phonologischen Funktionen wie auch in den Kontrollfunktio­ nen aufweisen. Dabei unterscheiden sich die Versuchsergebnisse hinsichtlich des Ausma­ ßes der Beeinträchtigungen. Während einige Ergebnisse darauf hinweisen, dass die komor­ bide Gruppe im Vergleich zu den Gruppen mit „reiner“ ADHS bzw. LRS am meisten in

422 

Beeinträchtigung der Lesefähigkeit

den Kernfunktionen beider Schwächen be­ einträchtigt ist (Willcutt et al. 2000), weisen andere Studien darauf hin, dass diese Gruppe gegenüber derjenigen mit LRS in den phono­ logischen Funktionen weniger beeinträchtigt ist (Banaschewski et al. 2000). Zudem wer­ den in der komorbiden Gruppe auftretende zusätzliche Beeinträchtigungen im schnellen Benennen und in Funktionen des Arbeitsge­ dächtnisses auch hervorgehoben dargestellt (Bental & Tirosh 2007, Tannock et al. 2000). Zusammenfassend deuten diese Befund­ muster darauf hin, dass die der LRS zugrunde liegenden Funktionseinschränkungen bei zu­ sätzlich vorliegender Komorbidität mit ADHS nicht nur quantitativ sondern auch qualitativ von der „reinen“ LRS systematisch abweichen. Diese Hypothese wird durch Analysen des Assoziationsmusters zwischen den phonolo­ gischen Funktionen und Lesefunktionen in der komorbiden Gruppe gestützt: Während Lesegenauigkeit bei der LRS-Gruppe mit pho­ nologischen Funktionen verknüpft ist, ist sie bei der komorbiden Gruppe mit Impulskont­ rolle assoziiert (Bental & Tirosh 2007).

5 Zur Notwendigkeit ­spezifischer Diagnostik und Therapie Im Lichte der zusammengefassten Befun­ de wird deutlich, dass zusätzlich auftretende Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit bei Kindern mit Leseschwierigkeiten einen di­ rekten Einfluss auf die Lesefähigkeiten haben. Deshalb sollten in einem Diagnose- und an­ schließenden Therapieverfahren die Fähig­ keiten der Aufmerksamkeit und Impulskon­ trolle mit berücksichtigt werden. Dabei ist unter anderem zu klären, inwieweit beobach­ tete Aufmerksamkeitsschwächen schon vor Schulbeginn bemerkbar waren, das heißt, ob sie primär existierten oder eher Ausdruck von Druck, Angst, Überforderung und Frustration

sind, deren Wurzeln in den Anforderungen des Schulanfangs des Schulalltages liegen. Ähn­ lich wichtig ist die Klärung der Kernkompo­ nenten, die in ursächlichem Zusammenhang mit den Schwierigkeiten beim Erwerb des Le­ sens stehen. Die Fülle der infrage kommenden Zusammenhänge zeigt, dass in der individu­ ellen Therapie unterschiedliche Komponen­ ten der Leseförderung, Verhaltensmodifikation und emotionaler Stärkung zu berücksichtigen sind. Stehen im Rahmen einer Lerntherapie beispielsweise Probleme der Selbstregulation im Vordergrund, so werden neben der syste­ matischen Entwicklung von Lesekompetenz jene Maßnahmen, die selbstregulatives Ver­ halten und Impulskontrolle fördern, einen ho­ hen Stellenwert bekommen. Dazu gehört, ein Verhaltensmuster aufzubauen, welches Kom­ ponenten wie Problemdefinition und Daten­ sammlung, Aufstellen von Handlungsreihen bei der Planung, „plangemäßes“ Durchführen der Aufgabe sowie Überprüfen der Ergebnisse in den Vordergrund stellt (Eisert 1995).

Literatur Banaschewski, T., Tiffin-Richards, M., Hasselhorn, M. & Rothenberg, A. (2000): Komorbidität von hy­ perkinetischer Störung und Legasthenie am Bei­ spiel phonologischer, semantischer und syntak­ tischer Sprachfähigkeiten bei Kindern. Sprache – Stimme – Gehör 24, 106–112. Barkley, R. A. (1997): Behavioral inhibition, sustained attention, and executive function: Constructing a unified theory of ADHD. Psychological Bulletin 121, 65–94. Bental, B. & Tirosh, E. (2007): The relationship be­ tween attention, executive functions and reading domain abilities in attention deficit hyperactivity disorder and reading disorder: A comparative stu­ dy. Journal of Child Psychology and Psychiatry 48, 5, 445–463. Borkowski, J. G. & Burke, J. E. (1996): Theories, mo­ dels and measurements of executive functioning: An information processing perspective. In: Lyon, G. R. & Krasnegor, N. A. (Eds.): Attention, memo­ ry and executive function (235–263). Baltimore: Brookes Publishing. Chadwick, O., Taylor, E. & Taylor, A. (1999): Hyper­ activity and reading disability: A longitudinal stu­



Literatur   423

dy of the nature of the association. Journal of Child Psychology and Psychiatry 40, 7, 1039–1050. Eisert, G. E. (1995): Kognitiv-verhaltenstherapeuti­ sche Behandlung hyperaktiver Kinder. In: Stein­ hausen, H.-C. (Hrsg.): Hyperkinetische Störungen im Kindes- und Jugendalter (164–177). Stuttgart: Kohlhammer. Felton, R. H., Wood, F. B., Campbell, S. K. & Harter, M. R. (1987): Seperate verbal memory and naming deficits in attention deficit disorder and reading disability. Brain and Language 31, 1, 171–84. Krause, K.-H., Dresel, S. & Krause, J. (2000): Neuro­ biologie der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperakti­ vitätsstörung. Psycho 26, 4, 199–208. Naegele, I. M. & Valtin, R. (2000): LRS in den Klassen 1–10. Handbuch der Lese-Rechtschreib-Schwierig­ keiten. Weinheim: Beltz. Pennington, B. F., Groisser, D. & Welsh, M. C. (1993): Contrasting cognitive deficits in attention deficit hyperactivity disorder versus reading disability. Developmental Psychology 29, 3, 511–523. Purvis, K. L. & Tannock, R. (1996): Language abilities with attention deficit hyperactivity disorder, rea­

ding disabilities, and normal controls. Journal of Abnormal Child Psychology 25, 2, 133–144. Shaywitz, B. A., Shaywitz, S. E., Pugh, K. R., Mencl, W. E., Fulbright, R. K., Skudlarski, P., Constable, R. T., Marchione, K. E., Fletcher, J. M., Lyon, G. R. & Gore, J. C. (2002): Disruption of posterior brain systems for reading in children with developmen­ tal dyslexia. Biological Psychiatry 52, 2, 101–110. Tannock, R., Martinussen, R. & Frijters, J. (2000): Naming speed performance and stimulant effects indicate effortful, semantic processing deficits in attention deficit/hyperactivity disorder. Journal of Abnormal Child Psychology 28, 3, 237–252. Willcut, E. G., Pennington, F. B., Boada, R., Ogline, J. S., Tunick, A., Chhabildas, N. & Olson, R. K. (2001): A comparison of the cognitive deficits in reading disability and attention-deficit/hyperacti­ vity disorder. Journal of Abnormal Psychology 110, 1, 157–172. Wolf, M., Bowers, P. G. & Biddle, K. (2000): Namingspeed processes, timing and reading: A conceptual review. Journal of Learning Disability 33, 4, 387– 407.

 IV  Fachpraktische Reflexionsebenen

Professionalisierung Alfons Welling

1 Pädagogische ­Professionalität in Sprachpädagogik, ­Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie: ­Begriffsgeschichtliche ­Reflexion Das Verständnis von Professionalität verweist allgemein auf einen besonderen Typ und In­ halt beruflichen Handelns. Versuche, sprach­ therapeutische Praxis in diesem Sinne zu „pä­ dagogisieren“, haben eine lange Tradition in der Geschichte der Sprachheilpädagogik, ei­ ner Subdisziplin der Erziehungswissenschaft. Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts ist die „Sprachheilkunde“, später dann die „Sprach­ heilpädagogik“, darum bemüht, die Tätigkeit des Therapierens „pädagogisch“ zu konstitu­ ieren und unter dieser Perspektive zu begrün­ den. Hierfür war die Sprachheilkunde von An­ fang an theoretisch allerdings denkbar schlecht vorbereitet. Auf der Grundlage des ihr eigenen Begriffsverständnisses von Sprachphysiologie und Sprachpathologie forderte sie die „päda­ gogische“ Konstituierung der Profession in Unterricht und Therapie. Albert Gutzmanns (21888) wegweisendes Frühwerk kann als ers­ tes Beispiel dafür gelten, Physiologie und Pa­ thologie auf der einen mit der Pädagogik auf der anderen Seite zu verbinden. Das Ergebnis war eine Pädagogik als medizinisch verstande­ ne „Sprachhygiene“. Diese Form der Konstitu­ ierung einer Professionalität hätte gegenwärtig im Denkrahmen der Erziehungswissenschaft keine Orientierungsgrundlage mehr. Auch Beschreibungen bis in die 1960er und 1970er Jahre verbanden medizinische und physiologische Grundannahmen nur vordergründig mit einer pädagogisch erwo­ genen Berufspraxis, wobei die Mündigkeit

und sprachliche Handlungsfähigkeit der Be­ teiligten kaum oder überhaupt nicht berück­ sichtigt wurde (List 1991, Welling & Kracht 2002). Primärer Ansatz blieb die Pathologie der klassischen Medizin, und ausgehend von einer sprachlichen „Störung“ des „Patienten“ (des Leidenden) erfolgten Aussagen zum Be­ griff der „Sprachtherapie“. Der Ansatz einer echten pädagogischen Fragestellung bedurfte daher einer zweifa­ chen begrifflichen Reflexion: 1. Erstens die Klärung derjenigen Kategori­ en, nach denen die Struktureigentümlich­ keiten von Sprachpädagogik, Sprachheil­ pädagogik und Sprachtherapie zu ordnen sind. 2. Zweitens die Klärung dieser Charakteris­ tika als geordneten Ausdruck pädagogisch verstandener Professionalität mit Bezug zu dem jeweiligen Praxisfeld. Diese Klärung kann nur im Kontext eines erzie­ hungswissenschaftlich gefassten Professionalitätsbegriffs erfolgen, der die sprachpädagogische und sprachheilpädagogische Professionalität mit der sprachtherapeutischen Professionalität kategorial verbindet. Seit den 1980er Jahren werden diesbezüg­ liche Ansätze kontrovers diskutiert (Schaeff­ ner 1992). Zu den Hauptargumenten dieser Professionalisierungsdebatte gehört zunächst die allgemeinwissenschaftliche Forderung, Problemlagen von Menschen in einer gege­ benen kulturellen Entwicklungsepoche so­ wie die Veränderungsbedingungen dieser Problemlagen zu thematisieren. Hier besteht überdies eine enge Verflechtung praxeolo­ gischer Betrachtungen auch mit der päda­ gogischen Wissenschaft. Die Praxis der Pä­ dagogik ist auf dieses Erkenntnispotenzial angewiesen, um die Möglichkeitsräume der von dieser Pädagogik betroffenen Menschen

428 

Professionalisierung

im gesellschaftlichen Zusammenleben kon­ kret auszuweiten und – ausgerichtet an Erzie­ hungs- und Bildungszielen – konkret mitzu­ gestalten. Unter dieser Perspektive bleibt die wissenschaftliche Pädagogik stets gefordert, sich methodologisch zu formieren und dabei die berufspraktischen Konsequenzen syste­ matisch einzubeziehen. So fragt die Professionalisierungsdebat­ te seither nach den spezifisch pädagogischen Besonderheiten einer pädagogischen Hand­ lungskompetenz im Zeichen der aktuel­ len gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und in Bezug auf die speziellen Inhalte einer sich konstituierenden Sprachpädagogik und weiter zu entwickelnden Sprachheilpädago­ gik (Dlugosch 2005). Nach professionstheo­ retischen Erkenntnissen (Combe & Helsper 2 1997, Dewe, Ferchoff & Radtke 1992) ist zu berücksichtigen, dass sich die Formen und Inhalte der pädagogischen Professionen als Ausdruck beruflichen Handelns gewandelt haben. Historisch betrachtet lassen sich ge­ genwärtig drei Entwicklungsphasen der Pro­ fessionalisierung unterscheiden (Dlugosch 2003, Welling & Kracht 2002): 1. Institutionalisierung 2. Verwissenschaftlichung 3. Strukturtheoretische Beschreibung pä­da­gogischer Berufstätigkeit Während Erziehungs- und Bildungsaufgaben zunächst durch Personen des allgemeinen so­ zialen Umfeldes, primär durch die Familie, wahrgenommen wurden, führte die Institutionalisierung von Erziehungs- und Bildungspro­ zessen, etwa im vorletzten Jahrhundert, dazu, dass die ursprünglich erzieherische Alltagspra­ xis von Eltern und nahe stehenden Bezugsper­ sonen zunehmend „verberuflicht“ wurde. Die 1960er und 1970er Jahre gehörten der Verwissenschaftlichung des Bildungsanliegens. In der Kritik an der Professionalitätsgarantie allein durch die Institutionalisierung pädago­ gischer Berufsbilder wurde die heutige Profes­ sionalisierung begrifflich nun häufig mit der

wissenschaftlichen Fundierung im Rahmen der Erziehungswissenschaft identifiziert. Seit den 1980er Jahren wird zur Bestim­ mung des Professionellen in der Pädagogik eine strukturtheoretisch begründete Auseinandersetzung geführt. Die Logik des pädago­ gischen Handelns in den hier angesproche­ nen Berufsfeldern muss dabei erst erschlossen werden und zwar auf Basis einer begründeten Mikroanalyse, um die klassischen Berufsty­ pen „Sprachpädagoge“, „Sprachheilpädagoge“ und „Sprachtherapeut“ neu und angemessen zu bestimmen. An die Stelle angenomme­ ner eigenständiger Fachlichkeit oder wissen­ schaftlicher Ausbildung der Praktiker tritt so ein strukturtheoretisch begründetes Ver­ ständnis von pädagogischer Professionalität bzw. im Weiteren eine Professionalisierung sprachpädagogischer Praxis.

2 Aktueller Diskurs/ Stand der Forschung Einen strukturtheoretischen Zugang zum sprachtherapeutischen Bereich der pädagogi­ schen Professionalität entwerfen aktuell Dlu­ gosch (2005) und Oevermann (21997). Bei­ de Autoren thematisieren insbesondere das Verhältnis von Theorie und Praxis. Jeder Sprachtherapeut bzw. jede Sprachtherapeutin ist demnach gefordert, fundierte Kenntnisse über sprachwissenschaftliche und sprachent­ wicklungstheoretische Voraussetzungen des Sprachgebrauchs zu erwerben. Hierfür stehen die Erkenntisse nicht-pädagogischer Diszip­ linen zur Verfügung, etwa der Entwicklungs­ psychologie, Entwicklungspsycholinguistik oder Entwicklungsneurologie (→ Intersub­ jektive Kommunikation, → Sprachentwick­ lung und Sprachabbau), die zur eigenen Hy­ pothesengenerierung und Theoriebildung als Pädagoge zu nutzen sind. Da die sprachpäd­ agogische Perspektive gewahrt bleibt, handelt es sich hierbei immer um allgemeine, partiell hypothetische Wissensbestände, die im Prozess



Aktueller Diskurs/Stand der Forschung   429

des Wissenserwerbs in pädagogisch-therapeu­ tisches Wissen zu überführen sind. Um dieses Wissen als eine sprachpädagogisch hilfreiche Orientierung für die sprachtherapeutische Praxisgestaltung nutzbar zu machen, ist es für jeden Einzelfall zu konkretisieren und somit individualkonzeptuell zu bestimmen. Oever­ mann verwendet für diesen pädagogisch-the­ rapeutischen Praxisbezug den strukturtheore­ tischen Begriff der „Fallstruktur“, und erfasst damit die Komplexität der konkreten Lebens­ lage des betroffenen „Falles“. Auch Dewe, Ferchoff und Radtke (1992, 14) heben den professionstheoretischen Sachverhalt als „uni­ versalistische Regelanwendung bei striktem Fallbezug“ hervor. Er berücksichtigt den Ein­ zelnen in seiner Einzigartigkeit und reflektiert den professionstheoretischen Grundsatz der Pädagogik, dass die Strukturgegebenheiten der individuellen Lage zu interpretieren sind. Das heißt, die genaue Betrachtung der Situa­ tion von Betroffenen vollzieht sich unter dem Begriff „sprachliches Individualkonzept“. Das Konzept der „sprachlichen Handlungsfähigkeit“ des Kindes, Jugendlichen oder Erwachsenen in dessen konkreter Lebens­ wirklichkeit bildet somit die pädagogische Leitidee. Also muss der Sprachtherapeut, wie in jeder pädagogischen Praxis, „Theorie“ und „Praxis“ in einem begründeten System ver­ binden. Nach Oevermann (21997) bedarf eine solche Einheit des Theorie-Praxis-Verhältnis­ ses als Ausdruck professionalisierten pädago­ gischen Handelns zweier Kompetenzen: 1. die Fähigkeit zur Rekonstruktion wissen­ schaftlich fundierten Regelwissens und der reflexive Umgang mit Theorien und 2. die zielorientierte Hermeneutik im Um­ gang mit Individualkonzepten. Diese systematische Verbindung von Theorie und Praxis ist wie folgt zu spezifizieren. Theoretisch gründet der Denkansatz der Sprachpädagogik in der Aufgabe, die Ent­ wicklung der sprachlichen Handlungsfä­ higkeit von Kindern, Jugendlichen und Er­ wachsenen optimal zu fördern. Sprachliche Handlungsfähigkeit ist ein zentraler Faktor

der gelingenden Partizipation am (gesell­ schaftlichen) Leben, und immer werden Ein­ zelne durch Störungen hier in ihrer gesamten Persönlichkeitsentwicklung gefährdet oder gar von Behinderung bedroht sein (WHO 2001). Die sprachpädagogischen Möglichkeitsbedingungen einer vernunftgeleiteten ge­ meinschaftlichen Praxis im Hinblick auf die behindernden Gegebenheiten in der Wirk­ lichkeit sprachlicher Handlungsfähigkeit sind daher besonders gründlich zu reflektieren. Praktisch realisiert sich Sprachpädagogik in ihrer Gebundenheit an die Lebenswirklichkeit von Menschen. Der pädagogische Pro­ zess selbst ist Teil dieser Lebenswirklichkeit und hat somit Auswirkungen auf jeden der an diesem pädagogischen Prozess Beteilig­ ten. Gemäß dieser Leitidee ist die sprachpä­ dagogische Praxis das Feld einer kommuni­ kationsgebundenen Zusammenarbeit, in dem sehr bewusst Möglichkeitsräume eröffnet werden, in denen sprachliches Handeln von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen op­ timal realisiert und gefördert werden kann. Die systematische Verbindung von Theorie und Praxis erfolgt hier auf einer komplementären Basis: • Eine verantwortliche sprachpädagogische Theorie liefert Erkenntnisse und weiter­ führende Hypothesen, die empirisch ge­ prüft und in der Praxis erprobt werden. • Eine verantwortliche sprachpädagogische Praxis reflektiert ihre Arbeit und trägt dazu bei, Erkenntnisse der Theorie zu prä­ zisieren, zu ergänzen, zu revidieren. Um diesen Anspruch einer gelingenden päd­ agogischen Professionalisierung zu verwirkli­ chen, steht inhaltlich der konkrete individuel­ le Lebensalltag im Mittelpunkt, der unter der allgemeinen Leitidee der Zusammenarbeit als Individualkonzept verstanden wird. Indem im hier diskutierten sprachpädagogischen Ansatz von einem handlungstheoretischen Grund­ begriff „sprachlichen Handelns“ ausgegan­ gen wird (grundlegend Welling 1990), ist der Inhalt dieses Handelns zwingend durch die kulturell, personal und sozial erfahrene Le­

430 

Professionalisierung

benswirklichkeit der individuellen Subjek­ te bedingt. Alles Denkmögliche, das in den jeweiligen konkreten Sinnkonstituierungen und Bedeutungskonstruktionen zum Aus­ druck kommt, hat demnach seinen Ursprung in kulturell Erfahrenem, sozial Verarbeitetem und persönlich Erlebtem. Insofern liefern tat­ sächlich die Wirklichkeitsgegebenheiten, also das konkrete Leben der Einzelnen, den Inhalt ihrer Möglichkeitsräume und die Entwürfe für Zukunftsperspektiven ihres individuellen sprachlichen Handelns. Für dieses Inhaltskonzept sprechen phylound ontogenetische Argumente. Oevermann (21997, 71) sieht den Begriff des „Möglichkeits­ raums“ engst mit dem kulturgebundenen Ge­ brauch lebensweltlicher Sprache verflochten (→ Sprache und Sprechen). Nach seiner Ana­ lyse vollzieht sich der Ausdruck des Übergangs von Natur zu Kultur „wesentlich in dem durch das Entstehen von Sprache bedingten Ausein­ andertreten (1) einer Sphäre des im Hier und Jetzt des Handlungsfeldes unmittelbar Gege­ benen einerseits und (2) einer Sphäre der hy­ pothetisch konstruierten Welt von Möglich­ keiten, in der das Hier und Jetzt des konkreten Lebens jeweils transzendiert wird […], ande­ rerseits“. Auch in der Ontogenese stehen dem Individuum optionale biografisch bewährte Handlungsmuster zur Verfügung, die nach Oevermann „Routinen“ genannt werden. Gleichwohl bestehen die Intention und Funktion sprachpädagogischer Professionali­ sierung auch in der Prophylaxe und → Prävention, Entwicklungsgefährdungen wahrzu­ nehmen und Bedingungen entsprechend zu verändern. So muss etwa auch die Sprachheil­ pädagogik im Hinblick auf ihr praktisches Potenzial für die Weichenstellung in der Ent­ wicklung der sprachlichen Handlungsfähig­ keit von Kindern, Jugendlichen und Erwach­ senen sehr sensibel zu Werke gehen, um auch die Professionalität heilpädagogischen Han­ delns zu gewährleisten. Denn auch manifeste persönliche Krisen als Folge des Misslingens bewährter sprachlicher Handlungsmuster sind möglich – als Versagen oder Scheitern an erwartungsüblicher sprachlicher Norm­

vorstellung (→ Norm und Differenz), das zur Sprachbehinderung führt (Welling 2006). Was Oevermann (21997, 112) die „Wieder­ herstellung der Autonomie einer Lebenspra­ xis“ nennt, stellt sich auch für die sprachthera­ peutische Dimension der Pädagogik allgemein als Aufgabe von Theorie und Praxis dar, die deren Qualität bzw. Professionalität bestimmt. Oevermann begründet diese Argumentation mit der Schutzbedürftigkeit der Persönlich­ keiten der Kinder, Jugendlichen und der Er­ wachsenen, die sich oftmals nur bedingt selbst schützen können. An diesem Punkt wird die sprachtherapeutische Dimension als Funk­ tion des sprachpädagogischen Handelns be­ sonders deutlich. Denn Gleiches gilt auch für den sprachtherapeutischen Prozess, hier aller­ dings spezifiziert durch die Perspektive und den Inhalt der sprachlichen Handlungsfähig­ keit der Betroffenen in ihrer sozialen Lebens­ welt.  Sprachpädagogisch, sprachheilpädago­ gisch und sprachtherapeutisch geht es somit nicht eigentlich und schon gar nicht in ers­ ter Linie um „Vermittlung“ von Sprache bzw. Sprachkompetenz im üblichen normativen Sin­ ne (→ Sprachdidaktiktheorie). Im Gegenteil, nicht hinreichend qualifizierte Bemühungen um „Sprachvermittlung“ können eben solche Beschädigungen der Persönlichkeit bestärken oder hervorrufen (→  Person und Sprache), zumindest die angesprochene prophylakti­ sche bzw. präventive Dimension der sprachpä­ dagogischen Praxis verfehlen. Deshalb gilt es sprachpädagogisch und sprachtherapeutisch als unabdingbar, dass die Qualität dieser Praxis hinsichtlich der objektivierbaren Folgen für die persönliche Integrität der Betroffenen bedacht und durch die Professionalität des the­ rapeutischen Handelns verantwortet wird.

3 Pädagogisch begründeter Professionalitätsanspruch Der pädagogische Anspruch innerhalb der ge­ genwärtigen theoretischen Sprachheilpädago­



Literatur   431

gik, der bislang nur marginal zu interessieren schien, hat im Kontext des Professionalisie­ rungsanspruchs in den Bereichen Sprachpäd­ agogik, Sprachheilpädagogik und Sprachthera­ pie eine neue Dimension erlangt. Das Anliegen der Sprachtherapie und die praktische Gestal­ tung sprachtherapeutischer Situationen impli­ zieren immer auch pädagogische Begründun­ gen, soll diese Praxis nicht zu „Unmündigkeit“ und „Sprachlosigkeit“ der Menschen führen, die in ihrer sprachlichen Handlungsfähigkeit bedroht oder beeinträchtigt sind. Hier eröff­ net sich ein spezielles Feld der pädagogischen Praxisgestaltung, und es ist nahe liegend, die Professionalisierung dieser Therapie sprachpädagogisch zu erörtern und von diesem Blickpunkt aus das „pädagogische Wesen“ der Sprachtherapie zu reflektieren. Was professi­ onstheoretisch von Belang ist, die Frage also, wie die Form des beruflichen Handelns in Bil­ dung und Erziehung definiert ist, unterliegt historischer Veränderung: (1)  Zunächst war es bereits Ausdruck professionellen Handelns, dass Bildung und Erziehung institutionalisiert erfolgte. (2) Dann, durch zunehmende Verwis­ senschaftlichung des pädagogischen Grund­ anliegens, galt das als professionell, was dem diesbezüglichen wissenschaftlichen Argument unterlag. (3) Heute schließlich zählt als Beitrag zur Professionalisierung eines pädagogischen Zusammenhangs, wenn das Mikrosystem der Verbindung von pädagogischer Theorie und pädagogischer Praxis strukturtheoretisch be­ schreibbar und begründbar ist. In diesem Sinne sollte eine Professionstheorie die Möglichkei­ ten sprachpädagogischer Professionalisierung der sprachtherapeutischen Tätigkeit aufzeigen. Ein abgeschlossenes Begriffssystem aller um den Professionsbegriff rankenden theore­ tischen Aspekte kann hier naturgemäß nicht vorgelegt werden. Die Diskussion der pro­ fessionstheoretischen Konstrukte und Kon­ zeptionen hat eben erst begonnen, und auch dieser Beitrag möge die Fachkreise der pä­ dagogischen Teildisziplinen, vor allem der Sprachheilpädagogik, zur Teilnahme anre­ gen. Die pädagogische Professionalität sei hiermit als Konstrukt überhaupt in die pä­

dagogische Reflexion des angesprochenen Praxisfeldes eingebracht und in der aktuel­ len Debatte neben den Begriff von „Qualität“ gestellt (→ Qualitätsentwicklung und Evalu­ atinsforschung), der dort vielfach favorisiert wird. Unter „sprachpädagogischer Professionalität“ ist eine Handlungsform zu verstehen, die zwischen sprachpädagogischer Praxis und sprachpädagogischer Theorie vermittelt und deren Systemhaftigkeit konzeptgebunden reflektiert. Die Aufgabe der Professionstheorie besteht darin, das System der leitenden Begriffe der sprachpädagogischen Professi­ onalität, der sprachtherapeutischen Profes­ sion und der sprachpädagogischen Professi­ onalisierung des therapeutischen Konzepts inhaltlich festzulegen sowie seine Geltung und Gültigkeit zu kontrollieren. Die Theorie dieser Profession muss also die Möglichkei­ ten sprachpädagogischer Professionalisierung der Sprachtherapie strukturtheoretisch wei­ ter entwickeln. Im Rahmen bestimmter For­ men pädagogischer Sprachtherapie wird der Professionalitätsanspruch inhaltlich, ethisch und moralisch, durch bestimmte Leitideen begründet; denn diese kann beim Menschen ein Bewusstsein seiner selbst als verantwort­ lich Handelndem schaffen.

Literatur Combe, A. & Helsper, W. (21997): Pädagogische Pro­ fessionalität. Untersuchungen zum Typus pädago­ gischen Handelns. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dewe, B., Ferchhoff, W. & Radtke, F.-O. (1992): Erzie­ hen als Profession. Zur Logik professionellen Han­ delns in pädagogischen Feldern. Opladen: Leske + Budrich. Dlugosch, A. (2003): Professionelle Entwicklung und Biografie: Impulse für universitäre Bildungs­ prozesse im Kontext schulischer Erziehungshilfe. Heilbrunn: Klinkhardt. Dlugosch, A. (2005): Professionelle Entwicklung in sonderpädagogischen Kontexten. In: Horster, D., Hoyningen-Süess, U. & Liesen, C. (Hrsg.): Sonder­ pädagogische Professionalität: Beiträge zur Ent­ wicklung der Sonderpädagogik als Disziplin und Profession (27–52). Wiesbaden: Verlag für Sozial­ wissenschaften.

432 

Professionalisierung

Gutzmann, A. (21888): Das Stottern und seine gründ­ liche Beseitigung durch ein methodisch und prak­ tisch erprobtes Verfahren. Berlin: Staude. List, G. (1991): Vom Triumpf der „deutschen“ Metho­ de über die Gebärdensprache. Problemskizze zur Pädagogisierung der Gehörlosigkeit im 19. Jahr­ hundert. Zeitschrift für Pädagogik 37, 2, 245–265. Oevermann, U. (21997): Theoretische Skizze einer re­ vidierten Theorie professionalisierten Handelns. In: Combe, A. & Helsper, W. (Hrsg.): Pädagogische Professionalität (70–182). Frankfurt a. M.: Suhr­ kamp. Schaeffner, D. (1992): Tightrope Walking. Handeln zwischen Pädagogik und Therapie. In: Dewe, B., Ferchhoff, W. & Radtke, F.-O. (Hrsg.): Erziehen

als  Profession (200–229). Opladen: Leske + Bud­ rich. WHO (World Health Organization) (2001): Interna­ tional Classification of Functioning, Disability and Health (ICF). Geneva: WHO. Welling, A. (1990): Zeitliche Orientierung und sprach­ liches Handeln. Handlungstheoretische Grund­ legungen für ein pädagogisches Förderkonzept. Frankfurt a. M.: Lang. Welling, A. & Kracht, A. (2002): Sprachpädagogische Professionalisierung der Sprachtherapie – Koope­ ration als pädagogische Leitidee. In: Arbeitskreis Kooperative Pädagogik (AKoP) e. V. (Hrsg.): Vom Wert der Kooperation: Gedanken zu Bildung und Erziehung (127–158). Frankfurt a. M.: Lang.

Unterrichts- und Therapieforschung Christian W. Glück

1  Einleitung Die Sprachheilpädagogik, deren Perspektive hier fokussiert wird, sieht sich als Handlungs­ wissenschaft, die ihre Wissenschaftlichkeit aus der Hervorbringung eigener Theorien, aus der Integration wissenschaftlicher Theorien von Bezugsdisziplinen und aus der Hervor­ bringung und Anwendung wissenschaftlicher Methoden der Erkenntnisgewinnung ableitet (vgl. Baumgartner et al. 2004). Standen lange Zeit Konzept- und Theoriebildungen im Mit­ telpunkt, die hermeneutisch oder aus reflek­ tierter Praxis gewonnen wurden, wächst auch in der Sprachheilpädagogik die Einsicht in die Notwendigkeit der Gewinnung und Prüfung von Einsichten durch die Mittel der empiri­ schen Forschung (Hansen 1996, Steiner 2002). Verstehen wir Wissenschaft als ein gesell­ schaftlich geachtetes und subventioniertes Instrument in der Bearbeitung gesellschaft­ lich relevanter Gegenstände, so trägt die em­ pirische Forschung durch ihren unbedingten Gegenstandsbezug zur Angemessenheit des Gegenstandes und durch starke Konventio­ nalisierung zur Transparenz in der Erkennt­ nisgewinnung bei. Die derzeitig zu beobach­ tende starke Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse in gesellschaftliche Entschei­ dungsprozesse gründen – etwa im Bildungs­ bereich, aber auch im Bereich der medizini­ schen Intervention – auf einem Vertrauen in die durch empirische Forschung begründeten Erkenntnisse. Auch die moderne Sprachheilpädagogik kann durch die Einbeziehung empirischer Forschung ihre wissenschaftliche Relevanz unter Beweis stellen. Empirisch zugängli­ che Forschungsfelder ergeben sich aus den Aufgabenfeldern der Sprachheilpädagogik. Hierzu gehört die Grundlagenforschung mit

Fragen zur Entwicklung von Kommunika­ tion und Sprache (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau) sowie zu deren kontextuellen Bezügen und Modifikationen. Als Teil der Grundlagenforschung, aber auch der hinzu­ tretenden Anwendungsforschung werden in der Sprachheilpädagogik sprachliches Ler­ nen und Lehren (→ Interdisziplinäre Theo­ rie sprachlichen Lehrens und Lernens) sowie deren Bedingungen und Wechselwirkungen fokussiert. Anwendungsforschung umfasst damit Evaluationsforschung (→ Qualitätsent­ wicklung und Evaluationsforschung) und In­ terventionsforschung und liefert die methodi­ sche Basis für Aspekte der Qualitätssicherung und die Datenbasis für Wirkungsnachweise im Sinne einer angestrebten evidenzbasierten Praxis (EBP). Obwohl dies sowohl für das Handlungsfeld Unterricht (→ Sprachförde­ rung im Aufgabenfeld Unterricht) als auch für das Handlungsfeld Therapie (→ Aufgabenfeld Sprachtherapie) gleichermaßen gültig ist, ha­ ben sich – wesentlich durch unterschiedli­ che Entwicklungen in den verschiedenen Be­zugswissenschaften der Sprachheilpäda­ gogik  – Unterrichts- und Therapieforschung eigenständig entwickelt. Fokussiert werden in diesem Beitrag die Unterrichtsforschung und die mit Unterricht verknüpfte Therapie.

2 Unterrichts- und ­Therapieforschung Obwohl in den vergangenen dreißig Jahren die empirische Unterrichtsforschung insgesamt einen gewissen Aufschwung erlebt hat und durch die internationalen und nationalen Stu­ dien zur Bildungsberichterstattung (u. a. PISA, IGLU) gegenwärtig eine hohe gesellschaftli­

434 

Unterrichts- und Therapieforschung

che Aufmerksamkeit erfährt (→ Lesen und Schreiben), bleibt der Begriff „Unterrichtsfor­ schung“ unscharf. Neben der Erziehungswis­ senschaft nähern sich, teils interdisziplinär, andere wissenschaftliche Fachgebiete wie die Pädagogische Psychologie, die Erziehungsso­ ziologie und die Psycholinguistik diesem Ge­ genstand (Mayring 1996). Hinzukommen im Rahmen der fachdidaktischen Forschung auch die jeweiligen wissenschaftlichen Grundlagen­ fächer. Einzuordnen ist die Unterrichtsforschung in das Gesamt zur Bildungsforschung, die sich darüber hinaus auch Themen widmet wie der historischen Entwicklung des Bildungs­ wesens, der Organisationsentwicklung seiner Institutionen (→ Institutionen und ihr gesell­ schaftlicher Rahmenkontext), der Professiona­ lisierung der Lehrkräfte (→ Pädagogische Pro­ fessionalität) und spezieller Bildungsbereiche (Medienpädagogik → Medien, Früherziehung, Verkehrs- und Umwelterziehung etc.). Auch die Zielfelder der Unterrichtsforschung selbst betreffen neben der werte- und kulturgebun­ denen Curriculumgestaltung sowie den kon­ textuellen und intrapersonalen Bedingungen von Lehrperson und Schüler vor allem die Pro­ zesse des Lehrens und Lernens (Lehr-Lernfor­ schung) und deren kognitive, emotionale und kommunikative Anteile (Morine-Dershimer 2001). Der komplexe Untersuchungsgegen­ stand mit einer hohen Zahl interagierender Variablen macht entsprechend komplexe Mo­ delle und Reduktionen erforderlich. Dies gilt gleichermaßen für die Unter­ richtsforschung in der Sprachheilpädago­ gik, die ganz besonders die Bedingungen des sprachlichen Lernens in der Interaktion von im Unterricht organisiertem, laut- und schriftsprachlichem Angebot und den ein­ geschränkten Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler – vor allem den sprachlichen – in den Blick nimmt. Damit steht die Unter­ richtsforschung in der Sprachheilpädago­ gik in der Nähe zur Unterrichtsforschung in der  Deutsch-Didaktik (→ Schriftspracher­ werb im Unterrichtskontext Deutsch), der Didaktik des Deutschen als Zweit-/Fremd­

sprache (→ DaZ/DaF) und der Fremdspra­ chen-Didaktik (→ Sprachförderung im Un­ terrichtskontext Frühenglisch). Entsprechend der Einbettung in die all­ gemeine Unterrichtsforschung wird der wis­ senschaftliche Rahmen von bildungswissen­ schaftlichen und psychologischen Theorien gebildet (vgl. Tab. 1). „Therapieforschung“ wiederum ist einzu­ ordnen in das Gesamt der Interventionsfor­ schung, die insbesondere in der medizini­ schen und psychologischen, aber auch in der pädagogischen Wissenschaft betrieben wird. Sie dient der Entwicklung und Evaluation von Maßnahmen zur gezielten und planvol­ len Veränderung von Merkmalen einer Per­ son und/oder ihrer Umgebung (Bortz & Dö­ ring 2006). Auf der Grundlage bestimmter Vorstel­ lungen von Gesundheit und Krankheit lassen sich Interventionen im Hinblick auf bestimm­ te Zielvariablen erforschen. Folgt man einem funktionalen Verständnis von Gesundheit, wie es der ICF zugrunde liegt (DIMDI 2005), so wendet sich Interventionsforschung den Bedingungen, Inhalten und Methoden sowie den durch die Interventionsmethode indu­ zierten Veränderungen in körperlichen und seelischen Strukturen und Funktionen zu, aber auch den Möglichkeiten der Partizipa­ tion und Aktivation unter Berücksichtigung der äußerlichen und innerlichen Bedingun­ gen der Person (Ressourcen). Damit stellen die im Zusammenhang mit den angestrebten Wirkungsnachweisen von Interventionsformen erwünschten Evaluati­ onsstudien nur einen wichtigen Teilbereich der Interventionsforschung dar (→ Quali­ tätsentwicklung und Evaluationsforschung). Dort werden auch die methodischen Proble­ me angesprochen, Interventionen in sprach­ therapeutischen Zusammenhängen zu stan­ dardisieren, um zu einer Aussage über die verwendete Interventionsmethode zu kom­ men, da hier eine Wirkung nur über die Ver­ bindung der Person der Therapeutin mit ihrer Beziehung zum Klienten und mit der Metho­ de erzielt werden kann.



Kennzeichen und Methoden empirischer Forschung   435

Tab. 1:  Unterrichts- und Therapieforschung: Thematische Unterschiede Themen in der Unterrichtsforschung

Themen in der Therapieforschung

• Teil der Bildungsforschung • Historische Entwicklung des Bildungswesens • Institutionelle Entwicklung • Professionalisierung der Fachkräfte • Spezielle Bildungsbereiche

• Teil der Interventionsforschung • Entwicklung und Evaluation gezielter und planvoller Maßnahmen, der Veränderung von Merkmalen, der Person und/oder Umwelt

3 Kennzeichen und Methoden empirischer Forschung Unabhängig von der Zielebene (Grundlagen-, Evaluations-, Interventionsforschung) gelten bestimmte Grundsätze der empirischen For­ schung. Sinn dieser Grundsätze ist es, einen konventionalisierten Rahmen zu beschreiben, innerhalb dessen wissenschaftliches Arbei­ ten als solches angesehen werden kann. Na­ türlich gibt es auch Forschungsstrategien, die ohne empirische Forschung auskommen, wie etwa die hermeneutische Arbeit der Interpre­ tation von Texten. Kennzeichen empirischer Forschung ist es dagegen, Daten aus der eige­ nen, dem Forscher unmittelbar zugänglichen Wirklichkeit zu gewinnen, diese Daten in sys­ tematischer und strukturierter Art zu doku­ mentieren und unter Beachtung von Interpre­ tationsregeln auszuwerten. Empirische Forschung kann dabei: • funktional der Beschreibung von Gege­ benheiten dienen (deskriptive Funktion), • sie kann genutzt werden, um zu konkreten Fragen über den Forschungsgegenstand zu kommen (hypothesengenerierende Funk­ tion), • und sie kann im Sinne einer rationa­ listischen, erkenntnistheoretischen Posi­ tion (Pop­per 2007 [i. O. 1935]) eine wichti­ ge Funktion in der vorläufigen Bestätigung von Hypothesen durch ausbleibende Fal­ sifikation (hypothesentestende Funktion) übernehmen. Unterrichts- und Interventionsforschung be­ zieht hierzu in angemessener und häufig er­

gänzender Weise quantitative und qualitative Methoden ein. Quantitative Forschungsmethoden

Quantitative Forschungsmethoden beruhen im Grunde darauf, den Wahrnehmungen der Welt numerische Äquivalente zuzuordnen. Diese Erfassung der Beobachtungen und die Zuordnung geschehen nach bestimmten Re­ geln, die den so genannten „Gütekriterien“ ge­ nügen müssen (Bortz & Döring 2006). Diese numerischen Äquivalente wiederum können statistisch weiter verarbeitet werden, so dass neben einer nomothetischen Deskription, z. B. von bestimmten Fähigkeiten einer begrenzten Stichprobe von Schülern, auch Wahrschein­ lichkeitsaussagen im Hinblick auf die so ge­ nannte „Grundgesamtheit“, also auf die Per­ sonengruppe, aus der die Stichprobe gezogen wurde, möglich werden. Mit quantitativen Methoden wird ange­ strebt: • den Einfluss des Untersuchers durch stan­ dardisierte Untersuchungsbedingungen zu minimieren (Gütekriterium Objektivität), • die Abbildung der Erfahrungen in ein nu­ merisches Äquivalent verlässlich vorzu­ nehmen (Gütekriterium Reliabilität), • und die gewonnenen Aussagen in einer Prüfung im Vergleich zu theoretischen Annahmen bzw. zu anderen erhobenen Daten auf ihre Gültigkeit hin zu beurteilen (Gütekriterium Validität). Häufig eingesetzte Forschungsdesigns sind gruppenvergleichende Studien im Quer- und Längsschnitt. Aber auch Einzelfallstudien mit

436 

Unterrichts- und Therapieforschung

der Erhebung von Merkmalen vor und nach der Intervention sind für die Therapiefor­ schung unentbehrlich. Als Datenerhebungs­ methoden kommen die Beobachtung, die Befragung und das Experiment zum Einsatz. Quantitative Methoden sind immer dann gut anwendbar, wenn (aus der zu prüfenden Theorie) die Beobachtungs- und Beurtei­ lungskriterien wohl definiert vorliegen, und wenn aus größeren Stichproben verallge­ meinerbare, überindividuelle Aussagen abge­ leitet werden sollen (vgl. Tab. 2). Den Vorteilen höherer, externer Validität bei größeren Stichproben und der exakt quan­ tifizierbaren Ergebnisse stehen die Nachtei­ le einer kaum flexiblen, weil standardisier­ ten Vorgehensweise und damit verbunden der Notwendigkeit des vorherigen Festlegens auf ausgewählte Beobachtungsitems, auf be­ stimmte Fragebogenitems oder auf bestimm­ te Variablen in der experimentellen Untersu­ chung gegenüber. Qualitative Forschungsmethoden

Diese Nachteile auszugleichen, ist das Pro­ gramm der qualitativen Forschungsmethoden angetreten. Hierunter werden verschiedene Forschungsstrategien gefasst, deren Gemein­ samkeiten in der betont subjektiven, alltags­ bezogenen Sichtweise bestehen. Methodisch werden ausgehend von einer möglichst un­ mittelbaren Deskription des Verhaltens eine Folge an interpretierenden, Aussagen verdich­ tenden und verallgemeinernden Schritten ge­ gangen mit dem Ziel der Rekonstruktion und

des nachvollziehenden Verstehens des Verhal­ tens und Erlebens der Probanden. Die in Interviews, durch Fragebögen oder durch teilnehmende Beobachtung gewonne­ nen Daten werden durch Protokollierung, Transkription und Codierung aufgearbeitet und beispielsweise im Sinne der „qualitativen Inhaltsanalyse“ (Mayring 2003) ausgewertet. Dabei müssen die Beobachtungsitems und Interpretationskategorien nicht von vornher­ ein feststehen, sondern können am Datenma­ terial selbst entwickelt werden, was eine hohe inhaltliche Validität sicherstellt. Durch eine detaillierte und präzise Dokumentation der Vorgehensweise ist die Reliabilität (Auswerter­ übereinstimmung) sicherzustellen. In der Unterrichts- und Interventionsfor­ schung können so zum Beispiel subjektive Aspekte des Behinderungserlebens, der Mo­ tivation, des Beziehungserlebens sowie sub­ jektive Theorien der Klienten/Schüler, des Umfeldes und auch der Therapeutin bzw. des Therapeuten erfasst werden. Da auch quali­ tative Forschungsmethoden auf beobachtba­ ren Verhaltensweisen basieren, können diese in der Auswertung auch quantitativ beschrie­ ben werden. So steht die linguistische Ana­ lyse von transkribierten Unterrichts- oder The­rapiesequenzen zwar in der Methode der qualitativen Methodik nahe, dennoch ist eine quantitative Auswertung, beispielsweise im Hinblick auf bestimmte, grammatische Ziel­ strukturen, unerlässlich. Derartige, qualitative Analysen sind aller­ dings sehr zeit- und ressourcenintensiv, da sie hohe Anforderungen an die fachliche Quali­

Tab. 2:  Quantitative Forschung und Qualitative Forschung: Methodische Unterschiede Quantitative Forschung

Qualitative Forschung

• Erfassung von beobachteten Unterschieden in

• Grundlage ist die Beschreibung von Phänomenen. • Im Mittelpunkt steht der Einzelfall. Durch Transkrip­

einem numerischen Äquivalent • Verallgemeinerbare Aussagen werden über Gruppen von Probanden gewonnen. Hypothese zu einem Sachverhalt besteht vor der Untersuchung. • Quantitative Forschung kann eine Hypothese falsifizieren oder nicht-falsifizieren. Statistische Methoden unterstützen diese Hypothesentestung.

tion und weitere Interpretationsschritte wird eine verallgemeinerbare Aussage gewonnen. • Neben der hypothesentestenden hat die qualitati­ ve Forschung auch eine hypothesengenerierende Funktion, da mit ihr neue Phänomenbereiche erst beschrieben und erfasst werden.



Methodische Umsetzung an Beispielen der Unterrichts- und Therapieforschung   437

fikation der Forscherinnen und Forscher stel­ len (s. Tab. 2).

4 Methodische Umsetzung an Beispielen der Unterrichtsund Therapieforschung Die Unterrichtsforschung in der Sprachheil­ pädagogik bezieht sich auf die Besonderheiten eines sprachheilpädagogischen Unterrichts, also eines Unterrichtes, der von einer sprach­ heilpädagogischen Fachperson gestaltet wird und von Besonderheiten der Akteure, der Interaktion, der Inhalte, Methoden und Ziele so­ wie des institutionellen Settings gekennzeich­ net ist. Der sprachheilpädagogische Unterricht umfasst unterrichtliche Arbeit im engeren Sin­ ne, also das Verfolgen curricularer und erzieh­ licher Ziele, als auch die sprachtherapeutische Arbeit. Daher muss ein Programm zur Erfor­ schung sprachheilpädagogischen Unterrichts diese Aspekte in die Analyse aufnehmen. Akteure

Auf Seiten der Schülerinnen und Schüler sind die sprachlichen und nicht-sprachlichen Fä­ higkeiten, die als Ausgangsbedingungen und Modifikationsvariablen in die Unterrichtssi­ tuation eingehen, zu beschreiben. Untersu­ chungen mit dieser Aufgabenstellung wur­ den in der Vergangenheit mehrfach unter dem Schlagwort „Die Schülerschaft der Sprachheil­ schule“ vorgestellt (u. a. Gieseke & Harbrucker 1991). Methodisch ist hier mit Fragebögen gearbeitet worden, die naturgemäß eine grob klassifizierende Darstellung ergeben, welche die besonderen Bedingungen des (sprachli­ chen) Lernens und Lehrens zwar skizzenhaft erkennen lässt, aber nicht zu einer individu­ umsbezogenen, detailorientierten Beschrei­ bung z. B. von Aussprachestörungen führt, die geeignet ist, die wechselseitige Einflussnahme von sprachlicher Fähigkeit und unterrichtli­ chem Angebot systematisch zu erfassen. In ex­

emplarischer, aber nicht systematischer Form wird dies in Osburg (1997) dargestellt. Persönliche Ressourcen bestehen auch auf Seiten der Lehrpersonen. Ihre spezialisierte Ausbildung im Hinblick auf die Unterrich­ tung von Schülerinnen und Schülern mit sprachlichem Förderbedarf führt zu einer Professionalität, deren Spezifika als interve­ nierende Variablen in den sprachlichen LehrLernprozess eingehen. Dementsprechend versucht die Unterrichtsforschung, die Sensi­ tivität bezüglich sprachlich-kommunikativer Fähigkeiten und daraus abgeleitet das Wissen der Lehrperson zu den individuellen Lernbe­ dingungen der Schülerinnen und Schüler zu erfassen. Methodisch kann man sich diesem Wis­ sen direkt durch Fragebogen und Interview annähern. Um der Diskrepanz von Wis­ sen und Handeln Rechnung zu tragen, sollte dieses Wissen jedoch auch im Verhalten der Lehrperson beobachtet werden können. Di­ mensionen dieses Verhaltens sind die auf die individuellen Lernbedingungen angepass­ te Auswahl von Inhalten und Methoden des Unterrichts und der Therapie sowie Beson­ derheiten in der Interaktion von Lehrperson und Schülern. Interaktion

Diese Merkmale der Interaktion werden un­ ter dem Schlagwort „Lehrersprache“ zwar verschiedentlich konzeptionell behandelt (Schmitt & Weiß 2004), jedoch nur ausnahms­ weise systematisch zum Gegenstand der Un­ tersuchung gemacht. So widmete Carstens sich in einer 1981 veröffentlichen Studie den sprachlichen Interaktionsanteilen von Schü­ lern und Lehrpersonen im Unterricht, gemes­ sen an der Anzahl der Äußerungen, und ana­ lysiert quantitativ die pragmatische Funktion sprachlicher Äußerungen der Lehrperson in verschiedenen Unterrichtsstunden an Sprach­ heilschulen. Obwohl diese gesprächsanalytisch orien­ tierte Herangehensweise als qualitative Me­ thode in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts

438 

Unterrichts- und Therapieforschung

auch in der Sprachheilpädagogik sehr populär wurde (vgl. Heidtmann 1988), entstanden kei­ ne weiteren, deskriptiven oder vergleichenden Arbeiten zur sprachheilpädagogischen Un­ terrichtsforschung. Der Hauptgrund hierfür ist sicher in der sehr aufwändigen Methode zu sehen, die neben bestimmten technischen Vor­aussetzungen (Video-/Audioaufnahmen) ein spezialisiertes fachliches (sprachheilpä­ dagogisches und linguistisches) Wissen und einen sehr hohen Zeitaufwand erforderlich macht. Auch der Einsatz von moderner Soft­ ware, die die Transkription und Interaktions­ beobachtung unterstützt (z. B. „CHILDES“, „Videograf“), erleichtert zwar die Erfassung, Codierung und Auswertung – der Aufwand bleibt dennoch hoch. Inhalte, Methoden und Ziele

Sprachheilpädagogischer Unterricht als ein Unterricht, der von einer sprachheilpädagogi­ schen Fachperson gestaltet wird, ist durch eine besondere Auswahl und Akzentuierung von Unterrichtsinhalten und -methoden gekenn­ zeichnet. Inhalte und Methoden, die einen hohen Grad an sprachlicher Bearbeitung er­ möglichen, oder Inhalte, die gar selbst formale oder funktionale Aspekte der Sprache darstel­ len, werden bevorzugt: das so genannte „Pri­ mat der sprachlichen Lernprozesse“ (Hom­ burg 1978). In der sprachheilpädagogischen Fachliteratur sind verbreitet konzeptionelle Überlegungen zur Umsetzung dieser Forde­ rung anzutreffen, etwa im Mathematikunter­ richt (Baumeister 1986, Trossbach-Neuner 1994). Auch hier kann eine systematische Er­ fassung der reflektierten Auswahl von Inhal­ ten und Methoden oder deren (Aus-)Wirkun­ gen bisher nicht festgestellt werden. Erfreulicherweise liegen dagegen für die Auswahl therapeutischer Inhalte und Metho­ den im und außerhalb des Unterrichts einige Untersuchungen vor. Über die Schwierigkei­ ten, therapeutische Ziele im Setting Unter­ richt zu verfolgen, wird in einer FragebogenStudie berichtet (Holler-Zittlau & Gück 2001). Werden bestimmte sprachliche Lernziele im

Sinne von Therapiezielen direkt im Unter­ richt verfolgt, so lag das forschende Interesse bisher auf der Veränderung der sprachlichen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler. So wurde beispielsweise der Einsatz eines methodenpluralen Konzeptes – der „Kon­ textoptimierung“ (Motsch 2004) – als Inter­ ventionsmethode in ihrer Wirksamkeit im Hinblick auf einzelne grammatische Ziel­ strukturen überprüft und für wirksam be­ funden (Motsch & Berg 2003, Motsch 2004, Berg 2007). Hier steht die Interventionsfor­ schung im Dienste der Evaluation. In dieser Studie wird als Effektvariable die Leistung in einem bestimmten, elizitiert spontansprach­ lichen Überprüfungsverfahren erhoben. Um über den prä/post-Vergleich der sprachli­ chen Leistung hinaus auch den Prozess des Lehrens und Lernens stärker in den Blick zu nehmen, könnten wiederum Transkriptionen und Analysen von Unterrichts- bzw. Thera­ piesequenzen vorgenommen werden. Mit ih­ nen könnte in den sprachlichen Interaktionen die Anwendung von Methoden der „Model­ lierung“ (Dannenbauer 2002, Fey & ProctorWilliams 2000) im Sinne situativer therapie­ integrierender Maßnahmen nachgewiesen werden. Der Nachweis der Wirksamkeit einer the­ rapeutischen Methode oder eines therapeuti­ schen Programms ist für einige Aspekte der Sprachentwicklungsstörungen (→ Entwick­ lungsbedingte Sprachstörungen) in Einzel­ studien oder, was wünschenswerter ist, in Metaanalysen belegt: zum Beispiel zur The­ rapie grammatischer Störungen (Motsch & Berg 2003), semantisch-lexikalischer Störun­ gen (Glück 2003) sowie von Aussprachestö­ rungen (Teutsch & Fox 2004). Bei genauerer Betrachtung allerdings ist bei vielen experi­ mentellen Studien die Interventionsform eher als ein „Training“ zu bezeichnen, da die Inter­ vention bei hoher Dosierung meist nur einen kleinen Teilaspekt fokussiert und damit wei­ tere Bereiche der Sprachstörung bzw. -behin­ derung sowie die zusätzlichen Einflüsse eines natürlichen Settings (Klasse, Eltern) ausge­ klammert werden. Hier müssen ergänzende



Zukünftige Aufgaben   439

Studien die Übertragbarkeit von in einem ex­ perimentellen Setting gewonnenen Aussagen in die authentische, kommunikative Situation nachweisen (Justice & Fey 2004). Setting

Während die konzeptionelle Auseinanderset­ zung über geeignete Formen der Verknüpfung von Unterricht und Therapie zeitweise inten­ siv geführt worden ist (u. a. Dannenbauer & Dirnberger 1981), sind Setting-vergleichen­ de Studien in der nationalen Unterrichtsfor­ schung selten. Eine Ausnahme stellt die oben genannte Studie zum Erwerb grammatischer Zielstrukturen dar, in der vergleichend im Set­ ting Unterricht und Individualtherapie gear­ beitet worden ist (Berg 2007). Die Frage der Eignung der verschiedenen Formen der unterrichtlichen und außerunter­ richtlichen Intervention (additive Sprachthe­ rapie, therapieimmanenter und therapieinte­ grierender Unterricht, therapieintegrierende Unterrichtsphasen) (→ Sprachförderung im Aufgabenfeld Unterricht) im Hinblick auf die Therapieziele und jeweiligen Bedingungs­ konstellationen der Schülerinnen und Schü­ ler einer Klasse kann derzeit fast nur im Sinne konzeptioneller Plausibilität und erfahrungs­ basierter Praktikabilität, aber kaum wissen­ schaftlich-empirisch begründet beantwortet werden. Neben der Zahl der einzubeziehenden Ak­ teure sind zeitliche Aspekte des Settings zu untersuchen, wie Frequenz und Dauer der Intervention – so wie etwa in der Arbeit von Stoel-Gammon et al. (2002) zur Therapie von Aussprachestörungen ein zyklisches Vorge­ hen vorgeschlagen wird. Der zeitliche Aspekt ist auch für die Beurteilung der Effizienz ei­ ner Intervention zu berücksichtigen, die den (zeitlichen) Aufwand beschreibt, die Ziele der Intervention zu erreichen. Eine besondere Bedeutung gewinnen Stu­ dien unter Einbeziehung von Setting-Aspek­ ten in dem Maße, in dem sprachheilpädagogi­ sche Interventionen durch Integrations- bzw. Kooperationsmaßnahmen zunehmend auch

an anderen Förderorten stattfinden. Damit nähern sich die Tätigkeitsfelder von klassi­ schen Sprachheilpädagogen mehr denen der speech-language pathologists (SLP) in schools (→ Sprachdidaktiktheorie), wie sie schon tra­ ditionell im anglo-amerikanischen System beschrieben werden (Miller 1989).

5  Zukünftige Aufgaben In der Darstellung der bisher geleisteten Un­ terrichtsforschung werden verschiedene Desi­ derate deutlich sichtbar. Für die Entwicklung des Faches wünschenswert ist die stärkere Zu­ wendung zu den sprachlichen Interaktionen in Unterricht und Therapie, da sie das wesent­ liche Mittel in der Gestaltung der „Speziellen Interaktion“ als Merkmal von Sprachtherapie (Dannenbauer 2002) sind. Hier wird neben der Lehrer-Schüler-Interaktion auch die peer to peer-Interaktion verstärkte Aufmerksam­ keit erhalten. Fragen des Settings – also der Eignung verschiedener Angebotsformen – werden in der Rechtfertigung der Ressourcenzuweisung (→ Institutionen und ihr gesellschaftlicher Rahmenkontext) eine größere Bedeutung er­ halten, wobei diese abzustimmen ist auf die sprachliche Heterogenität der zu untersu­ chenden Gruppen. In der Kombination von quantitativen und qualitativen Methoden entstehen sich ergän­ zende und stützende Aussagen. Neuere quali­ tative Datenerhebungs-Methoden – zum Bei­ spiel Lerntagebücher und Portfolios, wie sie in der fachdidaktischen und psychologischen Unterrichtsforschung Anwendung finden (z. B. Gläser-Zikuda & Hascher 2007, Hübner et al. 2007) – wären auch für die Dokumenta­ tion und Analyse von sprachlich-kommuni­ kativen Lernprozessen geeignet. Einen Beitrag wird Unterrichts- und Thera­ pieforschung zur Entwicklung einer evidenz­ basierten Praxis (EBP) leisten müssen. Auch wenn die alleinige Ausrichtung an Kriterien

440 

Unterrichts- und Therapieforschung

der EBP sicher kritisch zu sehen ist, so kann die EBP dennoch wichtige Impulse in die Ent­ wicklung von größeren Forschungsressour­ cen, in die Erstellung von Metaanalysen und in die Entwicklung und Bereitstellung von Leitlinien auch für den Bereich  unterrichtli­ chen, sprachheilpädagogischen Handelns ge­ ben (Creaghead et al. 2004) (→ Qualitätsent­ wicklung und Evaluationsforschung). Dass dies nicht nur in Deutschland eine nationa­ le Aufgabe ist, wird aus dem abschließenden Zitat deutlich, das die amerikanische Situ­ ation zum Ausdruck bringt: „It is our opinion that our discipline must undergo dramatic change to achieve the level of EBP that seems both necessary and sufficient for maximizing the SLP’s role in supporting the needs of our nation’s schoolchildren“ (Justice & Fey 2004).

Literatur Baumeister, U. (1986): Mathematikunterricht in der Schule für Sprachbehinderte – Ansatzpunkt für ei­ nen therapieimmanenten Unterricht. Die Sprach­ heilarbeit 31, 4, 202–207. Baumgartner, S., Dannenbauer, F. M., Homburg, G. & Maihack, V. (2004): Standort: Sprachheilpäda­ gogik. Dortmund: modernes Lernen. Berg, M. (2007): Kontextoptimierte Förderung des Nebensatzerwerbs bei spracherwerbsgestörten Kin­ dern. Herzogenrath: Shaker. Bortz, J. & Döring, N. (42006): Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissen­ schaftler. Heidelberg: Springer. Creaghead, N., Glaser, A., Prendeville, J., Secord, W., Wellman, L. & Williams, S. (2004): The national center for speech-language pathology in schools. The ASHA Leader 53, 11–12. Dannenbauer, F. M. (52002): Grammatik. In: Baum­ gartner, S. & Füssenich, I. (Hrsg.): Sprachtherapie mit Kindern (105–161). München: Reinhardt. Dannenbauer, F. & Dirnberger, W. (1981): Aspekte ei­ nes therapieorientierten Unterrichts in der Schule für Sprachbehinderte. Die Sprachheilarbeit 26, 6, 313–325. DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Doku­ mentation und Information) (2005): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorgani­ sation (WHO). Neu-Isenburg: MMI.

Carstens, H. (1981): Untersuchungen zur verbalen Interaktion im Unterricht der Schule für Sprach­ behinderte. Ein Beitrag der phänomenologischen Unterrichtsforschung zur Didaktik der Schu­ le für Sprachbehinderte. In: Lenhart, V. & Röhrs, H. (Hrsg.): Bd. 15: Studien zur Erziehungswissen­ schaft. Frankfurt a. M.: Lang. Fey, M. E. & Proctor-Williams, K. (2000): Recasting, elicited imitation and modelling in grammar in­ tervention for children with specific language im­ pairments. In: Bishop, D. V. M. & Leonard, L. B. (Eds.): Speech and language impairments in child­ ren (177–193). Hove: Psychology Press. Gieseke, T. & Harbrucker, F. (1991): Wer besucht die Schule für Sprachbehinderte? Die Sprachheilarbeit 36, 4, 170–180. Gläser-Zikuda, M. & Hascher, T. (Hrsg.) (2007): Lern­ prozesse dokumentieren, reflektieren und beurtei­ len. Lerntagebuch und Portfolio in Schulforschung und Schulpraxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Glück, C. W. (2003): Semantisch-lexikalische Störun­ gen bei Kindern und Jugendlichen. Therapiefor­ men und ihre Wirksamkeit. Sprache – Stimme – Gehör 27, 3, 125–134. Hansen, D. (1996): Sprachbehindertenpädagogik  als empirische Wissenschaft. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete (VHN) 65, 2, 160–173. Heidtmann, H. (1987): Neue Wege der Sprachdia­ gnostik. Analyse freier Sprachproben. Berlin: Mar­ hold. Holler-Zittlau, I. & Gück, M. (2001): Zum Verhältnis von Unterricht, sprachheilpädagogischer Förde­ rung und Erziehung in der Sprachheilschule. Die Sprachheilarbeit 46, 1, 4–23. Homburg, G. (1978): Die Pädagogik der Sprachbe­ hinderten. Grundlegende Überlegungen. Rhein­ stetten: Schindele. Hübner, S., Nückles, M., & Renkl, A. (2007): Lern­ tagebücher als Medium des selbstgesteuerten Lernens – Wie viel instruktionale Unterstützung ist sinnvoll? Empirische Pädagogik 21, 2, 119– 137. Justice, L. M. & Fey, M. E. (2004): Evidence-based practice in schools: Integrating craft and theo­ ry with science and data. The ASHA Leader 4–5, 30–32. Mayring, P. (1996): Möglichkeiten qualitativer An­ sätze in der Unterrichtsforschung. In: Schnait­ mann, G. W. (Hrsg.): Theorie und Praxis der Unterrichtsforschung. Methodologische und prak­ tische Ansätze zur Erforschung von Lernprozessen (41–61). Donauwörth: Auer. Mayring, P. (82003): Qualitative Inhaltsanalyse. Wein­ heim: Beltz.



Literatur   441

Miller, L. (1989): Classroom-based language inter­ vention. Language, Speech and Hearing Services in Schools 20, 2, 153–169. Morine-Dershimer, G. (42001): ‚Family Connec­ tions‘ as a factor in the development of research on teaching. In: Richardson, V. (Ed.): Handbook of research on teaching (47–68). Washington: AERA. Motsch, H. (2004): Kontextoptimierung. München: Reinhardt. Motsch, H. & Berg, M. (2003): Therapie grammati­ scher Störungen. Die Sprachheilarbeit 48, 4, 151– 156. Osburg, C. (1997): Gesprochene und geschriebene Sprache. Aussprachestörungen und Schriftsprach­ erwerb. Hohengehren: Schneider. Popper, K. R. (2007 [i. O. 1935]): Logik der Forschung. Berlin: Akademieverlag.

Schmitt, K. & Weiß, P. (2004): Sprach- und Kommu­ nikationsverhalten der Lehrkraft als Mittel unter­ richtsimmanenter Sprach- und Kommunikations­ förderung. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Bd. 5: Bildung, Erziehung und Unterricht (167–175). Stuttgart: Kohlhammer. Steiner, J. (2002): Theorie der Sprachtherapie und wissenschaftliches Selbstverständnis. L.O.G.O.S. interdisziplinär 10, 4, 244–250. Stoel-Gammon, C., Stone-Goldman, J. & Glaspery, A. (2002): Pattern-based approaches to phonologi­ cal therapy. Seminars in Speech and Language 23, 1, 3–13. Troßbach-Neuner, E. (1994). Plus, minus, mal oder geteilt? Integrierte Maßnahmen sprachlicher För­ derung im Sachrechnen. Die Sprachheilarbeit 39, 6, 363–369.

Qualitätsentwicklung Barbara Giel

1 Qualitätssicherung und ­Evaluationsforschung in ­Pädagogik und Therapie Auch pädagogische und therapeutische Be­ rufsgruppen müssen sich zunehmend – nicht zuletzt aufgrund steigenden Kostendrucks – zur Qualitätssicherung bzw. zum Qualitäts­ management in ihren jeweiligen beruflichen Kontexten äußern. Entsprechende externe Er­ wartungen bestehen meist bei Kostenträgern, aber auch die Gesetzgebung schreibt Maßnah­ men zur Qualitätssicherung vor. Dass daneben ein internes Interesse an Qualität besteht, steht außer Frage. Wenn Qualität als das definiert wird, „was den Anforderungen entspricht“, so stellt sich die Frage: Wer definiert diese? Und wer entwickelt auf welcher theoretischen Ba­ sis Qualitätskonzepte? Die in Industrie, Wirt­ schaft und auch in der Medizin häufig anzu­ treffenden Qualitätskonzepte, die sich nach nationalen, europäischen und internationalen Normierungsvorgaben richten (DIN EN ISO), scheinen für den pädagogischen und thera­ peutischen Bereich nicht oder nur bedingt anwendbar, denn sie dienen im Schwerpunkt der Regelung und Optimierung von Abläufen. Welche Kriterien zur Beurteilung von Qualität in Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie herangezogen werden sollen, gilt es zu disku­ tieren (→ Sprachheilpädagogik und pädago­ gisch-professionelles Handeln).

2  Qualitätsbegriffe Es existieren unterschiedliche Qualitätsbegrif­ fe, die von den jeweiligen Kontexten (Indus­ trie, Wirtschaft, Gesundheit, Politik, etc.), in

denen sie verwendet werden, nachhaltig ge­ prägt sind. Außerdem ist die Entwicklung und die Entstehung von Qualitätsbegriffen nicht losgelöst von den äußeren Anforderungen wie beispielsweise staatlichen Vorgaben, gesell­ schaftlichen  Erwartungen, wirtschaftlichen Erwartungen, aber auch wissenschaftlichen Erkenntnissen zu sehen. Qualität stammt von dem lateinischen Wort „qualitas“ ab, was als „Beschaffenheit“, „Güte“, „Wert“ und als das, „was den Anfor­ derungen entspricht“, übersetzt werden kann. Das Deutsche Institut für Normung (1992, 9) definiert Qualität als „die Gesamtheit von Ei­ genschaften und Merkmalen eines Produktes oder einer Dienstleistung, die sich auf deren Eignung zur Erfüllung festgelegter oder vor­ ausgesetzter Erfordernisse beziehen.“ Aber wer bestimmt die Güte bzw. den Wert? Wer definiert, nach welchen Kriterien was den Anforderungen entspricht bzw. wer legt die Erfordernisse fest? Neben dem jeweiligen individuellen Ver­ ständnis von Qualität ist es also für größere Systeme – wie Schulen, Gesundheitswesen, Forschung – notwendig, eine konsensuelle ­Einigung über „das, was Qualität ausmacht“, zu erzielen.

3 Qualitätsmanagement und Qualitätsmodelle Der Begriff „Qualitätsmanagement“ wird vor­ wiegend aus dem Theoriesystem der Wirt­ schaft und der Industrie definiert. Dort sind es Normierungsinstitutionen wie das Deutsche Institut für Normung (DIN), die Europa Norm (EN) sowie die International Standardisation Organization (ISO), die dafür Sorge tragen,



Qualitätsmanagement und Qualitätskonzepte   443

dass Normungen erarbeitet und koordiniert werden, die dann (weltweite) Standards vorge­ ben. In Anlehnung an die sogenannten „DIN EN ISO-Normungen“ werden häufig Zertifi­ zierungen von beispielsweise Betrieben, Be­ hörden etc. vorgenommen. Fragt man diese Institutionen nach dem Inhalt von Qualitäts­ management (DIN ISO 8402), wird folgen­ des festgelegt: „Alle Tätigkeiten der Gesamt­ führungsaufgabe, welche die Qualitätspolitik, Ziele und Verantwortungen festlegen sowie diese durch Mittel wie Qualitätsplanung, Qua­ litätssicherung und Qualitätsverbesserung im Rahmen des Qualitätsmanagementsystems verwirklichen“ (DIN ISO 8402, 1992). Fragt man die Verantwortlichen des deutschen Ge­ sundheitssystem, was sie unter Qualitätsma­ nagement verstehen, so findet man im Glossar zur Gesundheitsreform folgende Definition: „Unter Qualitätsmanagement versteht man das systematische Bemühen um eine stetige Qualitätsverbesserung in einem Betrieb oder in einer Institution (→ Institutionen und ihr gesellschaftlicher Rahmenkontext): Organisa­ tion, Arbeitsabläufe und Ergebnisse werden regelmäßig nach bestimmten standardisierten Vorgaben dokumentiert, überprüft und gege­ benenfalls verändert […]. Eine regelmäßige, dokumentierte Fortbildung der Ärzte und ih­ rer Mitarbeiter gehört dazu“ (BMG 2007). Im Kontext von Wirtschaft und Indu­strie existieren zahlreiche Qualitätskonzepte und -modelle (vgl. Kamiske & Brauer 2005) wie beispielsweise das „Total Quality Control“ (TQC) nach Feigenbaum, die „Qualitätstriolo­ gie“ nach Juran, der „Continous Improvement Process“ (CIP) nach Deming – häufiger auch bekannt unter den Bezeichnungen „DemingZyklus“ oder „KAIZEN“. Bei näherer Betrach­ tung dieser Konzepte wird deutlich, dass sie stets die Verbesserung des Ist-Zustandes er­ streben, wobei ein vielfältiges Methodenin­ ventar zum Einsatz kommt. Diese Methoden sind nicht genuin den Qualitätskonzepten zu­ zuschreiben, sondern die meisten Methoden bzw. Techniken wurden aus anderen Diszipli­ nen (u. a. aus Mathematik, Statistik, Psycholo­ gie oder den Sozialwissenschaften) importiert.

Unter dem Begriff „tools of quality“ oder auch „Q7“, die insbesondere von dem Japa­ ner Ishikawa zusammengestellt wurden, wer­ den meist quantitative Methoden verstanden, die eine mathematisch-statistische Vorge­ hensweise beinhalten. Zu den Q7 zählen die Fehlersammelliste, das Histogramm/Säulen­ diagramm, die Qualitätsregelkarte, das Pa­ reto-Diagramm, das Korrelationsdiagramm/ Streudiagramm, das Ursache-WirkungsDiagramm, aber auch das Brainstorming als nicht qualitative Methode (vgl. Kamiske & Brauer 2006). Da für den Bereich der Sprach­ therapie und Sprachbehindertenpädagogik die oben genannten tools of quality kaum von Bedeutung sind, muss der Fokus auf Quali­ tätskonzepte gelenkt werden, die einen an­ deren theoretischen Hintergrund aufwei­ sen und dementsprechend auch eine andere Methodenauswahl zur Entwicklung und Si­ cherung von Qualität zur Verfügung stellen. Aber gibt es diese Konzepte?

4 Qualitätsmanagement und Qualitätskonzepte in der Sprachtherapie und ­Sprachheilpädagogik In Abgrenzung zu den nach rein wirtschaft­ lichen Interessen konzipierten Qualitäts­ konzepten soll bezogen auf den Gegenstand Sprachtherapie „Qualitätsmanagement“ (QM) als Prozess verstanden werden, der von allen Beteiligten nachvollzogen werden kann. Dabei werden die Kriterien und Maßstäbe für Quali­ tät gemeinsam definiert. Die Handelnden kön­ nen zur Aufrechterhaltung, Evaluation und Dokumentation der Qualität aus einem Me­ thodenpool auswählen. Obligate und fakul­ tative Methoden werden festgelegt. Ständige Evaluation unter Berücksichtung des state of the art ist zentraler Gegenstand von QM. Wie in vielen anderen beruflichen Kontex­ ten hat sich auch in der Sprachtherapie das

444 

Qualitätsentwicklung

Modell von Donabedian (1982) durchgesetzt, welches aus den drei sich gegenseitig bedin­ genden Elementen der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität zusammensetzt (vgl. Baum­ gartner & Giel 2000). Für den Bereich schuli­ sche Entwicklung soll an dieser Stelle auf das von Kempfert & Rolff (2005) entwickelte und evaluierte Modell des „Pädagogischen Qua­ litäts-Managements“ (PQM) verwiesen wer­ den, in dem beispielhaft – auch auf der Basis der oben genannten „Qualitätstrias“ – Qua­ litätsentwicklung in der Einzelschule aufge­ zeigt wird. Bezogen auf Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie kann die Qualitätstrias wie folgt angewendet und verstanden werden: 1. Die Ebene der Strukturqualität stellt die Basis der Qualitätstrias dar, denn hier werden Berufsqualifikationen sowie die strukturellen Bedingungen festgelegt und definiert. Diese dienen einerseits als Vor­ aussetzung (Studium, Hochschulabschlüs­ se) für eine erfolgreiche Prozess- und Er­ gebnisqualität und andererseits wird durch die dort festgelegten Inhalte (Fort- und Weiterbildung, Supervision) die Aufrecht­ erhaltung dieser Qualität gewährleistet. Die Formulierung von Mindeststandards der personellen, räumlichen und materi­ ellen Ausstattung sowie der organisatori­ schen Struktur sichern auf der Struktur­ qualitätsebene die Arbeitsbedingungen für Sprachheilpädagogen und Sprachthera­ peuten. 2. Auf der Ebene der Prozessqualität, die ei­ nerseits den Unterricht im Förderschwer­ punkt Sprache (→ Sprachförderung im Aufgabenfeld Unterricht) und andererseits die sprachtherapeutischen Interventionen, wie die Diagnostik, die → Beratung, die Therapie, die Interdisziplinäre Koopera­ tion, die Berichterstattung und die Doku­ mentation umfassen, gilt es, Standards zu formulieren, die den state of the art abbil­ den, transparent und für alle am Unter­ richts- bzw. Therapieprozess Beteiligten nachvollziehbar sind und den individu­

ellen Bedürfnissen der Schüler bzw. Kli­ enten (Kinder, Jugendliche, Erwachsene) gerecht werden. Diese Standards gilt es in konsensuellen Verfahren zu entwickeln und der breiten Anwenderschaft zugäng­ lich zu machen. Das bekannteste Beispiel dafür sind im Jahre 2007 die sogenannten „Leitlinien“ (vgl. 5), die von der „Arbeitgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften“ (AWMF 2007) koordiniert, und verwaltet werden. 3. Im Rahmen der Ergebnisqualität sollen die Effekte sprachtherapeutischer Interven­ tionen und sprachheilpädagogischen Han­ delns aufgezeigt werden. Dies setzt präzise Zielformulierungen auf der Prozessebene voraus. Verschiedene theoretische Hinter­ gründe leiten (Sprachheil-)Pädagogen und (Sprach-)Therapeuten in ihren Handlun­ gen. Als Meta-Modell wird häufig die „Internationale Klassifikation von Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herangezogen, um das pädagogi­ sche und therapeutische Handeln nicht auf funktional messbare Elemente zu reduzie­ ren. Es soll vielmehr die Teilhabe am ge­ sellschaftlichen Leben und die Handlungs­ fähigkeit in den Fokus interdisziplinären Arbeitens gerückt werden (vgl. DIMDI 2005). Das Aufzeigen von Veränderungen auf den ICF-Ebenen der Funktion, Aktivität und Partizipation mittels quantitativer und qualita­ tiver Methoden ist eine Möglichkeit, Effekte des Handelns aufzuzeigen. Aber auch ande­ re Modelle und deren Kriterien sind zur Be­ schreibung und Definition der Prozess- und Ergebnisebene denkbar. Diese immer wie­ derkehrende Evaluation der therapeutischen und pädagogischen Arbeit dient der ständigen Überprüfung des Prozesses, wobei die Evalu­ ationsergebnisse zu Veränderungen und An­ passungen auf allen Qualitätsebenen führen können (→ Therapie- und Unterrichtsfor­ schung in der Sprachtherapie).



Ausblick: ­Evaluationsforschung in Deutschland   445

5 Exkurs: Leitlinien für die Sprachtherapie Die Grundidee einer Leitlinie ist, dass – auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Er­ kenntnisstandes – Handlungsempfehlungen formuliert werden, an denen das Handeln eva­ luiert und verbessert werden kann. Diese Leit­ linien sollten allen am Prozess beteiligten Per­ sonen zugänglich sein. So sinnvoll Leitlinien auf den ersten Blick erscheinen, so sind sie bei näherer Betrachtung mit Vorsicht zu genießen. 1. Es existieren beispielsweise für den Bereich Sprachtherapie für fast alle „Störungs­ bilder“ Leitlinien, die jedoch von unter­ schiedlichen Fachgesellschaften entwickelt wurden. Für die potenziellen Anwender bedeutet dies Verwirrung und scheinba­ re Beliebigkeit, so dass es derzeit das Be­ mühen, insbesondere der akademischen Sprachtherapeuten ist, diese zu vereinheit­ lichen. 2. Leitlinien basieren auf Evaluationsstudien. Diese wurden und werden sowohl in der Schulpraxis als auch in der Therapiepra­ xis in zu geringem Ausmaß durchgeführt. Evaluationsstudien sind jedoch zeit- und kostenintensiv. Unterrichtsformen, The­ rapiemethoden, Ansätze und Techniken, etc., die nicht evaluiert wurden, werden in Leitlinien keine Beachtung finden. 3. Leitlinien sind ein Instrument der evidenzbasierten Medizin (EBM), wobei für deren Entwicklung das „Deutsche Leitlinienbe­ wertungssystem“, kurz „DELBI“ genannt, (DELBI 2007) existiert. Das DELBI gibt eine Klassifizierung, Einordnung der Güte sowie einen Gültigkeitszeitraum von Leit­ linien vor. Die in der EBM gültige Evidenz­ hierarchie definiert als „Goldstandard“ randomisierte, kontrollierte Studien, ge­ folgt von kontrollierten Studien ohne Ran­ domisierung und quasi-experimentellen Studien. Es muss hinterfragt werden, ob dieses medizinische – stark auf Quantität ausgerichtete – Verständnis von Evidenz­

basierung sowie die daraus abgeleiteten Kriterien für therapeutisch-pädagogische Berufsfelder angemessen sind. Eine Dis­ kussion über geeignete Bewertungskrite­ rien im Rahmen von Evidenzbasierung muss in den pädagogisch-therapeutischen Berufsgruppen geführt und eine Konsens­ findung erreicht werden, damit ein dem Kontext von Schule und Therapie ange­ messenes Bewertungssystem existiert und nicht automatisch EBM-Maßstäbe ange­ legt werden. Um jedoch wissenschaftlich abgesicherte Leit­ linien oder aber auch nur Therapie- bzw. Un­ terrichtsempfehlungen entwickeln zu können, bedarf es einer breiten Evaluationsforschung, wie sie jedoch zur Zeit in Deutschland für den hier bearbeiteten Gegenstand noch nicht exis­ tiert (vgl. Giel 2006).

6 Ausblick: ­Evaluationsforschung in Deutschland Im Gegensatz zum angloamerikanischen Raum ist die Evaluationsforschung in Deutsch­ land eine relativ junge Disziplin, die erst seit Mitte der 1990er Jahre an Bedeutung gewinnt. Die „Deutsche Gesellschaft für Evaluation“ (DeGEval), die 1997 gegründet wurde, zeich­ net sich durch vielfältige Aktivitäten in dem Bemühen um die Erarbeitung, Veröffentli­ chung und Verbreitung von Evaluationsstandards aus. In Anlehnung an „The Program Evaluation Standards“ des „Joint Comittee on Standards for Educational Evaluation“ aus den USA wurden erstmals im Jahr 2001 Standards verabschiedet. Die „Checkliste zur Anwen­ dung der Standards“ bietet allen in den Prozess der Evaluationsforschung involvierten „Betei­ ligten und Betroffenen“ die Möglichkeit einer qualitätsgesicherten Evaluationsplanung und Überprüfung (vgl. DeGEval 2007, Sanders 2006). Eine klare Strukturierung wird durch

446 

Qualitätsentwicklung

die Unterteilung in vier Gruppen – Nützlich­ keit, Durchführbarkeit, Fairness und Genauig­ keit – vorgenommen. Die von der DeGEval veröffentlichten Ge­ nauigkeitsstandards sehen ausdrücklich eine Kombination von quantitativen und qualita­ tiven Erhebungs- und Auswertungsmethoden zur Bearbeitung einer Fragestellung vor. Als häufige Fehler von Evaluationsstudien geben sie unter anderem folgenden Hinweis bzw. folgende Empfehlung: „Es wird nicht aner­ kannt und genutzt, dass sich qualitative und quantitative Analysen gegenseitig ergänzen und dass Interpretationen und Schlussfol­ gerungen von beiden getragen sein sollten“ (Sanders 2006, 200). Insbesondere bei der Frage nach der Re­ liabilität und Validität einer Evaluationsstu­ die zeigt die DeGEval auf, dass nicht eine bestimmte Vorgehensweise/Methodik als „Goldstandard“ bewertet werden kann, son­ dern dass vielmehr die Fragestellung diesen bestimmt. Für Sprachheilpädagogik und Sprachthe­ rapie ist es prospektiv wünschenswert, dass die Quantität an Evaluationsstudien steigt. Dies setzt jedoch voraus, dass eine Konsensfindung bezogen auf die zugrundeliegenden Qualitätskriterien stattfindet.

Literatur AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaft­ lichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V.) (2007): URL://www.awmf-online.de.

Baumgartner, S. & Giel, B. (2000): Qualität und Sprachtherapie. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehr­ buch der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Bd. 1: Selbstverständnis und theoretische Grund­ lagen (274–308). Stuttgart: Kohlhammer. BMG (Bundesministerium für Gesundheit) (2007): URL: http://www.die-gesundheitsreform.de/glossar/. DeGEval (Deutsche Gesellschaft für Evaluation) (2007): URL://www.degeval.de. DELBI (Deutsches Instrument zur methodischen Leit­linien-Bewertung) (2007): URL: http://www. versorgungsleitlinien.de/methodik/delbi. DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Do­ kumentation und Information) (2005): Internati­ onale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesund­ heitsorganisation (WHO). Neu-Isenburg: MMI. DIN (Deutsches Institut für Normung e. V.) (1992): DIN/ISO 8402 – Qualitätsmanagement und Quali­ tätssicherung – Anmerkungen zu Grundbegriffen. Berlin: Beuth. Donabedian, A. (1982): An exploration of structure, process and outcome as approaches to quality as­ sessment. In: Selbmann, H.-K. & Überla, K. K. (Eds.): Quality assesment in medical care (69–92). Gerlingen: Bleicher. Giel, B. (2006): Evaluation in der Sprachtherapie: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. In: Postler, J. v., Voigt-Zimmermann, S. & Maihack, V. (Hrsg.): Aphasietherapie zeigt Wirkung. Diagnostik, The­ rapie und Evaluation (39–58). Köln: ProLog. Kamiske, G. F. & Brauer, J.-P. (2006): Qualitätsma­ nagement von A bis Z. München: Hanser. Kempfert, G. & Rolff, H.-G. (42005): Qualität und Evaluation. Ein Leitfaden für Pädagogisches Qua­ litätsmanagement. Weinheim: Beltz. Sanders, J. R. (2006): Handbuch der Evaluationsstan­ dards. Die Standards des „Joint Comittee on Stan­ dards for Educational Evaluation“. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

 V  Zentrale Kategorien der Sprachdidaktik

Sprachdidaktiktheorie Ulrike Lüdtke

1 Definition, Begriffs- und ­Gegenstandsgeschichte Was ist eigentlich „Sprachdidaktik“? Unab­ hängig von einer konkreten, sich positionie­ renden Auffassung kann sie zunächst neutral definiert werden: Sprachdidaktik ist die Wissenschaft professio­ nell organisierten sprachlichen Lehrens und Lernens – und zwar unabhängig: • vom jeweiligen individuellen Lebensalter des Lernenden (Kind, Jugendlicher, Er­ wachsener, alter Mensch), • von seinem sprachlichen Kompetenzniveau (völlige Sprachlosigkeit z. B. bei An­ arthrie, infantiler Cerebralparese [ICP] und tiefgreifender Entwicklungsstörung

oder aber isolierte sprachliche Defizite z. B. bei Spezifischen Sprachentwick­ lungsstörungen [SSES]) • sowie vom aktualen institutionellen Kontext (Schule vs. Klinik) • oder vom organisatorischen Setting (Ein­ zeltherapie vs. Gruppenunterricht). Der Aspekt der Professionalität grenzt sprach­ didaktische Interventionen somit von denje­ nigen sprachentwicklungsfördernden LehrLern-Impulsen ab, die – z. B. beschrieben als „intuitive elterliche Didaktik“ (Papoušek 1994) – den „natürlichen“ Spracherwerbspro­ zess eines Kindes permanent, aber meist unbe­ wusst unterstützen. Die „Sprachdidaktiktheorie“ beschäftigt sich darüber hinaus auf einer wissenschafts­ theoretischen, paradigmatischen Meta-Ebene mit der theoriegeleiteten Reflexion bestehen­

Abb. 1:  Sprachdidaktiktheorie als Schnittstelle linguistisch-semioti­ scher, spracherwerbstheoretischer und pädagogisch-didaktischer Konzeptbildungen

450 

Sprachdidaktiktheorie

der sowie der Konstruktion neuer sprachdi­ daktischer Konzeptbildungen. Sie bezieht sich dabei primär auf die theoretischen Bezugsgrö­ ßen der Linguistik und Semiotik (bzw. in ihren Anfängen der Medizin und Sprachpathologie), der Spracherwerbsforschung sowie der Allgemeinen Pädagogik und Didaktik, an deren Schnittstelle sie angesiedelt ist (vgl. Abb. 1).

1.1 Sprachdidaktische Theorieund Begriffsentwicklung im ­deutschsprachigen Raum Im deutschsprachigen Raum ist „Sprachdi­ daktik“ ursprünglich ein Terminus der Ger­ manistik und der Deutsch-Fachdidaktik bzw. der Fremdsprachendidaktik. Innerhalb der „Sprachheilpädagogik“ wird die Thematik erstmals ausführlich von Orthmann (1975) zur Diskussion gestellt, im Anschluss daran von Braun (1983) dazu ein didaktisiertes Sprach­ modell vorgelegt, erst neuerdings aber in ih­ rer Begrifflichkeit von Welling (2004) strin­ gent reflektiert und u. a. von Lüdtke (2004) weiter geführt. Ein maßgeblicher Grund für die Einführung eines nicht-behinderungsspe­ zifischen Begriffs von „Sprachdidaktik“ ist die dezidierte Ausrichtung des didaktischen Han­ delns auf die zu vermittelnde Sprache mit der Konsequenz der Abkehr von defizitorientier­ ten sonderpädagogischen Paradigmen. Im deutschsprachigen Raum und speziell in Deutschland beruht die professionelle didak­ tische Organisation sprachlichen Lehrens und Lernens bei Menschen mit „Sprachstörungen“, „Sprachbehinderungen“, „sprachlichen Beein­ trächtigungen“, „sprachlichem Förderbedarf“ oder „sprachlicher Differenz“ auf zwei lang anhaltenden historischen Entwicklungslinien, die sich an den beiden maßgeblichen Organi­ sationssystemen (→ Institutionen) des klassi­ schen „Sprachheilwesens“ festmachen lassen (vgl. Braun und Welling in diesem Band): • Im unterrichtlichen Anwendungsbereich, der speziell in der (sonder)schulisch orien­ tierten Sprachheilpädagogik konzeptionell entwickelt wurde, gab es durch die primä­

re Grundorientierung an der Allgemeinen Pädagogik und Didaktik (vgl. 2.3) eine zwar störungsbildunspezifische, dafür aber sehr starke und äußerst ausdifferenzierte explizit unterrichtsdidaktische Strömung, die sich bis heute z. B. in Lehrstuhldeno­ minationen als „Pädagogik und Didaktik der Sprachbehinderten“ niederschlägt. Ihr zentraler Terminus und Bezugspunkt ak­ tueller Fachdiskussionen ist noch immer der „sprachtherapeutische Unterricht“ so­ wie die Forderung nach „Therapieimma­ nenz“ (vgl. u. a. Braun 1980, Bahr 2003, Seiffert 2008). • Im „außerschulischen“ therapeutischen Anwendungsbereich, der maßgeblich von der Logopädie, aber auch von der akademischen Sprachtherapie geprägt wurde, ent­ stand aufgrund der historisch gewachse­ nen Orientierung an Medizin, Phoniatrie und Patholinguistik (vgl. 2.1) und damit einem Fehlen der Allgemeinen Didaktik als Bezugswissenschaft keine explizit for­ mulierte therapiedidaktische Säule. Dafür gab es ausgeprägte störungsbildspezifische Behandlungsansätze und Therapiekonzep­ te zum Beispiel bei Stottern oder Dyslalie, die sich eher auf Konzept-, Methoden- und/ oder Materialebene bewegten und häufig durch herausragende charismatische The­ rapeutenpersönlichkeiten geprägt waren. Erst in der fachlichen Umbruch- und Dekon­ struktionsphase nach der Jahrtausendwende mit ihrer Auflösung der klassischen „Sprach­ heilschule“ und damit dem Hinfälligwerden ei­ ner institutionsgebundenen Fach(richtungs)didaktik sowie einer gleichzeitigen Schwer­ punktverlagerung der Sprachtherapie in den vor- und außerschulischen Bereich entstehen zwei grundlegend neue Entwicklungsimpulse, die die jeweiligen „blinden Flecken“ der bishe­ rigen Strömungen wechselseitig zu kompen­ sieren suchen: • Im schulischen Bereich wird die Forderung nach störungsbildspezifischen Effektivitätsstudien unterrichtsbasierter Interventio­ nen u. a. vorbildlich am Beispiel der „Kon­



Definition, Begriffs- und ­Gegenstandsgeschichte   451

textoptimierung“ umgesetzt (u. a. Motsch 2003, 2008); • und im außerschulisch-klinischen Feld wird versucht, Sprachtherapie und Di­ daktik in einen konsistenten theoreti­ schen Zu­sammenhang zu bringen und eine ­stö­rungs­bildübergreifende Sprach­the­ ra­pie­di­dak­tik bzw. eine „Pädagogik der Sprach­t herapie“ oder „Therapietheorie“ zu kon­zeptualisieren (vgl. Homburg & Lüdt­ ke 2003, Homburg 2004, Katz-Bernstein & Subellok in diesem Band).

1.2 Sprachdidaktische Theorieund Begriffsentwicklung im ­angloamerikanischen Raum Der Ausbau eines hochdifferenzierten Son­ derschul­systems in Deutschland sowie die Exis­ tenz einer außendif­fe­ren­zie­ren­den „Sprach­heilschu­le“ bzw. „Schule mit dem Förder­ schwer­punkt Sprache“ und damit die ­parallele, aber getrennte Ausbildung zweier sprachdi­ daktischer Theorielinien ist weltweit nahezu einzigartig (vgl. Romonath 2007). Im anglo­ amerikanischen Raum gestaltet sich mit der „Speech-Language Pathology“ (SLP) in den USA und Kanada, der „Speech and Langua­ ge Therapy“ (SLT) in Großbritannien, Irland und Südafrika oder der „Speech Pathology“ in Australien die Terminologie- und Theorie­ frage einfacher und vor allem eindeutiger. Der Kernbegriff ist ein Therapiebegriff ohne Bezug zur schulorientierten Allgemeinen Didaktik, da aufgrund der vorwiegend medizinisch-pho­ niatrischen Wurzeln des Faches das pädago­ gische Paradigma mit einer Fokussierung auf die Institution Schule und damit auf eine dem Fachunterricht immanente sprachtherapeuti­ sche Intervention (vgl. 1.1) lange Zeit nur eine nebensächliche Rolle spielt und gespielt hat. Im traditionellen Ansatz bieten „school-based Speech-Language Pathologists“ (SLPs) in der Schule additive Sprachtherapie an. In jüngster Zeit haben diese klassischen „pull-out“-Modelle jedoch im Zuge verän­ derter inklusions-orientierter Gesetze und

Organisationsstrukturen Konkurrenz durch so genannte „classroom-based“-Modelle be­ kommen, die für sich eine prinzipielle „inklu­ sive Philosophie“ beanspruchen (McGinty & Justice 2006). Derartige classroom-based-Mo­ delle umfassen äußerst unterschiedliche Vor­ gehensweisen, die sich abhängig von der Rol­ le des SLPs in direkte und indirekte Ansätze unterteilen lassen: Beim indirekten Vorgehen übernimmt der SLP die Rolle eines Beraters, der mit seinem Expertenwissen den jewei­ ligen Lehrer hinsichtlich der Adaptierung seines Unterrichts auf die Bedürfnisse der sprachbeeinträchtigten Schüler unterstützt; beim direkten Vorgehen übernimmt er im Team-Teaching selbst die Lehrerrolle und un­ terrichtet sprachspezifische Lerneinheiten  – insgesamt ein Modell, das u. a. aus Kosten­ ersparnis auch in Deutschland mittelfristig Fuß fassen könnte und die jahrzehntelangen Diskussionen um „therapieimmanenten Un­ terricht“ durch einen therapeutisch und un­ terrichtsfachlich ausgebildeten „Sprachheil­ lehrer“ (vgl. 1.1) beenden würde. Im Zuge der „evidence-based speech-lan­ guage therapy“, das heißt der evidenzbasierten Legitimation sprachtherapeutischen Handelns, werden nun auch die classroombased- vs. pull-out-Modelle einer wissen­ schaftlichen Evaluation unterzogen (vgl. u. a. Valdez & Montgomery 1997, Throneburg et al. 2000), wobei die American Speech-Language-Hearing Association (ASHA) in einem Positionspapier davor warnt, dass „the shift toward inclusion will not be optimal when implemented in absolute terms … the unique and specific needs of each child and family must always be considered“ (1996, 1). Diesen fachorganisatorischen Wandlun­ gen lagen auf wissenschaftstheoretischer Ebe­ ne folgende linguistische Paradigmenwechsel zugrunde (vgl. 2.1.2), welche die konzeptio­ nelle Entwicklung der Speech-Language Pathology in den USA in vier unterschiedli­ chen Phasen vorantrieben (vgl. u. a. Duchan 2009a/b) und mehr oder weniger direkt auch die deutsche Sprachdidaktiktheorie beein­ flussten (vgl. 2.1 und 2.2):

452 

Sprachdidaktiktheorie

Formative Years (~1880–1945)

In den Gründungsjahren dominierte in den USA noch weitestgehend das medizinischphoniatrische Paradigma mit seiner Fokus­ sierung von Störungen des Sprechens (speech disorders) wie der Dyslalie bzw. dem Stottern und damit der symptomorientierten Arbeit an der äußeren Form (form) der Sprache (vgl. Abb.  2b). Die Auseinandersetzung mit der einflussreichen „deutschen Schule“ (v. a. Gutz­ mann und Fröschels; → Geschichte) gab weg­ weisende und nachhaltige Impulse. Arbeit an der Lautform konzentrierte sich beispielswei­ se auf den peripher-artikulatorischen Bereich von Sensorik und Motorik. Der therapeuti­ sche Schwerpunkt lag auf der „Behandlung“ (treatment) und der „Korrektur“, wie Charles van Ripers Klassiker „Speech Correction: Prin­ ciples and Methods“ (1939) illustriert. Metho­ disch waren ein atomistisch-gestuftes Vorge­ hen von der kleinsten lautlichen Einheit bis hin zur größten Satz-Einheit sowie behavio­ ristisch beeinflusste Praktiken vom „Pattern drill“ über „Zungengymnastik“ (tongue gymnastics) bis hin zum operanten Konditionieren und Modellieren en vogue. Processing Period (1945–1965)

In der sich anschließenden Phase vollzog sich in den USA ein Wechsel von der Beschäfti­ gung mit den Störungen des äußerlich-peri­ pheren Sprechvorgangs hin zur Erforschung der Störungen der inneren Sprache (language disorders), wie z. B. der Aphasie oder der neu­ rologisch bedingten schweren Sprachentwick­ lungsverzögerung und der ihnen zugrunde­ liegenden psycholinguistischen Verarbeitung (processing). Diese neue Fokussierung der mentalen Grundlagen und damit der Inhalts-Seite (content) der Sprache (vgl. Abb. 2b) wurde zu­ nächst aus unterschiedlichen Disziplinen an­ gestoßen, darunter auch durch viele namhafte jüdische Immigranten wie dem Neuropsycho­ logen Kurt Goldstein (1948) und dem später auch psychoanalytisch arbeitenden Emil Fröschels (u. a. 1945). Neben der Auseinanderset­ zung mit dem Erwerb der Symbolfunktion beim

Kind war eine weitere konzeptuelle und me­ thodische Neuerung die Beschäftigung mit der „inneren Sprache“ und dem Einfluss auditiver und visueller Modalitäten auf die Sprachpro­ zessierung. Johnson & Myklebust (1967) entwi­ ckelten hierzu wegweisende Therapieansätze. Linguistic Era (1965–1975)

In der von der Linguistik geprägten Pha­ se wechselte einhergehend mit den bahnbre­ chenden Publikationen Noam Chomskys u. a. zur Transformationsgrammatik (1965) der Fokus von der Sprachverarbeitung zu sprach­ lichem Wissen bzw. zur „Kompetenz“ (competence) und deren Störungen bzw. Defiziten. Diese neuen und noch tieferen Einsichten gin­ gen einerseits mit einer Herauslösung bzw. Isolierung der sprachlichen Kompetenz aus anderen kognitiven Domänen, andererseits mit einer noch größeren Abstrahierung und Formalisierung der domänspezifischen Kom­ petenz einher: Sprachliche Kompetenz wurde letztlich mit der richtigen Anwendung linguis­ tischer Ableitungsregeln gleichgesetzt, sprach­ liche Defizite mit dem „Fehlen“ der richtigen bzw. dem Erwerb der „falschen“ Regeln. Dies führte dazu, dass in den USA eine Vielzahl von Therapieprogrammen entwi­ ckelt wurden, die als Ziel die Vermittlung grammatischen, semantischen oder phono­ logischen Regelwissens hatten. Dabei kam es zum sog. „theory-therapy-gap“, da die neu­ en Einsichten in das sprachlich-mentale Re­ gelsystem weiterhin mit behavioristisch ori­ entierten Therapien „behandelt“ wurden. Sprachliche Zielstrukturen (targets) wurden mit verschiedenen komplexen Techniken der Verhaltensmodifikation (behavior modification) vermittelt, wobei erste kritische Stim­ men auf die Gefahr hinwiesen, dass der Bezug zum kommunikativen Kontext und damit die Sinnhaftigkeit der Sprache verloren gingen. Pragmatics Revolution (1975– ~2000)

In der von der aufkommenden Pragmatik ge­ prägten Phase, das heißt von der Wende in­



Forschungsstand: ­Aktuelle Theoriebildungen im ­historischen Kontext   453

nerhalb der Linguistik von „Inhalt“ (content) zum „Gebrauch“ (use) (vgl. Abb. 2b), verlager­ te sich der Therapieschwerpunkt auf den ge­ samten kommunikativen Kontext und damit auf die Kommunikationsstörungen (communication disorders). Theoretisch eingeleitet durch John Searles (1969) und John Austins (1962) Publikationen zur Sprechakttheorie (→ Spra­ che und Sprechen), dann weitergeführt durch die Konversations- und Diskursanalyse sowie Michael Tomasellos Arbeiten zur „joint atten­ tion“ (1992) entstand im Therapiebereich u. a. der „whole language approach“ sowie die Ver­ mittlung narrativer Fähigkeiten (z. B. turn-taking-skills) (Gillam et al. 1995), welche die Le­ benswelt des kommunizierenden Individuums einbezogen. Partizipations- und Inklusionsorientie­ rung schei­nen in jüngster Zeit auf der Grund­ lage der International Classification of Functioning, Disabilities and Health (ICF) und der UN-Conven­tion on the Rights of Persons with Disabilities eine neue Wende in den USA an­ zubahnen – was sich z. B. in einer Umbenen­ nung der klassischen „speech and language disorders“ in „speech and language difficul­ ties“ oder der „speech and language therapy“ in „language learning support“ (Martin & Mil­ ler 2003) äußert. Viele der beschriebenen Impulse aus dem angloamerikanischen Raum – allen vor­ an die Evidenzbasierung – werden derzeit in der deutschen Sprachdidaktik übernommen (→  Qualitätsentwicklung, → Unterrichtsund Therapieforschung). Andere, wie z. B. ein breiteres, nicht von den klassischen Fachrich­ tungsgrenzen des deutschen Sonderschulwe­ sens begrenztes Störungsbildspektrum (inklu­ sive Hörstörungen, Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS), AutismusSpektrum-Störungen, Rett-Syndrom, Wil­ liams-Beuren-Syndrom und Down-Syndrom; → Intersubjektivität und Kommunikation) sowie ein dementsprechend sehr viel breiteres Methodenspektrum (inklusive → Unterstützter Kommunikation) werden im Zuge der Inklu­ sions- und Integrationsbemühungen langsam diskussionsfähig. Lediglich auf die Einbezie­

hung ökonomischer, kultureller und ethnischer Diversität („low income“, „homeless mothers“, „African American vernacular english spea­ kers“ etc. als relevanter Faktor bei SLI und preschool language intervention) wird man erst langsam durch internationale Vergleichsunter­ suchungen (u. a. Lüdtke 2010) aufmerksam.

2 Forschungsstand: ­Aktuelle Theoriebildungen im ­historischen Kontext Auf Grundlage der skizzierten Entwicklungs­ linien im deutschsprachigen und angloame­ rikanischen Raum wird im Folgenden die Beeinflussung der historischen wie aktuel­ len sprachdidaktischen Konzeptionen durch ihre linguistischen und semiotischen (vgl.  2.1), sprach­erwerbstheoretischen (vgl. 2.2) und pä­da­ gogisch-didaktischen (vgl.  2.3) Theoriegrundlagen dargestellt. Dies ist notwendig, da alle drei wissenschaftlichen Bezugsgrößen sich zwar wechselseitig durchdringen (vgl. Abb. 1), diese theoretische Interdependenz aber meist nur im­ plizit enthalten und bis auf wenige Ausnahmen nie explizit ausgewiesen wird, so dass nur eine Offenlegung und wissenschaftstheoretische Transparenz sie professioneller Re­fle­xion und didaktischer Planung zugänglich(er) macht.

2.1 Die Eröffnung ­sprachdidaktischer Zugänge durch ­(Patho)­Linguistische Paradigmen Unabhängig davon, ob sprachdidaktische Pro­ zesse in unterrichtlichen oder einzeltherapeu­ tischen Kontexten zu planen sind, ist die erste feste Bezugsgröße das Individuum mit seiner Sprachstörung. Je nachdem, auf welche kon­ krete Sicht- und Erklärungsweise einer Sprachstörung sich hier eingangs bewusst oder unbe­ wusst bezogen wird, ist damit ein bestimmtes linguistisches (früher medizinisch-phoniatri­ sches) Paradigma (vgl. Tab. 2) und damit wie­

454 

Sprachdidaktiktheorie

derum eine bestimmte Subjektkonzeption (sta­ tisch oder dialogisch-prozessual; → Person und Sprache) (vgl. Lüdtke 2006b, 2011) sowie eine zeichentheoretische Fokussierung (auf Form, In­ halt, Gebrauch oder Bedeutungskonstruktion) verbunden, die ganz bestimmte sprachdidaktische Zugänge eröffnen und gleichzeitig andere verschließen (vgl. Tab. 1 und 2). Sprachdidaktische Ansatzpunkte in ­Abhängigkeit vom Zeichenmodell

Zeichenmodelle (vgl. Abb. 2a–c; siehe ausführ­ lich → Zeichen und Semiose, → Sprache und Wahrnehmung, → Sprache und Sprechen) sind für die Sprachdidaktik außerordentlich relevant, da sie mit ihrer jeweiligen Erklärung des inneren Aufbaus der in Laut- und Schrift­ sprache verwendeten Zeichen mögliche An­ satzpunkte für sprachdidaktische Interven­ tionen liefern, denn jede Form sprachlichen Lernens ist letztlich zeichenbasiert, z. B.: • der grundlegende Neuaufbau von Zeichen u. a. bei → entwicklungsbedingten Sprach­ störungen, → Beeinträchtigungen der Le­ sefähigkeit, → neurologischen Sprachund Sprechstörungen; • die spezifische Korrektur von Zeichen u. a. bei → Aussprachestörungen, → entwick­ lungsbedingten Sprachstörungen, → Be­ einträchtigungen der Lesefähigkeit, → neurologischen Sprach- und Sprechstö­ rungen, → Stimmstörungen, → Hörstö­ rungen sowie im → Förderschwerpunkt Lernen; • der Aufbau bzw. die Erweiterung des Zeichenrepertoires oder dessen Substituierung durch einen anderen Zeichencode u. a. bei → Hörstörungen (→ FS Hören), bei → neu­ rologischen Sprach- und Sprechstörungen, im → Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung und im → För­ derschwerpunkt geistige Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen mit Schwerst­ mehrfachbehinderungen oder  tiefgreifen­ den Entwicklungsverzögerungen, oder • die Entstörung und Wiederherstellung des kommunikativen Zeichenaustauschs u. a.

bei → psychoreaktiven Redestörungen, → Stimmstörungen, sowie im → Förder­ schwerpunkt emotionale und soziale Ent­ wicklung. Im Verlauf der historischen Entwicklung von Linguistik und Semiotik gab es mehrere Zei­ chen-Modelle, die das sprachliche Zeichen je­ weils neu und anders konzipierten. Je nach der Gesamtkonzeption des Zeichens und seinen einzelnen Konstituenten ergeben sich unter­ schiedliche Ansatzpunkte für die diese Model­ le rezipierende Sprachdidaktik, nämlich Form, Inhalt, Gebrauch oder Bedeutungskonstruktion (vgl. Tab. 1). Am Beispiel verschiedener LehrLern-Prozesse, in denen „Kati“ als Namen ei­ ner Puppe erlernt werden soll, sei dies erläu­ tert. Das mentalistische, dyadische Zeichenmodell der strukturalen Linguistik: Arbeit an der äußeren Form – Aufbau von inneren Repräsentationen

Das in der deutschsprachigen „Sprachbehin­ dertenpädagogik“ bis heute am meisten rezi­ pierte Zeichenmodell ist das von de Saussure (1916) entwickelte der strukturalen Linguis­ tik (→ Zeichen und Semiose). Es konzipiert das sprachliche Zeichen dyadisch aus dem Bezeichnenden, dem sog. „Signifikant“, und dem Bezeichneten, dem „Signifikat“, wobei die Verbindung zwischen beiden mentalen Sprachliches Zeichen SIGNIFIKANT (Form) das Bezeichnende „Zeichenträger“ – Phon, Morph, Wort – [kati] SIGNIFIKAT (Inhalt) das Bezeichnete Zeichenrepräsentation mentales Konzept – Phonem, Morphem, Lexem – /kati/ Abb. 2a: Das mentalistische, dyadische Zeichenmo­ dell der strukturalen Linguistik (de Saussure) als arbiträre Verbindung von Bezeichnen­ dem (Form) und Bezeichnetem (Inhalt)



Forschungsstand: ­Aktuelle Theoriebildungen im ­historischen Kontext   455

Größen willkürlich, „arbiträr“ ist. Die Kon­ stituente des Signifikanten entspricht auf der Ebene des „Sprechens“ (der parole) mehr oder weniger einem „Zeichenträger“, d. h. auf den einzelnen linguistischen Ebenen z. B. einem Phon, Morph oder Wort. Das Signifikat ist auf der Ebene der „Sprache“ (der langue), dem „Zeicheninhalt“, der Repräsentation bzw. dem Konzept des Zeichens gleichgestellt, d. h. dem­ entsprechend einem Phonem, Morphem oder Lexem (vgl. Abb. 2a). In den vergangenen Jahrzehnten wurden diese beiden Konstituenten als zwei unter­ schiedliche sprachdidaktische Ansatzpunkte genutzt (vgl. Tab. 1): bei der Aussprache des Namens „Kati“ der Signifikant z. B. bei einer Dyslalie bzw. phonetischen Entwicklungs­ störung durch artikulatorische Arbeit an der äußeren „Lautform“ des Phons [k]; das Signi­ fikat z. B. bei einer phonologischen Entwick­ lungsstörung zwecks Aufbaus der inneren Repräsentation des Phonems /k/ durch diffe­ renzierende Minimalpaarübungen ( vs. , vs. ). Das materiale, triadische Zeichenmodell von Peirce: Einbeziehung des Referenzobjektes in interaktives sprachliches Handeln

Ein in der deutschsprachigen Sprach-Pädago­ gik und -Therapie bislang nur wenig bekann­ tes Zeichenmodell ist das des amerikanischen Semiotikers Peirce (1931–1958) (→ Zeichen

und Semiose). Im Unterschied zur Saussure­ schen Konzeption ist sein Modell triadisch, das heißt, es besteht neben den beiden be­ kannten Größen der „Form“ (form) bzw. dem Zeichenträger und des „Inhalts“ (content) aus dem realen Referenzobjekt, auf das der Zei­ chenträger im sprachlichen „Gebrauch“ (use) verweist (vgl. Abb. 2b). Neben dieser Einbezie­ hung des Referenzobjektes, die das Zeichen­ modell von einer rein mentalen Konzeption in eins mit einer realen, materialen Grundla­ ge verwandelt, ist auch die Verbindung zwi­ schen den Zeichenkonstituenten nicht mehr nur arbiträr-zufällig. Je nach Ausprägung der Realitätsnähe des Zeichens zum Referenzob­ jekt (z. B. realitätsnah als ikonisch-bildhafte Zeichnung oder realitätsfern als symbolischabstrakte Buchstabenfolge) ist diese Verbin­ dung in einem unterschiedlichen Grad „mo­ tiviert“ und damit unterschiedlich leicht oder aber schwer erlernbar. Beide Aspekte werden insbesondere bei Sprachentwicklungsstörungen, ­pragmatischen Störungen oder Kommunikationsstörungen sprachdidaktisch genutzt: Das reale Referenz­ objekt – die Puppe „Kati“ – wird in interaktive Sprachhandlungsprozesse, in denen die The­ rapeutin und das Kind sprachbegleitend mit der Puppe spielen, einbezogen. Zudem wer­ den Materialien, die das Erlernen des Wortes „Kati“ unterstützen sollen, entwicklungsad­ äquat so ausgewählt, dass sie im Grade ihrer Motiviertheit, d. h. ihres Realitätsbezuges zum

Abb. 2b:  Das materiale, triadische Zeichenmodell (Peirce) mit Einbeziehung des Referenzobjektes durch unterschiedliche Grade der Motiviertheit

456 

Sprachdidaktiktheorie

Kind passen – z. B. als realitätsnahe ikonische Fotokarte der Puppe „Kati“ oder bereits als realitätsentferntere symbolische Wortkarte (vgl. Tab. 1). Das relationale, poststrukturalistische Zeichenmodell: Einbeziehung des Dialogpartners zur Konstruktion wechselseitiger Repräsentationen in emotional bedeutsamen Narrativen

Noch einen Schritt weiter geht das relationa­ le Zeichenmodell (Trevarthen/Lüdtke), wel­ ches poststrukturalistische, entwicklungsneu­ ropsychologische und emotionstheoretische Aspekte miteinander vereint (→ Intersubjek­ tivität und Kommunikation). Aufbauend auf der Peirceschen triadischen Konzeption wer­ den die drei Konstituenten Form, Inhalt und Gebrauch prinzipiell beibehalten, aber durch die grundsätzliche zeichenkonstitutive Ein­ beziehung des emotional bedeutsamen Dialogpartners teilweise anders konzeptualisiert und gewichtet: Der „Gebrauch“ des Zeichens

im sprachlichen Handeln mit dem Referenz­ objekt ist immer „gemeinsamer Gebrauch“ der Dialogpartner, basierend auf „joint atten­ tion“. Der Zeicheninhalt wird jedoch nicht mehr als individuelle mentale Repräsentation eines isoliert lernenden Einzelnen aufgefasst, sondern als „wechselseitige Repräsentatio­ nen“ (mutual representations), die eingebet­ tet in emotional bedeutsame Narrative von zwei durch relationale Emotionen (relational emotions) verbundene Dialogpartner ge­ meinsam, d. h. intersubjektiv konstruiert wird und deshalb als „meaning“, das heißt als „Be­ deutung“ bzw. „Sinn“, definiert wird. Die Be­ deutungskonstruktion erfolgt dabei durch intersubjektives Verhandeln und Validieren zwischen realem und „virtuellem“ Selbst und Anderem (vgl. Trevarthen in diesem Band, Abb. 14). Sprachdidaktisch bietet sich dieses Mo­ dell vor allem bei relationalen, tiefgreifen­ den Sprachentwicklungs- und Kommunika­ tionsstörungen mit starker affektiver Basis

Abb. 2c: Das relationale, poststrukturalistische Zeichenmodell (Trevarthen/Lüdtke) mit Einbeziehung des emotio­ nal bedeutsamen Dialogpartners

Forschungsstand: ­Aktuelle Theoriebildungen im ­historischen Kontext   457   Tab. 1: Sprachdidaktische Ansatzpunkte in Abhängigkeit vom Zeichenmodell   

 

 

  

   

 

  

   







  

 









   









oder Komponente an (u. a. Autismus-Spek­ trum-Störungen, Schwerstmehrfachbehinde­ rungen), z. B. zum grundlegenden Neuauf­ bau von Zeichen oder zur Entstörung und (Wieder)Herstellung des kommunikativen Zeichenaustauschs (→ FS geistige Entwick­ lung, → FS körperliche und motorische Ent­ wicklung). Aufbauend auf einer tragfähigen, positiven emotionalen Beziehung zwischen Lehrendem und Lernenden kann eingebet­ tet in relevante, emotional bedeutsame Nar­ rative mit der Puppe die Verknüpfung mit der Repräsentation /Kati/ und anschließend der Lautform [Kati] wechselseitig aufgebaut werden, wo vorher u. U. nur eine undeutliche Lautfolge als „Anzeichen“ einer „undeutli­ chen“ oder fehlenden Repräsentation zu hö­ ren war (vgl. Abb. 1). Tabelle 1 fasst die sprachdidaktischen An­ satzpunkte, die jedes Modell in Abhängigkeit von seiner theoretischen, paradigmatischen Grundlage ermöglicht, zusammen: Sprachdidaktische Zugänge in Abhängigkeit von (Patho)Linguistischen Paradigmen

Für eine Sprachdidaktiktheorie ist relevant, dass nicht nur die beschriebenen Zeichenmo­

 

delle rezipiert werden. Ein Zeichenmodell ist jeweils nur ein kleiner Teil eines umfassende­ ren übergeordneten linguistisch-semiotischen Paradigmas mit vielen weiteren Konzeptio­ nen und Modellen und dieses gesamte Para­ digma wird zur Erklärung, Interpretation und möglicher Intervention bei Sprachstörungen durch ein inhaltlich analoges patholinguisti­ sches bzw. sprachpathologisches Paradigma rezipiert. Somit werden auch jeweils nicht nur bestimmte sprachdidaktische und methodi­ sche Ansatzpunkte in Abhängigkeit von einem bestimmten Zeichenmodell vorbestimmt (vgl. Tab. 1), sondern das gesamte linguistische Pa­ radigma impliziert mit seiner Rezeption eine spezifische sprachdidaktische Prädisposition, einen spezifischen sprachdidaktischen Zugang (vgl. Tab. 2). Im Folgenden werden im historischen Ver­ lauf die einzelnen linguistischen Paradigmen (vgl. ausführlich → Person und Sprache) hin­ sichtlich ihrer sprachdidaktischen Relevanz (vgl. analog 1.2) knapp umrissen. Interessant zu beobachten ist, dass die Rezeptionspha­ sen der deutschen Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie dabei zeitversetzt um einiges später verlaufen. Es braucht also etliche Jahre oder sogar Jahrzehnte, bis ein internationaler

458 

Sprachdidaktiktheorie

Trend in der Bezugswissenschaft Linguistik in der Sprachdidaktiktheorie wahrgenom­ men wird und sich ggf. durchsetzt. Die Phoniatrie: Symptombehandlung von Sprechstörungen

Im ausgehenden 19. Jahrhundert fand die wissenschaftliche Erforschung der Sprache vorwiegend im Rahmen der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft statt, die den Sprachwandel über unterschiedliche Epochen hinweg diachron untersuchte. Ihre Nachbar­ disziplin – die „Angewandte Sprachwissen­ schaft“ – war eher naturwissenschaftlich, z. B. physikalisch oder medizinisch, ausgerichtet und widmete sich z. B. im Forschungsschwer­ punkt der auditiven oder artikulatorischen Phonetik der Rezeption und Produktion von Sprechschall. In einer rückblickenden zeichen­ theoretischen Betrachtung lag der Fokus hier auf der äußeren Form der Sprache – dem Sprechen – bzw. auf der äußeren Form des Sprach­ zeichens, denn beispielsweise der Laut wurde phonetisch, d. h. auf der konkreten, physiologi­ schen, realen Ebene des Phons, des materiellen Zeichenträgers bzw. Signifikanten untersucht, und nicht phonologisch, d. h. auf der abstrak­ ten „inneren“ Ebene der mentalen Repräsenta­ tion des Phonems. Die Anfänge der deutschsprachigen Sprach­ pathologie und Sprachdidaktik waren zur selben Zeit eher in einem medizinischen als in einem linguistischen Paradigma verwur­ zelt, wobei die sog. „Berliner Schule“ um Albert Gutzmann (1879) und Söhne einen phy­ siologisch-phoniatrischen Schwerpunkt hatte (vgl. 1.2; → Geschichte). In den Gründungs­ jahren wurden diese sprechwissenschaftlichphonetischen Erkenntnisse deshalb gerne rezipiert und der Erklärung der Sprechstörungen – wie z. B. dem „Stammeln“ (den spä­ teren phonetischen Störungen) oder dem Stot­ tern – zugrunde gelegt. Aus ihnen wurde eine symptom­orientierte Arbeit an der äußeren Form des Sprechens abgeleitet, denn da das theoretische Erklärungsmodell der artiku­ latorischen Phonetik ausschließlich den äu­

ßeren Form-Aspekt des Lautes in Betracht zog, lag analog der sprachdidaktische An­ satzpunkt zur Behandlung eines Sigmatismus oder Rhotazismus in einer therapeutischen Arbeit an der phonetischen Laut-Form, z. B. durch Ableitungsmethoden oder Artikula­ tionsübungen („Zungengymnastik“), in die u. U. auch mechanische Hilfsmittel oder Spie­ gel als Visualisierungshilfe einbezogen wer­ den konnten. Generell setzten physiologische oder neurophysiologische Therapiemodelle an der Artikulation (z. B. systematisches Trai­ ning der Sprechorgane beim Stammeln) oder am Sprechablauf (z. B. phonetische Übungs­ therapie beim Stottern) an – Methoden, die noch heute in der logopädisch orientierten Sprachdidaktik weit verbreitet sind. Die behavioristische Wende: Modifikation ­gestörten sprachlichen Verhaltens

In den USA erreichte Mitte des 20. Jahrhun­ derts ein linguistisches Paradigma seinen Hö­ hepunkt, das zwar ganz im Gegensatz zur lin­ guistisch-vergleichenden Tradition des alten Europa stand, das aber ebenfalls den äußeren Form-Aspekt der Sprache in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellte: die Behavioristische Sprachwissenschaft (vgl. 1.2). In seinem Hauptwerk „Verbal Behavior“ skizzierte Skinner (1957) Sprache als äußerliches, d. h. au­ ßerhalb der „black box“ wahrnehmbares „ver­ bales Verhalten“ und variablengesteuertes „Produkt“. In der deutschen Sprachheilpädagogik stieß das behavioristische Paradigma in der Aufbauphase nach dem 2. Weltkrieg auf gro­ ße Resonanz. Speziell die „Verzögerte Sprach­ entwicklung“, allen voran die „Dyslalie“ und der „Dysgrammatismus“, wurden durch be­ havioristische Vorstellungen des Spracher­ werbs erklärt. Dyslalische und dysgramma­ tische Phänomene wurden als fehlgesteuertes Modell- oder Reiz-Reaktions-Lernen betrach­ tet (zuweilen noch durch negative Lernkon­ texte wie Anregungsarmut und soziale Depri­ vation beeinflusst), und damit als Störungen



Forschungsstand: ­Aktuelle Theoriebildungen im ­historischen Kontext   459

sprachlichen Verhaltens, die therapeutisch durch Verhaltensmodifikation der Korrektur zugänglich waren. Durch die Rezeption der deutschen Aus­ gabe von Van Ripers & Irwins (21976) „Ar­ tikulationsstörungen“ (vgl. 2.1) wurde die sprach­didaktische Einleitung von Korrektur­ prozessen sprachlicher „Fehlrealisierun­gen“ mittels ausdifferenzierter verhaltensthera­ peutischer Techniken sowie einem gestuften Vorgehen vom Leichten (isolierte Darbietung) zum Schweren (Einbettung in Spontanspra­ che) bis heute ein bahnbrechender Erfolg. Im Bereich der Dyslalie-Therapie wurden zur ge­ wünschten Verhaltensänderung einer „Laut­ korrektur“ (Westrich 1974) z. B. operantes Konditionieren mittels Imitation und Verstär­ kung mit den klassischen Abseh- und Ablei­ tungsmethoden kombiniert – ausgehend von der behavioristischen Annahme, dass mittels gezielter Stimulation, Nachahmung und „kor­ rektivem Feedback“ die Angleichung an die Standardvorlage eines spezifischen artikula­ torischen Bewegungsmusters erreicht werden könne. Analog ging man im Bereich der Dysgram­ matismus-Therapie grundsätzlich davon aus, dass fehlerhafte Sprechmuster mittels kor­ rekter Reproduktion „gelöscht“ (­Extink­tion) und korrekte, normadäquate aufgebaut werden könnten – ein sprachdidaktisches Grundprinzip, welches z. B. durch Imitation (Nachsprechen vorgegebener Sätze, Satzmu­ sterübungen, Satzbaupläne, Bilden von Ana­ logiesätzen – das berühmte „pattern practi­ ce“ und „pattern drill“) oder Expansion des Lehrenden methodisch vielfältig ausdiffe­ renziert wurde (u. a. Zuckrigl 1964, Seemann 1974, Remmler 1975, Führung & Lettmayer 1976) und bis heute unter dem Sammelbe­ griff des „Modellierens“ (Dannenbauer 2003) en vogue ist. Auch hier wird deutlich, wie das ausschließlich auf die äußere Sprachform aus­ gerichtete Erklärungsparadigma den sprach­ didaktischen Zugang – Korrektur der Lautoder Satz-Form durch korrekte Reproduktion von normgerecht präsentierten Standard-Formen und Standard-Mustern – bestimmt.

Die linguistische Wende: Aufbau von Regel­wis­sen bei sprachsystematischen Störungen

In den 1960er Jahren vollzog sich in der Sprachwissenschaft ein neuer großer Para­ digmenwechsel: die sog. „Linguistische Wen­ de“ (vgl. 1.2). Die Abkehr von der behavioris­ tischen Außensicht sprachlicher Phänomene hin zum inneren sprachlichen Wissen fand zunächst in den USA durch die Generative Linguistik statt, die mit Chomskys SkinnerKritik (1957) ihren Ausgangspunkt nahm. Von nun an stand nicht mehr das konkrete sprachliche Verhalten – die „Performanz“ – im Mittelpunkt sprachwissenschaftlicher Un­ tersuchungen, sondern das diesem Verhalten zugrundeliegende Wissen bzw. Regelsystem: die „Kompetenz“. Ein ganz ähnlicher Wandel in der Auffas­ sung von Sprache, nämlich von der diachro­ nen Betrachtung des historischen Sprachwan­ dels der Vergleichenden Sprachwissenschaft zur synchronen Erforschung des inneren Sprachsystems, war in Europa bereits durch die von de Saussure (1916) begründete Strukturale Linguistik eingeleitet worden, die sich bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Frankreich, Prag und Russland etabliert hat­ te. Kennzeichnend für den Strukturalismus war ebenfalls die Untersuchung von inneren Strukturen und Systembeziehungen sprachli­ cher Phänomene und damit die Abkehr von der äußeren Form (der Ebene der parole bzw. „Performanz“) und Hinwendung zum inne­ ren Bedeutungs- bzw. Inhaltsaspekt von Spra­ che (der Ebene der langue bzw. „Kompetenz“). Das Sprachzeichen beispielsweise wurde all­ gemein als Verbindung eines Signifikanten (das Bezeichnende, der Zeichenträger) und eines Signifikates (das Bezeichnete, das Kon­ zept, der Zeicheninhalt) konzeptualisiert (vgl. 2a) – ein Laut somit als Verknüpfung von Phon und Phonem –, doch das Forschungsin­ teresse der Strukturalisten fokussierte ein­ deutig die phonologische Ebene der langue bzw. Kompetenz. In der Sprachheilpädagogik wurde die lin­ guistische Wende mit ihrer Fokussierung des

460 

Sprachdidaktiktheorie

Sprachsystems nach und nach rezipiert. Ins­ gesamt zeichnete sich ein Wandel zu einem neuen Verständnis vieler Störungsbilder als sprachsystematische Störungen ab. Vor allem Scholz (1969) war einer der Ersten, der diese bahnbrechenden paradigmatischen Verän­ derungen in ein Gesamtverständnis sprach­ pathologischer Phänomene einbrachte. Mit seiner Rezeption der strukturalistischen Phonologie Trubetzkoys (1939) und Jakobsons (1941) differenzierte er erstmals die klassische Dyslalie in phonetische und phonologische Störungen und grenzte so sprachsystematische von sprechmotorischen Entwicklungsstörun­ gen ab. Dies eröffnete die sprachdidaktische Möglichkeit, bei Aussprachestörungen nicht nur an der phonetischen Form anzusetzen, sondern an der inneren Phonem-Repräsenta­ tion, dem Zeicheninhalt – ein Prinzip, das bis heute weitergeführt wird (u. a. Hacker 1992, 2003, Jahn 2001). Neben der strukturalistischen Phonologie wurden in anderen Bereichen auch die Er­ kenntnisse der zumeist angloamerikanischen strukturalistischen Morphologie und Syntax (Konstituentenstrukturgrammatik) sowie Se­ mantik (semantische Netzwerke oder Felder) nach und nach für die Erklärung von Sprach­ störungen herangezogen und zur sprachdi­ daktischen Arbeit an der inneren Repräsentation, z. B. in Form von morphologischen Segmentierungsübungen, Analyse von Satz­ konstituenten oder Wortfeld-Aufbau verwen­ det. Ab Ende der 1970er Jahre (u. a. Scholz 1980) bis heute (u. a. Motsch 2006) wurden in der Sprachheilpädagogik aber speziell die Generative Transformationsgrammatik Choms­ kys (1957) und nachfolgende vielfältige Wei­ terentwicklungen (u. a. Clahsen 1990) als neues paradigmatisches Erklärungsmodell für grammatische Störungen, d. h. für Stö­ rungen der inneren sprachlichen Kompetenz, her­angezogen, wobei häufig unklar blieb, wie genau ein „dysgrammatisch“ sprechendes Kind neue, korrekte Erzeugungsregeln zur Konstruktion einer korrekten „Tiefenstruk­ tur“ eines Satzes erwerben und wie es diese

in korrekte „Oberflächenstrukturen“ über­ setzen kann. Sprachdidaktischer Königsweg zum Aufbau innersprachlichen grammati­ schen Regelwissens im Sinne einer therapeu­ tischen Arbeit an der sprachlichen Kompetenz war dann häufig die sprachliche Stimulation des Kindes durch Darbietung geringfügiger Kontraste, oppositioneller Erscheinungsfor­ men und korrekter Zielstrukturen sowie das Schaffen von Entwicklungsanreizen über ex­ pandierende Imitation und Modeling (vgl. Dannenbauer & Kotten-Sederqvist 1986, Dannenbauer 2003) – ein Vorgehen mit einer Betonung rezeptionsorientierter „imitativer“ Übungen, das häufig an ein weiterhin beha­ vioristisch-lerntheoretisches Procedere erin­ nerte (sog. „theory-therapy-gap“, vgl. 1.2). Die pragmatische Wende: ­Aufbau ­kommunikativer Kompetenz bei ­Kommunikationsstörungen

Als Gegenbewegung zu phoniatrischen, be­ havioristischen, strukturalen und generativen Modellen, die mit ihrer Hinwendung zu ei­ nerseits äußerlich-formalen und andererseits inhaltlichen, mental repräsentierten Aspek­ ten alle gleichermaßen eine zunehmende Ab­ straktion vom realen alltäglichen Sprechen (der parole bzw. Performanz) vollzogen, entstanden in der Linguistik im Zuge der Pragmatischen Wende (pragmatics revolution, vgl. 1.2) Anfang der 1970er Jahre eine Reihe von Modellen, die beanspruchten, sich wieder der tatsächlich ge­ sprochenen natürlichen Sprache anzunähern (vgl. ausführlich → Sprache und Sprechen, → Sprache und Wahrnehmung, → Norm und Differenz). Zeichentheoretisch betrach­ tet wendeten sich Austins „How to do things with words“ (1962), Searles (1969) „Speech acts“, Labovs „Sociolinguistic patterns“ (1972) sowie Habermas’ „Theorie des kommunikati­ ven Handelns“ (1971) alle statt Form oder In­ halt nun dem Gebrauch (use) zu, und damit der referenziellen Realität der Sprachzeichen (Abb. 2b) und damit wiederum dem sprachlichen Handeln: der Pragmatik.



Forschungsstand: ­Aktuelle Theoriebildungen im ­historischen Kontext   461

Knapp zehn Jahre später, in den 1980er Jah­ ren, erreichte in der Sprachheilpädagogik die theoretische Rezeption dieses pragmati­ schen Paradigmas seinen Höhepunkt, so z. B. mit Füssenichs „Der neue Terminus: Prag­ matik“ (1983) oder Heidtmanns „Theorien kommunikativer Kompetenz und ihre Bedeu­ tung für die Sprachbehindertenpädagogik“ (1983). Aufbauend auf dieser theoretischen Vorarbeit wurden nun zunehmend die Kommunikationsstörungen fokussiert und damit sprachdidaktisch ebenfalls der Gebrauch, d. h. der Aufbau kommunikativer Kompetenz mit­ tels kommunikativem Sprachhandeln. Für die Therapie pragmatischer, psychoreaktiver und umfassender Sprachentwicklungsstörungen erschien die sprachdidaktische Abwendung von an der äußeren Sprachform oder von den am inneren Sprachsystem ansetzenden Übun­ gen oder Modelliertechniken und statt dessen die Hinwendung zum „Aufbau der Sprachund Kommunikationsfähigkeit bei redefluss­ gestörten Kindern“ (Katz-Bernstein 1987) oder zu interaktiven „Sprach-HandlungsSpielräumen“ (Bahr & Nondorf 1991) mehr als plausibel. Insbesondere in Kombination mit dem Ansatz der Psychomotorik entstan­ den eine Vielzahl nachhaltiger Konzepte (u. a. Eckert 1985, Olbrich 1989, Kleinert-Molitor 1989). Zwar erfreuen sich sprachhandlungsbzw. psychomotorisch orientierte sprachdi­ daktische Ansätze auch heutzutage noch gro­ ßer Beliebtheit (→ Psychomotorik), doch fehlt ihnen einerseits durch die derzeitige Fokussie­ rung der „spezifischen Sprachentwicklungs­ störung“ (und damit der Vernachlässigung der „eingebetteten Sprachentwicklungsstö­ rungen“; vgl. zur Definitionen Kauschke et al. in diesem Band) und andererseits durch den Mangel an umfassenden Effektivitätsstudien die empirische argumentative Grundlage. Die kognitive Wende: Optimierung von ­Verarbeitungsprozessen bei Spezifischen ­Sprachentwicklungsstörungen (SSES)

Auch wenn Chomskys Einbeziehung innerer mentaler Regeln und Prozesse als Meilenstein

in der Abkehr von der behavioristischen Au­ ßenperspektive der Sprache angesehen wird, gilt er heutzutage eher als Vorläufer der eigent­ lichen Kognitiven Wende, die sich im Zuge des Ausbaus der Kognitiven Psychologie (Neisser 1967) auch als neue Strömung der Kognitiven Linguistik seit den 1960er Jahren etablierte. In diesem neuen Paradigma, das zunehmend durch die Neurowissenschaften beeinflusst wurde und wird (vgl. zur Kognitiven Neurolinguistik u. a. de Bleser 2002, Friederici 2002; → Sprache und Gehirn), wird Sprache als Teil der Kognition des Menschen erforscht. Eine auch sprachpathologisch rezipierte Leithypothese ist beispielsweise das Verständnis der mensch­ lichen Kognition und damit der Sprache als komplexes Informationsverarbeitungssystem und dessen Konzeptualisierung als ComputerAnalogie in Form eines modularen Ansatzes (vgl. Schwarz 2008). Derartige zum Inhalts-Aspekt von Sprache zurückkehrende modulare Erklärungsmodel­ le, wie z. B. das „Sprachproduktionsmodell“ von Levelt (1989) oder das „Logogen-Modell“ von Morton (1969), wurden im deutschen Sprachraum speziell durch die Rezeption der angloamerikanischen Forschung zum „Spe­ cific Language Impairment“ (SLI) (u. a. Leo­ nard 1998, Bishop 2000) aufgegriffen – nach­ haltig eigentlich erst ab den 1990er Jahren (u. a. Grimm 1995, Dannenbauer 2001). Im Mainstream der Klinischen Linguistik und akademischen Sprachtherapie gelten sie der­ zeit mit ihrer Erklärungskompetenz für die nun fokussierten Sprachverarbeitungsstörun­ gen, u. a. für sämtliche Teilbereiche der Spezi­ fischen Sprachentwicklungsstörungen (SSES) und Aphasien, als vorherrschendes Erklä­ rungsparadigma (u. a. Glück 1998, Kauschke 2000, Rothweiler 2002). Sprachdidaktisch eröffnet dieses neue kognitionstheoretische Verständnis neben der Förderung metasprachlicher Fähigkeiten (u. a. der „phonologischen Bewusstheit“) beispielsweise für die Therapie semantischlexikalischer Störungen einen kognitionsori­ entierten Zugang, in dessen Mittelpunkt die Optimierung der Speicherorganisation und

462 

Sprachdidaktiktheorie

Tab. 2: Sprachdidaktische Zugänge durch (Patho)Linguistische Paradigmen



Forschungsstand: ­Aktuelle Theoriebildungen im ­historischen Kontext   463

der Abrufprozesse steht, wobei theoretisch der eigentliche „intake“-Prozess häufig un­ geklärt verbleibt und letztlich an die „Selbst­ verantwortlichkeit“ des Kindes als „auto­ nomen“ Lerner abgegeben wird (vgl. Glück 2003). Die emotive Wende: Intersubjektive ­Konstruktion sprachlicher Bedeutung bei ­tiefgreifenden, relationalen Sprachentwicklungs- und ­Kommunikationsstörungen

Sowohl in der Linguistik (Schwarz-Friesel 2007, Schwarz 2008, Foolen et al. 2009) als auch in der sprachheilpädagogischen Rezep­ tion (Lüdtke 2004, 2006a/b, 2011, Lüdtke & Frank 2007) mehren sich in jüngster Zeit Hin­ weise für eine neue Emotive Wende, beruhend auf einer Konzeptualisierung von Sprache, in der auch emotionale und damit „relationale“ bzw. „intersubjektive“ Konstituenten einbe­ zogen sind (siehe ausführlich → Kognition und Emotion, → Intersubjektivität und Kom­ munikation). Grundlage dieses erneuten, sich aber erst anbahnenden Paradigmenwechsels sind u. a. Erkenntnisse der poststrukturalisti­ schen Linguistik (Peirce 1931–1958, Kristeva 1998, 2002, Derrida 1967; siehe ausführlich → Zeichen und Semiose, → Norm und Dif­ ferenz) und postkognitivistischen bzw. ho­ listischen kognitiven Linguistik (Lakoff & Johnson 1999, Fauconnier & Turner 2002) sowie der Neurowissenschaften (Damasio 1994, 2003, Panksepp 1998, 2003), speziell der Entwicklungsneuropsycho(patho)logie (Pank­ sepp 2001, 2007, Trevarthen 2001a/b, Scho­ re 1994, 2003). Gemeinsames Kennzeichen ist die Fokussierung der Emotion – entweder in ihrer Interaktion mit der zuvor isoliert be­ trachteten Kognition oder sogar als Kogni­ tions-Emotions-Einheit. Zeichentheoretisch steht nun die Bedeutung (meaning) im Mittelpunkt, vor allem die intersubjektive Konstruktion der Bedeutun­ gen (vgl. Abb. 2c). Zugleich vollzieht sich ein Schwerpunktwechsel von der Grammatik zur Pragmatik und vor allem Semantik, denn die mentale Repräsentation des Zeichens ist nicht

mehr nur ein individuell-mentaler ZeichenInhalt (content), sondern eine Sinnes- und Sinn-geladene zwischenmenschliche Bedeu­ tung. Betont wird dabei die Affekt- (Bloom 2002, Trevarthen 2004), Körper- (Lakoff & Johnson 1999) und Wahrnehmungsgebundenheit (Ruthrof 1997, 2000 und in diesem Band; → Sprache und Wahrnehmung) sprachlicher Bedeutungen. Bedeutungen sind erfahrungs­ basiert, aber auch kulturell sowie von Bild­ schemata und konzeptuellen Metaphern und Metonymien geprägt. Für die sprachpathologische Rezeption sind gerade in einer Phase der inklusions­ orientierten Erweiterung des Störungsbild­ spektrums (vgl. 1.2) diejenigen neuen Hin­ weise interessant, die einer komplexeren linguistischen Erklärung tiefgreifender relationaler Kommunikations- und Sprachentwicklungsstörungen (u. a. Autismus-Spek­ trum-Störungen) dienlich sind, so z. B. in den Forschungsansätzen zum intersubjek­ tiven Bedeutungsaufbau (Bloom 2002), zur prozessualen Konzeptualisierung des spre­ chenden Subjektes (Kristeva 1998), zum Em­ bodiment sprachlicher Prozesse (Lakoff & Johnson 1999) sowie zur Beeinflussung der neokortikalen Ausdifferenzierung durch frühkindliche emotionale Entwicklungsbe­ sonderheiten (Trevarthen 2001a/b, Schore 2003, Panksepp 2007, Cicchetti 2002). Sprach­ didaktisch impliziert dies einen Zugang, der insbesondere die kommunikations- und sprachkonstruierende Funktion relationa­ ler Emotionen fokussiert (u. a. Trevarthen et al. 1998, Lüdtke 2004, 2009, Lüdtke & Frank 2007).

2.2 Spracherwerbstheoretische ­Paradigmen und ihre Relevanz für die Sprachdidaktik Neben der beschriebenen Sicht- und Erklä­ rungsweise eines bestimmten Störungsbildes durch linguistische Paradigmen als erster we­ sentlicher Faktor sind die spracherwerbstheoretischen Paradigmen (vgl. Abb. 1) die zweite

464 

Sprachdidaktiktheorie

wichtige Bezugsgröße der Sprachdidaktikthe­ orie, da nicht nur bei der Therapie von Sprach­ entwicklungsstörungen, sondern bei jedem professionell initiierten Sprachlernprozess von Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen, be­ wusste oder unbewusste Vorstellungen dar­ über, wie Sprache „erworben“ bzw. gelernt wird, eine konzeptionelle Rolle spielen. Erklä­ rungsmodelle natürlichen sprachlichen Ler­ nens (wie die Spracherwerbstheorien) ste­ hen mit Erklärungsmodellen professionellen sprachlichen Lehrens und Lernens (die sprach­ didaktischen Ansätze) in einem wechselseiti­ gen inneren Zusammenhang (vgl. Tab. 3): • die konzeptionelle Auswahl einer be­ stimmten sprachdidaktischen Methode  – z. B. Symbolisierung, Übung, Regellernen, Imitation, spezifizierter Input, Kontrastie­ rung, kognitive Reorganisation oder kom­ munikatives Handeln – verweist immer auf die zugrundeliegende generelle Vor­ stellung bzw. Theorie sprachlichen Ler­ nens; und • die Rezeption und damit Befürwortung ei­ ner bestimmten S­ pracherwerbstheorie – z. B. Behaviorismus, Nativismus, Kognitivismus oder Interaktionismus – prädisponiert um­ gekehrt ein bestimmtes sprachspezifisches Methodenspektrum und schließt andere methodische Ansatzpunkte aus. Die folgende Darstellung skizziert deshalb in starker Vereinfachung, wie aus den zentralen spracherwerbstheoretischen Grundpositionen (vgl. ausführliche Übersicht bei Klann-Delius 2008 und Darstellung von sog. „Emergenz­ modellen“ bei Kauschke 2007 und in diesem Band), die natürlich immer auch in die bereits erörterten linguistischen Paradigmen und ihre entsprechenden Zeichenmodelle eingebettet sind (vgl. 2.1), Impulse für die Sprachdidaktik rezipiert werden, die jeweils maßgeblich de­ terminieren, ob methodisch primär an Form, Inhalt, Gebrauch oder Bedeutungskonstruktion angesetzt wird (vgl. Tab. 3).

Psychoanalytische Theorien: Freier sprachlicher Ausdruck der Persönlichkeit durch Bearbeitung von Konfliktinhalten

Die klassischen, im medizinisch-tiefenpsy­ chologischen Paradigma eingebetteten psy­ choanalytischen Spracherwerbstheorien (u. a. Freud 1923) begründen die kindliche Sprach­ entwicklung, speziell den Aufbau der Zei­ cheninhalte (der Signifikate), mit dem Zu­ sammenspiel von Triebbasis und Ich- bzw. Über-Ich-Entwicklung mittels mütterlicher oder väterlicher Regulation, wobei es zu li­ bidinös besetzten bzw. affektiven Konflikten kommen kann, die im Entwicklungsverlauf überwunden werden. Die individualpsycho­ logische Theorie (v. a. Adler 1912) fokussiert dabei speziell die Kompensation eines Min­ derwertigkeitsgefühls, neuere Weiterentwick­ lungen zudem unterschiedliche Aspekte der Eltern-Kind-Beziehung oder der gesellschaft­ lichen Einflüsse (u. a. Klein 1962, Lacan 1973, Winnicott 1969, Kristeva 1986, 2002). Bei einer sprachpathologischen Rezep­tion psychoanalytischer Theorien werden eine Reihe von Störungsbildern (u. a. Stottern, Mu­ tismus, Dysphonien) klassisch als „Psycho­ neurosen“ interpretiert. Ausgehend von der Erklärung natürlichen sprachlichen Lernens wird entsprechend professionell gestaltetes sprachliches Lernen sprachdidaktisch als Be­ arbeitung der den Psychoneurosen zugrunde­ liegenden infantilen oralen und/oder analen Konflikte innerhalb einer neurotisch gestör­ ten Eltern-Kind-Beziehung (elterliche Domi­ nanz, überbehütendes Verhalten, Bindungs­ probleme) konzeptualisiert. Sprachstörungen werden als Symptom bzw. als Ausdruck tiefer­ liegender Konflikte betrachtet, die durch Ar­ beit am Inhalt des Konflikts im Rahmen einer integrierten Sprach- und Psychotherapie der Gesamtpersönlichkeit aufgelöst werden kön­ nen. Vertreterinnen und Vertreter von sprach­ therapeutischen Ansätzen mit psychoanaly­ tischem Bezug setzen dementsprechend ein sprachdidaktisches Primat des Inhalts (im Sinne der Beziehungskonflikt-Inhalte) auf



Forschungsstand: ­Aktuelle Theoriebildungen im ­historischen Kontext   465

vielfältige Weise methodisch um: angefangen bei der „psychophysiologischen Therapie der Ausdrucksbewegungen“ stotternder Personen durch die „Psychiker“ der Wiener Schule (u. a. Denhardt 1890, Froeschels 1945; → Geschich­ te) über Gundermanns „Stimme der Krank­ heit“ (u. a. 2000) bis hin zu Katz-Bernsteins (u. a. 2007) ausdifferenziertem „Symbolspiel“ sowie ihrer Arbeit mit dem „Safe Place“, „Übergangsobjekten“ oder „Introjekten“. Behavioristische Theorien: Erlernen ­korrekter Standardformen und -muster durch ­Lernprozess-Steuerung

Behavioristische Spracherwerbsmodelle (u. a. Skinner 1957, Osgood et al. 1957) beruhen entsprechend dem ihnen übergeordneten Pa­ radigma des Behaviorismus (vgl. 2.1.2) auf der Annahme, der Spracherwerb sei – wie viele andere Kompetenzen auch – in erster Linie ein Lernprozess. Das Erlernen eines bestimmten beobachtbaren Verhaltens, auch des sprachli­ chen Verhaltens (verbal behavior), wird durch gelernte Assoziationen zwischen Reiz (stimulus) und Reaktion (response) erklärt, wobei Verstärkung diese Verbindung zusammen­ schweißt. Neben diesem klassischen Konditi­ onierungsmechanismus und seinen späteren Verfeinerungen wird auch dem Imitationsund dem Modelllernen große Bedeutung bei­ gemessen, wobei es letztlich immer darum geht, dass der Lernende den dargebotenen äußeren Input der sprachlichen Formen und Muster analog und damit korrekt übernimmt. In der sprachpathologischen Rezeption werden dementsprechend viele Störungsbil­ der, insbesondere die Sprachentwicklungsstö­ rungen, als Produkt falschen, fehlenden oder fehlgesteuerten Lernens angesehen, welches durch Verhaltensmodifikation korrigierbar ist. Sprachdidaktik zielt also prinzipiell auf ein Erlernen korrekter sprachlicher Standard­ formen und -muster durch kontrollierba­ re (Planung) und überprüfbare (Evaluation) Lernprozess-Steuerung. Die hiervon abgeleiteten Methoden kön­ nen unter dem Begriff „Input-Management“

zusammengefasst werden. Beispielhaft für die methodische Konsequenz dieser Rezeption im Sinne von didaktisch initiierten Korrek­ turprozessen sprachlicher Fehlrealisierungen sind im Bereich der Dyslalie- und Dysgram­ matismus-Therapie einerseits altbekann­ te rezeptive Techniken wie pattern practice, Nachsprechen, Bilden von Analogiesätzen (Kilens 1982) und Input-Geschichten (Pen­ ner & Kölliker Funk 1998), aber auch das weit verbreitete Konzept des „Modellierens“ (u. a. Dannenbauer 2003, Siegmüller & Kausch­ ke 2006), welches mit seinen Techniken des korrektiven Feedbacks oder der Extension und Verstärkung eindeutig ein lerntheore­ tisches Primat der sprachlichen Form präfe­ riert. Nativistische Theorien: Aufbau von Regelwissen durch „Intake“ optimiert dargebotener Trigger

Nativistische Theorien (u. a. Lenneberg 1972, Chomsky 1965, 1986, Clahsen 1990, Pinker 1985, 1995) erklären den Spracherwerb mit der primär biogenetischen Fundierung der Sprache in Reifungsprozessen und angebore­ nen Spracherwerbsmechanismen, die gemäß der theoretischen Einbettung in die generative Linguistik (vgl. 2.1.2) den Aufbau der sprach­ lichen Kompetenz und ihrer sprachsystemati­ schen Inhalte durch den Erwerb von Regelwis­ sen lenken. Sprachdidaktisch rezipiert wird professio­ nell organisiertes sprachliches Lernen dem­ entsprechend prinzipiell als ein „Anstoßen“ des inneren dysfunktionalen Sprach(erwerbs)systems auf den unterschiedlichen linguisti­ schen Kompetenz-Ebenen konzeptualisiert. Theoretisch wie praktisch verbleibt jedoch das ungelöste Problem, wie denn diese Anstö­ ße aussehen müssen, damit sich inneres Ler­ nen auch wirklich vollzieht? Auf einen Nen­ ner gebracht, erscheint die derzeitige Lösung eine „Optimierung des Trigger-Intakes“ zu sein, damit die dargebotenen sprachlichen Zielstrukturen der formbezogenen Oberflä­ chenebene auch „intake-fähig“ werden und in den Tiefenstrukturen der sprachlichen Kom­

466 

Sprachdidaktiktheorie

petenz, d. h. auf der Inhaltsebene, Lerneffekte bewirkt werden. Sprachdidaktische Ansätze, die dies me­ thodisch umsetzen, sind beispielsweise mit dem Bezug zur „Inputspezifizierung“ die „Patholinguistische Therapie“ von Siegmüller & Kauschke (2006) oder mit seiner Fokussie­ rung von „Trigger-Konzentraten“ und „Mo­ dalitätenwechsel“ das Modell der „Kontext­ optimierung“ von Motsch (2006). Kulturhistorisch-tätigkeitstheoretische ­Ansätze: Auslösen der Sprachaneignung in sozialer ­Tätigkeit

Kulturhistorisch-tätigkeitstheoretische An­ sätze (u. a. Vygotskij 1934, 1993, 1999, Luria 1969, 1982, Leont’ev 1971, 1973, 1979) be­ gründen den Spracherwerb dialektisch bzw. monistisch, indem sie Reifung (Nativismus) und Lernen (Behaviorismus), Kognition und Emotion, intrapsychische Erfahrung und ex­ trapsychische soziale Tätigkeit sowie letztlich Denken und Sprechen als untrennbare ent­ wicklungskonstituierende Einheit begreifen (vgl. Jantzen 2004). Ausgehend vom psycho­ genetischen Grundgesetz Vygotskijs, dass alle höheren psychischen Funktionen zunächst extrapsychisch und dann erst intrapsychisch existieren – die sog. These von der „extrakor­ tikalen Organisation des Psychischen“ – ist der zentrale Ansatzpunkt, das Psychische des Menschen als historisch und kulturell vermit­ telt zu betrachten. Sprache ist somit ein soziales Werkzeug, extrapsychisch angeeignet in sozia­ ler Tätigkeit, vermittelt und internalisiert über historische und kulturelle Erfahrungen und als innere Sprache intrapsychisches Werkzeug des Denkens. Spracherwerb vollzieht sich immer in der „Zone der nächsten Entwicklung“, die aufgrund ihrer Struktur kooperativer Tätigkeit und emotionaler Verbundenheit dem Kind er­ möglicht, z. B. Worte extra­psychisch zu nutzen und sich intrapsychisch anzueignen. Zeichen­ theoretisch sind hier Inhalt und Gebrauch gleichermaßen fokussiert, denn das Wort als Einheit von Zeichenträger und Inhalt ist per se eine soziale Kategorie, da der Zeicheninhalt –

oder besser die gemeinsame „Bedeutung“ im Sinne von meaning (vgl. Abb. 2c) – in sozialer sprachlicher Tätigkeit erworben werden. Eine explizite Rezeption dieses Sprach­ erwerbsmodells, mit seiner Kernthese der Tätigkeit bzw. Handlung als Grundlage und Modus sprachlicher Aneignung, finden sich insbesondere im sprachbehindertenpädago­ gischem Konzept von Homburg (1978) so­ wie in den sprachpathologischen und logo­ pädischen Überlegungen von Becker & Sovák (1975) und Becker & Becker (1983). Wie ihr systemtheoretisch-kybernetisches Zeichenund Kommunikationsmodell mit neurona­ ler Basis, struktureller Koppelung der Kom­ munikationspartner sowie Einbeziehung der gesellschaftlichen Umwelt zusammenfassend veranschaulicht, betonen speziell Becker & Sovák (1975, 18 und 53) die „Vielschichtig­ keit der Dialektik von biologischen und so­ zialen Faktoren“. Für die Sprachpathologie, insbesondere die Sprachentwicklungsstörun­ gen, weisen sie dabei auf die Abhängigkeit der kindlichen Sprachentwicklung von der Qua­ lität und Quantität der Reize aus der gesell­ schaftlichen Umwelt hin, denn diese sozialen Bedingungen, z. B. unzureichende oder über­ steigerte Stimulanz oder Störungen der affek­ tiven Sphäre (emotionale Übererregung oder Abstumpfung), können ebenfalls eine Quelle von Sprachentwicklungsstörungen sein. Die Konzeptualisierung der rehabilitati­ onspädagogisch-logopädischen Behandlung folgt dementsprechend entwicklungslogisch der ontogenetischen Sprachentwicklung in Richtung der Zone der nächsten Entwicklung, wobei oberstes sprachdidaktisches  Prinzip das Auslösen des Aneignungsprozesses im ge­ meinsamen sozialen Tätigsein von Lernenden und Lehrenden bei gleichzeitigem emotiona­ len Eingehen auf das Kind und einer Einfluss­ nahme auf das soziale Milieu ist: ein sprach­ didaktisches Primat des sozialen Gebrauchs mit geradezu moderner neurowissenschaftli­ cher Grundlage.



Forschungsstand: ­Aktuelle Theoriebildungen im ­historischen Kontext   467

Interaktionistische Theorien: Aufbau ­kommu­nikativer Kompetenz durch gemeinsames Sprach­handeln

Kognitivistische Theorien: Optimierung und ­Re­organisation der Sprachverarbeitungsprozesse durch kognitive Stimulierung

Interaktionistische Theorien (u. a. ­Bruner 1983, 1990, Papoušek & Papoušek 1989, Pa­ poušek 1994, Tomasello 1986, 1992) erklären den Spracherwerb primär durch gemeinsame Handlungsmuster und geteilte Aufmerksam­ keit (joint attention) von Mutter und Kind. Mit ihrer Fokussierung der „Triangulierung“ zwi­ schen den beiden Interaktionspartnern und den Handlungsgegenständen betonen sie zei­ chentheoretisch ebenfalls den Gebrauch (use) und die wichtige sprachkonstitutive Rolle der in reale Handlungen einbezogenen Referenz­ objekte (vgl. Abb. 2b). Theoretisch sind sie mit ihrem sprachlichen Handlungsbegriff dabei im Paradigma der Soziolinguistik bzw. Pragma­ tik verwurzelt (vgl. 2.1.2), dem im Gegensatz zum Handlungsbegriff der kulturhistorischen Schule der historisch-kulturelle Vermittlungs­ aspekt der sozialen Kategorie Sprache fehlt. Sprachdidaktisch rezipiert steht dement­ sprechend der gemeinsame Sprachgebrauch und methodisch die Unterstützung bei der Übersetzung von gemeinsamen Handlungs­ mustern in gemeinsame Kommunikations­ muster im Zentrum sämtlicher interaktio­ nisch-handlungsorientierter Ansätze (vgl. u. a. Füssenich 1987, 1999, Heidtmann 1990, Motsch 1996), denn speziell die Spracher­ werbsstörungen werden als Folge von ge­ störten Interaktionsprozessen zwischen Per­ son- und Gegenstandswelt betrachtet. Neu an dieser Perspektive ist, dass nun die vorsprach­ lichen Kommunikationsprozesse und ihre Störungen in den Mittelpunkt rücken und so der gesamte frühkindliche Entwicklungsbe­ reich stärker berücksichtigt wird. Methodisch hat dies zur Konsequenz, dass die Gestaltung der therapeutischen Beziehung, Scaffolding, Elternarbeit, Gruppenkonzepte sowie nonver­ bale Kommunikation und Wahrnehmungs­ förderung in die sprachdidaktischen Model­ le integriert werden (vgl. u. a. Katz-Bernstein 1987, 2007, Katz-Bernstein & Subellok 2002, Zollinger 1995, 2000).

Kognitivistische Theorien (u. a. Piaget 1923, 1969a/b, Piaget & Inhelder 1977) und ihre spezifischen Ausdifferenzierungen für den Er­ werb von Syntax, Semantik etc. (u. a. Sinclair 1971, Brown 1973, Bowerman 1977, Nelson 1974, 1985, Bates 1979) erklären die Sprach­ entwicklung in Abhängigkeit von der Kogni­ tion und damit von der Intelligenz-Entwick­ lung des Kindes – eine Annahme, die häufig als im Kern nativistisch kritisiert wird (vgl. Klann-Delius 2008, 98 ff.). Sprechen und Den­ ken sind beides aktive Konstruktionsprozesse, die sich über die sensomotorische, spieleri­ sche Auseinandersetzung mit der Objekt-Welt in Stufen vollziehen. Sprachliche Kompetenz ist abhängig von der kognitiven Kompetenz; sprachliche Kategorienbildung abhängig von allgemeiner Kategorienbildung – all dies zei­ chentheoretisch in einer Art Pendelbewegung eine erneute Hinwendung zum Inhalts-Aspekt der Sprache und gleichzeitig eine Abwendung von den objekt- und sprachgebrauchenden Subjekten. In der sprachdidaktischen Rezeption er­ öffnet dieses neue kognitionstheoretische Verständnis speziell für die Spezifischen Sprach­entwicklungsstörungen (SSES) einen individuums- und kognitionsorientierten Zu­ gang, in dessen Mittelpunkt die Optimierung und Reorganisation der gestörten Sprachverarbeitungsprozesse durch kognitive Stimulierung steht (u. a. Siegmüller & Kauschke 2006). Zwar wird aufgrund des konstruktivistischen Entwicklungsmodells Piagets auch von ei­ nem Sprachhandlungs-Begriff ausgegangen, aber im Gegensatz zur tätigkeitstheoreti­ schen oder interaktionistischen Konzeption der Sprachhandlung steht hier die individu­ elle Kognition und der individuelle Kompe­ tenzaufbau mittels konstruktiver Assimila­ tion und Akkomodation der Objekt-Umwelt im Mittelpunkt – zuweilen mit Betonung des kooperativen Handelns (u. a. Welling 2004).

468 

Sprachdidaktiktheorie

Tab. 3: Spracherwerbstheoretische Grundposition und ihre Relevanz für die Sprachdidaktik



Forschungsstand: ­Aktuelle Theoriebildungen im ­historischen Kontext   469

Ein hiervon logisch abzuleitendes sprachdi­ daktisches Primat des Inhalts basiert neben der Bewusstmachung und Reflexion des Stö­ rungsbewusstseins vor allem auf der Bewusst­ machung und Reflexion der linguistischen Zielstrukturen. Eine wesentliche Methode hierbei ist die „Kontrastierung“ (u. a. Sieg­ müller & Kauschke 2006), bei der die kogni­ tive Stimulierung und Reorganisation durch einen entwicklungsauslösenden kommuni­ kativen Konflikt initiiert werden soll, indem auf die bestehenden dysfunktionalen Sprach­ verarbeitungsprozesse Veränderungsdruck ausgeübt wird. Klassische Beispiele für eine phonologische Kontrastierung wären z. B. Mi­ nimalpaare oder der Metaphon-Ansatz (Fox & Dodd 1999, Jahn 2001), für eine morphologi­ sche Kontrastierung eine Dativ- vs. AkkusativGegenüberstellung. Zudem werden vielfältige weitere Metasprach-Methoden eingesetzt, wie z. B. Förderprogramme zur phonologischen Bewusstheit (u. a. Küspert & Schneider 2003, Hacker 2003), mit dem Ziel der Erhöhung me­ tasprachlichen Bewusstseins zwecks Reflexion und Transparenz des jeweiligen Therapiege­ genstandes. Relationale Theorien: Aufbau von Bedeutungen durch intersubjektive Konstruktion

Relationale Theorien sind eine Spezifizierung und Weiterentwicklung interaktionistischer Theorien, die auf Basis jüngster neurowis­ senschaftlicher Erkenntnisse die relationalen Emotionen und deren intersubjektive Spie­ gelung als einen bzw. sogar den wesentlichen Organisator der kommunikativ-sprachlichen Entwicklung des Kindes fokussieren (vgl. u. a. Bråten 1998, Gallese et al. 2004, Stame­ nov & Gallese 2002, Trevarthen 1993, 2005). Das Subjekt-Objekt-Verhältnis, das im Mittel­ punkt der pragmatisch-interaktionistischen Erklärungsmodelle stand, verschiebt sich durch die sprachkonstitutive Rolle der zwi­ schenmenschlichen relationalen Emotionen nun primär zu einer Subjekt-Subjekt-Bewusst­ heit. In Einklang mit psycholinguistischen An­ sätzen, die dem intentionalen Affektausdruck

eine wichtige konstitutive Rolle im Sprach­ erwerb zusprechen (u. a. Bloom & Capatides 1987, Bloom & Beckwith 1989, Bloom 22002) betonen sie ähnlich wie die tätigkeitstheore­ tischen Ansätze den Monismus von Kogniti­ on und Emotion und die sogar physiologische Verbundenheit kognitiver und emotionaler Entwicklungsprozesse – wobei die neuropsy­ chologischen Konzepte auf moderne bildge­ bende Verfahren gestützt sind (vgl. u. a. Dama­ sio 1994, 2003, Panksepp 1998, 2003, Cicchetti 2002, Schore 1994, 2003, Trevarthen 2001a/b, 2004a/b). Durch die hiermit entdeckten korti­ kalen Spiegelneurone wurde beispielsweise auf die Spiegelung von Handlungen als Ursprung der phylo- und ontogenetischen Sprachent­ wicklung hingewiesen (Rizzolatti & Arbib 1998). Subkortikale Spiegelsysteme wie die Intrinsic Motive Formation (IMF) sind darüber hinaus im Sinne einer angeborenen neurobio­ logischen Bereitschaft für die Fähigkeit von Neugeborenen zuständig, relationale Emotio­ nen mittels eines emotional-motorischen Sys­ tems (EMS) zu „spiegeln“ bzw. intentional zu kommunizieren (vgl. u. a. Bråten 1998, Nagy & Molnár 2004, Trevarthen 1998, 1999, 2001a, 2004b, Trevarthen et al. 2006). Die kindliche Antizipation eines emotional antwortenden Anderen ist dadurch in einem gewissen nati­ vistischen Sinn pränatal psychophysiologisch angelegt. Zeichentheoretisch verschiebt sich der Fokus nun jedoch von Form, Inhalt oder Gebrauch auf die Bedeutung (im Sinne von meaning), deren Aufbau mittels intersubjekti­ ver Konstruktions- und Validierungsprozesse nun in den Mittelpunkt rückt (vgl. Abb. 2c). Werden relationale Theorien der Sprachund Kommunikationsentwicklung sprachdi­ daktisch rezipiert, rücken konsequenterweise relational-emotionale Aspekte zur Erklä­ rung  von tiefgreifenden Kommunikationsund Sprachentwicklungsstörungen, wie z. B. Autismus-Spektrum-Störungen oder einge­ bettete Sprachentwicklungsstörungen insbe­ sondere mit traumatisierenden oder depri­ vierenden Entwicklungsbesonderheiten, in den Mittelpunkt (u. a. Trevarthen et al. 1998, Lüdtke 2006 a/b, 2011, Lüdtke & Frank 2007).

470 

Sprachdidaktiktheorie

Methodisch ist ein Primat der Bedeutung und deren intersubjektive Konstruktion Drehund Angelpunkt einer „Relationalen Sprach­ didaktik“ (Lüdtke 2004). Unter Umständen bereits mit Rückgriff auf pränatal-proprio­ zeptive Zeichenentwicklungen zwischen Mut­ ter und ungeborenem Kind ansetzend werden kommunikative Zeichen zunächst in sämt­ lichen Ausdruckskanälen – also stimmlich, mimisch, gestisch, taktil etc. – rekonstruiert. Eingebettet in vielschichtige bedeutsame Nar­ rative werden zunächst bildhafte Zeichen mit hoher emotionaler Markiertheit konstruiert und etabliert, die dann dem Entwicklungs­ verlauf folgend zunehmend in emotionsfreie Symbole überführt und auf den laut- und schriftsprachlichen Code fokussiert werden (→ FS körperliche und motorische Entwick­ lung, → FS geistige Entwicklung). Tabelle 3 fasst zur Veranschaulichung die theoretischen Zusammenhänge zwischen spracherwerbstheoretischen Grundpositio­ nen und sprachdidaktischen bzw. -metho­ dischen Modellen übersichtsartig zusam­ men, denn beispielsweise eine unterrichtlich oder therapeutisch propagierte sprachliche „Handlungsorientierung“ kann drei bis vier völlig unterschiedlichen paradigmatischen Kontexten zugehörig sein und muss bei einer sprachdidaktischen Reflexion und Evaluati­ on vor dem Hintergrund ganz verschiedener theoretischer Begründungszusammenhänge (Tätigkeitstheorie, Kognitivismus, Interakti­ onismus) betrachtet werden.

2.3 Pädagogisch-didaktische ­Paradigmen und ihre ­Einflüsse auf sprachspezifische ­Unterrichtsmodelle Neben den linguistischen (vgl. 2.1) und den spracherwerbstheoretischen Paradigmen (vgl. 2.2) ist die Allgemeine Pädagogik und Didaktik (vgl. Abb. 1) die dritte und älteste Bezugsdis­ ziplin der Sprachdidaktiktheorie – allerdings nur für ihren schulorientierten Zweig, wie er ausschließlich im deutschsprachigen Raum

innerhalb der klassischen „Sprachbehinder­ tenpädagogik“ bzw. „Sprachheilpädagogik“ zu finden ist (vgl. 1.1 und 1.2). Auf allgemeinpädagogische Positionen und deren didaktische Modellbildungen wur­ de und wird bis heute zurückgegriffen, wenn es um die grundsätzliche Frage geht, wie sprachliches Lehren und Lernen von Kin­ dern und Jugendlichen mit Sprachstörungen im besonderen Kontext von Schule und Unterricht professionell organisiert werden kann (vgl. 1, Definition) – ein Kontext, der an die Sprachdidaktik die spezifische Zusatzaufgabe der Erfüllung des Bildungs- und Erziehungsauftrages und deren jeweilige Ziele stellt. Zur Lösung dieses Balanceaktes der Vermittlung von einerseits allgemeinen Bildungs- und Er­ ziehungszielen und andererseits sprachspe­ zifischen Lernzielen rezipieren sprach(heil)pädagogische Unterrichtsmodelle primär die Grundpositionen der allgemeinen Pädago­ gik und Didaktik mit ihren jeweiligen wis­ senschaftstheoretischen Bezugspunkten und integrieren diese (zuweilen unbewusst) mit möglichst passungsfähigen spracherwerbs­ theoretischen Erklärungsmodellen des na­ türlichen sprachlichen Lernens und deren implizitem zeichentheoretischen Fokus (vgl. Tab.  4). Eine gelungene Integration beider Bezugsdisziplinen in ein sprachdidaktisches Unterrichtsmodell ist am ehesten dann mög­ lich, wenn beide durch ein gemeinsames wis­ senschaftstheoretisches Paradigma verbun­ den sind und nicht theoretisch inkompatible Ansätze in einen Topf geworfen werden (the­ ory-therapy-gap). Kooperation von Phoniatrie und ­Taubstummenpädagogik: Heilende ­Übungsbehandlung in Kursen und Schulklassen für sprachgebrechliche Kinder

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden die ersten schulbezogenen sprachdidaktischen Modellbildungen der klassischen Sprachheil­ pädagogik nicht aus einer Rezeption allge­ meinpädagogischen Gedankenguts, sondern aus einer pragmatischen Kooperation von Me­



Forschungsstand: ­Aktuelle Theoriebildungen im ­historischen Kontext   471

dizin/Phoniatrie und Taubstummenpädagogik (→ FS Hören), wie sie beispielhaft im Wirken des Direktors der „Städtischen Taubstummen­ schule Berlin“, Albert Gutzmann, zu finden ist, dessen Behandlung des Stotterns (1879) auf der physiologischen Theorie Kussmauls (1877) basierte. Trotz der beginnenden Etab­ lierung einer schulischen Institutionalisierung durch Sprachheilkurse (ab 1883), Sprachheil­ klassen (ab 1901) und Sprachheilschulen (ab 1910) waren seine und andere Behandlungs­ modelle zunächst noch stark in einem medi­ zinischen Paradigma verwurzelt, welches wis­ senschaftstheoretisch einem cartesianischen Rationalismus (Descartes 1637) und praktisch einem Mensch-Maschine-Modell entsprach. Die in dieser Zeit wirkenden Organiker der Berliner Schule – allen voran auch Albert Gutzmanns Sohn Hermann Gutzmann sen. und Enkel Hermann Gutzmann jun. (→  Ge­ schichte) – rezipierten z. B. mit ihrer phone­ tischen Übungsbehandlung des Stotterns oder Stammelns die allgemein üblichen medizin­ verhafteten Trainingsmodelle gestörter Or­ ganfunktionen, interpretierten aber im Zuge der zunehmenden Integration dieser Maßnah­ men in schulspezifische Kontexte die heilende Übungsbehandlung als umfassende „pädago­ gische Aufgabe“ (Orthmann 1982, 74). Derartige physiologisch-phonetische Be­ handlungsmuster von Sprachstörungen im­ plizierten entsprechend den damaligen me­dizinisch angehauchten Spracherwerbs­ vorstellungen am ehesten reifungstheoreti­ sche, aber auch behavioristische Vorstellun­ gen von sprachlichem Lernen, was sich in dem beschriebenen übenden Vorgehen an der äußeren Form der Sprache niederschlug. Kooperation von tiefenpsychologischer ­Sprach-Medizin und Pädagogik: Ganzheitliche Umerziehung

Eine ähnliche, von der allgemeinen Pädagogik recht unabhängige Entwicklung fand nahezu zeitgleich in Wien statt, nämlich wie in Berlin die Entstehung eines bahnbrechenden schul­ spezifischen Modells aus der Kooperation von

Karl Cornelis Rothe mit dem Mediziner und psychoanalytisch geprägten Sprachpathologen Emil Fröschels (u. a. 1913). Rothe strebte in seiner „Umerziehung“ (1929) an, den „ganzen Menschen“ in seinen psychosozialen Vernet­ zungen und mit seinen psychologischen (Un) Tiefen zu erfassen und so gilt sein Konzeptan­ satz als erster nachhaltiger Versuch, sprach­ didaktische Bemühungen genuin sprachpä­ dagogisch zu fassen: „Umerziehung ist die zielbewusste, planmäßig die ganze Persönlich­ keit von allen Seiten erfassende Umprägung eines Menschen“ (1929, 9) – ein Modell, das selbstverständlich mit tiefenpsychologischen Vorstellungen des Spracherwerbs einhergeht und das in der sprachdidaktischen Arbeit ent­ sprechend am Inhalt arbeitet. Geisteswissenschaftliche Pädagogik: Erziehung zur Sprachlichkeit

In den Jahren und Jahrzehnten nach dem 2.  Weltkrieg war in Deutschland eine der maßgeblichen allgemeinen Strömungen die „Geisteswissenschaftliche Pädagogik“. Gemäß ihrem übergeordneten hermeneutischen Pa­ radigma (Dilthey 1890, → Geschichte) mit seinem phänomenologischen Erkenntniszu­ gang (Husserl 1913) sind ein rational-einfüh­ lendes Sinnverständnis sowie die Analyse und Reflexion der Erziehungswirklichkeit die lei­ tenden pädagogischen Kategorien. Mit der Rezeption der Geisteswissen­ schaftlichen Pädagogik (u. a. Bollnow 1959, Flitner 1963, Nohl 1963) und der Bildungsthe­ oretischen Didaktik (Klafki 1963) erreichte die subjektorientierte Wendung vom sprach­ lichen Symptom auf dessen Träger, von der Übungsbehandlung zur ganzheitlichen Er­ ziehung und von der Fokussierung der Form zum Primat des Inhalts Mitte bis Ende der 1960er Jahren sowohl in der Schweizer Heil­ pädagogik (u. a. Moor 1965) als auch in der deutschen Sprachbehindertenpädagogik ih­ ren Höhepunkt. Auch das komplexe und vielschichtige Ver­ borgene, das nicht unmittelbar als Symptom Wahrnehmbare in die Therapie und den Un­

472 

Sprachdidaktiktheorie

terricht einzubeziehen, wird zu einer päda­ gogischen Aufgabe, der sich die Ansätze von Orthmann (1969) und Westrich (1974) ver­ schreiben. Auf Basis einer phänomenologi­ schen Analyse der gestörten Sprachlichkeit und der Reflexion der Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen mit Sprach­ störungen wird die Persönlichkeitsentwick­ lung des sprachbehinderten Schülers, seine „Erziehung zur Sprachlichkeit“ oberstes Ziel einer geisteswissenschaftlich orientierten Sprachbehindertenpädagogik und -didaktik, die methodisch mit entdeckendem und ex­ emplarischem Lernen arbeitet. Sie korrespon­ diert  mit einer reifungstheoretisch-organis­ mischen Vorstellung des Spracherwerbs und des natürlichen sprachlichen Lernens, in dem der Pädagoge wie ein „Gärtner“ sich bemüht, auf Basis eines tragenden Erzieher-SchülerVerhältnisses die Entwicklung und deren „naturgegebene“ Störungen durch „ordnen­ des“ pädagogisches Eingreifen in „rechte Bah­ nen“ zu lenken. Kritisch-rationale ­Erziehungswissenschaft: ­Lern­ziel­überprüfbarkeit im ­Sprachtherapeutischen Unterricht

In einer pendelartigen Gegenbewegung von der phänomenologischen Einzelerfahrung zu objektivierbaren und messbaren Tatsachen war dem gegenüber in den 1970er Jahren die  Vorherrschaft des empirisch-analytischen Wissenschaftsverständnisses für die Allgemei­ ne Pädagogik und Didaktik prägend (→ Ge­ schichte). Programmatisch dafür ist der Titel des Werks von Brezinka: „Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft“ (1975). Entspre­ chend der nun dominierenden kritisch-ratio­ nalistischen Erkenntnistheorie (Popper 1966) sollte nicht das Verborgene, sondern die un­ mittelbar beobachtbaren Tatsachen – die allein zu allgemein gültigen, nachprüfbaren oder wi­ derlegbaren Aussagen führen – die Lehr-LernPraxis bestimmen (vgl. Roth 1957). In der Sprachheilpädagogik zeigte sich die­ ser Wandel neben einigen Anleihen an der Lernzielorientierten Didaktik (Möller 1989)

und am Programmierten Unterricht der Ky­ bernetischen Didaktik (von Cube 1965) be­ sonders in Anknüpfungen an das DidaktikModell der so genannten „Berliner Schule“ (Heimann, Otto, Schulz 1965) und dem vor­ herrschenden Gedanken, mittels genauer Ana­ lyse der sachlichen und anthropogenen Vor­aussetzungen den sprachlichen Lernprozess optimal steuern zu können – ein Konzept, das eindeutig mit behavioristisch-lerntheo­ retischen Spracherwerbsmodellen  und der Überprüfbarkeit von auf die äußere sprach­ liche Form fokussierten Lernzielen korre­ liert. Neben dem bis heute maßgeblichen Konzept des „Sprachtherapeutischen Unter­ richts“ (Braun 1980), welches wie viele an­ dere Ansätze dieser Zeit (u. a. Knura 1982, Werner 1972, 1975) in seinen Ursprüngen ex­ plizit lerntheoretisch begründet wurde, setz­ te dabei beispielsweise Orthmann (1977) auf die Operationalisierung der pädagogisch re­ levanten Behinderungsdaten in „pädothera­ peutische Aspekte“, die sich als spezifische, überprüfbare Trainingsformen im Unterricht niederschlagen sollten. Kulturhistorisch-tätigkeitstheoretische ­Pädagogik: Pädagogik der Sprachbehinderten zwischen Rehabilitation und Emanzipation

In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ge­ wann das materialistische Paradigma, deren Ursprünge erkenntnistheoretisch im Dialek­ tischen Materialismus (Marx 1859, Engels 1884) sowie (neuro)psychologisch im kultur­ historisch-tätigkeitstheoretischen Ansatz (Vy­ gotskij 1934, Leont’ev 1979, Galperin 1969) zu finden sind, erheblichen Einfluss in der All­ gemeinen Pädagogik (gesellschaftskritische Reformansätze z. B. Freire 1973, Freinet 1973, Neill 1965) und Didaktik (Ansätze dialekti­ scher Unterrichtstheorie, z. B. Klingberg 1982; „Handlungsorientierter Unterricht“, z. B. Gud­ jons 1986). In die Sprachheilpädagogik der Bundes­ republik wurde das eigentliche tätigkeits­ theoretische Selbstverständnis mittels seiner engen Verbindung mit einem kulturhisto­



Forschungsstand: ­Aktuelle Theoriebildungen im ­historischen Kontext   473

risch-tätigkeitstheoretischen Spracherwerbs­ modell (Leon­t’ev 1979) durch Homburgs (1978) umfangreiche Monographie „Die Pä­ dagogik der Sprachbehinderten“ eingebracht (vgl. 2.2) und von Holtz (1983) aufgegriffen, wobei zu beachten ist, dass Homburg sich mit seinem Terminus der „Handlungsorien­ tierung“ vom tätigkeitstheoretischen Kon­ notat absetzte. In der DDR definierten etwa zeitgleich Becker & Autorenkollektiv Reha­ bilitationspädagogik „als Wissenschaft von der sozialistischen Bildung und Erziehung physisch-psychisch Geschädigter unter dem Aspekt der Rehabilitation“ (1979, 161). Auch Weigts umfangreiches Werk „Grundlagen der Sprachbehindertendidaktik“ (1997) ist dem rehabilitationspädagogischen Selbstverständ­ nis der ehemaligen DDR zuzurechnen. Verbindendes Element beider Strömungen ist die explizite Einbeziehung gesellschaft­ licher Verhältnisse in tätigkeitstheoretische sprachdidaktische Konzeptionen sein: „Der Unterricht kann als eine besondere Tätig­ keitsform der Wechselbeziehung zwischen Individuen, Gesellschaft und natürlicher Umwelt angesehen werden“ (Becker & Sovák 1979, 307), wobei in der Spracherziehung der DDR die „Rehabilitation“ und in der Pädago­ gik der Sprachbehinderten der „emanzipa­ torische Auftrag“ und die „Ideologiekritik“ (1978, 38) handlungsleitend waren.

hungswissenschaft (u. a. Klafki 1976), deren übergeordnetes Ziel es war, mündige und kri­ tische Subjekte zu bilden, die dann die Gesell­ schaft nach emanzipatorischen Gesichtspunk­ ten umgestalten könnten. Ganz im Gegensatz zur Durchsetzungs­ kraft der Kritischen Erziehungswissenschaft und der ihr zugehörigen Kritisch-konstrukti­ ven Didaktik (Klafki 1980) in der allgemeinen Pädagogik hat sich deren „emanzipatorisches Erkenntnisinteresse“ außer bei Homburg (1978) kaum explizit in der Sprachheilpädago­ gik niedergeschlagen. Die praxisnähere (apo­ litische) Intention jedoch, durch die Rezepti­ on der Kommunikativen Didaktik (Schäfer & Schaller 1971) und ähnlichen Konzepten dem Unterricht in der Schule für Sprachbehinder­ te eine kommunikations- und handlungsthe­ oretische Basis zu geben (z. B. in Grohnfeldts Konzeption 1981, durch die Berücksichtigung der „Sprechakttheorie“ bei Horsch & Werner 1982 sowie in Brauns Sprachtherapeutischem Unterricht 1980–2004), weisen auf eine Ab­ kehr von der individualistischen „Subjektzen­ trierung“ zum kommunikativ handelnden, gesellschaftlich eingebundenen Menschen hin – und damit auf die Notwendigkeit ei­ nes interaktionistischen Verständnisses von sprachlichen Erwerbsprozessen (vgl. 2.2) und einem sprachdidaktischen Primat des Ge­ brauchs (z. B. durch das Einbeziehen von Rol­ lenspielen bei Keller 1973).

Kritische Erziehungswissenschaft: ­Sprachtherapeutischer Unterricht als ­handlungsorientierter Unterricht

Kooperative Pädagogik: Handlungsorientierung im Zentrum der Kooperativen Sprachdidaktik

Parallel dazu etablierte sich Ende der 1960er Jahre die Kritische Theorie der „Frankfur­ ter Schule“ (Adorno 1967, Habermas 1979, Horkheimer 1979), deren zentrales Anlie­ gen – motiviert aus den Erfahrungen des Na­ tionalsozialismus und dem blinden Einord­ nen von Subjekten als unmündige Objekte in Kollektive – die kritische Aufdeckung und Transformation repressiver gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse war. Diese Prämissen aufgreifend entstand in der Allgemeinen Pä­ dagogik die Strömung der Kritischen Erzie­

In der Epoche des pragmatischen Paradigmas gab es noch ein weiteres Primat der Hand­ lungsorientierung – theoretisch aber völlig anderen Ursprungs. Mitte der 1980er Jahre entwickelte sich die „Kooperative Pädagogik“ (Jetter 1985, Schönberger 1987), die bevor sie diesen allgemeinpädagogischen Anspruch vertrat zunächst in der Körperbehindertenpä­ dagogik entwickelt worden war. Die Katego­ rie der „Handlung“ als Idee der gemeinsamen, kooperativen Zusammenarbeit war hier die zentrale Bezugsgröße pädagogisch-didakti­

474 

Sprachdidaktiktheorie

Tab. 4: Pädagogisch-didaktische Grundpositionen und ihre unterrichtsspezifische sprachdidaktische Rezeption



Forschungsstand: ­Aktuelle Theoriebildungen im ­historischen Kontext   475

scher Planung und Reflexion, theoretisch fun­ diert im Genetischen Strukturalismus Piagets (1923, 1969). Ausgangspunkt für Wellings Ansatz der „Kooperativen Sprachdidaktik“ (1995, 2004) ist die Anlehnung an diese Kooperative Pä­ dagogik und Didaktik und seine Weiterfüh­ rung durch eine Ausarbeitung der spezifisch sprachlichen Dimension des Handlungsbe­ griffs. Explizit greift er dabei auf die Erkennt­ nistheorie und genetische Entwicklungs­ psychologie Piagets zurück und damit auf sein kognitives Spracherwerbsmodell, in die entsprechend die Kategorie des operativen sprachlichen Handelns integriert wird. Durch eine derartige Rezeption steht hier die koope­ rative sprachliche Handlungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler im Mittelpunkt der Unterrichtsplanung, die zudem im Zusam­ menhang mit deren biografischen Erfahrun­ gen aufzuschlüsseln ist. In Abgrenzung vom administrativ zugeschriebenen Förderbedarf rückt als Konsequenz das Förderbedürfnis in den Vordergrund. Systemisch-konstruktivistische Pädagogik: ­Emo­tionale Regulation in der Relationalen Didaktik

Um die Jahrtausendwende und vor dem Hintergrund vieler neuer Phänomene und Probleme der Postmoderne (→ Norm und Differenz) begann sich in der Allgemeinen Pä­ dagogik und Didaktik das konstruktivistische Paradigma zu etablieren (→ Geschichte). In der Konstruktivistischen Pädagogik und Di­ daktik wird Lernen prinzipiell als Prozess der Selbstorganisation des Wissens verstanden, das sich auf der Basis der Wirklichkeits- und Sinnkonstruktion jedes einzelnen lernenden Individuums vollzieht und damit relativ, indi­ viduell und unvorhersagbar ist. Dieses Axiom leitet sich allerdings theoretisch durchaus aus ganz unterschiedlichen theoretischen Strö­ mungen wie z. B. dem methodischen, radika­ len oder sozialen Konstruktivismus her, wobei letztgenannte Perspektive vor allem von Kers­ ten Reich (2000, 2002) vertreten wird. Zentra­

ler Gedanke in seinem Ansatz ist, dass Wissen selbstorganisiert, sozial situiert und emergent ist und Wissenserwerb deshalb nicht wie in klassischen Lehr-Lern-Modellen determiniert und gesteuert, sondern nur in seinem sozia­ len Ausgehandelt-Werden durch Lernimpulse angestoßen, initiiert werden kann. Durch die Annahme, dass sich Lernen nicht auf die Re­ produktion vorhandener Wissensbestände re­ duzieren lässt, sondern im Wechselspiel zwi­ schen innerer Konstruktion und Instruktion durch die Umwelt geschieht, vollzieht Reich auch einen paradigmatischen Wechsel von den klassischen Inhalts- zu den postmodernen „Beziehungsdidaktiken“. In der Sprachpädagogik und -thera­ pie wird die Konstruktivistische Pädagogik und Didaktik, insbesondere der sozialkon­ struktivistische Ansatz von Reich, durch Bahr (2003) und Lüdtke (2004, 2006a, 2011) rezipiert und sprachspezifisch adaptiert. Aus­ gehend von einem Verständnis der kindlichen Sprachentwicklung als „koevolutiv-selbstor­ ganisiertem Konstruktionsprozess“ (Lüdt­ ke & Bahr 2002a, 138) erweitert Bahr (2003) den Ansatz des klassischen „sprachtherapeu­ tischen Unterrichts“ um konstruktivistische Ideen, indem er sprachliches Lernen als akti­ ven Aneignungsprozess der Lernenden näher bestimmt und darüber hinaus die Lehrperso­ nen als zentrale Bestimmungsgröße heraus­ stellt. Lüdtke (2004) vertieft diese Impulse, indem sie in ihrer Theorie einer „Relationa­ len Didaktik“ für Therapie und Unterricht die Grundgedanken der Konstruktivisti­ schen Pädagogik und Didaktik mit einer in­ tersubjektiv-relationalen Sprachtheorie und Spracherwerbstheorie verknüpft, welche auf Grundlage jüngster entwicklungsneuropsy­ chologischer Erkenntnisse speziell die inter­ subjektive Bedeutung der Emotionen für die gemeinsame Konstruktion sprachlicher Re­ präsentationen betont (vgl. 2.1 und 2.2).

476 

Sprachdidaktiktheorie

3 ­Sprachdidaktiktheorie als Unterstützung bei der Durch­ dringung ­sprachdidaktischer ­Komplexität Wie eingangs erläutert, dient die Sprachdidak­ tiktheorie der wissenschaftstheoretischen Be­ trachtung historischer und aktueller sprachdi­ daktischer Konzeptbildungen, um diese durch die gewonnene Transparenz differenzierter zur Planung und Reflexion nutzen zu kön­ nen. Dies ist nötig, da die sprachdidaktisch tätige Pädagogin oder Therapeutin an der be­ schriebenen Schnittstelle von linguistisch-se­ miotischen, spracherwerbstheoretischen und pädagogisch-didaktischen Konzeptbildungen agiert (vgl. Abb. 1), indem sie zur Bewälti­ gung der vielfältigen Aufgaben der komplexen sprachdidaktischen Realität Entscheidungen praktisch umsetzt, die sie zuvor auf Grundlage theoretischer Überlegungen getroffen hat. Da­ bei steht sie, wie ausführlich erläutert (vgl. 2), jedoch nicht im luftleeren Raum, sondern kann auf ganze paradigmatische Strömungen,

größere Modelle sowie spezifische Konzep­ te und Methoden zurückgreifen, die sie aller­ dings individuell in einen konkreten und vor allem konsistenten kurz-, mittel- oder lang­ fristigen Handlungsansatz integrieren muss: Sie ist die Personifikation der Sprachpädago­ gik und Sprachdidaktik als „Integrationswis­ senschaft“ – eine komplexe Aufgabe zur Be­ wältigung komplexer Realität. Die individuelle Entscheidung für einen spezifischen sprachdidaktischen Handlungs­ ansatz verlangt von der Pädagogin oder The­ rapeutin immer wertende Urteile für oder gegen ein bestimmtes vorgegebenes Angebot in Form eines Modells, eines Konzeptes oder einer Methode. Um solche Entscheidungen treffen und sie vor allem theoretisch begrün­ den sowie dies nach außen anderen trans­ parent und überprüfbar kommunizieren zu können (z. B. in schriftlichen Unterrichtsbzw. Therapieplanungen), soll mit dem nach­ folgend skizzierten „Sprachdidaktischen Pla­ nungs- und Reflexionsmodell“ ein möglichst wertneutrales Gerüst geliefert werden, wel­ ches auf Basis der dargelegten Sprachdidak­ tiktheorie dabei hilft, paradigmenunabhängi­

Abb. 3:  Das sprachdidaktische Dreieck und seine drei Konstituen­ ten an der Schnittstelle der maß­ geblichen Bezugswissenschaften



Sprachdidaktiktheorie und sprachdidaktische Komplexität   477

ge Planungs- und Reflexions-Kategorien vor dem Hintergrund ihrer möglichen theoreti­ schen Zugehörigkeit zu identifizieren und sie hinsichtlich ihrer vernetzten Wirkweise auf unterschiedlichen sprachdidaktischen Kom­ plexitätsstufen zu analysieren.

3.1 Professionalisierung: ­Theoretische ­Anerkennung von ­Komplexität als ­ebenenübergreifendes Kenn­ zeichen der sprachdidaktischen Praxis „Komplexität“ ist nicht nur ein, sondern das Kennzeichen alles Lebendigen – und zwar ebenenübergreifend: angefangen bei den kom­ plexen Strukturmustern von Atomen und Mo­ lekülen der physikalischen oder chemischen Ebene, über die komplexen Funktionsweisen einzelner Organe, des zentralen Nervensys­

tems sowie des Gesamtorganismus eines In­ dividuums auf der biologischen Ebene, bis hin zu den komplexen Interaktionen inner­ halb von Familien, innerhalb eines internati­ onalen, globalen Kontextes oder gar im Uni­ versum. Komplexität ist ebenso nicht nur ein, son­ dern das Kennzeichen didaktischer Reali­ tät, so dass Reich (2000, 2002) die Didaktik nicht als mechanistisch zu erlernende Lehre, Technik, Rezeptur oder homogenen Theorie­ verbund, sondern als ein äußerst anspruchs­ volles Fach der „Komplexitätssteigerung“ definiert, in dem unzählige Beobachter sich über unzählige Beobachtungs-, Interpreta­ tions- und Handlungsmöglichkeiten verstän­ digen müssen. In der Sprachpädagogik und -didaktik gibt es hingegen häufig einen Bruch zwischen ei­ ner komplexitätsdurchdrungenen didakti­ schen Realität und einer komplexitätsnegie-

Abb. 4a: Sprachdidaktische Komplexitätsstufe 1: Primäre Triangulierung von Sach-, Subjekt- und Beziehungsbezogenem Fachwissen

478 

Sprachdidaktiktheorie

renden didaktischen Theoriebildung, der zu Deprofessionalisierungstendenzen und damit zu Qualitätseinbußen der sprachlichen LehrLern-Prozesse beiträgt (Lüdtke 2003): • Die Theorie konzentriert sich beispielswei­ se in den letzten Jahren auf die spezifische Sprachentwicklungsstörung mit isolier­ ten Defiziten – in der Praxis dominieren sprachentwicklungsbeeinträchtigte Kin­ der, häufig mit einem komplexen Förder­ bedarf auch in den Bereichen → Lernen und/oder → emotionale und soziale Ent­ wicklung.

• Unterrichtsmodelle orientieren sich ex­ plizit oder implizit immer noch an der homogenen Schülerschaft und dem Durchgangs-Gedanken der klassischen Sprachheilschule – in der Praxis ist Um­ gang mit komplexer Heterogenität sowie zieldifferentes Unterrichten zum Teil in in­ klusiven, täglich mobil wechselnden Kon­ texten gefordert. Professionalisierung bedeutet also u. a. ein Be­ mühen um theoretische Anerkennung von Komplexität als Kennzeichen der derzeitigen sprachdidaktischen Praxis.

Tab. 5a: Leitfragen zur Reflexion des sprachdidaktischen Fachwissens – REFLEXION – LEITFRAGEN: SPRACHDIDAKTISCHES FACHWISSEN

Wissenskomplex Sprache

• Welche linguistischen Konzepte und Modelle sowie welche patholinguistischen Erklärungs­ansätze helfen bei einem Verständnis der vorliegenden Sprachstörung? [z. B. Überwindung phonologischer Prozesse, Erwerbsreihenfolge grammatischer Fähigkeiten, modulare Sprachverarbeitungsmodelle] • Welcher zeichentheoretische Fokus ist bei dieser Sprachstörung angebracht? [z. B. Arbeit an der Form bei einer phonetischen Störung, Arbeit am Inhalt bzw. Konzept bei einer phonologischen Störung] • Welcher passende linguistisch fundierte sprachdidaktische Zugang bietet sich bei dieser Sprachstörung an? [z. B. Symptombehandlung, Aufbau von Regelwissen oder Aufbau kommunikativer Kompetenz]

Wissenskomplex lernende Person

• Welches spracherwerbstheoretische Paradigma bzw. welche Perspektive(n) von sprach­ lichem Lernen tragen zu einem Verständnis dieses Lernenden und seiner Sprachstörung bei? [z. B. Nativismus, Interaktionismus, Kognitivismus, Relationale Theorien] • Welches zeichentheoretische Primat ist für die professionell neu zu organisierenden Er­ werbs- bzw. Lernprozesse bei diesem Lernenden und seiner Sprachstörung angebracht? [z. B. Primat der intersubjektiv konstruierten Bedeutung bei einem Kind mit Autismus] • Welches sprachdidaktische Konzept oder welche Methode ist mit meinen erwerbs- bzw. lerntheoretischen Vorüberlegungen kompatibel und für diesen Lernenden geeignet? [z. B. Modellieren zu lerntheoretischen, Kontrastierung und Metasprach-Methoden zu kognitivistischen Vorannahmen]

Wissenskomplex lehrende Person

• Welches sprachdidaktische Unterrichtsmodell ist als übergeordneter konzeptioneller Rahmen für diese(n) Lernenden und seine bzw. ihre jeweilige Sprachstörung im aktuellen institutionellen Kontext geeignet? [z. B. Sprachtherapeutischer Unterricht, Kooperative Didaktik, Relationale Didaktik] • Welches sprachdidaktische Unterrichtsmodell passt aufgrund welcher allgemeinpäd­ agogischer und wissenschaftstheoretischer Bezugspunkte zu mir als Lehrendem und meinem professionellen Selbstverständnis? [z. B. rationalistische, handlungstheoretische oder konstruktivistische Perspektive] • Welche individuumszentrierten sprachdidaktischen Konzepte und Methoden mit welchem zeichentheoretischen Fokus sind mit dem von mir gewählten übergeordneten Unterrichtskonzept kompatibel? [z. B. Kontextoptimierung mit Sprachtherapeutischem Unterricht]



Sprachdidaktiktheorie und sprachdidaktische Komplexität   479

Abb. 4b: Sprachdidaktische Komplexitätsstufe 2: Sekundäre Triangulierung von Sach-, Methoden- und Dialog­ kompetenz

3.2 Das Sprachdidaktische Planungsund Reflexionsmodell Das nachfolgend skizzierte „Sprachdidakti­ sche Planungs- und Reflexionsmodell“, wel­ ches eine Weiterentwicklung der gemeinsam mit Homburg entwickelten Gedanken zur „Komplexität sprachtherapeutischen Han­ delns“ darstellt (Homburg & Lüdtke 2003), versucht eine konzeptuelle Annäherung an die Herausforderungen der komplexen sprachdi­ daktischen Realität, indem es auf drei Kom­ plexitätsstufen Triangulierungsaufgaben der Pä­da­gogin/Therapeutin beschreibt. Dies sind mit ansteigendem Anforderungsniveau: 1. Triangulierung von sprachdidaktischem Fachwissen, 2 Triangulierung von sprachdidaktischen Handlungskompetenzen und 3. Triangulierung von sprachdidaktischer Prozessregulation.

Das sprachdidaktische Dreieck

Basis des Sprachdidaktischen Planungs- und Reflexionsmodells ist zunächst das „sprachdi­ daktische Dreieck“ als Sonderform des allge­ meinen didaktischen Dreiecks. Vor dem Hin­ tergrund des Überschneidungsbereiches der drei maßgeblichen Bezugswissenschaften (vgl. Abb. 1) ist es eine Metapher für den sprachdi­ daktischen Raum, in dem sprachliches → Leh­ ren und Lernen professionell organisiert wird (vgl. Definition, 1). Dieser Raum konstituiert sich aus einem dynamischen und komplexen Zusammenspiel folgender drei Konstituenten (vgl. Abb. 3): 1. dem Komplex „Sprache“ (im Sinne unter­ schiedlichster sprachlicher Lerninhalte), 2. dem Komplex „lernende Person“ (über die gesamte Lebensspanne) und 3. dem Komplex „lehrende Person“ (mit ver­ schiedener Professionszugehörigkeit).

480 

Sprachdidaktiktheorie

Tab. 5b: Leitfragen zur Reflexion der sprachdidaktischen Handlungskompetenzen – REFLEXION – LEITFRAGEN: SPRACHDIDAKTISCHE HANDLUNGSKOMPETENZEN

SACH­ KOMPETENZ

• Wie verändert ein bestimmtes von mir gewähltes pädagogisch-didaktisches Paradigma bzw. eine bestimmte pädagogisch-didaktische Perspektive(n) den sprachlichen Lerngegen­ stand? [z. B. das handlungsorientierte Paradigma fokussiert den pragmatischen Gebrauch, das lerntheoretische die überprüfbare äußere Form des sprachlichen Lerngegenstandes] • Welcher pädagogisch-didaktische Zugang entspricht am ehesten den linguistischen Spezi­ fika dieses sprachlichen Lerngegenstandes? [z. B. Relationale Didaktik bei Aufbau des Symbolverständnisses im Rahmen einer tiefgreifenden Kommunikations- und Sprachentwicklungsstörung] • Welche Methodik ist bei diesem sprachlichen Lerngegenstand mit dem gewählten überge­ ordneten pädagogisch-didaktischen Ansatz kompatibel? [z. B. Freiarbeit, Metaplan und Metalearning, Schreibgespräche oder offene Materialfelder mit der konstruktivistischen Pädagogik und Didaktik]

METHODENKOMPETENZ

• Wie müssen die sprachlichen Lernangebote methodisch gestaltet sein, um in diesem speziellen Kontext diesen spezifischen sprachlichen Lerninhalt an diesen Lernenden zu vermitteln? [z. B. Inputspezifizierung, neurofunktionelle Reorganisation, Deblockierung, Symbolspiel] • Welche Medien und Materialien sind bei diesem spezifischen sprachlichen Lerninhalt bei diesem Lernenden unter Berücksichtigung der Alters- und Entwicklungsadäquatheit einzu­ setzen? [z. B. Realmedien, realitätsnahes ikonisches Bildmaterial, Realität-abstrahierendes symbolisches Laut- und Schriftmaterial; sensorische, imaginative oder digitale Medien] • Wie ist die Methodik zeitlich, räumlich und organisatorisch zu präsentieren? [z. B. Methodenwechsel, -kombination oder -variation; große Methoden, kleine Methoden oder Lernarrangements ]

DIALOGKOMPETENZ

• Wie kann der interpersonale sprachdidaktische Kontext reguliert werden, um eine lernpro­ zessunterstützende Beziehung zwischen Lehrendem und Lernendem herzustellen? [z. B. Gestaltung von Beginn und Ende der Beziehung, Umgang mit Krisen und Widerstand, Etablierung von Kommunikationsregeln, Klärung von Rollen und Auftrag, Reflexion des Störungsbewusstseins] • Wie kann innerhalb des sprachdidaktischen Lehr-Lern-Kontextes die Position der lernen­ den Person mit einer Sprachstörung dialogisch unterstützt werden? [z. B. Vermittlung von Lernautonomie, Entscheidungsfreiheit, Verantwortungsübernahme für den Lernprozessverlauf etc.] • Wie kann innerhalb des sprachdidaktischen Lehr-Lern-Kontextes die Position der lehren­ den Person dialogisch unterstützt werden? [z. B. Einsatz von Techniken der Metakommunikation, der Rollenreflexion, des Störungsmanagements, der Psychohygiene etc.]

Komplexe sprachdidaktische Triangulation

Unter „Triangulierung“ versteht man das Her­ stellen einer Beziehung zwischen drei beteilig­ ten Elementen („dreieckig machen“, von lat. triangulum, „Dreieck“). Innerhalb der Sprach­ didaktik ist Triangulierung das In-BeziehungTreten der drei Konstituenten des sprachdi­ daktischen Dreiecks („Sprache“, „lernende Person“ und „lehrende Person“), wobei die Be­

sonderheit ist, dass dem Lehrenden, z. B. der Pädagogin oder Therapeutin, die Aufgabe der Herstellung, Gestaltung, Evaluation und Ver­ änderung der stagnierenden oder fluktuieren­ den, funktionalen oder dysfunktionalen Be­ ziehungsstrukturen innerhalb dieses Dreiecks zukommt. Die dabei anfallenden Triangulie­ rungsaufgaben der Pädagogin/Therapeutin können auf drei ansteigenden Komplexitäts­ stufen analysiert werden.



Sprachdidaktiktheorie und sprachdidaktische Komplexität   481

Abb. 4c: Sprachdidaktische Komplexitätsstufe 3: Tertiäre Triangulierung von gegenstandsspezifischen, methodi­ schen und dialogischen Entfaltungsprozessen

Sprachdidaktische Komplexitätsstufe 1: Primäre Triangulierung von Sach-, Subjekt- und Beziehungsbezogenem Fachwissen Auf dem niedrigsten Anforderungsniveau, der 1. sprachdidaktischen Komplexitätsstufe, hat die Pädagogin/Therapeutin die Aufgabe, das auf je eine Konstituente des sprachdidaktischen Dreiecks bezogene sprachdidaktische Fachwis­ sen der Bezugswissenschaften (vgl. Tab. 5a) hinsichtlich ihrer Planung, Durchführung, Eva­ luation und Reflexion des sprachlichen LehrLern-Prozesses zu triangulieren (vgl. Abb. 4a): 1. zum Komplex „Sprache“: z. B. ihr linguis­ tisch-semiotisches Fachwissen über den sprachlichen Lerngegenstand (vgl. 2.1), 2. zum Komplex „lernende Person“: z. B. ihr sprach(erwerbs)theoretisches Fachwissen über individuelle sprachliche Lernprozesse (vgl. 2.2), und 3. zum Komplex „lehrende Person“: z. B. ihr pädagogisch-didaktisches Fachwissen über

die Gestaltung des interpersonalen LehrLern-Kontextes (vgl. 2.3). Resultat dieser Triangulation ist eine dreifache sprachdidaktische Fokussierung, die von der Pädagogin/Therapeutin stets simultan zu leis­ ten ist (vgl. Abb. 4a): 1. die Sachorientierung am sprachlichen Lern­ gegenstand, 2. die Subjektzentrierung auf die lernende Per­ son, und 3. die Beziehungsgestaltung zwischen den Be­ teiligten durch die lehrende Person. Seiffert (2008 und in diesem Band) weist je­ doch darauf hin, dass unterschiedliche unter­ richtsdidaktische Konzepte (vgl. 2.3) zumeist einen oder zwei Aspekte hervorheben: z. B. die „Kontextoptimierung“ (Motsch 2006) die Sach­orientierung und die „Kooperative Di­ daktik“ (Welling 2004) sowie die „Relationa­

482 

Sprachdidaktiktheorie

Tab. 5c: Leitfragen zur Reflexion der sprachdidaktischen Prozessregulation – REFLEXION – LEITFRAGEN: SPRACHDIDAKTISCHE PROZESSREGULATION Entfaltung an der SPRACHLICHKEIT des Lernenden

• Welche pädagogisch-didaktischen Entscheidungen sind so ausgewählt, dass sie helfen, die spezifischen sprachlichen Lerninhalte des Lerngegenstandes in die gelebte Sprachlichkeit des Lernenden zu integrieren? [z. B. Lernen durch Lehren, kooperatives Lernen, Selbstevaluation von in-vivoTraining]

Entfaltung an der PERSÖNLICHKEIT des Lehrenden

• Welche sprachdidaktischen Methoden und Materialien passen zu meiner individuellen Persönlichkeit als Lehrende, so dass ich sie „verkörpern“ und „mit Leben füllen“ kann? [z. B. körperorientierte, beratungsorientierte, technologisch orientierte oder kognitiv orientierte Ansätze]

Entfaltung am NARRATIV eingebundenen sprachlichen Gegenstand

• Welche von mir etablierten Beziehungs- und Dialogstrukturen binden den spezifischen sprachlichen Lerngegenstand so in ein gemeinsames Narrativ ein, dass die sprachlichen Lerninhalte „Sinn“ machen? [z. B. storyline-Methode, Wandzeitung, Reflecting Teams]

le Didaktik“ (Lüdtke 2004) die Subjektzentrie­ rung und die Beziehungsgestaltung. Nachfolgende exemplarische Leitfragen  – orientiert an Tabellen 2 bis 4 – stellen An­ gebote für eine Reflexion des sprachdidakti­ schen Fachwissens im Rahmen der Planung, Beratung oder Evaluation eines kurz-, mitteloder langfristigen Handlungsansatzes (vgl. Tab. 5a) dar. Sprachdidaktische Komplexitätsstufe 2: Sekundäre Triangulierung von Sach-, Methoden- und Dialogkompetenz Auf einem bereits etwas anspruchsvolleren Anforderungsniveau, der 2. sprachdidakti­ schen Komplexitätsstufe, hat die Pädagogin/ Therapeutin aufbauend auf ihrem Fachwissen (Stufe 1) die Aufgabe, ihre auf das Zusammen­ spiel von je zwei Konstituenten des Dreiecks bezogenen sprachdidaktischen Handlungs­ kompetenzen (vgl. Tab. 5b) hinsichtlich ihrer Planung, Durchführung, Evaluation und Re­ flexion des sprachlichen Lehr-Lern-Prozesses zu triangulieren (vgl. Abb. 4b): 1. Mit ihrer sprachdidaktischen Sachkompetenz muss sie ihre pädagogisch-di­ daktischen Entscheidungen an die lin­

guistischen Spezifika des sprachlichen Lerngegenstandes anbinden. 2. Mit ihrer sprachdidaktischen Methodenkompetenz muss sie durch eine entwick­ lungsadäquate Gestaltung der sprach­ lichen Lernangebote die spezifischen sprachlichen Lerninhalte an den Lernen­ den vermitteln. 3. Und mit ihrer sprachdidaktischen Dialogkompetenz muss sie den interpersonalen sprachdidaktischen Kontext regulieren, um eine lernprozessunterstützende Bezie­ hung zum Lernenden herzustellen. Nachfolgende exemplarische Leitfragen sind ebenfalls Angebote für eine Reflexion der sprachdidaktischen Handlungskompetenzen im Rahmen der Planung, Beratung oder Eva­ luation eines kurz-, mittel- oder langfristigen Handlungsansatzes (vgl. Tab. 5b). Sprachdidaktische Komplexitätsstufe 3: Tertiäre Triangulierung von gegenstandsspezifischen, methodischen und dialogischen Entfaltungsprozessen Auf dem höchsten Anforderungsniveau, der 3.  sprachdidaktischen Komplexitätsstufe, hat die Pädagogin/Therapeutin aufbauend auf ihrem Fachwissen (Stufe 1) und ihren Hand­



Literatur   483

lungskompetenzen (Stufe 2) die Aufgabe, ihre auf den Synergieeffekten zwischen je drei Kon­ stituenten des Dreiecks aufbauenden Fähig­ keiten zur sprachdidaktischen Prozessregula­ tion (vgl. Tab. 5c) hinsichtlich ihrer Planung, Durchführung, Evaluation und Reflexion des sprachlichen Lehr-Lern-Prozesses zu triangu­ lieren (vgl. Abb. 4c): 1. Das linguistisch-semiotische Fachwissen und die sprachdidaktische Sachkompetenz der Pädagogin/Therapeutin entfalten sich letztlich an der Sprachlichkeit der Lernen­ den. 2. Das spracherwerbstheoretische Fachwis­ sen und die sprachdidaktische Methoden­ kompetenz entfaltet sich letztlich durch die Persönlichkeit der Lehrenden. 3. Und das pädagogisch-didaktische Fachwis­ sen und die sprachdidaktische Dialogkom­ petenz entfalten sich letztlich am narrativ eingebundenen sprachlichen Lerngegen­ stand, d. h. am Konkretum und nicht am Abstraktum. Auch diese letzten exemplarischen Leitfragen können für eine Reflexion der sprachdidakti­ schen Prozessregulation im Rahmen der Pla­ nung, Beratung oder Evaluation eines kurz-, mittel- oder langfristigen Handlungsansatzes genutzt werden (vgl. Tab. 5c).

4 Zusammenfassung: ­Sprachdidaktiktheorie als Annäherung an ­sprachdidaktische Realität Wie in allen Bereichen stellt sich auch in der Sprachdidaktik die Frage nach einem mög­ lichen Erkennen und damit Durchdringen, Verstehen und möglichen Verbessern sprach­ didaktischer Realität. Wie uns die Erkenntnis­ theorie gelehrt hat, werden zeitgeistabhängig unterschiedliche Möglichkeiten angenommen, die „Wirklichkeit“ eins-zu-eins abzubilden, durch Introspektion ihres Wesens offenbar zu

werden, sie durch logisches Schließen herzulei­ ten, sie rational und objektiv zu erfassen oder sie vielleicht nur zu konstruieren – doch die Vermutung liegt nahe, dass all unsere Erken­ nens-Versuche lediglich Annäherung bleiben. Eine Annäherung an sprachdidaktische Realität – mehr kann und soll Sprachdidak­ tiktheorie nicht sein. Doch sie möchte alle Möglichkeiten ausschöpfen, uns mit Reflexi­ onsangeboten zu helfen, eine paradigmenun­ abhängige, pluralistische Meta-Perspektive einzunehmen, mit der wir ohne einseitige Verengungen unseres sprachdidaktischen Bli­ ckes durch vorgefasste Meinungen, Methoden und Konzepte auf unsere individuelle sprach­ didaktische Praxis schauen können, um im­ mer wieder neu Verbesserungsmöglichkeiten zu erkennen und zu realisieren.

Literatur Adler, A. (1912): Über den nervösen Charakter. Alf­ red Adler Studienausgabe: Bd. 2: Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psy­ chotherapie: Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Adorno, T. W. (1967): Zum Bildungsbegriff der Ge­ genwart. Frankfurt a. M.: Diesterweg. Aebli, H. (1983): Zwölf Grundformen des Lehrens. Stuttgart: Klett-Cotta. ASHA (American Speech-Language-Hearing Associ­ ation) (1996): Inclusive practices for children and youths with communication disorders: Position statement and technical report. ASHA 38 (Suppl. 16), 35–44. Austin, J. (1962): How to do things with words. Ox­ ford, UK: Oxford University Press. Bahr, R. (2000): Didaktischer Subjektivismus oder subjektorientierte Didaktik. Tendenzen sonderpä­ dagogischen Unterrichts am Beispiel der Sprach­ heilpädagogik. Die neue Sonderschule 45, 3, 203– 212. Bahr, R. (2003): Qualitätsmerkmale sprachthera­ peutischen Unterrichts. In: Hübner, K. & RöhnerMünch, K. (Hrsg.): Einblicke in die Sprachheil­ pädagogik (13–30). Aachen: Shaker. Bahr, R. & Nondorf, H. (1991): Grundlagen und Bei­ spiele komplexer Sprachentwicklungsförderung in Sprach-Handlungs-Spielräumen. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Handbuch der Sprachtherapie, Bd. 4: Störungen der Grammatik (144–166). Berlin: Mar­ hold.

484 

Sprachdidaktiktheorie

Becker, K.-P. & Autorenkollektiv (1979): Rehabilitati­ onspädagogik. Berlin: Volk und Gesundheit. Becker, K.-P., Becker, R. & Autorenkollektiv (1983): Rehabilitative Spracherziehung. Berlin: Volk und Gesundheit. Becker, K.-P. & Sovák, M. (1975): Lehrbuch der Logo­ pädie. Berlin: Volk und Gesundheit. Bishop, D. V. M. (2000): Pragmatic language impair­ ment: A correlate of SLI, a distinct subgroup, or part of the autistic continuum? In: Bishop, D. V. M. & Leonard, L. B. (Eds.): Speech and language im­ pairments in children: Causes, characteristics, in­ tervention and outcome (99–113). Hove: Psycholo­ gy Press. Bloom, L. (1978): Notes for a history of speech patho­ logy. Psychoanalytic Review 65, 3, 432–463. Bloom, L. (1982): Notes for a history of speech patho­ logy: An addendum. Folia Phoniatrica 34, 6, 296– 299. Bloom, L. (22002): The transition from infancy to lan­ guage. Acquiring the power of expression. Cam­ bridge: Cambridge University Press. Bloom, L. & Beckwith, R. (1989): Talking with fee­ ling: Integrating affective and linguistic expressi­ on in early language development. Cognition and Emotion 3, 313–342. Bloom, L. & Capatides, J. (1987): Expression of affect and the emergence of language. Child Develop­ ment 58, 6, 1513–1522. Bollnow, O. F. (1959): Existenzphilosophie und Päda­ gogik – Versuch über unstetige Formen der Erzie­ hung. Stuttgart: Kohlhammer. Bowerman, M. (1977): The acquisition of word mea­ ning: An investigation of some current concepts. In: Johnson-Laird, P. N. & Wason, P. C. (Eds.): Thinking: Readings in Cognitive Science (239– 253). Cambridge: Cambridge University Press. Bråten, S. (Ed.) (1998): Intersubjective communica­ tion and emotion in early ontogeny. Cambridge: Cambridge University Press. Bråten, S. (2002): Altercentric perception by infants and adults in dialogue: Ego’s virtual participation in alter’s complementary act. In: Stamenov, M. & Gallese, V. (Eds.): Mirror neurons and the evolu­ tion of brain and language (273–294). Amsterdam: Benjamins. Braun, O. (1980): Das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Sprachbehindertenpädagogik, darge­ stellt am sprachtherapeutischen Unterricht in der Schule für Sprachbehinderte. Die Sprachheilarbeit 25, 4, 135–142. Braun, O. (1983): Sprachtherapeutischer Unterricht in Theorie und Praxis – Bestandsaufnahme und Diskussion. In: Deutsche Gesellschaft für Sprach­ heilpädagogik e. V. (Hrsg.): Konzepte und Organi­

sationsformen zur Rehabilitation Sprachbehinder­ ter (167–178). Hamburg: Wartenberg & Söhne. Braun, O. (2004): Bildung, Erziehung und Unterricht in der Sprachheilpädagogik. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie, Bd. 5: Bildung, Erziehung und Unter­ richt (25–52). Stuttgart: Kohlhammer. Brezinka, W. (1975): Von der Pädagogik zur Erzieh­ ungswissenschaft. Weinheim: Beltz. Brown, R. (1973): A first Language: The early stages. Cambridge (MA): Harvard University Press. Bruner, J. (1983): Child’s talk: Learning to use lan­ guage. New York: Norton. – Dt. (1993): Wie das Kind sprechen lernt. Bern: Huber. Bruner, J. (1990): Acts of meaning. Cambridge: Har­ vard University Press. – Dt. (1997): Sinn, Kultur und Ich-Identität. Heidelberg: Auer. Chomsky, N. (1957): Syntactic structures. The Hague: Mouton. Chomsky, N. (1965): Aspects of the theory of syntax. Cambridge (MA): MIT. – Dt. (1972): Aspekte der Syntaxtheorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Chomsky, N. (1986). Language and problems of knowledge. Cambridge (MA): MIT. Cicchetti, D. (2002): The impact of social experience on neurobiological systems: Illustration from a constructivist view of child maltreatment. Cogni­ tive Development 17, 1407–1428. Clahsen, H. (1988): Normale und gestörte Kinder­ sprache. Amsterdam: Benjamins. Clahsen, H. (1990): Die Untersuchung des Spracher­ werbs in der generativen Grammatik. Eine Bemer­ kung zum Verhältnis von Sprachtheorie und Psy­ cholinguistik. Der Deutschunterricht 42, 5, 8–18. Cube, F. von (1965): Kybernetische Grundlagen des Lehrens und Lernens. Stuttgart: Klett. Damasio, A. (1994): Descartes’ Error. New York: Grosset/Putnam. – Dt. (41999): Descartes Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München: dtv. Damasio, A. (2003): Looking for Spinoza: Joy, Sorrow and the Feeling Brain. New York: Minerva. – Dt. (2005): Der Spinoza-Effekt: Wie Gefühle unser Le­ ben bestimmen. Berlin: List. Dannenbauer, F. M. (2001): Spezifische Sprachent­ wicklungsstörung. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopä­ die: Bd. 2: Erscheinungsformen und Störungsbil­ der (48–74). Stuttgart: Kohlhammer. Dannenbauer, F. M. (2003): Grundlagen der Sprach­ therapie bei spezifischer Sprachentwicklungsstö­ rung. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie: Bd. 4: Be­ ratung, Therapie und Rehabilitation (159–177). Stuttgart: Kohlhammer.



Literatur   485

Dannenbauer, F. M. & Kotten-Sederqvist, A. (1990): Sebastian lernt Subj+Mod+XY+V(inf): Bericht von einer entwicklungsproximalen Sprachtherapie mit einem dysgrammatisch sprechenden Kind. Vier­ teljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nach­ bargebiete (VHN) 59,1, 27–45. Dannenbauer, F. M. & Künzig, A. (1991): Aspekte der entwicklungsproximalen Sprachtherapie und des Therapeutenverhaltens bei entwicklungsdysphasi­ chen Kindern. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Hand­ buch der Sprachtherapie, Bd. 4: Störungen der Grammatik (167–190). Berlin: Marhold. de Bleser, R. (2003): Aufbau und Funktionen der Sprache. In: Karnath, H-O. & Thier, P. (Hrsg.): Neuropsychologie (340–345). Heidelberg: Sprin­ ger. Denhardt, R. (1890): Das Stottern. Eine Psychose. Leipzig: Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger. Derrida, J. (1967): De la grammatologie. Paris: Mi­ nuit. – Dt. (2003): Grammatologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Descartes, R. (1637): Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la verité dans les sciences. Leiden: Maire. – Dt. (1997): Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Hamburg: Meiner. Dilthey, W. (1890): Deskription des Erziehers in sei­ nem Verhältnis zum Zögling. In: Kluge, N. (Hrsg.) (1973): Das pädagogische Verhältnis. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Duchan, J. (2009a): Speech disorders. In: Burch, S. (Ed.): Encyclopedia of American Disability Histo­ ry. Facts on file. Duchan, J. (2009b): Getting Here: A short history of Speech Pathology in America. URL: http://www. acsu.buffalo.edu/~duchan/history.html. Eckert, A. R. (1985): Auswirkungen psychomotori­ scher Förderung bei sprachbehinderten Kindern. Frankfurt a. M.: Lang. Engels, F. (1884): Der Ursprung der Familie, des Pri­ vateigentums und des Staats. Zürich: Schweizeri­ sche Volksbuchhandlung. Fauconnier, G. & Turner, M. (2002): The way we think: Conceptual blending and the mind’s hidden complexities. New York: Basic Books. Flitner, W. (1963): Das Selbstverständnis der Erzie­ hungswissenschaft in der Gegenwart. Heidelberg: Quelle und Meyer. Foerster, H. v. (52000): Entdecken oder Erfinden. Wie lässt sich Verstehen verstehen? In: Gumin, H. & Meier, H. (Hrsg.): Einführung in den Konstrukti­ vismus (41–88). München: Piper. Fox, A. V. & Dodd, B. J. (1999): Der Erwerb des pho­ nologischen Systems in der deutschen Sprache. Sprache – Stimme – Gehör 23, 4, 183–191.

Freinet, C. (31973): La Méthode Naturelle I. L’Ap­ prentissage de la Langue. Neuchatel: Delachaux et Niestlé. Freire, P. (1973): Pädagogik der Unterdrückten. Ham­ burg: Rowohlt. Freud, S. (1995 [i. O. 1923]): Analyse der Phobie eines 5jährigen Knaben. Frankfurt a. M.: Fischer. Friederici, A. D. (2002): Neurobiologische Grund­ lagen der Sprache. In: Karnath, H-O. & Thier, P. (Hrsg.): Neuropsychologie (367–377). Heidelberg: Springer. Fröschels, E. (1913): Lehrbuch der Sprachheilkunde (Logopädie) für Ärzte, Pädagogen und Studieren­ de. Wien: Deuticke. Froeschels, E. (1945): About the name and some pa­ thologic functions of the „Unconscious“. Journal of Clinical Psychotherapy 7, 2, 273–279. Froeschels, E. (1952): Chewing method as therapy. AMA Archives of Otolaryngology 56, 427–434. Führing, M., Lettmayer, O., Elstner, W. & Lang, H. (1951, 61976): Die Sprachfehler des Kindes und ihre Beseitigung. Wien: Österreichischer Bundesverlag. Füssenich, I. (1983): Der neue Terminus: Pragmatik, linguistische. Sonderpädagogik 13, 2, 93–95. Füssenich, I. (1987): Gestörte Kindersprache aus in­ teraktionistischer Sicht. Heidelberg: Schindele. Füssenich, I. (1999): Semantik. In: Baumgartner, S. & Füssenich, I. (Hrsg.): Sprachtherapie mit Kindern. Grundlagen und Verfahren. München: Reinhardt. Gallese, V., Keysers, C. & Rizzolatti, G. (2004): A unifying view of the basis of social cognition. Trends in Cognitive Sciences 8, 9, 396–403. Galperin, P. J. (1969): Zur Untersuchung der intellek­ tuellen Entwicklung des Kindes. Sowjetwissen­ schaft: Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge 22, 12, 1270–1283. Gillam, R., McFadden, T. & van Kleek, A. (1995): Im­ proving narrative abilities: Whole language and language skills approaches. In: Fey, M., Wind­ sor, J. & Warren, S. (Eds.): Language intervention: Preschool through the elementary years (Vol. 5). Baltimore (MD): Paul Brookes. Goldstein, K. (1948): Language and language distur­ bances. New York: Grune and Stratton. Glück, C. (1998): Kindliche Wortfindungsstörungen. Frankfurt a. M.: Lang. Glück, C. (2003): Semantisch-lexikalische Störungen bei Kindern und Jugendlichen. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie: Bd 4.: Beratung, Therapie und Rehabi­ litation (178–184). Stuttgart: Kohlhammer. Grimm, H. (1995): Spezifische Störung der Sprach­ entwicklung. In: Oerter, R. & Montada, L. (Hrsg.): Entwicklungspsychologie (943–953). Weinheim: Beltz.

486 

Sprachdidaktiktheorie

Grohnfeldt, M. (1981): Handlungstheoretische As­ pekte in der Sprachbehindertenpädagogik. In: Grohnfeldt, M. & Schoor, U. (Hrsg.): Sonderpäda­ gogisches Handeln in der Sprachbehindertenpäda­ gogik (21–33). Berlin: Carl Marhold. Gudjons, H. (1986): Handlungsorientiert lehren und lernen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Gundermann, H. (1994): Die Kommunikative Stimm­ therapie. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Handbuch der Sprachtherapie, Bd.7: Stimmstörungen (157–171). Berlin: Marhold. Gutzmann, A. (1879): Das Stottern und seine gründ­ liche Beseitigung durch ein methodisch geordnetes und praktisch erprobtes Verfahren. Berlin: Elwin Staude. Gutzmann, H. sen. (1912): Sprachheilkunde. Vorle­ sungen über die Störungen der Sprache mit beson­ derer Berücksichtigung der Therapie. Berlin: Kron­ feld. Habermas, J. (1979): Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habermas, J. (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1: Handlungsrationalität und ge­ sellschaftliche Rationalisierung; Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hacker, D. (1992): Phonologie. In: Baumgartner, S. & Füssenich, I. (Hrsg.): Sprachtherapie mit Kindern (13–62). München: Reinhardt. Hacker, D. (2003): S-Bahn ist keine Essbahn – Kri­ tische Anmerkungen zum Training phonologi­ scher Bewusstheit. In: Lüdtke, U. (Hrsg.): Fokus: MENSCH. Subjektzentrierte Unterrichts- und Therapiemodelle in der Sprachbehindertenpäda­ gogik (141–154). Würzburg: von freisleben. Heidtmann, H. (1983): Theorien kommunikativer Kompetenz und ihre Bedeutung für die Sprach­ behindertenpädagogik. Die Sprachheilarbeit 28, 1, 17–21. Heidtmann, H. (1990): Die Bedeutung der vorsprach­ lichen Kommunikation für die Sprachentwicklung – Bruners interaktionistischer Ansatz. Der Sprach­ heilpädagoge 22, 3, 1–35. Heimann, P., Otto, G. & Schulz, W. (1965): Unterricht – Analyse und Planung. Hannover: Schroedel. Holtz, A. (1983): Themen, Thesen, Theorien in der Sprachbehindertendidaktik. Die Sprachheilarbeit 28, 2, 69–78. Homburg, G. (1978): Die Pädagogik der Sprachbehin­ derten. Heidelberg: Schindele. Homburg, G. & Lüdtke, U. (2003): Zur Komplexität sprachtherapeutischen Handelns. Sprachheilpäd­ agogische Therapietheorie: Die Kunst der Balance in einem dreidimensionalen theoretischen Raum. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprach­

heilpädagogik und Logopädie: Bd. 4: Beratung, Therapie und Rehabilitation (114–133). Stuttgart: Kohlhammer. Horkheimer, M. (1979): Traditionelle und kritische Theorie. Frankfurt a. M.: Fischer. Horsch, U. & Werner, L. (1982): Kommunikations­ theoretische Überlegungen zur Therapieimma­ nenz bei sprachbehinderten Schülern. Die Sprach­ heilarbeit 27, 3, 138–148. Husserl, E. (1993 [i. O. 1913]): Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philo­ sophie. Erstes Buch: Allgemeine Einfüh­rung in die reine Phänomenologie. Tübingen: Nie­meyer. Jahn, T. (2001): Phonologische Störungen bei Kin­ dern. Stuttgart: Thieme. Jakobson, R. (1941): Kindersprache, Aphasie und all­ gemeine Lautgesetze. Uppsala: Almqvist & Wiksell. Jantzen, W. (2004): Sprache, Bewusstsein und Tätig­ keit – Methodologische Bemerkungen. In: Lüdt­ ke, U. (Hrsg.): Fokus: MENSCH. Subjektzentrierte Unterrichts- und Therapiemodelle in der Sprach­ behindertenpädagogik (155–172). Würzburg: von freisleben. Jetter, K. (1985): Was ist Kooperative Pädagogik? Be­ hinderte in Familie, Schule und Gesellschaft 8, 1, 2–13. Johnson, D. J. & Myklebust, H. (1967): Learning disa­ bilities: Educational principles and remedial ap­ proaches. New York: Grune & Stratton. Katz-Bernstein, N. (1987): Aufbau der Sprach- und Kommunikationsfähigkeit bei redeflussgestörten Kindern. Luzern: Edition SZH. Katz-Bernstein, N. (2003): Therapie aus pädagogi­ scher Sicht. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie: Bd. 4: Beratung, Therapie und Rehabilitation (66–90). Stuttgart. Katz-Bernstein, N. (22007): Selektiver Mutismus bei Kindern: Erscheinungsbilder, Diagnostik, Thera­ pie. München: Reinhardt. Katz-Bernstein, N. & Subellok, K. (2002): Gruppen­ therapie mit stotternden Kindern und Jugendli­ chen. Konzepte für die sprachtherapeutische Pra­ xis. München: Reinhardt. Kauschke, C. (2000): Der Erwerb des frühkindlichen Lexikons – Eine empirische Studie zur Entwick­ lung des Wortschatzes im Deutschen. Tübingen: Narr. Kauschke, C. (2007): Sprache im Spannungsfeld von Erbe und Umwelt. Die Sprachheilarbeit 25, 1, 4–16. Keller, P. (1973): Sprachliche Kommunikation bei sprachbehinderten Schülern. Die Sprachheilarbeit 18, 3, 65–83. Kilens, K. (1982): Die Behandlung von Sprachent­ wicklungsstörungen. In: Knura, G. & Neumann,



Literatur   487

B. (Hrsg.): Handbuch der Sonderpädagogik, Bd. 7: Pädagogik der Sprachbehinderten (174–208). Ber­ lin: Marhold. Klafki, W. (1963): Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim: Beltz. Klafki, W. (1976): Aspekte kritisch-konstruktiver Er­ ziehungswissenschaft. Weinheim: Beltz. Klafki, W. (1980): Die bildungstheoretische Didaktik im Rahmen kritisch-konstruktiver Erziehungswis­ senschaft. Westermanns Pädagogische Beiträge 32, 1, 32–37. Klann-Delius, G. (22008): Spracherwerb. Stuttgart: Metzler. Klein, M. (1962): Das Seelenleben des Kleinkindes. Stuttgart: Klett. Kleinert-Molitor, B. (1989): Das Spielgeschehen als Sprachlernort – Psychomotorisch orientierte Sprach­ entwicklungsförderung. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Handbuch der Sprachtherapie. Bd. 1: Grundlagen der Sprachtherapie (222–250). Berlin: Marhold. Klingberg, L. (51982): Einführung in die Allgemeine Didaktik. Vorlesungen. Berlin: Volk und Wissen. Knebel, U. v. (2004): Sprachheilpädagogik als Wis­ senschaft pädagogischer Praxis. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie, Bd. 5: Bildung, Erziehung und Unter­ richt (69–87). Stuttgart: Kohlhammer. Knura, G. (1982): Grundfragen der Sprachbehin­ dertenpädagogik. In: Knura, G. & Neumann, B. (Hrsg.): Handbuch der Sonderpädagogik, Bd. 7: Pädagogik der Sprachbehinderten (3–67). Berlin: Marhold. Kussmaul, A. (1877): Die Störungen der Sprache. Leipzig: von F. C. W. Vogel. Kristeva, J. (1986): The system and the speaking sub­ ject. In: Moi, T. (Ed.): The Kristeva Reader (24–33). New York: Columbia University Press. Kristeva, J. (1998): The subject in process. In: ffrench, P. & Lack, R.-F. (Eds.): The Tel Quel Reader (133– 178). London: Routledge. Kristeva, J. (2002): Revolution in poetic language. In: Oliver, K. (Ed.): The portable Kristeva. European perspectives: A series in social thought & cultural criticism (27–92). New York: Columbia University Press. – Dt.: (2008): Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Küspert, P. & Schneider, W. (2003): Hören, Lauschen, Lernen. Sprachspiele für Vorschulkinder. Göttin­ gen: Vandenhoeck & Ruprecht. Labov, W. (1972): Sociolinguistic patterns. Philadel­ phia: University of Pennsylvania Press. Lacan, J. (1973): Schriften I. Olten: Walter. Lakoff, G. & Johnson, M. (1999): Philosophy in the flesh: The embodied mind and its challenge to we­ stern thought. New York: Basic Books.

Lenneberg, E. (1972): Biologische Grundlagen der Sprache. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Leonard, L. B. (1998): Children with specific language impairment. Cambridge (MA): MIT. Leont’ev, A. N. (1971): Sprache – Sprechen – Sprechtä­ tigkeit. Stuttgart: Kohlhammer. Leont’ev, A. N. (1973): Probleme der Entwicklung des Psychischen. Frankfurt a. M.: Fischer. Leont’ev, A. N. (1979): Tätigkeit, Bewusstsein, Per­ sönlichkeit. Berlin: Volk und Wissen. Levelt, W. J. M. (1989): Speaking: From intention to articulation. Cambridge (MA): MIT. Lüdtke, U. (2003): Aktuelle Herausforderungen an die Sprachheilpädagogik: Forschung – Praxis – Lehre. Ein Beitrag zur Einheit des Faches. Die Sprachheilarbeit 48, 140–150. Lüdtke, U. (2004): Emotionen im Unterricht – The­ orie und Praxis einer Relationalen Didaktik im Förderschwerpunkt Sprache. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie, Bd. 5: Bildung, Erziehung und Unter­ richt (106–126). Stuttgart: Kohlhammer. Lüdtke, U. (2006a): Sprache und Emotion. Linguisti­ sche, neurowissenschaftliche und didaktische Re­ lationen. Die Sprachheilarbeit 51, 60–75. Lüdtke, U. (2006b): Intersubjektivität und Intertex­ tualität: Neurowissenschaftliche Evidenzen für die enge Relation zwischen sprachlicher und emotio­ naler Entwicklung. Sonderpädagogische Förde­ rung 51, 3, 11–23. Lüdtke, U. (2010): Vorschulische Sprachdiagnostik und Sprachförderung in den USA – Impulse ei­ ner internationalen Vergleichsuntersuchung für die bildungspolitische Planung in Deutschland. In: dgs-Westfalen-Lippe e. V. (Hrsg.): Zur Sprache bringen. Disziplinen im Dialog, 183–188. Lüdtke, U. (2011): Relational emotions in semiotic and linguistic development: Towards an intersubjective theory of language learning and language therapy. In: Zlatev, J., Foolen, A., Racine, T. & Lüdtke, U. (Eds.): Moving ourselves, moving others: Motion and emotion in intersubjectivity, consciousness, and language. Consciousness and Emotion Series: Amsterdam: Benajmins. Lüdtke, U. & Bahr, R. (2002): Verstehende Diagnos­ tik individueller Sprachentwicklungsprozesse: Au­ ßensichten und Innensichten. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie, Bd. 3: Diagnostik, Prävention und Eva­ luation (129–147). Stuttgart: Kohlhammer. Lüdtke, U., Beta, K. & Degenhardt, T. (2003): „Fremde sind wir uns selbst.“ Interkulturelle Erfahrungen und sprachbehindertenpädagogische Professionalisie­ rung in einer konstruktivistisch orientierten Hoch­ schuldidaktik. Die Sprachheilarbeit 48, 5, 200–211.

488 

Sprachdidaktiktheorie

Lüdtke, U. & Frank, B. (2007): Die Sprache der Ge­ fühle – Gefühle in der Sprache. Ausdruck, Ent­ wicklung und pädagogische Regulation von Emo­ tionen am Beispiel der Jugendsprache. In: Arnold, R. & Holzapfel, G. (Hrsg.): Emotionen und Lernen. (119–142). Hohengehren: Schneider. Lurija, A. R. (1969): Die Entwicklung der Sprache und die Entstehung der psychischen Prozesse. In: Hiebsch, H. (Hrsg.): Ergebnisse der sowjetischen Psychologie (465–530). Stuttgart: Klett. Lurija, A. R. (1982): Sprache und Bewusstsein. Köln: Pahl-Rugenstein. Makarenko, A. S. (1964): Werke, Bd. 5: Allgemeine Fragen der pädagogischen Theorie. Berlin: Volk und Wissen. Malone, R. (1999). The first 75 years: An oral history of the American-Speech-Language-Hearing Asso­ ciation. Washington, DC: American Speech-Lan­ guage and Hearing Association. Martin, D. (2000): Teaching children with speech and language difficulties. London. Martin, D. & Miller, C. (2003): Speech and language difficulties in the classroom. London. Marx, K. (1859): Zur Kritik der politischen Ökono­ mie. Berlin: Duncker. Maturana, H. R. & Varela, F. J. (1987): Der Baum der Erkenntnis. München: Schwerz. McGinty, A. S. & Justice, L. M. (2006): Classroombased versus pullout speech-language interven­ tion: A review of the experimental evidence. EBP Briefs 1, 1, 1–25. Merritt, D. D. & Culatta, B. (1998): Language inter­ vention in the classroom. San Diego. Möller, C. (51989): Die curriculare Didaktik. In: Gud­ jons, H., Teske, R. & Winkel, R. (Hrsg.): Didakti­ sche Theorien (63–77). Hamburg: Bergmann + Helbig. Moor, P. (1965): Heilpädagogik – Ein pädagogisches Lehrbuch. Bern: Haupt. Moore, P. & Kester, D. (1953): Historical notes on speech correction in the pre-association era. Jour­ nal of Speech and Hearing Disorders 18, 1, 48– 53. Morton, J. (1969): Interaction of information in word recognition. Psychological Review 76, 2, 165– 178. Motsch, H.-J. (1996): Sprach- oder Kommunikations­ therapie? Kommunikationstheoretische Grund­ lagen eines geänderten sprachtherapeutischen Selbstverständnisses. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Handbuch der Sprachtherapie. Bd. 1: Grundlagen der Sprachtherapie (73–95). Berlin: Marhold. Motsch, H.-J. (2006): Kontextoptimierung. Förde­ rung grammatischer Fähigkeiten in Therapie und Unterricht. München: Reinhardt.

Motsch, H.-J. & Berg, M. (2003): Therapie grammati­ scher Störungen. Interventionsstudie zur Kontext­ optimierung. Die Sprachheilarbeit 48, 4, 151– 156. Motsch, H.-J. & Riehemann, S. (2008): Grammatische Störungen mehrsprachiger Schüler. Interventions­ studie zum Therapieziel Kasus. Die Sprachheilar­ beit 53, 1, 15–25. Nagy, E. & Molnár, P. (2004): Homo imitans or homo provocans? Human imprinting model of neonatal imitation. Infant Behaviour and Development 27, 54–63. Naremore, R., Densmore, A. & Harman, D. (2001): Assessment and treatment of school-age language disorders. A resource manual. San Diego. Neill, A. S. (1965): Theorie und Praxis der antiautori­ tären Erziehung – Das Beispiel Summerhill. Mün­ chen: Szczesny. Neisser, U. (1967): Cognitive Psychology. New York: Meredith. Nelson, K. (1974): Concept, word and sentence: Inter­ relations in acquisition and development. Psycho­ logical Review 81, 4, 267–284. Nelson, K. (1985): Making sense: The acquisition of shared meaning. Orlando (FL): Academic Press. Nohl, H. (1963): Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. Frankfurt a. M.: Schulte-Bulmke. Olbrich, I. (1989): Die integrierte Sprach- und Bewe­ gungstherapie. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Grund­ lagen der Sprachtherapie. Handbuch der Sprach­ therapie. Bd. 1 (252–265). Berlin: Marhold. O’Neill, J. J. (1987): The development of speech-lan­ guage pathology and audiology in the United Sta­ tes. In: H. Oyer (Ed.): Administration of programs in speech-language pathology and audiology. Englewood Cliffs (NJ): Prentice Hall. Orthmann, W. (1969): Zur Struktur der Sprachge­ schädigtenpädagogik. Berlin: Marhold. Orthmann, W. (1975): Das sprachliche Kommuni­ kationsfeld der Schule als Mittel der Rehabilitati­ on. In: Lotzmann, G. (Hrsg.): Sprachrehabilitation durch Kommunikation (9–26). München: Rein­ hardt. Orthmann, W. (1977): Didaktische und methodische Maßnahmen der Rehabilitation Sprachbehinder­ ter. Der Sprachheilpädagoge 9, 4, 12–26. Orthmann, W. (1982): Geschichte der Sprachbehin­ dertenpädagogik. In: Knura, G. & Neumann, B. (Hrsg.): Handbuch der Sonderpädagogik, Bd. 7: Pädagogik der Sprachbehinderten (67–94). Berlin: Marhold. Osgood, C. E., Suci, G. & Tannenbaum, P. (1957): The Measurement of Meaning. Illinois: University of Illinois Press.



Literatur   489

Panksepp, J. (1998): Affective Neuroscience. The foundations of human and animal emotions. Ox­ ford: Oxford University Press. Panksepp, J. (2003): At the interface between the affective, behavioral and cognitive neuroscien­ ces. Decoding the emotional feelings of the brain. Brain and Cognition 52, 1, June, 4–14. Panksepp, J. (2001): The long-term psychobiological consequences of infant emotions: Prescriptions for the 21st century. Infant Mental Health Journal 22, 132–173. Panksepp, J. (2007): Can play diminish ADHD and facilitate the construction of the social brain? Jour­ nal of the Canadian Academy of Child and Adole­ scent Psychiatry 16, 2, 57–66. Papoušek, M. (1994): Vom ersten Schrei zum ersten Wort: Anfänge der Sprachentwicklung in der vor­ sprachlichen Kommunikation. Bern: Huber. Papoušek, M. & Papoušek, H. (1989): Stimmliche Kommunikation im frühen Säuglingsalter als Wegbereiter der Sprachentwicklung. In: Keller, H. (Hrsg.): Handbuch der Kleinkindforschung (465– 489). Berlin: Springer. Pavlov, I. P. (1927): Conditioned Reflexes: An investi­ gation of the physiological activity of the cerebral cortex (translated by G. V. Anrep). Oxford: Oxford University Press. Penner, Z. & Kölliker-Funk, M. (1998): Therapie und Diagnose von Grammatikerwerbsstörungen: Ein Arbeitsbuch. Luzern: Edition SZH/SPC. Peirce, C. S. (1931–1958): Collected Papers of Charles Sanders Peirce. Edited by Hartshorne, C., Weiss, P. & Burks, A. Cambridge (MA). Bristol: Thoemmes. Piaget, J. (1969a): Nachahmung, Spiel und Traum. Die Entwicklung der Symbolfunktion beim Kinde. Stuttgart: Klett. Piaget, J. (1969b): Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde. Stuttgart: Klett. Piaget, J. (1972 [i. O. 1923]): Sprechen und Denken des Kindes. Düsseldorf: Schwann. Piaget, J. & Inhelder, B. (1977): Die Psychologie des Kindes. Frankfurt a. M.: Fischer. Pinker, S. (1985): Language learnability and children’s language: A multifaceted approach. In: Nelson, K. (Ed.): Children’s Language. Vol. 5 (399–442). Hills­ dale: Erlbaum. Pinker, S. (1995): The language instinct. The new sci­ ence of language and mind. London: Penguin. – Dt. (1996): Wie der Geist die Sprache bildet. Mün­ chen: Kindler. Popper, K. R. (1966): Logik der Forschung. Tübingen: Mohr. Prigogine, I. (1998): Die Gesetze des Chaos. Frank­ furt a. M.: Insel. Rees, N. (1983): Language intervention with children. In: J. Miller, Yoder, D. & Schiefelbusch, R. (Eds.):

Contemporary issues in language intervention. Rockville (MD): The American Speech-LanguageHearing Association (ASHA). Reich, K. (32000): Systemisch-konstruktivistische Pä­ dagogik. Einführung in Grundlagen einer interak­ tionistisch-konstruktivistischen Pädagogik. Neu­ wied: Luchterhand. Reich, K. (2002): Konstruktivistische Didaktik. Leh­ ren und Lernen aus interaktionistischer Sicht. Neuwied: Luchterhand. Remmler, S. (1975): Vergleichende Untersuchungen zur Morphologie und Syntax 5- bis 6-jähriger nor­ malsprechender und agrammatisch Sprechender. Inauguraldissertation. Humboldt-Universität Ber­ lin. Rizzolatti, G. & Arbib, M. (1998): Language within our grasp. Trends in Neurosciences 21, 188–194. Roth, H. (1957): Pädagogische Psychologie des Leh­ rens und Lernens. Hannover: Schroedel. Rothe, K. C. (1929): Die Umerziehung. Die heilpäda­ gogische Behandlung schwererziehbarer, entgleis­ ter und stotternder Kinder und Jugendlicher. Halle a. S.: Marhold. Rothweiler, M. (2002): Spracherwerb. In: Meibau­ er, J., Demske, U., Geilfuß-Wolfgang, J., Pafel, J., Ramers, K. H., Rothweiler, M. & Steinbach, M. (Hrsg.): Einführung in die germanistische Lingu­ istik (251–293). Stuttgart: Metzler. Romonath, R. (2007): Speech-language pathology. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lexikon der Sprachthera­ pie (290–291). Stuttgart: Kohlhammer. Ruthrof, H. (1997): Semantics and the body: Meaning from Frege to the postmodern. Toronto: University of Toronto Press. Ruthrof, H. (2000): The body in language. London: Cassell. Saussure, F. de (1916): Cours de linguistique générale. Paris. – Dt. (1931): Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin: de Gruyter. Schäfer, K.-H. & Schaller, K. (1971): Kritische Erzie­ hungswissenschaft und kommunikative Didaktik. Heidelberg: Quelle & Meyer. Schönberger F. (31987) (Hrsg.): Kooperative Didaktik. Stadthagen: Pätzold. Scholz, H.-J. (1969): Zur Phonologie gestammelter Sprache. Die Sprachheilarbeit 14, 4–11. Scholz, H.-J. (1980): Sprachwissenschaftliche As­ pekte. In: Knura, G. & Neumann, B. (Hrsg.): Hand­ buch der Sonderpädagogik. Bd. 7: Pädagogik der Sprachbehinderten (621–652). Berlin: Marhold. Schore, A. N. (1994): Affect regulation and the origin of the Self: The neurobiology of emotional develop­ ment. Hillsdale (NJ): Erlbaum. Schore, A. N. (2003): Affect regulation and the repair of the Self. New York: Norton.

490 

Sprachdidaktiktheorie

Schwarz-Friesel, M. (2007): Sprache und Emotion. Tübingen und Basel: Francke. Schwarz, M. (32008): Einführung in die kognitive Linguistik. Tübingen: Francke. Searle, J. R. (1969): Speech acts. Cambridge: Cam­ bridge University Press. – Dt. (1971): Sprechakte: Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Seemann, M. (1974): Sprachstörungen bei Kindern. Berlin: Volk und Gesundheit. Seiffert, H. (2008): Wie therapeutisch ist der sprach­ therapeutische Unterricht? Dimensionen sprach­ bezogener Interventionen im Unterricht bei Schülern mit dem Förderbedarf Sprache. Die Sprachheilarbeit 53, 3, 147–153. Skinner, B. F. (1957): Verbal behavior. New York: ­Appleton-Century-Crofts. Siegmüller, J. & Kauschke, C. (2006): Patholinguisti­ sche Therapie bei Sprachentwicklungsstörungen. Elsevier: Urban & Fischer. Speake, J. (2003): How to identify and support child­ ren with speech and language difficulties. Wis­ bech: LDA. Stamenov, M. & Gallese, V. (Eds.) (2002): Mirror neurons and the evolution of brain and language. Amsterdam: Benjamins. Throneburg, R. N., Calvert, L. K., Sturm, J. J., Param­ boukas, A. A. & Paul, P. J. (2000): A comparison of service delivery models: Effects of curricular voca­ bulary skills in the school setting. American Jour­ nal of Speech-Language Pathology 9, 10–20. Tomasello, M. (1992): The social bases of language ac­ quisition. Social Development 1, 1, 67–87. Tomasello, M. & Farrar, M. J. (1986): Joint atten­ tion and early language. Child Development 57, 6, 1454–1463. Trevarthen, C. (1993): The function of emotions in early infant communication and development. In: Nadel, J. & Camaioni L. (Eds.): New perspectives in early communicative development (48–81). Lon­ don: Routledge. Trevarthen, C. (1999): Intersubjectivity. In: Wilson, R. & Keil, F. (Eds.). The MIT encyclopedia of co­ gnitive sciences (413–416). Cambridge (MA): MIT. Trevarthen, C. (2001a): The neurobiology of ear­ ly communication: Intersubjective regulations in human brain development. In: Kalverboer, A. F. & Gramsbergen, A. (Eds.): Handbook on brain and behavior in human development (841–882). Dordrecht: Kluwer. Trevarthen, C. (2001b): Intrinsic motives for com­ panionship in understanding: Their origin, de­ velopment and significance for infant mental health. Infant Mental Health Journal 22, 1–2, 95– 131.

Trevarthen, C. (2004a): How infants learn how to mean. In: Tokoro, M. & Steels, L. (Eds.): A learning zone of one’s own. (SONY Future of Learning Se­ ries) (37–69). Amsterdam: IOS. Trevarthen, C. (22004b): Language development: Me­ chanisms in the brain. In: Adelman, G. & Smith, B. H. (Eds.): Encyclopedia of neuroscience (with CD-ROM). Amsterdam: Elsevier. Trevarthen, C. (2005): Action and emotion in deve­ lopment of the human self, its sociability and cul­ tural intelligence: Why infants have feelings like ours. In: Nadel, J. & Muir, D. (Eds.): Emotional development (61–91). Oxford: Oxford University Press. Trevarthen, C., Aitken, K. J., Papoudi, C. & Robarts, J. Z. (21998): Children with Autism: Diagnosis and interventions to meet their needs. London: Jessica Kingsley. Trubetzkoy, N. S. (1939): Grundzüge der Phonolo­ gie (Travaux du Cercle Linguistique de Prague, 7). Prag: Polygrafie v. Brnĕ. Valdez, F. M. & Montgomery, J. K. (1997): Outcomes from two treatment approaches for children with communication disorders in Head Start. Journal of Children’s Communication Development 18, 65–71. Van Riper, C. (1939): Speech correction, principles and methods. New York: Prentice-Hall. Van Riper, C. & Irwin, J. (21976 [i. O. 1970]): Artikula­ tionsstörungen. Berlin: Marhold. Vygotskij, L. S. (1993): The fundamentals of defec­ tology. Collected works, Vol. 2. Edited by Rieber, R. W. & Carton, A. S. New York: Plenum Press. Vygotskij, L. S. (1999): Tool and sign in the develop­ ment of the child. In: Collected works, Vol. 6: Sci­ entific legacy. Edited by Rieber, R. W. & Carton, A. S. New York: Plenum Press. Vygotskij, L. S. (2002 [i. O. 1934]): Denken und Spre­ chen. Weinheim: Beltz. Weigt, R. (1997): Grundlagen der Sprachbehinder­ tendidaktik. Neuwied: Luchterhand. Welling, A. (1995): Didaktik – Eine Herausforderung an die Sprachbehindertenpädagogik. In: Grohn­ feldt, M. (Hrsg.): Handbuch der Sprachtherapie, Bd. 8: Sprachstörungen im sonderpädagogischen Bezugssystem (38–59). Berlin: Marhold. Welling, A. (2004): Kooperative Sprachdidaktik als Konzept sprachbehindertenpädagogischer Praxis. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprach­ heilpädagogik und Logopädie, Bd. 5 (127–146). Stuttgart: Kohlhammer. Werner, L. (1972): Zur Integration sprachtherapeuti­ scher Maßnahmen in das Planungsmodell für Un­ terricht der Berliner Schule. Die Sprachheilarbeit 17, 3, 87–92.



Literatur   491

Werner, L. (1975): Therapieimmanenz in der Schule für Sprachgeschädigte. Die Sprachheilarbeit 20, 3, 77–83. Westrich, E. (1974): Der Stammler. Bonn-Bad Godes­ berg: Dürr. Winnicott, D. (1969): Übergangsobjekte und Über­ gangsphänomene. Eine Studie über den ersten, nicht zum Selbst gehörenden Besitz. Psyche 23, 9, 666–682. Zlatev, J., Foolen, A., Racine, T. & Lüdtke, U. (Eds.) (2011): Moving ourselves, moving others: Motion

and emotion in intersubjectivity, consciousness, and language. Consciousness and Emotion Series. Amsterdam: Benjamins. Zollinger, B. (1995): Die Entdeckung der Sprache. Bern: Haupt. Zollinger, B. (2000): Wenn Kinder die Sprache nicht entdecken. Einblicke in die Praxis der Sprachthe­ rapie. Bern: Haupt. Zuckrigl, A. (1964): Sprachschwächen. Villingen: Ne­ ckar-Verlag.

Bildung und Erziehung Ulrich von Knebel

1 Bildung und Erziehung im fachgeschichtlichen Diskurs der Sprachbehinderten­ pädagogik Wie fachgeschichtliche Analysen zeigen, sind Bildung und Erziehung von Menschen mit Beeinträchtigung der Sprache oder des Spre­ chens innerhalb der Sprachbehindertenpä­ dagogik immer wieder thematisiert worden. Dabei lassen sich zwei zeitliche Schwerpunk­ te erkennen: In den 70er Jahren des vergange­ nen Jahrhunderts bemühten sich erstens eini­ ge Fachvertreter verstärkt um eine Loslösung vom medizinisch-kausalen Denkmodell und betonten die Notwendigkeiten einer Sicht auf den ganzen Menschen und seiner Erziehung und Bildung, anstatt nur an sprachlich-spre­ cherischen Symptomen zu arbeiten. Häufig formulierte Forderungen dieser Zeit waren mit Orientierung an der Allgemeinen Heilpä­ dagogik „Personorientierung“, „Ganzheitlich­ keit“, etwas später auch „Umfeldorientierung“ und „Berücksichtigung subjektiven Erlebens“ (von Knebel 2000, 164). Nur ganz wenige Fachvertreter (insbesondere Orthmann 1971) forderten darüber hinaus sogar eine ausdrück­ liche Fundierung der Sprachheilpädagogik auf der Basis einer Allgemeinen Erziehungs­ wissenschaft. Diese Forderung wurde aber in jener Zeit nicht nur nicht eingelöst, vielmehr fehlen Belege für eine ernsthafte Arbeit an die­ ser Aufgabe. Während in den Folgejahren sprachwis­ senschaftlich ausgerichtete und spracher­ werbstheoretisch begründete Beiträge die fachliche Diskussion prägten, verloren päd­ agogische Fragestellungen zunächst an Be­ deutung. Von den 1990er Jahren an bis in die Gegenwart hinein zeichnet sich ein zweiter

Schwerpunkt pädagogischer Bemühungen ab, in denen Prozesse der Bildung und Erzie­ hung von Menschen mit Sprachbeeinträch­ tigung wieder gehäuft thematisiert werden. Zwar besteht heute ein weitgehender Konsens darüber, dass sich die Sprachbehindertenpä­ dagogik als pädagogische Teildisziplin mit Bildung und Erziehung zu befassen hat. Zu­ gleich ist mit Baumgartner (1994, 2004) aber auch festzustellen, dass dieser Anspruch oft­ mals unerfüllt bleibt. In seiner Einführung in die Sprachbehindertenpädagogik zeichnet Welling (2006) die Vielfalt des praktischen Umgehens mit diesem Anspruch nach: Dem­ nach ignorieren ihn einige Fachvertreter und begnügen sich mit sprachpathologischen Be­ trachtungen, andere sehen ihn durch eine Betrachtung von Institutionen erfüllt, man­ che betonen die Notwendigkeit einer päda­ gogischen Orientierung, überlassen sie aber der praktischen Umsetzung, und wieder an­ dere arbeiten an einer ausdrücklich pädago­ gischen Verankerung wie der zitierte Autor selbst (Welling 2006, 181 ff.; vgl. weiterfüh­ rend Baumgartner et al. 2004).

2 Bildung und Erziehung als erziehungswissenschaftliche Begriffe Wie Braun (2004, 35) feststellt, werden die Bedeutungen von Bildung und Erziehung sehr unterschiedlich gefasst. Mit Verweis auf überwiegend sprachbehindertenpädagogische Quellen unterscheidet er Ausdeutungen von Bildung und Erziehung als „Umerziehung“, als „Aneignung“, als „Verhaltensänderung“, als „Interaktion und Kommunikation“, als „dia­



Bildung und Erziehung als aktuelle Aufgaben im ­Förderschwerpunkt Sprache   493

logischer Prozess“ und als „kommunikatives Handeln“. Dabei wird deutlich, dass derart un­ terschiedliche Bedeutungszuweisungen auch auf sehr unterschiedlichen theoretischen Fun­ dierungen beruhen. Im Folgenden wird eine Begriffsbestimmung vorgeschlagen, die aus­ drücklich erziehungswissenschaftlich begrün­ det ist und andernorts ausführlicher dargelegt wird (vgl. u. a. Welling 1999, 2006, von Knebel & Welling 2002, von Knebel 2000, 2004, von Knebel & Schuck 2007). Unter der Zielsetzung, den inhaltlichen Kern traditioneller pädagogischer Ansätze zu beschreiben, unterscheidet Benner (42001) drei erziehungswissenschaftliche Theorie­ felder und im Zusammenhang damit drei hauptsächliche erziehungswissenschaftliche Fragestellungen: 1. Theorien der Bildung befassen sich mit der Klärung von Aufgaben erzieherischer Ein­ flussnahme, also mit der Bestimmung des Zwecks und Ziels von Erziehung. Dabei werden Bildungsziele in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft sehr allgemein ge­ fasst, sie bestehen z. B. in der Handlungsfähigkeit, Geschäftsfähigkeit, Emanzipation, Freiheit und Selbstbestimmung des Subjekts. 2. Theorien der Erziehung fragen laut Benner nach „der richtigen Art und Weise des Um­ gangs mit Heranwachsenden“ (42001, 14). Sie befassen sich also weniger mit Inhal­ ten und Zielen, als vielmehr mit den We­ gen, die zu beschreiten sind, damit sich die zu Erziehenden in Richtung pädagogischer Zielsetzung verändern können und auch verändern wollen. Theorien der Erziehung zielen auf eine „Anleitung zur Gestaltung erzieherischer Situationen“ (42001). 3. Theorien pädagogischer Institutionen schließlich befassen sich mit Kriterien, die Institutionen erfüllen müssen, damit sie „geeignete Orte für pädagogisches Han­ deln“ (ebd., 9 f.) sein können. Gerade an­ gesichts des bildungspolitischen Wandels von der Institutionsorientierung zur per­ sonalen Orientierung, der ja mit einer lo­ gischen Nachordnung institutioneller Ent­

scheidungsfragen einher geht, könnten diese Theorien Anhaltspunkte liefern, wie Praxisfelder organisatorisch gestaltet wer­ den müssten, damit sie das pädagogische Anliegen bestmöglich unterstützen. Bildung und Erziehung als erziehungswissen­ schaftliche Begriffe verpflichten demnach ei­ nerseits zu einer ausdrücklichen (bildungsbzw. erziehungs-) theoretischen Verankerung und andererseits zu einer konkretisierenden inhaltlichen Bestimmung von Bildungszie­ len und Erziehungswegen. Ein pädagogisch fundiertes Sprachförderkonzept müsste somit theoriegeleitete Anhaltspunkte liefern für eine Klärung der folgenden Fragen: a) Unter dem Gesichtspunkt der Bildungszielorientierung: Inwiefern bedeutet die jewei­ lige sprachliche Beeinträchtigung eine Ein­ schränkung von Handlungsmöglichkeiten im Alltag? Und welchen Beitrag kann die sprachliche Förderung zur Minderung sol­ cher Einschränkungen leisten? b) Unter dem Gesichtspunkt der erziehungstheoretischen Verankerung: Durch welche For­ men der Situations- und Beziehungsgestal­ tung kann und soll auf die Verwirklichung der Bildungsziele hingearbeitet werden? c) Unter dem Gesichtspunkt der Institutions­ orientierung: Welche organisatorischen Rah­menbedingungen erscheinen wünschens­ wert und realisierbar, um die erzieheri­ schen Wege bestmöglich beschreiten und so die Bildungsziele optimal verwirklichen zu können?

3 Bildung und Erziehung als aktuelle Aufgaben im ­Förderschwerpunkt Sprache 3.1 Sprachliche Beeinträchtigung als pädagogische Herausforderung Wenn sprachliche Auffälligkeiten – und das heißt Abweichungen von einer individuellen

494 

Bildung und Erziehung

oder verallgemeinerten kollektiven Erwar­ tungsnorm – feststellbar sind, dann bedeutet das nicht zwangsläufig die Notwendigkeit ei­ ner Intervention oder gar eine pädagogische Herausforderung. Verallgemeinert besteht eine pädagogische Herausforderung darin, die Spezifität einer sprachlichen Problemlage ein­ schließlich ihrer Ursachen und Wirkungen zu erkennen, deren Folgen für die Handlungsfä­ higkeit des Betroffenen in seiner Lebenswelt einzuschätzen, wünschenswerte und realisier­ bare Veränderungsziele zu bestimmen und zu begründen, um hierfür geeignet erscheinen­ de Änderungsumstände herbeizuführen und Möglichkeiten einer erzieherischen Einfluss­ nahme nutzen zu können. Während eine sol­ che Positionsbestimmung für den schulischen Sektor sprachlicher Förderung administrativ verankert ist (KMK 1994, 1998), scheint er für das Feld außerschulischer Sprachtherapie we­ niger selbstverständlich, zumal für dieses die Notwendigkeit einer pädagogischen Fundie­ rung bisweilen in Frage gestellt wird (KatzBernstein 2003, 73 f.). Demgegenüber plädiert Baumgartner (2004, 61) auch unter der Zielsetzung einer eindeutigen Profilbildung der Sprachheil­ pädagogik für eine Konzeptualisierung von „Sprachtherapie als pädagogisches Projekt“. Er schlägt vor, Therapie und Erziehung auf der Basis einer erziehungswissenschaftlichen Fundierung zueinander in Beziehung zu set­ zen. Gebunden an das Konzept der Koopera­ tiven Pädagogik (vgl. Schönberger et al. 1987) schlagen Welling & Kracht (2002) eine theo­ riegeleitete Konkretisierung vor, die bildungs­ zielorientiert die Handlungsfähigkeit im All­ tag fokussiert und erziehungstheoretisch die Form der Zusammenarbeit zwischen Kind und pädagogischer Fachkraft als kooperatives Handeln spezifiziert. Wie unterschiedlich die Formen der Zusammenarbeit von Kind und Sprachtherapeut bzw. Sprachtherapeutin im sprachtherapeutischen Denken des 20. Jahr­ hunderts gefasst worden sind, zeichnen von Knebel & Welling (2002) nach.

3.2 Konzepte einer pädagogischen Sprachförderung In der Fachliteratur der vergangenen drei Jahr­ zehnte lassen sich wenige bedeutsame Meilen­ steine auf dem Weg zu einer pädagogischen Konzeptualisierung pädagogischer Sprachför­ derung finden: Homburg (1978) widmet ein ganzes Kapitel seiner Dissertation der „päda­ gogischen Arbeit mit Sprachbehinderten“, die er zuvor ausführlich handlungstheoretisch fundiert. Allerdings wendet er sich elf Jah­ re später ausdrücklich von einer handlungs­ theoretischen Betrachtungsweise ab und ver­ folgt diese nicht weiter (Homburg 1989, 252). Baumgartner (1994) fordert eine pädagogi­ sche Qualifizierung sprachheilpädagogischer Konzeptbildung und schlägt dafür die Orien­ tierung an zentralen heilpädagogischen Prin­ zipen vor. Bahr (1994) greift die Forderung nach einer pädagogischen Fundierung auf und erläutert das Konzept der „Sprach-HandlungsSpielräume“ mit Verweisen auf sprachbehin­ dertenpädagogische und auch traditionell er­ ziehungswissenschaftliche Bezugspunkte. Eine ebenfalls sehr ausführliche hand­ lungstheoretische Betrachtung, die ausdrück­ lich sowohl in ein allgemeines pädagogisches Rahmenkonzept eingebunden als auch im Hinblick auf den besonderen Fall des sprachlichen Handelns spezifiziert wird, legt Welling (1990) vor. An dieser grundlegenden Arbeit knüpfen viele weitere Arbeiten an, durch die pädagogische Grundfragen vertieft und neue Gegenstandsbereiche sprachbezogener Dia­ gnostik und Förderung erschlossen werden. Sie betreffen unter anderem die allgemein-er­ ziehungswissenschaftliche Verankerung (u. a. Welling 2006, Kracht 2000, 2005, von Kne­ bel & Schuck 2007), den Gegenstandsbereich kindlicher Mehrsprachigkeit (u. a. Kracht 2005) sowie unterschiedliche sprachliche Ge­ genstandsbereiche (u. a. Welling 2006) wie zum Beispiel phonologisch-phonetische (von Knebel 2000) oder semantisch-lexikalische (von Knebel 2007) Förderaspekte. Der wohl grundlegendste Gedanke dieser Denkrichtung ist „Kooperation als pädago­



Literatur   495

gische Leitidee“ (Welling & Kracht 2002). Er ist verankert in der Kooperativen Pädagogik (u. a. Schönberger et al. 1987) und schließt an den von Benner (1995) formulierten „Prinzi­ pien pädagogischen Denkens und Handelns“ an. Aus ihnen folgt unter anderem: Das Kind ist der Erziehung (Einwirkung von außen durch Erwachsene) insoweit bedürftig, wie es seine Bildung gerade nicht aus eigener Kraft (durch eine Selbstaufforderung zur Selbsttä­ tigkeit) voranbringen kann. Eine vordringli­ che Aufgabe der sprachbehindertenpädago­ gischen Fachkraft besteht demnach darin, zu erkennen, wo das Kind zu solcher Selbsttätig­ keit in der Lage ist und wo es andernfalls noch welchen Impulses von außen bedarf.

4 Fachdisziplinäre ­Entwicklungsaufgabe Für das schulische Feld sprachbehindertenpä­ dagogischer Praxis sind mit den Empfehlun­ gen der Kultusministerkonferenz zur sonder­ pädagogischen Förderung (KMK 1994) und deren Spezifikationen für den Förderschwer­ punkt Sprache (KMK 1998) neuartige verwal­ tungsrechtliche Vorschriften gegeben, die in bislang unerreichtem Maße auf eine pädago­ gische Fundierung von Diagnostik und För­ derung verpflichten. Damit sind die besonders von Baumgartner (u. a. 1994, 2004) wiederholt vorgetragenen Forderungen nach einer päd­ agogischen Fundierung sprachbehinderten­ pädagogischer Konzepte nicht nur von einem erziehungswissenschaftlichen Standpunkt aus gerechtfertigt, sondern zudem inzwischen auch bildungspolitisch geboten. Eine vordringliche Entwicklungsaufgabe kann deshalb darin gese­ hen werden, bestehende sprachbehindertenpä­ dagogisch spezifizierte pädagogische Konzep­ tualisierungen (vgl. 3.2) weiter auszuarbeiten und durch den Einbezug anderer (bislang noch nicht genutzter) allgemeinpädagogischer Kon­ zepte neue erziehungswissenschaftlich veran­ kerte Sprachförderkonzepte zu entwickeln.

Literatur Bahr, R. (1994): Therapie sprachentwicklungsge­ störter Kinder aus pädagogischer Sicht. Sprache – Stimme – Gehör 18, 61–67. Baumgartner, S. (1994): Sprachheilpädagogik als Heilpädagogik – Ein Versuch. Die Sprachheilarbeit 39, 3, 140–151. Baumgartner, S. (2004): Pädagogisierung als Beitrag zur fachlichen Identität der Sprachheilpädagogik. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprach­ heilpädagogik und Logopädie. Bd. 5: Bildung, Er­ ziehung, Unterricht (53–68). Stuttgart: Kohlham­ mer. Baumgartner, S., Dannenbauer, F. M., Homburg, G. & Maihack, V. (Hrsg.) (2004): Standort: Sprachheil­ pädagogik. Dortmund: modernes lernen. Benner, D. (1995): Studien zur Theorie der Erziehung und Bildung. Pädagogik als Wissenschaft, Hand­ lungstheorie und Reformpraxis. Bd. 2. Weinheim: Beltz. Benner, D. (42001): Hauptströmungen der Erzie­ hungswissenschaft. Eine Systematik traditioneller und moderner Theorien. Weinheim: Beltz. Braun, O. (2004): Bildung, Erziehung und Unterricht in der Sprachheilpädagogik. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Bd. 5: Bildung, Erziehung, Unterricht (25–52). Stuttgart: Kohlhammer. Homburg, G. (1978): Die Pädagogik der Sprachbehin­ derten. Rheinstetten: Schindele. Homburg, G. (1989): Zukunftsperspektiven in der Sprachbehindertenpädagogik. In: Deutsche Ge­ sellschaft für Sprachheilpädagogik (dgs) – Lan­ desgruppe Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Förderung Sprachbehinderter: Modelle und Perspektiven (225–253). Hamburg: Wartenberg. Katz-Bernstein, N. (2003): Therapie aus pädagogischpsychologischer Sicht. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopä­ die. Bd. 4: Beratung, Therapie und Rehabilitation (66–90). Stuttgart: Kohlhammer. Knebel, U. v. (2000): Kindliche Aussprachestörung als Konstruktion. Eine historische Analyse mit pä­ dagogischer Perspektive. Münster: Waxmann. Knebel, U. v. (2004): Sprachheilpädagogik als Wis­ senschaft pädagogischer Praxis. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Bd. 5: Bildung, Erziehung, Unterricht (69–87). Stuttgart: Kohlhammer. Knebel, U. v. (2007): Sprachförderung im Unterricht als diagnosegeleiteter Prozess. In: Schöler, H. & Welling, A. (Hrsg.): Handbuch Sonderpädagogik. Bd. 3: Sonderpädagogik der Sprache (1082–1103). Göttingen: Hogrefe.

496 

Bildung und Erziehung

Knebel, U. v. & Welling, A. (2002): „Zum Sprechen anleiten“ – „Sprache vermitteln“ – „Persönlichkeit umerziehen“. Arten und Unarten antagonistischer Kooperation im sprachtherapeutischen Denken des 20. Jahrhunderts. In: Arbeitskreis Kooperati­ ve Pädagogik (AKoP) e. V. (Hrsg.): Vom Wert der Kooperation. Gedanken zu Bildung und Erziehung (79–126). Frankfurt a. M.: Lang. Knebel, U. v. & Schuck, K. D. (2007): Allgemeine Fra­ gestellungen. In: Schöler, H. & Welling, A. (Hrsg.): Handbuch Sonderpädagogik. Bd. 3: Sonderpä­ dagogik der Sprache (475–504). Göttingen: Hogrefe. Kracht, A. (2000): Migration und kindliche Zwei­ sprachigkeit. Interdisziplinarität und Professiona­ lität sprachpädagogischer und sprachbehinderten­ pädagogischer Praxis. Münster: Waxmann. Kracht, A. (2005): Eine interkulturelle Perspektive des kooperativen Handelns mit mehrsprachigen Kindern. Behinderte in Familie, Schule und Ge­ sellschaft 28, 34–41. KMK (Kultusministerkonferenz) (1994): Empfeh­ lungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutsch­ land. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 06. 05. 1994, Bonn. KMK (Kultusministerkonferenz) (1998): Empfehlun­ gen zum Förderschwerpunkt Sprache. Beschluss

der Kultusministerkonferenz vom 26. 06. 1998, Bonn. Orthmann, W. (1971): Prophylaxe, Früherfassung und zentralisierte Beschulung für Sprachbe­hin­ derte. Ein Beitrag zur Etablierung von Sprach­ heilschulen. In: Reinartz, A. & Kluge, K.-J. (Hrsg.):  Die Sonderpädagogik als Forschungspro­ blem in Deutschland (229–245). Darmstadt: Klink­ hardt. Schönberger, F., Jetter, K. & Praschak, W. (1987): Bau­ steine der Kooperativen Pädagogik. Teil 1. Grund­ lagen, Ethik, Therapie, Schwerstbehinderte. Stadt­ hagen: Pätzold. Welling, A. (1999): Sprachbehindertenpädagogik. In: Bleidick, U., Myschker, N. & Rath, W. (Hrsg.): Einführung in die Behindertenpädagogik. Bd. 3: Schwerhörigen-, Sehbehinderten-, Sprachbehin­ derten-, Verhaltensgestörtenpädagogik (85–141). Stuttgart: Kohlhammer. Welling, A. (2006): Einführung in die Sprachbehin­ dertenpädagogik. München: Reinhardt. Welling, A. & Kracht, A. (2002): Sprachpädagogische Professionalisierung der Sprachtherapie. Koope­ ration als pädagogische Leitidee. In: Arbeitskreis Kooperative Pädagogik (AKoP) e. V. (Hrsg.): Vom Wert der Kooperation. Gedanken zu Bildung und Erziehung (127–158). Frankfurt a. M.: Lang.

Lehren und Lernen Reiner Bahr

1 Interdisziplinäre Theorie sprachlichen Lehrens und Lernens im wissenschaftlichen Kontext Lehren und Lernen sind Gegenstände unter­ schiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen. Traditionell gilt die Didaktik (vom griechi­ schen Verb didáskein = lehren) als Wissen­ schaft vom Lehren; Lernen ist dem gegenüber insbesondere zentraler Gegenstand der Pädagogischen Psychologie, einer Wissenschaft, die sich mit dem „Verhalten und Erleben von Men­ schen in pädagogischen Situationen“ (Hasselhorn & Gold 2006, 12) beschäftigt. Dar­ über hinaus sind Lehren und Lernen auch zen­trale Themen der Erziehungswissenschaft im Allgemeinen und speziellerer erziehungs­ wissenschaftlicher Disziplinen (Lüdtke & Bahr 2 2005) (→ Bildung und Erziehung). Obwohl es theoretisch möglich ist, eine Didaktik als „Kunst des Lehrens“ unter ausschließlichem Gesichtspunkt der Lehrinhalte und -metho­ den zu konstruieren, erscheint eine getrennte Betrachtung von Lehren und Lernen praktisch nicht sinnvoll, weil jegliche Lehre auf das Ziel gerichtet ist, Haltungs-, Wissens- und Kön­ nensveränderungen, also Lernprozesse bei ei­ nem Gegenüber hervorzurufen. Ob und wie diese Prozesse in Gang kommen und sich wei­ terentwickeln, hängt von zahlreichen Faktoren ab, insbesondere von individuellen „inneren“ und sozial determinierten „äußeren“ Lernbe­ dingungen. Lernen ist in der jüngeren Wissenschafts­ geschichte des Weiteren auch ein zentraler Gegenstand der Neuropsychologie geworden, die sich mit neuronalen Prozessen und Re­ präsentationen im Zuge von Lernvorgängen beschäftigt (vgl. Spitzer 2006). Im Begriff

Neurodidaktik (Herrmann 2006) spiegelt sich die heute verstärkt ins Bewusstsein rücken­ de Bedeutung neurologischer Faktoren bei Lehr-Lern-Prozessen wider. Im Folgenden sei sprachliches Lehren und Lernen hinführend in den Blick genommen.

2 Sprachliches Lehren und ­Lernen Spracherwerb – also sprachliches Lernen – gründet einerseits auf einer biologischen Ba­ sis und muss andererseits durch Kontakt mit der Umwelt angeregt werden (→ Sprachent­ wicklung und Sprachabbau). Im Verlauf der kindlichen Sprachentwicklung spielen so­ wohl die Fähigkeit zur Imitation als auch all­ gemeine kognitive Faktoren sowie strukturier­ ter sprachlicher Einfluss von außen eine Rolle (vgl. Butzkamm & Butzkamm 1999). Theoreti­ sche Extrempositionen, die den Spracherwerb entweder nativistisch (z. B. Pinker 1996) oder interaktionistisch (z. B. Bruner 1987) erklären, gelten heute als überwunden (vgl. Kausch­ ke 2007). Im Zusammenhang mit Fragen des Lehrens und Lernens kommen, wie oben her­ vorgehoben, innere Faktoren („nature“) ent­ scheidend mit zum Tragen, jedoch sind die von außen steuernden Faktoren („nurture“) ebenso wichtig. Mit sprachlichem Lehren sollen hier gerade jene Prozesse bezeichnet werden, die in me­ thodisch durchdachter, planmäßig angeleg­ ter professioneller Absicht sprachliches Lernen anbahnen und unterstützen wollen. Insoweit sind weder die „natürliche“ Sprachentwick­ lung noch die „intuitive elterliche Didaktik“ (Papoušek 1994) Gegenstand des vorliegen­ den Beitrags, sondern diejenige Entwicklung,

498 

Lehren und Lernen

die Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit sprachlichen Beeinträchtigungen durch Unterricht und Sprachtherapie unterstützt (vgl. Bahr 2007a). Dieses sprachliche Lehren und Lernen kann einem „instruktiven“ und/oder einem „konstruktiven“ Selbstverständnis un­ terliegen (vgl. Bahr 2007b).

3 Selbstverständnis ­sprachlichen Lehrens und Lernens Das Selbstverständnis sprachlichen Lehrens ist stets abhängig von einer Vorstellung darüber, wie Menschen überhaupt und wie sie Spra­ che im Besonderen lernen (→ Sprachdidak­ tiktheorie). Im Umgang mit sprachlich beein­ trächtigten Menschen dominierte lange Zeit – historisch bedingt durch eine Orientierung am medizinischen Paradigma des „Heilens“ im Sinne einer Korrektur fehlerhafter Funk­ tionen – die übende Behandlung. Sprach­ entwicklungs- und lerntheoretisch ist dieses Vorgehen dem Imitationslernen zuzuordnen, welches unterstellt, dass Lernen in erster Linie auf einer Nachahmung „guter“ Vorbilder be­ ruht. Dieses quasi-lineare, geradezu schlichte Selbstverständnis hat sich sowohl durch For­ schungen der Pädagogischen Psychologie im Allgemeinen als auch durch Positionsverschie­ bungen in der Didaktik sprachlichen Lernens in den vergangenen dreißig Jahren erheblich weiterentwickelt. Neu und zusätzlich in den Blick gekommen sind hier insbesondere die Komplexität der Lernweisen des Einzelnen in ihrer Wechselwirkung mit den ihn umgeben­ den intersubjektiven Bedingungen sowie der institutionelle Rahmen und die Person des Lehrenden (→ Sprachheilpädagogische Insti­ tutionen) (→ Sprachförderung im Aufgaben­ feld Unterricht) (→ Sprachförderung im Auf­ gabenfeld Therapie).

3.1 Instruktives Selbstverständnis sprachlichen Lehrens und Lernens Von linearen zu komplexen Lernmodellen

Forschungen zum Spracherwerb sind einer­ seits beschreibend, andererseits setzen sie Normen, anhand derer Abweichungen fest­ gestellt und in der Folge Interventionsbedarf angemeldet wird (→ Normen und Differenz). Sprachliche Normabweichungen können ei­ nerseits darauf beruhen, dass – im Sinne der „nature“-Positon – die biologischen Sprach­ lernvoraussetzungen nicht so weit zur Ausrei­ fung gekommen sind, wie dies zu bestimmten Zeitpunkten allgemein erwartet wird, ande­ rerseits können – im Sinne der „nurture“Position – die Vermittlungsbemühungen und das sprachliche Vorbild unzureichend oder unpassend gewesen sein. Sprachtherapie und sprachfördernder Unterricht versuchen nun, hier korrigierend einzugreifen. Dabei folgen die Lehrenden traditionell einem instruktiven Selbstverständnis, das heißt, sie gehen unter anderem davon aus, dass durch ihre Präsentation und Anleitung auf Seiten der Lernen­ den auf dem Wege der Imitation und Übung neue Strukturen gelernt werden. Damit wird eine Kausalität und Linearität des Lehrens und Lernens unterstellt, die heute allerdings in der eher traditionsgebundenen Pädagogischen Psychologie überwunden ist. Das einem in­ struktiven Selbstverständnis des Lernens fol­ gende Vorgehen bezieht sich inzwischen auf ein erheblich komplexeres Lernmodell (vgl. Abb. 1). Dieses umfasst • kognitive Faktoren (selektive Aufmerk­ samkeit und Arbeitsgedächtnis, Strategien und metakognitive Regulation, Vorwissen) sowie • motivational-volitionale Faktoren (Moti­ vation, Selbstkonzept, Wille, Emotion) (→ Kognition und Emotion). Aus diesem komplexen Selbstverständnis folgt für die Lehr-Lernprozesse im Bereich der be­ einträchtigten Sprache die Notwendigkeit sehr wohl durchdachter Vermittlungsbemühun­



Selbstverständnis ­sprachlichen Lehrens und Lernens   499

Abb. 1:  Modell der kognitiven und motivational-volitionalen individu­ ellen Voraussetzungen erfolgrei­ chen Lernens (INVO-Modell) (aus: Hasselhorn & Gold 2006, 68)

gen, die die Beschaffenheit des Sprachmate­ rials (sofern die Vermittlung auf sprachliche Strukturveränderungen zielt) oder der kom­ munikativen Anforderungen (sofern die Ver­ mittlung auf pragmatische Sprachleistungen zielt) genauso in den Blick zu nehmen hat wie die Lernausgangslage des Kindes bzw. der Gruppe. Ein diesem pädagogisch-psychologi­ schen Lehr-Lernmodell konsequent folgender Ansatz im Bereich der Förderung von Men­ schen mit grammatischen Beeinträchtigungen ist die „Kontextoptimierung“ (Motsch 22006). Sie wurde speziell auf die schulische Vermitt­ lung hin entwickelt (→ Sprachförderung im Aufgabenfeld Unterricht) und zielt auf sprach­ strukturelle – in diesem Falle grammatische – Lernprozesse. Sprachlernen durch Input und Intake

Kontextoptimierung orientiert sich im We­ sentlichen am „Input“, also dem sprachlichen Material, das einem Kind in der Lehr-Lern­ situation angeboten wird, und an den kogni­ tiven Strategien, insbesondere Aufmerksam­ keit, Gedächtnis und Interesse, die es zum Lernen verwendet. Der Sprachinput muss „in­ take-fähig“ werden, das heißt, das lernende Kind muss diesen in sich aufnehmen können (Motsch 22006, 34). Dazu ist es erforderlich,

„Verwirrer“ und „Ablenker“ weitgehend aus­ zuschalten und die Ziele an zentralen Schwer­ punkten zu orientieren. Diese sind analog der Entwicklungsreihenfolge im regelhaften Grammatikerwerb: • Subjekt-Verbkongruenz und Verbzweit­ stellung im Hauptsatz, • Kasusmarkierung sowie • Verb-Endstellung in subordinierten Ne­ bensätzen. Methodisch wird die Kontextoptimierung in kindgemäßen, einerseits spielerischen Situa­ tionen organisiert, andererseits werden unter­ richtliche Arbeitsmittel den sprachlichen Ziel­ strukturen angepasst. Dabei werden immer wieder auch sprachbetrachtende Elemente – beispielsweise der Einsatz von Metasprache und Schriftsprache – einbezogen. Empirisch wurde die Kontextoptimierung in mehreren Interventionsstudien auch in unterrichtlichen Settings evaluiert (Motsch 22006, 206 ff.). Hier zeigte sich, dass in der Regel bereits mit rela­ tiv geringem Aufwand – z. B. acht Unterrichts­ stunden innerhalb von zwei Wochen zum Thema „Akkusativmarkierung“ in Pilotstu­ die 1 (Motsch 22006, 206) – deutliche Verbes­ serungen erzielt wurden (in Einzelfällen 80 % und mehr korrekte Markierungen, Motsch 2 2006, 207).

500 

Lehren und Lernen

3.2 Konstruktives Selbstverständnis sprachlichen Lehrens und Lernens Von subjektorientierten zu konstruktivistischen Lernmodellen

Konstruktivismus lässt sich nicht als einheit­ liche Theorie darstellen, sondern vielmehr als Idee, die, einem interdisziplinären Verständnis folgend, verschiedene erkenntnistheoretische Positionen zusammenbringt. Dazu gehören unter anderem biologische Sichtweisen (Ma­ turana & Varela 1987), kybernetische Steue­ rungsmodelle (von Foerster & von Glasers­ feld 1999) sowie die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte genetische Er­ kenntnistheroie Piagets (vgl. Tschira 2003). Beim konstruktiven Selbstverständnis sprach­ lichen Lehrens und Lernens rücken die Wege des Umgangs mit dem zu lernenden Materi­ al sowohl auf Seiten der Lernenden als auch auf Seiten der Lehrenden in den Vordergrund. Bereits 1932 legte Bartlett seine so genannte Konstruktionshypothese vor, deren zentraler Gedanke darin besteht, „dass das menschli­ che Gedächtnis bei der Konstruktion neuen Wissens die neuerlich zum Lernen vorgelegte Information nicht einfach photographisch ab­ bildet, sondern auf der Basis des vorhandenen Vorwissens interpretiert und dabei durchaus in sehr subjektiver Weise verändert“ (Hassel­ horn & Gold 2006, 87). Lernen ist demnach abhängig vom Vorwissen und subjektiven Bedeutungszuweisungen. In Bezug auf die Gestal­ tung von Lehr-Lernsituationen mit sprachlich beeinträchtigten Menschen wird diese Sicht ausführlich von Lüdtke & Bahr (22005) vor­ gestellt. Sie gehen davon aus, dass sprachli­ ches Lernen „Anstöße“ benötigt, die auf eine Bedürfnislage treffen müssen, aufgrund de­ rer eine sprachliche Veränderung überhaupt erst möglich wird. Ein wesentlicher Unter­ schied zum instruktiven Selbstverständnis be­ steht also darin, dass ein sprachliches Lernziel nicht als von außen gegebener „Bedarf “ ge­ setzt wird, sondern erst aufgrund individuel­ len Bedürfnisses vom sprachbeeinträchtigten Menschen selbst angestrebt werden kann. Mit

anderen Worten: Eine vom Lehrenden gegebe­ ne Instruktion unterliegt stets der Möglichkeit der Ablehnung. Ablehnungen können sowohl auf individuellen Unzulänglichkeiten – wie biologischer und/oder sozialer Herkunft – als auch auf Aspekten der emotionalen Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden beruhen. Das individuelle Sprachvermögen eines Men­ schen ist Ergebnis seiner sprachlichen Wirklichkeitskonstruktion. So lässt sich zum Beispiel bei sprachlich beeinträchtigten Jugendlichen beobachten, dass sie sich ab einem gewissen Punkt mit ihren sprachlichen Möglichkeiten arrangieren und äußerst sensibel auf jegliche Versuche einer instruktiven Veränderung re­ agieren. Sprachlernen durch Sprachgebrauch

Während das instruktive Lehr-Lernverständ­ nis der Vorstellung von einer systematischen Aneignung spezifischer Inhalte, quasi „ferti­ ger“, gegebener Lerngegenstände folgt, geht ein konstruktives Selbstverständnis von einem hohen Maß an Selbststeuerung durch die Ler­ nenden aus. Diese Selbststeuerung findet statt, wenn anregende Lerngelegenheiten bereit­ gestellt werden. Lerngelegenheiten sind im­ mer auch soziale Austauschprozesse, woraus sich ihre besondere Bedeutung gerade für das sprachliche Lernen herleiten lässt: So erklärt Tomasellos (2005) gebrauchsbasierte Theo­ rie des Spracherwerbs (Usage-Based Theory of Language Acquisition) diesen – knapp zusam­ mengefasst – wie folgt: • Sprache als Symbolsystem beruht auf der spezifisch menschlichen, biologisch gege­ benen Fähigkeit, sich seiner Kultur anzu­ passen. • Dazu gehört die Fähigkeit zu verstehen, dass andere Menschen die selben Inten­ tionen und Denkweisen haben wie man selbst. • Hieraus erwächst das Bedürfnis, diese In­ tentionen und Denkweisen durch soziale Konventionen zu beeinflussen. • Dies ist abzulesen an den ersten sprachli­ chen Interaktionen, in denen ein Kind zum



Interdisziplinäre Sicht: ­Balancierung von Instruktion und Konstruktion   501

einen beginnt, aus gehörten sprachlichen Äußerungen einzelne Elemente (Wörter, Morpheme, Sätze) und deren Funktion in der jeweiligen Äußerung als Ganzes he­ rauszufiltern, und zum anderen erkennt, dass es wiederkehrende Muster gibt, wo­ durch es fähig wird, mehr oder weniger abstrakte Kategorien zu konstruieren. Die vom Kind konstruierten Muster sind nun Schablonen, in die die zuvor extrahierten Ele­ mente eingefügt werden, um kommunikati­ ve Äußerungen hervorzubringen. Tomasellos Theorie des Spracherwerbs fokussiert somit sowohl die soziale Eingebundenheit sprach­ lichen Lernens als auch die konstruktive Tä­ tigkeit der Lernenden. Leitet man daraus nun Konsequenzen für sprachliches Lehren und Lernen in institutionalisierten Settings her, folgt daraus die Orientierung an einer sozial geteilten Wirklichkeit, bestehend aus Lernen­ den, Lehrenden und Lerngegenstand, wobei Lernen nicht allein durch Konzentration auf den sprachlichen Lerngegenstand (z. B. Ver­ änderung des Artikels „der“ zu „den“ in Ak­ kusativkontexten) geschieht, sondern auch da­ durch, dass die Lernenden beobachten, wie die Lehrenden mit sich selbst und mit dem Lern­ gegenstand umgehen. Das konstruktive Selbstverständnis sprach­ lichen Lehrens und Lernens ist bisher nicht in ein unmittelbar in die Praxis übertragba­ res Handlungsmodell, wie es die Kontext­ optimierung (s. o.) darstellt, umgesetzt wor­ den. Exemplarisch sind jedoch Versuche zu nennen, bei denen über die Provokation von Missverständnissen und die von Lehrenden und Lernenden gemeinsam vorgenommene Planung des Lernprozesses Anstöße zur Ver­ änderung gegeben werden. Dabei wird nicht unterschieden zwischen „richtigen“ oder „fal­ schen“, sondern zwischen „alten“ und „neu­ en“ Strukturen (vgl. Ertmer & Ertmer 1998, Lüdtke & Bahr 22005). Aus Perspektive der Lehrenden ergibt sich nach konstruktivem Selbstverständnis ein wesentlicher Unterschied zum instruktiven Selbstverständnis: Während sie sich zum ei­

nen als diejenigen verstehen, die Lerngele­ genheiten bereitstellen, werden sie sich zum anderen als Beobachter sehen, die versu­ chen, mit ihrem Angebot der Bedürfnislage der Lernenden zu folgen. Sie streben danach, nicht für sie, sondern mit ihnen herauszufin­ den, welche Lernschritte folgen könnten.

4 Interdisziplinäre Sicht: ­Balancierung von Instruktion und Konstruktion Konstruktives und instruktives Selbstver­ ständnis sprachlichen Lehrens und Lernens sind keinesfalls als diametrale Gegensätze zu verstehen, sondern als je unterschiedliche Blickweisen darauf, wie menschliches Lehren und Lernen funktionieren. Dabei beschreibt das instruktive Selbstverständnis eher Lern­ schritte mit vorhersehbaren Zielen, das konstruktive Selbstverständnis hingegen spiegelt eher eine Haltung wider und dient vor allem auch der Prozessreflexion. Gewendet auf den Gegenstand beeinträchtigter Sprache folgt dar­aus, dass nach Wegen zu suchen ist, den mit den sprachlichen Unzulänglichkeiten ver­ bundenen Fähigkeitsnachteil auszugleichen. Sprachlich beeinträchtigte Kinder und Ju­ gendliche müssen erheblich mehr Anstren­ gung und Zeit investieren, um das Sprachni­ veau zu erreichen wie die unauffälligen Kinder und Jugendlichen ihrer Peergroup. Die beson­ dere Herausforderung für Lehrende besteht darin, stets zu bedenken, zu welchem Zweck ihr jeweiliges Handeln erfolgt. Im Einneh­ men einer interdisziplinären Sicht, also unter Berücksichtigung der Wechselwirkungen im sprachlichen Lehr-Lerngeschehen, haben sie jeweils zu entscheiden, ob der Aufbau sprach­ licher Fähigkeiten eher systematisch erfolgen muss (im Sinne einer von außen gesteuer­ ten, instruktiven „Optimierung“) und/oder ob Raum für eigenes Entdecken gegeben werden kann (im Sinne eines konstruktiven, situierten Angebots sprachlicher Bewährung).

502 

Lehren und Lernen

Welche Schwerpunkte das sprachliche LehrLerngeschehen letztlich bestimmen, ist abhän­ gig von seinen jeweiligen Zielen: • • • •

sprachliches Können, (meta-)sprachliches Wissen, situative Sprachverwendung, Sprachbeherrschung als Schlüsselkompe­ tenz für schulisches Lernen.

Um diese Ziele zu erreichen, bedarf es des Rückgriffs auf Ergebnisse der empirischen Lehr-/Lernforschung überhaupt, auf kon­ struktivistische Modellbildungen wie auf ihre Anwendung in sprachdidaktischen Kontexten (→ Therapie- und Unterrichtsforschung), da­ mit sowohl die individuellen als auch die so­ zialen Determinanten sprachlichen Lernens und Lehrens im Blick bleiben.

Literatur Bahr, R. (2007a): Unterricht und Therapie. In: Grohn­ feldt, M. (Hrsg.): Lexikon der Sprachtherapie (360– 361). Stuttgart: Kohlhammer. Bahr, R. (2007b): Sprachtherapeutischer Unterricht: Eine Perspektive für den Förderschwerpunkt Spra­ che. In: Kolberg, T. (Hrsg.): Sprachtherapeutische Förderung im Unterricht (130–143). Stuttgart: Kohlhammer. Bartlett, F. C. (1932): Remembering. Cambridge: Cambridge University Press. Bruner, J. (1987): Wie das Kind sprechen lernt. Bern: Huber. Butzkamm, W. & Butzkamm, J. (1999): Wie Kinder sprechen lernen. Kindliche Entwicklung und die Sprachlichkeit des Menschen. Tübingen: Francke. Ertmer, D. J. & Ertmer, P. A. (1998): Constructivist strategies in phonological intervention. Facilitating

self-regulation for carry-over. Language, Speech and Hearing Services in Schools 29, 2, 67–75. Foerster, H. v. & Glasersfeld, E. v. (1999): Wie wir uns erfinden. Eine Autobiographie des radikalen Kon­ struktivismus. Heidelberg: Auer. Hasselhorn, M. & Gold, A. (2006): Pädagogische Psy­ chologie. Erfolgreiches Lernen und Lehren. Stutt­ gart: Kohlhammer. Herrmann, U. (Hrsg.) (2006): Neurodidaktik. Grund­ lagen und Vorschläge für gehirngerechtes Lehren und Lernen. Weinheim: Beltz. Kauschke, C. (2007): Sprache im Spannungsfeld von Erbe und Umwelt. Die Sprachheilarbeit 52, 1, 4–16. Lüdtke, U. & Bahr, R. (22005): Pädagogik. In: Grohn­ feldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpäda­ gogik und Logopädie. Bd. 1: Selbstverständnis und theoretische Grundlagen (79–110). Stuttgart: Kohlhammer. Maturana, H. & Varela, F. (1987): Der Baum der Er­ kenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschli­ chen Erkennens. München: Scherz. Motsch, H.-J. (22006): Kontextoptimierung. Förde­ rung grammatischer Fähigkeiten in Therapie und Unterricht. München: Reinhardt. Piaget, J. (71996 [i. O. 1973]): Einführung in die ge­ netische Erkenntnistheorie. Frankfurt a. M.: Suhr­ kamp. Pinker, S. (1996): Der Sprachinstinkt. Wie der Geist die Sprache bildet. München: Kindler. Papoušek, M. (1994): Vom ersten Schrei zum ersten Wort. Anfänge der Sprachentwicklung in der vor­ sprachlichen Kommunikation. Bern: Huber. Spitzer, M. (2006): Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. München: Elsevier. Tomasello, M. (2005): Constructing a language. A usage-based theory of language acquisition. Cam­ bridge (MA): Harvard University Press. Tschira, A. (2003): Wie Kinder lernen – und warum sie es manchmal nicht tun. Über die Interaktio­ nen zwischen System und Umwelt im Lernprozess. Heidelberg: Auer.

Frühe Kommunikation Erwin Breitenbach

1  Definition Die frühe Kommunikation und Interaktion (→ Intersubjektive Kommunikation) stellt einen dynamischen Prozess wechselseitiger Anpassung zwischen Säugling und Bezugs­ personen dar und wird bestimmt durch die Kompetenzen des Säuglings und durch die Fä­ higkeit der Bezugspersonen, sich intuitiv auf diese Kompetenzen einzustellen. Die systematische Erforschung der Lernfä­ higkeiten im Säuglingsalter hat gezeigt, dass Säuglinge nicht nur mit Kompetenzen ausge­ stattet sind, die ihnen ein integriertes Wahr­ nehmen und Verarbeiten von Informationen ermöglichen, sondern auch ein ausgespro­ chenes Bedürfnis zeigen, sich die unbekannte Umwelt vertraut zu machen, Zusammenhän­ ge zwischen dem eigenen Verhalten und der Umwelt zu entdecken und aktiv auf die Um­ welt einzuwirken (Rauh 2002). Dem kompetenten und zum Lernen moti­ vierten aktiven Säugling stehen Eltern gegen­ über, die in der Lage sind, sich auf vielseitige Art und Weise kompensatorisch den begrenz­ ten kindlichen Voraussetzungen anzupassen. Papoušek (1994) bezeichnet diese Anpas­ sungsfähigkeit der Eltern als „intuitive elter­ liche Didaktik“. Eltern besitzen die Fähigkeit, kindliche Signale zu lesen und zu verstehen (→ Aufgabenfeld Sprachtherapie). Sie erhal­ ten so Informationen über die Befindlichkeit des Säuglings. Fest geschlossene Fäustchen si­ gnalisieren gespannte Aufmerksamkeit, wäh­ rend sich im Öffnen derselben Entspannung äußert. Sind sich Eltern über die Befindlich­ keit des Säuglings nicht im Klaren, so berüh­ ren sie häufig die Mundregion des Kindes, spielen mit seinen Fäustchen und versuchen sie zu öffnen. Schlaffer Muskeltonus bedeu­ tet für sie dann Müdigkeit, fester Greifreflex

Spannung und aktives Fingerspiel Bereit­ schaft zum Dialog. Eine zentrale Rolle in der menschlichen Kommunikation spielt das Herstellen und das Halten des Blickkontaktes, was dem Neuge­ borenen von sich aus anfangs nur in flüchti­ gen Momenten gelingt. Eltern bemühen sich lebhaft um Blickkontakt mit ihrem Kind und bringen dazu ihr Gesicht immer wieder ins Blickfeld des Kindes und nehmen den für die Sehfähigkeit des Neugeborenen optima­ len Abstand von etwa 20 cm ein. Kommt der Blickkontakt zustande, wird dies regelmäßig von den Eltern mit einer typischen Grußreak­ tion belohnt. Um sich dem Säugling verständlich zu ma­ chen, benutzen die Eltern aus ihrem  vielfäl­ tigen und umfangreichen kommunikativen Repertoire nur einen kleinen aus­gewählten Teil deutlich voneinander unterscheidba­ rer, übertriebener Reaktionen, die sie in ganz bestimmten Zusammenhängen ­regelmäßig wiederholen. Ein Beispiel für eine solche Verhaltensanpassung ist die so genannte „Ammensprache“ oder Motherese. Eine große Bedeutung für die erste emo­ tionale Bindung hat die Kontingenz im el­ terlichen Verhalten. Indem die Eltern auf bestimmte Verhaltensweisen des Kindes kon­ tingent mit den gleichen Reaktionen antwor­ ten, erreichen sie, dass sie für den Säugling in ihrem Verhalten kontrollierbar, verständlich, voraussagbar und vertraut werden. Es liegt nahe, solche Erfahrungen als Quelle von Si­ cherheit und Geborgenheit für den Säugling zu betrachten. Gleichzeitig werden auf diese Weise dem Kind unzählige Möglichkeiten ge­ boten, die Beziehung zwischen seinem eige­ nen Verhalten und dessen Konsequenzen auf Seiten der Eltern zu differenzieren.

504 

Frühe Kommunikation

2 Determinanten der ­frühen Kommunikation und ­Interaktion Im entwicklungsdynamischen Modell früh­ kindlicher Regulations- und Beziehungsstö­ rungen nach Papoušek (1999) bestimmen selbstregulatorische Kompetenzen des Säug­ lings und intuitiv regulatorische Kompetenzen der Eltern die Interaktionen zwischen beiden in alltagstypischen Kontexten. Durch dieses komplexe dynamische Zusammenspiel kann sich eine positive oder negative Gegenseitig­ keit entwickeln. Sowohl bei Störungen als auch bei erfolgreicher Interaktion sind immer bei­ de Partner betroffen: Es geht um das Gelingen oder Misslingen ihres Zusammenwirkens. Die positive Gegenseitigkeit erleichtert dem Kind die Selbstregulation, wirkt kom­ pensatorisch unterstützend und bestärkt die intuitiven Kompetenzen der Eltern. Der Säug­ling wendet den Eltern seinen Blick zu, lächelt, vokalisiert ruhig, schmiegt sich an, lässt sich beruhigen und findet in den Schlaf. Die Befindlichkeit der Eltern lässt sich mit Selbstsicherheit, gestärktem Selbstwertge­ fühl, Freude, Entspannung und Akzeptanz beschreiben. Eine negative Gegenseitigkeit ist gekennzeichnet durch einen Mangel an intu­ itiver Unterstützung, Vernachlässigung und gar Misshandlung des Säuglings sowie durch ängstliche und überfürsorgliche Eltern. Die negativen Feedbacksignale des Säuglings sind Unzugänglichkeit, Blickabwendung, Schrei­ en, Ess- und Schlafprobleme und Trotzanfäl­ le. Eltern und Kind fühlen sich verunsichert, in ihrem Selbstwertgefühl verletzt, erschöpft, depressiv, frustriert und abgelehnt. Verschiedene Faktoren auf Seiten des Kin­ des und der Eltern bestimmen die jeweilige postnatale Anpassung und beeinflussen da­ mit den Kommunikations- und Interaktions­ prozess. Als Determinanten der elterlichen postnatalen Anpassung werden angeführt: • frühe Kindheit, Persönlichkeit und Psy­ chopathologie,

• Partnerschaft, Familiensystem und sozia­ les Netz, • psychophysische Befindlichkeit, Erziehungs­ einstellungen, emotionale Einstellungen, Re­ präsentationen sowie • prä-, peri- und postnatale biologische und psychosoziale Risiken bzw. Ressourcen. Die postnatale Anpassung des Kindes wird durch Faktoren bestimmt wie: • Temperament, • das System der basalen adaptiven Regula­ tion, • die Integrität des Zentralnervensystems, • die Reifung von Schlaf-Wach-Regulation, Magen-Darm-Trakt, Immunsystem und Neuromotorik sowie • prä-, peri- und postnatale biologische und psychosoziale Risiken bzw. Ressourcen.

3 Frühe Kommunikations- und Interaktionsstörungen bei Kindern mit Behinderung In seinem Überblick über die Forschungser­ gebnisse zu Auffälligkeiten und Störungen früher Interaktions- und Kommunikations­ prozesse bei Kindern mit unterschiedlichen Behinderungen berichtet Sarimski (2001), dass bei Frühgeborenen zum Beispiel eine her­ abgesetzte Wahrnehmungsverarbeitung und Reaktionsbereitschaft zu finden ist, die auf Sei­ ten der Eltern zu vermehrter Stimulation und zu verstärktem Initiieren von Interaktionen führt. Auf dieses Elternverhalten reagieren die Kinder mit Irritation und Passivität. Sie wer­ den inaktiv, weil ihre eigenen Initiativen nicht abgewartet und verstärkt werden. Leicht nach­ zuvollziehen ist, dass eine Körperbehinderung die vorsprachliche Kommunikation und Er­ kundung der Umwelt je nach Ausmaß der mo­ torischen Beeinträchtigung erschwert. Auch darauf reagieren Eltern mit stärkerer Lenkung, was die Kinder eine eher passive Rolle einneh­



Förderansätze   505

men lässt. Bei Kindern mit geistiger Behin­ derung wird eine grundsätzliche Verlangsa­ mung im Entwicklungstempo vor allem auch bei kommunikativen Kompetenzen sowie eine geringere Motivation zur eigenständigen Aus­ einandersetzung mit der Umwelt berichtet. In der Folge verzichten Eltern allmählich immer mehr darauf, ihr Kind für gemeinsame Aktivi­ täten zu interessieren oder andere versuchen, die Abstimmungsprobleme zu kompensieren, indem sie die Interaktion stärker lenken, The­ men vorgeben und mehr dirigieren. Bei Kin­ dern mit hirnorganischen Schädigungen fin­ den sich gehäuft motorische Unruhe oder aber Apathie, vermehrtes lang andauerndes Schrei­ en ohne ersichtlichen Grund sowie Unregel­ mäßigkeiten beim Stillen. Eltern reagieren dar­auf oft unsicher, ängstlich, gereizt oder gar mit offener oder verdeckter Ablehnung sowie mit einer Reduktion spontaner Zuwendung, was Beeinträchtigungen in der Persönlich­ keitsentwicklung der Kinder mit sich bringt. Kinder mit frühkindlichem Autismus lächeln häufig ohne Blickkontakt zur Mutter, zei­ gen keine Freude beim Wiedererkennen der Bezugspersonen, sind weniger zärtlich und schwer zu trösten. Die Bezugspersonen erwi­ dern das Lächeln ohne Blickkontakt selten, ge­ hen weniger sensibel auf die Kinder ein und sind sich unsicher, inwieweit zwischen ihnen und ihrem Kind eine sichere emotionale Bin­ dung besteht. Die Interaktionen zwischen Be­ zugsperson und Kind nehmen in der Folge ab und die Bindungsunsicherheit auf Seiten des Kindes wird verstärkt.

4 Auswirkungen auf ­Persönlichkeits- und ­Sozialentwicklung In der Bindungstheorie (Bowlby 1969) wird angenommen, dass frühe Kommunikationsund Interaktionsprozesse für die Entwicklung einer emotionalen Bindung zwischen Kind und Eltern bedeutsam sind und dass frühe

Bindung und ihre Qualität die weitere Persön­ lichkeits- und Sozialentwicklung beeinflusst. Längsschnittuntersuchungen wie zum Beispiel die Bielefelder und Regensburger Studie (vgl. Zimmermann et al. 2000) decken einen Zu­ sammenhang auf zwischen frühem Bindungs­ verhalten und sozialen Kompetenzen. Kinder, die mit zwölf Monaten eine sichere Bindung zur Mutter zeigen, verhalten sich im Kinder­ garten-, Grundschul- und Jugendalter weniger feindselig, kompetenter im Umgang mit Kon­ flikten und praktizieren einen eher harmoni­ schen Interaktionsstil. Desorganisiertes frühes Bindungsverhalten ist im Zusammenhang mit späterem aggressiven Verhalten zu sehen. Si­ cher gebundene Einjährige sind mit 16 Jahren in ihren Freundschaften und ersten Partner­ schaften emotional offen und unterstützend. Zählt zu den frühen Bindungserfahrungen die Feinfühligkeit der Eltern, so entwickeln sich auch die Kinder mit großer Wahrscheinlich­ keit zu feinfühligen Eltern und Partnern. Ei­ nen direkten Einfluss früher Bindung auf die kognitive Entwicklung konnte bisher nicht festgestellt werden. Über Motivation, Ausdau­ er und Kooperationsbereitschaft, die bei sicher gebundenen Kinder besser entwickelt sind als bei unsicher gebundenen, ist jedoch ein indi­ rekter Einfluss denkbar (Zimmermann et al. 2000). Bei Menschen mit geistiger Behinderung ist die Prävalenz von psychischen Erkran­ kungen um 50 % höher als bei Menschen mit durchschnittlicher Intelligenz. Erklärt wird dies mit einer erhöhten Vulnerabilität, die un­ ter anderem auf frühe Kommunikations- und Interaktionsstörungen zurückgeführt wird (Lingg & Theunissen 2000).

5  Förderansätze Mahoney und Powell (1988) entwickelten das „Transactional Intervention Program“ (TRIP) mit dem Ziel, einen responsiven Er­ ziehungsstil der Eltern zu fördern. Im Ver­

506 

Frühe Kommunikation

lauf des Interventionsprogramms sollen den Eltern  zwei­er­lei Strategien vermittelt werden. Die „turn-taking-Strategien“ beinhalten das Abwarten kindlicher Handlungen, das Imitie­ ren kindlicher Verhaltensweisen, das Befolgen kindlicher Anregungen sowie ein gemäßigtes Erweitern der kindlichen Aktivität. „Interac­ tiv-match-Strategien“ beinhalten die Anpas­ sung des Elternverhaltens an das Tempo des Kindes, das Anregen von Aktivitäten, die an die Fähigkeiten des Kindes angepasst sind, so­ wie das Aufgreifen aktueller kindlicher Inter­ essen. In einer Evaluationsstudie konnten die Autoren einen signifikanten statistischen Zu­ sammenhang zwischen dem Einsatz der ge­ lernten neuen Strategien auf Seiten der Eltern und den Entwicklungsfortschritten bei ihren Kindern nachweisen. In der videogestützten Interaktionsbe­ ratung nach Sarimski und Papoušek (2000) sollen die Eltern lernen, die Fähigkeiten und Grenzen der Aufmerksamkeit und der Reak­ tionsmöglichkeiten ihres Kindes zu erkennen und seine kommunikativen Signale zu verste­ hen. Nachdem das konkrete Beratungsziel mit der Mutter geklärt ist, betrachtet der Berater das aufgezeichnete Interaktionsgeschehen (Spielsituation: Mutter-Kind) zusammen mit der Mutter und kommentiert es aus der Per­ spektive des Kindes. Dabei wird er versuchen, Momente herauszugreifen, in denen das von der Mutter formulierte Ziel bereits in Ansät­ zen erreicht wird. Dies zeigt der Mutter, dass ihre eigenen intuitiven Verhaltensweisen zum Gelingen der Interaktion beitragen, was das Vertrauen in ihre eigene Fähigkeit zur Gestal­ tung einer förderlichen Interaktion steigert.

6  Zusammenfassung Die Entwicklung kommunikativer und in­ teraktiver Kompetenzen ist mitentscheidend für die subjektiv empfundene Lebensquali­ tät eines Menschen. Kommunikation und In­ teraktion bilden die Grundlage zum Verste­

hen der Welt und liefern die Möglichkeit zur Einflussnahme auf die Welt. Kommunika­ tions- und Interaktionsstörungen haben somit weitreichende Folgen und führen zu sozialer Isolation, Einschränkungen der persönlichen Freiheit und Fremdbestimmung. Damit ver­ bundene Frustrationen, emotionale Belastun­ gen, erlebte Hilflosigkeit und Stress äußern sich zunehmend in Verhaltensauffälligkeiten (→ FS soziale und emotionale Entwicklung).

Literatur Bowlby, K. W. (1969): Bindung. Frankfurt a. M.: Fi­ scher. Lingg, A. & Theunissen, G. (2000): Psychische Stö­ rungen und geistige Behinderung. Freiburg: Lam­ bertus. Mahoney, G. & Powell, A. (1988): Modifying parent child interaction: Enhancing the development of handicapped children. Journal of Special Educa­ tion 22, 1, 82–96. Papoušek, M. (1994): Vom ersten Schrei zum ersten Wort. Anfänge der Sprachentwicklung in der vor­ sprachlichen Kommunikation. Bern: Huber. Papoušek, M. (1999): Regulationsstörungen der frü­ hen Kindheit: Entstehungsbedingungen im Kon­ text der Eltern-Kind-Beziehung. In: Oerter, R., v. Hagen, C., Röper, G. & Noam. G. (Hrsg.): Klini­ sche Entwicklungspsychologie (148–169). Wein­ heim: Beltz. Rauh, H. (2002): Vorgeburtliche Entwicklung und frühe Kindheit. In: Oerter, R. & Montada, L. (Hrsg.): Entwicklungspsychologie (131–208). Wein­ heim: Beltz. Sarimski, K. (2001): Kinder und Jugendliche mit geis­ tiger Behinderung. Göttingen: Hogrefe. Sarimski, K. & Papoušek, M. (2000): Eltern-KindBeziehungen und die Entwicklung von Regula­ tionsstörungen. In: Petermann, F., Niebank, K. & Scheithauer, H. (Hrsg.): Risiken in der frühkind­ lichen Entwicklung. Entwicklungspsychopatholo­ gie der ersten Lebensjahre (199–222). Göttingen: Hogrefe. Zimmermann, P., Suess, G., Scheuerer-Englisch, H. & Grossmann, K. (2000): Der Einfluss der ElternKind-Beziehung auf die Entwicklung psychischer Gesundheit. In: Petermann, F., Niebank, K. & Scheithauer, H. (Hrsg.): Risiken in der frühkind­ lichen Entwicklung. Entwicklungspsychopatholo­ gie der ersten Lebensjahre (301–327). Göttingen: Hogrefe.

Prävention Waldemar von Suchodoletz

1 Prävention: ­Sprach­entwicklungs­störungen und ­deren Ursachen Sprachentwicklungsstörungen zählen im Kin­ desalter zu den häufigsten Behinderungen, und eine Sprachtherapie ist im Rahmen der Früh­ förderung die am häufigsten verordnete Inter­ ventionsform. Die Symptome einer Sprachent­ wicklungsstörung (→  Entwicklungs­bedingte Sprachstörungen) sind altersabhängig und können sowohl die Sprachproduktion als auch das Sprachverständnis betreffen. Im Säug­ lings­alter lallen betroffene Kinder nur wenig und sie beginnen verspätet zu sprechen. Im zweiten Lebensjahr steht ein verminderter Wortschatz, im dritten syntaktische Probleme und im Kindergartenalter ein Dysgrammatis­ mus im Vordergrund. In der Regel sind zusätz­ lich Lautbildungsstörungen zu beobachten. Im Schulalter fallen viele Kinder in der Spontan­ sprache kaum noch auf. Sie sprechen in richti­ gen, aber kurzen Sätzen mit einfachen gram­ matischen Strukturen. Ihnen fällt es schwer, zusammenhängend zu erzählen und Proble­ me beim Schriftspracherwerb beeinträchtigen den Schulerfolg. Bei etwa der Hälfte der Kinder bilden sich Sprachauffälligkeiten im Laufe der ersten Le­ bensjahre zurück. Ist aber auch noch im Ein­ schulungsalter eine Sprachstörung zu beob­ achten, dann ist mit einem Persistieren bis ins Jugend- und Erwachsenenalter hinein zu rechnen. Die sozialen Entwicklungschancen dieser Kinder sind deutlich eingeschränkt und die Persönlichkeitsentwicklung ist ge­ fährdet (von Suchodoletz 2004). Wegen der langfristigen negativen Folgen von Sprach­ entwicklungsstörungen ist eine Prävention dringend geboten.

Präventive Maßnahmen haben zum Ziel, Behinderungen durch eine Beseitigung der Ursachen vorzubeugen (primäre Prävention), die Herausbildung eines ausgeprägten Stö­ rungsbildes durch eine Früherkennung und Frühintervention zu verhindern (sekundäre Prävention) und das Auftreten von Kompli­ kationen und Sekundärfolgen durch eine Be­ handlung und Rehabilitation zu vermeiden (tertiäre Prävention).

2  Primäre Prävention Eine primäre Prävention setzt an den Ursachen an. Als wesentliche Ursachen für Sprachent­ wicklungsstörungen werden hirnorganische Er­ krankungen während der Schwangerschaft und Geburt, Hör- bzw. auditive Wahrnehmungsstö­ rungen sowie ungünstige Umweltbedingungen diskutiert. Spezifische (umschriebene) Sprach­ entwicklungsstörungen sind vorwiegend gene­ tisch bedingt.

2.1 Prävention durch eine ­Vermeidung frühkindlicher ­Hirnschädigungen Zur Verhinderung frühkindlicher Hirnschä­ digungen wurden Programme zur Schwan­ gerschaftsvorsorge, Geburtsüberwachung  und Neugeborenenintensivtherapie etabliert. Kin­ der, die noch vor 20  Jahren eine schwere prä- oder perinatale Hirnschädigung erlitten hätten, haben heute gute Chancen auf eine un­ gestörte Entwicklung. Auf der anderen Seite überleben heute Kinder, die früher gestorben wären, dann aber nicht selten mit frühkindli­ chen Hirnschädigungen. Die Grenze zwischen

508 

Prävention

Kindern mit guten und weniger guten Chan­ cen hat sich immer weiter zu Kindern mit ei­ nem immer niedrigeren Geburtsgewicht hin verschoben, die prozentuale Häufigkeit früh­ kindlicher Hirnschädigungen aber kaum ver­ ändert. Wie prospektive Längsschnittstudien ge­ zeigt haben, verläuft der Spracherwerb (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau) bei Kindern mit einer frühkindlichen Hirnschä­ digung häufig verzögert (Jungmann 2006). Dies betrifft nicht nur Kinder mit erheblichen Schwangerschafts- oder Geburtskomplikatio­ nen, sondern auch solche mit geringeren biologischen Risiken. Leichtere Schwanger­ schafts- und Geburtskomplikationen sind al­ lerdings nur in den ersten Lebensjahren für Beeinträchtigungen der Sprachentwicklung verantwortlich, während im späteren Kindes­ alter psychosoziale Faktoren ausschlaggeben­ der sind (Meyer-Probst & Reis 1999). Bei Sprachauffälligkeiten als Folge früh­ kindlicher Hirnschädigungen sind gleichzei­ tig Beeinträchtigungen anderer kognitiver Funktionen zu beobachten. Eine Prävention von Komplikationen während Schwanger­ schaft und Geburt kann somit zu einer Ver­ hinderung von Spracherwerbsstörungen bei einer allgemeinen Verzögerung der Entwick­ lung geistiger Fähigkeiten beitragen, nicht aber zu einer Verminderung der Zahl von Kin­ dern mit Spezifischen Sprachentwicklungs­ störungen.

2.2 Prävention durch eine ­Therapie von Hör- und auditiven ­Wahrnehmungsstörungen Sprache kann sich nur entwickeln, wenn Kin­ der akustische Signale wahrnehmen kön­ nen. Taube Kinder bleiben, wenn keine Be­ handlung erfolgt, stumm. Aber auch bei einer leichteren chronischen Beeinträchtigung des Hörvermögens kann eine Behinderung des Spracherwerbs die Folge sein. Als kritischer Wert gilt eine Hörminderung von > 30 dB HL (Hörleistung). Zur Prävention von Sprachent­

wicklungsstörungen infolge von angeborenen Hörstörungen wird eine Versorgung der Kin­ der mit einem Hörgerät bzw. einem Cochlea implant innerhalb der ersten sechs Lebensmo­ nate gefordert. In Deutschland scheitert eine Frühbe­ handlung bislang allerdings an einer unzurei­ chenden Früherkennung. Das durchschnitt­ liche Alter, in dem hochgradig schwerhörige Kinder erfasst werden, beträgt etwa zwei Jah­ re und eine leichtere Schwerhörigkeit fällt meist erst im Einschulungsalter auf (FinckhKrämer et al. 1998). Die Einführung eines routinemäßigen Hörscreenings mit objekti­ ven Methoden wie z. B. TEOAE (transitorisch evozierte otoakustische Emissionen) oder BERA (brainstem evoked response audiometry) im Neugeborenenalter, wie dies gegenwär­ tig diskutiert wird, lässt aber in Zukunft eine deutliche Verbesserung der Früherfassung er­ warten. Umstritten ist, wie eine sprachliche För­ derung von hochgradig hörbehinderten Kin­ dern nach Versorgung mit einem Cochlea im­ plant bzw. Hörgerät erfolgen sollte. Von den meisten Experten wird der Anbahnung der Lautsprache Vorrang gegeben. Einige spre­ chen sich hingegen für eine Vermittlung der Gebärdensprache als Muttersprache aus. Sie argumentieren, dass nur, wenn Kindern vor dem vierten Lebensjahr eine ausreichende Möglichkeit zum Spracherwerb gegeben wird, mit der Herausbildung eines vollständigen Sprachsystems zu rechnen ist. Kontrovers diskutiert werden auch die Aus­ wirkungen einer vorübergehenden Schwerhö­ rigkeit. Eine Schallleitungsschwerhörigkeit wird im Kindesalter sehr häufig beobachtet. Sie tritt bei chronischen Mittelohrentzündun­ gen als Folge einer Flüssigkeitsansammlung im Mittelohr auf. Zur Prävention von Sprach­ entwicklungsstörungen wird bislang eine frühzeitige Behandlung mit Antibiotika und eine Operation mit Trommelfellschnitt und Legen eines Paukenröhrchens zur Schaffung einer Abflussmöglichkeit empfohlen. Neuere, gut kontrollierte Studien sprechen aber da­ für, dass eine vorübergehende Schallleitungs­



Sekundäre Prävention   509

schwerhörigkeit zu keiner nennenswerten Be­ einträchtigung der Sprachentwicklung führt (Roberts et al. 2004). Durch eine konsequen­ te Behandlung einer chronischen Mittelohr­ entzündung ist somit eine Verminderung der Zahl von Kindern mit Sprachentwicklungs­ störungen nicht zu erwarten. In letzter Zeit wird auch die Hypothe­ se vertreten, dass Beeinträchtigungen des Spracherwerbs die Folge Auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS) seien. Bislang ist aber weder belegt, dass bei Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen auditive Wahrnehmungsstörungen gehäuft auftreten (von Suchodoletz et al. 2004), noch dass ein auditives Wahrnehmungstraining zu einer Verbesserung sprachlicher Fähigkeiten führt (von Suchodoletz 2003).

2.3 Prävention durch eine ­Beseitigung sprachhemmender ­Umweltfaktoren Die Überzeugung, dass die Sprachkompe­ tenz der Kinder durch eine exzessive Nutzung von Massenmedien immer schlechter wird, ist weit verbreitet. Es wird davon ausgegan­ gen, dass Fernseher und Computer mehr und mehr interaktive Kommunikationsformen er­ setzen und dadurch eine Verschlechterung der Ausdrucksfähigkeit, eine Verarmung des Wortschatzes und eine Verkümmerung der sprachlichen Kompetenzen eintritt. Nicht al­ tersgerechte Fernsehsendungen würden insbe­ sondere in den ersten Lebensjahren mit ­einer Reizüberflutung einhergehen und einen au­ tomatisierten Abschaltmechanismus zur Fol­ ge haben. Die Kinder würden es verlernen, sich auf Sprache zu konzentrieren, was den Sprach­erwerbsprozess nachhaltig beeinträch­ tige (Böhme-Dürr 2000). Obwohl die Annahme negativer Auswir­ kungen einer übermäßigen Nutzung von Massenmedien auf die Sprachentwicklung überaus einleuchtend ist und empirische Be­ funde die Richtigkeit der Verdrängungs- bzw. Überforderungshypothese zu belegen schei­

nen, sind die Folgen eines intensiven Me­ diengebrauchs umstritten. Wenn nicht nur der Fernsehkonsum, sondern auch Schicht­ zugehörigkeit und Intelligenz Berücksichti­ gung finden, dann lassen sich hinsichtlich der Sprach- und Lesekompetenz nur geringe Unterschiede zwischen viel und wenig fern­ sehenden Kindern nachweisen (Ennemoser 2003, Schiffer 2003). Nur ein unkontrollierter Fernsehkonsum im Kindergartenalter durch einen eigenen Fernseher im Kinderzimmer hat einen nachweislich negativen Einfluss auf die Sprachentwicklung (von Kries et al. 2006). Wird die Qualität der bevorzugt gesehenen Sendungen beachtet, dann werden bei einem vorwiegenden Konsum von Unterhaltungsund Erwachsenensendungen eher negative und bei einer Bevorzugung pädagogisch ori­ entierter Sendungen tendenziell förderliche Effekte sichtbar. Eine genauere Datenanalyse ergibt jedoch, dass nicht das anspruchslose­ re Programm die Sprachentwicklung hemmt und das anspruchsvollere diese fördert, son­ dern dass sprachlich gewandtere Kinder an­ spruchsvollere Sendungen bevorzugen und umgekehrt (Ennemoser 2003). Die Möglichkeiten zur Prävention einer Sprachentwicklungsstörung durch eine Be­ grenzung des Medienkonsums und durch die Förderung pädagogisch orientierter Pro­ gramme müssen demnach als begrenzt ange­ sehen werden.

3  Sekundäre Prävention 3.1 Anleitung der Eltern zu ­sprachförderndem Verhalten In den 1970er Jahren wurde für Eltern be­ hinderter Kinder das „Hanen-Programm“ (benannt nach der kanadischen Sprachthe­ rapeutin Ayala Hanen Manolson) entwickelt, um diese zu sprachförderndem Verhalten in alltäglichen Interaktionen zu befähigen. Bei diesem Konzept werden Eltern einzeln oder

510 

Prävention

Tab. 1: Anleitung der Eltern zu sprachförderndem Verhalten Autoren

Kindergruppe

Ergebnisse

Anmerkungen

Whitehurst et al. 1991

Late talkers (2 Jahre)

Verbesserung von Wortschatz und Syntax

nach 5 Jahren kein Effekt

Girolametto et al. 1996, 1997

Late talkers (2 Jahre)

Verbesserung von Wortschatz, Syntax und Lautbildung, Mütter responsiver

adaptiertes HanenProgramm

Ward 1999

Säuglinge (durchschnittlich 10 Monate)

mit 3 Jahren 5 % Sprachstörungen gegenüber 85 % in der Kontroll­ gruppe

Säuglinge mit einer Retardierung präverbaler Fähigkeiten

Baxendale & ­Hesketh 2003

Late talkers (2 Jahre)

nach 1 Jahr signifikant besser im Sprachtest

gleicher Effekt wie Individualtherapie, aber kostengünstiger

Amorosa & Endres 2004

Late talkers und SSES (2–4 Jahre)

keine Überprüfung der Sprachfort­ schritte, hohe Zufriedenheit der Eltern

Peterson et al. 2005

Late talkers (2 Jahre)

Verbesserung von Wortschatz, Syntax und Lautbildung, Mütter responsiver

Unterschichtkinder

Buschmann et al. 2007

Late talkers (2 Jahre)

Verbesserung von Wortschatz und Syntax, hohe Zufriedenheit der Eltern

nach 1 Jahr noch deutli­ cher Effekt

in Gruppen angeleitet, das Spiel ihrer Kinder mit kindgerechter Sprache zu kommentieren und Dinge, für die sich das Kind gerade in­ teressiert, zu benennen und zu beschreiben. Ein solcher Therapieansatz bietet sich an, da in den ersten Lebensjahren zwischen sprach­ lichen Fähigkeiten der Kinder und der Quan­ tität und Qualität des Sprachangebots signifi­ kante Zusammenhänge bestehen. In mehreren Evaluationsstudien mit El­ tern zweijähriger sprachentwicklungsverzö­ gerter Kinder zeigte sich, dass Mütter nach einer Anleitung zu sprachförderndem Ver­ halten langsamer und weniger komplex mit ihren Kindern sprechen, sie den Kindern mehr Zeit zum Antworten lassen und sie sich in ihren Äußerungen auf Wörter, die neu erworben werden sollen, konzentrieren. Die Kinder selbst hatten bei Nachuntersu­ chungen gegenüber Kontrollkindern einen größeren Wortschatz, verwendeten Wörter variationsreicher, zeigten eine erhöhte Äuße­ rungslänge und waren besser zu verstehen.

Die ­Mutter-Kind-Interaktionen verliefen zu­ dem entspannter. Bei einer entsprechenden Gestaltung der Angebote sind nicht nur El­ tern der Mittelschicht, sondern auch Unter­ schichtfamilien zu erreichen (vgl. Übersicht in von Suchodoletz 2007). Insgesamt belegen die bisherigen Befunde die prinzipielle Wirk­ samkeit dieses Therapiekonzepts. Im frü­ hen Kindesalter ist die Effektivität einer An­ leitung von Eltern in Gruppen mit der einer kindzentrierten Sprachtherapie vergleichbar und gleichzeitig kostengünstiger. In Deutsch­ land gibt es aber gegenwärtig kaum Ange­ bote für Trainingsgruppen, welche Eltern sprachentwicklungsverzögerter Kinder nut­ zen könn­ten.

3.2 Anleitung der Eltern zum ­dialogischen Vorlesen Gemeinsames Anschauen von Bilderbüchern und Vorlesen eignen sich im frühen Kindes­

Sekundäre Prävention   511



Tab. 2: Anleitung der Eltern zu dialogischem Vorlesen Autoren

Kindergruppe

Ergebnisse

McCormick & ­Mason 1986

vor Kindergarteneintritt

Lesefähigkeit in 1. Klasse besser

Whitehurst et al. 1988

Alter 2–3 Jahre

Verbesserung expressiver und rezeptiver Sprachleistungen (nach 1 Jahr noch deutlicher Effekt)

Head Start Program

Whitehurst et al. 1994a

Alter 2–3 Jahre

effektiver als direkte Anleitung der Eltern

Videotraining

Whitehurst et al. 1994b

Kindergartenalter

kein Effekt

Vorlesen durch Kinder­ gärtnerinnen

High et al. 2000

Säuglinge (5–11 ­Monate)

mit 1 ½ - 2 Jahren besserer akti­ ver und passiver Wortschatz

Unterschichtfamilien Anleitung beim Kin­ derarzt

Mendelsohn et al. 2001

Alter 2–5 Jahre

Verbesserung expressiver und rezeptiver Sprachleistungen

Unterschichtfamilien Anleitung beim Kin­ derarzt

Zevenbergen et al. 2003

Alter 4 Jahre

Verbesserung der Spontan­ sprache

Head Start Program Unterschichtfamilien

hohe Akzeptanz bei Eltern und Experten, keine Überprüfung der Effektivität

im Internet verfügbares Videotraining (Read Together-Talk Together)

Blom-Hoffman et al. 2006

alter besonders gut zur Sprachanregung. Beim Anschauen eines Bilderbuches ist die sprachli­ che Interaktion intensiver als während Spiel-, Essens- oder Anziehsituationen. Von dieser Erfahrung ausgehend wurden Programme zur Anleitung von Eltern (→ Frühe Kommunika­ tion und Interaktion) zum dialogischen Vor­ lesen entwickelt, die auch für Problemfamili­ en geeignet sind. Die Effektivität eines solchen Ansatzes, der sich mittels Videotraining auch sehr kostengünstig gestalten lässt, wurde in mehreren Interventionsstudien belegt. Selbst für Eltern von Kindern im präverbalen Sta­ dium hat sich eine solche Anleitung als effek­ tiv erwiesen (Übersicht in von Suchodoletz 2007). Bei einem solchen Vorgehen führt nicht das Vorlesen alleine zu Sprachfortschritten, sondern insbesondere das Gespräch über die Bilder und Geschichten. Als wesentliche Wirkkomponente ist nicht die Erhöhung des

Anmerkungen

sprachlichen Inputs anzusehen. Die Beschleu­ nigung des Spracherwerbsprozesses durch ein dialogisches Vorlesen beruht im Wesentli­ chen auf einer Zunahme verbaler Interaktio­ nen in einer motivierenden, vom Kind als po­ sitiv erlebten Atmosphäre.

3.3  Kindzentrierte Sprachtherapie Eine kindzentrierte Behandlung kann als Ein­ zeltherapie im Rahmen einer sprachtherapeu­ tischen Behandlung oder als Sprachförderung in Kindergruppen erfolgen. Zur Wirksam­ keit kindzentrierter Frühinterventionen gibt es bislang aber kaum Untersuchungen. Ne­ ben Einzelfallschilderung wurde lediglich eine kontrollierte Studie mit 21 zweijährigen sprachretardierten Kindern publiziert, in der positive Effekte einer sprachtherapeutischen Behandlung auf Wortschatz- und Grammatik­

512 

Prävention

entwicklung sowie Verständlichkeit und Kom­ munikationsgeschick beobachtet wurden. Die meisten Überprüfungen der Effektivi­ tät einer Sprachtherapie erfolgten bei Kindern im Kindergarten- oder Vorschulalter (tertiäre Prävention). Aus einer für die Cochrane Col­ laboration erstellten Metaanalyse geht hervor, dass Erfolge einer logopädischen Behandlung auf bestimmte Sprachdimensionen begrenzt eintreten. Nach bisherigen Erfahrungen las­ sen sich Lautbildungsfähigkeit und aktiver Wortschatz durch eine Sprachtherapie sehr gut beeinflussen. Fortschritte hinsichtlich der Grammatikproduktion können erwartet wer­ den, wenn das Sprachverständnis altersent­ sprechend entwickelt ist, während Therapie­ erfolge hinsichtlich des Sprachverständnisses bislang nicht durch aussagefähige Studien be­ legt werden konnten (Law et al. 2004). Der Effektivität einer Sprachförderung in Kindergruppen wurde erst in wenigen Stu­ dien genauer nachgegangen. Diese Pilotpro­ jekte sprechen dafür, dass ein Sprachtraining in Kindergartengruppen, das durch Sprach­ therapeuten (Hodge & Downie 2004) oder ausreichend angeleitete Kindergärtnerinnen (Spannenkrebs & Krügel 2005) durchgeführt wird, ähnlich wirksam ist wie eine individu­ elle Sprachtherapie.

4  Schlussfolgerungen Spezifische Sprachentwicklungsstörungen be­ ruhen zu einem erheblichen Teil auf einer ge­ netisch bedingten Veranlagung, die präven­ tiven Maßnahmen kaum zugänglich ist. Eine Vorbeugung setzt an moderierenden Faktoren an, die für eine Manifestation umschriebener Sprachstörungen von wesentlicher Bedeutung sind. Die Zahl von Kindern mit Sprachstö­ rungen im Rahmen einer allgemeinen kogni­ tiven Entwicklungsbeeinträchtigung lässt sich durch eine Vermeidung frühkindlicher Hirn­ schädigungen vermindern. Zu einer Redu­ zierung audiogen bedingter Sprachstörungen

kann eine Früherkennung und Frühtherapie angeborener Hörstörungen beitragen. Obwohl spätestens seit der PISA-Studie die Bedeutung der Sprach- und Lesekompetenz für die spätere Lebensbewährung einer brei­ ten Öffentlichkeit bewusst geworden ist, wird in den ersten Lebensjahren bei Auffälligkei­ ten des Spracherwerbs häufig zum Abwarten geraten. So bleiben präventive Möglichkeiten während der sensiblen Phasen der Sprach­ entwicklung ungenutzt. Um die Chancen von Kindern mit Spracherwerbsproblemen zu verbessern, sollten in Zukunft Sprachauf­ fälligkeiten frühzeitiger Beachtung finden. Beim Nachweis einer Sprachentwicklungsver­ zögerung im Alter von zwei Jahren sind nach dem Ausschluss einer Hörstörung und einer allgemeinen kognitiven Entwicklungsverzö­ gerung eine ausführliche Beratung der Eltern und eine Anleitung zu sprachfördernden In­ teraktionen erforderlich. International haben sich strukturierte Trainingsprogramme für Elterngruppen, durch die Eltern zu sprach­ förderndem Verhalten und zum dialogischen Vorlesen befähigt werden, als erfolgreich er­ wiesen. Auch sind kindzentrierte Sprachför­ derprogramme, die in Kindereinrichtungen unter Leitung von Sprachtherapeuten oder spezifisch weitergebildeten Erzieherinnen in Gruppen einsetzbar sind, geeignet, Kindern mit Sprachentwicklungsauffälligkeiten wirk­ sam zu helfen. In Deutschland stehen geeig­ nete Sprachtrainingsprogramme für Elternund Kindergruppen bislang aber kaum zur Verfügung. Die Erarbeitung, Überprüfung und breite Implementierung strukturierter Sprachförderprogramme ist für die nächsten Jahre als vordringliche Aufgabe im Rahmen einer Prävention von sprachbedingten Ent­ wicklungsrisiken anzusehen.

Literatur Amorosa, H. & Endres, R. (2004): Gruppe zur Anlei­ tung von Eltern junger sprachentwicklungsverzö­ gerter Kinder. Psychiatrische Praxis 31, 129–131. Baxendale, J. & Hesketh, A. (2003): Comparison of the effectiveness of the Hanen Parent Programme



Literatur   513

and traditional clinic therapy. International Jour­ nal of Language & Communication Disorder 38, 397–415. Blom-Hoffman, J., O’Neil-Pirozzi, T.-M. & Cutting, J. (2006): Reading together, talk together: The accep­ tability of teaching parents to use dialogic reading strategies via videotaped instruction. Psychology in the Schools 43, 71–78. Böhme-Dürr, K. (2000): Einfluss von Medien auf den Sprachlernprozess. In: Grimm, H. (Hrsg.): Sprach­ entwicklung (433–459). Göttingen: Hogrefe. Buschmann, A., Heggen, I., Jooss, B. & Pietz, J. (2007): Frühe Elternanleitung zu sprachförderlichem Ver­ halten bei „late talkers“ – Das Heidelberger Eltern­ training zur frühen Sprachförderung. 36. Jahres­ kongress des dbl vom 7.–9. 6. 2007 in Karlsruhe. Ennemoser, M. (2003): Der Einfluss des Fernsehens auf die Entwicklung von Lesekompetenzen. Eine Längsschnittstudie vom Vorschulalter bis zur drit­ ten Klasse. Hamburg: Kovac. Finckh-Krämer, U., Spormann-Lagodzinski, ­M.-E., Nubel, K., Hess, M. & Gross, M. (1998): Wird die Di­ agnose bei persistierenden kindlichen Hör­störungen immer noch zu spät gestellt? HNO 46, 598–602. Girolametto, L., Pearce, P. S. & Weitzman, E. (1996): Interactive focused stimulation for toddlers with expressive vocabulary delays. Journal of Speech and Hearing Research 39, 1274–1283. Girolametto, L., Pearce, P. S. & Weitzman, E. (1997): Effects of lexical intervention on the phonology of late talkers. Journal of Speech, Language and Hea­ ring Research 40, 338–348. High, P. C., LaGasse, L., Becker, S., Ahlgren, I. & Gardner, A. (2000): Literacy promotion in primary care pediatrics: Can we make a difference? Pediat­ rics 105, 927–934. Hodge, T. & Downie, J. (2004): Together we are heard: Effectiveness of daily ‚language‘ groups in a com­ munity preschool. Nursing and Health Sciences 6, 101–107. Jungmann, T. (2006): Unreife bei der Geburt. Ein Risikofaktor für Sprachentwicklungsstörungen? Kindheit und Entwicklung 15, 182–194. Kries, R. v., Suchodoletz, W. v., Stränger, J. & Toschke, A. M. (2006): Fernseher im Kinderzimmer – Ein möglicher Risikofaktor für expressive Sprachstö­ rungen bei 5- und 6-jährigen Kindern? Gesund­ heitswesen 68, 613–617. Law, J., Garrett, Z. & Nye, C. (2004): The efficacy of treatment for children with developmental speech and language delay/disorder: A meta-analysis. Journal of Speech, Language and Hearing Re­ search 47, 924–943. McCormick, C. E. & Mason, J. M. (1986): Interventi­ on procedures for increasing pre-school children’s

interest in and knowledge about reading. In: Teale, W. H. & Sulzby, E. (Eds.), Emergent Literacy: Wri­ ting and Reading (90–115). Norwood: Ablex. Mendelsohn, A. L., Mogilner, L. N., Dreyer, B. P., For­ man, J. A., Weinstein, S. C., Broderick, M., Cheng, K. J., Magloire, T., Moore, T. & Napier, C. (2001): The impact of a clinic-based literacy intervention on language development in inner-city preschool children. Pediatrics 107, 130–134. Meyer-Probst, B. & Reis, O. (1999): Lebenslauffor­ schung. Von der Geburt bis 25: Rostocker Längs­ schnittstudie (ROLS). Kindheit und Entwicklung 8, 59–68. Peterson, P., Carta, J. J. & Greenwood, C. (2005): Teaching enhanced milieu language teaching skills to parents in multiple risk families. Journal of Ear­ ly Intervention 27, 94–109. Roberts, J. E., Rosenfeld, R. M. & Zeisel, S. A. (2004): Otitis media and speech and language: A metaanalysis of prospective studies. Pediatrics 113, e238–e248. Schiffer, K. (2003): Fernsehen und die Entwicklung von Sprach- und Lesekompetenzen. Eine Längs­ schnittstudie unter Berücksichtigung des familiä­ ren Hintergrundes. Hamburg: Kovac. Spannenkrebs, M. & Krügel, C. (2005): Sprachför­ derung im Kindergarten im Landkreis Biberach – Ein mit Mitteln der Landesstiftung gefördertes Projekt. Gesundheitswesen 67, 777–780. Suchodoletz, W. v. (2003): Behandlung auditiver Wahrnehmungsstörungen: Methoden und ihre Wirksamkeit. Forum Logopädie 6, 6–11. Suchodoletz, W. v. (2004): Zur Prognose von Kindern mit umschriebenen Sprachentwicklungsstörun­ gen. In: Suchodoletz, W. v. (Hrsg.): Welche Chan­ cen haben Kinder mit Entwicklungsstörungen (155–199)? Göttingen: Hogrefe. Suchodoletz, W. v. (2007): Prävention von Sprachstö­ rungen. In: Suchodoletz W. v. (Hrsg.): Prävention von Entwicklungsstörungen (45–79). Göttingen: Hogrefe. Suchodoletz, W. v., Alberti, A. & Berwanger, D. (2004): Sind umschriebene Sprachentwicklungs­ störungen Folge von Defiziten in der auditiven Wahrnehmung? Klinische Pädiatrie 216, 49–56. Ward, S. (1999): An investigation into the effective­ ness of an early intervention method for delayed language development in young children. Interna­ tional Journal of Language & Communication Dis­ orders 34, 243–264. Whitehurst, G. J., Arnold, D. S., Epstein, J. N., An­ gell, A. L., Smith, M. & Fischel, J. (1994a): A picture book reading intervention in day care and home for children from low-income families. Develop­ mental Psychology 30, 679–689.

514 

Prävention

Whitehurst, G. J., Epstein, J., Angell, A., Payne, A., Crone, D. & Fischel, J. (1994b): Outcomes of an emergent literacy intervention in Head Start. Jour­ nal of Ecucational Psychology 86, 542–555. Whitehurst, G. J., Falco, F. L., Lonigan, C. J., Fischel, J. E., DeBaryshe, B. D., Valdez-Menchaca, M. C. & Caulfield, M. (1988): Accelerating language deve­ lopment through picture book reading. Develop­ mental Psychology 24, 552–559.

Whitehurst, G. J., Fischel, J. E., Lonigan, C. J., ValdezMenchaca, M. C., Arnold, D. S. & Smith, M. (1991): Treatment of early expressive language delay: If, when, and how. Topics in Language Disorders 11, 55–68. Zevenbergen, A. A., Whitehurst, G. J. & Zevenbergen, J. A. (2003): Effects of a shared-reading interventi­ on on the inclusion of evaluative devices in narra­ tives of children from low-income families. Jour­ nal of Applied Developmental Psychology 24, 1–15.

Frühdiagnostik Hildegard Heidtmann

1 Definition, Begriffs- und ­Gegenstandsgeschichte Der Terminus „Frühdiagnostik“ ist jünge­ ren Datums und zunächst einmal nicht direkt auf Sprache und Kommunikation bezogen. In der Behindertenpädagogik bzw. Sonder- oder Heilpädagogik allgemein spricht man eher von „Frühförderung“ und „Früherkennung“ (vgl. v. Suchodeletz 2005). Früherkennung ist gleichzusetzen mit Frühdiagnostik, da Diag­ nose „unterscheiden“ bzw. „auseinander ken­ nen“ bedeutet (Heidtmann 1990, 1). Das Ziel der Frühdiagnostik ist das Erkennen einer Entwicklungsstörung, bevor eindeutige Sym­ ptome auftreten (→ Prävention). Frühförde­ rung ist weit verbreitet: „In manchen groß­ städtischen Regionen erhält fast jedes zweite Kind irgendeine Form von Frühförderung, so dass manch einer bereits von Überversorgung spricht“ (v. Suchodeletz 2005a, V). Nicht zu­ friedenstellend gelöst sind hingegen die Pro­ bleme, wie und mit welchen diagnostischen Verfahren entwicklungsgefährdete Kinder er­ fasst werden können und ob es sich um Ent­ wicklungsrisiken handelt, auf deren Basis sich eine Störung herausbilden wird. Verbreitung fanden Gedanken zur Früh­ förderung (vgl. Leyendecker 2008) in den 60er und frühen 70er Jahren des 20. Jahrhun­ derts: 1966 formulierte der Europarat „Emp­ fehlungen für eine Frühförderung behinderter Kinder“, 1971 wurden in der BRD gesetzli­ che Vorsorgeuntersuchungen eingeführt und 1973 verabschiedete der Deutsche Bildungs­ rat seine „Empfehlungen zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher“, in denen der Frühförderung eine besondere Bedeutung zugeschrieben wurde. Erst im Jahr 2003 wur­ den Früherkennung und Frühförderung von

der Sozialgesetzgebung geregelt (vgl. SGB IX, 2008). Bis dahin gab es die Leistung „Früh­ förderung“ weder im Leistungsrecht der ge­ setzlichen Krankenversicherung noch in der Sozial- und Jugendhilfe im Rahmen der Ein­ gliederungshilfe für Menschen mit Behinde­ rungen. Laut SGB IX, § 30 sind nun behin­ derte und von Behinderung bedrohte Kinder im Altersbereich von null bis sechs Jahren (von der Geburt bis zur Einschulung) berech­ tigt, Maßnahmen zur Früherkennung und Frühförderung – bezeichnet mit „Komplex­ leistung Frühförderung“ – zu erhalten. Un­ ter fachlichen Aspekten bedeutet dies, dass Frühförderung als Komplexleistung „aus einem System interdisziplinär abgestimm­ ter ärztlicher, medizinisch-therapeutischer, ­psychologischer,  heilpädagogischer und so­ zialpädagogischer Leistung besteht und am­ bulante wie mobile Beratung einschließt. Alle Leistungen werden auf der Grundlage eines individuellen Förderkonzepts erbracht, inter­ disziplinär entwickelt und entsprechend den Erfordernissen fortgeschrieben“ (Leyende­ cker 2008, 30). Bei Früherkennung und Früh­ förderung geht es demnach um sämtliche Entwicklungsdimensionen, also um Sprache/ Kommunikation, Wahrnehmung, Bewegung, Kognition, Emotion, Soziabilität (→ Inter­ subjektivität und Kommunikation, → Spra­ che und Wahrnehmung, → Kognition und Emotion). Auch wenn bei vielen Kindern mit Entwicklungsstörungen häufig Beeinträchti­ gungen in mehreren Entwicklungsdimensi­ onen vorliegen, es sich also um mehrdimen­ sionale Entwicklungsstörungen handelt, die eine mehrdimensionale bzw. multimodale Diagnostik erfordern, beschränkt sich nach­ folgende Darstellung zunächst auf die sprach­ lich-kommunikative Dimension (vgl. 2) und thematisiert abschließend allgemeine Aspek­ te (vgl. 3). 6

516 

Frühdiagnostik

Beim Erwerb sprachlich-kommunikativer Fä­ higkeiten kann es zum einen bei allen Kindern zu Schwierigkeiten kommen und zum ande­ ren gibt es Gruppen, die aufgrund ihrer Be­ einträchtigung auch bezüglich ihrer sprach­ lich-kommunikativen Entwicklung besonders gefährdet sind wie z. B. Kinder mit Triso­ mie  21 (→ FS geistige Entwicklung), Kinder mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Segel-Fehlbildun­ gen (→ Sprechstörungen), Kinder mit autis­ tischen Zügen (→ FS geistige Entwicklung), Kinder mit → Hörstörungen (→ FS Hören), Kinder mit cerebralen Bewegungsstörungen (→ FS körperliche und motorische Entwick­ lung) etc. (vgl. Hansen & Heidtmann 2007). Für diese Gruppen gibt es jeweils spezielle Konzepte zur Frühförderung, die u. a. auch eine frühe Sprachförderung beinhalten. Eine weitere Gruppe für eine sprachlich-kommu­ nikative Frühdiagnostik wären auch die sog. „Schreibabys“, zu denen es bislang noch we­ nig Forschungsergebnisse im Hinblick auf Gefährdungen und Störungen der sprachlichkommunikativen Entwicklung gibt (Sarimski & Papoušek 2000) (→ Frühe Kommunika­ tion). An dieser Stelle soll es nun allerdings um die Früherkennung von so genannten „Spezifischen Sprachentwicklungsstörungen“ (SSES) (synonym verwendet wird der Termi­ nus „umschriebene Sprachentwicklungsstö­ rungen“) gehen, da diese zum einen besonders häufig sind und zum anderen in der Fachli­ teratur der Sprachheilpädagogik der Termi­ nus Frühdiagnostik bzw. Früherkennung in den letzten Jahren vor allem im Zusammen­ hang damit auftaucht (vgl. z. B. Dannenbau­ er 2001, Grimm 2003, Sachse 2005, Schulz 2007b). Während mit „früh“ im Rahmen der Sozialgesetzgebung der Altersbereich von null bis sechs Jahren gemeint ist, beziehen Sach­ se (2005, 159) und Schulz (2007b, 689/699) Frühdiagnostik im Kontext von Spezifischen Sprachentwicklungsstörungen nur auf den Altersbereich von null bis drei Jahren: „Eine Frühdiagnostik im Alterszeitraum zwischen null und drei Jahren zielt daher auf die frühe Erfassung von Kindern, die im Hinblick auf die weitere Sprachentwicklung gefährdet oder

von einer Störung betroffen sind“ (Schulz 2007b, 699).

2 Zentrale Erkenntnisse, ­Forschungsstand 2.1 Verfahren zur ­Frühdiagnostik Spezifischer Sprachentwicklungs­ störungen Nach der Internationalen Klassifikation der Erkrankungen der WHO, der ICD-10 (vgl. DIMDI 1994), sind umschriebene Sprach­ entwicklungsstörungen dadurch definiert, dass die sprachlichen Fähigkeiten eines Kin­ des bei  altersgerechtem Kommunikationsbe­ dürfnis und nonverbalen Fähigkeiten deutlich außerhalb der Norm (von zwei Standardab­ weichungen) liegen. Die Sprachentwicklungs­ störung darf nicht auf primäre Defizite wie Hör- oder Sehstörungen, geistige Retardierun­ gen, neurologische Erkrankungen, psychoso­ ziale Fehlentwicklungen oder mangelnde An­ regungen der Umwelt zurückzuführen sein. Es wird zwischen expressiven und rezeptiven Formen unterschieden. Bei der rezeptiven Form treten erhebliche Probleme im Sprach­ verständnis auf, bei der expressiven Form ist die Sprachproduktion deutlich beeinträchtigt. Bei beiden Formen sind gehäuft Auffälligkei­ ten in der Aussprache zu beobachten. Spezi­ fische Sprachentwicklungsstörungen (SSES) gehören zu den häufigsten Entwicklungsstö­ rungen (→ Sprachentwicklung und Sprachab­ bau, → Prävention, → Entwicklungsbedingte Sprachstörungen). Im Vorschulalter sind da­ von 6 bis 8 % aller Kinder betroffen. Frühdiagnostik und frühe Interventionen sind unter anderem deswegen von Bedeu­ tung, da Kinder mit persistierenden Sprach­ entwicklungsstörungen nach Schuleintritt Minderleistungen in allen schulischen Be­ reichen zeigen, die unter dem Niveau liegen, das aufgrund der allgemeinen kognitiven Fä­ higkeiten zu erwarten wäre. Ausbildungsab­



Zentrale Erkenntnisse, ­Forschungsstand   517

schluss und sozialer Status im Erwachsenen­ alter sind dementsprechend niedrig. Hinzu kommen gravierende Auffälligkeiten im emotionalen und sozialen Bereich (vgl. Dan­ nenbauer 2001). Eine frühe Diagnose wird durch das Phänomen der so genannten „Late Talker“ erschwert (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau). Als Late Talker werden Kinder bezeichnet, die mit 24 Monaten noch nicht über ein expressives Lexikon von 50 Wörtern verfügen und keine produktiven Wortkombi­ nationen gebrauchen. Dies sind ca. 18 % der Gesamtpopulation. Von den Late Talkern holen ca. 35 % bis 50 % ihren Rückstand auf und werden bis zum Schuleintritt sprachlich unauffällig. Das sind die so genannten „Late Bloomer“. Ein Teil von ihnen zeigt dann eine unauffällige Entwicklung, der andere Teil hat ab dem Schuleintritt verschiedene Probleme, so dass man von einer „illusory recovery“ spricht. Die anderen 50 % der 24  Monate al­ ten Late Talker holen den Rückstand nicht auf und weisen vielfältige Beeinträchtigungen der sprachlichen Fähigkeiten auf (Sprachentwick­ lungsstörungen). Eine weitere Erschwernis im Rahmen der Frühdiagnostik ergibt sich dadurch, dass es bislang kaum diagnostische Verfahren gibt, die Kinder in den ersten beiden Jahren zu­ verlässig als Risikokinder für eine (späte­ re) Sprachentwicklungsstörung identifizie­ ren können. Solche diagnostischen Verfahren müssten Frühindikatoren berücksichtigen, die auf der Basis von Meilensteinen „der nichtsprachlichen oder sprachlichen Ent­ wicklung, die in dem jeweils erwarteten Al­ ter nicht erreicht werden“ (Schulz 2007, 691) zu definieren wären. Solche Meilensteine der Sprachentwicklung (→ Sprachentwick­ lung und Sprachabbau), das heißt Stufen, die von allen Kindern in der gleichen Reihenfol­ ge durchlaufen werden, finden sich z. B. in Grimm (2003, 43/44), Sachse (2005, 156) und Schulz (2007b, 688). Die Sprachentwicklung beginnt nicht dann, wenn Kinder erste Wör­ ter äußern, sondern entscheidende Entwick­ lungen für den Spracherwerb vollziehen sich gleich nach der Geburt (→ Intersubjektivität

und Kommunikation, → Frühe Kommuni­ kation). So „weisen Forschungsergebnisse der letzten Jahre darauf hin, dass das Schreien des Säuglings neben der reinen Signalfunkti­ on als einer der ersten wichtigen Bestandteile der vorsprachlichen Lautentwicklung und als Vorläufer der ersten eigentlichen Vokalisatio­ nen anzusehen ist“ (Sachse 2005, 155). Schulz (2007 b, 691) weist auf eine Studie hin, in der festgestellt wurde, dass die Gruppe der so ge­ nannten Late Talker bereits von den ersten Lebenswochen an einen deutlich geringeren Anteil modulierter Schreie in ihrem Lautre­ pertoire zeigte. Diagnostische Verfahren gibt es für diesen Altersbereich (von der Geburt bis 12 Monaten) nicht. Zur Zeit existieren le­ diglich rein experimentelle Methoden wie beispielsweise Schrei- und Lallanalysen (vgl. Tabelle 12 in Sachse 2005, 186/187), für die keine Gütekriterien (wie Reliabilität, Validität etc.) vorliegen. Als weiterer Frühindikator für eine mög­ liche Spezifische Sprachentwicklungsstörung wird häufig ein geringer expressiver Wort­ schatzumfang im Alter von zwei Jahren (we­ niger als 50 Wörter) genannt (vgl. z. B. Grimm 2003, Schulz 2007a). Ob sich allein auf Basis dieses Indikators zwangsläufig eine Sprach­ entwicklungsstörung ergibt oder möglicher­ weise aufgrund von Kompensationsmecha­ nismen eine unauffällige Sprachkompetenz entwickelt wird, kann unter Berücksichti­ gung der gegenwärtigen Forschungsergeb­ nisse nicht beantwortet werden, da es noch keine Langzeitstudien gibt, „in denen Kinder von den ersten Lebensmonaten und -jahren an bis zur Diagnose einer potenziellen SSES im Vorschulalter untersucht wurden“ (Schulz 2007b, 691). Hier stellt sich meines Erachtens die Frage, ob es ethisch verantwortbar ist, bei Anhaltspunkten bzw. Verdacht auf eine ge­ störte Sprachentwicklung die entsprechenden Kinder ohne sprach- und kommunikations­ therapeutische Unterstützung „forschend zu beobachten“. Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang ist, dass aufgrund von Studi­ en häufig nur Aussagen über Gruppen, nicht aber für einzelne Kinder möglich sind.

518 

Frühdiagnostik

Als spezielles diagnostisches Verfahren, das an 140 einjährigen Kindern normiert wurde, liegt der „Elternfragebogen für die Früher­ kennung von Risikokindern“ (­ELFRA-1) von Grimm & Doil (2000) vor. Dieser weist aller­ dings nur eine geringe Vorhersagekraft auf, führt zu vielen falsch-positiven Zuordnungen von Risikokindern (insgesamt 40 %) sowie zu falsch-negativen Zuordnungen, das heißt Kin­ der, die zunächst als unauffällig beurteilt wur­ den, stellten sich ein Jahr später als sprachlich auffällig heraus. ELFRA-1 ist zudem quantita­ tiv orientiert, wohingegen in dem Fragebogen zum Relationalen Wortinventar (RWI) von Schulz (zit. in Schulz 2007b) auch qualitative Aspekte, wie z. B. der Erwerb von Fokusparti­ kel (auch, mehr, nicht) und die Verwendung resultativer Verbpartikel (ab, auf, zu, aus, weg), berücksichtigt werden. Allerdings ist das RWI noch nicht normiert und auf seine Eignung für eine Früherkennung einer Spezifischen Sprachentwicklungsstörung erprobt worden. Für das Alter von 24 Monaten liegt der El­ ternfragebogen ELFRA-2 von Grimm & Doil (2000) sowie der „Sprachentwicklungstest für zweijährige Kinder“ (SETK-2) von Grimm (2000) vor. Mit diesen beiden Verfahren kann eine Risikodiagnose als Late Talker gestellt werden. Einschränkend anzumerken ist aller­ dings, dass der SETK-2 nicht mit allen Kin­ dern vollständig durchführbar ist. Ferner sollte man sich bewusst sein, dass von zwei­ jährigen Kindern mit sprachlichen Rückstän­ den die Hälfte lediglich reine Spätstarter sind, die innerhalb eines Jahres ohne weiteres Zu­ tun ihre sprachlichen Rückstände weitgehend aufholen (s. o.). Erst im Alter von drei Jahren ist demnach eine ausreichend sichere Diag­ nose einer Sprachentwicklungsstörung mög­ lich (vgl. Sachse 2005, Schulz 2007b). Dafür ist beispielsweise der „Sprachentwicklungs­ test für drei- bis fünfjährige Kinder“ (SETK3–5) von Grimm (2001) einsetzbar. Für den oben genannten Altersbereich existieren wei­ tere, qualitativ unterschiedliche diagnosti­ sche Verfahren (vgl. die Zusammenstellung in Tollkühn & Spreer (2005), die allerdings keine bewertenden Hinweise hinsichtlich der

Güte der Verfahren enthält). Sie sind für un­ terschiedliche sprachliche Teilaspekte und unterschiedliche Ziele (eher selten zur Diag­ nose einer Spezifischen Sprachentwicklungs­ störung) konzipiert.

2.2 Norm und Variabilität im frühen Spracherwerb Im Zusammenhang mit sämtlichen sprachdi­ agnostischen Verfahren und Tests sind einige grundlegende Aspekte zu bedenken. In der frühen Sprachentwicklung gibt es eine große Variabilität, die in den Verfahren unberück­ sichtigt bleibt. Die Differenz zwischen schnel­ len und langsamen Lernern beträgt zum Teil 12 Monate: „Solche enormen Spannweiten der Entwicklung weisen auf die Herausforderung in der Frühdiagnostik hin, nur echte sprachli­ che Risikokinder zu identifizieren und Norm­ varianten der Entwicklung nicht als patholo­ gisch zu beurteilen“ (Sachse 2005, 157). Auch im ELAN („Eltern Antworten. Elternfrage­ bogen zur Wortschatzentwicklung im frühen Kindesalter“) von Bockmann & Kiese-Himmel (2006, 56) zeigte sich bei der Normierung eine extreme Variabilität der einzelnen Kinder, die dazu führte, dass die Mittelwerte des durch­ schnittlichen expressiven Wortschatzumfan­ ges pro Monat über die Zeitspanne von 16 bis 26 Monaten nicht kontinuierlich anwachsen, sondern auch rückläufig sind (z. B. 133,62 als Mittelwert mit 21 Monaten und 99,19 als Mit­ telwert mit 22 Monaten). Neben der unterschiedlichen Schnelligkeit gibt es auch Unterschiede qualitativer Art im Spracherwerb (Strategien bzw. Stile), die als referenziell/nominal/ analytisch bzw. expres­ siv/pronominal/holistisch ­bezeichnet  wer­ den (vgl. Szagun 2006). Diese sind für die verschiedenen Bereiche der Sprache (z. B. Semantik und Grammatik) gültig. In den sprachdiagnostischen Verfahren finden sol­ che unterschiedlichen Spracherwerbsstile kei­ ne Berücksichtigung. Noch gravierender für die Frühdiagnostik sprachlich-kommunikativer Fähigkeiten ist

Zentrale Erkenntnisse, ­Forschungsstand   519



Tab. 1: Diagnostische Verfahren zur Sprachentwicklung und zur Früherkennung einer Spezifischen Sprachent­ wicklungsstörung (SSES) Verfahren

Autorinnen

Altersgruppe

Methode

ELAN

Bockmann & KieseHimmel 2006

16 bis 26 Monate

Elternfrage­ bogen, Screening

Expressiver Wortschatz

Erfassung lexikalischer Ent­ wicklungsverzögerungen, im Hinblick auf Kinder mit SSES keine Angaben

ELFRA-1

Grimm & Doil 2000

12 Monate

Elternfrage­ bogen

Expressiver Wortschatz, Sprachverständ­ nis, Gesten und Feinmotorik

normiert, geringe Vorhersagekraft für SSES

ELFRA-2

Grimm & Doil 2000

24 Monate

Elternfrage­ bogen

Expressiver Wortschatz, Syntax, Morphologie

Normiert, als ScreeningInstrument brauchbar (nur die Hälfte der als Late Talker klassifizierten Kinder ist mit 3 Jahren noch auffällig), „gute Vorhersagekraft“ für SSES nach Sachse (2005)

FRAKIS

Szagun 2004

1;6 bis 2;6 Jahre

Elternfrage­ bogen

Wortschatz und Grammatik (Syntax und Morphologie)

Noch nicht normiert, Er­ rechnen von Skalenwerten, Grobeinschätzung der Sprach­ entwicklung möglich (durch Vergleich mit Durchschnitts­ werten), im Hinblick auf Kinder mit SSES noch nicht überprüft

RWI

Schulz 2002 zit. nach Schulz 2007b

Einjährige Kinder

Elternfrage­ bogen

Verstehen und Produzieren von Fokusp­ artikel und resultativen Verbpräfixen

Noch nicht normiert, gute Vor­ hersagekraft von Late Talkern, im Hinblick auf Kinder mit SSES noch nicht überprüft

SETK-2

Grimm 2000

24 bis 36 Monate

Standar­ disierter Sprachent­ wicklungs­ test

Sprachproduk­ tion für Wörter und Sätze, Sprachverständ­ nis für Wörter und Sätze

Normiert, Hoher Zeitaufwand, z. T. sind Kinder zur Bearbei­ tung der Aufgaben nicht zu motivieren, prognostische Validität für SSES auf Einzelfall­ basis ist nicht geklärt

die Tatsache, dass es bislang für den deutsch­ sprachigen Raum keine normativen Daten gibt, aus denen sich Altersnormen für die Sprachentwicklung des Deutschen herleiten lassen (→ Sprachentwicklung und Sprachab­ bau). „Dennoch wird oft so verfahren, als ob es Altersnormen gäbe, und es werden Kri­ terien gesetzt, die nicht nur Altersspannen, sondern sogar ein bestimmtes Alter vorge­ ben, wann Kinder bestimmte sprachliche Leistungen zu erbringen haben, oder falls sie

Sprachliche Dimensionen

Bewertung

das nicht tun, schon sehr jung zu ‚Risikokin­ dern‘ deklariert werden“ (Szagun 2006, 206). Um verlässliche Daten zur frühkindlichen Sprachentwicklung zu erhalten, entwickelte Szagun (2004) mit einer Arbeitsgruppe den „Fragebogen zur frühkindlichen Sprachent­ wicklung“ (FRAKIS), der das Alter von 1;6 bis 2;6  Jahren erfasst. In Übereinstimmung mit den Ergebnissen in anderssprachigen Län­ dern wurde festgestellt, dass die Sprachent­ wicklung der einzelnen Kinder eine sehr gro­

520 

Frühdiagnostik

ße Variabilität im Hinblick auf Schnelligkeit und Strategien aufweist. Zu entwickeln wären noch Orientierungshilfen mit der Angabe von breiten Altersspannen, in denen bestimmte sprachliche Strukturen von vielen Kindern erworben werden. Eine zusammenfassende Übersicht für den Altersbereich von ein bis drei Jahren, der in  2.1 genannten normierten sprachentwick­ lungsdiagnostischen Verfahren sowie der oben genannten Verfahren, die auch qualita­ tive Aspekte der Sprachentwicklung berück­ sichtigen, findet sich in Tabelle 1. In der Spalte „Bewertung“ wird insbesondere die Vorher­ sagekraft im Hinblick auf Kinder mit Spezi­ fischen Sprachentwicklungsstörungen ange­ geben. Obwohl das „Normkind“ also lediglich eine Fiktion ist (→ Norm und Differenz), werden schon zweijährige Kinder als „Risikokinder“ (Grimm & Doil 2000) oder als „sprachent­ wicklungsgestört“ klassifiziert  (s. o.).  Szagun (2006) sieht diese → Klassifizierung mit zwei Jahren als Risikokind als kontraproduktiv, da die Gefahr bestehe, dass die Eltern ihre Kommunikationsmuster mit dem Kind ver­ ändern, weil sie annehmen, es mit einem Ri­ sikokind zu tun zu haben. Auch von Sucho­ deletz (2005b) diskutiert mögliche Risiken, die mit einer Früherkennung verbunden sein können (→ Prävention). Er führt insbeson­ dere eine emotionale Verunsicherung der El­ tern, eine Stigmatisierung durch das Umfeld und ungünstige Auswirkungen auf die fami­ liären Interaktionen an und belegt dies durch Untersuchungen mit Müttern von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen: „Fast alle Mütter gaben an, dass sie sich Sorgen um die Zukunft ihres Kindes machen und etwa die Hälfte berichtete über Niedergeschlagenheit und Enttäuschungsgefühle aufgrund der Ent­ wicklungsauffälligkeit“ (v. Suchodeletz 2005b, 14). Wichtig in Kombination mit Früherken­ nungsuntersuchungen ist also eine ausreichen­ de → Beratung und Unterstützung der Eltern. Nicht geklärt ist auch, wie viele der Frühin­ dikatoren vorliegen müssen, damit es sich um eine Spezifische Sprachentwicklungsstörung

handelt. Fraglich ist ebenfalls, ob die Sprach­ entwicklungsstörung wirklich „spezifisch“ ist bzw. welche anderen Entwicklungsbereiche darüber hinaus auffällig sind (vgl. Bürki et al. 2007).

3  Ausblick Wünschenswert wäre eine Einbettung der Frühdiagnostik „Sprache und Kommunika­ tion“ in den Rahmen der „Komplexleistung Frühförderung“ und in neuere Entwicklungs­ theorien, die mit der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) der WHO 2001 (vgl. DIMDI 2005) korres­ pondieren (→ Klassifikation). Während es in der Frühdiagnostik von Kindern mit Spezi­ fischen Sprachentwicklungsstörungen über­ wiegend um eine kategoriale Diagnostik (im Sinne der ICD-10) und die Entwicklung von Tests (Elternfragebögen oder Sprachentwick­ lungstests) geht, wird in der Frühförderung in­ zwischen eine dimensionale und multiple (vgl. z. B. Döpfner et al. 2000, Döpfner & Lehmkuhl 1997, Lehmkuhl 2008) bzw. multivariate Dia­ gnostik (Peterander 2003) als Standard ange­ sehen. Dieser diagnostische Prozess beinhaltet im Sinne des biopsychosozialen Modells der ICF nicht nur auffälliges Sprechen, sondern auf Basis interaktionistischer und transaktionaler Entwicklungsmodelle bezogen auf sprachlichkommunikatives Handeln auch die Berück­ sichtigung der anderen Entwicklungsdimen­ sionen, verschiedene diagnostische Methoden wie z. B.: Beobachtungen, Tests, Gespräche mit den Eltern und dem Umfeld, unterschiedliche, alltägliche Sprachhandlungssituationen (kon­ tinuierlich über die Zeit hinweg) u. a. mit Fa­ milienmitgliedern, Gleichaltrigen, bekannten und unbekannten Erwachsenen (Heidtmann 1990), eine individualisierte Diagnostik, d. h. das Erkennen intraindividueller Stärken und Schwächen sowie die Spezifizierung individu­ eller Förderziele, die auch eine Evaluation des Förderverlaufs ermöglichen.



Literatur   521

Neuere Entwicklungstheorien (vgl. Petermann et al. 2000) verstehen Entwicklung als einen Prozess qualitativer Neuorganisationen inner­ halb und zwischen verschiedenen Systemen. Dieser Prozess beinhaltet dynamische Inter­ aktionen vielfältiger biopsychosozialer Fakto­ ren auf unterschiedlichen Systemebenen, das heißt, demnach ist die Entwicklung des Kin­ des kein kontinuierlicher Prozess, sondern es sind auch Diskontinuitäten und Entwick­ lungssprünge zu beobachten, die als Selbstor­ ganisationsprozesse gedeutet werden können. Während in früheren Zeiten häufig die the­ rapiebedürftigen Defizite des Kindes im Mit­ telpunkt der Frühdiagnostik/Frühförderung standen, werden heute Risiko- und Schutzfak­ toren (Belastungen und Ressourcen) von Kind und Umwelt einbezogen. Insbesondere der El­ tern-Kind-Interaktion kommt dabei eine be­ deutsame Rolle zu (vgl. Leyendecker 2008). Auch hat sich gezeigt, dass bei jungen Kindern Entwicklungsverzögerungen und Funktions­ fähigkeit nicht unabhängig von Umweltbedin­ gungen verstanden werden können. Vermehrt zeigen Untersuchungen inzwischen die direk­ te Bedingung von Partizipationsmöglichkeiten (unabhängig von der spezifischen Ausprägung der Funktionsbeeinträchtigung) durch Um­ weltfaktoren (vgl. Hollenweger 2007). Da die Komplexleistung Frühförderung nicht allein von der Fachkompetenz der Leistungserbrin­ ger und deren interdisziplinärer Kooperation abhängt, sondern sich nur unter Mitwirkung der so genannten „Nutzer“ (Eltern und Kind) entfaltet (vgl. Leyendecker 2008), ist dies im frühdiagnostischen Prozess im Sinne einer Kind-Umfeld-Analyse einzubeziehen. Der Weg führt zur Transdisziplinarität (miteinan­ der planen – miteinander handeln, Goll 1996), zu einem transaktionalen Trialog (Leyende­ cker 2008), das heißt einem Dreiergespräch der Verantwortlichen – Fachleute, Eltern, Kind –, in dem gemeinsame Handlungsmög­ lichkeiten entwickelt, realisiert, verändert und erweitert werden können. Aufgrund der Heterogenität von Spracher­ werbsstrategien und Sprachentwicklungs­ möglichkeiten (Late Bloomer, Late Talker,

Sprachentwicklungsverzögerungen, Aufho­ ler, (Spezifische) Sprachentwicklungsstörun­ gen, Schnellentwickler, Frühentwickler, no­ minaler oder expressiver Spracherwerbsstil etc.) dürfte ein begleitender sprachdiagnosti­ scher Prozess Weg und Ziel sein!

Literatur Bockmann, A. & Kiese-Himmel, Ch. (2006): ELAN. Eltern Antworten. Elternfragebogen zur Wort­ schatzentwicklung im frühen Kindesalter. Göttin­ gen: Hogrefe. Bürki, D., Mathieu, S., Sassenroth-Aebischer, S. & Zollinger, B. (2007): Erfassung und Therapie frü­ her Spracherwerbsstörungen – Eine Dokumenta­ tionsstudie. L.O.G.O.S interdisziplinär 15, 2, 97– 102. Dannenbauer, F. M. (2001): Chancen der Frühinter­ vention bei spezifischer Sprachentwicklungsstö­ rung. Die Sprachheilarbeit 46, 3, 103–111. DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Doku­ mentation und Information) (1994): Internationa­ le Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) der Weltgesund­ heitsorganisation (WHO). Neu-Isenburg: MMI. DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Do­ kumentation und Information) (2005): Internati­ onal Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Neu-Isenburg: MMI. Döpfner, M. & Lehmkuhl, G. (1997): Von der kate­ gorialen zur dimensionierten Diagnostik. Praxis für Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 46, 7, 519–547. Döpfner, M., Heubrock, D. & Petermann, F. (2000): Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter. Göttingen: Hogrefe. Goll, H. (1996): Transdisziplinarität. In: Opp, G., Freytag, A. & Budnik, I. (Hrsg.): Heilpädagogik in der Wendezeit. Brüche, Kontinuitäten, Perspekti­ ven (164–174). Luzern: Edition SZH/SPC. Grimm, H. (2000): SETK-2: Sprachentwicklungstest für zweijährige Kinder. Göttingen: Hogrefe. Grimm, H. (2001): SETK-3–5: Sprachentwicklungs­ test für drei- bis fünfjährige Kinder. Göttingen: Hogrefe. Grimm, H. (2003): Störungen der Sprachentwick­ lung. Göttingen: Hogrefe. Grimm, H. & Doil, H. (2000): Elternfragebögen für die Früherkennung von Risikokindern. ELFRA-1: Elternfragebogen für einjährige Kinder. ELFRA-2:

522 

Frühdiagnostik

Elternfragebogen für zweijährige Kinder. Göttin­ gen: Hogrefe. Hansen, B. & Heidtmann, H. (2007): Sprachstörun­ gen. In: Borchert, J. (Hrsg.): Einführung in die Son­ derpädagogik (259–296). München: Oldenbourg. Heidtmann, H. (1990): Neue Wege der Sprachdiag­ nostik. Berlin: Marhold. Hollenweger, J. (2007): Frühförderung und ICF. Frühförderung interdisziplinär 26, 4, 149–157. Lehmkuhl, G. (2008): Multimodale Verhaltens- und Psychodiagnostik. In: Leyendecker, Ch. (Hrsg.): Gemeinsam Handeln statt Behandeln. Aufgaben und Perspektiven der Komplexleistung Frühförde­ rung (303–310). München: Reinhardt. Leyendecker, Ch. (2008): Der Weg von der Behand­ lung zum gemeinsamen Handeln. In: Leyendecker, Ch. (Hrsg.): Gemeinsam Handeln statt Behandeln. Aufgaben und Perspektiven der Komplexleistung Frühförderung (22–33). München: Reinhardt. Peterander, F. (2003): Multivariate Diagnostik in der Frühförderung. Kindheit und Entwicklung 12, 1, 24–34. Petermann, F., Niebank, K. & Scheithauer, H. (Hrsg.) (2000): Risiken in der frühkindlichen Entwick­ lung. Entwicklungspsychopathologie der ersten Lebensjahre. Göttingen: Hogrefe. Sachse, St. (2005): Früherkennung von Sprachent­ wicklungsstörungen. In: Suchodeletz, W. v. (Hrsg.): Früherkennung von Entwicklungsstörungen (155– 189). Göttingen: Hogrefe. Sarimski, K. & Papoušek, M. (2000): Eltern-Kind-Be­ ziehung und die Entwicklung von Regulationsstö­ rungen. In: Petermann, F., Niebank, K. & Scheit­ hauer, H. (Hrsg.): Risiken in der frühkindlichen

Entwicklung. Entwicklungspsychopathologie der ersten Lebensjahre (199–222). Göttingen: Hogrefe. Sozialgesetzbuch (SGB) IX (62008): Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. München: Beck. Schulz, P. (2007a): Verzögerte Sprachentwicklung: Zum Zusammenhang zwischen Late Talker, Late Bloomer und Spezifischer Sprachentwicklungsstö­ rung. In: Schöler, H. & Welling, A. (Hrsg.): Hand­ buch Sonderpädagogik. Bd. 1: Sonderpädagogik der Sprache (178–190). Göttingen: Hogrefe. Schulz, P. (2007b): Frühdiagnostik: Frühindikatoren und Verfahren zur Früherkennung von Risikokin­ dern. In: Schöler, H. & Welling, A. (Hrsg.): Hand­ buch Sonderpädagogik. Bd. 1: Sonderpädagogik der Sprache (688–704). Göttingen: Hogrefe. Suchodeletz, W. v. (Hrsg.) (2005a). Vorwort. In: Su­ chodeletz, W. von (Hrsg.): Früherkennung von Entwicklungsstörungen (V–VII). Göttingen: Ho­ grefe. Suchodeletz, W. v. (2005b): Chancen und Risiken von Früherkennung. In: Suchodeletz, W. von (Hrsg.): Früherkennung von Entwicklungsstörungen (1– 21). Göttingen: Hogrefe. Szagun, G. (2004): FRAKIS – Fragebogen zur Erfas­ sung der kindlichen Sprachentwicklung. CD. Ol­ denburg: Oldenburger Universitätsverlag. Szagun, G. (2006): Sprachentwicklung beim Kind. Vollständig überarbeitete Neuauflage. Weinheim: Beltz. Tollkühn, St. & Spreer, M. (2005): Diagnostische Ver­ fahren für die pädagogische und sprachheilpäda­ gogische Arbeit. Leipzig: Leipziger Universitäts­ verlag.

Interdisziplinäre Diagnostik Ulrich von Knebel

1 Aufgaben und ­Zielsetzungen von Diagnostik bei ­sprachlichen Problemlagen Fachgeschichtlich ist ein veränderliches Auf­ gabenverständnis sprachbehindertenpädago­ gischer Diagnostik erkennbar, wie unter ande­ rem Braun (22002a) und von Knebel & Schuck (2007) feststellen. Ein markanter Punkt ist da­ bei der Wandel von einer institutionsorien­ tierten Perspektive (im Mittelpunkt steht hier die Frage, welcher Institution ein Mensch mit sprachlicher Beeinträchtigung bedarf) zu ei­ ner personorientierten Sichtweise (zentral ist hier die Frage, welcher Förderung ein Mensch mit sprachlicher Beeinträchtigung bedarf). Wie für den Gegenstandsbereich kindlicher Aussprachestörung herausgearbeitet wurde, unterscheiden sich die diagnostischen Kon­ zepte auch dadurch, was sie im Einzelnen zum Gegenstand ihrer Betrachtung machen (von Knebel 2000): Während sprachheilkundliche Konzepte der ersten Hälfte des 20. Jahrhun­ derts eher auf eine möglichst genaue sympto­ matische Beschreibung der Unterschiede zwi­ schen zielsprachlicher Norm und individueller Sprachverwendung abheben, zielen Konzepte der 1980er und 1990er Jahre unter dem Ein­ fluss sprachwissenschaftlicher und spracher­ werbstheoretischer Erkenntnisse verstärkt auf eine Herausarbeitung allgemeiner Muster der individuellen Sprachverwendung und  – im Falle kindlicher Sprachentwicklungsstö­ rung  – ihrer entwicklungschronologischen Einordnung, um auf dieser Grundlage nächste Schritte der Sprachförderung bestimmen und begründen zu können. Seit den 1990er Jah­ ren gilt das diagnostische Erkenntnisinteresse vermehrt den lebensweltlichen Bedingungen, unter denen der Erwerb und Gebrauch von

Sprache problematisch verlaufen ist und die zu verändern sind, um zukünftige Entwicklungs­ prozesse zu begünstigen (Welling 1990, Wer­ ning 2002). Wie Werning (2002, 320) feststellt, er­ weist sich das diagnostische Aufgabenver­ ständnis und die Zielsetzung diagnostischer Tätigkeit als hochgradig abhängig von den jeweils zugrunde gelegten theoretischen Be­ zugssystemen. Unter dem Gesichtspunkt von Interdisziplinarität befindet sich die sprach­ behindertenpädagogische Diagnostik in ei­ nem „beziehungsreichen Spannungsfeld“. Denn indem sie sich auf andere Disziplinen und deren Erkenntnisse bezieht, befasst sie sich erstens mit sehr unterschiedlichen, je­ weils spezifischen Gegenstandsbereichen (z. B. der Physiologie des Hörvorgangs, der linguistischen Struktur der Sprache, der Bio­ graphie der Persönlichkeit). Zweitens bezie­ hen sich diese Bezugsdisziplinen auf äußerst unterschiedliche Verständnisse davon, was Wissenschaft ist und wie sie zu ihren Er­ kenntnissen gelangen kann (einen Einblick in die Vielfalt wissenschafts- und erkennt­ nistheoretischer Hintergründe sprachbehin­ dertenpädagogischer Diagnostik liefert u. a. Braun 2002b, 37–48). Insofern besteht eine unumgehbare Aufgabe sprachbehindertenpä­ dagogischer Diagnostik auch darin, sich ih­ res besonderen Gegenstandes und seiner Er­ kenntnismöglichkeiten bewusst zu werden, da sie die Erkenntnisinteressen der Nachbar­ disziplinen nicht einfach übernehmen kann, sondern einer eigenständigen, nämlich päda­ gogischen Aufgabe verpflichtet ist. Diese Eigenständigkeit und Besonderheit in einer pädagogischen Perspektive zu sehen, ist bereits von Orthmann (1971) und Knura (1982) sowie in jüngerer Zeit unter anderem von Baumgartner (2004a, 2004b) und Wel­ ling (2006) gefordert worden. Fasst man mit

524 

Interdisziplinäre Diagnostik

Welling (2006) das Attribut „pädagogisch“ als Verpflichtung auf eine Orientierung an allgemeinen Bildungszielen und Erziehungs­ methoden, die beide auf die Lebenswirklich­ keit des zu diagnostizierenden Menschen zu beziehen sind (→ Bildung und Erziehung sprachbeeinträchtigter Menschen), dann können als zentrale Aufgaben pädagogischer Diagnostik im Förderschwerpunkt Sprache gesehen werden: • die Analyse des Erwerbs und Gebrauchs von Sprache • durch einen Menschen unter den (mitun­ ter erschwerenden) Bedingungen seiner selbst und seiner Lebenswelt • unter der Zielsetzung einer Optimierung von Bildungs- und Erziehungsprozessen, die auf eine Erweiterung lebensweltlicher (nicht allein sprachlicher) Handlungsmög­ lichkeiten des Betroffenen ausgerichtet sind (von Knebel & Schuck 2007, 476). Um diese Aufgaben bewältigen zu können, bedarf sprachbehindertenpädagogische Diag­ nostik vielfältiger Erkenntnisse anderer Diszi­ plinen, von denen zentrale im folgenden Ab­ schnitt genannt werden.

2 Bezugssysteme einer ­mehrperspektivischen ­Diagnostik Sprachbehindertenpädagogische Diagnostik be­ dient sich zur Bestimmung und Begründung ihres Vorgehens einer ausgesprochen großen Vielzahl theoretischer Hintergründe, die ei­ nerseits aus den Erfahrungen der Alltagspra­ xis ihrer Anwender resultieren (so genannte Alltagstheorien) und anderseits wissenschaft­ lich gewonnene Theorien sind. Letztgenannte können zusammengefasst im Hinblick auf die genannten drei übergeordneten Aufgabenbe­ reiche hauptsächlich den Bezugswissenschaf­ ten Sprachwissenschaft (einschließlich Pho­ netik), Spracherwerbsforschung, Psychologie

(insbesondere Persönlichkeits-, Entwicklungsund Testpsychologie), Kommunikations- und Handlungswissenschaften sowie Erziehungs­ wissenschaft zugerechnet werden. Von Knebel & Schuck (2007) unterscheiden sieben sprach­ diagnostische Orientierungsgrundlagen, die als grundlegende Perspektiven einer interdis­ ziplinären Diagnostik im Förderschwerpunkt Sprache angesehen werden können (zusam­ menfassend s. Abb. 1). In Abhängigkeit von der jeweiligen Perspektive gewinnen die ge­ nannten und weiteren Bezugswissenschaften in unterschiedlichem Ausmaß an Bedeutung. Sprachphänomenologische Perspektive

Im Mittelpunkt steht hier, was auf der Erschei­ nungsebene vordergründig auffällig wird, nämlich der individuelle und von der Erwar­ tungsnorm in irgendeiner Hinsicht abwei­ chende Sprachgebrauch. Unter dieser Perspek­ tive werden primär sprachwissenschaftliche Erkenntnisse einbezogen. Solche linguisti­ schen Bezugssysteme liefern Beschreibungen und Systematisierungen des Gegenstands Sprache und Sprechen, zum Beispiel phoneti­ sche Beschreibungen von Sprachlautproduk­ ten und sprechmotorischen Realisierungen, phonologische Klassifikationen von sprach­ lautunterscheidenden Eigenschaften, lexikali­ sche Theorien über Wortbildungsregeln, syn­ taktische Regeln möglicher Wortstellungen im Deutschen. Entwicklungsperspektive

Bei den unterschiedlichen Formen kindlicher Sprachentwicklungsstörung ist im Hinblick auf die Förderplanung von Belang, welche der von einem Kind noch nicht beherrschten zielsprachlichen Strukturen in der „Zone sei­ ner nächsten Entwicklung“ liegen könnten. Sprachdiagnostisch werden dazu die individu­ ell verwendeten sprachlichen Muster erhoben und zu einer verallgemeinerten Entwicklungs­ annahme des unauffälligen Spracherwerbs in Beziehung gesetzt, so dass sich hypothetisch schlussfolgern lässt, wo sich ein Kind in sei­-



Bezugssysteme einer ­mehrperspektivischen ­Diagnostik   525

ner  grammatischen, phonologisch-phoneti­ schen oder semantisch-lexikalischen Entwick­ lung gegenwärtig befindet und welche ziel­ sprachliche Struktur gewöhnlich als nächste erworben wird. Den theoretischen Hinter­ grund dafür liefern Theorien aus der Spracher­ werbsforschung: Deskriptive (beschreibende) Entwicklungstheorien beschreiben typische Entwicklungsverläufe, das heißt sie ordnen sprachliche Phänomene (wie zum Beispiel Verbstellungsregeln oder phonologische Op­ positionen) nach der Reihenfolge ihres Auftre­ tens in der kindlichen Entwicklung. Vor diesem Hintergrund lassen sich dann gegenstandsspe­ zifisch die Zonen der aktuellen und der nächs­ ten Entwicklung bestimmen. Präskriptive (vor­ schreibende) oder explanative (erklärende) Entwicklungstheorien versuchen demgegen­ über relevante Bedingungen und Faktoren der Entwicklung (wie zum Beispiel die Einsicht in die bedeutungsunterscheidende Funktion von Phonemen) zu bestimmen. Daraus lassen sich hypothetische Schlussfolgerungen ziehen, wel­ che Bedingungen wegen ihrer entwicklungsför­ derlichen Wirkung in Situationen der Sprach­ förderung gezielt hergestellt werden sollten. Subjektperspektive

Interdisziplinäre Diagnostik hat sich nicht nur mit dem Erwerb und Gebrauch von Sprache, sondern auch mit dem Menschen und seinen Bildungs- und Erziehungsnotwendigkeiten zu befassen (vgl. Abschnitt 1). Eine subjektorien­ tierte Diagnostik fragt auch danach, wie das Kind, der Jugendliche oder der Erwachsene von seinen entwickelten sprachlichen Hand­ lungsmöglichkeiten Gebrauch macht, warum er dies so tut und inwiefern es ihm dazu ver­ hilft, sein Bedürfnis nach Freiheit und Selbst­ bestimmung zu verwirklichen. Vor allem psy­ chologische und handlungswissenschaftliche Theorien liefern dazu wertvolle Beiträge. Vor subjektwissenschaftlichem Hintergrund und mit Bezug auf die Kritische Psychologie for­ dern zum Beispiel Koch et al. (2000), sowohl die alltäglichen Handlungen als auch deren Bedingungen und Begründungen herauszuar­

beiten und an diesem Prozess das Kind aktiv teilhaben zu lassen, nicht zuletzt damit es sich der Begründungen seines Handelns selbst be­ wusst werden kann. Lebensweltperspektive

Eine „verstehende Diagnostik“ (Jetter 1994) ist darauf angewiesen nachzuvollziehen, wie etwas aktuell Wahrnehmbares zustande ge­ kommen ist und welche Bedeutung es für den Betroffenen in der Vergangenheit hatte und derzeit hat. In die Zukunft gerichtet stellt sich die Frage, wie die konkreten lebenswelt­ lichen Bedingungen von allen Beteiligten so zu gestalten wären, dass sie eine bestmögliche Entwicklung gewährleisten können. Anhalts­ punkte für eine Beurteilung, welche Bedin­ gungen als hinderlich oder förderlich für den Erwerb und Gebrauch von Sprache im Einzel­ fall gelten können, liefern einerseits explana­ tive Spracherwerbstheorien und sprachüber­ greifende Handlungstheorien, wie sie zum Beispiel von Welling (1990) ausführlich darge­ stellt worden sind. Andererseits bedarf es di­ agnostischer Ergebnisse, wie sie im Rahmen von Kind-Umfeld-Analysen gewonnen wer­ den können, weil nur so die jeweils besonde­ ren biographischen Bedingungen erkennbar werden können (vgl. z. B. Kracht 2000). Bildungszielperspektive

Wenn Sprachförderung auf Bildungsziele im erziehungswissenschaftlichen Sinne wie „Frei­ heit“, „Selbstbestimmung“ und „Mitver­ant­wortung“ (→ Bildung und Erziehung sprach­beeinträchtigter Menschen) gerichtet sein soll, dann muss eine bildungszielorientierte Sprach­ diagnostik ergeben, in welcher Hinsicht und in­ wieweit sprachliche Beeinträchtigungen zu Be­ schränkungen der Handlungsfähigkeit im Alltag führen. Detaillierte Analysen des realen Sprach­ gebrauchs werden dadurch nicht ersetzt, wohl aber ergänzt. Bildungstheorien und andere er­ ziehungswissenschaftliche Ansätze, unter ande­ rem aus dem Bereich pädagogischer Anthropo­ logie geben hierfür grundlegende Anregungen.

526 

Interdisziplinäre Diagnostik

Abb. 1: Perspektiven und ausgewählte Fragestellungen einer interdisziplinären Diagnostik im Förderschwer­ punkt Sprache

Erziehungsperspektive

Bildung ist aus erziehungswissenschaftlicher Sicht ein eigenaktiver Prozess des Subjekts, der einerseits als „Selbstaufforderung zur Selbst­ tätigkeit“ vollzogen wird und insofern nicht des anderen Menschen bedarf, der anderer­ seits aber immer wieder auch auf die „Fremd­ aufforderung zur Selbsttätigkeit“ angewiesen ist und insofern die Einflussnahme Erwach­ sener voraussetzt (Benner 42001). Sprachför­ derung muss unter erziehungstheoretischem Aspekt beide Zugänge zur Bildung ermögli­ chen. Hinsichtlich der „Fremdaufforderung zur Selbsttätigkeit“ stellt sich die Frage, welche Formen und Inhalte die sprachbehinderten­ pädagogische Fachkraft in der pädagogischen Situationsgestaltung realisiert – sowohl in der diagnostischen Situation als auch in der För­ dersituation. Für letztere ist diagnostisch her­ auszuarbeiten, welche Formen der Gestaltung von Sprachfördersituationen in der Arbeit mit einem bestimmten Menschen angemes­ sen und zuträglich erscheinen. Erziehungs­

theorien, wie sie zum Beispiel im Rahmen der Kooperativen Pädagogik (Schönberger et al. 1987) ausgearbeitet wurden, geben dafür hilf­ reiche Anregungen (vgl. u. a. von Knebel & Welling 2002). Institutionsperspektive

Zu den Bedingungen sprachlicher Förderung und Diagnostik gehört nicht zuletzt deren in­ stitutionelle Verankerung. Sie können unter anderem in ambulanten Praxen, in schulischer Therapie, Fördergruppen und Unterricht oder in der Beratung realisiert werden. Was aber in einer konkreten Problemlage die bestmögli­ chen Organisationsformen sind, das hat eben­ falls die sprachbehindertenpädagogische Dia­ gnostik zu erbringen. Dazu orientiert sie sich einerseits an theoretischen Erkenntnissen über die erprobten Anwendungsfelder und Reichweiten institutionsgebundener Angebo­ te, andererseits an den regionalen Angeboten vor Ort, die es diagnostisch zu erschließen gilt.



Literatur   527

3 ­Interdisziplinarität im ­pädagogischen ­Handlungsfeld Neben der Frage, welche Theorien und Wis­ senschaftsdisziplinen in die sprachbehinder­ tenpädagogische Diagnostik einbezogen und damit zu Bezugssystemen erhoben werden, ist von entscheidender Bedeutung, wie Theorien, die unter einem ganz anderen Erkenntnisinte­ resse und in einem jeweils bestimmten Wis­ senschaftsverständnis entstanden sind, einbe­ zogen werden können. Denn erstens bestimmt das jeweilige Wissenschaftsverständnis, was überhaupt erkannt werden kann und soll. In­ sofern muss sich die „bezugnehmende“ Fach­ disziplin ihres eigenen und des fremden Wis­ senschaftsverständnisses bewusst sein (von Knebel 2000, 2004). Nur so kann sie sicher sein, auch genau das zu diagnostizieren, was sie im Einzelnen diagnostizieren will. Zwei­ tens können fachfremde Erkenntnisse nicht ungeachtet ihrer Herkunft und ohne Anpas­ sung an die sprachbehindertenpädagogischen Verwendungsinteressen importiert werden, weil dadurch das ursprünglich pädagogische Anliegen von Diagnostik und Förderung aus dem Blickfeld zu geraten droht. Welling (1996) fordert daher, Interdisziplinarität nicht als ein Nebeneinander von Bezugsdisziplinen zu ver­ stehen, sondern die unverzichtbare Bezug­ nahme von einem klar definierten und theo­ retisch fundierten pädagogischen Standpunkt „Sprachheilpädagogik“ und pädagogisch-pro­ fessionelles Handeln aus zu realisieren.

Literatur Baumgartner, S. (2004a): Pädagogisierung als Beitrag zur fachlichen Identität der Sprachheilpädagogik. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprach­ heilpädagogik und Logopädie. Bd. 5: Bildung, Er­ ziehung, Unterricht (53–68). Stuttgart: Kohlham­ mer. Baumgartner, S. (2004b): Sprachheilpädagogik ist Pä­ dagogik und mehr. In: Baumgartner, S., Dannen­

bauer, F. M., Homburg, G. & Maihack, V. (Hrsg.): Standort: Sprachheilpädagogik (99–197). Dort­ mund: modernes Lernen. Benner, D. (42001): Hauptströmungen der Erzie­ hungswissenschaft. Eine Systematik traditioneller und moderner Theorien. Weinheim: Beltz. Braun, O. (22002a): Sprachstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Diagnostik – Therapie – Förderung. Stuttgart: Kohlhammer. Braun, O. (2002b): Selbstverständnis förderdiagnosti­ schen Vorgehens. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehr­ buch der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Bd. 3: Diagnostik, Prävention und Evaluation (29– 62). Stuttgart: Kohlhammer. Jetter, K. (1994): Verstehende Diagnostik. Geistige Behinderung 33, 4, 297–307. Knebel, U. v. (2000): Kindliche Aussprachestörung als Konstruktion. Eine historische Analyse mit pä­ dagogischer Perspektive. Münster: Waxmann. Knebel, U. v. (2004): Sprachheilpädagogik als Wis­ senschaft pädagogischer Praxis. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Bd. 5: Bildung, Erziehung, Unterricht (69–87). Stuttgart: Kohlhammer. Knebel, U. v. & Schuck, K. D. (2007): Allgemeine Fra­ gestellungen. In: Schöler, H. & Welling, A. (Hrsg.): Handbuch der Pädagogik und Psychologie bei Be­ hinderungen. Bd. 3: Förderschwerpunkt Sprache (475–504). Göttingen: Hogrefe. Knebel, U. v. & Welling, A. (2002): „Zum Sprechen anleiten“ – „Sprache vermitteln“ – „Persönlichkeit umerziehen“. Arten und Unarten antagonistischer Kooperation im sprachtherapeutischen Denken des 20. Jahrhunderts. In: Arbeitskreis Kooperati­ ve Pädagogik (AKoP) e. V. (Hrsg.): Vom Wert der Kooperation. Gedanken zu Bildung und Erziehung (79–126). Frankfurt a. M.: Lang. Koch, K., Schwohl, J., Schuck, K. D. & Kornmann, R. (2000): Redefinitionsversuche der Begriffe „Diag­ nostik“ und „Förderung“ angesichts des subjekt­ wissenschaftlichen Paradigmas. In: Funke, E. H. & Rihm, T. (Hrsg.): Subjektsein in der Schule? Eine pädagogische Auseinandersetzung mit dem Lern­ begriff Klaus Holzkamps (239–254). Bad Heil­ brunn: Klinkhardt. Kracht, A. (2000): Migration und kindliche Zwei­ sprachigkeit. Interdisziplinarität und Professiona­ lität sprachpädagogischer und sprachbehinderten­ pädagogischer Praxis. Münster: Waxmann. Knura, G. (1982): Grundfragen der Erziehung, des Unterrichtens und der Therapie in der Schule für Sprachbehinderte. In: Knura, G. & Neumann, B. (Hrsg.): Handbuch der Sonderpädagogik. Bd. 7: Pädagogik der Sprachbehinderten (413–421). Ber­ lin: Marhold.

528 

Interdisziplinäre Diagnostik

Orthmann, W. (1971): Sprachheilpädagogik – Sprach­ behindertenpädagogik – Sprachsonderpädagogik. Die Rehabilitation 10, 1, 33–39. Schönberger, F., Jetter, K. & Praschak, W. (1987): Bau­ steine der Kooperativen Pädagogik. Teil 1.: Grund­ lagen, Ethik, Therapie, Schwerstbehinderte. Stadt­ hagen: Pätzold. Welling, A. (1990): Zeitliche Orientierung und sprach­ liches Handeln. Handlungstheoretische Grund­ legungen für ein pädagogisches Förderkonzept. Frankfurt a. M.: Lang. Welling, A. (1996): Pädagogische Sprachheilarbeit und interdisziplinäres Denken – ein allgemeiner

Impuls. In: Deutsche Gesellschaft für Sprachbe­ hindertenpädagogik e. V. (dgs), Landesgruppe Westfalen-Lippe (Hrsg.): Interdisziplinäre Zusam­ menarbeit. Kongreßbericht zur XXII. Arbeitsund Fortbildungstagung 1996 in Münster (63–74). Hamm: modernes Lernen. Welling, A. (2006): Einführung in die Sprachbehin­ dertenpädagogik. München: Reinhardt. Werning, R. (2002): Sonderpädagogische Diagnos­ tik. In: Werning, R., Balgo, R., Palmowski, W. & Sassenroth, M. (Hrsg.): Sonderpädagogik. Lernen, Verhalten, Sprache, Bewegung und Wahrnehmung (319–340). München: Oldenbourg.

Unterricht Heiko Seiffert

1  Therapie, Förderung und ­Unterricht im ­Förderschwerpunkt ­Sprache: Ein mehrdimensionaler ­Ansatz sprachtherapeutischen ­Unterrichts Während in der Debatte um einen „gu­ ten“ Unterricht für Schülerinnen und Schü­ ler mit dem Förderschwerpunkt Sprache in den 70er bis 80er Jahren des 20. Jahrhun­ derts solche Konzepte im Vordergrund stan­ den, die eine Verbindung von Therapie und Unterricht thematisierten, wird die Diskussi­ on seit der Integrationsdebatte der 80er Jahre durch die Kategorie der Förderung dominiert (→ Sprachdidaktiktheorie). In diesem Beitrag werden „Therapie“ und „Förderung“ als ineinander verwobene Ka­ tegorien aufgefasst. Den Ausgangspunkt der weiteren Darstellung bildet der Ansatz von Homburg & Lüdtke (2003), die von einem Konzept der Sprachtherapie ausgehen, wel­ ches eine Balance zwischen Subjektzentrierung, Gegenstandsorientierung und Beziehungsgestaltung hält (→ Sprachförderung im

Aufgabenfeld Therapie). In der hier vertreten­ den schulischen Perspektive schließt „Förde­ rung im weiteren Sinne“ Therapie, Unterricht und Erziehung mit ein. „Therapie im weiteren Sinne“ umfasst sowohl den Begriff der syn­ dromspezifischen, rein sprachspezifischen „Therapie im engeren Sinne“ als auch dieje­ nigen sprachspezifischen, sprachkognitiven, sprachemotionsbezogenen, sprachverhaltens­ bezogenen und weiteren sprachbasalen För­ dermaßnahmen, die den syndromspezifi­ schen Therapieprozess unterstützen und absichern. „Unterricht“ in der allgemeinbil­ denden Schule wird hier als „generell ziel­ gerichtetes Lernen, das sich als organisiertes Lernen und Lehren realisiert“ (Kolberg 2007, 14), definiert. Vor dem Hintergrund der soeben darge­ stellten begrifflichen Festlegungen wird an dieser Stelle ein mehrdimensionaler Ansatz sprachtherapeutischen Unterrichts vertreten (dessen Dimensionen Abbildung 1 zeigt). Dieser mehrdimensionale Ansatz ist da­ durch gekennzeichnet, dass er in Ergän­ zung zu einer zumeist notwendigen Einzeloder Gruppentherapie auf der Grundlage der Rekonstruktion der sprachbasalen und

Abb. 1:  Ein mehrdimensio­ naler Ansatz sprachthera­ peutischen Unterrichts

530 

Unterricht

sprachspezifischen Entwicklung sowie der Erfassung der aktuellen unterrichtsrelevan­ ten  sprachtragenden Strukturen und Funk­ tionen (vgl. Kolberg 2007, 21) darauf zielt, neben Bildungs- und Erziehungszielen dieje­ nigen sprachlichen Therapie- und Förderzie­ le zu verfolgen, die es dem einzelnen Schüler ermöglichen, seine Sprach- und Kommunika­ tionskompetenz bzw. -performanz erfolgreich zu entwickeln (→ Sprache und Sprechen) (→  Interdisziplinäre Theorie sprachlichen Lehrens und Lernens).

2 Dimensionen ­sprachtherapeutischen ­Unterrichts 2.1 Spezifische Sprachtherapie im Unterricht „Spezifische Sprachtherapie im Unterricht“ (vgl. Tab. 1) fasst die Verbindung von Unter­ richt und Sprachtherapie im engeren Sinne. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sprach­ therapeutische Ziele die auf den Unterricht bezogenen methodischen Entscheidungen determinieren und eine klare Stufung der Therapieziele vorliegt. Dieser Dimension des sprachtherapeutischen Unterrichts ist die Gegenstandsorientierung Sprache als therapeuti­ sche Orientierung zuzuordnen (vgl. Homburg & Lüdtke 2003). Bislang konnte noch kein übergreifendes Konzept vorgelegt werden, das Sprachthera­ pie im engeren Sinne und Unterricht mitein­ ander verknüpft. Mit der „Kontextoptimie­ rung“ (Motsch ²2006) liegt aber seit kurzem für grammatische Erwerbsstörungen eine Therapiedidaktik vor, die in Interventions­ studien den empirischen Nachweis ihrer Ef­ fektivität auch im therapieintegrierten Unter­ richt erbringen konnte.

2.2 Spezifische Sprachförderung im Unterricht „Spezifische Sprachförderung im Unterricht“ (vgl. Tab. 1) nutzt die Möglichkeiten des Un­ terrichtsgegenstandes zur sprachlichen För­ derung. Sie ist nicht in erster Linie eng an individuellen Therapiezielen ausgerichtet, son­ dern flankiert die syndromspezifische Sprach­ therapie im Unterricht oder außerhalb des Unterrichts. Dieser Dimension des sprachthe­ rapeutischen Unterrichts ist ebenfalls die Ge­ genstandsorientierung Sprache als therapeuti­ sche Orientierung zuzuordnen (vgl. Homburg & Lüdtke 2003). Zur spezifischen Sprachförderung im Un­ terricht zählen unter anderem folgende Kon­ zepte (vgl. Troßbach-Neuner 2003, Grohn­ feldt 2004): • der Einsatz von Modelliertechniken (bei phonetisch-phonologischen, semantischlexikalischen oder morphologisch-syntak­ tischen Aspekten), ohne dass dabei auf eine konkrete Diagnosestellung Bezug genom­ men wird (Dannenbauer 41999); • der sprach- und kommunikationsfördernde Unterricht (Baumgartner 1997, Mayer 2003); • die entwicklungsorientierte sprachliche Förderung (Troßbach-Neuner 1997); • persongeleitete Sachdialoge im Unterricht (Gollwitz 2004); • das besondere Sprach- und Kommunikationsverhalten der Lehrperson als Mittel un­ terrichtsimmanenter Sprach- und Kom­ munikationsförderung (Schmitt & Weiß 2004); • die computergestützte Förderung im Unter­ richt (u. a. Reber 2004, Deuse 2004) und • die Förderung der phonologischen Bewusstheit (u. a. Mayer 2004).

2.3  Sprachassistenz im Unterricht Der Begriff „Sprachassistenz im Unterricht“ (vgl. Tab. 1) lehnt sich weitläufig an den As­ sistenzbegriff aus der Pädagogik bei Men­ schen mit dem Förderschwerpunkt geistige



Dimensionen ­sprachtherapeutischen ­Unterrichts   531

Entwicklung an. Bei der Sprachassistenz sind sprachtherapeutische und -fördernde Aspekte funktional vom Bildungsziel abhängig. Dieser Dimension ist ebenfalls die Gegenstandsorientierung als therapeutische Orientierung zuzu­ ordnen (vgl. Homburg & Lüdtke 2003) – im Sinne einer Ausrichtung an den sprachlichen Aspekten des Unterrichtsgegenstandes. Bildung zielt nach Gudjons (1993, 186) auf die Befähigung, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, auf die Teilhabe an der Kultur so­ wie die Gewinnung von Individualität und Gemeinschaftlichkeit, einer allgemeingülti­ gen Bildung und der Vielseitigkeit im mora­ lischen, kognitiven, ästhetischen und prak­ tischen Bereich. Diese Bildungsziele sind in hohem Maße sprachabhängig (Kolberg 2007, 14) (→ Bildung und Erziehung) (→ Sprach­ didaktiktheorie). Es kommt deshalb im Un­ terricht mit sprachgestörten Kindern häufig zu schulischen Passungsproblemen zwischen den Anforderungen des Bildungsgegenstan­ des und den sprachlichen Lernvoraussetzun­ gen. Wo die sprachliche und eng verbunden damit die kognitive Selbstständigkeit des Schülers nicht gegeben ist, muss Unterricht assistieren, und immer wieder an der Schnitt­ stelle von Sprache und Denken die Versprach­ lichungs- und Verstehenskompetenzen der Schüler erweitern. Diese Aufgabenstellung wird neben dem Konzept des „Kognitiven Modellierens“ nach Bindel (2007) in beson­ derer Weise durch das ursprüngliche Modell des „Sprachtherapeutischen Unterrichts“ von Braun (1980) bearbeitet. Sprachtherapeutischer Unterricht nach Otto Braun

Das ursprüngliche Modell des „Sprachthe­ rapeutischen Unterrichts“ („Berliner Kon­ zept des sprachtherapeutischen Unterrichts“) ist in Westberlin in der zweiten Hälfte der 1970er  Jahre entstanden. 1995 erweitern Braun et al. unter Anlehnung an kommunika­ tionstheoretische Überlegungen zur Begrün­ dung der „Sprachtherapie als Kommunikati­ onstherapie“ (Motsch 21996) seinen Ansatz

mit den „Leitlinien zur spezifisch pädagogi­ schen Förderung von Menschen mit Sprach­ behinderung“ (Braun et al. 1995). Ein wesentliches Ziel des Berliner Kon­ zeptes für den sprachtherapeutischen Unter­ richt besteht darin, neben allgemein sprach­ fördernden Maßnahmen für die ganze Klasse individuell spezifische sprachtherapeutische Interventionen in die Arbeit zu integrieren (vgl. Braun 2004). • Sprachtherapeutischer Unterricht ist nach dem Berliner Konzept in erster Linie Unterricht. Sprachtherapeutische Ziele wer­ den im Unterricht nur insoweit verfolgt, wie sie zur Erreichung der Unterrichtsziele erforderlich sind. Sprachtherapie steht also in einer funktionalen Abhängigkeit vom Unterricht bzw. in einer inhaltlichen Verbindung von Unterricht und Therapie. • Die Begründung dieses Unterrichts erfolgt allgemeindidaktisch. • Übergreifend ansetzend an der Pragmatik geht der sprachtherapeutische Unterricht sprachdidaktisch von sprechakttheoretischen Analysekategorien (illokutiver Akt, propositionaler Akt, phonetischer Akt, phatischer Akt) aus. • Sprachtherapeutischer Unterricht ist ers­ tens diagnosegeleitet und zweitens sprachtherapeutisch ausgerichtet. • Im Planungsmodell des sprachtherapeuti­ schen Unterrichts sind didaktische Bedin­ gungsanalyse und didaktische Entschei­ dungsfindung eng miteinander verzahnt. Die Bedingungs- und Entscheidungsfelder (Sachanalyse, Schülerbeschreibung, Ziele, Methoden und Medien) sind dabei gleich­ rangig und werden als variable Größen aufgefasst. Kognitives Modellieren nach Walter Bindel

Der Ansatz des „Kognitiven Modellierens“ (Bindel 2007) beruht auf dem Modell der Sprachganzheit. Er unterscheidet zwischen der personalen, sozialen, kognitiven, kommunika­ tiven und sprachlichen Kompetenz. Für den

532 

Unterricht

Unterricht wird die Ko-Konstruktion als op­ timale Interventionssituation angesehen. Das Ziel des kognitiven Modellierens besteht im „Erwerb der kompetenten Sprecher-HörerRolle“ (Bindel 2007, 147) entsprechend der sprachlichen Modalitäten Diskurs (Sprechen und Verstehen), Textverstehen und Textpro­ duktion. Dem ‚Sinn‘ wird der Vorrang vor der ‚Form‘ eingeräumt. ‚Denken‘ geht vor ‚Spre­ chen‘. Die Initiative der Schülerinnen und Schüler soll aufgegriffen, erweitert und ange­ regt werden. In einer Art „Diskurs-Therapie“ (Bindel 2007, 151) werden Schüleräußerungen verbal kommentiert und formuliert.

2.4 Förderung der Sprachemotion und des Sprachverhaltens im Unterricht In der neueren Debatte zum Unterricht für Kinder mit dem Förderschwerpunkt Sprache werden verstärkt Zusammenhänge zwischen → Kognition und Emotion sowie emotionale Aspekte der → Sprachentwicklung themati­ siert. Statt einer defizitorientierten Sichtweise rückt ein Verständnis von Sprachbehinderung als Beeinträchtigung des sprachlichen Selbst in den Vordergrund. Die „Förderung der Sprachemotion und des Sprachverhaltens“ (vgl. Tab. 1) ist deshalb ein unverzichtbarer Bestandteil sprachtherapeutischen Unter­ richts. Sie zielt auf eine Optimierung der so­ zialen, verhaltensmäßigen und emotionalen Voraussetzungen für das Erreichen sprachspe­ zifischer Ziele. Dieser Dimension des sprach­ therapeutischen Unterrichts sind die Subjektzentrierung und die Beziehungsgestaltung als therapeutische Orientierungen zuzuordnen (vgl. Homburg & Lüdtke 2003). Ihre Gegen­ standsbereiche sind die Förderung eines posi­ tiven, auf Sprache bezogenen Verhaltens, des Arbeitsverhaltens sowie die Bearbeitung der mit der sprachlichen Beeinträchtigung ver­ bundenen Emotionen. Für den Aspekt der integrierten Förderung des Sprachverhaltens und der Sprachemotion sind die „Kooperative Sprachdidaktik“ von Welling (2004) und die

„Relationale Didaktik“ von Lüdtke (2004) be­ sonders relevant. Kooperative Sprachdidaktik nach Alfons Welling

Der wissenschaftstheoretische Bezugspunkt der Kooperativen Sprachdidaktik (Welling 2004) ist der genetische Strukturalismus Pi­ agets. Sie lehnt sich an die kooperative Pä­ dagogik und die kooperative Didaktik (Jetter 1985, Schönberger 1987) an. Die Kooperati­ ve Sprachdidaktik fasst jeden Unterricht als Sprachunterricht auf. Zugrunde gelegt werden ein handlungsorientiertes, sonderpädagogi­ sches Grundverständnis von Lehr- und Lern­ prozessen und ein handlungstheoretisches Ver­ ständnis des menschlichen Sprachgebrauchs. Im Planungskonzept der Kooperativen Sprachdidaktik geht es darum, biografie- und persönlichkeitsrelevantes Sprachlernen in der Unterrichtssituation zu initiieren. Die wich­ tigste Bedingung dafür ist eine personale Be­ ziehung zwischen der Unterrichtssituation, den Schülerinnen und Schülern sowie zwi­ schen den Lernenden und dem ausgewähl­ ten sprachlichen Gegenstandsfeld. Die Un­ terrichtsthematik konstituiert sich aus den Förderbedürfnissen der Schüler und dem Unterrichtsgegenstand. Die Unterrichtsthe­ matik wird in einer weiteren Akzentuierung der Unterrichtsplanung aus der Perspektive der zu erweiternden Handlungsperspektive der einzelnen Schüler weiter analysiert. Dabei wird die Unterrichtsthematik anhand der Di­ mensionen Motorik, Kognition, Emotion, So­ ziabilität und Ästhetik/Kommunikation kon­ kretisiert. Im Verlauf dieses Prozesses werden die Unterrichtsintentionen näher bestimmt, die anschließend unter Berücksichtigung der personalen und materialen Voraussetzungen näher zu konkretisieren sind. Abschließend werden die Unterrichtsmethoden (Unter­ richtsformen, Unterrichtshandlungen, Unter­ richtsmedien, Unterrichtsphasen) abgeleitet. Relationale Didaktik nach Ulrike Lüdtke

Die Relationale Didaktik (Lüdtke 2004) ist ein didaktisches Modell für den Förderschwer­

Dimensionen ­sprachtherapeutischen ­Unterrichts   533



Tab. 1: Mehrdimensionaler Ansatz sprachtherapeutischen Unterrichts: Ansatzpunkte der Planung und ­Einordnung didaktischer Konzepte Dimensionen

Ansatzpunkte der Planung Charakterisierung

Therapeutische Orientierung

Konzepte Sprachtherapie im Unterricht

Sprachtherapeutische Ziele Klare Stufung der Therapieziele

Gegenstandsorientierung (Sprache)

• Kontextoptimierung Sprachförderung im Unterricht

Sprachliche Möglichkeiten des Unterrichtsgegen­ standes

Gegenstandsorientierung (Sprache)

Keine klare Stufung nach Therapiezielen • • • • • • Sprachassistenz im Unterricht

Modelliertechniken Sprach- und kommunikationsfördernder Unterricht Entwicklungsorientierte sprachliche Förderung Persongeleitete Sachdialoge Metalinguistische Intervention Förderung der phonologischen Bewusstheit

Bildungsziele Sprachtherapeutische und sprachfördernde Aspekte sind funktional abhängig vom Bildungsziel.

Gegenstandsorientierung (Unterrichtsgegenstand)

• Berliner Konzept des sprachtherapeutischer Unter­ richts • Leitlinien zur spezifisch pädagogischen Förderung von Menschen mit Sprachbehinderung • Kognitives Modellieren Förderung von Sprach­ emotion und Sprachverhalten im Unterricht

Verhaltensbezogene und emotionale Voraussetzun­ gen

Subjektzentrierung und Beziehungsgestaltung

Optimierung der sozialen, verhaltensmäßigen und emotionalen Voraussetzungen für das Erreichen sprachspezifischer Ziele • Kooperative Sprachdidaktik • Relationale Didaktik

Berücksichtigung und Förderung der sprachbasalen Funktionen im Unterricht

Sprachbasale Voraussetzungen Optimierung der perzeptiven und motorischen Voraussetzungen für das Erreichen sprachspezifischer Ziele • Computergestützte Förderung von Sprache und Wahrnehmung in der Schule • Integraler Bestandteil nahezu aller Ansätze zum Unterricht mit Kindern mit dem Förderschwer­ punkt Sprache

Subjektzentrierung

534 

Unterricht

punkt Sprache. Es beruht auf konstruktivistischer Theoriebildung. Basistheorie ist die intersubjektive Sprachtheorie (→ Intersubjek­ tive Kommunikation). Besonders augenfäl­ lig wird die Besonderheit dieser Sichtweise auf den Ebenen der Linguistik und Semiotik, auf der die Relationale Didaktik von Theorien des embodiment (Wechselwirkung von Körper und Psyche) und der Materialität des Zeichens (→  Zeichen und Semiose) ausgeht. Auf der Ebene der allgemeinen Didaktik knüpft die Relationale Didaktik an Beziehungsdidaktiken und die Neurodidaktik an. Sprachliches Lernen wird hier als emotiona­ le Bedeutungskonstruktion und sprachliches Lehren als emotionale Kontextunterstützung aufgefasst. Als didaktisches Grundmodell fungiert die sprachspezifisch-emotionale Re­ gulation. Das professionelle Selbstverständ­ nis der Relationalen Didaktik basiert auf dem konstruktivistischen Grundprinzip der Koevolution und betont eine strukturelle Kopplung der Lehrenden mit den Lernenden. Ausgehend von der sprachlichen Differenz als Lernausgangslage besteht das Lernziel in der sprachlichen Identität des Lernenden.

2.5 Berücksichtigung und ­Förderung sprachbasaler Prozesse im ­Unterricht Die „Förderung sprachlicher Basisfunktionen im Unterricht“ (vgl. Tab. 1) zielt auf eine Op­ timierung der perzeptiven und motorischen Vor­aussetzungen für das Erreichen sprach­ spezifischer Ziele (→ Sprache und Wahrneh­ mung). Ihr ist die Subjektzentrierung als the­ rapeutische Orientierung zuzuordnen (vgl. Homburg & Lüdtke 2003). Damit die sprach­ spezifischen Zielsetzungen des sprachthera­ peutischen Unterrichts erreicht werden kön­ nen, müssen eine Reihe außersprachlicher und sprachbasaler Dimensionen berücksich­ tigt und teilweise gefördert werden. Zu nen­ nen sind dabei unter anderem die auditive Wahrnehmung, die Kapazität des phonolo­ gischen Arbeitsgedächtnisses, die Rhythmus-

und Zeitverarbeitung und die Aufmerksamkeit für Sprache. Darüber hinaus kann Sprachför­ derung im Unterricht an eine Reihe weiterer außersprachlicher Dimensionen anknüpfen (→ Psychomotorische Sprachförderung, → Rhythmus, → Ästhetische Kommunikation).

3 Zusammenfassung und ­Ausblick Der mehrdimensionale Ansatz sprach­thera­ peutischen Unterrichts (vgl. Tab. 1) versteht Sprachförderung im Aufgabenfeld Unter­ richt als ein Geschehen, das zugeschnitten auf die individuellen Förderbedürfnisse von Schülerinnen und Schülern mit dem Förder­ schwerpunkt Sprache eine produktive Spannung zwischen den Dimensionen spezifischer Sprachtherapie, spezifischer Sprachförderung, Sprachassistenz, Förderung der Sprachemo­ tion, des Sprachverhaltens und der sprachbasa­ len Funktionen im Unterricht aufrecht erhält. Seine Dimensionen sind in der fachlichen Diskussion bereits präfiguriert und teilweise elaboriert, die notwendige Theorieintegration sowie die Entwicklung von Qualitätskriterien für einen mehrdimensionalen Ansatz sprach­ therapeutischen Unterrichts hingegen stehen noch aus (→ Qualitätsentwicklung) (→ The­ rapie- und Unterrichtsforschung).

Literatur Baumgartner, S. (1997): Perspektiven einer veränder­ ten Wissensvermittlung in der Sprachheilpädago­ gik. Die Sprachheilarbeit 42, 6, 260–276. Bindel, W. R. (2007): Kognitives Modellieren als di­ daktisches Prinzip. In: Kolberg, T. (Hrsg.): Sprach­ therapeutische Förderung im Unterricht (144– 160). Stuttgart: Kohlhammer. Braun, O. (1980): Das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Sprachbehindertenpädagogik, dar­ gestellt am sprachtherapeutischen Unterricht der Schule für Sprachbehinderte. Die Sprachheilarbeit 25, 4, 135–142.



Literatur   535

Braun, O. (2004): Bildung, Erziehung und Unterricht in der Sprachheilpädagogik. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Bd. 5: Bildung, Erziehung und Unter­ richt (25–52). Stuttgart: Kohlhammer. Braun, O., Hansen, D., Homburg, G., Füssenich, I. & Motsch, H.-J. (1995): Leitlinien zur spezifisch pä­ da­gogischen Förderung von Menschen mit Sprach­ behinderung. Die Sprachheilarbeit 40, 3, 315–319. Dannenbauer, F. M. (41999): Grammatik. In: Baum­ gartner, S. & Füssenich, I. (Hrsg.): Sprachtherapie mit Kindern – Grundlagen und Verfahren. Mün­ chen: Reinhardt. Deuse, A. (2004): Computergestützte Förderung von Wahrnehmung und Sprache in der Schule. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpä­ dagogik und Logopädie. Bd. 5: Bildung, Erziehung und Unterricht (280–291). Stuttgart: Kohlhammer. Gollwitz, G. (2004): Personengeleitete Sachdialoge als Urform sprachtherapeutischen Handelns im Grundschulunterricht. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopä­ die. Bd. 5: Bildung, Erziehung und Unterricht (147– 166). Stuttgart: Kohlhammer. Grohnfeldt, M. (2004) (Hrsg.): Lehrbuch der Sprach­ heilpädagogik und Logopädie. Bd. 5: Bildung, Er­ ziehung und Unterricht. Stuttgart: Kohlhammer. Gudjons, H. (1993): Pädagogisches Grundwissen. Überblick – Kompendium – Studienbuch. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Homburg, G. & Lüdtke, U. (2003): Zur Komplexität sprachtherapeutischen Handelns. Sprachheilpäda­ gogische Therapietheorie. Die Kunst der Balance in einem dreidimensionalen theoretischen Raum. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprach­ heilpädagogik und Logopädie. Bd. 4: Beratung, Therapie und Rehabilitation (114–133). Stuttgart: Kohlhammer. Jetter, K. (1985): Was ist kooperative Pädagogik? Be­ hinderte in Familie, Schule und Gesellschaft 8, 1, 2–13. Kolberg, T. (2007): Sprachtherapeutischer Unterricht. In: Kolberg, T. (Hrsg.): Sprachtherapeutische För­ derung im Unterricht (14–25). Stuttgart: Kohlham­ mer. Lüdtke, U. (2004): Emotionen im Unterricht – The­ orie und Praxis einer Relationalen Didaktik im Förderschwerpunkt Sprache. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und

Logopädie. Bd. 5: Bildung, Erziehung und Unter­ richt (106–126). Stuttgart: Kohlhammer. Mayer, A. (2003): Möglichkeiten der Sprach- und Kommunikationsförderung im Unterricht mit sprachenwicklungsgestörten Kindern. Sprachheil­ arbeit 48, 1, 11–21. Mayer, A. (2004): Diagnose und Förderung der pho­ nologischen Bewusstheit. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Bd. 5: Bildung, Erziehung und Unter­ richt (248–264). Stuttgart: Kohlhammer. Motsch, H.-J. (21996): Sprach- oder Kommunikations­ therapie? Kommunikationstheoretische Grund­ lagen eines geänderten sprachtherapeutischen Selbst­verständnisses. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Grundlagen der Sprachtherapie. Handbuch der Sprachtherapie. Bd. 1 (73–95). Berlin: Spiess. Motsch, H.-J. (22006): Kontextoptimierung. Förde­ rung grammatischer Fähigkeiten in Therapie und Unterricht. München: Reinhardt. Reber, K. (2004): Metalinguistische Intervention – Computergestützte Förderung. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Bd. 5: Bildung, Erziehung und Unter­ richt (265–279). Stuttgart: Kohlhammer. Schönberger, F (31987): Kooperative Didaktik – Un­ terrichtslehre einer handlungsorientierten Sonder­ pädagogik. In: Schönberger, F. (Hrsg.): Kooperati­ ve Didaktik (83–171). Stadthagen: Pätzold. Schmitt, K. & Weiß, P. (2004): Sprach- und Kommu­ nikationsverhalten der Lehrkraft als Mittel unter­ richtsimmanenter Sprach- und Kommunikations­ förderung. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Bd. 5: Bildung, Erziehung und Unterricht (167–179). Stuttgart: Kohlhammer. Troßbach-Neuner, E. (1997): Entwicklungsorientier­ te Sprachförderung im Unterricht. Die Sprachheil­ arbeit 42, 6, 277–288. Troßbach-Neuner, E. (2003): Entwicklungsproximale Sprachtherapie in der Schule. Geht das? In: Grohn­ feldt, M. (Hrsg.): Spezifische Sprachentwicklungs­ störungen (54–77). Würzburg: von freisleben. Welling, A. (2004): Kooperative Sprachdidaktik als Konzept sprachbehindertenpädagogischer Praxis. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprach­ heilpädagogik und Logopädie. Bd. 5: Bildung, Er­ ziehung und Unterricht (127–146). Stuttgart: Kohl­ hammer.

Sprachtherapie Nitza Katz-Bernstein & Katja Subellok

1 Sprachtherapie: Von der ­dyadischen ­Kommunikation zur­ sprachlichen ­Triangulierung und sozialen Identität Kurz gefasst kann der Begriff Sprachtherapie als „eine auf der Grundlage differenzierter diagnostischer Verfahren und vorhandenem spezifischen Fachwissen inszenierte Sprach-, Sprech- und Vermittlungssituation zwischen einem Experten […] sowie einem Klienten/ Patienten“ (Maihack 2004, 208 f.) verstanden werden. Sprachtherapeutische Maßnahmen zielen auf Behebung, Kompensation, Restitu­ tion oder Aufbau von fehlenden, fehl entwi­ ckelten oder abweichenden sprachlichen Fä­ higkeiten und ihrer etwaigen psychosozialen Auswirkungen ab und orientieren sich unter größtmöglicher Mitbestimmung des Betroffe­ nen (vgl. Petzold 2007, 229) an seinen indivi­ duellen Bedürfnissen und der Lebensrelevanz. Der Terminus Sprachtherapie sowie das zugehörige Arbeitsfeld werden von verschie­ denen Disziplinen, wie beispielsweise Logo­ pädie, Psychologie, Medizin, Klinische Lin­ guistik und Patholinguistik, gleichermaßen beansprucht und je nach Menschenbild und Theoriehintergrund variabel ausgelegt und gestaltet. Auch innerhalb der Sprachheilpäda­ gogik gibt es aufgrund der aktuellen Entwick­ lungen des Faches noch kein einheitliches Verständnis. Hier wird der Vermittlungspro­ zess selbst als pädagogisches Geschehen fo­ kussiert, der sprachliches Lernen steuert bzw. sprachliche Entwicklung initiiert. In der ak­ tuellen Diskussion gibt es Anstöße, die Do­ mäne der Sprachtherapie fachlich stärker zu konturieren bzw. zur Konzeptionalisierung einer „Sprachtherapiewissenschaft“ beizutra­ gen (vgl. Baumgartner et al. 2004).

Im Folgenden geht es um den definierten sprachtherapeutischen Vermittlungsprozess selbst. Dafür wird ein therapeutisches Ver­ ständnis nahe gelegt, das sich auf die Anfor­ derungen der ICF (International Classification of Functioning, Disabilitiy and Health, WHO 2001, DIMDI 2005) stützt und die sozi­ ale Konstitutionshypothese zur Entwicklung der Sprache (Bruner & Laciavelli 1989, Toma­ sello 2009) einbezieht (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau). Aus dieser theoretischen Position lassen sich Handlungsziele und -prinzipien ableiten, die Lebenskontexten, Al­ ter, Art der Beeinträchtigung, Störung oder Behinderung, Therapieauftrag, Erwartungen, aktuellem therapeutischen Rahmen sowie ex­ ternen und internen Bedingungen angepasst werden. Ein besonderes Augenmerk wird da­ bei auf den dynamischen Prozess der Interak­ tions- und Beziehungsgestaltung geworfen. Um diesen Prozess beschreibbar und empi­ risch zugänglich zu machen, wird ein Modell zu dessen Beobachtung und Bewertung – hier exemplarisch anhand der Sprachtherapie mit Kindern – vorgestellt.

2  Theoretische Position Neuere Erkenntnisse der Entwicklungspsy­ chologie, wie beispielsweise die Bindungsfor­ schung sowie die Neurowissenschaften (→ In­ tersubjektive Kommunikation), bestätigen die zentrale Rolle der Sprache bei der Identitäts­ konstruktion (Nelson 2002, 2006). Das „pro­ zedurale Gedächtnis“ (Markowitsch & Welzer 2005) – gemeint sind unbewusste automati­ sierte Handlungsplanungen und -abläufe wie Rad fahren, ein Instrument spielen wie auch Artikulationsvorgänge – ist eng verbunden mit



Leitziele und Prinzipien in der Sprachtherapie   537

„mentalisierenden“ (Fonagy 1996), bewusst steuerbaren Prozessen wie Absichten beim Sprechen und Impulskontrolle. Über Zeiträu­ me und Kontexte hinausgehende, motivational geprägte lebensgestaltende Intentionen und Pläne, gebündelt im „Autobiographischen Ge­ dächtnis“ (Markowitsch & Welzer 2005), tra­ gen zum Selbsterleben bei. Das ermöglicht die Entwicklung einer eigenen, kontinuierlichen, individuell abgegrenzten Identität. Ein solch „dynamisches Selbst“ vermag sich in unter­ schiedliche Kontexte und Rollen zu begeben, ohne die Kernidentität zu verlieren (Hannover 1997). Folglich prägen kommunikative Inter­ aktionsmuster unwiederbringlich das Fremdund Selbstbild des Menschen. Diese Erkenntnisse verbinden sich mit der sozial-konstituierenden, interaktiven Po­ sition der Kommunikations- und Sprachent­ wicklung (Bruner & Laciavelli 1989, Toma­ sello 2009). Der Erwachsene bildet dabei ein Vorbild, welches dem Kind auf eine intuitive Weise Stützsysteme zur Verfügung stellt, die mit der Metapher des „scaffolding“ („Bau­ gerüst“) treffend beschrieben werden. Diese Stützsysteme sind dynamisch und haben ei­ nen entwicklungsangepassten, „approxima­ len“ Charakter. Sie werden nur solange zur Verfügung gestellt, wie sie benötigt werden. Dabei wird dem Kind der nächstfolgende Ent­ wicklungsschritt unterstellt (Vygotskij 1986). Hieraus abgeleitet lassen sich Schritte der Sprach-, Symbolisierungs- und sozialen Ent­ wicklung definieren (vgl. Katz-Bernstein 2003): • Aufbau von dyadischen, dialogischkommunikativen Strukturen, • Erwerb von kognitiven und sprachli­chen Triangulierungskompetenzen durch Hin­ weisverhalten und Ausdruck von Inten­ tionen, • Erwerb von Kompetenzen, innerlich re­ präsentierte Handlungen symbolischabstrakt zu simulieren und dadurch Erwerb von Sprach- und Rollenkompe­ tenzen,

• Trennung zwischen innerer und äuße­ rer  Realität, Erwerb einer Überstiegsfä­ higkeit zwischen beiden sowie Bildung eines steuernden, inneren Dialoges, • Aufbau einer kontinuierlichen, dyna­ mischen sozialen Identität mittels Ein­ satz kontextangepasster Interaktionen, Rollen- und Sprachhandlungen. Diese theoretische Position zeigt die Durch­ dringung von Sprache mit einer sich lebens­ lang entwickelnden autobiographischen Iden­ tität. Eine Sprachtherapie mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit muss derartige neue Er­ kenntnisse in theoriegeleitete Handlungskon­ sequenzen überführen.

3 Leitziele und Prinzipien in der Sprachtherapie Spezifische sprachtherapeutische Zielsetzun­ gen, die auf der beschriebenen sozial-konstitu­ ierenden interaktiven Position basieren, sind mit den Leitzielen der Rehabilitation im Sinne der ICF (DIMDI 2005, vgl. auch Grötzbach & Iven 2009) kompatibel bzw. bauen aufeinander auf, indem • nach Körperfunktionen und Körperstrukturen (Ebene des Körpers) (→ Beeinträchti­ gung der Sprachstrukturen und Sprachfunk­ tionen), Aktivitäten (individuelle Perspektive von Handlungen) (→ Beeinträchtigung der Sprach- und Sprechaktivität) und Partizipation (gesellschaftliche Perspektive von Handlungen) (→ Beeinträchtigung der Sprachpartizipation) gefragt wird, und • ein Menschenbild impliziert wird, das auf die Selbstbestimmung, Würde und Ethik der betroffenen Personen aufbaut und eine Reduktion auf eine funktionale Ver­ sorgung meidet (Katz-Bernstein & Dupuis 2005, 210). Damit ist eine wissenschaftliche, ethische und handlungsbezogene Position für die Sprach­ therapie mit Menschen in der gesamten Le­

538 

Sprachtherapie

bensspanne zugrunde gelegt, in der eine Sym­ metrie zwischen den Handlungspartnern angestrebt wird. Bei Kindern und Jugendlichen müssen zu­ sätzliche Aspekte in Erwägung gezogen wer­ den. Eine Asymmetrie der Interaktionen zeigt sich in mindestens vier Punkten: • Eine eingeschränkte Selbstbestimmung durch • das familiäre und öffentlich-bildungssystemische Abhängigkeitsverhältnis des Kindes, was Ziele und Erwartungen der Therapie betrifft; • die nicht immer kompatible Motivation und Einsicht im Hinblick auf etwaige Defi­ zite und Kompensationsnotwendigkeiten; • die Entwicklungsdimension, die sowohl präventives wie therapiedidaktisch varia­ bles, altersadäquates und angepasstes Vor­ gehen verlangt. Insofern sind in besonderem Maße und explizit Mitbestimmung, Selbsterleben und Selbstwirk­ samkeit, Berücksichtigung des Lebenskontex­ tes und soziale Partizipation als übergreifende, allgemeine sprachtherapeutische Zielsetzun­ gen zu definieren, die an die Besonderheiten der Lebensphase zu adaptieren sind. Weitere Handlungsprinzipien, die sich vor allem auf die Sprachtherapie mit Kindern be­ ziehen, lassen sich definieren: • Lernen wird als interaktives reziprokes Ge­ schehen verstanden. • Der Weg zur lautsprachlichen Kommu­ nikation führt unweigerlich über präver­ bales, körpersprachliches Ausdrucksver­ halten, das verstanden und in Richtung formale Versprachlichung geführt werden will (Katz-Bernstein et al. 2002). • Der nächste Entwicklungsschritt wird er­ wartet und positiv „unterstellt“ (Vygotskij 1986). Diese Unterstellung bildet grund­ sätzlich den Motor für jedwede weitere Entwicklung. • Sprachangebote und therapeutische Hilfen werden im Sinne von „scaffolding“ nur so­ lange angeboten, bis sie als innere Reprä­ sentation übernommen worden sind.

• Die zu übenden „skills“ sollen motivational unterstützt werden, Frustrationstoleranz aufbauen und kindgerecht in das Thera­ piegeschehen eingebaut werden. • Die Impulse und Intentionen des Kindes werden mit den Zielorientierungen der Sprachtherapie als gemeinsame Handlun­ gen triangulär verbunden. • Das kindliche Spiel bzw. die Symbolhand­ lung wird auf dem Weg zur Lautsprache als semantisches, narratives Geschehen unter­ stützt und mit einbezogen. • Durch eine Anbindung an den jeweiligen Lebenskontext erfahren die Interventionen einen Sinn und garantieren damit einen Selbstbezug und eine motivationale Invol­ viertheit (Bahrfeck-Wichitill & Subellok 2004). • Die grundsätzliche Zielrichtung der the­ rapeutischen Interventionen soll von ei­ ner dyadischen Kommunikation zu einer sozialen Partizipation durch selbständiges Sprechen, Mitteilen und Erzählen führen. • Der Einbezug von Bezugspersonen und weiteren Fachpersonen soll je nach Alter, Möglichkeiten und Ressourcen des Sys­ tems angepasst werden, um Übergänge und Synergieeffekte zu ermöglichen und zu optimieren. • Das gesamte Vorgehen wird als dynami­ scher Prozess verstanden. Es müssen fort­ währende gegenseitige Anpassungspro­ zesse, auch im Falle von unerwarteten Entwicklungsschritten, geleistet werden. Für die Sprachtherapie mit Erwachsenen sind insbesondere zwei Aspekte bedeutsam: • Bei der Festlegung von Zielsetzungen so­ wie der Gestaltung der Schritte und im Hinblick auf das Lerntempo soll auf das Mitspracherecht und die Mitverantwor­ tung des Betroffenen geachtet werden. • Die Motivation und die Einsicht des Be­ troffenen („compliance“) und der thera­ peutische Optimismus sind als Wirkfakto­ ren für den Therapieerfolg maßgebend.



Forschungsperspektiven: Interaktionsdynamik in der Sprachtherapie   539

4 Forschungsperspektiven: Interaktionsdynamik in der Sprachtherapie Neben der Entwicklung spezifischer Thera­ piekonzepte, deren Adaption für unterschied­ liche Populationen und Kontexte sowie ihrer Evaluation zeigt sich für die Sprachtherapie mit Menschen aller Altersgruppen eine neue, übergreifende Forschungsdimension. In der Psychotherapie wird die Beziehungsgestaltung als einer der wichtigsten Wirkfaktoren erach­ tet (Grawe et al. 1994, Hermer & Röhrle 2008, Karver et al. 2006). Übertragen auf die Sprachtherapie insbe­ sondere mit Kindern schließen sich folgen­ de Überlegungen an: Die prosodische, prag­ matisch-kommunikative und Diskursebene weisen auf grundlegende vorsprachliche Bin­ dungs- und Interaktionsqualitäten hin, auf die die formelle Sprache aufbaut. Diese sind in der Beziehungsdynamik zwischen „caregiver“ und Kind im Sinne des erwähnten scaffoldings zur Förderung der Sprachentwick­ lung (Papoušek 1994) organisiert. Insofern kommt der Interaktionsdynamik als Dimen­ sion der Sprachtherapie eine wichtige Bedeu­ tung zu (Subellok 2008).

Abgeleitet aus den dargestellten Theorien werden vier entwicklungsrelevante Interak­ tionsangebote definiert (vgl. Tab. 1). Die therapiedidaktische Kunst (→ Sprach­ didaktiktheorie) ist dabei eine Vermengung und Ausgewogenheit der einzelnen Interakti­ onsangebote. Beispielsweise soll bei einem fehlenden Mundschluss eine Übungsreihe zur orofazialen Regulation durchgeführt werden („Konfrontieren“). Um dabei effizient zu sein, muss eine affektive responsive Beziehungsabstimmung evoziert werden, damit die Therapeutin wiede­ rum das Anforderungsniveau und den Motiva­ tionsstand des Kindes zutreffend einschätzen kann („Spiegeln“). Erst auf dieser Basis kann die Übungsreihe kindgerecht eingeführt und di­ daktisch aufbereitet werden („Handeln“). Diese wird dann ihre ganze Wirkkraft entfalten kön­ nen, wenn die eigene Zuversicht der Therapeu­ tin auf Erfolg mitzuschwingen vermag („positive Unterstellung/Ressourcenorientierung“). Aus folgenden Leitfragen (vgl. Tab. 2) las­ sen sich Beobachtungskriterien für die Erfor­ schung der Interaktionsdynamik ableiten (ex­ emplarische Auswahl). Diese Beobachtungen sind in zweifacher Hinsicht anzustellen, näm­ lich für beide Interaktionspartner, das Kind und die Therapeutin.

Tab. 1: Entwicklungsrelevante Interaktionsangebote (modifiziert nach Katz-Bernstein 2008) Interaktionsangebote

Entwicklungsdimension

Beziehungsdimension

Spiegeln

Dimension der responsiven „Face-to-Face“-Interaktion (Dyade)

ICH und DU

Verstehen und Handeln

bedeutungsgebende und symbolische Dimension (Triangulation)

ICH, DU und die WELT

Konfrontieren

strukturgebende, Grenzen aufzeigende Dimension (Sozialisation)

ICH, DU und die sozialen Anforderungen

Positives Unterstellen

Dimension der Entwicklungsvision und Zuversicht

WIR schaffen es!

540 

Sprachtherapie

Tab. 2:  Leitfragen zur Ableitung von Beobachtungskriterien zur Erforschung der Interaktionsdynamik

Spiegeln

Verstehen und Handeln

Konfrontieren

positiv Unterstellen

• Welche Face-to-Face-Interaktionen finden statt? • Gibt es einen Blickdialog, Austausch von Mimik und Gestik? • Wie ist die Regulierung von Distanz und Nähe? • Wie werden Impulse beiderseitig aufgegriffen? • Wie werden diese strukturiert und konkretisiert? • Welche Sinnzusammenhänge werden hergestellt? • Wie werden Grenzen und Regeln eingeführt und aufrecht gehalten? • Wie werden Übungen eingeführt und durchgehalten? • Wie wird die reale Situation des Kindes berücksichtigt? • Wie „approximal“ wird gehandelt? • Ist eine Zuversicht auf Erfolg erkennbar? • Wie wird Entwicklungszuversicht kommuniziert?

Im interaktiven Sinn kann auf einer Zeitach­ se beobachtet werden, wie das Kind die Ange­ bote der Therapeutin sukzessive verinnerlicht und die scaffoldings zurückgenommen wer­ den. Damit lässt sich die Dynamik von einer asymmetrischen zu einer stärker ausgeprägten symmetrischen Interaktion sprachlicher und nicht sprachlicher Art, dem Ziel einer jegli­ chen Sprachtherapie, aufzeigen. Ein derartiges Vorgehen stützt sich ethnomethodologisch auf das Design der Diskursforschung (vgl. Quasthoff & Katz-Bernstein 2007) oder der Kinderpsychotherapie (Katz-Bernstein 2008).

5 Künftige Aufgabenfelder und Herausforderungen Anhand von neuen Entwicklungen in Rich­ tung der ICF und anhand der sozial-konstituie­ renden interaktiven Position können Leitziele und Handlungsprinzipien der Sprachtherapie für Menschen in der gesamten Lebensspan­ ne formuliert werden, die einem größeren Mitspracherecht und einer stärkeren sozialen Partizipation der Betroffenen gerecht werden. Kern- und Angelpunkt beider Posi­tionen ist ein Streben nach einer größtmöglichen symmetrischen Interaktion, was als grundsätzliche

Zielorientierung für die Sprachtherapie defi­ niert werden kann. Von beiden Seiten, der des Betroffenen und der des Therapeuten, wird dabei erwar­ tet und unterstellt, dass sie sich (selbst)be­ wusst als zwei Identitäten gegenüber stehen, die sich mittels Sprache und Kommunikation verständigen können. Auf der Seite des The­ rapeuten bedeutet dies einmal eine fördern­ de Unterstellung gegenüber dem Betroffenen, eine eigenständige Identität zu sein bzw. wer­ den zu können. Im Weiteren wird eine Refle­ xion des eigenen kommunikativen Verhaltens impliziert, da er sich als Interaktionspartner versteht, der die Kommunikation reziprok mitgestaltet und mitbestimmt. Die in diesem Sinne beschriebenen künf­ tigen Aufgaben der Sprachtherapie aller Altersgruppen und jeglicher sprachlicher Beeinträchtigungen kommen in drei un­ terschiedlichen Dimensionen zum Tragen: In der Handlungs-, Vermittlungs- und Forschungsdimension. Es ist nicht abzustreiten, dass dieses in allen drei Dimensionen ein anspruchsvolles Vorgehen verlangt. Doch es wird benötigt, um eine Anpassung des „Auf­ gabenfeldes Sprachtherapie“ an die aktuelle, interdisziplinäre Therapieforschung insbe­ sondere im Hinblick auf die Ermittlung der Wirkfaktoren (Grawe et al. 1994, Hubble et al. 2001) sowie die Gestaltung der therapeuti­



Literatur   541

schen Beziehung (Hermer & Röhrle 2007) zu gewährleisten.

Literatur Bahrfeck-Wichitill, K. & Subellok, K. (2004): Hören was Kinder (nicht) sagen. Einbezug lebensrelevan­ ter Thematiken von Kindern in die Sprachtherapie. Die Sprachheilarbeit 49, 2, 52–59. Baumgartner, S., Dannenbauer, F. M., Homburg, G. & Maihack, V. (2004): Standort: Sprachheilpäda­ gogik. Dortmund: modernes lernen. Bruner, J. S. & Laciavelli, J. (1989): Monologue as nar­ rative recreation of the world. In: Nelson, K. (Ed.): Narrative from the crib (73–97). Cambridge (MA): Harvard University Press. DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Doku­ mentation und Information) (2005): Internatio­nale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinde­ rung und Gesundheit (ISF) der Weltgesundheits­ organisation (WHO). Neu-Isenburg: MMI. Fonagy, P. (1996): Die Bedeutung der Entwicklung metakognitiver Kontrolle der mentalen Reprä­ sentation für die Betreuung und Entwicklung des Säuglings. Psyche 51, 4, 349–368. Grawe, K., Donati, R. & Bernauer, P. (1994): Psycho­ therapie im Wandel. Von der Konfession zur Pro­ fession. Göttingen: Hogrefe. Grötzbach, H. & Iven, C. (Hrsg.) (2009): ICF in der Sprachtherapie. Idstein: Schulz-Kirchner. Hannover, B. (1997): Das dynamische Selbst. Die Kontextabhängigkeit selbstbezogenen Wissens. Bern: Huber. Hermer, M. & Röhrle, B. (Hrsg.) (2008): Handbuch der Therapeutischen Beziehung. Tübingen: DGVT. Hubble, M. A., Duncan, B. L. & Miller, S. D. (Hrsg.) (2001): So wirkt Psychotherapie. Empirische Er­ gebnisse und praktische Folgerungen. Dortmund: modernes lernen. Katz-Bernstein, N. (2003): Therapie aus pädagogischpsychologischer Sicht. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Handbuch der Sprachtherapie und Logopädie. Bd. 4: Beratung, Therapie und Rehabilitation (66– 90). Stuttgart: Kohlhammer. Katz-Bernstein, N. (2008): Beziehungsgestaltung in der Psychotherapie von Kindern und Jugendli­ chen. In: Hermer, M. & Röhrle, B. (Hrsg.): Hand­ buch der Therapeutischen Beziehung. Tübingen: DGVT. Katz-Bernstein, N. & Dupuis, G. (2005): Logopädie, Sprachtherapie – Kommunikation, Interaktion,

Sprache. In: Dohrenbusch, H., Godenzi, L. & Bo­ veland, B. (Hrsg.): Differentielle Heilpädagogik. (209–252). Luzern: SZH/CSPS. Katz-Bernstein, N., Subellok, K., Bahrfeck, K., Plenz­ ke, U. & Weidt-Goldschmidt, B. (2002): Die doppel­ te Dimension der Kommunikation in der Sprach­ therapie. Die Sprachheilarbeit 47, 6, 247–256. Karver, M. S., Handelsmann, J. B., Fields, S. & Bick­ man, L. (2006): Meta-analysis of therapeutic relati­ onship variables in youth and family therapy: The evidence for different relationship variables in the child and adolescent treatment outcome literature. Clinical Psychology Review 26, 1, 50–65. Maihack, V. (2004): „Sprachheilpädagogik und Sprach­t herapie“. Eine kritische Bestandsaufnah­ me sowie Anregungen zur Konzeptualisierung des Faches. In: Baumgartner, S., Dannenbauer, F. M., Homburg, G. & Maihack, V. (Hrsg.): Standort: Sprachheilpädagogik (199–250). Dortmund: mo­ dernes lernen. Markowitsch, H. J. & Welzer, H. (2005): Das autobio­ grafische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett. Nelson, K. (2002): Erzählen und Selbst, Mythos und Erinnerung. Die Entwicklung des autobiographi­ schen Gedächtnisses und des kulturellen Selbst. BIOS 15, 2, 241–263. Nelson, K. (2006): Über Erinnerung reden: Ein so­ ziokultureller Zugang zur Entwicklung des auto­ biographischen Gedächtnisses. In: Welzer, H. & Markowitsch, J. (Hrsg.): Warum Menschen sich er­ innern können. Forschritte der interdisziplinären Gedächtnisforschung (78–94). Stuttgart: Klett. Papoušek, M. (1994): Vom ersten Schrei zum ersten Wort. Anfänge der Sprachentwicklung in der vor­ sprachlichen Kommunikation. Bern: Huber. Petzold, H. (22007): Integrative Supervision, MetaConsulting, Organisationsentwicklung. Ein Hand­ buch für Modelle und Methoden reflexiver Praxis. Paderborn: Junfermann. Quasthoff, U. & Katz-Bernstein, N. (2007): Erzähl­ fähigkeit. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lexikon der Sprachtherapie (72–75). Stuttgart: Kohlhammer. Subellok, K. (2008): Beziehung und Bezüge zwischen Theorie und Praxis in Kindersprachtherapie, El­ ternarbeit und Ausbildung. Ein Beitrag zur Didak­ tik der Sprachheilpädagogik. Habilitationsschrift. Technische Universität Dortmund, Fakultät Reha­ bilitationswissenschaften. Tomasello, M. (2009): Die Ursprünge der menschli­ chen Kommunikation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Vygotzkij, L. (1986 [i. O. 1964]): Denken und Spre­ chen. Frankfurt a. M.: Fischer.

Medien Gregor Dupuis

1  Zum Medien-Begriff Medien im weiteren Sinne sind kommunika­ tive Modalitäten (Laut- und Schriftsprache, Gebärdenverwendung, Zeichensysteme etc.) sowie modellierte, gezeichnete, gedruckte und audiovisuelle Materialien (Spielmaterialien, Anschauungs- und Lehrmodelle, Lernpro­ gramme, Bild-, Film- und Tonaufzeichnun­ gen, „Print-Medien“, das heißt, Broschüren, Bücher, Zeitschriften), die bei gezielten Ver­ mittlungstätigkeiten, wie zum Beispiel der di­ rekten Instruktion, der Veranschaulichung, der Wissensvermittlung, der Bildung, der Aus­ bildung, der wissenschaftlichen Information und der politischen Orientierung, eingesetzt werden. Festzuhalten ist, dass mit Medien so­ wohl Modalitäten und Technologien als auch Inhalte angesprochen werden. Der Medien-Begriff steht in einem engen Zusammenhang mit den Konstrukten Kommunikation, Information und System(theorie), die nach dem Zweiten Weltkrieg (in Deutsch­ land u. a. Meyer-Eppler 1959) zunehmend in den Mittelpunkt des Bemühens um wissen­ schaftliche Fortschritte und um gesellschaft­ liche Erneuerung gerückt sind – man spricht auch vom Übergang von einer postindu­ striellen Wissens- zu einer Informationsgesellschaft. Wissenschaftliche Bezüge reichen von physikalischen (Informationstechnolo­gie) über sozial- und wirtschaftswissenschaftliche bis zu philosophischen Arbeitszusammen­ hängen (Systemtheorie). Neben den Kom­ munikationswissenschaften haben sich mehr oder minder eigenständig Medienwissenschaften etabliert – an unterschiedlichen Universi­ täten und Fachhochschulen sind Studiengänge mit dieser Zuordnung entstanden. Damit wird deutlich, dass die Neuen Medien eine Entspre­ chung im Bereich der Ausdifferenzierung wis­

senschaftlicher Forschungs- und Lehrgebiete gefunden haben, die dazu beitragen, die viel­ fältigen Entwicklungs- und Gestaltungsaufga­ ben auf hohem Niveau zu bewältigen. Auch wenn die wirtschaftlichen und ge­ sellschaftlichen Veränderungen mit unter­ schiedlich akzentuierten Wertvorstellungen, normativen Vorgaben (zum Beispiel Chancen­ gleichheit) sowie wirtschaftspolitischen Ziel­ setzungen (zum Beispiel Wirtschaftswachs­ tum) verknüpft werden, besteht ein breiter Konsens darüber, dass der Forschungsförde­ rung sowie der Anwendung neuer Techno­ logien und vernetzter Kommunikationsme­ dien eine Schlüsselfunktion zukommt (u. a. Initiativen wie beispielsweise der UNO Welt­ gipfel zur Informationsgesellschaft in Genf 2003, Tunis 2005; oder der Beschluss einer In­ formations­gesellschaftsinitiative iD2010 des Bundes 2006). Wirtschaftsunternehmen und ebenfalls weltweit operierende nichtstaatliche Organisationen (NGOs) entwickeln kosten­ günstige Kommunikations- und Informati­ onsmedien, beispielsweise einen „simple computer“ (Symputer, Indien), den „100 Dollar Laptop“ der Initiative One Laptop Per Child (OLPC) oder den „Classmate PC“ von Intel. Leistungsfähige Notebook-Konfiguratio­ nen mit entsprechender Software und Periphe­ rie- sowie Projektionsgeräten (Beamer) werden als „multimediafähig“ bezeichnet. Zuneh­ mend kommt es auch in Unterrichts- und Lehr­ zusammenhängen zu einer Einbeziehung des Internets für Recherchen und internetspezifi­ schen Kommunikationsformen (zum Beispiel E-Mail, Chat-Foren und Systeme wie „face­ book“, „google“ und „twitter“). Neue Lehrund Lernformen sowie „Lernumgebungen“ (wie Mediale Ausstattung und Unterstüt­ zung, Autorensoftware, Hypertexte, das heißt auf mehreren Ebenen miteinander verknüpf­ te so genannte „verlinkte“ Texte) stehen in ei­



Zum Medien-Begriff   543

nem engen Zusammenhang mit der ständigen technologischen Weiterentwicklung. Lernfor­ men wie das „Blended Learning“, also die Bei­ mischung und Applikation Neuer Medien, das „E-Learning“ auf der Basis von InternetSeiten, und Ansätze didaktischer Konzepte wie das „Computergestützte kooperative Lernen“ (CSCL, Computer Supported Cooperative Learning) stehen am Anfang einer Phase der medienpädagogischen Aufarbeitung der neuen Möglichkeiten. Mit dem Rahmen-Pro­ gramm „Neue Medien in der Bildung“ hat in Deutschland das Bundesministerium für Bil­ dung und Forschung (BMBF 2000) die For­ schung im Bereich des Medieneinsatzes und der Medienbildung verstärkt. Merkmale einer Wissens- und Informati­ onsgesellschaft konkretisieren sich besonders deutlich in Qualitätsanforderungen an die Bildungssysteme. Das Ziel ist nicht einfach der Ersatz alter durch neue Informations­ technologien, sondern die Vermittlung per­ sönlicher Kompetenzen im Umgang mit den Technologien und Medien, mit ihrer Herstel­ lung und anderes mehr. Neben der Wissens­ vermittlung, bei der zunehmend vernetzte Mediensysteme eingesetzt werden, kommen Kenntnisse, Fähigkeiten und Einstellungen zur Medienverwendung selbst als eigenständi­ ge zunehmend komplexe Zielkategorie hinzu. Die heutigen Veränderungen werden vielfach mit der Epoche der Verbreitung des Drucks mit beweglichen Lettern durch Gutenberg (1452) verglichen. Dies ist zumindest an zwei Punkten schlüssig: In beiden Fällen sind die Möglichkeiten einer massenhaften Verbrei­ tung von Informationen sprunghaft angestie­ gen und mit tiefgreifenden technologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Ver­ änderungen verbunden. Als Umbruch oder sogar als revolutionär empfunden, lösen sie Gegenströmungen aus: kulturpessimistische Reminiszenzen und elitäre Abgrenzungen insbesondere gegenüber einer größeren Zu­ gänglichkeit und Verbreitung von Wissen, das zuvor nur für wenige erreichbar war. Wenn heute abfällig über die „Massenmedien“ und deren Macht, Menschen zu manipulieren, ge­

redet wird, schwingen teilweise rückwärts ge­ wandte Bewertungen mit. Tatsächlich sind in den Bildungseinrichtungen enorme päda­ gogische Anstrengungen notwendig, um der Aufgabe der Vermittlung einer „Medienkompetenz“ gerecht zu werden, die einer Manipu­ lation der öffentlichen Meinung entgegenwir­ ken kann. Besonders hoch ist das Tempo der informa­ tionstechnologischen Leistungssteigerungen dort, wo es um die wirtschaftliche Verwert­ barkeit geht – in jüngerer Zeit beispielsweise von enorm leistungsfähigen, aber auch kosten­ trächtigen Rechnern, „Spiele-Konsolen“ und entsprechender Software. Eine auf das Not­ wendige beschränkte, vergleichsweise kosten­ günstige, private und berufliche Nutzung von Rechnern zwecks Informationsgewinn, Kor­ respondenz und Kommunikation kann von den Leistungssteigerungen profitieren. Dies setzt allerdings voraus, dass die Nutzer über die nötigen technischen Grundinformatio­ nen verfügen und unprätentiös mit den Rech­ nern umgehen können. Wer nicht „mithalten“ kann – im Sinne eines selektiven bewussten Umgangs mit den beruflich und sozial nutz­ baren Informations- und Kommunikations­ medien Internet und E-Mail – gerät inzwi­ schen leicht ins Abseits. Neu sind vor allem Möglichkeiten einer Bearbeitung und einer interaktiven Nutzung der digitalisierten Medienbestände. Die von den Massenmedien Fernsehen, Rundfunk und Presse angebotenen Informationen sind kaum noch überschaubar. Hier bestehen Schwierig­ keiten längst nicht mehr bei der Zugänglich­ keit der Informations- und Unterhaltungsan­ gebote, sondern dabei, deren Qualitäten zu bewerten und sie selektiv auszunutzen. Die Grenzen zwischen den Angeboten der öffent­ lichen Bibliotheken und Bildstellen, der klas­ sischen Massenmedien, dem Internet sowie der privaten Herstellung und Nutzung digita­ lisierter Bild- und Toninformationen (digitale Fotografie, Film- und Tonaufzeichnung) ver­ schwimmen zunehmend. Mit dem Podcasting (aus „broadcasting“ für die Herstellung von Radiosendungen und „iPod“ für das bekann­

544 

Medien

teste Abspielgerät für Musik und Video-Da­ teien) sind Möglichkeiten des Abrufs und der Verbreitung von Ton- und Videoaufzeichnun­ gen entstanden, die alle bisherigen kommer­ ziellen und privaten Angebote in den Schat­ ten stellen. Die Podcasts enthalten Serien von zusammenhängenden Ton- und Bildinfor­ mationen (Feeds oder Newsfeeds), die derzeit vorwiegend privat produziert und zum Ab­ ruf zur Verfügung gestellt werden. Unter der Bezeichnung Weblog („web“ für das Internet und „log“ für das sich Einklinken; auch Blog, Weblogg oder Webblogg bzw. Blogg) werden Internet-Seiten verstanden, auf denen von ei­ nem einzelnen Autor, einer Gruppe, Organi­ sationen, inzwischen zum Teil auch von Fir­ men Texte, Bilder und Tonaufzeichnungen in Form eines Tagebuches veröffentlicht werden. Die politische Sprengkraft, die von diesem Medium ausgehen kann, ist an einigen Sei­ ten aus Ländern mit autoritären Herrschafts­ strukturen deutlich geworden (vgl. Möller 2005). Im Gegenzug kommt es zwischen Län­ dern wie China und international operieren­ den Internet-Providern zu Kooperationen, die eine Einschränkung der Zugänglichkeit von Informationen zum Ziel haben. Die kom­ plexen Strukturen, individuelle Umgangsfor­ men und Inhalte ermöglichen jedoch ständig neue Wege. Hinzu kommt, dass sie sich in ei­ ner kaum zu kontrollierenden Weise auf eine Veränderung des Bewusstseins auswirken können (vgl. Gross 2007). In jüngerer Zeit wird der Medien-Begriff zumeist mit dem Hörfunk, dem Fernsehen, dem Zeitungswesen und neuerdings mit der Internet-Nutzung in Verbindung gebracht (Medien im engeren Sinne). Es ist die Rede von Massenmedien, neuen und technischen Medien. Angesichts der raschen Verbreitung neuer Technologien sowie einer zunehmen­ den Verschmelzung einzelner Bereiche, zum Beispiel der mobilen Telefonie mit dem In­ ternet (z. B. „Skype“), ist diese Bedeutungs­ einengung des Medien-Begriffs verständlich. Andererseits sollte beachtet werden, dass die Vermittlung von Fähigkeiten im Umgang mit diesen enorm angestiegenen Kommuni­

kations- und Informationsmöglichkeiten auf elementaren Erfahrungen im Umgang mit Bezugspersonen und einfachen – handgreiflichen – Materialien aufbauen. Ausgeprägte Fähigkeiten, Gegenstände des Alltags, Spiel­ zeug, die „bordeigenen“ stimmlichen, sprachlichen, gestischen und pantomimischen Mittel wirkungsvoll und kreativ einzusetzen, bilden auch für die Nutzung technischer Medien die Grundlage für eine wirkungsvolle Gestaltung und Anwendung (→ Sprachdidaktiktheorie).

2 Medien in Rehabilitation und Pädagogik 2.1 Mediendidaktik, Medienerziehung und -bildung Die Begründer der heutigen Medienpädagogik (vgl. Baacke 1997, Baron 2004) haben neben dem praktischen Nutzen und den Ge­ fahren auch die Bildungsaufgaben im Zusam­ menhang mit den Neuen Medien frühzeitig erkannt und neben den didaktischen Frage­ stellungen  – zum Beispiel des Einsatzes von audiovisuellem Medien in Erziehung und Un­ terricht – weiter gehende Fragestellungen ent­ wickelt. Dazu gehören neben einer Erarbeitung didaktischer Konzepte, wie einer „Informa­ tionstechnologischen Grundbildung“  (ITG) und einer (kommunikations- und) informa­ tionstechnischen Bildung, auch pädagogische Modelle einer Medienerziehung und -bildung, die einen kompetenten und selbstbestimmten Umgang mit den neuen technologischen Mög­ lichkeiten zum Ziel haben. Die Aufarbeitung der Auswirkungen von Massenmedien insbe­ sondere des Fernsehens und des Konsums von Video-Konserven und PC-Spielen auf Kinderund Jugendliche gehören heute ebenso dazu, wie entsprechende Fragestellungen und Kon­ zepte in der Erwachsenenbildung sowie in der Pädagogik und der Rehabilitation für Men­ schen mit Behinderungen (vgl. Böcking & Rit­ terfeld 2006).



Medien in Rehabilitation und Pädagogik   545

2.2 Zur Rolle der Medien bei der ­Verwirklichung einer ­selbstbestimmten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen Für die Kommunikation und die pädagogische Arbeit mit Menschen mit Behinderungen sind Medien unverzichtbar. Unter der Vor­ aussetzung, dass sie selbstbestimmt spontan verwendet oder bewusst ausgewählt und ein­ geübt werden, tragen sie auf konkreter Ebene dazu bei, das Postulat der Teilhabe (ICF, Partizipation) am sozialen Leben zu verwirklichen. Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Hörschädigungen (zum Beispiel Gehörlosigkeit, Schwerhörigkeit, Ertaubung) (→ Hören und Sprechen) gehörten in den 1980er  Jahren zu den ersten Gruppen, die noch vor der Verbrei­ tung des Internets die Möglichkeiten so ge­ nannter Mailboxen und des Bildschirmtextes (BTX) erkundeten und nutzten. Für die Tele­ kommunikation entstand mit dem Schreib­ telefon (Wandlung von Tastatureingaben in Tonsignale und Übertragung über die Tele­ fonleitung) eine frühe spezifische Lösung. Für Menschen mit Sehschädigungen (zum Beispiel Blindheit, Sehbehinderung) wurden die me­ chanischen Hilfsmittel durch elektronische er­ gänzt und erweitert – beispielsweise durch die elektronische Braillezeile und durch die ers­ ten Geräte für eine synthetische Sprachausga­ be (Wandlung der Tastatur-Eingaben in Laut­ sprache). Für Menschen ohne aktive Lautsprache (z. B. Anarthrie) gibt es heute spezielle elek­ tronische Kommunikationshilfen. Ihr Leis­ tungsspektrum ist an die unterschiedlichen Bedürfnisse angepasst und reicht von Ge­ räten, mit denen gespeicherte einfache Äu­ ßerungen abgerufen werden können, bis zu Kommunikationsgeräten mit enormen Leis­ tungen bei der Vorbereitung, der Speiche­ rung, der Verarbeitung und der Ausgabe laut­ sprachlicher und schriftlicher Äußerungen. Die Eingabe kann über Tastenfelder erfolgen, die mit Bildern, Symbolen oder Schrift belegt werden können, über angepasste Tastaturen sowie über Peripheriegeräte, die eine Steu­

erung durch motorische (Rest-)Funktionen wie Atem-, Kopf- oder Augenbewegungen ermöglichen. Zusammen mit einer entspre­ chenden pädagogischen Förderung und ad­ aptierten therapeutischen Interventionsange­ boten kann dies dazu beitragen, das Recht auf Teilhabe am sozialen Leben für diese Men­ schen zu konkretisieren (vgl. Braun & Schwe­ rin 2006). Neben der Verwendung spezieller angepasster Geräte können mobile Rechner (Notebooks) mit den notwendigen Ein- und Ausgabegeräten kombiniert und eingesetzt werden. Ein prominenter Nutzer ist der an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrank­ te, gelähmte englische Physiker und Philo­ soph Stephen W. Hawking. Abhängig vom Zeitpunkt und der Art der Behinderungen, die zu den kommunikativen Einschränkungen geführt haben, ist eine ent­ sprechende Vorbereitung, Auswahl und Ein­ übung der Verwendung dieser Medien er­ forderlich. Die spezielle Präzisionsmethodik, entsprechende didaktische Konzepte (→ Un­ terstützte Kommunikation) und normativ ethische Implikationen tragen bei der spezi­ fischen Förderung und der Bildung sowie bei den therapeutischen Interventionsangeboten für Menschen mit schweren Behinderungen zu einer Qualitätssteigerung bei. Anderer­ seits kann unter bestimmten Voraussetzun­ gen eine Wechselwirkung zwischen solchen spezifischen Anwendungen und einer inklu­ sionspädagogischen Arbeit vermittelt werden, die dann nicht nur für die Menschen mit Be­ hinderungen wirksam ist, sondern zu einer allgemeinen Steigerung der pädagogischen Professionalität und zu einer Bereicherung der Bildungsangebote beiträgt (vgl. Luder 2003, Mürner 2003, Radtke 2003) (→ Päda­ gogische Professionalität in Sprachpädagogik, Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie). In der Praxis ist zu beachten, dass bei ei­ nem Teil der Kleinkinder sowie der Vorund der Grundschulkinder ein Nachholbedarf im altersgemäßen kreativen Umgang mit einfachen alltäglichen Gegenständen, Modellen, Spielzeug und Spielen in kom­ munikativen Kontexten festzustellen ist. Er

546 

Medien

steht oft in einem Zusammenhang mit den sprachlichen Entwicklungsstörungen (rezep­ tive und expressive Sprachentwicklungsstö­ rungen; nicht altersgemäße Ausprägung der Verwendung und des Verständnisses der lautlichen, der grammatischen und der se­ mantischen Strukturen) (→ Entwicklungs­ bedingte Sprachstörungen). Insbesondere im Falle von Mehrfachbehinderungen (z. B. bei komplexen zerebralen Dysfunktionen), neurologischen (z. B. Sprechbewegungsstö­ rung: Dysarthrie; Sprachverlust: Aphasie) (→ organische Sprachstörungen)  und ande­ ren gravierenden Störungen und Syndromen ist auch bei Jugendlichen und Erwachsenen eine Einbeziehung elementarer körpernaher Erfahrungen selbstverständlich. Bei Beeinträchtigungen der emotionalen und sozialen Entwicklung (z. B. affektiv bedingtes Schwei­ gen: Mutismus) (→ psychoreaktive Sprach­ störungen) sowie kognitiven Störungen (z. B. im Falle des Down-Syndroms) wie sie auch im Zusammenhang mit ungünstigen Auf­ wuchsbedingungen entstanden sein können, erfordern die Komponenten der Entwick­ lungsförderung ebenfalls eine entsprechen­ de Ausstattung mit elementaren Medien, die durch die Beschaffung informationstechnolo­ gischer Ge­rä­te und Anwendungen nicht ver­ nachlässigt werden sollte. Bezogen auf spezi­ elle Gruppen wie beispielsweise mehrsprachig aufwachsende Kinder (→ Interkulturalität und Mehrsprachigkeit), besteht bezüglich ge­ eigneter Geschichten, Lieder und Spiele aus den Herkunftsländern zum Teil ein deutli­ cher Nachholbedarf (→ DaZ). Die Kinderund Jugendliteratur greift Themen des „Be­ hindert-Seins“ und inklusionspädagogische Zielsetzungen immer noch relativ selten auf (vgl. Reese 2007). Dass Diagnosematerialien, Übungs- und Lernprogramme, audiovisuelle Medien und in­ formationstechnologische Anwendungen  die vielfältigen Besonderheiten von Menschen mit Behinderungen zu einem großen Teil nicht einbeziehen, muss nicht von vornherein als negativ bewertet werden – schließlich geht es darum, Zugänge zu allem für alle zu schaf­

fen. Wie schon erwähnt, erfordert der Weg zu einer selbstbestimmten Teilhabe gerade im medialen Bereich Adaptionen und Modifi­ kationen sowie ergänzende Materialien und Methoden im Sinne einer Präzisionsmetho­ dik. Dabei handelt es sich in der Regel nicht um separate, nur für bestimmte Adressaten­ gruppen erforderliche Angebote und Anwen­ dungen. Vielmehr können sich daraus zahl­ reiche Möglichkeiten des Methodentransfers entwickeln. Damit verbunden wächst die Qualität professionellerer Einstellungen, bei denen anstelle vorzeitiger Abgrenzungen von Adressaten die Suche nach neuen Zugängen und Inhalten tritt. Ein bekanntes Beispiel ist die Verwendung von Gebärden (→ Gebär­ den und Sehen) und taktilen Reizen zur Un­ terstützung des Schriftspracherwerbs („Ler­ nen mit allen Sinnen“ im Rahmen mehrerer didaktischer Konzepte) (→ Hörschädigung als Sprach- und Kommunika­tionsstörung, →  Schriftspracherwerb im Unterrichtskon­ text Deutsch). In den Arbeitsfeldern der Medienpäda­ gogik und -didaktik sind zahlreiche Modelle und Klassfikationen entwickelt worden (Bei­ spiele: Schell et al. 1999, Wöckel 2002, Hoff­ mann 2003, Luder 2003, Moser 42006, Nies­ wiodek-Martin 2006, Schulz-Zander 2005, 2006). Die Komponenten entsprechen dabei den jeweils verfolgten Zielsetzungen wie bei­ spielsweise einer Einführung neuer Medien in den Schulen. Da die logopädischen Arbeitsfel­ der über die schulischen Aufgaben hinausrei­ chen, soll hier eine Klassifikation vorgestellt werden, die sowohl die personalen Aspekte hervorhebt als auch die Massenkommuni­ kation einbezieht. Selbstredend sind Medien auch in der Ausbildung, bei der Supervision und bei der Fortbildung von Sprachtherapeu­ tinnen und Lehrerinnen sowie bei der wis­ senschaftlichen Dokumentation und Analyse von großer Bedeutung. Der Übersichtlichkeit wegen werden diese Bereiche bei der Klassifi­ kation nicht separat erwähnt.

Medien in Rehabilitation und Pädagogik   547



1 Natürliche Medien

Merkmale und Strukturen

Anwendungsbereiche und Methoden (Beispiele)

1.1 Menschen

Stimmlich, sprachlich, mimisch, ges­ tisch, taktil, kinästhetisch (perzeptiv, expressiv, symbolisch, interaktiv).

• Spielen, Sprechen, Singen, Tanzen, Pantomime, „Drama“ in Therapie, Förderung, Unterricht. • Gebärdensprache (DGS)

1.2 Tiere

Interaktiv

• Tiergestützte Therapie. • Einbindung von Tieren in die Erziehung und in den Unterricht.

1.3 G  egenstände aus der Natur

Visuell, auditiv, haptisch, olfaktorisch, gustativ (perzeptiv, expressiv, symbo­ lisch).

Sammeln und Verwenden von na­ türlichen Materialien (Erlebnis- und Waldpädagogik)

2.1 Nicht elektronische Medien

• Alltags-Gegenstände, Puppen, Figuren u. a. Spielzeug, Musikinstru­ mente. • Bilder, Bildersammlungen, Bilder­ bücher, strukturierte Lieder- und Spielesammungen. • Texte, Geschichten, Kinder- und Jugendliteratur. • Lehrmaterialien und -bücher, Nach­ schlagewerke. • Modelle und Organigramme. • Spezielle auditive und visuelle Medi­ en wie z. B. Diagnose- und Therapie­ materialien.

• Spielhandlungen. • Klänge und Geräusche z. B. für das Hörtraining. • Sammlungen und Anleitungen im Bereich der Früherziehung. • Therapiekonzepte und Übungsleit­ fäden (Stimmbildung, Prosodie, Ar­ tikulation, Grammatikverwendung, semantische Fähigkeiten, Dialogfä­ higkeit, narrativen Fähigkeiten). • Schriftspracherwerb, Korrespon­ denz. • Gebärdensysteme (z. B. LGB), Manu­ alsysteme (z. B. PMS)

2.2 Elektronische Medien

• Hörgeräte, Cochlear-ImplantTechnologie, elektronische Sprechhilfen. • Elektronische Aufzeichnung, Spei­ cherung und Wiedergabe von auditi­ ven und visuellen Informationen. • Visualisierung stimmlicher und sprachlicher Leistungen • Synthetische Sprachausgabe, Sprach­erkennung • Software (allgemein, speziell)

• PC-Programme für das Adaptions­ training und für das Training von Teilfunktionen. • Software für den Sprachaufbau und für die Übungstherapie. • PC-Programme zur Gebärden­ verwendung, für das Trainingdes Absehens von Sprechbewegungen. • Geräte mit analoger oder synthe­ tischer Sprachausgabe (spezielle „Talker“-Geräte, Notebooks mit Peripheriegeräten)

2.3 Massenmedien

• Bücher, Zeitungen und Zeitschriften • Rundfunk und Fernsehen • Telefonie • Internet (visuell, auditiv), Chatten, E-Mail, Blogging u. a.

• Einbindung in die Therapie • Kommunikationsförderung • Medienerziehung • Informationstechnologische Bildung, Mediengestaltung und -kompetenz.

2 Künstliche Medien

Abb. 1: Medien in der Logopädie und in der Sprachheilpädagogik

548 

Medien

3 Nachholbedarf, Entwicklungsund Forschungsaufgaben In den deutschsprachigen Ländern gibt es auch hinsichtlich rechnergestützter Mate­ rialien für die Sprachdiagnose und -thera­ pie einen erheblichen Nachholbedarf. „Bran­ chen-Software“, wie sie für viele gewerbliche Zweige selbstverständlich ist, existiert bisher nur in Ansätzen. Neben den möglichen Qua­ litäten multimedialer und datenbankgestütz­ ter Anwendungen ist dabei zu beachten, dass die mit den Förder- und Interventionsange­ boten verbundene menschliche Zuwendung nicht substituiert werden kann. Unter den ers­ ten Formen eines Computertrainings und der „Teletherapie“ (über Internet-Seiten), wie sie beispielsweise neurologischen Patienten an­ geboten wurden, gibt es abschreckende Bei­ spiele. Selbst bei theoretisch fundierten und didaktisch anspruchsvollen Materialien wie z. B. dem aktuellen „Teletherapie-Programm ‚EvoLing‘“ (Hooge et al. 2004) besteht die Ge­ fahr, dass sie ohne die notwendige Schulung und vordergründiger Effekte wegen einge­ setzt werden. Teilweise ist zu beobachten, dass für das einfache Training von Teilfunktionen technologisch veraltete Software zu überteuer­ ten Preisen vermarktet wird. Gravierender ist allerdings, dass der Einsatz von PC-Program­ men vielfach eklektisch, unreflektiert und ohne eine (medien-)didaktische Einbindung stattfindet. Der Medienausstattung und Ver­ wendung sollte deshalb sowohl bei der → Be­ ratung als auch beim Qualitätsmanagement für Bildungs- und Rehabilitationseinrichtungen die notwendige Beachtung eingeräumt werden (→ Qualitätsentwicklung und Evaluationsfor­ schung). Aufbauend auf den schon seit länge­ rem vorhandenen Ansätzen (z. B. Stachowi­ ak et al. 1990) gehört die Intensivierung einer möglichst von direkten wirtschaftlichen Inter­ essen unabhängigen, multidisziplinär vernetz­ ten mediendidaktischen Forschung sowie die darauf aufbauende Theoriebildung, Lehre und Weiterbildung zu den wichtigsten Aufgaben. Klinische (vgl. z. B. Sünderhauf et al. 2007)

(→ Aufgabenfeld Sprachtherapie) und schuli­ sche Arbeitsbereiche (→ Sprachförderung im Aufgabenfeld Unterricht) können gerade we­ gen ihrer bisher sehr unterschiedlichen Aus­ richtung voneinander profitieren.

Literatur Baacke, D. (1997): Medienpädagogik. Tübingen: Nie­ meyer. Baron, T. (2004): Medientheorie, Medienkunst & Me­ dienpädagogik in der aktuellen Diskussion. Von Marshall McLuhan bis zu Dieter Baacke. Eine Ori­ entierung im Dickicht der medienpädagogischen Vielfältigkeit. München: GRIN. BMBF (Bundesministerium für Bildung und For­ schung) (2000): Förderprogramm Neue Medien in der Bildung. Bonn: BMBF. Böcking, S. & Ritterfeld, U. (2006): Alles „gaga“ oder was? Zum Einfluss elektronischer Medien auf den Spracherwerb. merz – Medien und Erziehung – Zeitschrift für Medienpädagogik 12, 1, 33–38. Braun, U. & Schwerin, N. (2006): Nele im Fernsehen. Unterstützte Kommunikation 10, 2, 39–40. Gross, Th. (2007): Die große Lockerung – Chillen, chatten, Dampf ablassen: Pekings Jugend entdeckt den Individualismus. DIE ZEIT 4, 18. 01. 2007, 41. Hoffmann, B. (2003): Medienpädagogik. Eine Ein­ führung in Theorie und Praxis. Stuttgart: UTB. Hooge, W., Janssen, J., Radermacher, I. & Huber, W. (2004): EvoLing – Ein Übungsprogramm für die Aphasietherapie. Klinische Erfahrungen und Eva­ luation. URL: http://www.ukaachen.de/ Luder, R. (2003): Neue Medien im heil- u. sonderpä­ dagogischen Unterricht. Bern: Haupt. Meyer-Eppler, W. (1959): Grundlagen und Anwendun­ gen der Informationstheorie. Heidelberg: Springer. Möller, E. (2005): Die heimliche Medienrevolution. Wie Weblogs, Wikis und freie Software die Welt verändern. Hannover: Heise. Moser, H. (42006): Einführung in die Medienpädago­ gik. Aufwachsen im Medienzeitalter. Wiesbaden: VS. Mürner, C. (2003): Medien- und Kulturgeschichte be­ hinderter Menschen. Sensationslust und Selbstbe­ stimmung. Weinheim: Beltz. Nieswiodek-Martin, E. (2006): Kinder in der Medien­ gesellschaft. Fernsehen, Computer und Erziehung. Holzgerlingen: Hänssler. Radtke, P. (2003): Zum Bild behinderter Menschen in den Medien. merz – Medien und Erziehung – Zeit­ schrift für Medienpädagogik 9, 3, 163–168. Reese, I. (2007): Behinderung als Thema in der Kin­ der- und Jugendliteratur. Hamburg: Kovač.



Literatur   549

Schell, F., Stolzenburg, E. & Theunert, H. (1999): Me­ dienkompetenz: Grundlagen und pädagogisches Handeln. München: kopaed verlagsgmbh. Schulz-Zander, R. (Hrsg.) (2005): Lernwege suchen. Computer + Unterricht 57. Schulz-Zander, R. (2006): Digitale Medien im All­ tag und Schulunterricht. In: Fritz, A., KlupschSahlmann, R. & Ricken, G. (Hrsg.): Handbuch Kindheit und Schule. Neue Kindheit, neues Lernen, neuer Unterricht (283–295). Weinheim: Beltz.

Stachowiak, F.-J., Geilfuß, J., Helgeson, H., Lobin, U., Schädler, G., Seggewies, G. & Willeke, A. (1990): Effekte der computerunterstützten Sprachtherapie. In: Tagungsbericht des 3. Symposiums „Computer helfen heilen“ (131–160), 2./3. 6. 1989, Gailingen. Sünderhauf, S., Rupp, E. & Tesak, J. (2007): Supervi­ dierte Teletherapie bei Aphasie: Erste Ergebnisse einer BMBF-Studie (11–18). dbl-Kongress Karlsru­ he 2007. Wöckel, S. (2002): Internet in der Grundschule. Leip­ zig: Ernst.

Beratung Claudia Iven & Bernd Hansen

1 Stellenwert von ­Beratungskompetenzen in der Sprach­therapie Beratungs- und Supervisionsgespräche, die mit Klientinnen, Personen des kommunika­ tiven Umfeldes, Schülerinnen, Kolleginnen, Lehramtsanwärterinnen, Teammitgliedern etc. stattfinden, sind ein zentrales Element des all­ täglichen sprachtherapeutischen und sprach­ heilpädagogischen Handelns. ­Professionelle Beratung ist ein unabdingbarer Bestandteil sprachtherapeutischer und sprachheilpädago­ gischer Prozesse und soll den Handlungsrah­ men aller Beteiligten thematisieren und erwei­ tern. Nicht erst seit der Veröffentlichung der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) durch die Weltge­ sundheitsorganisation (vgl. DIMDI 2005) ist es konsensfähig, dass im Bereich von Sprache und Kommunikation neben allgemeinen The­ rapiezielen wie der Beeinflussung von Schädi­ gungen oder Funktionseinschränkungen auch die größtmögliche kommunikative Sicherheit und Selbständigkeit, eine individuell stimmige soziale Teilhabe und die optimal erreichbare Lebensqualität angestrebt werden müssen. Die hierzu erforderliche therapieimmanente und -ergänzende, methodisch fundierte Beratung von Angehörigen und Klienten bildet dem­ nach einen Bestandteil des therapeutischen Qualitätsmanagements (→  Qualitätsentwick­ lung und Evaluationsforschung). Daneben trägt ein professioneller Supervisionsprozess als spezielle Beratungsform dazu bei, sich un­ ter Anleitung mit der eigenen Fachlichkeit auseinander zu setzen und den professionellen Handlungsspielraum zu erweitern (→ Päda­ gogische Professionalität).

2 Begriffsbestimmung ­„Beratung“ und „Supervision“ Beratung als therapieimmanentes und -ergän­ zendes Element ist eine „wissenschaftlich fun­ dierte Dienstleistung“ (Katz-Bernstein 2007, 48) und wird allgemein als ein professionell gestalteter Problemlösungsprozess verstan­ den, mit dem die Ressourcen und Bewälti­ gungsmöglichkeiten des Beratungspartners ausgelotet und seine Kompetenzen zur eigen­ aktiven Bewältigung unterstützt werden (vgl. Iven & Hansen 2006, 69). Supervision stellt eine besondere Form der Beratung dar, da sie sich eindeutig auf The­ men der Berufsausübung bezieht und zum Ziel hat, die Qualität des beruflichen Han­ delns zu sichern und zu optimieren. Hier geht es demnach um die Ressourcen- und Kom­ petenzerweiterung im beruflichen Kontext (→  Institutionen und ihr gesellschaftlicher Rahmenkontext). Im Sinne eines kleinsten gemeinsamen Nenners lässt sich festhalten, dass Supervision die angeleitete Reflexion der beruflichen Tätigkeit meint, die auf freiwilli­ ger Basis beruht und unter Einbeziehung per­ sönlicher Anteile mit dem Ziel einer Kompe­ tenzerweiterung stattfindet (vgl. Rottmann 1998, 13). Beratung und Supervision ist gemeinsam, dass sie sich auf die konkrete Lebens- und Arbeitswelt der ratsuchenden Person und ih­ rer Interaktionen beziehen und auf die Er­ mittlung, Stärkung und Erweiterung der vor­ handenen Ressourcen abzielen (vgl. Mutzeck 2002, 9). Methodisch bedienen sie sich dabei des Repertoires aus gesprächspsychothera­ peutischen, systemischen, personenzentrier­ ten, psychosozialen, kooperativen und lö­ sungsorientierten Beratungskonzepten.



Ziele und Themen der ­ressourcenorientierten Beratung   551

3 Grundlagen der ressourcen­ orientierten ­Beratung Beratung, die im Handlungsfeld von Sprach­ therapie und Sprachheilpädagogik stattfindet, beinhaltet folgende Elemente (vgl. Katz-Bern­ stein 2007, 49): • Bereitstellung von relevantem Wissen und Informationen durch die Fachkraft, • Akzeptanz der Klienten und ihrer Ange­ hörigen als Experten für ihre Alltagshand­ lungen und -bedingungen, • Autonomie und Selbstbestimmung des Klientensystems, • Ressourcenorientierung und Stärkung des Selbsthilfepotenzials. Ein wesentliches Bestimmungsstück der Res­ sourcenorientierung ist das so genannte „Ko­ härenzgefühl“, das aus folgenden drei Dimen­ sionen besteht (vgl. Antonovsky 1997, Iven & Hansen 2006, 69): • Verstehbarkeit: das Gefühl, dass die Ereig­ nisse des Lebens zu einem großen Teil er­ klärbar und verstehbar sind, • Handhabbarkeit: das Gefühl, dass man über alle notwendigen Fähigkeiten verfügt, um den individuellen Lebensanforderun­ gen gerecht zu werden und das eigene Le­ ben zu gestalten, • Bedeutsamkeit: das Gefühl, dass es sinnvoll ist, sich zu engagieren. Ziel und Anliegen der Beratung ist es dem­ nach, mit dem Klienten gemeinsam Wege zu finden, die alltagstaugliche, kohärente Hand­ lungsmöglichkeiten eröffnen. Damit lässt sich als Fazit zusammenfassen: Ressourcenorientierung heißt: • die Klientensicht und die Klientenkompe­ tenzen zu respektieren, • herauszufinden, was der Klient (schon) kann, • die Erweiterung vorhandener Lösungsstra­ tegien zu unterstützen, • dysfunktionalen Lösungsstrategien Alter­ nativen gegenüber zu stellen.

4 Ziele und Themen der ­ressourcenorientierten Beratung In der professionellen Beratung wirken ver­ schiedene Grundhaltungen und konzeptionel­ le Perspektiven zusammen, die im Folgenden erläutert werden.

4.1 Kontextberücksichtigung und Problemwürdigung Bei der Konstruktion von Lösungen und der Ermittlung von Ressourcen müssen die indi­ viduellen Kontextbedingungen berücksich­ tigt werden, das heißt, das private und/oder berufliche Netzwerk wird einbezogen, damit die entwickelten Lösungsoptionen im Alltag umsetzbar sind. Dieses Prinzip gilt auch für die grundlegende Akzeptanz der individu­ ellen Problemsicht: Hier geht es darum, dass die Lebensgeschichte der Beteiligten und auch die darin enthaltenen Fähigkeiten zur Prob­ lem- und Krisenbewältigung gewürdigt wer­ den. Die subjektive Problemsicht erlangt so Bedeutung für den Beratungsprozess, ohne dass das Problem festgeschrieben wird. Die Pro­blemwürdigung wird so zum ersten Be­ ratungsschritt: „Einer eher zur Inkompetenz neigenden und stärker hoffnungslosen Ge­ schichte Kompetenz und Hoffnung hinzufü­ gen“ (Hargens 2004, 45).

4.2  Ressourcenorientierung Darunter wird eine Grundhaltung verstan­ den, die von der Kompetenz der Klientinnen und Klienten zur Lösung der Probleme aus­ geht. In der Beratungssituation gilt es, diese Ressourcen, die von den Klienten oft kaum noch wahrgenommen werden, zu mobilisie­ ren: „Beim Schweizer Käse nicht auf die Lö­ cher, sondern auf den Käse rings um die Lö­ cher schauen. Von den Löchern werde ich nicht satt“ (Hennig & Ehinger 2003, 31). Das

552 

Beratung

Betrachten von Ausnahmen vom Problem und den dabei sichtbar werdenden Ressourcen der Beteiligten birgt in der Regel erste Hinweise auf Lösungen in sich. Aufgabe der professio­ nellen Beratung ist es, die Aufmerksamkeit auf diese bereits vorhandenen Kompetenzen/Res­ sourcen zu lenken und deren Wert für zukünf­ tiges Handeln hervorzuheben.

4.3  Lösungsfokussierung Lösungen ergeben sich oftmals aus ersten Ver­ suchen, etwas anders zu machen oder zu be­ trachten als bisher. Das Erkennen von Un­ terschieden, Ausnahmen oder Ergänzungen ermöglicht das Erkennen von Handlungsop­ tionen und veränderten Perspektiven: „Wenn du weißt, was funktioniert, mach’ mehr da­ von. Wenn etwas nicht funktioniert, dann hör’ auf damit; mach’ etwas ander(e)s“ (Eberling 1994, 8). Lösungsorientierung bezieht sich auf den Jetzt-Zustand und fokussiert von dort aus den gewünschten zukünftigen Zustand. Damit wird verhindert, dass zuviel Energie in die Ar­ beit am Problem gesteckt wird und sich so alle Beteiligten zunehmend im Problem verstri­ cken. Stattdessen bricht eine ressourcen- und lösungsorientierte Beratung in Richtung der Möglichkeiten auf: „Alternativen, die erkenn­ bar werden, stellen Möglichkeiten dar und vergrößern so die verfügbaren Optionen – und ein Anwachsen der Optionen ist zumeist mit Hoffnung verbunden. Es könnte nämlich so sein, dass mehr möglich sein könnte als es zunächst den Anschein hat“ (Hargens 2004, 24). In diesem Sinne stellt Hoffnung einen we­ sentlichen Aspekt ressourcenorientierter Be­ ratungsarbeit dar.

4.4  Selbstwirksamkeitsorientierung Eine Ressourcenaktivierung kann nur gelin­ gen, wenn diejenigen, die für sich neue Hand­ lungsoptionen entdecken, sich auch zutrauen, diese im Alltag umzusetzen. Aufgabe der Be­ ratung ist es also, die Gesprächspartner dazu

anzuregen, ihre Einfluss- und Handlungsmög­ lichkeiten zu erkennen und sie so zu ermuti­ gen, neue Schritte zu gehen. Hierzu gehört auch, die Stärkung der Eigenverantwortung zu fördern: Von einer externalen Kontrollan­ nahme (das heißt, die anderen sind schuld, die anderen oder die Bedingungen sollen sich ändern) zu einer internalen Kontrollannahme (das heißt, ich kann etwas verändern, ich habe Einfluss auf die Situation).

4.5  Haltung des (Nicht-)Wissens Dieser scheinbare Widerspruch bezieht sich darauf, dass im Beratungsprozess sowohl die Perspektive des Wissens als auch des NichtWissens eingenommen werden kann: Eine Haltung des Nicht-Wissens drückt aus, mit Neugier und Interesse auf die Gesprächspart­ ner und ihre bisherigen Lösungswege zuzu­ gehen und bedeutet die Abkehr von einer Haltung, die bereits über ein fertiges, breites Spektrum bester Wege („best practice“) ver­ fügt und diese den Eltern oder Angehörigen im Sinne einer Verschreibung auch nahe legt. Eine ressourcenorientierte Sichtweise be­ trachtet die Menschen, die Beratung in An­ spruch nehmen, als Kundinnen und Kunden, die nicht nur die Dienstleistung Sprachthe­ rapie nachfragen, sondern auch als „kundig“ für ihr Leben, ihren Alltag, ihren Organisa­ tionsrahmen etc. angesehen werden. Auf der anderen Seite stehen das Expertenwissen der Therapeutin und ihre Kundigkeit in Bezug auf Sprache, Sprachstörungen und deren Thera­ pie. Der Aspekt der Informationsvermittlung ist also auch als Teil des Beratungsprozesses zu verstehen.



Praxisperspektiven: ­Beratung und Supervision als ­Bestandteil von Unterricht und Therapie   553 

5 Praxisperspektiven: ­Beratung und Supervision als ­Bestandteil von Unterricht und Therapie

   

5.1  Beratungsstruktur Professionelle Beratung wird von der beraten­ den Person nach strukturellen Merkmalen ge­ staltet und erfolgt in bestimmten Schritten, die einen strukturierten und flexiblen, individuell angepassten Aufbau von Beratungsgesprächen erlauben (Abb. 1) (vgl. u. a. Iven 2000, 92 ff., Iven & Hansen 2006, 72 f., Katz-Bernstein 2007, 48 f., Mutzeck 2003, 123 ff.): • Die Klärung von Anlass, Anliegen und Auftrag muss zu Beginn der Beratung er­ folgen, um die Beratungsvoraussetzungen und -erwartungen von Therapeutinnen und Klientinnen zu formulieren. Diese sind nicht immer deckungsgleich: Klien­ tinnen erwarten u. U. klare Handlungsver­ schreibungen, Therapeutinnen erwarten u. U. sehr viel Selbstverantwortung, und diese jeweiligen Vorannahmen über die eigene und die Rolle des anderen im Bera­ tungsprozess muss zu Beginn transparent werden. • Die Problem- und Kontextbeschreibung er­ läutert den Gegenstand der Beratung: Um welches Thema geht es? Wer hat welches Problem? Wann tritt es (nicht) auf? Wie wird das Problem von den Beteiligten er­ lebt? • Die Formulierung von Veränderungswünschen und Beratungszielen ergibt sich oft­ mals aus der Problemschilderung und zielt auf die Benennung von erwünschtem Ver­ halten, angestrebten Veränderungen und problemfreien Ausnahmen. Die Hand­ lungsziele folgen dabei bestimmten Merk­ malen wie beispielsweise Alltagsnähe, Umsetzbarkeit oder Vorhandensein von erwünschtem Verhalten. • Im Rahmen der Ressourcenaktivierung regt die Beraterin durch gezielte Fragestel­

   



  

   

   

Abb. 1:  Beratungsstruktur

lungen zu einer Auseinandersetzung mit bereits gelungenen Lösungsversuchen und zur Konzentration auf eigenaktive Bewäl­ tigungsmöglichkeiten an. Es erfolgt eine Konkretisierung im Hinblick auf einen nächsten Schritt, der im Organisationsrah­ men der Klientinnen realisierbar ist. • Dieser Handlungsschritt, im Sinne eines Handlungsentwurfes, wird in der Bera­ tungssituation vorbereitet (Planung der Si­ tuation, eventuell Rollenspiel zur Situation, Überlegungen zu hilfreichen und stören­ den Bedingungen, Störungsentgegnungen) und von den Klientinnen in ihrem Alltag erprobt. • In einer nächsten Beratungsphase erfolgt eine Bilanzierung zu diesem Lösungsver­ such: Was ist gelungen? Was hat (noch) nicht funktioniert? Woran kann ange­ knüpft werden? Wo müssen neue Überle­ gungen angestellt werden?

554 

Beratung

5.2 Beratungspraxis in Sprachtherapie und Sprachheilpädagogik Ein besonderes Merkmal von Beratung in Therapie (→ Aufgabenfeld Sprachtherapie) oder Supervision in schulischen Kontexten (→ Sprachförderung im Aufgabenfeld Unter­ richt) ist die Tatsache, dass hier die Beratung (Elterngespräch, Angehörigenarbeit, kollegia­ le Beratung im Team etc.) oft von der Thera­ peutin oder Lehrerin selbst angestoßen wird und nicht, wie in anderen Beratungskontexten üblich, von der „Kundin“ initiiert wird. Damit gehen mitunter Rollenunklarheiten einher, weil die Therapeutin oder Pädagogin oft den Rat und die Informationen der Kundinnen be­ nötigt, um z. B. Diagnose- und Therapiepro­ zesse optimal zu gestalten und fortzuführen. Diese Rollendivergenzen machen deutlich, dass die Therapeutin nicht als „objektive“, ex­ terne Beraterin fungiert, sondern Teil des Pro­ zesses ist und mit ihrer Fachlichkeit einen Teil der Lösung und Teil der Ressourcen darstellt. Letztendlich verhilft nur professionelle Trans­ parenz dazu, die manchmal sehr unterschied­ lichen Erwartungen, Ziele und Wünsche an die Beratung zu klären. Beratungsgespräche, z. B. auch im Netz­ werk von Therapeutin, Patient, Angehörigen, Erzieherin, Lehrerin etc. (vgl. Hansen/Iven 2010), benötigen eine zeitliche, räumliche und methodische Vorbereitung, mit der vertrau­ ensfördernde Kommunikationsbedingungen geschaffen werden. Diese Vorbereitung be­ inhaltet Vereinbarungen über den Rahmen und die Struktur der Beratung ebenso wie über Zielsetzungen, Erwartungen und me­ thodische Vorgehensweisen. Um diese Kompetenzen im Handlungs­ feld von Sprachtherapie und Sprachheilpä­ dagogik zielgerichtet und methodisch sicher einsetzen zu können, ist es erforderlich, sich mit den eigenen personalen und fachlichen Fähigkeiten auseinander zu setzen. Bei allen Fähigkeiten zur Selbstreflexion gelingt dies in der Regel nur über einen professionell ange­ leiteten Prozess der Supervision, bei dem die oben aufgeführten Beratungsaktivitäten aus

der Supervisandenrolle heraus erfahren und im eigenen Berufsfeld erprobt und reflektiert werden können.

6 Zum Stellenwert von ­Beratung und Supervision für die Qualitätssicherung Beratungs- und Supervisionsprozesse sind ein Bestandteil des professionellen Handelns in therapeutischen und pädagogischen Kon­ texten und sie tragen maßgeblich zum Erfolg dieses Handelns bei, vor allem, weil die Bera­ tungsbeziehung die Bewertung des Therapie­ erfolgs durch die Klienten entscheidend prägt. Die Qualität der Gesprächsgestaltung durch die Therapeutin ist dabei ein Hauptkriteri­ um, wie erste Forschungsergebnisse zur Er­ mittlung von Klientenbedürfnissen belegen: „Die Bewertung der Therapie erfolgt maß­ geblich aufgrund der Kommunikations- und Beziehungsqualität zu den Therapeuten. […] Ob die Patienten der Praxis die Treue halten und diese weiterempfehlen, wird maßgeblich von der zwischenmenschlichen Atmosphäre bestimmt“ (Dehn-Hindenberg 2007, 26). Die Anwendung sprachtherapeutischer Methoden kann in diesem Sinne nie vom Gesamtkontext der therapeutischen Beziehung abgetrennt werden, die auch durch die Bedeutungszu­ schreibung der Kundinnen und Kunden be­ stimmt wird. Beratung ist also Teil des therapeutischen Qualitätsmanagements: Beratung trägt zum Beziehungsaufbau bei und stellt die thera­ peutischen Bemühungen in einen angemes­ senen Rahmen von Informationsaustausch, Pro­blembewältigung und Ressourcenakti­ vierung. Beratung gelingt dann, wenn die positiven Grundhaltungen gegenüber der Lebenswirklichkeit der Kundinnen Gestalt annehmen, wenn ihr Zeit und Raum gegeben wird und wenn sie professionell gestaltet ist.



Literatur   555

Literatur Antonovsky, A. (1997): Salutogenese. Zur Entmystifi­ zierung der Gesundheit. Tübingen: DGVT. Dehn-Hindenberg, A. (2007): Patientenbedürfnisse in der Logopädie: Die Qualität der Kommunika­ tion bestimmt die Therapiebewertung. Forum Lo­ gopädie 21, 4, 26–33. Dehn-Hindenburg, A. (2008): Patientenbedürfnisse in der Physiotherapie, Ergotherapie und Logopä­ die. Idstein: Schulz-Kirchner. DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Doku­ mentation und Information) (2005): Internationa­ le Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinde­ rung und Gesundheit. Genf: WHO. Eberling, W. (1994): Vorwort zu Walter, J. L. & Pel­ ler, J. E.: Lösungs-orientierte Kurztherapie (7–8). Dortmund: modernes lernen. Hansen, B. & Iven, C. (2010): Netzwerkarbeit in der Therapie mit stotternden Kindern. In: Front­ zek, G. (Hrsg.): Zur Sprache bringen – Diszipli­ nen im Dialog (123–128). Hamm: Verlag Gebr. Wilke.

Hargens, J. (2004): Aller Anfang ist ein Anfang. Göt­ tingen: Vandenhoek & Ruprecht. Hennig, C. & Ehinger, W. (22003): Das Elterngespräch in der Schule. Von der Konfrontation zur Koopera­ tion. Donauwörth: Auer. Iven, C. (2000): Beratung in der Sprachtherapie: Ge­ meinsam an Lösungen arbeiten. L.O.G.O.S. inter­ disziplinär 8, 84–97. Iven, C. & Hansen, B. (2006): Beratung und Supervi­ sion: Emotionale und kognitive Unterstützung für Therapie und Unterricht. In: Bahr, R. & Iven, C. (Hrsg.): Sprache – Emotion – Bewusstheit (68–76). Idstein: Schulz-Kirchner. Katz-Bernstein, N. (2007): Beratung. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lexikon der Sprachtherapie (48–50). Stuttgart: Kohlhammer. Mutzeck, W. (42002): Kooperative Beratung. Wein­ heim: Beltz. Mutzeck, W. (2003): Kooperative Beratung. Die Sprachheilarbeit 48, 123–129. Rottmann, C. (21998): Pädagogische Supervision. Schwerpunkt: Schule und Unterricht. Kiel: Chris­ tian-Albrechts-Universität.

Unterstützte Kommunikation Gregor Dupuis

1 Begriffe, Geschichte und ­Organisationsstrukturen „Unterstützte Kommunikation“ (UK) ent­ spricht der internationalen Bezeichnung „Aug­ mentative and Alternative Communication“ (AAC) und bezieht sich auf die klinischen Arbeitszusammenhänge, die Erziehungspra­ xis und die Forschung in Bereichen der Ent­ wicklungsförderung und der Rehabilitation für Menschen, die nicht oder nur sehr einge­ schränkt über eine aktive Verwendung der na­ türlichen Lautsprache („Mundsprache“) ver­fügen (→ FS körperliche und motorische Ent­ wicklung). Sie ist nicht zu verwechseln mit der „Gestützten Kommunikation“ bzw. der „facili­ tated communication“ (FC), bei der ein Stüt­ zer die Bewegung eines Behinderten direkt be­ einflusst. Die beiden Adjektive „augmentative“ und „alternative“ veranschaulichen die beiden sich ergänzenden methodischen Prinzipien: „augmentative“ weist auf die Ausnutzung und Optimierung noch vorhandener stimmlicher und artikulatorischer Funktionen hin, „alter­ native“ steht für den kompensatorischen Ersatz der fehlenden Funktionen und Fähigkeiten durch andere Modalitäten der Kommunikati­ on und der Sprache. Beiden Prinzipien können inzwischen zahlreiche Konzepte und Systeme zugeordnet werden. Das methodische und me­ diale Spektrum reicht dabei von körpernahen Kommunikationsformen bis zu komplexen medialen und technischen Anwendungen. In den Vereinigten Staaten ist die Berufs­ organisation der Sprachtherapeuten, die Ame­ rican-Speech-Language-Hearing A­ssociation (ASHA), an der Entwicklung durchgängig und maßgeblich beteiligt (vgl. u. a. ASHA 2005, 2008). In Deutschland (BRD) hat Paul Goldschmidt nach mehreren Publikationen in den Niederlanden (z. B. 1953) im Jahre 1970

eine deutschsprachige Publikation zur logo­ pädischen Arbeit mit Kindern mit einer früh­ kindlichen Hirnschädigung veröffentlicht, die als ein historischer Ausgangspunkt betrach­ tet werden kann. Weitere Impulse gehen auf Lehrer, Sprachtherapeuten und SelbsthilfeOrganisationen, z. B. den Bundesverband für spastisch Gelähmte und andere Köperbehinderte (heute: Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte e. V.) und Hochschulleh­ rer wie z. B. Ursula Haupt (1970) zurück, die zunächst vorwiegend in schulischen Einrich­ tungen für Körperbehinderte methodische Grundlagen und mediale Anwendungen für die Anbahnung sprachlicher Fähigkeiten er­ arbeiteten, beispielsweise unter Verwendung von Bildersammlungen, Symboltafeln und von Bliss-Symbolen sowie erster technischer Lösungen. Nach der Gründung der International Society for Augmentative and Alternative Communication (ISAAC) im Jahre 1983 wur­ de in Deutschland 1990 eine deutsche Sekti­ on von ISAAC ins Leben gerufen, die von 1991 bis 1995 die „ISAAC’s Zeitung“ und seit 1996 die Zeitschrift „Unterstützte Kommunika­ tion“ publiziert. Heute kann ISAAC auf insge­ samt etwa 3500 Mitglieder in 53 Ländern ver­ weisen; mehr als 1000 Mitglieder gehören zur deutschen Sektion, einschließlich Österreich und der Schweiz. Im Unterschied zu anderen Ländern bilden hier Logopäden und Akade­ mische Sprachtherapeuten noch eine relativ kleine Gruppe.

2  Adressatengruppen Bezüglich der Adressatengruppen der Unter­ stützten Kommunikation beziehen sich jün­ gere Quellen aus den USA (vgl. ASHA 2005,



Adressatengruppen   557

2008) auf Studien, in denen von einem Bevöl­ kerungsanteil zwischen 0,8 und 1,2 % kommu­ nikativ und sprachlich schwer beeinträchtigter Menschen ausgegangen wird. Eine erste gro­ be Einteilung unterscheidet pragmatisch zwi­ schen Personen mit lang anhaltenden kom­ munikativen Beeinträchtigungen, die zum Beispiel auf Grund einer Dysarthrie (neurolo­ gisch bedingte Sprechbewegungsstörung), ei­ ner Aphasie (Sprachverlust, z. B. nach einem Schlaganfall) oder einer Apraxie (Störung der Fähigkeit, Handlungen und motorische

Sprechabläufe zu gestalten) bestehen (→ Neu­ rologische Sprach- und Sprechstörungen), und Personen, bei denen die Beeinträchtigun­ gen zeitlich begrenzt sind, u. a. nach einer Tra­ cheostomie (Luftröhrenschnitt) oder einer In­ tubation, z. B. zur künstlichen Beatmung nach einem schweren Unfall (→ Schluckstörun­ gen). Erwähnt wird dabei, dass ethnische, so­ ziokulturelle und altersbedingte Faktoren die Situation dieser auf die Unterstützte Kommu­ nikation angewiesenen Menschen beeinflus­ sen können.

Abb. 1: Personenkreis der „Nicht-Sprechenden“; modifiziert nach einer Zeichnung von Kientop, Weid-Gold­ schmidt und Dupuis (1999)

558 

Unterstützte Kommunikation

Eine andere naheliegende Unterscheidung dif­ ferenziert den Personenkreis der „Nicht-Spre­ chenden“ (vgl. Abb. 1) zunächst in Kinder mit schweren und mehrfachen Behinderungen, deren Spracherwerb nicht mit der Entwicklung lautsprachlicher Fähigkeiten (spoken language) verknüpft werden kann („Frühgeschädigte“) und älteren Personen, die sprechen konnten und im Laufe ihres Lebens eine schwerwie­ gende Beeinträchtigung des Sprechens, der Sprache und der Kommunikation erleiden („Spätgeschädigte“). In den deutschsprachi­ gen Quellen wird hinsichtlich der Schwere der motorischen Beeinträchtigungen einerseits auf Kinder mit einer infantilen Zerebralpare­ se (ICP) (→ FS körperliche und motorische Entwicklung), andererseits auf Kinder und Er­ wachsene mit einer tiefgreifenden Entwick­ lungsstörung (im Sinne der Ziffer F 84 der ICD 10; vgl. DIMDI 1994), auf Autismus als weit­ reichendes Ausbleiben kommunikativer und sprachlicher Entwicklung und auf Formen ­einer so genannten „geistigen Behinderung“ hingewiesen (vgl. Wilken 2006) (→ FS geistige Entwicklung). Erwachsene mit altersbedingten Krankheiten (u. a. M. Parkinson, AlzheimerSyndrom, Altersdemenz; →  Schluckstörun­ gen) oder mit schweren psychischen Störungen werden bisher seltener erwähnt. Die Anführungszeichen bei der Bezeich­ nung „Nicht-Sprechende“ sollen verdeutli­ chen, dass ein Sprachverständnis und sprach­ liche Äußerungen in anderen sprachlichen Modalitäten auch ohne eine natürliche eigene Sprechfähigkeit ausgebildet werden können. Gegenüber der Realität der betroffenen Per­ sonen und ihrer sozialen Umgebung enthält eine solche idealtypische Einteilung der Ad­ ressatengruppen immer noch erhebliche Ver­ einfachungen. Dies bedeutet auch, dass bereits die Beschreibung der kommunikativen Vo­ raussetzungen und Möglichkeiten hohe An­ forderungen an die beteiligten Fachpersonen stellt. Allgemein verständliche Dokumente, die eine entsprechende Intensität, aber auch eine beeindruckende menschliche Haltung verdeutlichen, sind das Buch von Jean-Domi­ nique Bauby (1997) „Le scaphandre et le pa­

pillon“ und der gleichnamige Film von Julian Schnabel (2008). Vorgeführt wird das Ergeb­ nis einer mehrmonatigen Arbeit der Lekto­ rin Claude Mendibil mit dem früheren Chef­ redakteur Bauby der Frauenzeitschrift „Elle“, der sich nach einem Schlaganfall mit Lockedin-Syndrom nur noch mit einem Augenblin­ zeln äußern konnte. Die Biographie entstand durch die Vorgabe sprachlicher Elemente, die von Bauby mit dem Lidschlag eines Auges ver­ worfen oder bestätigt wurden (Scanning). Auch in der Gruppe der Frühgeschädig­ ten gibt es inzwischen faszinierende Biogra­ phien, die verdeutlichen, welches Potenzial an Fähigkeiten in Menschen mit schweren und schwersten Behinderungen stecken und bei günstigen Voraussetzungen zum Tragen kommen kann. Dazu gehören beispielsweise die Bücher und Zeitschriftenartikel von Kath­ rin Lemler (42005) zusammen mit einem Kin­ derbuchautor. Der Einwand, es handle sich in solchen Fällen um Ausnahmeerscheinungen, ist aus der Perspektive von Fachleuten und El­ tern verständlich, die mit weniger günstigen Faktoren auskommen müssen. Andererseits könnte eine Auswertung der Biogra­phien wertvolle Hinweise für die Gestaltung der Förder- und Interventionsangebote bieten. Darüber hinaus ist in den Erfahrungen und Lösungswegen von schwer behinderten Men­ schen auch in fachlichen Arbeitszusammen­ hängen eine wichtige Quelle zu sehen. Dem entspricht, dass Verwender der Unterstützten Kommunikation, z. B. bei den Tagungen der deutschen Sektion von ISAAC, als Co-Thera­ peuten mitarbeiten.

3 Konventionen, ­professionelle Voraussetzungen und ­theoretische Grundlagen Die jüngere Entwicklung der Unterstützten Kommunikation ist mit gesellschaftlichen, technologischen und wissenschaftlichen Ver­ änderungen verknüpft. Schon die Pioniere



Konventionen, ­professionelle Voraussetzungen und ­theoretische Grundlagen   559

und Vorläufer der ISAAC haben mehr oder minder dezidiert das Recht aller Menschen auf Bildung (→ Bildung und Erziehung) und  – bei Behinderten – das Recht auf einen Nach­ teilsausgleich (→ Institutionen) vorausgesetzt. Im Gegensatz zu einer in bildungspolitischen Diskussionen zum Teil als Sachwahrerin des Leistungsgedankens auftretenden „Regelpäda­ gogik“ wurde klar herausgestellt, dass pädago­ gische Professionalität weniger darin besteht, Adressatengruppen nach ihrer Leistungsfähig­ keit zu bewerten und gegebenenfalls zu sepa­ rieren, sondern mehr darin, bei den einzelnen Personen in jedem einzelnen Falle diejenigen methodischen und didaktischen Wege anzu­ bahnen, die dazu beitragen, die individuellen Fähigkeiten zu erkennen, zu nutzen und aus­ zubauen (vgl. Kientop, Weid-Goldschmidt & Dupuis 1999) (→ Professionalisierung). Dies kommt in manchen Fällen einer Umkehrung der Verhältnisse gleich: Nicht die Adressa­ ten müssen Bedingungen erfüllen, vielmehr müssen die Anbieter von Erziehung, Förde­ rung, Unterricht und Therapie im Sinne einer Qualitätssicherung nachweisen, dass sie ge­ eignete (Dienst-)Leistungen und Lehrerfolge vorweisen können (→ Qualitätsentwicklung und Evaluation). Dabei handelt es sich nicht um eine isolierte Sonderentwicklung ethischer Prinzipien idealistischer Pädagogen und an­ derer Fachleute, sondern um die nach dem Zweiten Weltkrieg in den westlichen Ländern einsetzende Besinnung auf normative Wert­ vorstellungen und Konventionen, die in die Zeit der Aufkärung zurückreicht und sich z. B. in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung fortsetzt (→ Behinderung und Vulnerabilität). Inzwischen enthalten die für die Beschreibung von Krankheiten und Behinderungen maß­ geblichen internationalen Kataloge und Kon­ ventionen, insbesondere die inzwischen in das Sozialgesetzbuch aufgenommene ICD 10 (International Classification of Diseases and Related Health Problems, German Modification; vgl. DIMDI 1994, SGB IV) und die ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health; vgl. DIMDI 2005) normati­ ve Vorgaben wie das (Bürger-)Recht auf eine

selbstbestimmte Teilhabe an der Gesellschaft: die Partizipation. Auch bei Menschen mit einer schweren Be­ hinderung gibt es prinzipiell keine aus einer Beschreibung ihrer Eigenschaften und Fä­ higkeiten ableitbaren Einschränkungen oder Mindestvoraussetzungen. Dieser Anspruch verlangt, dass der Versuch unternommen wird, ihre Willensäußerungen zu verstehen, und dass sie Antworten sowie im Rahmen des Möglichen eine angemessene Unterstützung bei der Ausführung ihrer Absichten und der Erfüllung ihrer Wünsche erhalten. Kommuni­ kativen und sprachlichen Fähigkeiten kommt in diesem Zusammenhang eine Schlüssel­ funktion zu. Die „Unterstützer“ lernen, die kommunikativen Intentionen von Menschen außerhalb des uns so vertrauten Mediums der Lautsprache wahrzunehmen und zu interpre­ tieren. Die zu Grunde liegenden Wertvorstel­ lungen und Absichten als eine Qualität des gesellschaftlichen Zusammenlebens bewusst zu machen und zu vermitteln, entspricht da­ bei nicht einer Sonderaufgabe,  sondern dem allgemeinen Bildungsauftrag. Wenn Konventionen, wie die der ICF, von den Mitgliedsländern der Vereinten Natio­nen weltweit angenommen werden, kann dies nicht von vornherein bedeuten, dass sie durchgän­ gig, konsequent und in vergleichbarer Quali­ tät verwirklicht werden können. Dabei wäre es verfehlt, die unterschiedlichen Lebenschan­ cen von Menschen mit Behinderungen in ih­ rem sozialen Umfeld lediglich als eine Folge der unterschiedlich entwickelten ökonomi­ schen, ökologischen und gesellschaftlichen Bedingungen zu betrachten. Auch wenn vie­ les dafür spricht, in der Verwirklichung sol­ cher normativer Vorgaben Indikatoren und Prüfsteine für die „Lebensqualität“ zu sehen, gehört die Diskus­sion der Lebenssituationen von Menschen mit Behinderungen – als Ge­ genstand philosophischer Durchdringung menschlichen Daseins – zu den anspruchs­ vollsten Aufgaben, die mit ­einem rückwärts gerichteten – „antiquarischen“ im Sinne von Nietzsche (1999, 267 [i. O. 1870]) – Verständ­ nis von Wissenschaftlichkeit kaum zu leisten

560 

Unterstützte Kommunikation

ist. Wie eine entschlossene zukunftsgerichtete Auseinandersetzung mit übergreifenden the­ oretischen Konstrukten aussehen kann, spie­ gelt in diesem Band der Beitrag → Behinde­ rung und Vulnerabilität von Julia Kristeva & Charles Gardou wider. Einstellungen sind eine wichtige Basis, er­ setzen aber nicht die professionellen Fähig­ keiten der beteiligten Berufsgruppen. Für Menschen mit schweren Behinderungen kann inzwischen ein breites Spektrum professions­ spezifischer Fähigkeiten sowie disziplinärer und interdisziplinärer wissenschaftlicher Be­ züge genutzt werden: • Diagnostische Fähigkeiten und wissen­ schaft­liche Grundlagen Notwendig sind diagnostische Fähigkeiten und entsprechende medizinische, entwick­ lungspsychologische, sprachwissenschaftli­ che usw. Grundlagen. Unterstützt Kommu­ nizierende können oft ein differenziertes Verständnis für lautsprachliche Strukturen (Prosodie, Lautbildung, Grammatik- und Semantikverwendung, Erzählstrukturen) und damit den Zugang zur Lautsprache und zu deren Derivaten erwerben. Dabei sind sie auf Partner angewiesen, die bereit und in der Lage sind, Antworten und Absichten zu akzeptieren, die in anderer Form ausge­ drückt werden. Wie bei allen Ausdrucksfor­ men beginnen sprachliche Erwerbsprozes­ se mit einer Verknüpfung kommunikativer Intentionen mit elementaren expressiven Handlungen und führen dann zunehmend zum Erwerb und zur Verwendung konven­ tioneller sprachlicher Modalitäten und In­ ventare. Die Einbeziehung ungewöhnlicher expressiver Äußerungen setzt die Verwen­ dung eines differenzierten Sprachbegriffes voraus (→ Person und Sprache), der weit über die übliche Annahme einer laut- und einer schriftsprachlichen Modalität hin­ ausgeht (vgl. Dupuis 1999). • Mediendidaktische Fähigkeiten und informationstheoretische Grundkenntnisse Mediendidaktische Fähigkeiten und infor­ mationstheoretische ­Grundkenntnisse sind

eine Voraussetzung für die Nutzung der „Neuen Medien“ (→ Medien). Bereits bei der Auswahl, vor allem aber beim Einsatz der seit den 1990er Jahren in zunehmend besserer Qualität entwickelten elektroni­ schen Kommunikationshilfen  („Talker“) mit synthetischer oder ohne syntheti­ sche Sprachausgabe, mit Kodierungs- und Speichermöglichkeiten tragen neben den didaktischen insbesondere informati­ onstheoretische so­w ie sprach- und kommu­ nikationswissenschaftliche  Grundkennt­ nisse und Bezüge (z. B. eine Kategorisierung der Symbol-Verwendung auf der Basis der allgemeinen Zeichenlehre, → Zeichen und Semiose) dazu bei, geeignete Kategorien und Kriterien zu entwickeln und anzu­ wenden. Bei den in großer Vielfalt entstan­ denen Sammlungen nicht elektronischer und  elektronischer Kommunikationshil­ fen (vgl. u. a. Franzkowiak 1987, Spieker­ mann 1996) sollte die Verwendung tech­ nischer und elektronischer Medien nicht als eine abgehobene kommunikative Mo­ dalität, sondern als Teil eines Kontinuums vermittelt werden, aus dem situationsange­ messen und gemeinsam mit den Nutzern sowohl elementare und körpernahe, als auch elektronische und informationstech­ nologische Anwendungen (z. B. auch Soft­ ware) ausgewählt werden können.

4 Spezifische Interventions- und Förderangebote Sowohl die gezielte medizinisch indizier­ te Sprachtherapie (vgl. u. a. Jensen 2000, Giel 2006, Otto & Wimmer 2005) als auch eine möglichst früh beginnende und anhalten­ de, mit den ­alltäglichen Abläufen verzahn­ te Sprachförderung gehören zu den zentralen, aufeinander zu beziehenden rehabilitativen Komponenten (→ Sprachtherapie, → Sprach­ didaktiktheorie). Die Schaffung eines indivi­ duellen, möglichst konsistenten AAC- bzw.



Sprachförderung und Sprachtherapie   561

UK-Systems, das die vorhandenen und die vermittelten Symbolsammlungen und -sys­ teme, spezielle Hilfsmittel und Kommuni­ kationsmodalitäten enthält, ist dabei für bei­ de Bereiche eine übergreifende Aufgabe: „An augmentative and alternative communication (AAC) system is an integrated group of com­ ponents, including the symbols, aids, strate­ gies, and techniques used by individuals with severe speech and ­language disabilities to en­ hance communication. The system serves to supplement any gestural, spoken, and/or writ­ ten communication abilities“ (ASHA 2008, 1). Gebärdensprachen (in Deutschland die „Deutsche Gebärdensprache“, DGS), die Ver­ wendung lautsprachbegleitender Gebärden (LBG) und deren Abwandlungen wie die Gebärdenunterstützte Kommunikation (GUK, vgl. Wilken 2006), Symbolsprachen wie  die Bliss-Symbolsprache (Bliss 1965), unterschied­ lich komplexe, mehr oder minder systema­ tisch angelegte Symbolsammlungen wie das Picture Exchange Communication System (PECS, Bondy & Frost 1994) und Konzepte wie die Intensive Interaction (Nind & Hewett 2 1994) sind heute weltweit verbreitet (→ Zei­ chen und Semiose, → Gebärden und Sehen, → FS körperliche und motorische Entwick­ lung). In benachbarten Arbeitsgebieten, bei­ spielsweise in der Behandlung von Menschen mit einer Aphasie, entstanden ähnliche Ver­ fahren wie die Verwendung von PACE-Karten (Edelmann 1987) oder die Modalitäten-Akti­ vierung (MODAK, Lutz 1997). Hinzu kom­ men zahlreiche Materialien, wie sie in diffe­ renzierten Verzeichnissen von Praktikern wie Arvid Spiekermann (1996) im Internet auf­ geführt werden. Für den Einsatz von Rech­ nern entstanden für die Arbeit mit Aphasi­ kern Programme wie z. B. das von Stachowiak entwickelte LingWare (1987, jüngste Version 2005). Zur Erstellung von Kommunikations­ tafeln mit den Symbolen des Picture Communication System (PCS, Johnson 1980) wurden Programme wie der Boardmaker (MayerJohnson, 6. Version 2006) entwickelt. Ein spe­ zielles Medium für die Verwendung von Talkern sind sogenannte Kodierungsstrategien für

die Speicherung und das Abrufen von Mittei­ lungen wie z. B. das vom derzeitigen Markt­ führer entwickelte MinSpeak. Angehörige, (Förder-)Pädagogen und Sprachtherapeuten erarbeiten in Fortbildungs- und Schulungs­ veranstaltungen (z. B. der deutschen Sektion der ISAAC) gleichermaßen die notwendigen Kategorien und Kriterien für den Einsatz von Konzepten, Geräten und Materialien.

5 Sprachförderung und Sprachtherapie Unter der Voraussetzung, dass sie nicht vonein­ ander abgeschottet, sondern aufeinander ab­ gestimmt angeboten werden, können sich die tagtäglich notwendige Sprachförderung durch Bezugspersonen und Pädagogen im Sinne der Unterstützten Kommunikation und die me­ dizinisch indizierte Sprachtherapie wirkungs­ voll ergänzen. Die zum Teil geübte Praxis, dass Logopädinnen und Sprachtherapeutin­ nen nur dann herangezogen werden, wenn es um stimmliche und lautsprachliche Restfunk­ tionen geht und der Sprachaufbau allein den Eltern und Pädagogen des Elementarbereichs und des Primarbereichs zugeordnet wird, ent­ spricht allerdings einer stark vereinfachenden und verzerrenden Sicht der Logopädie. Abge­ sehen davon, dass es bei Menschen mit einer neurologischen Erkrankung kaum eine gleich­ wertige Alternative zu einer hochwertigen Sprachtherapie gibt, die neurolinguistische und patholinguistische Aspekte einschließt, wird auch bei den sprachtherapeutischen Interven­ tionsangeboten im Frühbereich (z. B. bei Late Talkern; → Sprachentwicklung und Sprachab­ bau, → Prävention, → Frühdiagnostik) von ei­ nem differenzierten Sprachbegriff (vgl. Dupuis 1999) ausgegangen. Wie wohl es Übergänge zwischen den sprachtherapeutischen Interventionsangebo­ ten und der tagtäglichen Sprachförderung gibt und geben sollte, macht es aus Sicht ei­ ner zeitgemäßen Sprachtherapie keinen Sinn,

562 

Unterstützte Kommunikation

die beiden Handlungskategorien miteinander zu vermengen. Umso wichtiger ist eine Koordination dieser Bereiche. Diese Aufgabe wird zum Teil von UK-Beratungsstellen und -Netz­ werken übernommen, ohne dass dies bisher in den Strukturen des Gesundheits- und des Bildungswesens implementiert werden konn­ te (→ Institutionen). Die Anwendung der In­ dikationskataloge und Heilmittelrichtlini­ en für die Verschreibung von Sprachtherapie durch Fachärzte und die „Erbringung“ des „Heilmittels“ Sprachtherapie für UK-Nutzer setzt einen höheren Aufwand voraus. Eine gut gemeinte, aber unzureichend begründe­ te Verschreibungspraxis würde einer Verbes­ serung der Versorgung von UK-Verwendern mit Sprachtherapie unter Umständen eher schaden als nützen. Zurzeit ist davon auszugehen, dass sich das Verhältnis zwischen Logopädie und Unterstützter Kommunikation in den deutschsprachigen Ländern noch in gemeinsamen Fortbildungs­ veranstaltungen, Forschungsprojekten sowie in gesundheits- und bildungspolitischen Initi­ ativen entwickeln und bewähren muss.

Literatur ASHA (American Speech-Language-Hearing Associ­ ation) (2005): Roles and responsibilities of speechlanguage pathologists with respect to augmen­ tative and alternative communication: Position statement. Rockville (MD). ASHA (American Speech-Language-Hearing Associ­ ation) (2008): Communication facts: Special popu­ lations: Augmentative and Alternative Communi­ cation. Research report. Rockville (MD). Baker, B. (1980): MinSpeak®. Kassel: Prentke Romich Deutschland GmbH. Bauby, J.-D. (1997): Le scaphandre et le papillon. Pa­ ris: Editions Robert Laffont. – Dt. (1997): Schmet­ terling und Taucherglocke, in der Übersetzung von U. Aumüller. München: dtv. – (2008): Verfilmung unter dem gleichen Titel durch J. Schnabel. Bliss, C. K. (1965): Semantography (Blissymbolics). Sydney: Semantography (Blissymbolics) Publica­ tions. Boardmaker® (62006): Solana Beach (CA): MayerJohnson Co.

Bondy, A. & Frost, L. (1994): The picture exchange communication system (PECS). Focus on Autistic Behaviour 9, 3, 1–19. DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Doku­ mentation und Information) (1994): Internationa­ le statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Neu-Isen­ burg: MMI. DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Doku­ mentation und Information) (2005): Internationa­ le Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Be­hinde­rung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheits­ organisation (WHO). Neu-Isenburg: MMI. Dupuis, G. (1999): Sprache und Sprechen. In: Bor­ chert, J. (Hrsg.): Handbuch der Sonderpädago­ gischen Psychologie (676–692). Göttingen: Hog­ refe. Dupuis, G. (2005): Unterstützte Kommunikation und Sprachtherapie. In: Boenisch, J. & Otto, K. (Hrsg.): Leben im Dialog. Unterstützte Kommunikation über die gesamte Lebensspanne (24–39). Karlsru­ he: von Loeper. Edelmann, G. (1987): P.A.C.E. Promoting Aphasics’ Communicative Effectiveness. Oxon: Winslow. Franzkowiak, T. (1987): Technische Hilfen für nicht­ sprechende Körperbehinderte, Heft A/B. Heidel­ berg: Julius Groos. Giel, B. (2006): Computereinsatz und Unterstützte Kommunikation bei Aphasie und Sprechapraxie. Sprache – Stimme – Gehör 30, 93–94. Goldschmidt, P. (1953): De behandling van de spasti­ sche Paralyse volgens Bobath. Tijdschrift v. Logo­ pedie en Foniatrie, febr., maart, april. Goldschmidt, P. (31981 [i. O. 1970]): Logopädische Untersuchung und Behandlung bei frühkindlich Hirngeschädigten. Berlin: Marhold. Haupt, U. (1970): Schwerbehinderte Kinder mit ce­ rebralen Bewegungsstörungen und Sprechstörun­ gen – Ein Beitrag zur Diskussion um die Möglich­ keit ihrer heilpädagogischen Förderung unter dem Aspekt der Sprachheilbehandlung. Düsseldorf: Bundesverband für spastisch gelähmte und andere Körperbehinderte. ISAAC-Deutschland, Gesellschaft für Unterstützte Kommunikation e. V. (2008): Unterstützte Kommu­ nikation – ISAAC’s Zeitung. Karlsruhe: von Loeper. Jensen, M. (2000): Augmentative and alternative communication in logopedics. Folia Phoniatrica et logopaedica 52, 1–3, 126–135. Kientop, K., Weid-Goldschmidt, B. & Dupuis, G. (31999): Augmentative and Alternative Commu­ nication (AAC) als eine Aufgabe der Sprachthera­ pie. In: ISAAC, Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte, e. V. (Hrsg.): Unterstützte



Literatur   563

Kommunikation mit nichtsprechenden Menschen (118–131). Karlsruhe: von Loeper. Lemler, K. & Gemmel, St. (42005 [i. O. 1997]): Kath­ rin spricht mit den Augen. Neureichenau: edition zweihorn (übersetzt in das Englische, Spanische und Portugiesische). Lutz, L. (1997): MODAK. Modalitätenaktivierung in der Aphasietherapie – Ein Therapieprogramm. Berlin: Springer. Nietzsche, F. (1999 [i. O. 1870]): Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Unzeitge­ mäße Betrachtungen II. In: Colli, G. & Montinari, M. (Hrsg.): Friedrich Nietzsche. Sämtliche Wer­ ke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. KSA 1. Berlin: de Gruyter. Nind, M. & Hewett, D. (21994): Access to communica­ tion: Developing the basics of communication with

people with severe learning difficulties through Intensive Interaction. London: David Fulton. Otto, K. & Wimmer, B. (2005): Unterstützte Kommu­ nikation. Idstein: Schulz-Kirchner. Sozialgesetzbuch (SGB) IX (62008): Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. München: Beck. Spiekermann, A. (1996): Warum funktionieren Kom­ munikationshilfen nicht? Wirtschaftlichkeit und Wirklichkeit bei Technischen Hilfsmitteln für Sprachbehinderte. In: Ergotherapie und Rehabili­ tation 66, 551. Stachowiak, F.-J. (2005 [1992]): LingWare®. Bonn: Phönix-Software. Wilken, E. (2006): Unterstützte Kommunikation. Eine Einführung in Theorie und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer.

Institutionen Gerhard Homburg

1 Institutionen – ein ­gesellschaftliches Phänomen Institutionen, ein wesentliches Merkmal der Bürgergesellschaft, sind in einem bestimm­ ten Bereich etablierte überindividuelle Ein­ richtungen, die mittels der Handlungen ihrer Agenten dem Wohl oder Nutzen des Einzel­ nen oder der Gesamtheit dienen (sollen). Bei der näheren Bestimmung ist eine Hierarchie von allgemeinen und spezifischen Merkmalen zu beachten. Im Folgenden wird ein mehrdimensionales Institutionenmodell (vgl. Abb. 1) aus vier all­ gemeinen Ebenen (vgl. 2), drei je komplemen­ tär angelegten Variablen (vgl. 3) sowie diese ergänzenden Gütekriterien (vgl. 4) vorgestellt, um angesichts der Vielzahl sprachheilpäda­ gogischer und sprachtherapeutischer Institu­

tionen diese in den Domänen Pädagogik, Soziales und Gesundheit/Medizin vergleichbar zu machen.

2  Ebenen Zivilisation: sittliche Ebene

Ein Blick in die täglichen Weltnachrichten zeigt die Vielfalt der kulturellen und sittlichreligiösen Wertegemeinschaften, deren Bin­ dung nach innen, ihre Gliederung, das Ver­ hältnis von Staat und Religion, von Staat und Individuum, den unterschiedlichen Umgang mit Bürgerrechten, mit Frauen und Kindern, aber auch ihre Abgrenzung nach außen oder ihren Konfliktstil. Der Blick auf „unsere“ ei­ gene, mitteleuropäische Zivilisation offenbart

Abb. 1:  Das mehrdimen­ sio­nale Modell sprachheil­ pädagogischer/sprachthe­ rapeutischer Institutionen im gesellschaftlichen Kontext



Ebenen   565

im Vergleich mit anderen, wie kulturabhän­ gig unsere vermeintlich selbstverständlichen Standards und normativen Vorgaben im hier interessierenden Umgang mit so genannten „Behinderten“ sind. Er zeigt im historischen Rückblick aber auch, dass die Betreuung be­ hinderter Personen wohl zunächst immer Familienaufgabe war, dann in die Obhut der Kirchen überging und erst spät als eine Auf­ gabe des Staates verstanden wurde (vgl. Be­ cker & Braun 2000, Engelbrecht 1999, Herbst 1999), wobei alle genannten Ebenen noch heu­ te wirksam sind (→ Behinderung und Vulne­ rabilität). Spielregeln: soziale Ebene

Im Verlauf der Geschichte hat unsere eige­ ne Kulturgemeinschaft für verschiedene Le­ bensbereiche eine Reihe von Spielregeln ent­ wickelt, die hier nur benannt, aber wegen des begrenzten Rahmens nicht weiter sozialge­ schichtlich hergeleitet werden können: zum Beispiel Le­gitimation von Macht und Gewalt, Sozialpflichtigkeit des Eigentums, Generatio­ nen- und Geschlechterverhältnis, Gemein­ wohlorientierung von Gruppen, Subsidiarität von (staatlichen) Hilfen für Bedürftige sowie einen Verhaltenskodex für Partikularinter­ essen, deren Argumente stets im Zwang zum öffentlichen Diskurs stehen. In dieser Debat­ ten- und Entscheidungskultur können auch Gruppen mit geringerer ökonomischer Macht Einfluss ausüben, wenn sie ihre Forderungen aus Standards der sittlichen Zivilisation herlei­ ten und ihre Partner darauf verpflichten kön­ nen (vgl. Grohnfeldt 2007a). Transaktionskosten: ökonomisch-rechtliche Ebene

Die Existenz von Institutionen gründet sich besonders auf diese Ebene. In der Bürgerge­ sellschaft muss die Förderung der nachwach­ senden Generation, die Gesundheitspflege und unter anderem auch die Betreuung be­ hinderter Personen schon deswegen formali­ siert werden, weil sie Kosten verursacht und

Rechtsprobleme zum Beispiel über Zustän­ digkeit, Finanzierung usw. aufwirft. Parteien, Interessenverbände, Berufsgruppen und auf Sozialrecht spezialisierte Juristen haben das Ziel, im Sinne ihrer Klienten Einfluss auf die Transaktionskosten und die rechtlichen Vor­ gaben zu gewinnen – dieses auch in Konkur­ renz oder in Koalition mit anderen Interessen­ gruppen. „Sprachbehinderungen“ im Sinne sozial­ rechtlicher Terminologie können Menschen über die gesamte Lebensspanne von der Ge­ burt bis ins hohe Alter treffen (→ Person und Sprache). Sie können sich in unterschiedlichen Sozialisationsinstanzen wie Familie, Partner­ schaft, Freizeit, Kindergarten, Schule oder Beruf auswirken (Braun et al. 1980). Deswe­ gen müssen die dem Abbau von Sprachbehin­ derungen dienenden Institutionen bei ihrer gesellschaftlichen Arbeit ganz unterschied­ lich konstituiert sein und den Hebel an ganz verschiedenen Stellen des Transaktions- und Rechtssystems ansetzen. Während das Bil­ dungs- und Sozialsystem überwiegend aus öffentlichen Haushalten, das heißt aus Steu­ ern finanziert wird, über die Parlamente und Haushaltsausschüsse entscheiden, stützt sich die Finanzierung der Gesundheits- und Al­ tersvorsorge überwiegend auf Beiträge der Sozialpartner sowie staatliche Transferleis­ tungen mit jeweils spezifischen Verteilungs­ systemen. Erfolg für sich und sein Klientel hat, wer als Einzelner oder als Verband auf dieser Klaviatur gut spielen und sie zum Vor­ teil nutzen kann. Akteure/Budget/Ausstattung: sächliche Ebene

Die (wirkliche) sächliche Arbeit von Instituti­ onen ist an materielle Voraussetzungen gebun­ den: an Personal, Räume, Budget, Ausstattung, an einen verlässlichen organisatorischen Rah­ men. Erfolg bzw. Misserfolg auf den drei vor­ angehenden Ebenen manifestiert sich an die­ ser Stelle.

Abb. 2: Konkretisierung sprachheilpädagogischer/sprachtherapeutischer Institutionen im historischen Kontext

566  Institutionen



Variablen   567

3  Variablen Während die Ebenen das Phänomen Institu­ tion auf eine mehr allgemeine Weise beschrei­ ben, soll nun die Wirkung der mitwirkenden Variablen (vgl. Abb. 1) eher an sprachheilpä­ dagogischen/sprachtherapeutischen Instituti­ onen illustriert werden. Ihre reale wie histo­ rische Konkretisierung (vgl. Abb. 2) ist vorab überblicksartig dargestellt  – teilweise unter Nennung ihrer Tätigkeit bzw. Aufgaben (vgl. Wiechmann 1960, Zuckrigl 21982, Becker & Braun 2000, Borbonus & Maihack 2000, Scheuermann 71987) sowie der rechtlichen Grundlagen (Gerrlich 2000). Kontinuität – Wandel

Etablierte Institutionen können nur solan­ ge auf ein Beharrungsmoment setzen und sich im gegebenen Rahmen regenerieren, so­ lange das normative gesellschaftliche Umfeld der sittlichen und sozialen Ebene stabil bleibt (→ Norm und Differenz). Andernfalls müssen sie sich wandeln oder sie werden gewandelt. Hier ist in den ersten Jahren des neuen Jahr­ hunderts in allen bedeutsamen Handlungsfel­ dern eine erhebliche Dynamik zu beobachten: • Die Schulpolitik will in der Umsetzung der KMK-Beschlüsse von 1994 und 1998 die Förderung behinderter Schülerinnen und Schüler mehr zur Aufgabe der allgemeinen Schule machen und die fachliche Ausdif­ ferenzierung des klassischen Sonderschul­ wesens der 1970er bis 1990er Jahre zurück­ fahren (KMK 1994, 1998). Deshalb steht die so genannte ehemalige „Sprachheil­ schule“ in ihrer Abhängigkeit vom föde­ ralen und je nach Regierungskoalition di­ vergierenden Bildungssystem unter einem hohen Anpassungsdruck. In einigen Bun­ desländern wird (z. B. Brandenburg) oder ist sie (z. B. Bremen 2001) aufgelöst oder auf wenige Standorte begrenzt. In anderen (z. B. in Hessen und Baden-Württemberg) übernimmt sie – gewandelt zu einem so ge­

nannten „Förder-“ bzw. „Kompetenzzent­ rum“ – neue Förder- und Beratungsaufga­ ben (vgl. Grohnfeldt et al. 1993, Grohnfeldt 2007b). • Angesichts der flächendeckenden Institu­ tionalisierung der Sprachstandserfassung von Vorschulkindern sind alle sprachheil­ pädagogischen und sprachtherapeutischen/ logopädischen Akteure bemüht, Einfluss zu gewinnen. Ihre Motivmischung um­ fasst dabei gleichermaßen die Sicherung von Fachlichkeit, Zuständigkeit und Um­ satz. • Der vom defizitären Gesundheits- und Sozialsystem ausgehende Handlungsdruck wird das daraus finanzierte sprachheilpä­ dagogisch-sprachtherapeutische Angebot eher mindern. Eher aktivierend wirkt die erweiternde Perspektive der WHO-Krite­ rien (ICD-10, ICF; vgl. DIMDI 2005), die den Betroffenen als aktiven Teilnehmer und Gestalter seiner Lebenssituation in einer teils förderlichen, teils hinderlichen Umwelt sieht. Die daraus folgende Abkehr von einer nur kurativen Medizin und die Hinwendung zu einer Sozial- und Kommu­ nikationsmedizin wird einer pädagogisch konzipierten Sprachtherapie eine größere Resonanz und bei guter Außenvertretung mehr Einfluss auf das System der Trans­ aktionskosten eröffnen (→ Qualitätsent­ wicklung und Evaluationsforschung). Wie die Bilanz dieser gegenwirkenden Kräfte ausgehen wird, ist derzeit offen. Verschie­ bungen aber sind gewiss (Dupuis 2007). Organisiertheit – Intensität

Die Variable „Organisiertheit – Intensität“ spannt sich vom Pol „totale Institution“ ohne Privatheit und Intimität, wie z. B. im Gefäng­ nis, Heim oder Kloster, über ein Regime von natürlicher Autorität und fachlicher, funktio­ naler beziehungsweise über Verträge geregel­ ter Disziplin bis hin zum Pol des Laissez-faire, der Deinstitutionalisierung und der unver­ bindlichen Privatheit:

568 

Institutionen

• Sprachheilheim, Stotter-Intensiv-Kurs und Stimmkur liegen nahe am Pol der totalen Institution: aufgesucht auf Zeit, gerechtfer­ tigt durch die Aufgabe einer nachhaltigen, teils evidenz-gestützten Umsteuerung des bisherigen störungsindizierenden Verhal­ tens zu Gunsten von erwartungsgerechten Kommunikations- und Sprachhandlungs­ mustern. Problembehaftet sind solche to­ talen Institutionen, wenn von den Betroffe­ nen ihr förderlich gemeinter Habitus oder der ihrer Vertreter eher als Zwang denn als Unterstützung auf einem neuen Weg erlebt wird. • Fachliche sprachheilpädagogische und sprachtherapeutische Autorität erzielt ihre Wirkung ohne Bruch, wenn und weil Ar­ gumente, gewählte Methode, Vorbringen und gelebte Expertise überzeugen. Dieses ist eher der Fall bei klugem Wechsel von entschiedenem und intensivem sprach­ therapeutischen und/oder spracherziehe­ rischen Impuls einerseits und andererseits Offenheit für Eigenaktivität von Patienten, Rehabilitanden, Schülerinnen und Schü­ lern sowie Kindergartenkindern als Aus­ druck ihrer Lebenswirklichkeit. • Am Pol der privaten und öffentlichen Un­ verbindlichkeit ergeben sich die Probleme, weil Verantwortung nicht wahrgenommen wird. Dieses ist der Fall: – wenn Eltern zu Lasten ihrer sprachlich beeinträchtigten Kinder ihre Eigenzeit eigennützig ausdehnen und sie nicht zu Fachleuten begleiten, – wenn z. B. Schulverwalter und Schulpoli­ tiker den Bedarf eines Kindes an sprach­ therapeutischem Unterricht und spezifi­ scher sprachheilpädagogischer För­derung zuständigkeits- und haushaltsentlastend umdeuten und daraus einen medizini­ schen, allgemeinpädagogischen oder pri­ vaten Gegenstand machen. Private und öffentliche Unverbindlichkeit führen zu nachhaltiger Frustration bei den sprachheilpädagogisch-sprachtherapeu­ tischen Fachleuten, weil ihre rehabilitati­ ve Kompetenz keinen Ankerpunkt findet.

Wenn „Sprachbehinderung“ kein öffentli­ cher Gegenstand mehr ist, geht die Inter­ essenvertretung sprachbehinderter Men­ schen ins Leere. Freier – geregelter Zugang

Diese Variable betrifft Klienten, Patienten und Schüler als Dienstleistungsnehmer und Päda­ gogen und Therapeuten als Dienstleistungsge­ ber gleichermaßen. Können Dienstleistungsnehmer eine Leis­ tung kaufen, dann bestimmt ihre Kaufkraft Umfang und Qualität von Dienstleistungen. Im Falle von Sprachförderung und Sprach­ therapie entscheidet das Kalkül aus Preis, Leidensdruck, Besserungsversprechen und Nachhaltigkeit den Umfang der privaten In­ vestition in Befinden und Entwicklung. In der Regel ist das Verhältnis von Dienst­ leistungsnehmer und ­Dienstleistungsgeber ­jedoch asymmetrisch (→ Aufgabenfeld Sprach­therapie), Teil einer öffentlichen (sprach­t he­ rapeutischen) Institution und daher zwangs­ läufig begrenzt und an Bedingungen gebun­ den. Die Klientinnen und Klienten erhalten als Kassen- oder Privatpatienten, Kindergar­ tenkinder, Schülerinnen und Schüler oder Rehabilitanden nur kraft eines geregelten Verfahrens eine sprachheilpädagogische und sprachtherapeutische Dienstleistung und da­ mit Zugriff auf die Transaktionskosten – am extremen Pol einer Zwangseinweisung dann sogar gegen ihren Willen: • Die Aufnahme in eine Schule mit dem Förderschwerpunkt Sprache folgt auf An­ trag der Erziehungsberechtigen oder der Stamm- bzw. Grundschule, jedoch als Ver­ waltungsakt stets unter Mitwirkung des Schulamtes. • Über den Hilfebedarf bei einer Lese-Recht­ schreib-Schwäche (→ Störungen der Lese­ fähigkeit bei Kindern mit ADHD), zum Beispiel über eine zeitlich begrenzte LRSTherapie, entscheidet die Sozialbehörde gemäß Sozialgesetzbuch (SBGB). • Die Behandlung einer Sprachstörung auf der Grundlage einer kassenfinanzierten



Variablen   569

Verordnung setzt einen ärztlich festgestell­ ten Befund mit Krankheitswert voraus. Bei anderen Befunden, wie zum Beispiel bei Sprachstörungen im Alter, Sprachpro­ blemen bei Kindern mit Migrationshin­ tergrund oder Lese-Rechtschreib-Schwie­ rigkeiten in der Schulzeit, ist dies dagegen verwehrt. • Bei erschöpften oder unzureichenden Wir­ kungsmöglichkeiten der vorgelagerten of­ fenen Institutionen wie → Beratung, Am­ bulanz, Praxis, Klasse, Schule ist eine (in Ausnahmefällen Zwangs-)Einweisung in ein Heim oder eine Klinik möglich. In allen Fällen besteht bei der Verweigerung einer Leistung, im letzten Falle bei ihrer Auf­ nötigung, die Möglichkeit, sich mit Rechtsmit­ teln dafür, respektive dagegen einzusetzen. Aber auch für die Dienstleistungsgeber gel­ ten feste, teilweise in Dokumenten des Qua­ litätsmanagements im Detail formulierte Zu­ gangsregeln (→ Qualitätsentwicklung und Evaluationsforschung). Sonderschullehrerin­ nen und -lehrer können nur nach bestandener Prüfung aus einer Anstellung heraus solche Dienstleistungen erbringen. Akademische Sprachtherapeuten und Logopäden müssen gemäß der in den Gemeinsamen Empfehlun­ gen der Spitzenverbände der Krankenkassen festgelegten Kriterien eine spezifische Qua­ lifikation nachweisen, ehe sie eine Anstel­ lung oder nach einer Zulassung durch Kran­ kenkassen ihr Honorar von diesen erhalten (Gerrlich 2000, Arbeitsgemeinschaft der Spit­ zenverbände der gesetzlichen Krankenkas­

sen 2005). So werden sie, gestützt durch das System der Transaktionskosten, zu einem Teil der Institution (Giel 2007). Gütekriterien

Aus all diesen Ebenen und Variablen lei­ ten sich letztlich Gütekriterien und normative Ansprüche an sprachtherapeutische und sprachheilpädagogische Institutionen ab (vgl. Abb.  1). Ihr Ansatz muss subsidiär zu den Aktivitäten von Eltern, Angehörigen, Regel­ schullehrern sein. Er soll fachlich begründet sein gemäß dem Stand der Wissenschaft. Zie­ le, Inhalte und Methoden werden abgeleitet aus dem spezifischen Förder- und Therapie­ bedarf, an der Lebensrealität und vorherseh­ baren Anforderungen orientiert. Sie werden altersangemessen gewichtet und vorgetragen. Eine zwangfreie Vermittlung mit positivem Ertrag für alle Beteiligten wird wahrschein­ lich, wenn auf Eigendynamik und Selbstregu­ lation des Gegenüber gesetzt wird. Wenn ein derartiges Vorgehen wegen der anhaltenden Schwere einer (Sprach-)Behinderung oder gar bei progressiven Erkrankungen und da­ mit weiter bestehender bzw. sich verschlim­ mernder (Sprach-)Behinderung nicht möglich ist, zielt das Vorgehen auf die Kompensation dieses bleibenden Problems und eine neue Ba­ lance der Identität unter Einschluss reduzier­ ter Handlungsmöglichkeiten. Idealerweise soll die Förderung am Ort der sozialen Bewährung erfolgen und als zugehende und aufsuchende Hilfe geleistet werden.

Abb. 3:  Die non-personale Seite sprachheilpädago­ gischer/sprachtherapeuti­ scher Institutionen

570 

Institutionen

Abb. 4:  Die personale Seite sprachheilpädagogischer/sprachtherapeutischer Institutionen

Solche komplexen Ansprüche an sprachheil­ pädagogische und sprachtherapeutische Insti­ tutionen sowie an die in ihnen Tätigen finden ihren Niederschlag zunächst in der Fachlite­ ratur, dann aber auch in Leitlinien von Fach­ gesellschaften, der DIN EN ISO 9000 sowie Vorgaben des Qualitätsmanagements (→ Qua­ litätsentwicklung und Evaluationsforschung). Sie bestimmen so die fachliche Identität ihrer Akteure und auf eine übergreifende und ko­ ordinierende Weise auch die Arbeit räumlich verteilt arbeitender sprachheilpädagogisch/ sprachtherapeutischer Institutionen.

5  Und die Menschen? Sprachheilpädagogische/sprachtherapeuti­ sche Institutionen haben eine Adresse, heute auch eine Internet-Adresse, wirken in einem Gebäude, sind abgesichert durch einen Haus­ haltstitel oder Abrechnungspositionen, haben eine möglicherweise mehrere Generationen übergreifende Geschichte: die non-personale Seite von Institutionen (vgl. Abb. 3). Ihre wirkliche Arbeit erfolgt in der Begeg­ nung von Mitarbeitern einerseits und Patien­ ten, Rehabilitanden, Schülern, Kindergarten­

kindern und deren Eltern andererseits: die personale Seite (vgl. Abb. 4). Dienstleistungsnehmer sind im Verhältnis zur Institution davon geleitet, dass ihre Er­ wartungen und Forderungen an die Instituti­ on durch deren Vertreter auf hohem qualitati­ ven Niveau, der professionellen Ethik folgend und in einer in der Regel zeitlich befristeten Lebensphase eingelöst werden. Hier geht es um Belange wie Gesundheit, persönliche Ent­ wicklung, Schulerfolg, berufliche Orientie­ rung. Für die Dienstleistungsgeber ist die sprach­ heilpädagogisch-sprachtherapeutische Insti­ tu­tion der sie wirtschaftlich absichernde Arbeitsplatz, der Ort der beruflichen Selbst­ verwirklichung. Gesteuert durch die fachli­ che Identität sind im Berufsalltag Fragen von grundlegender Orientierung (→ Pädagogi­ sche Professionalität) bis hin zur Mikrome­ thodik im Sekundenrahmen zu entscheiden. Hier bringt gelungene Arbeit einen positiven emotionalen Eintrag, hier führen misslunge­ ne Phasen zu produktiven Umorganisationen im kleineren (Methodik) und größeren Rah­ men (Organisationsentwicklung). Sofern die Verfügungsmacht der Beteiligten nicht ent­ sprechend weit reicht, kann hier eine Quel­ le nachhaltiger Frustration liegen. Bei ent­ sprechendem Einfluss wird die Institution



Ausbalancierte Entscheidungen   571

so durch ihre Mitarbeiter optimiert und zu­ kunftssicher gemacht.

6  Grenzphänomene Wer durch den Fokus Institutionen auf den Fach­ komplex Sprachbehindertenpädagogik/Akade­ mische Sprachtherapie/Logopädie schaut, schärft seinen Blick für diesbezügliche Zusammenhän­ ge. Anderes, entfernter assoziiertes Wissen ge­ rät dabei zwangsläufig an den Wahrnehmungs­ rand. Dieses soll abschließend noch pointiert angesprochen werden. Vermeintliches „Verdampfen“ von spezifischen Institutionen in der integrierten Förderung?

Eine Idealvorstellung der Behindertenpädago­ gik sieht jeden behinderten Menschen am Ort seiner Lebensbewährung individuell und spe­ zifisch gefördert durch einen Spezialisten, der seine Aktivität kooperativ in den generellen Förderplan seiner Kolleginnen und Kollegen einpasst. Wenn dieser Behindertenpädago­ ge dann auch noch dem Ideal der Planer ent­ spricht und – als sonderpädagogischer „Zehn­ kämpfer“ – zuständig und kompetent für alle auftauchenden Probleme ist, bedarf es keiner besonderen Institution mehr. Wer diese mit ihren teils unerwünschten Nebenwirkungen abschafft (Deinstitutionalisierung), betreibt mittelbar Integration. Wer jedoch deinstitutio­ nalisiert, bevor seine Idealannahmen flächen­ deckende Wirklichkeit geworden sind, richtet mit großer Sicherheit einen „Flurschaden“ an, der später nur schwer wieder behoben werden kann. Kommerzielle Institution mit „Renditeerwartung“?

Noch ist Sprachtherapie nach herrschender Wertung und gemäß sozial- und gesundheits­ rechtlichen Vorgaben gemeinnützig angelegt. Doch wenn dieses Feld aus dem öffentlichen Gesundheits- und Sozialsystem gelöst, kom­

merzialisiert wird und „Renditeerwartungen“ erfüllen muss, kann das System zum Nach­ teil der sprachbehinderten Menschen kip­ pen. Damit würde so manche sprachheilpäda­ gogische/sprachtherapeutische/logopädische In­stitution ihre heute unbestrittene ethische Basis einbüßen (→ Behinderung und Vulne­ rabilität). Sprachtherapie als „technische Leistung“?

Wie weit ist der Tag, an dem Computer mit künstlicher Intelligenz der vierten Genera­ tion ihre Fähigkeit zur Spracherkennung auf das phonologische System, die Grammatik, den Wortschatz anwenden, in Entwicklungs­ skalen Aufgaben der nächsten Stufe abgreifen, das gemäß Gütekriterien einprogrammierte sprachförderliche Verhalten über ihre Sprach­ ausgabe zeigen und je nach Antwort Verstär­ ker aus einem zuvor evaluierten und gemäß Kontrakt verbindlich gemachten Programm mit Depot-Verwaltung freigeben? Wenn das Ganze der Sprachtherapie netzgestützt abläuft (→ Medien), bedarf es nur noch eines „Pass­ wortes“ und das Verlassen der Wohnung wäre entbehrlich. Wenn sich durch psycholinguis­ tische Forschung gewisse „Trigger-Module“ als Schlüssel für den weiteren Spracherwerb erweisen sollten, wäre dieser Tag nicht mehr allzu fern – vorausgesetzt, es finden sich Pro­ grammierer, Geldgeber und Netzbetreiber, die hier einen humanen oder wirtschaftlichen Profit erwarten. Dies wäre auch das Ende so mancher sprachheilpädagogischer/sprachthe­ rapeutischer Institution.

7 Ausbalancierte Entscheidungen Die praktische Arbeit in den hier beschriebe­ nen Institutionen ist ein komplexes Gesche­ hen, bei dem fortwährend interdependente Entscheidungen mit Bezug auf die Institution, auf die Patienten, Schüler, Kinder und Eltern sowie auf die eigene Profession und Person zu

572 

Institutionen

treffen sind (→ Pädagogische Professionali­ tät). Dabei sind unter der obersten Zielsetzung einer situations-, phasen-, personen-, institu­ tionen- und ressourcengerechten Arbeit Ab­ wägungen unter zum Teil widersprüchlichen oder in polarer Spannung zueinander stehen­ den Ansprüchen zu treffen (→ Beratung). Ab­ schließend sollen drei Bereiche näher erläu­ tert werden, die hier zwar getrennt dargestellt werden, in Wirklichkeit jedoch engstens zu­ sammenhängen. Dieses wird besonders dort deutlich, wo bei Leitungsaufgaben oder in der Selbstständigkeit Verantwortung für eine Ins­ titution getragen wird. Institutionelle Balance: Innensteuerung – Außensteuerung

Die hier bedachten Institutionen und die in ihnen Tätigen sind durch eine fortwährend vorzunehmende Balance von Innen- und Au­ ßensteuerung bestimmt. Institutionen in der Bürgergesellschaft wachsen oder schmelzen je nach Gegebenheit wie Kristalle um den von ihnen angezielten gesellschaftlichen Nutzen – hier um Sprachtherapie, sprachtherapeuti­ schen Unterricht, sprachtherapeutische Erzie­ hung und Sprachförderung (→ Aufgabenfeld Sprachtherapie, → Sprachförderung im Auf­ gabenfeld Unterricht). Wie zuvor dargestellt, sind sprachheilpädagogische/sprachtherapeu­ tische Institutionen in die Eigengesetzlich­ keit der Domänen Sozialwesen, Pädagogik und Medizin eingepasst. Sie unterliegen der Dynamik rechtlicher, finanzieller und fachli­ cher Bedingungen. Letztere können sie selber durch eine publikums- und politikwirksame Darlegung ihrer qualitätsgesicherten Arbeit – der Binnensteuerung – und ihres gesellschaft­ lichen Nutzens mitgestalten. Sie können und dürfen aufklären, mit ihrer Leistung werben und sogar die Außensteuerung beeinflussen, indem sie Entscheidungsträger auf die sittli­ chen Grundlagen des Gemeinwohls unter Ein­ beziehung der Bedürfnisse sprachbehinderter Menschen verpflichten. Dabei besteht jedoch besonders in den Domänen Sozialwesen und Pädagogik die latente Gefahr einer Glaubwür­

digkeitskrise, wenn dieses von außen als eine „moralische Inszenierung“ zur Sicherung des eigenen Arbeitsplatzes gelesen wird, wogegen auf dem Gesundheitsmarkt das Bemühen um Existenzsicherung der Anbieter eher nicht als verwerflich gilt. Professionelle Balance: Fördern – Fordern

Die Arbeit im Fachkomplex Sprachbehinder­ tenpädagogik/Akademische Sprachtherapie/ Logopädie ist nicht linear gesteuert, sondern Ergebnis komplexer Überlegungen und balan­ cierender Abwägungen. In der Umsetzung der Gütekriterien können mögliche Balanceach­ sen der beruflichen Tätigkeit im Bereich von Sprachtherapie, sprachtherapeutischem Un­ terricht und sprachtherapeutischer Erziehung u. a. die folgenden polaren Wertepaare sein: spezifische – allgemeine Förderung, Ressour­ cenorientierung – Defizitorientierung, Nähe – Distanz, Fördern – Fordern, Strenge – Nach­ sicht und andere Entscheidungsfelder mehr. Angesichts neuerer Ansätze der Entschei­ dungsforschung zum Medical Decision Making und Health-related Decision Making (vgl. Jungermann et al. 2005) sollte dieser Aspekt beruflichen Handelns auch in dem Fach­ komplex Sprachbehindertenpädagogik/Aka­ demische Sprachtherapie/Logopädie stärker als bisher gewichtet und erforscht werden (→ Unterrichts- und Therapieforschung). Personelle Balance: „Ich – Arbeit“ oder „Arbeit – Ich“?

Die Tätigkeit in einer sprachtherapeuti­ schen/sprachheilpädagogischen Institution ist eine komplexe Aufgabe. Vor allem wegen der Endlichkeit der Ressourcen der Institu­ tion sowie der Dienstleistungsnehmer und Dienstleistungsgeber sind verschiedene, sich situations- und entwicklungsbedingt fort­ während ändernde Gewichte in einem dy­ namischen Gleichgewicht zu halten. An der Spitze der Wertepyramide steht – existenzsi­ chernd für die Institution und ihre Beschäf­ tigten bzw. Vertreter – das Wohl der ihr an­



Literatur   573

vertrauten Menschen. Dieses gilt allerdings nicht unbegrenzt, sondern jeweils im gebote­ nen zeitlichen Rahmen und nicht umstandslos, sondern gegengewichtet durch die domä­ nenspezifische Prägung der Institution (vgl. Abb.  2) und durch die berechtigten Eigenin­ teressen der hier Tätigen, beispielsweise auf Vorsorge vor Verzehr (Burn-Out), auf eigene und familiäre Gesundheit sowie allgemeine Berufszufriedenheit. In dem hier vertretenen Balancemodell (vgl. Homburg & Lüdtke 2003) (→ Sprachförderung im Aufgabenfeld Unter­ richt) stellt sich die obige Frage nicht alterna­ tiv, sondern je nach Ressourcenpegel und Situ­ ationslogik liegt das Gewicht mal ganz auf der Arbeit, mal ganz auf dem Ich.

8 Institutionen: ­Entscheidungsdynamik statt Bürokratie Mit dem Begriff „Institution“ verbindet sich auf den ersten Blick etwas Beharrendes: ein bürokratisches und unpersönliches Ge­ bilde. Dem gegenüber wurde hier für den Fachkomplex Sprachbehindertenpädagogik/ Akademische Sprachtherapie/Logopädie ein mehr­dimensionales und dynamisches Institutionenmodell der Bürgergesellschaft entwickelt, das die Achsen beschreibt, innerhalb derer sich sprachtherapeutische/sprachheilpädago­ gische Institutionen steuern und das zugleich andeutet, wie komplex die auszubalancieren­ den Entscheidungssituationen für die in ihnen Tätigen sind.

Literatur Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der gesetz­ lichen Krankenkassen. Federführend: IKK Bun­ desverband (2005): Gemeinsame Empfehlungen der Spitzenverbände der Krankenkassen, gem. § 124, 4, SGB V: Zur einheitlichen Anwendung der Zulassungsbedingungen nach § 124, 2, SGB V für Leistungserbringern von Heilmitteln, die

als Dienstleistung an Versicherte abgegeben wer­ den, in der Fassung vom 17. 02. 05. Bergisch Glad­ bach. Becker, K.-P. & Braun, O. (2000): Geschichte der Sprachheilpädagogik in Deutschland 1945–2000. Rimpar: von freisleben. Borbonus, T. & Maihack, V. (2000): Sprachtherapeu­ tische Aufgabenbereiche, Handlungsfelder und Organisationsformen. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logo­ pädie. Bd. 1: Selbstverständnis und theoretische Grundlagen (236–250). Stuttgart: Kohlhammer. Braun, O., Homburg, G. & Teumer, J. (1980): Grund­ lagen pädagogischen Handelns bei Sprachbehin­ derten. Die Sprachheilarbeit 25, 1, 1–17. DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Doku­ mentation und Information) (2005): Internationa­ le Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesund­ heitsorganisation (WHO). Neu-Isenburg: MMI. Dupuis, G. (2007): Rehabilitation. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lexikon der Sprachtherapie (266–268). Stuttgart: Kohlhammer. Engelbrecht, A. (1999): Familien im Hilfenetz. Bedin­ gungen und Folgen der Nutzung von Hilfen für be­ hinderte Kinder. Weinheim: Beltz. Gerrlich, V. (2000): Rechtsgrundlagen in der Sprach­ therapie. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Bd. 1: Selbst­ verständnis und theoretische Grundlagen (309– 320). Stuttgart: Kohlhammer. Giel, B. (2007): Qualitätsmanagement in der Sprach­ therapie. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lexikon der Sprachtherapie (262–263). Stuttgart: Kohlhammer. Grohnfeldt, M. (2007a): Geschichte der Sprachheil­ pädagogik. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lexikon der Sprachtherapie (126–132). Stuttgart: Kohlhammer. Grohnfeldt, M. (2007b): Institutionen der Sprachheil­ pädagogik im schulischen Bereich. In: Schöler, H. & Welling, A. (Hrsg.): Handbuch der Sonderpä­da­ gogik. Bd. 1: Sonderpädagogik der Sprache (520– 530). Göttingen: Hogrefe. Grohnfeldt, M., Homburg, G. & Teumer, J. (1993): Überlegungen zur sprachheilpädagogischen Ar­ beit in einem flexiblen System von Grund- und Sonderschule. Die Sprachheilarbeit 38, 4, 166–184. Herbst, H. R. (1999): Behinderte Menschen in Kirche und Gesellschaft. Stuttgart: Kohlhammer. Homburg, G. & Lüdtke, U. (2003): Zur Komplexität sprachtherapeutischen Handelns. Sprachheilpäd­ agogische Therapietheorie: Die Kunst der Balance in einem dreidimensionalen theoretischen Raum. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprach­ heilpädagogik und Logopädie, Bd. 4 (114–133). Stuttgart: Kohlhammer.

574 

Institutionen

Jungermann, H., Pfister, H.-R. & Fischer, K. (2005): Die Psychologie der Entscheidung. Heidelberg: Spektrum. KMK (Kultusministerkonferenz) (1994): Empfeh­ lungen zur Sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutsch­ land. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 5. 06. 1994. Bonn. KMK (Kultusministerkonferenz) (1998): Empfehlun­ gen zum Förderschwerpunkt Sprache. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 26. 06. 1998. Bonn.

Scheuermann, W. (71987): Einrichtungen für Sprach­ behinderte in der Bundesrepublik und BerlinWest. Hamburg: Wartenberg. Wiechmann, J. (1960): Statistische Angaben über Einrichtungen des Sprachheilwesens in der Bun­ desrepublik Deutschland. Hamburg: Wartenberg. Zuckrigl, A. (21982): Organisationsformen des Sprach­ heilwesens. In: Knura, G. & Neumann, B. (Hrsg.): Handbuch der Sonderpädagogik. Bd. 7: Pädago­ gik  der Sprachbehinderten (95–121). Berlin: Mar­ hold.

 VI  Unterricht, Therapie und Förderung

Interkulturalität und Mehrsprachigkeit Annette Kracht

1 Interkulturalität und ­Mehrsprachigkeit: Eine ­pädagogische Präzisierung Interkulturalität und Mehrsprachigkeit stellen zwei Begriffe mit einem breiten Bedeutungs­ gehalt dar, der in unterschiedlichen diszipli­ nären Kontexten verschieden gefasst wird. In den Förderschwerpunkten der Behinderten­ pädagogik, besonders im Förderschwerpunkt Sprache, aber auch in allen anderen Bereichen der pädagogischen Theorie und Praxis wird mit beiden Begriffen auf den Bereich der Le­ benspraxis verwiesen. Die Lebenspraxis von Menschen ist unter anderem kulturell geprägt, insofern bestimmte Erfahrungen sowie be­ stimmte Traditionen und Handlungsmöglich­ keiten als wichtig angesehen werden. Diese be­ deutsamen Ausschnitte der Wirklichkeit aus der Fülle möglicher Wahlmöglichkeiten bil­ den insgesamt die Kultur einer Gemeinschaft. Die Kultur stellt die Summe von Erfahrungen und Formen der Lebensbewältigung und Le­ bensgestaltung dar, die sich in der Auseinan­ dersetzung mit der sozialen und materiellen Umwelt herausbilden. Sind mehrere Werte­ systeme relevant, wird der Begriff multikulturell bedeutungsvoll. Aus einer multikulturellen Lebensgestaltung muss jedoch nicht zwingend Mehrsprachigkeit resultieren und aus einer mehrsprachigen nicht notwendiger Weise eine multikulturelle (vgl. Grosjean 1996). Mehr­ sprachigkeit wird zum Beispiel dann zu ei­ ner Frage der Kultur, wenn mehrere Sprachen nicht nur – wie zum Beispiel schwerpunktmä­ ßig im Fremdsprachenunterricht (→  Früh­ englisch) – formal-sprachlich gelernt und gebraucht, sondern auch gelebt werden (vgl. Genesee et al. 2006). Damit ist gewährleistet, dass der Sprachgebrauch an eine Lebenspra­

xis und Lebenswelt gebunden ist, welche die Sprachen inhaltlich und formal prägen, zum Beispiel hinsichtlich der Wortbedeutungen, der Redewendungen, der Art und Weise, wie Sprache in der zwischenmenschlichen Kom­ munikation gebraucht wird. Erziehungswissenschaftlich und pädago­ gisch hat sich der Begriff interkulturell durch­ gesetzt. Er verweist in diesem disziplinären Diskussionsrahmen auf die Notwendigkeit der Relationierung von unterschiedlichen kulturellen Voraussetzungen und Lebens­ bedingungen in einem Land, in dem das ge­ meinsame Leben von Einheimischen und Zugewanderten Alltag geworden ist. Bezüg­ lich der Folgen von Zuwanderungsprozessen für Erziehung und Bildung betont Gogolin (2006), dass die Erfahrungen und Kompeten­ zen von Zugewanderten in der Regel nicht den Erwartungen entsprechen, sie dafür aber andere Erfahrungen und Kompetenzen einbrin­ gen können. Diese „sprachliche und kulturelle Pluralisierung“ nicht als Defizit zu bewerten, sondern als Aufforderung, die daraus resul­ tierenden Konsequenzen gemeinsam zu tra­ gen und zu gestalten, „fand seinen Ausdruck im Interkulturellen“ (Gogolin 2006, 277). Da­ rüber hinaus weist Gogolin auf den reflexiven Ansatz der Interkulturellen Pädagogik hin, der sich vor allem auf das Faktum „gesellschaftli­ cher Ungleichberechtigung“ be­ziehe: „Das In­ teresse gilt dem Problem, ob bzw. in welcher Art und Weise Kultur und Ethnizität als An­ lass oder Mittel der Benachteiligung fungie­ ren“ (Gogolin 2006, 278). Dieser reflexive Anspruch Interkulturel­ ler Pädagogik sollte im Rahmen einer behin­ dertenpädagogischen Diskussion des The­ mas zum Ausgangspunkt erhoben werden. Für den Förderschwerpunkt Sprache bedeutet diese Orientierung, dass die Voraussetzungen und Bedingungen mehrsprachiger Entwick­

578 

Interkulturalität und Mehrsprachigkeit

lung und mehrsprachigen Sprachgebrauchs so reflektiert werden, dass Mehrsprachig­ keit nicht zu einem Problem für das einzelne Kind wird. Eine Entwicklungsnorm, die sich zum Beispiel in der Diagnostik primär an der monolingualen Entwicklung orientiert, be­ nachteiligt ein mehrsprachiges Kind per se. Mehrsprachige Handlungsfähigkeit und lebensweltliche Mehrsprachigkeit fungieren in der pädagogischen Literatur als pädagogische Sprachbegriffe, die die skizzierten Umstände berücksichtigen (Kracht 2000).

2 Gefährdung und Störung der Sprachentwicklung im ­Kontext kindlicher ­Mehrsprachigkeit Mehrsprachige Entwicklung stellt sich vor dem skizzierten Bedeutungshintergrund als äußerst heterogen dar. Gefährdung und Störung müssen in dieses heterogene Entwick­ lungskontinuum eingeordnet werden. Tradi­ tionell wurde im Förderschwerpunkt Sprache subsumtionslogisch vorgegangen, insofern be­ stehende Störungskategorien (z. B. „kindlicher Dysgrammatismus“) auf einen mehrsprachi­ gen Entwicklungskontext angewendet wur­ den. Die Störungskategorien haben sich per definitionem jedoch nicht auf Mehrsprachig­ keit bezogen. Das führte dazu, dass Störungen der Sprachentwicklung im Kontext von Mehr­ sprachigkeit nicht als Aufgabenfeld angesehen oder mit einsprachigen Normen (→ Norm und Differenz) betrachtet wurden. Grundsätz­ lich ist zunächst zu unterscheiden, welchem Spracherwerbstyp die Mehrsprachigkeit eines Kindes zuzuordnen ist (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau). Erwirbt das Kind zwei Sprachen in den ersten beiden Lebensjahren parallel, so handelt es sich um einen bilingualen Erstspracherwerb. Die strukturelle Ausprä­ gung einer Sprachentwicklungsstörung zeigt sich in beiden Sprachen in der Regel wie beim

jeweiligen Erstspracherwerb (vgl. Rothwei­ ler 2007b). Erwirbt das Kind mehrere Spra­ chen zeitlich versetzt, zunächst die Erstspra­ che und nach einiger Zeit oder einigen Jahren die Zweitsprache (→ DaZ), so handelt es sich um einen sukzessiven Zweitspracherwerb (vgl. Kracht 2000, Rothweiler 2007a). Es ist anzu­ nehmen, dass je älter das Kind zu Beginn des Zweitspracherwerbs ist, sich die Erwerbsstra­ tegien verändern und das Kind einen Sprach­ erwerbsprozess vollzieht, der nur noch be­ dingt mit dem Erstspracherwerb vergleichbar ist. In Bezug auf diesen Entwicklungskontext bestehen im Vergleich zum monolingualen und bilingualen Erstspracherwerb in der The­ orie und Praxis große Schwierigkeiten, einen auffälligen von einem unauffälligen Erwerbs­ prozess abzugrenzen (vgl. Genesee et al. 2006, Kracht 2006, Rothweiler 2007b). In systemati­ scher Hinsicht lassen sich mindestens drei An­ sätze unterscheiden, mit denen beansprucht wird, die Sprachentwicklungsstörungen im Kontext kindlicher Mehrsprachigkeit zu erklä­ ren (vgl. Kracht 2004): 1. die Spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES), die sich in Erst- und Zweitsprache primär sprachstrukturell ausprägt; 2. anhaltender negativer Transfer von der Erst- in die Zweitsprache, der sich in Interferenzen zeigt; 3. Stagnation im Erwerb der Zweitsprache durch psychosozial erschwerende Sprach­ entwicklungsbedingungen und komplexe Strukturen der Zielsprache Deutsch. Forschungsansätze zu Sprachentwicklungs­ störungen im Kontext von Mehrsprachig­ keit beziehen sich vornehmlich auf die SSES (→ Entwicklungsbedingte Sprachstörungen) (vgl. Genesee et al. 2006, Rothweiler 2007b). Die Forschungsergebnisse zeigen vor allem auf, wie wichtig der Vergleich mit anderen mehrsprachigen Kindern ist, die unter ver­ gleichbaren Bedingungen – z. B. Alter, Spra­ chenkonstellation, Qualität und Quantität der Spracherfahrungen in Erst- und Zweitspra­ che, sozio-kultureller und sozio-ökonomi­ scher Kontext – Mehrsprachigkeit unauffäl­



Kindliche Mehrsprachigkeit in der pädagogischen Praxis   579

lig entwickeln, um auffällige mehrsprachige Entwicklungsprozesse angemessen bewerten zu können. Mehrsprachige Kinder, die nicht erwartungsgemäß Erst- und Zweitsprache er­ werben, zeigen bei einer SSES in der Regel kei­ ne Sinnesbeeinträchtigungen sowie kognitive oder sozial-emotionale Entwicklungsstörun­ gen, welche ausreichen, die Sprachentwick­ lungsauffälligkeiten hinreichend zu erklären. Vielmehr verweisen die Sprachauffälligkeiten, die sich in der deutschen Sprache vor allem in der Verbflexion, der Subjekt-Verb-Kongruenz und der Verbstellung zeigen, sowie der verspä­ tete Spracherwerbsbeginn und ein insgesamt verzögerter Spracherwerb auf eine SSES. Dar­ über hinaus ist davon auszugehen, dass weitere Erschwernisse der mehrsprachigen Entwick­ lung dazu führen, dass vor allem Kinder aus zugewanderten Familien in ihrer Sprachent­ wicklung gefährdet werden bzw. sie nicht er­ wartungsgemäß vollziehen (vgl. Kracht 2006). Besondere Beachtung sollte dem sprachlichen Minderheitenstatus der Familiensprachen zu­ kommen, da sie in der Regel mit geringerem sozialen und gesellschaftlichen Ansehen als die Sprache der gesellschaftlichen Mehrheit ver­ bunden sind und keine nennenswerte Förde­ rung in den Bildungseinrichtungen erfahren. Für die pädagogischen Praxisbereiche der Di­ agnostik (→ Interdisziplinäre Diagnostik), der Therapie (→ Aufgabenfeld Sprachtherapie), der Förderung und des Unterrichts (→ Sprach­ förderung im Aufgabenfeld Unterricht) ein­ schließlich der Beratung (→ Beratung) sind vor dem dargestellten Wissenshintergrund der Kultur gebundenen mehrsprachigen Entwick­ lung grundlegende Schlussfolgerungen zu zie­ hen.

3 Kindliche Mehrsprachigkeit in der pädagogischen Praxis Mehrsprachige Kinder aus unterschiedlichen kulturell bestimmten Lebenswelten treffen in den pädagogischen Praxisfeldern des Förder­

schwerpunktes Sprache in der Regel nicht auf Professionelle, die mit dem mehrsprachigen und lebensweltlichen Hintergrund der Kin­ der vertraut sind bzw. ihn selbst leben. Es sei jedoch der Vollständigkeit halber darauf ver­ wiesen, dass vor allem in der angloamerikani­ schen Fachliteratur Einigkeit darüber besteht, dass mehrsprachige Pädagogen und Thera­ peuten, die mit dem kulturellen Lebenshin­ tergrund der Kinder vertraut sind, die besten Entwicklungspartner für die Kinder wären (vgl. Genesee et al. 2006, Kracht 2003a). Im Folgenden werden knapp zusammengefasst Prinzipien für die pädagogisch-therapeutische Praxis formuliert, um Grundsätze aufzuzeigen, die für Interkulturalität und Mehrsprachigkeit im Förderschwerpunkt Sprache sensibilisieren mögen. Sie knüpfen an dem eingangs formu­ lierten Anspruch Interkultureller Pädagogik an einen reflexiven Umgang mit Interkultura­ lität und Mehrsprachigkeit an. Im Sinne dieser Zielsetzung spricht auch die International Association of Logopedics and Phoniatrics (IALP) Empfehlungen für die Arbeit mit bilingualen Kindern aus: • Multikulturalität und Mehrsprachig­ keit kennzeichnen das Zusammenleben von Menschen in der modernen Zu­ wanderungsgesellschaft. Mehrsprachig­ keit wird damit zu einer Entwicklungs­ voraussetzung und Bildungsbedingung einer zunehmend größer werdenden Gruppe von Kindern und Jugendlichen. • In der pädagogischen Praxis des För­ derschwerpunktes Sprache gilt es im Besonderen, diese Entwicklungssitua­ tion zu bedenken. Sie führt zu inhalt­ lichen Veränderungen der professio­ nellen Konzepte, insofern sprachliche Entwicklungsnormen, Erwartungen, Gewohnheiten, Arbeitsweisen, diag­ nostische Verfahren und therapeuti­ sche Materialien hinsichtlich ihrer An­ gemessenheit für mehrsprachige Kinder und ihre Familien überdacht werden müssen.

580 

Interkulturalität und Mehrsprachigkeit

• Im diagnostischen Prozess müssen sta­ tische Altersnormen für einsprachige Kinder durch Entwicklungsnormen, die sich auf den Umfang und die Qua­ lität von Entwicklungszeiten mehrspra­ chiger Kinder beziehen, ersetzt werden (vgl. Kracht & Rothweiler 2003). • Im sprachtherapeutischen Prozess sollte nicht von einer grundsätzlichen Genera­ lisierung therapeutischer Effekte von der Zweitsprache Deutsch in die Erstsprache des Kindes ausgegangen werden. Aus diesem Grund ist eine enge Zusammen­ arbeit mit mehrsprachigen coworkers (vgl. Kracht 2003a, 2005) und mit den mehrsprachigen Eltern notwendig. Ih­ nen sollte in der Regel nicht zu einem Sprachwechsel in die Sprache der Thera­ pie geraten, sondern sie sollten vielmehr hinsichtlich der Förderung der Erstspra­ che in der Familie beraten werden. • Der Unterricht im Förderschwerpunkt Sprache ist in zweierlei Hinsicht zu über­ denken. Einerseits müssen die allgemei­ nen Bildungsinhalte und Bildungsziele hinsichtlich ihrer interkulturellen und mehrsprachigen Dimensionen überdacht werden, vor allem das sprachliche Bil­ dungsziel. Darüber hinaus gilt es, die be­ sonderen sprachlichen Förderbedürfnis­ se eines mehrsprachigen Kindes auf der Grundlage metasprachlicher und sprach­ vergleichender Reflexion im Kontext sei­ ner lebensweltlichen Mehrsprachigkeit zu bearbeiten (vgl. Kracht 2000, 2003b). In einer zusammenfassenden Betrachtung der therapeutischen Praxisfelder der Diagno­ se und Intervention unter dem Gesichtspunkt der kindlichen Mehrsprachigkeit ziehen Ge­ nesee et al. (2006, 212) eine den obigen Aus­ führungen vergleichbare Schlussfolgerung: „Our task is to create the optimal conditions that will make this possible given the capaci­ ties that children with and without impair­ ment have. When children have impaired ca­ pacity for language learning, it is our task to

use caution and sensitivity in our assessment of them and to give them the extra care and attention in our clinical and educational inter­ ventions with them so that they can achieve their personal best.“

4 Zur zukünftigen Bedeutung entwicklungstheoretischen Wissens Im Sinne eines reflexiven Umgangs mit dem Themenbereich Interkulturalität und Mehrsprachigkeit im Förderschwerpunkt Sprache wird zukünftig die Auseinandersetzung mit ei­ nem umfassenden entwicklungstheoretischen Wissen notwendig sein (u. a. Jeuk 2003, Kracht 2000, Lin-Huber 1998, Müller et al. 2006, Ok­ saar 2003, Rothweiler 2006, 2007a). Erst dann wird es auch in methodologischer Hinsicht möglich, Abstand von einem auf einsprachi­ ger Entwicklung fußenden Bewertungsmaß­ stab zu gewinnen. Denn auffällige, gefährdete, bis hin zur so genannten gestörten Sprachent­ wicklung kann erst erkannt werden, wenn zu­ nächst die allgemeine, unauffällige Entwick­ lung begriffen worden ist. Für einsprachige Entwicklung gilt dieser Grundsatz im Förder­ schwerpunkt Sprache schon lange, für mehr­ sprachige Entwicklung leider noch nicht.

Literatur Genesee, F., Paradis, J. & Crago, M. (22006): Dual lan­ guage development and disorders. A handbook on bilingualism and second language learning. Balti­ more: Brookes. Gogolin, I. (22006): Interkulturalität. In: Antor, G. & Bleidick, U. (Hrsg.): Handlexikon der Behinder­ tenpädagogik. Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis (119–123). Stuttgart: Kohlhammer. Grosjean, F. (1996): Bilingualismus und Bikulturalis­ mus. In: Schneider, H. & Hollenweger, J. (Hrsg.): Mehrsprachigkeit und Fremdsprachigkeit. Arbeit für die Sonderpädagogik? (161–184). Luzern: Edi­ tion SZH.



Literatur   581

Jeuk, S. (2003): Erste Schritte in der Zweitsprache Deutsch. Eine empirische Untersuchung zum Zweitspracherwerb türkischer Migrantenkinder in Kindertageseinrichtungen. Freiburg i. B.: Fillibach. Kracht, A. (2000): Migration und kindliche Zwei­ sprachigkeit: Interdisziplinarität und Professiona­ lität sprachpädagogischer und sprachbehinderten­ pädagogischer Praxis. Münster: Waxmann. Kracht, A. (2003a): Sprachtherapie und Beratung im Kontext kindlicher Mehrsprachigkeit. In: Grohn­ feldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädago­ gik und Logopädie. Bd. 4: Beratung, Therapie und Rehabilitation (202–209). Stuttgart: Kohlhammer. Kracht, A. (2003b): Zur Anerkennung von Mehrspra­ chigkeit als Entwicklungs- und Lernbedingung. In: Feuser, G. (Hrsg.): Integration heute – Perspek­ tiven ihrer Weiterentwicklung in Theorie und Pra­ xis (123–131). Frankfurt a. M.: Lang. Kracht, A. (2004): Gefährdung und Behinderung mehrsprachiger Entwicklung – Historische und aktuelle Konzeptualisierungen. In: Große, K.-D. (Hrsg.): Hörbehinderte Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher nationaler Herkunft – eine in­ ternationale Herausforderung an die Hörbehin­ dertenpädagogik (55–75). Heidelberg: Winter. Kracht, A. (2005): Eine interkulturelle Perspektive des kooperativen Handelns mit mehrsprachigen Kindern. Behinderte in Familie, Schule und Ge­ sellschaft 28, 3/4, 34–47. Kracht, A. (2006): Störungen der Sprachentwicklung im Kontext kindlicher Mehrsprachigkeit. Sonder­ pädagogische Förderung 51, 4, 356–368.

Kracht, A. & Rothweiler, M. (2003): Diagnostische Fragen zur kindlichen Grammatikentwicklung im Kontext von Mehrsprachigkeit. In: Warzecha, B. (Hrsg.): Heterogenität macht Schule. Beiträge aus sonderpädagogischer und interkultureller Per­ spektive. Tagungsband der 4. Novemberakademie des Fachbereichs Erziehungswissenschaft der Uni­ versität Hamburg vom 22.–23. 11. 2002 (189–204). Münster: Waxmann. Lin-Huber, M. (1998): Kulturspezifischer Spracher­ werb. Sprachliche Sozialisation und Kommunika­ tionsverhalten im Kulturvergleich. Bern: Huber. Müller, N., Kupisch, T., Schmitz, K. & Cantone, K. (2006): Einführung in die Mehrsprachigkeitsfor­ schung. Tübingen: Narr. Oksaar, E. (2003): Zweitspracherwerb. Wege zur Mehrsprachigkeit und zur interkulturellen Ver­ ständigung. Stuttgart: Kohlhammer. Rothweiler, M. (2006): The acquisition of V2 and sub­ ordinate clauses in early successive acquisition of German. In: Lleó, C. (Ed.): Interfaces in multilin­ gualism: Acquisition and representation (91–113). Amsterdam: Benjamins. Rothweiler, M. (2007a): Bilingualer Spracherwerb und Zweitspracherwerb. In: Steinbach, M. (Hrsg.): Schnittstellen der germanistischen Linguistik (103–135). Stuttgart: Metzler. Rothweiler, M. (2007b): Multilingualism and Speci­ fic Language Impairment (SLI). In: Auer, P. & Wei, L. (Eds.): Handbook of multilingualism and mul­ tilingual communication (229–246). Berlin: de Gruyter.

Deutsch Brigitte Ernst, Angela Cornelissen & Anke Thummes

1 Zur Bedeutung des ­Schriftspracherwerbs im Unterrichtskontext Deutsch

ist es so bedeutsam, den Schriftspracherwerb mit großem Nachdruck immer wieder in den Fokus zu rücken.

Es ist hinlänglich bekannt, dass der Schrift­ spracherwerb (→ Lesen und Schreiben) be­ reits in der Vorschulzeit beginnt (vgl. u. a. Deutsches PISA-Konsortium 2001). Im Kon­ text Schule bewegt er sich dabei weit über das Unterrichtsfach Deutsch hinaus. Das Beherr­ schen der Schriftsprache, insbesondere der Le­ sekompetenz, übt einen weitreichenden Ein­ fluss auf den Erfolg in nahezu allen Fächern aus. Flüssiges und sinnentnehmendes Lesen ist unter anderem Voraussetzung zur Informa­ tionsentnahme aus Texten wie zum Beispiel bei schriftlichen Arbeitsanweisungen und Textaufgaben. Somit sind jeder Unterricht und das Lernen in der Schule in vielfältiger Wei­ se auf die Lese- und Schreibkompetenz der Schülerinnen und Schüler angewiesen (vgl. MfSJK 2003, 29). Auch im gesellschaftlichen Kontext wird dem sicheren orthografischen Gebrauch und Umgang eine hohe Bedeutung beigemessen. Eine gut ausgebildete Lesekom­ petenz ist nicht nur in vielen Berufen Voraus­ setzung (vgl. Stiftung Lesen 2001), sondern im Rahmen der Partizipation am sozialen Le­ ben von nahezu elementarer Bedeutung. Eine erfolgreiche Aneignung der Schriftsprache beinhaltet demzufolge nicht nur erwünsch­ te Schlüsselqualifikationen, sondern hat in der lebenspraktischen Bedeutung einen ho­ hen Stellenwert (vgl. Höfer & Madelung 2006, 21 ff.). Formal wird in der Primarstufe der Grund- und Förderschulen der Schriftsprach­ erwerb dem Fach Deutsch zugeordnet. Dies ist in den ersten Schuljahren und oft noch dar­ über hinaus nach wie vor der Dreh- und An­ gelpunkt schulischen Lernens. Gerade deshalb

2 Methodenvielfalt im Rahmen des Schriftspracherwerbs und mögliche Ursachen An den Grund- und Förderschulen existiert im Kontext des Schriftspracherwerbs eine breite Methoden- und Medienvielfalt (→ Me­ dien), die zum Teil das gesamte Spektrum der fachdidaktischen Ansätze widerspiegelt. Dies gilt nicht nur für unterschiedliche Schulen und Schulformen, sondern durchaus auch schulin­ tern. Dabei wird auf der Ebene der Lehrperso­ nen selten methodenrein, sondern meist me­ thodengemischt gearbeitet. Zugrunde gelegt werden in der Hauptsache Fibelwerke, die mit selbst erstellten Übungs­ materialien oder mit denen aus anderen Lehr­ werken kombiniert werden. Das Verfahren „Lesen durch Schreiben“ nach Reichen (31988) wird selten originär eingesetzt, sondern häu­ fig nur die Anlauttabelle – zum Teil modifi­ ziert – angewendet. Nach einem nur offenen Spracherfahrungsansatz, zum Beispiel im Sinne Brügelmanns (vgl. 1983), wird eben­ falls selten in Reinform gearbeitet (→ Lesen und Schreiben). So drängt sich zwangsläufig die Frage auf, warum im Unterricht so unter­ schiedlich vorgegangen wird. Sowohl auf der Ebene der Lehrperson (vgl. 2.1) als auch auf der Ebene der Verschieden­ heit der aktuellen Ansätze zum Schriftsprach­ erwerb (vgl. 2.2) wie auch auf der Ebene der Schülerinnen und Schüler (vgl. 3.3) sind mög­ liche Ursachen der Methodenvielfalt zu se­



Methodenvielfalt im Rahmen des Schriftspracherwerbs und mögliche Ursachen   583

hen. Die hier angeführten Ebenen sind weder singulär zu betrachten noch stehen sie in ei­ ner Rangfolge. Sie zeigen auf, dass das Inein­ andergreifen von unterschiedlichen Faktoren möglicherweise der Schlüssel zu einem Erklä­ rungsansatz sein kann.

2.1  Ebene der Lehrperson Auf der Ebene der Lehrperson kann die Me­ thodenvielfalt durch folgende Gesichtspunkte verursacht sein: • eigene Präferenzen und Kompetenzen der jeweiligen Lehrperson beeinflussen die Entscheidung für ein bestimmtes metho­ disches Vorgehen; • schulprogrammatische Entscheidungen für einen bestimmten Ansatz, der für alle Lehr­ personen verpflichtend ist, stützen nicht immer die Kompetenzen der Lehrpersonen und können deren Ressourcen sowie Über­ zeugungen entgegenstehen; • der profane Nutzen bereits vorhandener Materialien kann die Methodenwahl der Lehrpersonen beeinflussen; • freie, individuelle Methodenwahl ohne schulprogrammatische Anbindung kann den Ressourcen und Überzeugungen der Lehrpersonen Rechnung tragen, jedoch auch zu Einzelkämpfertum und zu man­ gelnder Kooperation der Lehrpersonen un­ tereinander führen; sie birgt bei fachfremd unterrichtenden Lehrpersonen zusätzlich die Gefahr der Verwendung von sachlich und didaktisch fehlerhaften Materialien; • das Begleiten von Schülerinnen und Schü­ lern beim Prozess des Schriftspracher­ werbs kann überfordernd sein für Berufs­ anfängerinnen und Berufsanfänger sowie für Lehrpersonen, die das Fach Deutsch fachfremd unterrichten; • im Unterrichtsalltag geraten die verschie­ denen theoretischen Ansätze (geschlosse­ nes Fibellehrwerk kontra offener Sprach­ ansatz) oftmals aus dem Blickfeld.

2.2 Ebene der Verschiedenheit der ­aktuellen Ansätze zum ­Schriftspracherwerb Aus den unterschiedlichen Ansätzen zum Schriftspracherwerb ergeben sich folgende mögliche Ursachen für ein methodengemisch­ tes Vorgehen. Während bei geschlossenen Ver­ fahren als Lehrgang das Durchschreiten eines bestimmten Weges beachtet und zunächst vor­ gegeben wird, sind bei den eher offenen Ver­ fahren unterschiedliche Lernwege als Prozess möglich und gewollt. Fibellehrgang – eher geschlossen Leitidee ist, dass ein Fibellehrgang … • methodenintegrierend ausgerichtet ist, das heißt, analytisches und synthetisches Vor­ gehen erfolgen von Anfang an, um den Schülerinnen und Schülern den ganzheitli­ chen wie synthetischen Zugang zur Schrift zu ermöglichen; • ein in sich geschlossener, linear verlaufen­ der Lehrgang mit steigendem Schwierig­ keitsgrad ist, der Einblicke in das alpha­ betische Prinzip der deutschen Sprache durchgängig ermöglicht; • Kernstück für den Schriftspracherwerb al­ ler Kinder einer Klasse ist, wobei neuere Lehrwerke zusätzliche Materialpakete für individualisiertes sowie fächerübergreifen­ des Arbeiten anbieten; • lesemotivierend ist durch ansprechende Gestaltung der Fibel und der Buchform an sich. Spracherfahrungsansatz – eher offen Leitideen sind, dass … • die Schriftsprache von Anfang an in ih­ rer Funktion erfahren werden soll und der Textproduktion dabei ein hoher Stellen­ wert zukommt; • das Lernen sich nicht schrittweise voll­ zieht, sondern stets als individueller kogni­ tiver Aneignungsprozess, der im Wesentli­ chen vom Kind gesteuert und konstruiert wird;

584 

Deutsch

• Fehler einen besonderen Stellenwert ha­ ben: sie zeigen an, welche Strategien das Kind zur Zeit anwendet; • jedes Kind einen individuellen Zugriff auf die Schriftsprache hat und folglich auch in­ dividuell gefördert werden muss; • die Themen aus den Ideen, Interessen und Lebenswirklichkeiten der Kinder resultie­ ren (Lebensbedeutsamkeit); • vielfältige Materialien notwendig sind, um die individuellen Zugänge zu ermöglichen (Anlauttabellen, Wortlisten, Lesehefte un­ terschiedlichen Schwierigkeitsgrades). An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass den Lehrpersonen mit der Didaktischen Land­ karte von Brügelmann (Brügelmann 1984, 64 f., Brinkmann & Brügelmann 2000, 7) eine hilf­ reiche Orientierung an die Hand gegeben ist, den Prozess ihrer Schülerinnen und Schüler systematisch begleiten und fördern zu können.

2.3 Ebene der Schülerinnen und ­Schüler an ­Förderschulen: ­Schwierigkeiten beim Schriftsprach­erwerb Eine weitere wesentliche Ursache für die Me­ thodenvielfalt ist bei den Schülerinnen und Schülern selbst zu sehen. Insbesondere an Förderschulen muss in spezifischer Weise auf die Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb eingegangen werden (→ Beeinträchtigungen der Sprach- und Sprechaktivität: Entwick­ lungsbedingte Sprachstörungen). Die unten angeführten Aspekte sind den zentralen Be­ reichen der Lernentwicklung (vgl. KMK 1994, 7, 11 sowie KMK 1999, 4) und des Lern- und Arbeitsverhaltens zuzuordnen. Sie spiegeln gleichzeitig den unterschiedlichen Förderbe­ darf der Schülerinnen und Schüler wider: • Entwicklungsbeeinträchtigungen auf der phonetischen Ebene; • Entwicklungsbeeinträchtigungen auf der phonologischen Ebene; • Entwicklungsbeeinträchtigungen auf der visuellen Ebene;

• Entwicklungsbeeinträchtigungen auf der metalinguistischen Ebene (Sprachbewusst­ heit). Dies kann sich beispielsweise auch in Form von Schwierigkeiten beim Verfassen kurzer Texte (gedankliches Konzept) äu­ ßern; • geringe Merk- und Speicherkapazität; • sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne und hohe Ablenkbarkeit; • geringe Frustrationstoleranz; • geringe Anstrengungsbereitschaft; • beeinträchtigte Graphomotorik (formkla­ res Schreiben von Buchstaben, Einhalten der Linien); • Verunsicherung beim Schreiben durch zu frühe Einführung einer verbundenen Schrift (nicht gesicherte Buchstabenkon­ stanz; nicht gesicherte Schreibrichtung). Grundsätzlich setzt sich jedes Kind mit der Schriftsprache unter zwei Aspekten ausein­ ander: Es muss sich einerseits mit dem Auf­ bau der deutschen Schriftsprache befassen, den Aspekt „Schriftsprache“ und deren Struk­ tur also zum Lerngegenstand machen und es muss andererseits (Verarbeitungs-)Strategien bei der Aneignung der Schriftsprache entwi­ ckeln und dabei über Gedächtnisvorgänge (als Denkprozesse des Lernens) verfügen. Hieraus ergeben sich wichtige Voraussetzungen wie gleichsam auch Förderanliegen, die im engen Zusammenhang mit den oben angesproche­ nen Schwierigkeiten zu sehen sind.

3 Was muss gefördert ­werden, um einen erfolgreichen Schriftspracherwerb zu ­ermöglichen? Die Voraussetzungen und Förderaspekte für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb im engeren wie im weiteren Sinne sind in Tabel­ le 1 zusammengefasst: Die Förderung der einzelnen Aspekte ist nicht isoliert oder teilleistungsbezogen zu be­



Leitgedanken und ­Konsequenzen mit Blick auf den Unterrichtskontext Deutsch   585

Tab. 1: Voraussetzungen und Förderaspekte für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb im engeren Sinne (Sprache): Phonetische Ebene/Bewusstheit

• Artikulation, Atmung, Stimmgebung

Phonologische Ebene/Bewusstheit

• im engeren Sinne: Sprachlaute und Sprachgruppen als bedeutungsdifferenzierende Merkmale (Pho­ neme und deren Analyse, Diskrimination, Konstanz und Synthese) • im weiteren Sinne: größere sprachliche Einheiten erkennen und unterscheiden (Reime, Silben)

Visuelle Ebene/Bewusstheit

• Grapheme und deren Analyse, Synthese, Diskrimi­ nation bzw. Form­konstanz • Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln • Figur-Grund-Wahrnehmung

Metalinguistische Ebene/Sprachbewusstheit

• Kognitive Klarheit über Funktion der Schriftsprache und linguistische Konzepte (Lexik, Syntax, Gramma­ tik)

im weiteren Sinne (Wahrnehmungsfähigkeiten und Motorik, fächerübergreifend): Motorik – Wahrnehmung – Sensorik

trachten, sondern integrativ und ganzheitlich. Zudem sind die Besonderheiten des Sozial-, Lern- und Arbeitsverhaltens, des Orientie­ rungsverhaltens wie des Selbstbildes des Kin­ des stets mit zu beachten und einzubeziehen.

4 Leitgedanken und ­Konsequenzen mit Blick auf den Unterrichtskontext Deutsch Im Rahmen der Fragestellung, wie im Unter­ richtskontext Deutsch an Förderschulen ei­ nem erfolgreichen Schriftspracherwerb Vor­ schub geleistet werden kann, ergeben sich unterschiedliche Leitgedanken, die sich ge­

• • • • • •

Grob- und Feinmotorik (inklusive Graphomotorik) visuomotorische Koordination kinästhetische Wahrnehmung vestibuläre Wahrnehmung taktile Wahrnehmung auditive und visuelle Wahrnehmung (siehe oben)

genseitig bedingen und interdependent wirk­ sam sind: Unterrichtsarrangement und fachdidaktische Kompetenz

Gerade in der Primarstufe ist das Unterrichts­ arrangement in Verbindung mit Methoden zum Schriftspracherwerb von hoher Bedeu­ tung für einen positiven Entwicklungsprozess der Schülerinnen und Schüler. Lehrerinnen und Lehrer an Förderschulen müssen im Rah­ men des Unterrichtsfachs Deutsch über eine hohe Fachkompetenz verfügen. Nur so kön­ nen sie die Prozesse des Schriftspracherwerbs, die die Schülerinnen und Schüler individuell durchlaufen, richtig einschätzen und entspre­ chende Hilfestellungen für die weitere Ent­ wicklung geben. Dazu gehört auch eine hohe Orientierungs- und Führungskompetenz mit

586 

Deutsch

Blick auf das Unterrichtsgeschehen als solches. Es sind die Lehrerinnen und Lehrer, die Tag für Tag als Vermittlerinnen und Vermittler, Impulsgeberinnen und Impulsgeber, Begleite­ rinnen und Begleiter agieren im Rahmen des für die Schülerinnen und Schüler oft so span­ nenden, manchmal rätselhaften und leider ebenso oft auch frustrierenden Aneignungs­ prozesses des Lesens und Schreibens. Damit wird ein Stellenwert der Lehrperson deut­ lich, der nicht zu unterschätzen ist. Bartnitz­ ky (1998, 43) formuliert hier treffend: „Nicht die Verwendung eines Lehrwerks oder die In­ anspruchnahme eines didaktischen Konzepts entscheidet über die Qualität von Unterricht, sondern die didaktische Kompetenz der Lehr­ person.“ Klarheit in der methodischen Orientierung

Für Berufsanfängerinnen und -anfänger sowie auch für Lehrpersonen, die das Fach Deutsch nicht studiert haben, kann der Einsatz einer Fibel als ein je in sich geschlossener metho­ discher Aufbau eine wichtige Orientierung darstellen. Ein kategorisches Ablehnen eines fibel­orientierten Vorgehens ist nicht zu ver­ treten – ebenso wie eine uneingeschränkte Befürwortung des offenen Ansatzes, zumal insbesondere Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf hier häufig überfor­ dert sind. Sie kommen oftmals aus bildungsund buchfernen Elternhäusern und benötigen gezielte Hilfestellungen, um „kognitive Klarheit über Struktur und Funktion von Schrift“ zu erlangen (Valtin & Sasse 2007, 182). Primat der Lernvoraussetzungen mit Blick auf eine Methodenentscheidung

Es wird deutlich, dass die Lernvoraussetzun­ gen der Schülerinnen und Schüler bei der Entscheidung für eine Methode von beson­ derer Bedeutung sind. Sind umfassende Lern­ schwierigkeiten vorhanden, sollten die grund­ legenden Prinzipien sonderpädagogischer Förderung wie Handlungs-, Situations- und Praxisorientierung in jedem Fall angewen­

det werden. Schülerinnen und Schüler mit einem Förderbedarf benötigen gezielte Hil­ festellungen und Impulse, um zu einer Ein­ sicht in die Struktur der Sprache und zu der für den erfolgreichen Schriftspracherwerb so notwendigen kognitiven Klarheit zu gelan­ gen. Als in diesem Sinne positive Struktur für die Schülerinnen und Schüler bietet sich eine gut strukturierte Fibel als Leitmedium an. Da­ bei ist darauf zu achten, dass methodisch ein Werk (Anlauttabelle und Materialien der glei­ chen Fibel) verwendet wird, das zum Lernen mit allen Sinnen anregt und das Ermöglichen gegenständlich-praktischen Handelns als Me­ thoden integrierendes Element verankert ha­ ben sollte. Dazu gehört auch die Möglichkeit, fächerübergreifend zu arbeiten und die rele­ vanten lebenspraktischen Bezüge herzustellen. Grundsätzlich sollte die eingesetzte Fibel einer adressatengerechten Analyse unterzogen wer­ den. Conrady (1987) bietet dazu grundlegende Kriterien an. Jeder Schülerin und jedem Schüler sollte die Möglichkeit gegeben werden, im Unter­ richtskontext Deutsch entdecken, forschen, üben, eigene Präferenzen einbringen und in­ dividuelle Wege gehen zu können. Entschei­ dend hierbei ist, dass die Lernangebote gezielt im Sinne einer klaren didaktischen und me­ thodischen Linie ausgewählt und eingesetzt werden. Schülerinnen und Schüler mit geringen Lernschwierigkeiten können – sofern sie die kommunikative Funktion der Schrift als sol­ che sicher erkennen – durchaus einen eher of­ fenen, fibelunabhängigen Weg gehen. Da das Schriftsprachliche hier in den Vordergrund rückt, wird die Anlauttabelle das zentrale Me­ dium, mit dessen Hilfe Sprache durchgliedert wird. Auch hier muss jedoch die Entwick­ lung orthografischer Strategien systematisch begleitet und in Form von Übungen vertieft werden. Empfehlenswert sind zudem Buch­ staben- und/oder Thementage als ritualisierte Struktur. Darüber hinaus ist es von besonde­ rer Bedeutung, neben dem individuellen Weg des Schreibens unterschiedliche Lesehefte, Lesebilderbücher oder Themenhefte – auch



Literatur   587

im Rahmen der Neuen Medien – anzubieten, die ebenfalls einer klaren didaktischen und methodischen Linie entsprechen sollten. Ermutigung: Lesen mit Schreiben

Besonders im förderschulischen Kontext sind die Misserfolgserlebnisse beim Schreiben hoch. Deshalb stehen zunächst nicht die orthografi­ schen Fähig- und Fertigkeiten der Schülerin­ nen und Schüler im Fokus, sondern das Er­ langen einer Einsicht in die Sinnhaftigkeit des Schriftlichen und dessen kommunikati­ ver Funktion. Folglich muss sich der schuli­ sche Alltag stets auf das Lesen mit Schreiben beziehen und sich zu Nutze machen, dass fast jedes Kind spätestens zum Ende der Primarstu­ fe im Besitz eines Handys ist, SMS verschickt, im Internet surft und sich im Chatroom unter­ hält. Um so bedeutsamer wird der Appell, je­ des Kind je nach Lernausgangslage mehr oder weniger angeleitet zum Schreiben zu ermutigen und es schreiben zu lassen. Eine fachdidaktisch und -methodisch fundierte Bildung in Verbin­ dung mit den oben beschriebenen konsequen­ ten Vorgehensweisen sind herausfordernde, aber auch lösbare Aufträge für all diejenigen, die sich auf den Weg machen, den Schrift­ spracherwerb ihrer Schülerinnen und Schüler kompetent und sicher begleiten zu wollen.

Literatur Bartnitzky, H. (1998): „Die rechte weis aufs kürtzist lesen zu lernen“ Oder: Was man aus der DidaktikGeschichte lernen kann. In: Balhorn, H., Bartnitz­ ky, H., Büchner, I. & Speck-Hamdan, A. (Hrsg.): Schatzkiste Sprache 1. Von den Wegen der Kinder in die Schrift (14–46). Hemsbach: Beltz. Brinkmann, E. & Brügelmann, H. (62000): IdeenKiste 1. Schrift-Sprache: Offenheit mit Sicherheit.

Vom Lernen, Schrift zu entdecken, Schrift zu ge­ brauchen, Schrift zu verstehen, und was der Unter­ richt dazu tun kann. Hamburg: vpm. Brügelmann, H. (1983): Kinder auf dem Weg zur Schrift. Eine Fibel für Lehrer und Laien. Konstanz: Libelle. Brügelmann, H. (1984): Die Schrift entdecken. Beob­ achtungshilfen und methodische Ideen für einen offenen Anfangsunterricht im Schreiben und Le­ sen. Konstanz: Faude. Conrady, P. (1987): Aspekte einer Fibelanalyse. In: Conrady, P. & Rademacher, G. (Hrsg.): Fibeln im Gespräch. Kriterien zur Analyse (106–111). Essen: Die blaue Eule. Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) (2001): PISA 2000: Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske und Budrich. Höfer, C. & Madelung, P. (2006): Lehren und Ler­ nen für die Zukunft. Unterrichtsentwicklung in selbstständigen Schulen. Troisdorf: Bildungsver­ lag EINS. MfSJK (Ministerium für Schule, Jugend und Kinder) (Hrsg.) (2003): Richtlinien und Lehrpläne zur Er­ probung für die Grundschule in NRW. Frechen: Ritterbach. Reichen, J. (31988): Lesen durch Schreiben. Wie Kin­ der selbstgesteuert lesen lernen. Heft 1. Zürich: sabe. KMK (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kul­ tusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland) (1994): Empfehlungen zur sonder­ pädagogischen Förderung in den Schulen der Bun­ desrepublik Deutschland. Beschluss der Kultusmi­ nisterkonferenz vom 06. 05. 1994. KMK (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kul­ tusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland) (1999): Empfehlungen zum Förder­ schwerpunkt Lernen, Beschluss der Kultusminis­ terkonferenz vom 01. 10. 1999. Stiftung Lesen (Hrsg.) (2001): Leseverhalten in Deutschland im neuen Jahrtausend. Eine Studie der Stiftung Lesen. Bd. 3. Hamburg: Spiegel. Valtin, R. & Sasse, A. (2007): Schriftspracherwerb. In: Heimlich, U. & Wember, F. (Hrsg.): Didaktik des Unterrichts im Förderschwerpunkt Lernen. Ein Handbuch für Studium und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer.

Deutsch als Zweitsprache Karla Röhner-Münch

1 Deutsch als Zweitsprache (DaZ): Begriffsklärung und Gegenstandsgeschichte In Abgrenzung zur Fremdsprache (→ Sprach­ förderung im Unterrichtskontext Früheng­ lisch) hat die Zweitsprache für deren Nutzer existenzielle Bedeutung, weshalb ihr Erwerb prinzipiell auf Zweisprachigkeit zielt, womit ein dem Bilingualismus nahe kommendes Niveau der Sprachbeherrschung gemeint ist. Daraus erwächst zugleich die beste Voraussetzung für die in Europa zum allgemeinen Bildungs­ ziel erhobene „echte Mehrsprachigkeit“ (Reich 2007) (→ Interkulturalität und Mehrsprachig­ keit). Bilingualismus wird in den ersten drei bis vier Lebensjahren durch den engen Kon­ takt mit Bezugspersonen unterschiedlicher Muttersprachen erworben. Anders als der Er­ werb der Muttersprache (L1) ist der Erwerb der Zweitsprache (L2) an kein Lebensalter ge­ bunden, sondern von biographischen Fakto­ ren abhängig. Wenn möglich, sollte er schon im dritten oder vierten Lebensjahr einsetzen. Erst während der Schulzeit nach Deutschland migrierte Kinder und Jugendliche werden als Seiteneinsteiger durch spezielle Kurse in der Zielsprache Deutsch auf den Besuch der Re­ gelschule vorbereitet. Der hiefür verwendete Begriff „Deutsch als Zweitsprache“ (DaZ) steht für drei im Folgenden näher erläuterte Berei­ che.

1.1 Deutsch als Zweitsprache: ­individuelle Sprachvarietät im Erwerbsprozess DaZ bezeichnet zunächst das konkrete, indivi­ duelle Deutsch von Zweitsprachlernern, deren

jeweilige Sprachvarietät (→ Norm und Diffe­ renz) als „Lerner-“ bzw. „Interimssprache“ in unterschiedlich großem Ausmaß von der so genannten „Zielsprache“ abweicht. Die konti­ nuierliche Annäherung im Spracherwerbspro­ zess erfolgt natürlich beziehungsweise unge­ steuert sowie ergänzend in einem gesteuerten Sprachlernprozess, wofür ein reicher Input und die Motivation des Zweitsprachlerners die ent­ scheidenden Komponenten sind (Klein 1992, Bredel 2007). Ohne systematische Sprachför­ derung besteht häufig die Gefahr der Heraus­ bildung von Fossilierungen (Versteinerungen) in Form immer wieder in der gleichen Weise auftretender Fehler – bei dennoch gelingen­ der Kommunikation. Sie sind Ausdruck dafür, dass der Sprecher keine Motivation mehr hat, seine Sprache zu verändern: der Erwerbspro­ zess stagniert in diesem Feld. Fossilierungen sind erfahrungsgemäß nur mühsam aufzubre­ chen, weshalb es gilt, sie gar nicht erst entste­ hen zu lassen (Nodari & Neugebauer 2002).

1.2 Deutsch als ­Zweitsprache: ­Unterrichtsfach oder ­Förderbereich DaZ Deutsch als Zweitsprache (DaZ) und Deutsch als Fremdsprache (DaF) werden häufig syno­ nym oder parallel („Deutsch als Zweit- und Fremdsprache“) verwendet, um auf Gemein­ samkeiten zwischen beiden Disziplinen zu verweisen oder um bei der jüngeren Disziplin DaZ die Herkunft aus dem zu DaF gehören­ den „Deutsch für Ausländer“ zu signalisieren, das seinerzeit eine Antwort auf die beginnen­ de Arbeitsmigration der 1960er Jahre war. DaZ bezeichnet das spezielle Unterrichtsfach, den Förderbereich oder das Unterrichtsprinzip (vgl. 3.3), mit dem das Erlernen der Zweitsprache bei Kindern, Jugendlichen



Deutsch als Zweitsprache (DaZ): Begriffsklärung und Gegenstandsgeschichte   589

und Erwachsenen mit Migrationshintergrund unterstützt werden soll. Nach den internati­ onalen Schulleistungsvergleichen PISA und IGLU beträgt ihr Anteil in den allgemeinbil­ denden Schulen Deutschlands annähernd ein Drittel (vgl. Reich 2007). Ihr mangelnder Bil­ dungserfolg wurde seit Jahrzehnten beobach­ tet, ohne nach Ursachen zu suchen und ent­ sprechende Konsequenzen zu ziehen. Man nährte immer weiter die Hoffnung, das Pro­ blem werde in den nachfolgenden Generatio­ nen nicht mehr vorhanden sein – eine Erwar­ tung, die die PISA-Ergebnisse 2001 endgültig widerlegten. Die KMK-Empfehlungen von 1971, 1976 und 1979 nannten einige Maßnahmen zur Sprachförderung „ausländischer Kinder“. Demgegenüber wurde 1996 die „Interkultu­ relle Bildung und Erziehung in der Schule“ in den Mittelpunkt gestellt und den sozialen Zielen Priorität gegeben, während die sprachlichen nur im Hinblick auf die Bedeutung der Muttersprache betont wurden. Die Fokussie­ rung auf die empirisch nie eindeutig nach­ gewiesene „Interdependenzhypothese“ von Cummins (1984), wonach ein anspruchsvolles Niveau in der Zweitsprache nur dann zu errei­ chen sei, wenn die Erstsprache entsprechend gut beherrscht werde, führte zu Verunsiche­ rung bezüglich einer vordringlichen Förde­ rung der Landessprache (vgl. u. a. Bartnitzky & Speck-Hamdan 2005). Im neuen Jahrtausend haben PISA und die Diskussionen um das Integrationsgesetz ei­ nen nachhaltigen Sinneswandel bewirkt. Die Suche nach den Gründen für die auffällig zu­ tage getretene Bildungsbenachteiligung führ­ te zu unterschiedlichsten Aktivitäten. Seitdem steht DaZ für die institutionsübergreifende Unterstützung beim Erwerb der Landesspra­ che. Weil die zum Teil recht gut gelingen­ de alltägliche Verständigung, die Cummins warnend als „umgangssprachliche Fassaden­ kenntnisse“ charakterisiert (Cummins 1984), für die gesellschaftliche Integration nicht aus­ reicht, sind staatlich initiierte Maßnahmen absolut unverzichtbar. Bildungserfolg ist ein­ deutig an die mündliche und schriftliche Be­

herrschung der Unterrichts- beziehungsweise der Fachsprache geknüpft. Um DaZ-Förderung in allen institutionel­ len Ebenen und Fächern zu realisieren, muss der tief verankerte „monolinguale Habitus“ (Gogolin 1994) der deutschen Schule über­ wunden und statt dessen ein wertschätzen­ der, respektvoller Umgang mit den Erstspra­ chen der Kinder selbstverständlich werden. Längst kann die altersgemäße Beherrschung der deutschen Sprache beim Eintritt in die Schule nicht mehr vorausgesetzt werden. Das gilt ebenso für das Verstehen der kom­ plexen Strukturen des Deutschen, mit denen die Unterrichtsinhalte in höheren Jahrgängen dargestellt werden. Stattdessen müssen diese selbst zum Gegenstand expliziter Vermittlung und Erörterung werden. Daraus ergeben sich weitreichende Veränderungen in der pädago­ gischen Praxis und Ausbildung. Zwingend notwendig war die Etablierung des entspre­ chenden Wissenschaftsbereichs.

1.3 Deutsch als Zweitsprache: die Wissenschaftsdisziplin DaZ ist eine (Teil-)Disziplin der Wissenschaf­ ten vom Lehren und Lernen der Sprachen, die sich sowohl mit dem Zweitspracherwerb einschließlich der Sprachstandsfeststellung als auch mit den Prozessen der Aneignung durch didaktisch systematisch aufbereiteten Unterricht auseinandersetzt (→ interdiszipli­ näre Theorie sprachlichen Lehrens und Ler­ nens, → Sprachdidaktiktheorie, → Sprachför­ derung im Aufgabenfeld Unterricht). Sie fußt auf interdisziplinärer Zusammenarbeit mit der Linguistik, Entwicklungs(-neuro)psychologie (→  Intersubjektive Kommunikation), Erzie­ hungswissenschaft, Soziologie, den Fachdidak­ tiken einschließlich der Grundschul- und Son­ derpädagogik sowie der Vorschulerziehung. Bisher liegen keine geschlossenen didaktischen Konzeptionen vor. In einzelnen Ländern exis­ tieren Rahmen- oder Lehrpläne für den DaZUnterricht, die als Grundlage für die inhaltli­ che Gestaltung der pädagogischen Arbeit in

590 

Deutsch als Zweitsprache

Regel- und Sonderklassen oder Kursen dienen (vgl. u. a. Kliewer & Pohl 2006).

2 Unterstützung des ­Zweitspracherwerbs im Vorschulalter „Sprachlicher Kompetenzzuwachs ist das Re­ sultat der eigenaktiven Auseinandersetzung mit der umgebenden sprachlichen und nichtsprachlichen Wirklichkeit“ (Ehlich 2007, 24). Diese Erkenntnis gilt gleichermaßen für den L1- und L2-Erwerb, woraus die Notwendig­ keit einer möglichst frühzeitigen Begegnung mit der Zweitsprache resultiert, was zahlreiche Initiativen zur teilweise sogar verpflichtenden institutionalisierten Betreuung von Kindern mit Migrationshintergrund hervorgebracht hat. Ehlich unterscheidet in diesem Zusam­ menhang zwischen selbstorganisiertem und fremdorganisiertem Spracherwerb (statt unge­ steuert/natürlich vs. gesteuert) (vgl. 1.1), wo­ mit er einerseits den Aktivitätsaspekt des In­ dividuums betont und andererseits stärker auf die institutionellen Bezüge und die damit ver­ bundene Verantwortung verweist (→ Institu­ tionen und ihr gesellschaftlicher Kontext). Für die Erstbegegnung des Kindes mit der Zweit­ sprache meint „fremdorganisiert“ das Herstel­ len bester Rahmenbedingungen und das päda­ gogische Moderieren der „selbstorganisierten“ Aktivitäten im Kontakt mit den Kindern deut­ scher und anderer Erstsprachen. Die entschei­ denden Komponenten dabei sind (vgl. Engin & Walter 2005, Thoma & Tracy 2006): • Wecken des Kommunikationsbedürfnisses durch Sicherheit gewährende, geschick­ te Interaktion mit einem oder mehreren emotional akzeptierten Kommunikations­ partnern, • Gelegenheiten zu gelingender Kommunikation in der Zweitsprache in größtmögli­ chem Umfang, vorrangig durch gemein­

same Aktivitäten mit Gleichaltrigen und Spielpartnern, • materieller und sprachlicher Anregungsreichtum in der Umgebung des Kindes, da sich lexikalisches Lernen und der Erwerb von Weltwissen einander bedingen. Die Sprachförderung bezieht sich in erster Li­ nie auf: • den behutsamen, wertschätzenden und stützenden Umgang mit der Erstsprache der Kinder; • das Ausschöpfen der Potenziale, die dem Sprachvorbild des Erwachsenen innewoh­ nen, für einen verständlichen und reichen Sprach-Input (vgl. Jeuk 2006, 356); • die Einbeziehung rhythmisch-musikalischer Elemente für das Zusammenleben in der Gruppe sowie für soziales und sprachli­ ches, insbesondere für lexikalisches Ler­ nen, denn die gesungenen oder gesproche­ nen Texte werden gleichzeitig in Handlung umgesetzt, dadurch polysensorisch erlebt und nachhaltiger eingeprägt; • die Durchführung von Sprachlernspielen, wie sie aus der elementaren Sprachförde­ rung bekannt sind, erweitert um Symbo­ le (z. B. Farbpunkte auf Gegenstände und Bildkarten zum Markieren des Genus für die richtige Artikelverwendung); • die Vorbereitung auf den Schriftspracherwerb: vielfältige Begegnungen mit Schrift und das Erleben ihrer Funktionen sollen die häufig aus schriftfernen Elternhäusern stammenden Kinder für das Lesen- und Schreibenlernen motivieren; • dialogisches Vorlesen von Bilderbüchern, bei dem Zwischenfragen und Gespräche zum Verstehen des Textes beitragen sowie „richtiges“ Vorlesen, bei dem gesichertes Hörverstehen zur ersten Begegnung mit komplexeren Sprachstrukturen führt.



Deutsch als Zweitsprache in der allgemeinbildenden Schule   591

3 Deutsch als Zweitsprache in der allgemeinbildenden Schule 3.1 Der Schriftspracherwerb für ­DaZ-Lernende Die Schriftsprache (→ Lesen und Schreiben) als materialisierte Sprache hat den einzigarti­ gen Vorteil, dauerhaft zugänglich und somit vielfach wiederholbar zu sein. Das birgt für Kinder mit DaZ reiche kompensatorische Po­ tenziale hinsichtlich der lexikalischen Erwei­ terung der Zweitsprache, ihrer strukturellen Durchdringung und phonologischen Verdeut­ lichung. Um die Kinder so rasch wie möglich an das Erlesen einfacher Texte heranzuführen, ist in der Einschulungsphase das Erschließen der Phonem-Graphem-Korrespondenz (das „Laut-Buchstabe-Stellvertreter-Verhältnis“) die Kernaufgabe (Speck-Hamdan 2005). Inzwischen hat sich weitgehend die „Al­ phabetisierung“ in der Zweitsprache innerhalb der Regelklasse allgemeinbildender Schu­ len durchgesetzt. In den Jahrzehnten vorher hatten verschiedene Schulversuche zum zeit­ lich versetzten, parallelen oder koordinierten zweisprachigen Schriftspracherwerb infolge der erhöhten Anforderungen an die schuli­ schen Rahmenbedingungen weder deutlich bessere Ergebnisse erbracht noch die notwen­ dige Resonanz bei den Eltern betroffener Kin­ der gefunden. Die Alphabetisierung in der Erstsprache wird derzeit kaum noch im schu­ lischen Rahmen angeboten, sondern meist el­ terlicher Initiative überlassen. Seiteneinsteiger (vgl. 1) kommen meist muttersprachlich alphabetisiert in ihr neues Gastland. Auf solcher Basis können sie der­ zeit bessere Bildungsergebnisse erreichen als in Deutschland geborene Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache (Knapp 1999, Grießhaber 2007). Unumstrit­ ten ist, dass es für sie leichter wäre, könn­ ten sie zuerst in ihrer Muttersprache an das Schriftsystem herangeführt werden. So aber

brauchen sie für den kognitiv anspruchsvolls­ ten Teil der Sprachentwicklung eine beson­ ders intensive Unterstützung und Begleitung, um sie vor demotivierenden Misserfolgen be­ ziehungsweise vor mittelfristigem Lernver­ sagen zu bewahren. Die Herausbildung ei­ nes positiven Selbstkonzeptes sollte damit einhergehen (Rösch 2003, 50). Ungeachtet aller „Pro-und-Kontra-Fibel-Diskussionen“ (→  Schriftsprach­erwerb im Unterrichtskon­ text Deutsch) bedürfen die Kinder für das analytisch-synthetische Tätigsein am Wort eindeutiger Unterstützungssysteme. Zu Be­ ginn scheint eine an lauttreuen Wörtern orientierte Vorgehensweise am besten ge­ eignet zu sein. Ein Kind mit Migrationshin­ tergrund nach der Methode „Lesen durch Schreiben“ (Reichen 1982) mit einer aus­ schließlich deutschen Anlauttabelle und dem Auftrag, seine Mitteilungen zu verschrif­ ten, allein zu lassen, hat sich als Überforde­ rung erwiesen (Schründer-Lenzen & Micke 2005).

3.2 Schulische Förderung für ­Lernende mit DaZ Die von Belke (2000) entwickelte „Sprach­ didaktik für multinationale Klassen“ be­ schreibt den gemeinsamen Deutschunterricht als das Hauptfeld zur intensiven Förderung der Lernenden mit Deutsch als Zweitspra­ che. Neben expliziten Vorschlägen für den Grammatik- und Literaturunterricht in mehr­ sprachigen Lerngruppen stellt sie das Sprachspiel in den Mittelpunkt „eines kommunika­ tiven und handlungsbezogenen Unterrichts: Es lenkt die Aufmerksamkeit auf die Sprache und ermöglicht somit eine kindgemäße und gleichwohl systematische Übung und Be­ wusstmachung sprachlicher Strukturen, die für das Erlernen der Schriftsprache unerläss­ lich sind“ (Belke 2003, 3). Seit 2007 liegt eine umfassende Konkretisierung dieses Ansatzes in zwei Bänden vor, der weit über den Rah­ men des Unterrichts in der Grundschule hin­ ausgeht (Belke 2007a, b).

592 

Deutsch als Zweitsprache

Innerhalb der zusätzlichen schulischen DaZFörderung sind derzeit zwei Strategien zu un­ terscheiden: 1. Die anregungsbetonte Strategie Sie erstrebt durch kommunikatives Han­ deln in den verschiedensten gesellschaftli­ chen Bereichen vorrangig die lexikalische Erweiterung der Zweitsprache, wobei im­ plizit Grammatik erworben werden kann – „Gebt den Kindern Wörter, Grammatik lernen sie von selbst“ (Piepho 2003) –, was aber zugleich die Gefahr von Fossilierun­ gen in sich birgt (vgl. 1.2). Diese Strategie entfaltet sich vorrangig über Lernszenarien in Gruppen- und Partnerarbeit. Eigenstän­ dig gestaltete Settings gelten Projekt- oder Spielideen, die möglichst von ErgebnisPräsentationen für andere Kinder abge­ rundet werden (Hölscher 2007). 2. Die strukturbetonte Strategie Sie lässt die Kinder an kommunikativ und emotional bedeutsamen Texten oder Äuße­ rungen bestimmte (zunächst nur elemen­ tare) grammatische Phänomene entdecken und hebt sie als Regeln ins Bewusstsein (Rösch 2003). Sie erleben den Zusammen­ hang zwischen Semantik und bestimm­ ten morphologischen oder syntaktischen Markierungen sowie zu den Prinzipien der Wortbildung. Bis dahin diffus Wahr­ genommenes oder implizit Gewusstes wird in explizites Wissen überführt und gut einprägbar visualisiert. Der bewusste Transfer beim Üben führt zum sichereren Verfügen über die elementaren grammati­ schen Strukturen, was auch der Sinnkon­ struktion beim Lesen zugute kommt (vgl. Rösch 2006). Aus der Sachlogik heraus weist die struk­ turbetonte Vorgehensweise eine große ge­ meinsame Schnittmenge mit der Förderung grammatischer Fähigkeiten gemäß der „Kon­ textoptimierung“ (Motsch 22006) auf, die bei Zweitsprachlernenden ebenfalls zu überzeu­ genden Ergebnissen führte. Vorrangig im außerschulischen Bereich hat sich die implizite Sprachförderung mit

den Mitteln der Theaterpädagogik als heraus­ ragender Weg zum sprachlichen Lernen er­ wiesen. Die Erfahrungen mit verschiedensten Formen szenischen Darstellens zeigen über­ einstimmend, dass sprachlicher Kompetenz­ gewinn aus der intensiven Textarbeit und der Verringerung von Sprechangst erwächst so­ wie aus der Steigerung der Motivation, sich korrekt und verständlich auszudrücken (Sta­ nat & Müller 2006).

3.3  Das Unterrichtsprinzip DaZ Angesichts der begrenzten Lernzeit für das anspruchsvolle Ziel „Zweisprachigkeit“ (Hopf 2005) und der Notwendigkeit vielfältiger Möglichkeiten zum bewussten Anwenden neu erworbener Sprachstrukturen, um aus dem Erfolg Motivation für das Weiterlernen zu ge­ winnen, muss DaZ als durchgängiges Prinzip im gesamten Unterricht aller Lehrpersonen verankert werden: „Jeder Unterricht ist auch Deutschunterricht: Deutsch als Zweitsprache findet nicht nur in Fördermaßnahmen statt, sondern in jedem Fach, in jeder Arbeitsge­ meinschaft und bei allen außerunterrichtli­ chen Aktivitäten, die Schule anbietet“ (SenBJS 2001). Die Realisierung dieses Anspruchs er­ fordert Lehrkräfte, die befähigt sind, Sprach­ probleme wahrzunehmen, darauf didaktischmethodisch zu reagieren wissen und die dafür vor allem die entsprechende Bereitschaft und Motivation mitbringen. Eine systematische Aus- oder Fortbildung aller Beteiligten ist un­ abdingbar. Eine dauerhaft zu lösende Aufgabe ist die Modifizierung oder Vorentlastung fach­ sprachlicher Texte in den schülerbezogenen Lern- und Arbeitsmitteln (→ Medien), denn Fachsprache weist nicht nur komplexe hoch abstrakte Fachtermini auf, sondern eine Viel­ zahl weiterer Merkmale, die Lernenden in der Zweitsprache die Rezeption extrem erschwe­ ren oder sogar unmöglich machen (Rösch 2005). Für einige Fächer liegen beispielhaf­ te Vorschläge vor, die zum Teil in Auslands­ schulen entwickelt worden sind (Leisen 2000).



Spezifische ­DaZ-Förderung bei auffälliger ­Mehrsprachigkeit   593

Tab. 1: Wesentliche Faktoren zur Unterstützung des Zweitspracherwerbs  

 



  

















































































 



Lernende sollen ihrerseits daran gewöhnt werden, stets die Methoden zur Texterschlie­ ßung anzuwenden (Ehlers 2003). Grießhaber plädiert für mehr Gruppen­ arbeit im Unterricht, zu der die Kommuni­ kation in der Gruppe ebenso gehört wie das mündliche Präsentieren des neu erarbeiteten Wissens, was mit erhöhten Anforderungen an die Verständlichkeit der Äußerungen einher­ geht. So wird die Arbeit an der sprachlichen Form funktional. Das trifft noch stärker für die eigenständige schriftliche Fixierung des Gelernten zu. Indem die Lerner zur sprach­ lichen Verarbeitung ihres (Fach-)Wissens veranlasst werden, erweitern sich auch ihre Deutschkenntnisse (Grießhaber 2007).

3.4 Wesentliche Faktoren für ­Zweitspracherwerb und ­Zweitsprachlernen im Überblick Nachfolgend sind entscheidende Faktoren zur Unterstützung des Zweitspracherwerbs tabel­ larisch zusammengefasst (vgl. Tab. 1). Deren Bedeutsamkeit mag je nach Lebensalter wech­

seln, doch nach derzeitigem Wissensstand kann noch keine Gewichtung vorgenommen werden.

4 Spezifische ­DaZ-Förderung bei auffälliger ­Mehrsprachigkeit Viele DaZ-Lernende mit Sprachauffälligkei­ ten gehören zu jenen ca. 4–7 % aller Kinder, bei denen durch interne Beschränkungen der Erstspracherwerb (L1-Erwerb) nicht regulär verläuft und der L2-Erwerb nun ebenso be­ troffen ist (vgl. Rothweiler 2006). Darüber hin­ aus gibt es viele, bei denen die Sprachprobleme allein auf der „marginalisierten Sprachsitua­ tion mit eingeschränkten Sprachrechten und Spracherfahrungen“ (Kracht 2006, 358) beru­ hen. Noch ist es fast die Regel, dass → entwick­ lungsbedingte Sprachstörungen zu spät oder gar nicht erkannt werden (Kracht 2006, 363). Die Behindertenpädagogik, insbesondere die ­Sprachbehindertenpädagogik, widmet sich erst

594 

Deutsch als Zweitsprache

seit ca. fünfzehn Jahren systematisch diesem Handlungsfeld, obwohl schon in den 1980er Jahren der überproportional hohe Anteil von Kindern mit DaZ in den Sonder- bzw. Förder­ schulen zu bemerken war (Kornmann 1991). Bei gravierenden Sprachauffälligkeiten feh­ len bisher weitgehend Entscheidungshilfen, ob spezifische Sprachförderung oder indivi­ duelle sprachtherapeutische Hilfe geboten ist. Für professionelle und spezialisierte Sprach­ in­tervention sind die Pädagoginnen und Pä­ dagogen derzeit noch darauf angewiesen, ihr sprach­t hera­peutisches Fachwissen und DaZ-spezifische Erkenntnisse konstruktiv zu verknüpfen, um individuelle Förder- oder Therapiekonzepte ableiten zu können. Die Empfehlungen der International Association of Logopedics and Phoniatrics (IALP) (→ In­ terkulturalität und Mehrsprachigkeit) ge­ ben dafür eine erste wichtige Orientierungs­ grundlage. Nur durch breite anwendungsbezogene und empirische Forschungen im Zusammen­ hang mit der Entwicklung von Sprachstands­ erhebungsverfahren, die eine angemessene Berücksichtigung mehrsprachiger Entwick­ lung gewährleisten, wird es möglich sein, dass künftig auf gesichertes Wissen über effiziente Wege zur Überwindung sprachlicher Auffäl­ ligkeiten bei Mehrsprachigkeit zurückgegrif­ fen werden kann.

Literatur Bartnitzky, H. & Speck-Hamdan, A. (2005): Sprach­ förderung als Herausforderung. In: Bartnitzky, H. & Speck-Hamdan, A. (Hrsg.): Deutsch als Zweit­ sprache lernen (8–18). Frankfurt a. M.: Grund­ schulverband. Belke, G. (2000): Mehrsprachigkeit im Deutschunter­ richt. Sprachspiele, Spracherwerb und Sprachver­ mittlung. Hohengehren: Schneider. Belke, G. (2007a): Poesie und Grammatik. Hohen­ gehren: Schneider. Belke, G. (Hrsg.) (2007b): Mit Sprache(n) spielen. Ho­ hengehren: Schneider. Bredel, U. (2007): Sprachstandsmessung – Eine ver­ lassene Landschaft. In: Bildungsministerium für Bildung und Forschung (BMBF): Anforderungen

an Verfahren der regelmäßigen Sprachstandsfest­ stellung als Grundlage für die frühe und individu­ elle Förderung von Kindern mit und ohne Migrati­ onshintergrund (78–119). Bonn: BMBF. Cummins, J. (1984): Zweisprachigkeit und Schul­erfolg. Zum Zusammenwirken von linguistischen, sozio­ kulturellen und schulischen Faktoren auf das zwei­ sprachige Kind. Die Deutsche Schule 76, 1, 187–198. Ehlers, S. (2003): Das Leseverständnis von Mi­ grantenkindern und L2-Lesefähigkeit. In: Abra­ ham, U., Bremerich-Vos, A., & Wieler, P. (Hrsg.): Deutschdidaktik und Deutschunterricht nach PISA (297–309). Freiburg: Fillibach. Ehlich, K. (2007): Sprachaneignung und deren Fest­ stellung bei Kindern mit und ohne Migrationshin­ tergrund: Was man weiß, was man braucht, was man erwarten kann. In: Bildungsministerium für Bildung und Forschung (BMBF): Anforderungen an Verfahren der regelmäßigen Sprachstandsfest­ stellung als Grundlage für die frühe und individu­ elle Förderung von Kindern mit und ohne Migra­ tionshintergrund (11–63). Bonn: BMBF. Engin, H. & Walter, S. (2005): Leuchttürme der Pä­ dagogik: Porträts erfolgreicher interkultureller Bil­ dungsarbeit. In: Beauftragter des Senats für Mig­ ration und Integration (Hrsg.): Berliner Beiträge. Berlin: Senatsverwaltung für Migration und Inte­ gration. Gogolin, I. (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster: Waxmann. Grießhaber, W. (2007): Sprachlernen in den Fächern. Münster: WWU. Hölscher, P. (2006): Lernszenarien. Die neue Philoso­ phie des Sprachenlernens. Oberursel: Finken. Hölscher, P. & Piepho, H.-E. (2003–2006): DaZ – Ler­ nen aus dem Koffer. Lernszenarien für Deutsch als Zweitsprache zu verschiedenen Lernfeldern. Ober­ ursel: Finken. Hopf, D. (2005): Zweisprachigkeit und Schulleistung bei Migrantenkindern. Zeitschrift für Pädagogik 51, 2, 236–251. Jeuk, S. (2006): Sprachunterricht in mehrsprachigen Klassen an Förderschulen. Sonderpädagogische Förderung 51, 4, 342–355. Klein, W. (1992): Zweitspracherwerb. Frankfurt a. M.: Hain. Kliewer, H. & Pohl, I. (Hrsg.) (2006): Lexikon Deutschdidaktik. Bd. 1: A–L (74–76). Baltmanns­ weiler: Schneider. Knapp, W. (1999): Verdeckte Sprachschwierigkeiten. Die Grundschule 99, 5, 30–33. Kornmann, R. (1991): Förderdiagnostik für ausländi­ sche Kinder und Jugendliche mit Lernproblemen in der deutschen Schule. MTS-Script 5. Frankfurt a. M.: Max-Trager-Stiftung.



Literatur   595

Kracht, A. (2006): Störungen der Sprachentwicklung im Kontext kindlicher Mehrsprachigkeit. Sonder­ pädagogische Förderung 51, 4, 356–368. Leisen, J. (Hrsg.) (2000): Methoden-Handbuch Deutsch­ sprachiger Fachunterricht (DFU). Bonn: Varus. Motsch, H.-J. (22006): Kontextoptimierung. Förde­ rung grammatischer Fähigkeiten in Therapie und Unterricht. München: Reinhardt. Nodari, C. & Neugebauer, C. (2002): Pipapo – Deutsch für fremdsprachige Kinder und Jugendli­ che, Kommentar. Bern: blmv. Piepho, H.-E. (2003): Lerneraktivierung im Fremd­ sprachenunterricht. „Szenarien“ in Theorie und Praxis. Hannover: Schroedel. Reich, H. (2007): Forschungsstand und Desideraten­ aufweis zu Migrationslinguistik und Migrations­ pädagogik für die Zwecke des „Anforderungsrah­ mens“. In: Bildungsministerium für Bildung und Forschung (BMBF): Anforderungen an Verfah­ ren der regelmäßigen Sprachstandsfeststellung als Grundlage für die frühe und individuelle Förde­ rung von Kindern mit und ohne Migrationshinter­ grund (121–170). Bonn: BMBF. Reichen, J. (1982): Lesen durch Schreiben. Zürich: Sabe. Rösch, H. (2003): Deutsch als Zweitsprache. Grund­ lagen – Übungsideen – Kopiervorlagen zur Sprach­ förderung. Hannover: Schroedel. Rösch, H. (2005): Deutsch als Zweitsprache in der Se­ kundarstufe I. Grundlagen – Übungsideen – Ko­ piervorlagen. Hannover: Schroedel.

Rösch, H. (2006): Das Jacobs-Sommercamp – Neue Ansätze zur Förderung von Deutsch als Zweit­ sprache. In: Ahrenholz, B. (Hrsg.): Kinder mit Migrationshintergrund – Spracherwerb und För­ dermöglichkeiten (287–302). Freiburg i. B.: Filli­ bach. Rothweiler, M. (2006): Spezifische Sprachentwick­ lungsstörung und Zweitspracherwerb. In: Bahr, R. & Iven, C. (Hrsg.): Sprache – Emotion – Bewusst­ heit (154–162). Idstein: Schulz-Kirchner. SenBJS (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport) (2001): Handreichung Deutsch als Zweit­ sprache. Berlin. Schründer-Lenzen, A. & Mücke, S. (2005): Mit oder ohne Fibel – Was ist der Königsweg für die multi­ linguale Klasse? In: Bartnitzky, H. & Speck-Ham­ dan, A. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache lernen (210–222). Frankfurt a. M.: Grundschulverband. Senff, D. (2002): Das Huhn fehlt – Wo ist das Huhn? Grundschule Sprachen 34, 2, 20–24. Stanat, P. & Müller, A. G. (2006): Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshin­ tergrund. In: Bartnitzky, H. & Speck-Hamdan, A. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache lernen (20–32). Frankfurt a. M.: Grundschulverband. Thoma, D. & Tracy, R. (2006): Deutsch als frühe Zweitsprache: Zweite Erstsprache? In: Ahrenholz, B. (Hrsg.): Kinder mit Migrationshintergrund – Spracherwerb und Fördermöglichkeiten (58–79). Freiburg i. B.: Fillibach.

Frühenglisch Anja Blume & Karla Röhner-Münch

1 Sprachförderung im ­Unterrichtskontext ­Frühenglisch Der Begriff „Frühenglisch“ bezeichnet das Un­ terrichtsfach Englisch ab Klasse drei, in eini­ gen Bundesländern sogar ab Klasse eins. Dies entspricht dem europaweiten Trend zur Vor­ verlegung des Fremdsprachenunterrichts aus der Sekundarstufe I in die Primarstufe, der seit mehr als zehn Jahre andauert. Seit 2005 ist die Unterrichtung einer Fremdsprache bereits in der Grundschule in den Ländern Europas obligatorisch – mit Ausnahme Portugals und Großbritanniens. Im aktuellen Bericht der Eu­ ropäischen Kommission zu den „Sprachen für die Kinder Europas“ heißt es: „Der allgemei­ ne Trend bewegt sich dahin, früher zu begin­ nen sowie den Fremdsprachenunterricht über mehrere Jahrgänge hinweg anzubieten“ (Ede­ lenbos et al. 2006, 22). Variationen zeigen sich dabei im Einstiegsalter: Die meisten Länder beginnen den Fremdsprachenunterricht im Alter zwischen acht und zehn Jahren, andere hingegen (Luxemburg, Malta, Norwegen, Bel­ gien, einige Bundesländer Deutschlands, Ita­ lien und Österreich) fangen bereits im ersten Schuljahr an, wobei – laut Bericht – Englisch im Grundschulunterricht die dominieren­ de Fremdsprache ist. Schulen in Estland, den Niederlanden, Finnland und Schweden sowie in einigen autonomen spanischen Provinzen können dar­über selbständig entscheiden. Nach kontroversen Diskussionen (vgl. Bor­ bonus 2001, Fenk & Leisner 2004, Füssenich 2005) folgten in Deutschland auch die Schu­ len mit dem Förderschwerpunkt „Sprache“ dieser Entwicklung. Dies hat sich als not­ wendig erwiesen, da sich dieser Schultyp als Durchgangsschule versteht, welche das Ziel

verfolgt, Chancengleichheit für ihre Schüler­ schaft zu schaffen (→ Institutionen und ihr gesellschaftlicher Rahmenkontext). Durch sprachtherapeutischen Unterricht (→ Sprach­ förderung im Aufgabenfeld Unterricht), son­ derpädagogische Maßnahmen und eine spe­ zielle sprachtherapeutische Förderung soll den Schülerinnen und Schülern der Weg für den Besuch der Regelschule geebnet werden, weshalb hier die gleichen Richtlinien und Lehrplanvorschriften wie an den allgemeinen Schulen gelten müssen.

2 Stand der Forschung zur didaktisch-methodischen ­Unterrichtsgestaltung Der frühbeginnende Englischunterricht hat bis zum heutigen Zeitpunkt zwei Hochphasen mit zwei konkurrierenden Konzepten durch­ laufen (vgl. Blondin et al. 1998). In den ersten Versuchen Anfang der 1970er Jahre dominier­ te der vom üblichen Fremdsprachenunterricht abgeleitete ergebnisorientierte Englischunter­ richt, der so genannte sprachergebnisorientierte Ansatz (z. B. das Braunschweiger Forschungs­ projekt „Frühbeginn des Englischunterrichts“, Doye & Lüttge 1977). Dieser strebt an, inner­ halb von zwei Jahren auf der Grundlage einer elementaren sprachlichen Kompetenz eine in­ terkulturelle Kommunikationsfähigkeit aufzu­ bauen. Dabei steht der Zugewinn an fremd­ sprachlichem Können im Vordergrund. Der Unterricht wird nach sorgfältig ausgewähl­ ten und abgestuften sprachlichen Lernzielen geplant, welche wiederum eine ausreichende sprachliche Basis für eine Fortführung in Klas­ se fünf gewährleisten.



Stand der Forschung zur didaktisch-methodischen ­Unterrichtsgestaltung   597

Im Gefolge der kommunikativen Wende (→  Sprache und Sprechen) wurde in der Zeit zwischen 1990 und 2000 in verschiedenen Bun­ desländern der sprachbegegnungsorientierte Ansatz (z. B. „Hamburger Schulversuch Englisch ab Klasse 3“, Kahl & Knebler 1996) erprobt. Er zielt vorrangig auf eine Sprachbegegnung im inter­ kulturellen Lernen. Die Schüler sollen für ande­ re Kulturen und Sprachen sensibilisiert werden, wobei die Entwicklung der sprachlichen Kom­ petenz eine untergeordnete Rolle spielt. Aus­ gangspunkt für dieses Konzept waren sowohl die europäische Mehrsprachigkeit als auch ver­ stärkt multikulturelle Klassen (→ Interkultura­ lität und Mehrsprachigkeit). Statt sprachlicher Ziele werden die Öffnung und Empfänglichkeit für Sprachen allgemein angestrebt (vgl. Klip­ pel 2000, 11 f.). Die Erprobung dieses Konzep­ tes in den Klassen drei und vier führte zu der Erkenntnis, dass das Erlernen einer fremden Sprache ab Klasse drei der Grundschule mehr sein kann und muss, als ein „sich aus sponta­ nen Anlässen ergebendes, beiläufig-punktuel­ les und unverbindliches ,Beschnuppern‘ einer Fremdsprache“ (Gompf et al. 1999, 5). Derzeit befindet sich der Frühenglisch­ unterricht in einem historischen Wandel, der von einem „ergebnisorientierten Neu­ beginn“ (Mindt & Schlüter 2007, 6) getragen wird. Die zentrale Fragestellung ist, in wel­ cher Form das Lernen im Englischunterricht der Primarstufe realisiert werden soll. Bis­ her dominierte das Lernen durch Nachah­ mung und daraus folgte der ausschließliche Einsatz imitativer Verfahren (→ Interdiszi­ plinäre Theorie des Lehrens und Lernens) (→ Sprachdidaktiktheorie). Bewusstmachen­ de Verfahren, die dem Lernenden zur Ein­ sicht in die zugrundeliegende Struktur der Fremdsprache verhelfen sollen, wurden abge­ lehnt (vgl. Teubner 2006, 62). Solch ein Vor­ gehen ist aufgrund moderner Erkenntnis­ se der Entwicklungspsychologie sowie der Spracherwerbsforschung nicht mehr haltbar (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau). So belegen Forschungsergebnisse, dass Kin­ der bereits im Vorschulalter Abstraktionsleis­ tungen zeigen und sie demzufolge „im Alter

von acht Jahren zur bewussten Reflexion über die Sprache und zu explizitem Sprachwissen“ (Mindt & Schlüter 2007, 30) fähig sind. Dan­ nenbauer (1999, 157) bestätigt dies auch für die Schüler der dritten Klasse an Schulen mit dem Förderschwerpunkt Sprache und betont, für sie sei das „Nachdenken über sprachliche Einheiten und Ordnungsbeziehungen“ nichts „ungewöhnliches mehr“. Hellwig beobachtet, dass Kinder, denen im Englischunterricht Be­ wusstmachung vorenthalten wird, der frem­ den Sprache völlig hilflos gegenüber stehen, dass sie zudem Bewusstmachung direkt ein­ fordern (vgl. Hellwig 1992, 45). Eine weitere Neuerung für den Früheng­ lischunterricht besteht darin, den Lernen­ den Wege für das Lernen mit Hilfe bewusst­ machender Verfahren aufzuzeigen. Mindt & Schlüter (2007, 31 f.) betonen, dass dies nur durch „eine stufenweise Heranführung an die zu vermittelnden Einsichten“ und mit­ tels „kindgemäßer Formen der Bewusstma­ chung“ zu realisieren ist. Zu diesem Zweck hat Mindt (2006, 70 ff.) in Anlehnung an das Modell der „Representational Redescription“ von Karmiloff-Smith (1992) ein Stufenmo­ dell des Sprachenlernens für den frühbegin­ nenden Englischunterricht entwickelt, wel­ ches als neues Unterrichtsmodell gehandhabt wird. Es führt die Lernenden in vier Stufen: 1. vom imitativen Können („Implizit 1“), 2. zum übertragbaren Können („Implizit 2“), 3. zum übertragbaren Wissen („Explizit 1“) 4. bis hin zu formulierbarem Wissen („Expli­ zit 2“). Die Autoren sind sich bewusst, dass nicht alle Lernenden die höchste Stufe des formulierba­ ren Wissens erreichen können. Sie sprechen sich allerdings dafür aus, dass der Englisch­ unterricht der Primarstufe nicht wie bisher bei wiederholenden Verfahren und damit „in der Regel bei der Stufe Implizit 1“ (ebd.) ste­ hen bleiben darf. Dementsprechend empfiehlt der Bericht der Europäischen Kommission, man solle Kindern, die „nicht wesentlich über ein Stadium hinaus kommen, in dem sie zum größten Teil nur auswendig gelernte und vor­

598 

Frühenglisch

gefertigte Äußerungen produzieren können […], zu einer größeren Flexibilität bei der Be­ herrschung der Zielsprache verhelfen“ (Ede­ lenbos et al. 2006, 160). Es wird vorgeschlagen, zwischen „Sprechaktivitäten zur Förderung angstfreier und flüssiger Sprache und solchen, die mehr Wert auf korrekte Grammatik und Vermittlung des tatsächlich Gemeinten legen, zu alternieren“ (Edelenbos et al. 2006, 160). Bewusstmachende Verfahren finden ihre An­ wendung sowohl im Bereich Landeskunde als auch in der Wortschatz- und Grammatikar­ beit.

3 Frühenglisch als ­sprachtherapeutischer ­Unterricht Verbindliche Richtlinie für den frühbeginnen­ den Englischunterricht ist der gemeinsame „Europäische Referenzrahmen für Sprachen“ (Europarat 2001), der die Grundlage für die Rahmenpläne bildet. Er gewährt einen gro­ ßen Spielraum für die Anpassung an die je­ weilige Schülerschaft, so dass auf Grundlage der Förderpläne an die individuellen sprach­ lichen Kompetenzen sprachbeeinträchtigter Schüler angeknüpft werden kann. Ziel des frü­ hen Fremdsprachenunterrichts ist es, „eine auf den Lebenserfahrungen der Kinder basierende Alltagskommunikation zu entwickeln“ (Fenk & Leisner 2004, 176). Die vorhandenen Lehrund Lernmaterialien stellen dabei nur Hilfs­ mittel dar, die nicht in ihrem gesamten Um­ fang verbindlich sind. Gerade der frühbeginnende Englischun­ terricht bietet ein erhebliches sprachtherapeu­ tisches Potenzial, das es im Rahmen des so ge­ nannten „sprachtherapeutischen Unterrichts“ auszunutzen gilt (→ Sprachförderung im Aufgabenfeld Unterricht). Zwischen den all­ gemeinen sonderpädagogischen Prinzipien, den sprachtherapeutischen Maßnahmen und den für den frühbeginnenden Englischun­

terricht geltenden Unterrichtsprinzipien und dessen Methodik (z. B. Lebensnähe und Kind­ gemäßheit, Kleinschrittigkeit, Wieder­holung und Übung in vielfach variierter Form, ho­ her Grad an Anschaulichkeit, gezielter Ein­ satz von → Medien) kommt es zu vielfältigen Überschneidungen. Nach Gründemann & Welling (2002, 105) machen sie eine speziel­ le eigenständige Methodik bzw. Didaktik für den Fremdsprachenfrühbeginn an Schulen mit dem Förderschwerpunkt Sprache über­ flüssig, da sie „konzeptionell keine Perspek­ tive“ bieten würde: „Es kommt jedoch darauf an, dass seitens der Lehrperson die didakti­ sche Begründung und methodische Situati­ onsgestaltung mit großer Sensibilität bedacht wird“. Die in den Rahmenplänen für Englisch vorgeschlagenen Maßnahmen bedürfen so le­ diglich einer Adaptation und Differenzierung für sprachbeeinträchtigte Schüler seitens der Lehrperson. Von Anfang an ist hier die Bereitstel­ lung unterstützender Maßnahmen notwen­ dig.  Diese Hilfen für die einzelnen Schü­ lerinnen und Schüler stellen zugleich eine zusätzliche Bereicherung für alle anderen dar. Um die Sprach- und Sprechanforderungen den individuellen Möglichkeiten anzupassen, werden spezielle Methoden – Modellierungs­ techniken, Phonembestimmtes Manualsys­ tem (PMS), Silbenklatschen, unterstützende Bewegungen etc. – eingesetzt. So wird eine intensive Sprachaufnahme und -verarbeitung mit Hilfe unterschiedlichster Übungsformen gesichert, einschließlich einer ausgedehnten „silent period“. Eine besondere Rolle kommt dabei der Lehrperson zu: Sie sollte den Schü­ lern ein Sprachvorbild sein, das heißt, sie soll­ te über eine korrekte Sprechweise verfügen sowie Mimik, Gestik, Körperhaltung und -bewegung bewusst einsetzen können (Grün­ demann & Welling 2002, 110). Wie einzelne Förderschwerpunkte in den verschiedensten Förderbereichen sprachlich beeinträchtigter Kinder im Rahmen des früh­ beginnenden Englischunterrichts umgesetzt werden können, zeigt das Beispiel der Entwicklung der Wort- und Satzbildung im För­



Zum Verhältnis von ­Mündlichkeit und ­Schriftlichkeit   599

derbereich der morphologisch-syntaktischen Ebene. Zur spezifischen Förderung dieses Be­ reichs kann der Englischunterricht in vielfäl­ tiger Art und Weise methodisch-didaktisch gestaltet werden: • Einsatz von chants, songs, action songs, action poems, games und dem storytelling, • bewusstmachende Hilfen: farbige Markie­ rungen, Unterstreichungen, Betonung/In­ tonation, Signalkarten, Wort- und Bild­ karten, substitution table, Schrift, • inszenierter Spracherwerb zur Entwick­ lung grammatischer Strukturen in der Muttersprache und in der Fremdsprache, • häufige Wiederholung der Zielstrukturen in vielfach variierter Form, • Einsatz von Zuordnungs- und Sortierauf­ gaben zur Bewusstmachung, • Zuordnung von Satzteil-Symbolen zur Verdeutlichung der Subjekt-Prädikat-Ob­ jekt-Struktur (SPO), • Vorentlastung des Sprachmaterials zur Fo­ kussierung auf die grammatische Struktur, • Visualisierung durch flashcards, • sprachbegleitende Bewegung, • Anzeigen der Satzmelodie und Intonation: z. B. durch die Hand der Lehrperson, Fin­ gerschnipsen, Takt auf dem Oberschenkel mitschlagen, • Rhythmisierung von Sprache (chants, songs), • Einsatz von Modellierungstechniken sei­ tens der Lehrperson. Die Ideen für die unterrichtliche Umsetzung der Förderschwerpunkte in den einzelnen För­ derbereichen, auf die es auch im Englischun­ terricht bei sprachlich beeinträchtigten Kin­ der besonders zu achten gilt, zeigen, welch ein erhebliches therapeutisches Potenzial dem Frühenglischunterricht innewohnt. Gleichzei­ tig wird deutlich, dass sich sprachtherapeuti­ sche Maßnahmen gut in den frühbeginnen­ den Englischunterricht integrieren lassen. Es ist sogar auffällig, dass sich Lehrwerke und Fachzeitschriften für den Frühenglischunter­ richt an Grundschulen in ihren Unterrichts­ vorschlägen gezielt solcher unterstützenden sprachtherapeutischen Maßnahmen bedie­

nen. Der frühe Englischunterricht mit seinem sprachtherapeutischen Potenzial sorgt für eine gesamtsprachliche Förderung und ist somit optimal in die sprachheilpädagogische Förde­ rung zu integrieren.

4 Zum Verhältnis von ­Mündlichkeit und ­Schriftlichkeit Im Mittelpunkt des Englischunterrichts steht die Schulung der „Four Skills“, das heißt der Modalitäten (→) Hören und Sprechen sowie (→) Lesen und Schreiben. Grundsätzlich gilt: Man kann nichts sprechen, was man nicht zu­ vor gehört hat, man kann nichts schreiben, was man nicht zuvor gelesen hat. Nach wie vor hat im Frühenglischunterricht das Mündliche Vorrang. Dies bedeutet jedoch nicht, gänzlich auf Schrift zu verzichten. Im Gegenteil: Den Lernenden, insbesondere auch sprachentwick­ lungsbeeinträchtigten Kindern (→ Entwick­ lungsbedingte Sprachstörungen), dürfen die Vorteile des Schriftbildes als metasprachliches Hilfsmittel für die Verbesserung der mündli­ chen Sprache nicht vorenthalten werden. Bei­ spiele für die metasprachliche Nutzung der Schrift sind z. B.: • Bewusstmachung der gesprochenen Spra­ che durch Schrift, • Reflexion der eigenen linguistischen Ord­ nung, • Anwendung als Verständnishilfe. Letzteres ist unverzichtbar, da sich häufig aus der Lautform nicht unbedingt die Bedeutung erkennen lässt (z. B. you’re vs. your; it’s vs. its). Das Schriftbild dient der Lernerleichte­ rung. Eine Analyse der schriftlichen Sätze hat positive Rückwirkungen auf die gesproche­ ne Sprache (vgl. Füssenich 2004, 241 ff.). Das Schriftbild darf allerdings erst dann zum Ein­ satz kommen, wenn sowohl das Hörverste­ hen als auch das Sprechen des zu erlernenden Sprachelements vollständig gesichert sind.

600 

Frühenglisch

4.1  Förderung der Mündlichkeit Bevor Schülerinnen und Schüler sich fremd­ sprachlich äußern, durchlaufen die Lernen­ den die so genannte „silent period“. In diesem Zeitraum rezipieren sie das ihnen präsentier­ te Sprachmaterial, bauen ein neues inneres Sprachsystem auf und überprüfen ihr eigenes Können. Wichtig ist, dass die zu erlernenden Sprachphänomene wiederholt in unterschied­ lichsten Kontexten auftreten und mit Nach­ barphänomenen kontrastiert werden. Ein sol­ ches Vorgehen hilft den Lernenden relevante Informationen zu abstrahieren. Die silent period dauert unterschiedlich lang: Schüler und Schülerinnen mit beeinträchtigter Sprache be­ nötigen eine erheblich längere Aufnahmephase als sprachunauffällige. Für sie ist ein intensives Sprachangebot in vielfältigsten Übungsformen notwendig wie z. B. das Total Physical Response (TPR), das ihnen ein Hantieren mit der Sprache ermöglicht, ohne selbst sprechen zu müssen. Das Hörverständnis ist ein Vorgang, bei dem die Schüler hochkomplexe Leistungen erbringen müssen: • Phoneme und Wortgrenzen des eingehen­ den Lautstroms erkennen, • die Lage des Wortakzents korrekt interpre­ tieren (z. B. insult vs. to insult), • anhand der Tonhöhen erkennen, ob es eine Aussage oder Frage ist, • Wörtern und einer Abfolge von Wörtern die richtige Bedeutung zuordnen sowie • das Gehörte in den richtigen Sinnzusam­ menhang bringen. Ohne ein intensives Einhören wäre dies al­ les nicht möglich. Die Lehrperson ist das ent­ scheidende Sprachvorbild, native speakers sollten hinzutreten. Die Überprüfung des Hörverständnisses erfolgt nie verbal abstrakt, sondern immer über Handlungen auf gege­ bene Sprachimpulse, z. B. Anweisungen aus­ führen, Gehörtes durch kleine Zeichnungen darstellen, Gegenstände bzw. Bildkarten iden­ tifizieren sowie das Aufzeigen von farbigen Karten für „richtig“ oder „falsch“ (Mindt & Schlüter 2007, 52 ff.).

Wurde das Gehörte verstanden, so folgen nacheinander: • das reproduktive Sprechen bzw. auch Mit­ sprechen (als Chorsprechen und Sprechen in kleinen Gruppen, bei dem der Sprech­ rhythmus des Sprechers übernommen wird), • das Nachsprechen (zunächst gemeinsam einzelne Sätze oder Wörter, später alleine) und • das impulsgesteuerte Sprechen (als Impulse dienen z. B. Bilder oder Fragen). Die gleiche Vorgehensweise gilt auch für die Einführung rhythmisierter Texte in Form von rhymes, chants und songs. Erst jetzt schließt sich das produktive Sprechen an und zwar als gelenktes Sprechen, z. B. das Sprechen auf visuelle oder sprachliche Impulse (zunächst einzelne, dann mehrere Wörter bis hin zu kurzen Sätzen) und als freies Sprechen. Dies besteht anfangs aus Kurzdi­ alogen und auf der nächsten Stufe aus kurzen Erzählungen oder Beschreibungen.

4.2  Förderung der Schriftlichkeit Die Einführung des Schriftbildes erfolgt eben­ falls behutsam in sieben Stufen vom Wort zum Satz, hin zum Text und vom stillen zum lauten Lesen (Mindt & Schlüter 2007, 57): • Stufe 1: Wortkarten (Einzelwort) still le­ sen, den Wortkarten Bildkarten zuordnen, • Stufe 2: Wortkarten (Einzelwort) laut vor­ lesen, • Stufe 3: Wortkarten zu (kurzen) Sätzen zu­ sammenfügen, • Stufe 4: einen (kurzen) Satz still lesen, den Satz einem Bild zuordnen, • Stufe 5: einen (kurzen) Satz laut vorlesen, • Stufe 6: (kurze) Sätze still lesen und zu ei­ nem kurzen Text zusammenfügen, • Stufe 7: einen kurzen Text laut lesen. Ähnlich unterschieden wird beim Schreiben: Das reproduktive Schreiben steht im Mittel­ punkt der Klassen drei und vier. Es führt über



Literatur   601

das Abschreiben von einzelnen Wörtern, Sät­ zen und Texten hin zum Schreiben nach Diktat (Einzelwörter, kurzer Satz, kurzer Text). Das produktive Schreiben erfolgt zunächst auf sprachliche oder visuelle Impulse hin als ­Schreiben nach Vorgabe. Nur zuvor mündlich Erarbeitetes kann hier schriftlich wiedergege­ ben werden. Das selbständige Schreiben stellt die höchste Lernstufe dar, die erst zum Ende der Klasse vier erwartet werden kann.

5 Ausblick: Frühenglisch und Differenzierung Inwieweit sich das skizzierte Konzept von Mindt & Schlüter (2007) für den Früheng­ lischunterricht mit sprachlich beeinträchtig­ ten Kindern in breitem Umfang bewährt, sollte möglichst bald evaluiert oder empirisch über­ prüft werden (→ Qualitätsentwicklung und Evaluationsforschung) (→ Unterrichts- und Therapieforschung), da es ganz grundsätzliche Bedenken hinsichtlich des Nutzens bzw. Lern­ effekts von frühem Fremdsprachunterricht gibt (Stern, Grabner & Schumacher 2005). Bei der weiteren inhaltlichen Ausgestal­ tung des Konzepts wird vermutlich die um­ fassende Gewährleistung individueller Dif­ ferenzierung einen Schwerpunkt bilden. So kann z. B. im Bereich Hören und Verstehen die rezeptive Phase für Schülerinnen und Schüler mit ungünstigen Lernvoraussetzungen zeit­ lich ausgedehnt und mit einem vielfältigeren Übungsangebot verbunden werden. Das Aus­ schöpfen der immensen Möglichkeiten au­ diovisueller Unterstützung (→ Medien) steht erst am Anfang. Danach ist wiederum mehr Zeit für das reproduktive Sprechen notwendig, bis dem lernbeeinträchtigten Kind nach einer langen interaktiven Einübungsphase auch das produktive Sprechen nach Impulsen möglich sein wird. Die Einführung des Schriftbildes darf bei sprachlich beeinträchtigten Schülerin­ nen und Schülern erst auf der Basis einer ge­

wissen Sprachvertrautheit erfolgen, wodurch im Lesen meist nur die Stufe fünf erreicht werden wird. Das reproduktive Schreiben setzt nicht vor dem zweiten Halbjahr der Klasse drei ein und stützt sich stets auf ein bekanntes Schriftbild. Nur bei Schülern mit guten Vor­ aussetzungen kann das Schreiben nach Vorgaben oder selbständiges Schreiben bis zum Ende der vierten Klasse erwartet werden. Eine in­ nere Differenzierung der Vorgehensweise und Angebote scheint unerlässlich zu sein. Das Aufzeigen realistischer Perspektiven hinsichtlich des Frühenglisch-Unterrichts für sprachbeeinträchtigte Schüler und Schülerin­ nen wird erst möglich sein, wenn durch fachli­ chen Erfahrungsaustausch und systematische Forschung fundierte Ergebnisse vorliegen.

Literatur Blondin, C., Candelier, M., Edelenbos, P., Johnstone, R., Kubanek-German, A. & Taeschner, T. (1998): Fremdsprachen für die Kinder Europas: Ergebnis­ se und Empfehlungen der Forschung. Berlin: Cor­ nelsen. Borbonus, T. (2001): Englisch in der Grundschule. Die Sprachheilarbeit 46, 6, 246. Dannenbauer, F. M. (1999): Grammatik. In: Baum­ gartner, S. & Füssenich, I. (Hrsg.): Sprachtherapie mit Kindern (105–161). München: Reinhardt. Doyé, P. & Lüttge, D. (1977): Untersuchungen zum Englischunterricht in der Grundschule. Bericht über das Braunschweiger Forschungsprojekt „Früh­ beginn des Englischunterrichts“. Braunschweig: Westermann. Edelenbos, P., Johnstone, R. & Kubanek, A. (2006): Die wichtigsten pädagogischen Grundsätze für die fremdsprachliche Früherziehung. Sprachen für die Kinder Europas. Forschungsveröffentlichungen, gute Praxis & zentrale Prinzipien. Endbericht der Studie EAC 89/04 (Lot 1). Brüssel: Europäische Kommission. Europarat (2001): Gemeinsamer europäischer Refe­ renzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurtei­ len. Berlin: Langenscheidt. Fenk, S. & Leisner, A. (2004): Fremdsprachenunter­ richt mit sprachbehinderten Kindern – Eine He­ rausforderung für Lernende und Lehrende?! Die Sprachheilarbeit 49, 4, 175–181. Füssenich, I. (2004): Lesen und Schreiben bei sprach­ gestörten Kindern und Jugendlichen. In: Grohn­

602 

Frühenglisch

feldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädago­ gik und Logopädie. Bd. 5: Bildung, Erziehung und Unterricht (234–247). Stuttgart: Kohlhammer. Füssenich, I. (2005): Frühes Fremdsprachenlernen oder Begegnung mit fremden Sprachen und Kul­ turen – Herausforderung oder Überforderung für Kinder mit Sprach- und Lernproblemen. Die Sprachheilarbeit 50, 3, 116–122. Gompf, G., Meyer, E. & Helfried, H. (Hrsg.) (1999): Zehn Jahre „Kinder lernen europäische Sprachen e. V.“ Bestandsaufnahme und Perspektiven. Leip­ zig: Klett. Gründemann, A. & Welling, A. (2002): Kinder mit sprachlicher Beeinträchtigung lernen Fremdspra­ chen. In: Decke-Cornill, H. & Reichart-Wallra­ benstein, M. (Hrsg.): Fremdsprachenunterricht in medialen Lernumgebungen (105–119). Frankfurt a. M.: Lang. Hellwig, K. (1992): Fremdsprachen in der Grund­ schule zwischen Spielen und Lernen. In: Gompf, G. (Hrsg.): Fremdsprachenbeginn ab Klasse 3: Lernen für Europa (38–50). Berlin: Cornelsen. Kahl, P. W. & Knebler, U. (1996): Englisch in der Grundschule – und dann? Evaluation des Ham­ burger Schulversuchs „Englisch ab Klasse 3“. Ber­ lin: Cornelsen.

Karmiloff-Smith, A. (1992): Beyond modularity: A developmental perspective on cognitive science. Cambridge (MA): MIT. Klippel, F. (2000): Englisch in der Grundschule. Handbuch für einen kindgemäßen Fremdspra­ chenunterricht. Übungen, Spiele, Lieder für die Klassen 1 bis 4. Berlin: Cornelsen. Mindt, D. (2006): Von der Imitation zur bewussten Verwendung von Sprachmitteln: Ein neues Unter­ richtsmodell. In: Schlüter, N. (Hrsg.): Fortschritte im Frühen Fremdsprachenlernen (68–74). Berlin: Cornelsen. Mindt, D. & Schlüter, N. (2007): Ergebnisorientierter Englischunterricht. Berlin: Cornelsen. Schlüter, N. (2006) (Hrsg.): Fortschritte im Frühen Fremdsprachenlernen. Berlin: Cornelsen. Stern, E., Grabner, R. & Schumacher, R. (2005): LehrLern-Forschung und Neurowissenschaften: Er­ wartungen, Befunde und Forschungsperspektiven. Reihe Bildungsreform Bd. 13. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Teubner, K. (2006): Bewusstmachende Verfahren: Fortschritt oder Behinderung? In: Schlüter, N. (Hrsg.): Fortschritte im Frühen Fremdsprachen­ lernen (62–67). Berlin: Cornelsen.

Sachunterricht Hildegard Mönter

1 Welterschließung: ­Sprachförderung im ­Unterrichtskontext ­Sachunterricht Von den unterschiedlichen Zielen, die dem Sachunterricht in der Literatur zugeschrieben werden, ist die vorrangige Aufgabe, Schülerin­ nen und Schülern Hilfe und Orientierung zur Erschließung und Mitgestaltung ihrer Lebens­ wirklichkeit zu geben. Weitgehend herrscht Konsens darüber, dass dieses Unterrichtsfach den grundlegenden Bildungsauftrag hat, die Schülerinnen und Schüler dabei zu unterstüt­ zen, • sich Wissen über die natürliche, soziale und technisch gestaltete Umwelt anzueig­ nen, • sich mit Hilfe dieses Wissens in der Gesell­ schaft zunehmend selbständig und verant­ wortlich zu orientieren und • in gegenwärtigen und zukünftigen Le­ benssituationen kompetent zu urteilen und zu handeln. Auf diese Weise erschließt sich dem heran­ wachsenden Menschen die „Welt“, in der er lebt. Diese „Welterschließung“ (Faust-Siehl 1996) ist demnach kein objektiv zu vermitteln­ der „Gegenstand“: Lernen im Sachunterricht kann nicht verstanden werden als das Abbil­ den der Welt oder Aufnehmen eines scheinbar objektiven Weltwissens. Entscheidend für das Gelingen eines Lernprozesses, der als individu­ elle Konstruktion eines an bisherige Erfahrun­ gen anknüpfenden Wissens verstanden wird, ist eine weitgehend selbstgesteuerte, aktiv han­ delnde Auseinandersetzung mit Phänomenen der Lebenswelt der Schülerinnen und Schü­ ler. Vor diesem Theoriehintergrund bedeutet

Sach­unterricht nicht allein das Vermitteln von Wissen, sondern das Organisieren und Unter­ stützen von Erfahrungs-, Handlungs- und vor allem Kommunikationsprozessen. Gemeinsame „Wirklichkeit“ entsteht durch den Austausch und das Abgleichen individueller Denkmus­ ter, ihrer Deutungen und tradierter Wissens­ basis, wie es besonders in den vielfältigen Ex­ perimentierphasen deutlich wird. Der Sachunterricht hat dem konstruktivistischen Theorieverständnis (→ Sprachdidak­ tiktheorie) von Klein & Oettinger (2000) fol­ gend eine doppelte Aufgabe: Zum einen sind Situationen und Räume zu schaffen, in denen individuelle Erfahrungen mit (exemplarischen) Phänomenen der Le­ benswelt gemacht werden können: Erfahrun­ gen, die – im handelnden Vollzug – also ge­ plant, bewusst durchgeführt und distanziert reflektiert – Probleme und Anregungen erle­ ben lassen, die bisheriges Wissen und bishe­ rige individuelle Denkstrukturen nutzen und zu deren Erweiterung oder Korrektur her­ ausfordern. Dies kann sowohl in didaktisch aufbereiteten Lernumgebungen mit Infor­ mations- und Lernmaterialien geschehen als auch an „originalen“ Lernorten und/oder in der Begegnung mit anderen Menschen. Die­ se Lernumgebungen sind stets so zu gestalten oder auszuwählen, dass in ihnen eine experi­ mentelle Konfrontation bisheriger Konstruk­ tionen von Welt mit der Umwelt stattfinden kann (vgl. Kaiser 2006). Zum anderen sind durch die verschiede­ nen Themen gemeinsame Kommunikations­ anlässe zu schaffen, die als die Instanz ge­ meinsamen Lernens bzw. der Gewinnung gemeinsamen Wissens und der Schaffung ei­ ner gemeinsamen Wirklichkeit zu sehen sind. Nicht das Finden vermeintlich „richtiger“ Ergebnisse, sondern der offene Austausch von Möglichkeiten und das individuelle Ver­

604 

Sachunterricht

ständnis zählen. Dazu ist es nötig, dass alle Beteiligten die Entstehung ihrer Konstruktionen in der sprachlichen Auseinandersetzung nachvollziehbar und damit transparent er­ scheinen lassen.

2 Zentrale Erkenntnisse der Sprachförderung im ­Sachunterricht Sprachentwicklung ist kein isolierter Vorgang, sondern Teil einer umfassenden Gesamtent­ wicklung. Spracherwerb ist in einen ganzheit­ lichen Entwicklungsplan sensorischer, moto­ rischer, kognitiver, emotionaler, sozialer und kommunikativer Funktionsbereiche eingeord­ net, die sich in ihrer Wirkungsweise gegensei­ tig beeinflussen. So sind auch die Angebote zu den verschie­ densten Themen im Sachunterricht Teil eines komplexen Sprachförderansatzes, der die Ent­ wicklung sprachlich-kommunikativer Kom­ petenzen als einen ganzheitlichen, mit ande­ ren Entwicklungsdimensionen untrennbar verknüpften Prozess versteht. Sprachförder­ liche Bedingungen entstehen in den Situatio­ nen, in denen die Interaktion vom Kind und seinen Kommunikationspartnern als erfolg­ reich wahrgenommen wird. Das Kind kann seine ganze Aufmerksamkeit auf die Sprache seiner Partner richten und das gemeinsame Handeln regt das Kind zur Weiterentwicklung seiner sprachlichen Strukturen an. Der Sach­ unterricht bietet dafür ein besonderes Poten­ zial, denn er ermöglicht komplexe Situationen, in denen die Schülerinnen und Schüler han­ delnd und sprachlich kommunizierend an ei­ genen oder gemeinsamen Themen arbeiten. Im Unterricht mit sprachbeeinträchtig­ ten Schülerinnen und Schülern (→ Ästheti­ sche Kommunikation) (→ Psychomotorische Sprachförderung) kann der Sachunterricht ein entwicklungsförderndes Potenzial bieten durch: • eine positive Selbsterfahrung in einer anre­ genden Umgebung, optische und akustische

Differenzierungsmöglichkeiten (erkennen, vergleichen, beobachten), Erweiterung des Sachwissens sowie Interesse, Geduld und Ausdauer, eigene Neigungen zu erkennen, • eine soziale Situation, in der gemeinsa­ mes Handeln mit allen Sinnen mit ande­ ren Mitschülern und Erwachsenen unter­ stützt wird, zum eigenen Training und zur Erfahrung von Glücksgefühl, Hilfsbereit­ schaft, Bedürfnis nach eigener Verantwor­ tung sowie Konfliktverarbeitung, • einen Handlungsrahmen, in dem Sprache als effektives Kommunikationsmittel er­ probt und erfahren werden kann, zur We­ ckung von Sprachfreude, Lesemotivation und sprachlicher Verbesserung (Phonetik/ Phonologie, Morphologie, Syntax, Seman­ tik, Redefluss). Durch die Wechselwirkung zwischen den ein­ zelnen Potenzialen wird deutlich, dass die Sprache als wesentliches Element der Kommu­ nikation die kognitive Entwicklung beeinflusst. Wenn also die Dimension „Verständigung untereinander“ im Sachunterricht betrach­ tet wird, kommt die Erfahrung zum Tragen, dass es für die Schülerinnen und Schüler mit sprachlichen Beeinträchtigungen verschiedene sprachliche Möglichkeiten gibt, sich auszudrü­ cken, etwas mitzuteilen oder etwas aufzuneh­ men. Als sprachliche Perspektive stellt die Ver­ ständigung Wissen über Formen und Regeln der gesprochenen Sprache und Informations­ entnahme aus Texten zur Verfügung. Die Sprachförderung hängt also besonders von der stimulierenden Wirkung der sozialen Umwelt der Schülerinnen und Schüler und von der Möglichkeit der aktiven Auseinan­ dersetzung mit diesen Möglichkeiten ab.

3 Durch Sprache entsteht eine Welt Erfahrungen, Experimentieren und Sprechen führen zum Erschließen- und Erklären-Kön­



Durch Sprache entsteht eine Welt   605

nen der Welt. Dies geschieht in drei verschie­ denen Stufen, die sich daraus ergeben und miteinander vernetzen lassen (vgl. Glumper & Wittkowske 1996). Eine kurze Erläuterung an dem Unter­ richtsbeispiel einer Unterstufenklasse mit dem Förderschwerpunkt Sprache: „Wir ler­ nen die Unterscheidung von rechts und links“ soll die einzelnen Stufen verdeutlichen. Zunächst ergibt sich die erste Stufe der all­ täglichen Erfahrung: Kinder entdecken neue ungewohnte Phänomene oder sehen schein­ bar Vertrautes in einem anderen Licht, so dass es ihnen als ein Neues, Unbekanntes er­ scheint. Sie beschreiben Erfahrungen vorerst mit eigenen Worten. Dabei ordnen sie ihre Wahrnehmung und schärfen die Sinne. Ihre Versprachlichungen sind Ausdruck des Su­ chens und noch nicht des Formulierens. Zur Stufe 1: Beim Betreten des Klassenraumes erhal­ ten die Kinder ein rotes Band an das rechte Handgelenk. Auf der zweiten Stufe folgt die experimentel­ le Darstellung: Exprimentieren, Folgerungen und Einsichten müssen klar und so deutlich wie möglich in der Kindersprache formuliert und gegebenenfalls anschaulich visualisiert werden. Dabei müssen die Argumente klar, verlässlich und vor allem jedem Kind zugäng­ lich sein. Zur Stufe 2: Mit dem Einsatz des Stationenlernens, das durch die Schaffung einer multifaktoriellen Lernsituation die Bereiche Wahrnehmung, Sprache, Kognition, Emotion und Sozia­ bilität umfasst und die Verbindung unter­ schiedlicher Eindrücke und Erfahrungen mit dem Lerngegenstand anbietet, wird eine ganzheitliche Auseinandersetzung und Erfassung möglich gemacht. Diese Metho­ de schafft den Schülerinnen und Schülern Sicherheit und Abwechslung, da die Grund-

struktur immer wieder erkennbar wird, während gleichzeitig verschiedene Va­ riationen auftreten. Die Schüler wählen sich selbst einen Partner und entscheiden über Reihenfolge, Intensität und Bearbei­ tungstempo der Übungen. Dies wird im Weiteren durch den Einsatz von Symbolen unterstützt, da die Schüler so ihren Lern­ prozess organisieren können. Das Lernen mit einem Partner gibt hierbei Sicherheit und macht unmittelbare Kommunikation zwischen den Schülern möglich. Auf der dritten Stufe folgt die bildhafte und sprachliche Darstellung: Die Kinder sollen den Weg vom Elementaren zum Allgemeinen über die eigenen Erfahrungen nachvollziehen können. Zur Stufe 3: Die Schüler stellen in einer Abschlussrunde ihre Arbeitsergebnisse vor, indem sie sich sprachlich oder bildlich zu ihren Ergebnis­ sen äußern. Die Rückübertragungen wiederum von na­ turwissenschaftlich Elementarem auf die all­ täglichen Erfahrungen und Wahrnehmungen sollen daher genauso gepflegt werden wie die Weiterentwicklung in Richtung der wissen­ schaftlichen Begrifflichkeit und Sprache. Fazit: Erst erfahren, dann beobachten, an­ schließend beschreiben mit eigenen Wor­ ten; danach experimentieren und schließlich allgemein verständlich erklären (vgl. Köhn­ lein 1999). Sachbezogenes Lernen ist eng mit sprachlichem Handeln verbunden, auf diese Weise entsteht ein Bild, eine Erfahrung von „Welt“ für die Schülerinnen und Schüler.

606 

Sachunterricht

4 Die Bedeutung von ­Vertrautheit für die Sprache im Sachunterricht Sachunterricht sollte die methodische Vielfalt fachbezogener Leistungsmessung ausschöpfen und sich nicht auf das schriftliche Abfragen von „Merktexten“ beschränken. Nur so kann er bei den Schülern, die häufig Miss­erfolge bei den notwendig sprachgebundenen Lern­ kon­trollen verarbeiten müssen, eine positive Selbstkonzeptentwicklung und das Selbst­ wertgefühl fördern (vgl. Kahlert & Juckemann 2001). Im Vermittlungs- und Kommunikati­ onsprozess über sachkundliche Themen spie­ len sowohl die Sprache als auch die bildliche Darstellung eine zentrale Rolle. Beide Metho­ den bieten ein breites Spektrum und ein großes Aufforderungsangebot an Beschreibungs- und Erklärungsmöglichkeiten für Schülerinnen und Schüler mit sprachlichen Beeinträchti­ gungen. Altersgemäße und interessensspezifische Angebote zu Themen im Sachunterricht sind Teil eines komplexen Sprachförderansatzes, der die Entwicklung sprachlich-kommunika­ tiver Kompetenzen als ganzheitlichen Prozess versteht. Sprachfördernde Situationen entste­ hen in solchen Momenten, in denen die Schü­ lerinnen und Schüler ihre Aufmerksamkeit auf die Kommunikation mit den Partnern richten können und in denen das gemeinsa­ me Handeln zur Weiterentwicklung der eige­ nen sprachlichen Strukturen angeregt wird. In dieser Situation wird das Selbstwertgefühl gestärkt. Der Sachunterricht bietet dafür ein besonderes Potenzial, denn durch komplexe Spiel- und Handlungssituationen ermöglicht er den Schülerinnen und Schülern gemeinsam handelnd und sprachlich kommunikativ an Themenangeboten zu arbeiten. So bietet sich an einem ausgiebigen Regentag beispielsweise die Thematik an, ein Schiff zu bauen, das auf einer Pfütze fahren kann. Aber nicht nur eins, das so dahin treibt, sondern ein Schiff, das von alleine mit einem richtigen Antrieb fährt.

Für den Schiffsrumpf bietet sich ein Material an, das leichter als Wasser und natürlich was­ serfest ist. Es muss sich auch leicht schneiden oder sägen lassen. Holz oder Styropor wäre gut. Nun werden verschiedene Antriebsmöglichkeiten gebaut, die das Schiff zum Fahren bringen. Mit Gummis, Eislöffelchen, Luftbal­ lon, Teelichter und einem ausgeblasenen Ei und noch weiteren einfachen Mitteln kann mit der Konstruktion begonnen werden. Die Schülerinnen und Schüler sollten sich dabei in einer geschützten und stressfreien Situation befinden. In diesem Raum der Ak­ zeptanz, Kompetenz und Autonomie, der ein wesentlicher Faktor für den Aufbau eines po­ sitiven Selbstwertgefühls darstellt, streben die Schüler danach, selbst etwas zu leisten bzw. herauszufinden und sich darüber mitzutei­ len. In dieser Phase wird die Grundlage dafür gelegt, dass sich das Kind selbst als Urheber eines Produktes oder einer Handlung erlebt. Gestützt wird diese Annahme durch Befunde der älteren Spielforschung: Kinder wollen mit Sachen kompetent umgehen können, sie wol­ len eine Wirkung hervorrufen und diese auf sich zurückbeziehen (vgl. Einsiedler 1985). Sie verknüpfen das Handlungs- und Dokumen­ tationsergebnis mit ihrer eigenen Tüchtigkeit und damit entsteht ein erstes Selbstkonzept eigener Fähigkeiten, ein positives Selbst­ wertgefühl. Im Unterricht von Kindern mit Sprachbeeinträchtigungen sollte der Sach­ unterricht eine entwicklungsfördernde Leis­ tungsfähigkeit bieten • durch eine soziale Situation, in der gemein­ sames Handeln und Erfahren mit anderen Schülerinnen und Schülern stattfindet, • ein Miteinander, das auch von Erwachse­ nen begleitet und unterstützt wird, • einen Handlungsraum, in dem Sprache als Verständigung erprobt und erfahren wer­ den kann, • positive Selbsterfahrungen in einer sprach­ anregenden Umgebung und • eine grundlegende Förderung der persön­ lichen Interessenskompetenzen.

Literatur   607



5 Ausblick: Kompetenz­ orientierte Verknüpfung von Sprachförderung im Kontext ­Sachunterricht Nach diesen Ausführungen lassen sich mittelba­ re und unmittelbare ­Zusammenhänge zwischen handlungsintensivem Lernen im Sachunter­ richt in der Schule mit dem Förderschwerpunkt Sprache und der Förderung von Selbstvertrau­ en in der Sprachförderung beobachten. Sie be­ treffen die folgenden Kompetenzen: Sprachkompetenz Die Sprache im Sachunterricht knüpft an die Alltagssprache der Schülerinnen und Schüler an und führt zu einer sachgemä­ ßen Versprachlichung der Beobachtungen, der Entdeckungen und der Erkenntnisse. Daraus folgend erwerben die Schülerinnen und Schüler die nötigen Fachbegriffe durch handelnde Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand. Lesemotivation Weiterhin fördert der Sachunterricht durch die meist schriftliche Aufgabenstellung und bei der Informationssuche gezielt die Lese­ kompetenz der Schülerinnen und Schüler. Texterstellung Schließlich erweitert eine Verschriftlichung durch die Dokumentation und Präsenta­ tion der Lernergebnisse bei den Schülerin­ nen und Schülern systematisch die Fähig­ keit, sachangemessene Texte zu verfassen. Auf Grund der Anregungen und vielfältigen Möglichkeiten sprachlichen Handelns fordert und fördert der Sachunterricht die Sprach­ kompetenz. Nach Faust-Siehl (1996) trägt der Sachunterricht in erheblichem Maße dazu bei,

dass die Schülerinnen und Schüler sich ihre Welt selbst erschließen und ihre Erlebnisse darstellen können. Gleichzeitig unterstützen die sprachlichen Fähigkeiten die Schüler, prä­ ziser zu denken und Sachverhalte zu klären; mit Sprache konstruieren sie sich ihre Welt. Wenn Kindern die Worte fehlen, können sie die Vorgänge auch nicht begreifen; über den handlungsorientierten Zugang finden jedoch auch die Kinder Worte, die sonst kaum welche finden würden. Da die Umwelt der Schülerinnen und Schüler weitaus mehr sinnvolle Lernmöglich­ keiten bietet, als in der Schule genutzt wer­ den können, bedarf es einer spezialisierten didaktischen Disziplin, die systematisch da­ nach fragt, welches auf die natürliche und so­ ziale Umwelt bezogene Wissen bzw. Können die Schüler erwerben sollen, das ihre Sprach­ förderung in erheblichem Maße unterstützen kann.

Literatur Einsiedler, W. (1985): Aspekte des Kinderspiels. Weinheim: Beltz. Faust-Siehl, G. (1996): Die Zukunft beginnt in der Grundschule. Empfehlungen zur Neugestaltung der Grundschule. Frankfurt a. M.: Rowohlt. Glumpler, E. & Wittowske, S. (1996): Sachunterricht heute. Zwischen interdisziplinärem Anspruch und traditionellem Fachbezug. Bad Heilbrunn: Klink­ hardt. Kaiser, A. (2006): Neue Einführung in die Didaktik des Sachunterrichts. Baltmannsweiler: Schneider. Kahlert, J. & Juckemann, E. (Hrsg.) (2001): Wissen, Können und Verstehen – Über die Herstellung ih­ rer Zusammenhänge im Sachunterricht. Bad Heil­ brunn: Klinkhardt. Klein, K. & Oettinger, U. (2000): Konstruktivismus. Die neue Perspektive im (Sach-)Unterricht. Balt­ mannsweiler: Schneider. Köhnlein, W., Marquardt-Mau, B., Schreier, H. (1999): Vielperspektivisches Denken im Sachun­ terricht. Forschung zur Geschichte des Sachunter­ richtes, Bd. 3. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Ästhetische Kommunikation Elfi Quiram-Jurkiewicz & Christel Rittmeyer Schülerarbeiten: „KunstRaum Dresden“

1 Sprachförderung im Kunstunterricht: Stand der Forschung In den kunstpädagogischen/-didaktischen Konzepten des 20. und 21. Jahrhunderts wer­ den unterschiedliche Termini zur Bezeich­ nung des Lerngegenstandes Kunst verwendet, die jeweils aus der Historie und Ausrichtung der Autoren zu verstehen sind. Von Schiller stammt der Terminus „ästhetische Erziehung“, der ab den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts erneut von vielen Autoren verwendet wird. Er fokussiert die ästhetische Erfahrung, die auch von maßgeblichen modernen Künstlern als Kern ihrer Arbeit begriffen wird. Ein sol­ ches Verständnis von Kunst und Kunstunter­ richt bedeutet eine inhaltliche Erweiterung des Gegenstandsbereiches auf alle ästhetisch, das heißt mit allen Sinnen wahrnehmbaren Objekte. Die ästhetische Erziehung umfasst wie die Kunst des 20.  und 21. Jahrhunderts alle Beiträge der bildenden Kunst, der → Me­ dien und triviale Objekte genauso wie Land­ schaften, Naturobjekte und die Frage nach der Schönheit (vgl. Kombrink 1987, 88). In die­ sem Zusammenhang hat die folgende Defi­ nition von Hentigs (1969, 358) große Bedeu­ tung gefunden: „Ästhetische Erziehung leistet Ausrüstung und Übung des Menschen in der Wahrnehmung. Sie will etwas ganz Elemen­ tares und Allgemeines.“ Ausgehend von ei­ nem solchen Verständnis von Kunst wird im Folgenden zur besseren Orientierung in An­ lehnung an Richtlinien und Lehrpläne von „Kunstunterricht“ gesprochen. Es gibt bis dato nur wenige Beiträge, die sich explizit und ausführlicher mit der Fra­ ge der Förderung von Sprache im Kunstun­ terricht befassen (insbesondere Wichelhaus

2007). Welling (2004, 141 ff.) weist einführend darauf hin, dass eine Förderung der Sprache im Kunstunterricht möglich ist: „Auch die ästhetisch-kommunikative Dimension ­einer Unterrichtsthematik kann eine sprachliche Bildungsrelevanz besitzen. Die Dimension Ästhetik/Sprachgebrauch steht in einem Zu­ sammenhang mit der visuellen Wahrneh­ mung und Präferenz von wahrnehmbaren Gegebenheiten. Dabei ist davon auszugehen, dass sich die ästhetischen Bedürfnisse der Be­ teiligten in bestimmten Aktivitäten ausdrü­ cken, ästhetische Empfindungen (Erlebnis­ se) oder emotionale Reaktionen herbeiführen und sich in ästhetischen Urteilen äußern. Äs­ thetische Fragestellungen haben naturgemäß in sprachdidaktischen Aufgabengebieten wie der Rezeptionsästhetik oder Literaturwissen­ schaft einen hohen Stellenwert. Soweit hier der Hinweis darauf, dass verschiedene mög­liche Dimensionen (motorisch, kognitiv, ­emotional, sozial, ästhetisch-kommunikativ) auch eine sprachliche Bildungsrelevanz besitzen.“ In maßgeblichen kunstpädagogischen Kon­ zepten für die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem För­ derbedarf (Richter 1977, 1984, Theunissen 1997, 2004, Wichelhaus 1995, 2006a, Bröcher 2 2006) sind zwar implizite und kurze expli­ zite Hinweise darauf enthalten, dass Aktivi­ täten aus dem Kunstunterricht die Sprache fördern (können). Diese Ausführungen sind jedoch auf die Förderschwerpunkte → Ler­ nen, → emotio­nale und soziale sowie → kör­ perliche und motorische Entwicklung (Rich­ ter 1984a und Bröcher 22006) oder → geistige Entwicklung (Theunissen 1997, 2004, 2005, Theunissen & Großwendt) bezogen, aber nicht auf den Förderschwerpunkt Sprache. Außer­ dem sind die Ausführungen dieser Beiträge zur Förderung der Sprache bisher noch nicht zusammengefasst dargestellt worden.



Relevante sprachheil­pädagogische Modelle und ­kunst­pädagogische Ansätze   609

2 Relevante sprachheil­ pädagogische Modelle und ­kunst­pädagogische Ansätze 2.1  Sprachheilpädagogische Modelle In der Theorie und Praxis der Sprachheilpä­ dagogik wird gegenwärtig demjenigen lingu­ istischen Sprachmodell eine hohe heuristi­ sche Funktion zuerkannt, das die folgenden vier sprachlichen Ebenen den je dazugehöri­ gen sprachspezifischen Inhalten unterschei­ det (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau, → entwicklungsbedingte Sprachstörungen): • die phonetisch-phonologische Ebene: u. a. organische, sensorische, motorische Voraussetzungen, phonologische Prozesse; • die lexikalisch-semantische Ebene: u. a. passiver Wortschatz; aktiver Wort­ schatz; Wortabruf; • die morphologisch-syntaktische Ebene: u. a. Wortarten, Formenbildung, Wortstel­ lung, Satzstruktur, Äußerungslänge; • die pragmatisch-kommunikative Ebene: u. a. Inhaltskompetenz, Beziehungskompe­ tenz, Situierungskompetenz, Äußerungs­ kompetenz, nonverbales Verhalten, Sprach­ verständnis. Diese werden zu folgenden sprachtragenden Komponenten in Beziehung gesetzt: • • • • •

Wahrnehmung, Soziabilität, Emotionalität, Motorik und Kognition.

2.2  Kunstpädagogische Ansätze In der Kunstpädagogik des deutschsprachigen Raumes gelten derzeit vor allem fünf Ansätze als relevant. Diese werden im Folgenden in ih­ rer historischen Entwicklung skizziert.

Der Ansatz von Richter

Für den Kunstunterricht in der damaligen Sonderschule hat Hans-Günther Richter in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts (vgl. Richter 1977) erstmals einen Beitrag vorgelegt, der zu Recht als „grundlegend und epochal“ bezeich­ net werden kann (Bröcher 22006, 21). Richter hat als zentrale Bestimmungsmomente von Kunst die „Offenheit der ästhetischen Sache“ und den „Synkretimus der ästhetischen Er­ fahrung“ hervorgehoben (vgl. Richter 1984a). Offenheit besagt, dass ästhetisches Tun nicht zwingend vorgeschriebenen oder vorgegebe­ nen Beurteilungs- oder Wertmaßstäben genü­ gen muss. Synkretismus meint die Verbindung von affektiven, unbewussten und organisie­ renden, kognitiven Aktivitäten. Beispiele für durch Momente der Offenheit und durch Synkretismus gekennzeichnete Unterrichtseinheiten finden sich in Richters grundlegendem und bis heute wegweisendem Werk „Pädagogische Kunsttherapie. Grund­ legung, Didaktik, Anregungen“ (1984a). Mit den Kategorien der Offenheit und des Synkre­ tismus hat Richter versucht, die Sache Kunst so zu beschreiben, dass sie in der sonderpäd­ agogischen Arbeit „therapeutisch“ eingesetzt werden kann. Die therapeutische Valenz der Kunst liegt nach Richter (1984c, 86) darin be­ gründet, dass sie in ihrer Offenheit Distan­ zierungen, Umstrukturierungen, Verkehrun­ gen und Isolierungen zulässt, ohne als Sache/ Stoff entwertet zu werden. Allerdings ist die Verwendung des Therapiebegriffs im Kontext Kunst nicht unproblematisch, worauf Rich­ ter bereits sehr früh (1984a, 9) hingewiesen hat. So darf dieser Begriff nicht dazu verlei­ ten, jegliche künstlerische Praxis mit Kin­ dern und Jugendlichen mit sonderpädagogi­ schem Förderbedarf als Therapie zu begreifen (→ Sprachtherapie). In einem Unterricht nach dem Konzept der „Pädagogischen Kunsttherapie“ stehen ästhetische Aktivitäten und Prozesse sowie bildnerische Motive und Verfahren im Mit­ telpunkt, die im eher traditionellen Kunst­ unterricht meist eine untergeordnete Rolle

610 

Ästhetische Kommunikation

spielen. Dies sind im Sinne von Richter bei­ spielsweise ontogenetisch frühe Verfahren wie Schmieren, Matschen, Gießen sowie die Arbeit mit den Materialien Ton, Erde, Sand und Kleister. Diese Verfahren können auch auf einem komplexeren Niveau altersadäquat angeboten werden. So können z. B. das Er­ stellen von Gipsabdrücken und Gipsfiguren ein altersadäquates Angebot für Schülerin­ nen und Schüler mit dem Förderschwer­ punkt Sprache darstellen. Letztlich sind the­ rapeutisch orientierte Aktivitäten solche, die schwerpunktmäßig die genannten Verfahren berücksichtigen, aber nur  eine Übergangs­ form zum Aufbau von fach-/sachspezifischen Inhalt-Ziel-Verbindungen  dar­stellen. Die Pä­ dagogische Kunsttherapie ist ein Konzept, das sowohl das Individuum als auch die Sach­ gegenstände der Kunst berücksichtigt. Sie ist nicht an Defiziten, Auffälligkeiten und Stö­ rungen orientiert, sondern fokussiert indi­ viduelle Stärken und Kompetenzen. Daraus ergeben sich für das praktische Vorgehen die folgenden Konsequenzen (vgl. Richter 1984b, 131): • Das bildnerische Motiv muss auf das Le­ bensgeschehen hin formuliert werden. • Die Einführung erhält einen wichtigeren Stellenwert. • In der Arbeitsphase sind komplexitätsredu­ zierende, motivationsfördernde Operatio­ nen wie Materialvorgaben, inhaltliche und/ oder formale Vorgaben, Aufgliederung des Bildaufbaus in mehrere Schichten und Einzelaufgaben oder Gemeinschaftsaufga­ ben umzusetzen. • Die Unterrichtssequenz ist mit der Darstel­ lung des Themas nicht abgeschlossen. Der Ansatz von Theunissen

Von Georg Theunissen ist ab Anfang der 1980er Jahre ein zunächst als langfristig, spä­ ter dann auch als mittel- und kurzfristig kon­ zipiertes Modell für die ästhetische Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten

entwickelt worden (vgl. u. a. Theunissen 1997, 2004, 2005), das aus vier Phasen besteht: • • • •

Orientierungsphase, Aufbauphase, Stabilisierungsphase und Differenzierungsphase.

In der Orientierungsphase sollen sich Schü­ lerinnen und Schüler angstfrei und unge­ zwungen in der Gruppe erleben und bewegen lernen sowie soziale Strukturen und das per­ sönliche Interessens- und Fähigkeitsprofil für ästhetische Aktivitäten erfasst werden. Die Aufbauphase dient vor allem der Förderung und Unterstützung einfacher (basaler) ästhe­ tischer Aktivitäten, Kommunikations- und Ausdrucksformen sowie prosozialer Verhal­ tensweisen. In der Stabilisierungsphase ste­ hen vor allem gegenstandsbezogene Aktivi­ täten und projektartige Unternehmungen im Vordergrund. Schülerinnen und Schüler sol­ len in dieser Phase Gelegenheit zur bildhaftsymbolischen Darstellung erhalten. Die vierte Phase schließlich markiert den Übergang von subjektzentrierten Arbeitsprozessen zu stärker fachdidaktisch bzw. sachspezifisch orientier­ ten Aktivitäten (vgl. Theunissen 2004, 107 ff.). Der Ansatz von Richter-Reichenbach

In den 1990er Jahren ist das genannte VierPhasen-Modell von Theunissen von KarinSophie Richter-Reichenbach (1992) um zwei wesentliche Dimensionen ergänzt worden. Es ist dies zum einen die Dimension der didak­ tischen Reflexionsebene (Situationsanalyse/ Ermittlung der Voraussetzungslage, Zielbe­ reich und Sachanalyse) sowie zum anderen die Prozessorganisation (Strukturierung der Bedingungen, die den Handlungsrahmen für die angezielten Auseinandersetzungsprozesse bilden bzw. sie begünstigen) (vgl. auch Rich­ ter-Reichenbach 2004 a/b). Theunissen (vgl. 2004, 107 ff.) wiederum hat 1997 die beiden von Richter-Reichenbach unterschiedenen Dimensionen in sein erweitertes Modell inte­ griert.



Verhältnis Bildsprache – ­verbale Sprache   611

Der Ansatz von Wichelhaus

Barbara Wichelhaus (vgl. u. a. 1995, 1999, 2006a/b, 2007) sieht das Erziehungssystem För­ derschule grundsätzlich in enger Nachbar­ schaft zum therapeutischen System (→ Insti­ tutionen): Sonderpädagogen müssen aus ihrer Sicht in Personalunion über Kommunikati­ onsfähigkeiten und Handlungskompetenzen beider Systeme verfügen (Wichelhaus 2006b, 22). Da auch die Regelschule heute vermehrt mit Schülerinnen und Schülern konfrontiert ist, die Lern- und Verhaltensprobleme auf­ weisen, haben kunsttherapeutische Momente einen breiten Eingang in die gesamte Kunst­ pädagogik gefunden und das Repertoire des Kunsterziehers erweitert. Der Ansatz von Bröcher

Der Ansatz von Joachim Bröcher (1999, 22006) schließlich stellt eine Erweiterung des Ansat­ zes von Richter und Richter-Reichenbach um Details, Nuancierungen und kleinere Ergän­ zungen dar (vgl. Bröcher 22006, 21) und ist durch seine Fokussierung der subjektiven Er­ fahrungswelt eine lebensweltorientierte Di­ daktik. Bröcher legt praktische Beispiele für die gesamte Breite der sonderpädagogischen und integrationspädagogischen Handlungs­ felder (von der so genannten geistigen Behin­ derung bis zur Hochbegabung) vor. Mit Ar­ beitsbeispielen für integrative Kindergärten, Kinderkliniken und internationale Sommer­ camps geht er noch über den sonder- bzw. för­ derpädagogischen Bereich hinaus.

3 Pädagogisch-therapeutische Wirkungen bildnerischer ­Aktivitäten Es sind folgende pädagogisch-therapeutischen Wirkungen bildnerischer Aktivitäten zu un­ terscheiden (vgl. Rittmeyer 1990–1994): • Katharsis, • Sublimierung,

• Kompensation, • Erweiterung der motorischen Handlungs­ möglichkeiten, • Differenzierung der Wahrnehmung. Außerdem leisten bildnerische Aktivitäten ei­ nen Beitrag zum Verständnis des Kindes/Ju­ gendlichen und können somit diagnostisch wirken. Von besonderer Bedeutung ist, dass bildnerische Aktivitäten eine positive Wir­ kung auf das Selbstwertgefühl haben können. Sie differenzieren zudem die Selbstwahrneh­ mung und sind ein Medium zur Selbstdarstel­ lung für Kinder und Jugendliche, die in ihrem Selbstwertgefühl beeinträchtigt sind (→ Be­ hinderung und Vulnerabilität). Dies ist häufig bei Kindern und Jugendlichen mit dem För­ derschwerpunkt Sprache der Fall.

4 Verhältnis Bildsprache – ­verbale Sprache Zwischen bildnerischen Aktivitäten und verba­ ler Sprache ist von einer mehrfachen Verbin­ dung auszugehen (→ Person und Sprache). Wie Wichelhaus (1999, 350 ff.) feststellt, kann bild­ nerisches Verhalten verbale Dialoge begleiten, unterstützen, verstärken sowie vor- und nach­ bereiten. Darüber hinaus können bildnerische Aktivitäten aber auch als eigenständige Aus­ drucks- und Kommunikationsmittel verwen­ det werden. So ist es mit Hilfe des bildnerischen Verhaltens möglich, an frühe nonverbale Dia­ logformen anzuknüpfen (→  Frühe Kommu­ nikation, → Intersubjektivität und Kommuni­ kation), in denen Kommunikationsstörungen manifest sind. Bildnerische Aktivitäten ermög­ lichen, wie Wichelhaus (1995, 74) schreibt, ei­ nen individuellen Ausdruck auf symbolischer Ebene, der auch in rudimentärer Form noch verstanden werden kann: „In Bildern kön­ nen Gefühle kodiert werden, auch unbewuss­ te (Angst, Hass, Aggression etc.). Dadurch er­ möglichen sie einen individuellen Ausdruck auf symbolischer Ebene, der selbst dann, wenn

612 

Ästhetische Kommunikation

er elementar, rudimentär ist, im Prinzip noch verstanden werden kann.“ Insgesamt kann die Bildsprache als ein besonderer Modus der Dialogizität begrif­ fen werden, der neben der verbalen Sprache in allen kulturellen und sozialen Lebenszu­ sammenhängen wirksam sein kann (→ Inter­ subjektivität und Kommunikation). Kirchner (2006) und Uhlig (2006) haben einige Di­ mensionen der kindlichen Persönlichkeits­ entwicklung aufgezeigt, die über ästhetische Prozesse eine Förderung erfahren können, darunter die Kommunikation, denn diese wird in der Begegnung und Auseinanderset­ zung mit Formen, Farben, Motiven, Kunst­ werken usw. auf einer sinnlich-symbolischen Ebene vorbereitet.

5 Offene Frage: domain­ unspezifische und/oder ­domainspezifische Förderung der Sprache durch ästhetische Kommunikation In Anlehnung an Kretschmann (vgl. 2003, 193)  soll hier eine domainunspezifische  („sprachtragende“) von einer domainspezifi­ schen („sprach­spezifischen“) Förderung un­

terschieden werden (vgl. 2.1). Interessant ist, dass nach Born & Oehler (2005, 55 ff.) inzwi­ schen zahlreiche neuere Forschungsergebnisse darauf hinweisen, dass nicht zuerst bestimmte Basisfunktionen vorhanden sein oder trainiert werden müssen. Bislang nicht untersucht wur­ de die Frage, ob Sprachförderung im Kunst­ unterricht: • domainunspezifisch im Sinne von Kretsch­ mann ist, das heißt nur die sprachtragen­ den Bereiche der Sprache fördert und/oder ob • auch eine direkte, sprachspezifische Förde­ rung einer oder mehrerer der vier Sprach­ komponenten möglich ist. Auf beide Aspekte soll im Folgenden näher eingegangen werden.

5.1 Förderung der sprachtragenden ­Funktionen Im Kunstunterricht werden zweifellos die sprachtragenden Funktionen – wie Wahrneh­ mung, Motorik, Soziabilität, → Kognition und Emotion – gefördert. Somit findet eine do­ main­unspezifische Förderung der Sprache statt, da die „Betätigung und Entfaltung aller Sinne, der sogenannten höheren wie das Se­ hen und Hören und der sogenannten niede­

Abb. 1:  Martin, 10;2: „Ein Berg entsteht“ [Wachsmal­ kreiden auf Pappe] Förderbereich Motorik: Grob- und Feinmotorik von Arm, Hand und Fingern, Auge-Hand-Koordination



Offene Frage   613

ren wie das Tasten, Schmecken, Riechen etc., zum Programm ästhetischer Erziehung“ ge­ hört (vgl. Theunissen 2004, 81). Da Wahrneh­ mung und Bewegung in einer unaufhebba­ ren Wechselbeziehung stehen, gehören auch Bewegung, Rhythmik, Tanz und Musik zum Programm der ästhetischen Erziehung (vgl. ebd.) (→ Musik, → Psychomotorik). In die­ sem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass inzwischen auch in den Grundschulrichtlinien ein derart erweiterter Kunstbegriff vertreten wird.

Im Kontext der KMK-Empfehlungen ist der Förderschwerpunkt Sprache dahingehend neu „geerdet“ worden, dass den sprachtragenden Bereichen eine höhere Bedeutung zukommen soll. Förderung der sprachlichen Entwicklung erfolgt über die „sunk needs“. Sprache ist „von unten“ zu fördern. Ursachen von Sprachbeein­ trächtigungen reichen meist tief. Der kindliche Entwicklungsweg zur Sprache führt primär entlang der psychomotorischen Entwick­ lung. Die Ausbildung und das Zusammenwir­ ken von Wahrnehmung, Motorik, Kognition,

Abb. 2a/b:  Daniela, 9;1 Jahre (Förderbedarf Spra­ che): „Selbstbildnis und meine Liebsten“ [Tonar­ beiten] Förderbereich Emotionalität und Soziabilität: Symbo­ lisierung von Emotionen

614 

Ästhetische Kommunikation

Abb. 3:  Marvin, 11;0 Jahre (Förderbedarf Sprache): „Auf Entdeckungsreise gehen“ [Bewegung und Pastellkreide] Förderbereich phonetischphonologische Ebene: orofaziale Sensibilisierung, Stärkung und Koordinie­ rung durch Puste- und Blaseübungen

Emotion und Soziabilität spielen gemäß der KMK-Offerte 1998 eine bedeutende Rolle. Es heißt dort: „Alle Förderangebote, die sich auf Teilbereiche wie Sensorik, Motorik, Kogniti­ on, Emotion, Soziabilität und Kommunikation richten, sind Bestandteil eines umfassenden, zielgerichteten Förderplans zum sprachlichen Handeln. Die Förderung dieser Entwicklungs­ bereiche, in Handeln gebettet, ermöglicht den Kindern, sich als erfolgreich handelnd zu er­ leben und sich in der Lebenswirklichkeit zu erfahren. Psychomotorische Erziehung wird in die Fördermaßnahmen, ob Spiel, ob Unter­ richt, ob Dialog, ob Schriftsprache, ob andere Maßnahmen eingefügt“ (Schaar 1998, 245). Die drei Abbildungen1 auf den vorange­ gangenen Seiten 612 und 613 zeigen exem­ plarisch, wie über die bildnerischen und ge­ stalterischen Ausdrucksmöglichkeiten die sprachtragenden Funktionen der Motorik (Abb. 1) und der Emotionalität (Abb. 2a/b) gefördert werden können.

5.2  Sprachspezifische Förderung Förderung der phonetisch-phonologischen Ebene

Es gibt Hinweise darauf, dass im Kunstunter­ richt eine Förderung auf der phonetisch-pho-

nologischen Ebene (vgl. 2.1) möglich ist. So verweisen Weinrich & Zehner (22005, 128) da­ rauf, dass die Förderung der orofazialen Sen­ somotorik in der logopädisch-sprachthera­ peutischen Arbeit mit Kindern unverzichtbar ist, insbesondere bei Kindern mit rein pho­ netischen Störungen. Für eine Förderung der orofazialen Sensomotorik schlagen die beiden Autorinnen als kindgemäße Form auch Akti­ vitäten im Rahmen des Kunstunterrichts vor. So sind insbesondere Puste- und Blaseübun­ gen (vgl. Abb. 3) gut geeignet, um den Tonus des Musculus orbicularis oris zu trainieren. Derartige mundmotorische Übungen lassen sich in vielfältige Aktivitäten des Kunstunter­ richtes integrieren, z. B.: • Seifenblasen machen; • feinen Sand von Bildkarten oder Mug­ gelsteinen wegpusten; • Tischfußball mit einem Ping-Pong-Ball spielen, der in Farbe getaucht ist; • Papier- und/oder Zeitungsschnipsel auf ein Klebebild pusten oder • bunte Tintenkleckse mit einem Stroh­ halm auf dem Papier verteilen. Als ästhetischer Bezugspunkt2 können dabei die Arbeiten von Künstlerinnen und Künst­



Offene Frage   615

lern dienen, die Elemente sogenannter aleatorischer Verfahren aufweisen, z. B.: • die Dribbling-Arbeiten von Jackson Pollock, • die Schießbilder von Niki de Saint Phalle, • die „Vergnügungspalette“ (1969) von Jim Dine oder • „KSI“ (1959) von Morris Louis.

Förderung der semantisch-lexikalischen Ebene

Von Richter ist bereits 1984 aufgezeigt wor­ den, dass mit bildnerischen Verfahren eine Förderung auf der semantisch-lexikalischen Ebene (vgl. 2.1) möglich ist: „Zu diesen An­ knüpfungspunkten gehört, das wird in den didaktischen Erörterungen noch deutlich werden, besonders die Zeit in der psychi­

Abb. 4a/b:  Boris, 8;6 Jahre (Förderbedarf Sprache): „Was ist mein Körper? Wie sehe ich aus?“ [Ölkreiden/ Ton] Förderbereich semantisch-lexikalische Ebene: Körperwahrnehmung und Wortfeldaufbau

616 

Ästhetische Kommunikation

schen Entwicklung des Kindes, in der sich die sprachlich-begrifflichen und die bildhaft-sym­ bolischen Funktionen von den senso-motori­ schen Operationen zu lösen beginnen und als zwei getrennte, aber nicht unabhängige Äuße­ rungsweisen zu existieren anfangen. J. Piaget (1969, 282 ff.) hat dieses Entwicklungsstadium ausführlich beschrieben. Für den Kunstunter­ richt eröffnet ein Rückgriff (= pädagogische Regression) auf diesen ‚Drehpunkt‘ der semi­ otischen Entwicklung die Möglichkeit, über senso-motorische Aktivitäten sowohl den ge­ genstandsorientierten (‚realistischen‘) Bestand

der Darstellungsformen zu differenzieren als auch das inhaltliche Niveau, die Semantik der bildhaften Äußerungen reicher zu machen“ (Richter 1984a). Eisinger-Niedworok (zit. in Theunissen 2004, 111) berichtet beispielsweise von einer Erweiterung der Vorstellungsbilder und des aktiven Wortschatzes innerhalb einer kunst­ pädagogischen Unterrichtseinheit. Ein wei­ teres Beispiel für die Erweiterung sowohl der Vorstellungsbilder als auch des aktiven Wort­ schatzes (hier: innere Organe und deren Lage im Körper) ist Abbildung 4a/b.

Abb. 5:  Patrick, 10;4 Jahre (Förderbedarf Sprache): „Selbstbildnis als Bergstei­ ger mit Fahne“ [Bewe­ gungsübung mit Grafitstift, Ausschnitt aus einer 3 Me­ ter langen Papierarbeit] Förderbereich morphologisch-syntaktische Ebene: Bewegungsspuren werden zu Geschichten (erste präserielle Kombination/in Beziehung setzen)

Abb. 6:  Kinder einer zweiten Klasse (Förderbe­ darf Sprache) „Aus Worten werden Zeichen oder Symbole. Symbole werden zu Geschichten …“ [Papier und Wachsmalkreiden] Förderbereich morphologisch-syntaktische Ebe­ne: Sequenzierung/Serialität (Bild­ge­schich­te)



Offene Frage   617

Mögliche kindgerechte Verfahren und jewei­ lige ästhetische Bezugspunkte sind des Weite­ ren z. B.: • Collagen kleben oder malen, die sich be­ stimmter Wörter/Begriffe bedienen (vgl. Collagen von Pablo Picasso) oder • Bilder mittels verschiedener Verfahren erstellen, die bestimmte Bildsymbo­ le nutzen (vgl. u. a. „Die Beständigkeit der Erinnerung“ auch „Die zerrinnen­ de Zeit“ oder „Weiche Uhren“ (1931) von Salvadore Dali sowie Werke von René Magritte).

Förderung der morphologisch-syntaktischen Ebene

In der bisherigen Literatur fehlen Hinweise zu einer möglichen Förderung der morphologisch-syntaktischen Ebene (vgl. 2.1) von Spra­ che im Kunstunterricht. Bei der morpholo­ gisch-syntaktischen Komponente geht es im Wesentlichen darum, dass Elemente von Spra­ che in eine Beziehung oder Abfolge (in Kombi­ nation, Sequenz oder Serie auf der syntagma­ tischen Achse nach Jakobson) gesetzt werden und zu einer übergeordneten, neue Bedeutung tragenden Form zusammengefügt werden. Abbildung 6 stellt die prä-serielle Vorstufe, Ab­

Abb. 7:  Nils, 7;9 Jahre (Förderbedarf Sprache): „Schenken“. Text: /Ich schenke meinem Bruder den Spielplatz./ [Holzar­ beit aus Nägeln, Klebstoff, Acrylfarben] Förderung der kommunikativ-pragmatischen Ebene: Schrift als integrativer Bestandteil eines Werkes

618 

Ästhetische Kommunikation

bildung 7 eine schon deutlich erkennbare Sequenzierung/Serialität mit neuer bzw. komple­ xerer Aussage (Bildgeschichte) dar. Im Kunstunterricht gibt es viele Möglich­ keiten, in Anlehnung an Arbeiten von Künst­ lerinnen und Künstlern die morphologischsyntaktische Ebene zu fördern, z. B.: • mittels Videosequenzen und SchnittTechniken, die Raum lassen für Gefüh­ le, wie z. B. Wut, die in bestimmten Lau­ ten/Lautketten und Worten/Wortketten kombiniert mit Gestik/Mimik darge­ stellt werden (zeitgenössischer Künstler Bruce Nauman, Konzept- und Video­ kunst) oder • auf langen Tapetenbahnen („End­los­ mit­tei­lungen“, vgl. Abb. 5) Aussagen über sich selbst machen und dabei z. B.

bestimmte Wörter oder Prinzipien des Ordnens und Verdichtens einiger Grundwörter verwenden (in Anlehnung an den Dadaisten Hans Arp, dessen künstlerische Arbeit in engem Zusam­ menhang mit seinem dichterischen Werk steht). Förderung der kommunikativ-pragmatischen Ebene

Verfahren der Kunst, die u. a. auch der Un­ terstützung von Kommunikation und Pragmatik (vgl. 2.1) dienen, haben in den letzten Jahren insbesondere wegen der Zunahme von Schülerinnen und Schülern mit Lern- und Verhaltens­problemen in der Regelschule kon­ tinuierlich an Bedeutung gewonnen. Auf die Wichtigkeit entsprechender Verfahren – ins­

Abb. 8:  Yannick, 11;2 Jahre (Förderbedarf Sprache): „Freie Arbeit und eine persönliche Geschichte“. Text: /Das ist kein gewöhn­ liches Boot, sondern ein Stadtboot mit Dach, mit Swimmingpool, Wachturm, Einkaufszentrum, Ram­ penfederung./ [Holz und verschiedene Materialien] Förderung der kommu­ nikativ-pragmatischen Ebene: Schrift als additivreflexiver Bestandteil eines Werkes



Offene Frage   619

besondere mit hohen Anteilen der Reflexion und Metakommunikation (vgl. Abb. 9) – wird u. a. von Wichelhaus (vgl. 2006b, 23) hinge­ wiesen. In Anlehnung an Künstlerinnen und Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts kann die kommunikativ-pragmatische Ebene (→ Intersubjektivität und Kommunikation) und der bildnerische und gestalterische Ausdruck z. B. wie folgt gefördert werden: • Interviews mittels Video führen; • mit Kartons oder aus Pappmaché in Partner- oder Gruppenarbeit Häuser bzw. eine ganze Stadt bauen, die farbig

ausgestaltet wird (vgl. Thomas Virnich „Fliegende Katakomben“ 1999); • aus Turnmatten, Decken oder ähnlichen Materialien bzw. aus Ästen und Zwei­ gen Häuser bauen; es können auch im Wald abgesteckte Terrains als Häuser dienen (vgl. Land-Art z. B. „Signalturm der Hoffnung“ (1992) des Künstlers Mo Edoga) und von den Häusern aus mitein­ ander kommuniziert werden (Wege z. B. mit Kreppband auf dem Boden befesti­ gen oder Kordeln von Baum zu Baum spannen); • mit Makulaturpapier und altem Zei­ tungspapier andere einwickeln oder Fi-

Abb. 9:  Zwei Jungen im Kunstraum des Förderzent­ rums Sprache lesen sich die Texte anderer Kinder vor. Förderung der kommunikativ-pragmatischen Ebene: Metakommunikation – re­ den über Bild und Schrift

620 

Ästhetische Kommunikation

guren bauen (in Anlehnung an George Segal, Bildhauer und Installationskünst­ ler) und ggf. das Produkt fotografieren; • Räume gestalten in „archetypischen Handlungsweisen“: bündeln, legen, schichten und die so gestalteten Räume ausstellen (vgl. z. B. Mario Merz „Igloo Objet cache-toi“ (1968), Objektkünstler); • Installationen gestalten, die von persön­ lichen Erlebnissen „erzählen“, z. B. von Bewerbungsgesprächen (vgl. z. B. „The Happy End of Franz Kafkas Amerika“ (1994), Installation von Martin Kippenberger); • z. B. private Wege oder konzeptionel­ le Wanderungen fotografieren und mit temporären Stein- oder Holzskulpturen gestalten und Texte dazu verfassen (vgl. Land-Art Künstler Richard Long); • aus Gips in Partner- oder Gruppenar­ beit Gesichter bzw. Figuren bauen, die mitein­ander und/oder mit dem Betrach­ ter z. B. mittels Gefühlsausdruck kom­ munizieren (vgl. u. a. Juan Munoz „One laughing at the other“ (2000) oder „Pla­ za“ (1996) sowie Thomas Schütte „Große Geister“ (1996–1998)). Innerhalb der ­pragmatisch-kommunikativen Ebene kommt der Kommunikation mittels Schrift insbesondere bei älteren Kindern und Jugendlichen eine ganz besondere Bedeu­ tung zu (→ Lesen und Schreiben, → Deutsch, →  entwicklungsbedingte Sprachstörungen). Die Abbildungen 7–9 zeigen Schülerarbei­ ten, bei denen die Förderung der Pragmatik von der ästhetischen Kommunikation hin zur Schrift-Kommunikation symbolisch realisiert worden ist.

6  Ausblick In diesem Beitrag ist aufgezeigt worden, dass im Kunstunterricht nicht nur eine domain­ unspezifische, sondern auch eine domain­

spezifische Förderung der Sprache auf allen vier linguistischen Ebenen stattfinden kann. Gleichzeitig erfolgt im Kunstunterricht eine Förderung der Symbolsprache, das heißt der bildnerischen und gestalterischen Ausdrucks­ möglichkeiten. Kunstunterricht für Schülerin­ nen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Sprache sollte sich nicht nur der Verfahren der Kunst in funktionaler Absicht bedienen, sondern unbedingt auch deren Eigenwert be­ achten. Dieser besteht darin, dass die Sym­ bolsprache seit den Frühzeiten des Menschen eine gleichwertige, weitere Möglichkeit der intra- und interindividuellen Kommunika­ tion ist (→ Lesen und Schreiben). In diesem Beitrag wurden einige geeignete Verfahren beispielhaft aufgezeigt, die den individuellen Anforderungen entsprechend erweitert wer­ den können. Werden im Kunstunterricht den Schülerinnen und Schülern auch Künstlerin­ nen und Künstler und deren Arbeiten und Ar­ beitsweisen nahe gebracht, so erfahren zum ei­ nen die vermittelten Verfahren eine besondere Wertschätzung; zum andern erweitern sich dadurch die Möglichkeiten der Schülerinnen und Schüler zur gesellschaftlichen Teilhabe und Partizipation.

Anmerkungen 1 Wir danken vielmals Friederike Altmann, Lei­ terin des „KunstRaum Dresden“ (Kunst an der Schule e. V.) und Antje Leisner vom „Förderzen­ trum Sprache Dresden“ für die Bereitstellung der dort entstandenen Arbeiten ihrer Schülerinnen und Schüler. 2 Alle in diesem Beitrag erwähnten Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern sind in der Herstel­ lung unterschiedlich und haben mit den für die Schülerinnen und Schüler vorgeschlagenen Ver­ fahren oft nur die Erscheinungsform gemeinsam.

Literatur Born, A. & Oehler, C. (2005): Kinder mit Rechen­ schwäche erfolgreich fördern. Ein Praxishandbuch für Eltern, Lehrer und Therapeuten. Stuttgart: Kohlhammer.



Literatur   621

Braun, O. (2003): Bildung, Erziehung und Unterricht in der Sprachheilpädagogik. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Bd. 5: Bildung, Erziehung und Unter­ richt (25–51). Stuttgart: Kohlhammer. Bröcher, J. (1999): Bilder einer zerrissenen Welt. Kunsttherapeutisches Verstehen und Intervenie­ ren bei auffälligem Verhalten an Grund- und Son­ derschulen. Heidelberg: Winter. Bröcher, J. (22006): Kunsttherapie als Chance. Er­ folgreiche ästhetisch-gestalterische Verfahren in (sonder-)pädagogischen Handlungsfeldern. Hei­ delberg: Winter. Hentig, H. von (1969): Spielraum und Ernstfall. Ge­ sammelte Aufsätze zu einer Pädagogik der Selbst­ bestimmung. Stuttgart: Klett. Kirchner, C. (2006): Kreativität, Heterogenität und Bildungserfolg. Zu den Potenzialen ästhetischer Bildung für die Identitätsentwicklung. In: Brög, H., Foos, P. & Schulze, C. (Hrsg.): Korallenstock. Kunsttherapie und Kunstpädagogik im Dialog (187–200). München: kopaed. KMK (Kultusministerkonferenz) (1998): Empfehlun­ gen zum Förderschwerpunkt Sprache. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 26. 06. 1998, Bonn. Kombrink, U. (1987): Bildnerisches Gestalten als Ent­ wicklungsförderung bei geistig Behinderten. Gie­ ßen: Institut für Heil- und Sonderpädagogik. Kretschmann, R. (2003): Manchmal ist Rechnenler­ nen schwer – Eine entwicklungsökologische und systemische Problemsicht. In: Fritz, A., Ricken, G. & Schmidt, S. (Hrsg.): Rechenschwäche. Lernwege, Schwierigkeiten und Hilfen bei Dyskalkulie (179– 200). Weinheim: Beltz. Richter, H.-G. (1977): Therapeutischer Kunstunter­ richt. Düsseldorf: Schwann. Richter, H.-G. (Hrsg.) (1984a): Pädagogische Kunst­ therapie. Grundlegung, Didaktik, Anregungen. Düsseldorf: Schwann. Richter, H.-G. (1984b): Grundzüge einer Didaktik der pädagogischen Kunsttherapie. In: Richter, H.-G. (Hrsg.): Pädagogische Kunsttherapie. Grundle­ gung, Didaktik, Anregungen (126–138). Düssel­ dorf: Schwann. Richter, H.-G. (1984c): Kunst und Therapie. In: Rich­ ter, H.-G. (Hrsg.): Pädagogische Kunsttherapie. Grundlegung, Didaktik, Anregungen (82–89). Düs­seldorf: Schwann. Richter-Reichenbach, K.-S. (1992): Identität und äs­ thetisches Handeln. Weinheim: Beltz. Richter-Reichenbach, K.-S. (2004a): Kunsttherapie 1: Theoretische Grundlagen. Münster: Daedalus. Richter-Reichenbach, K.-S. (2004b): Kunsttherapie 2: Praxis der Kunsttherapie. Münster: Daedalus.

Rittmeyer, C. (1990): Gestalten und Werken mit Geistigbehinderten. Grundsatzüberlegungen und Funktionalität. Sonderschulmagazin 12, 2, 8–12. Rittmeyer, C. (1991): Kunstunterricht an der Schu­ le für Geistigbehinderte. Die Sonderschule 36, 4, 208–216. Rittmeyer, C. (1994): Welche Bedeutung hat der Kunstunterricht an der Schule für geistig Behin­ derte und wie kann dort Kunstunterricht ausse­ hen? Sonderschulmagazin 16, 6, 9–10. Schaar, E. (1998): Empfehlungen zum Förderschwer­ punkt Sprache. In: Drave, W., Rumpler, F. & Wach­ tel. P. (Hrsg.) (2000): Empfehlungen zur sonder­ pädagogischen Förderung (241–249). Würzburg: Edition Bentheim. Theunissen, G. (Hrsg.) (1997): Kunst, ästhetische Praxis und geistige Behinderung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Theunissen, G. (2004): Kunst und geistige Behinde­ rung. Bildnerische Entwicklung, Ästhetische Er­ ziehung, Kunstunterricht, Kulturarbeit. Bad Heil­ brunn: Klinkhardt. Theunissen, G. (2005): Malen nach Musik. Thera­ peutischer Kunstunterricht mit geistig behinder­ ten Schülern. Zeitschrift für Heilpädagogik 56, 12, 482–490. Theunissen, G. & Großwendt, U. (Hrsg.) (2007): Kre­ ativität von Menschen mit geistigen und mehrfa­ chen Behinderungen: Grundlagen, Ästhetische Praxis, Theaterarbeit, Kunst- und Musiktherapie. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Uhlig, B. (2006): Sonderpädagogisch orientierter Kunstunterricht. In: Brög, H., Foos, P. & Schul­ ze, C. (Hrsg.): Korallenstock. Kunsttherapie und Kunstpädagogik im Dialog, München: ko­ paed. Weinrich, M. & Zehner, H. (22005): Phonetische und phonologische Störungen bei Kindern. Heidelberg: Springer. Welling, A. (2004): Kooperative Sprachdidaktik als Konzept sprachbehindertenpädagogischer Praxis. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprach­ heilpädagogik und Logopädie. Bd. 5: Bildung, Er­ ziehung und Unterricht (127–146). Stuttgart: Kohl­ hammer. Wichelhaus, B. (1995): Zur kompensatorischen Funk­ tion ästhetischer Erziehung im Kunstunterricht. Kunst + Unterricht 191, 71–75. Wichelhaus (1999): Gemeinsame Bilder – Ein non­ verbaler ästhetischer Dialog in der Kindertherapie. In: Hampe, R., Ritschel, D. & Waser, G. (Hrsg.): Kunst, Gestaltung und Therapie mit Kindern und Jugendlichen (349–356). Dokumentation zur 11. Jahrestagung der IGKGT an der Universität Bre­ men: Bremen.

622 

Ästhetische Kommunikation

Wichelhaus, B. (2006a): Fördern im Kunstunterricht. Prinzipien, Perspektiven und Probleme. Kunst + Unterricht 307/308, 3–10. Wichelhaus, B. (2006b): Kunstunterricht für Schüler mit Förderbedarf – Zwischen Kunsterziehung und Kunsttherapie. In: Sowa, H. & Uhlig, B. (Hrsg.): Favorite – Schriften zur Kunstpädagogik, Bd.  1

(5–28). Ludwigsburg: Verlag der Pädagogischen Hochschule. Wichelhaus, B. (2007): Lernbereich Ästhetik – Visu­ elle Medien und Bildende Kunst. In: Schöler, H. & Welling, A. (Hrsg.): Handbuch Sonderpädagogik. Bd.  1: Sonderpädagogik der Sprache (1071–1082). Göttingen: Hogrefe.

Musiktherapie Benjamin Schögler

1  „We’ve got rhythm!“ „Rhythmus spielt eine wichtige Rolle bei der Herstellung einer Verbindung zwischen Men­ schen, indem er ihnen einen gemeinsamen Rahmen der Identifikation bietet. Er ist eine primäre Antriebskraft in sozialen Beziehun­ gen. Rhythmische Muster ermöglichen die Co-Aktivität von Gruppen. Sie unterstützen deren Mitglieder in der Koordinierung von Energien und Ressourcen in den Bereichen Arbeit, Ernährung, Verteidigung, sozialer Dis­ kurs, Initiationsriten, Informationsaustausch und vor allem im expressiven Handeln“ (Lo­ max 1982, 149–150). Ob wir schnell laufen, um einen Bus zu erreichen, mit Freunden reden oder mit ei­ nem Kind Verstecken spielen – menschlicher Rhythmus durchdringt jeden Aspekt unseres physischen Lebens. Darüber hinaus speist er das neuronale Substrat motivierter psycholo­ gischer Zeit, welches die Basis für verbale und nonverbale Kommunikation darstellt. Das charakteristische Wesen der Rhyth­ mizität menschlicher Aktivität ist in akade­ mischen Kreisen bereits lange bekannt. Es stellt sich jedoch als nur schwer fassbar und erforschbar dar. Traditionell wurde Rhyth­ mus im menschlichen Verhalten aus einer physiologischen Perspektive betrachtet. Be­ rücksichtigt wurden Lebens- und Hormon­ zyklen sowie interne körperliche Prozesse, beispielsweise Nerven- und Muskelaktivität, Schlaf- und Wachrhythmen, der Menstru­ ationszyklus sowie Knochenwachstum und -resorption. Zeitlich variieren sie von ultradianen Zyklen, welche weniger als 24 Stun­ den andauern (Millisekunden bis Stunden), über circadiane Tagesrhythmen (24 Stunden), bis hin zu infradianen Zyklen mit einer Län­ ge von über 24 Stunden (Chapple 1970). Ei­

nen breiten Überblick über Rhythmizität und ihre Beziehung zum Sich-Mitreißen-Lassen von und Sich-Einlassen auf Rhythmus geben Clayton et al. (2004) sowie Warner (1988). Im Zuge näherer Untersuchungen der kogniti­ ven Operationen und kommunikativen In­ teraktionen sind ultradiane Rhythmen, ins­ besondere die von unserer Körpermuskulatur ausgeführten, in den Fokus vielfältiger wis­ senschaftlicher Forschung gerückt. Mit Fortschritten in Mathematik und In­ formatik sowie auf Grund der „vorhersagba­ ren“ oder zyklischen Natur von Rhythmen hat die Wissenschaft den Versuch unternommen, menschliche rhythmische Aktivität in Muster zu fassen. Die Statistik, als Messinstrument menschlichen Verhaltens, zeigt jedoch, dass der Schlüssel zu unseren kommunikativen Rhythmen Variabilität ist. Die Muster von Sprache und Musik können nicht auf einfache mathematische Beziehungen reduziert wer­ den (Jones & Boltz 1989). In der Tat werden präzise Synchronizität, rigider Bewegungs­ einsatz oder strikt reglementiertes rhythmi­ sches Verhalten im Allgemeinen nicht mit Gesundheit oder positiven Wirkungen in Verbindung gebracht (Clayton et al. 2004, Wigram 2002). Tatsächlich entscheidend für Rhythmus im menschlichen Verhalten ist sei­ ne dynamische Natur und unsere Fähigkeit, ihn zu unseren Zwecken und mit dem Ziel der Zusammenarbeit mit anderen zu verändern. Wir sind keine „Slaves of the Rhythm“! Wir sind im Gegenteil – vom Säugling, der im Di­ alog mit seinen Bezugspersonen steht, bis hin zu virtuosen Musikern – Meister des Rhyth­ mus (Trevarthen 1999; → Intersubjektivität und Kommunikation).

624 

Musiktherapie

2 Die rhythmische Kapazität des Menschen 2.1  Rhythmus als aktiver Prozess Natürlich auftretender menschlicher Rhyth­ mus ist nicht irgendetwas durch Verhalten Konstruiertes, sondern eine natürliche Eigen­ schaft menschlicher Aktivität – insbesondere bei seriell angeordnetem, motorischem Ver­ halten (Lashley 1951). Es ist wichtig, zwischen menschlichem Rhythmus und komplexeren, spezifizierten kulturellen, sozialen oder musi­ kalischen Rhythmen zu unterscheiden. Rhyth­ mus ist die wahrnehmbare Qualität von Bewe­ gung, welche Interaktion mit dieser Aktivität speist und auf vorausschauender Bewegungs­ kontrolle basiert (Lee 1998). Die natürliche Rhythmizität menschlicher Aktivität ist es, die ein mitempfindend-sympathetisches Teilen und Übermitteln von Zeit ermöglicht. Sie ist das neurologische Substrat von „synrhythmia“ (→ Intersubjektivität und Kommunikation): die dynamische und mitempfindend-teilneh­ mende Verhaltenskoordination verschiedener Kommunikationspartner (Trevarthen 2007). Sie ist weder metrisch noch in irgendeiner Form durch Algorithmen, Hierarchien oder Oszillatoren vorhersagbar, aber dafür unmit­ telbar wahrnehmbar. Rhythmus ist ein akti­ ver Prozess – er ist etwas, das aus dem geboren wird, was wir gerade tun. Wenn wir dabei et­ was gemeinsam tun, verbinden wir unsere in­ dividuellen Rhythmen, um dyadisch-dynami­ sche Handlungsmuster zu erschaffen. Wenn der menschliche Rhythmus durch neurologische, physische oder psychologische Störungen beeinträchtigt ist, kann dies zu Be­ einträchtigungen im körperlichen und sozi­ alen Bereich führen. Sensibilität gegenüber diesem grundlegenden Aspekt menschlicher Existenz ist der Ansatzpunkt für viele Thera­ peutinnen und Therapeuten, die – vielleicht ohne dies zu realisieren – wahre Experten menschlichen Rhythmus sind. Der explizite Fokus auf menschliche rhythmische Aktivität in der Musiktherapie ist wahrscheinlich ein

Grund für ihren Erfolg, eine solche Vielzahl von Menschen mit unterschiedlichen Bedürf­ nissen zu erreichen.

2.2  Die Zeitempfindung des Körpers Die menschliche Fähigkeit und Kompetenz, konstruktiv Zeit zu teilen und mitzuteilen, das heißt zu vermitteln, basiert auf unserem grundlegenden körperlichen Kontrollsystem (Schögler & Trevarthen 2007). Dies ist nicht nur auf das Produzieren und Manipulieren von Lauten begrenzt, sondern ist ein fundamenta­ ler Bestandteil absichtsvollen menschlichen Verhaltens. Infolgedessen können die positi­ ven Effekte rhythmischer Arbeit mit Lauten, Tönen und Klängen alle Behinderungsformen erreichen, wohingegen Probleme im rhythmi­ schen Bereich jedoch umfassende Beeinträch­ tigungen nach sich ziehen. „Alle Gesten und intentionalen Vokalisati­ onen sind letztendlich Aktivitäten der Mus­ kulatur“ (Donald 1999, 41). Die Bausteine des Rhythmus im Verhalten sind die Bewegun­ gen selbst. Die gezielte Körperkontrolle er­ zeugt vorausschauende geplante, prospektive Körperbewegungen. Das Nervensystem kon­ trolliert dabei nicht nur, wo eine Körperbe­ wegung ausgeführt wird, sondern vor allem auch wann. Und als gesunde menschliche Wesen mit einem normalen Nervensystem (Rizzolatti & Craighero 2004; → Kognition und Emotion) sind wir in der Lage zu erken­ nen, „wann“ dies sein wird. Diese sog. „ac­ tion-time“ bzw. „Bewegungszeit“ wird ma­ thematisch, experimentell und biologisch in der „General-τ-Theory“ (Lee 1998) beschrie­ ben. General τ bzw. General Tau versorgt un­ sere Muskeln und unser Wahrnehmungs­ system mit Informationen über das „Wann“ einer Bewegung. Die Information ist amodal, das heißt nicht spezifisch zu einer bestimm­ ten sensorischen oder kontrollierenden Mo­ dalität gehörend. Infolgedessen durchdringt Rhythmus alle nach außen führenden, geziel­ ten menschlichen Aktivitäten – nicht nur die Lautproduktion.



Die rhythmische Kapazität des Menschen   625

2.3 Vom Impuls zur Phrase, von der action-time zum Rhythmus Wenn wir uns bewegen, folgen unsere Akti­ onen und Handlungen aufeinander. Unsere zahlreichen Effektoren (Hände, Blicke, Stim­ me etc.) überschneiden sich in Raum und Zeit und erzeugen überlappende Sequenzen von Verhalten. Um sich zielgerichtet und effektiv zu bewegen und dabei sensibel mit seiner Umge­ bung und den eigenen Auswirkungen auf die­ se umzugehen, ist ein Mensch weit hinein im Voraus sensibel und rezeptiv zugleich. Bern­ stein (1967) bezeichnete diesen Aspekt der Koordination und Kontrolle von Bewegung als den „Sollwert“. Eine derartige Grundlage für vorausschauende Bewegungskontrolle er­ fordert sowohl die Sensibilität für die zeitliche Beziehung zwischen sensorischen Ereignissen und einem integrierenden Plan – einem Bewe­ gungsabbild oder Engramm, das ein Ziel anti­ zipiert – als auch deren Bewertung (Bernstein 1967). Indem Bernstein unsere Neigung zum Vorausdenken bei Handlungen und Bewegun­ gen demonstrierte, wandte er sich vom klassi­ schen S-R-Paradigma aus stimulus und response ab, welches davon ausging, dass aufeinander folgende Ereignisse in einer Aktionskette auf Erregung durch Kettenreflexe zurückzufüh­ ren sind. Lashley (1951) betonte in seinem berühmten Werk über den seriellen Ablauf anspruchsvoller Bewegungsabläufe die Not­ wendigkeit vorausschauender Organisation routinierter Handlungsabläufe, um eine derart komplexe Bewegungskoordination – wie bei­ spielsweise beim Klavierspielen oder Sprechen – zu erreichen. Die rhythmische Natur koor­ dinierter Routinebewegungen resultiert aus der kohärenten Bildung und Implementierung eines zeitlich strukturierten Planes, einem in­ neren „Bewegungsabbild“ (Jeannerod 1999), welches „psychische Zeit“ (Pöppel 1994), das heißt eine gewisse Zeitspanne für die gedank­ liche Planung, voraussetzt. Diese serielle Anordnung von Verhalten, in der Handlungen Teil einer Ereigniskette sind und jedes dieser physikalischen Ereignisse eine wahrnehmbare Zeiteinheit darstellt, er­

zeugt natürliche Körperrhythmen oder Phra­ sen, mit denen wir interagieren und unser Verhalten entsprechend koordinieren kön­ nen – oder aber uns entscheiden, dies eben nicht zu tun. Diese Wahlmöglichkeit, unser Verhalten zu koordinieren oder nicht, ist ein wichtiges Element und betont jenen wesentli­ chen Faktor, dass wir nicht einfach Oszillato­ ren sind, die rein mechanisch funktionieren. Unsere Fähigkeit, uns auf andere einzustellen oder pünktlich zu sein, ist – zu einem je un­ terschiedlichen Grad – ein natürliches Resul­ tat routinierter und zielgerichteter Handlung. Wenn wir die zahlreichen Effektoren unse­ res Körpers koordinieren können, wie bei­ spielsweise die Synchronisation von Händen und die Stimme innerhalb von Konversation (Condon 1976), dann haben wir die notwen­ dige perzeptuelle, neuronale und motorische Kontrolle, um unser Verhalten mit anderen zu koordinieren. Diese einzelnen Einheiten der action-time, der Handlungs- und Bewe­ gungszeit sind in den sozialen und kulturellen Rhythmus menschlicher Kommunikation, wie z. B. in Musik, Konversation, Tanz oder Comedy, eingebunden. Wenn diese durch ei­ nen menschlichen Körper ausgeführt werden, stellen sie eine reiche Quelle an Interaktions­ möglichkeiten dar. Von unseren Körpern er­ zeugt, sind sie durch diesen formbar und an­ passungsfähig, sowohl auf Mikro- als auch auf Makroebene. Kurz gesagt: Rhythmus wird uns nicht aufgezwungen, sondern durch un­ sere eigenen Handlungen erzeugt und ist uns als solcher zugänglich. Die Auffassung, dass Rhythmus eine spezielle Fähigkeit oder Bega­ bung sei, ist irreführend und für die Mehrheit der Menschen unzutreffend. Tatsächlich wäre eine einfache Aufgabe wie das Laufen ohne unseren akkuraten Zeitsinn und ohne unse­ re Fähigkeit, mit ihm zu spielen, unmöglich. Ein besonderer Fall ist die Musik, bei der wir uns die Zeit nehmen, uns auf die Rhythmen, die wir gemeinsam produzieren und rezipie­ ren, zu konzentrieren, aber ihre entscheiden­ den Bausteine sind Teil unserer elementaren neuronalen Strukturen.

626 

Musiktherapie

2.4 Der Einfluss von ­Beeinträchtigungen Bei körperlichen und/oder geistigen Beein­ trächtigungen und Behinderungen ist es ei­ nes der Hauptziele therapeutischer Prozesse, die negativen Auswirkungen der Schädigun­ gen auf kommunikative Fähigkeiten, sowohl in physischer als auch in psychologischer Hinsicht, zu überwinden. Beeinträchtigun­ gen in der Erzeugung und Wahrnehmung von Rhythmen in menschlichen Handlungen und Bewegungen können das Ergebnis physi­ scher (Ataxie, Zerebralparese, Parkinson; → FS körperliche und motorische Entwicklung) oder psychischer Störungen (Autismus, De­ pression, Borderline-Persönlichkeitsstörung; → FS emotionale und soziale Entwicklung, → FS geistige Entwicklung) sein. In den meisten Fällen besteht jedoch eine Kombination aus unterschiedlich schweren geistigen und kör­ perlichen Beeinträchtigungen. Dies wirkt sich auf die Fähigkeit aus, Rhythmus, Bewegun­ gen und Handlungen mit anderen zu koordi­ nieren, und zwar entweder in der Erzeugung oder Wahrnehmung bzw. in der Fähigkeit, sich auf die Rhythmen anderer einzustellen – all­ gemein „entrainment“ genannt (Clayton et al. 2004). Eine aktuelle Studie über Kinder in den USA stellte fest, dass Kommunikationsstörun­ gen und gleichzeitig auftretende psychische Probleme derzeit größten Anlass zur Besorg­ nis geben, sowohl in pädagogischer als auch in gesundheitlicher Hinsicht (Pinborough-Zim­ mermann et al. 2007). Dass die ästhetischen Eigenschaften der Gliedmaßenbewegungen von Neugeborenen von pädiatrischen Neuro­ logen verwendet werden, um die neurologi­ sche Integrität und Gesundheit der Säuglings festzustellen, veranschaulicht diesen funda­ mentalen Zusammenhang zwischen einem ge­ sunden Körper und einem gesunden Gehirn (Prechtl 2001). Abbildung 1 auf der folgenden Seite zeigt, wie die Fähigkeit unseres Körpers, zeitlich strukturiertes, rhythmisches und vorhersag­ bares Verhalten zu erzeugen, durch Behinde­ rung beeinträchtigt wird, und wie Musik eine

unterstützende Umgebung und therapeuti­ sche Hilfe für das Koordinieren von Verhalten bieten kann. Die in der Abbildung dargestell­ ten Daten wurden mittels Bewegungsauf­ zeichnung (3 dimensional motion capture equipment) gewonnen, in der die Gliedma­ ßenbewegungen bei der einfachen Tätigkeit des Berührens der Nase mit dem Zeigefinger, dreidimensional und in Millimetern, aufge­ zeichnet sind. Die Diagramme A, B und C zei­ gen die Bewegung sowie die je entsprechen­ den Geschwindigkeiten im Verhältnis zur Zeit, dargestellt in der vertikalen Achse: • Diagramm A. stellt die typischen Mess­ werte eines gesunden Erwachsenen dar, der seinen Zeigefinger zur Nase führt und ihn dann wieder senkt. Die Geschwindigkeits­ kurve zeigt die gleichmäßige Beschleuni­ gung und anschließende Verlangsamung einer gut kontrollierten Bewegung, deren zeitlicher Ablauf in ihrer Form erkennbar und prognostizierbar ist. • Diagramm B. zeigt die typischen Werte eines Menschen mit einer schweren Lern­ beeinträchtigung ohne gleichzeitige phy­ sische Beeinträchtigung: Die Bewegung ist langsamer, ruckartiger und nicht antizi­ pierbar. Der Proband ist fähig, seine Nase mit dem Zeigefinger zu erreichen, jedoch nicht mit einer fließenden Bewegung und das Fehlen einer zeitlichen Struktur ist un­ mittelbar aus der graphischen Darstellung seiner Bewegung ersichtlich. • Diagramm C. zeigt dieselbe Person, die die gleiche Bewegung von der Taille zum Kopf ausführt, während sie zu Musik tanzt. Der strukturierende Einfluss von Musik – hier ein Stück Bhangra (eine lebendige Tanz­ musik aus der Punjab-Region Südwestasi­ ens) – ist unmittelbar evident, da der Be­ wegungsablauf nun dem eines gesunden Individuums gleicht. Boucher (2001) hat gezeigt, dass Menschen mit Autismus an Defiziten in der zeitlichen Koordinierung leiden (→ Intersubjektivität und Kommunikation), hauptsächlich in der Wahrnehmung der Rhythmen anderer Perso­



Rhythmus in der ­Kommunikation: Die ­elementare Grundlage der Musiktherapie   627

Abb. 1: Der Einfluss von Musik auf einfache Bewegungshandlungen

nen, was die Kommunikation in Alltagssitua­ tionen sehr erschwert. Ihre eigene Produktion von Rhythmen bleibt hingegen erhalten: klar ersichtlich in restriktivem, repetitivem Verhal­ ten. Derartige mechanische Stereotypien ver­ anschaulichen, dass das Problem im Umgang mit den Rhythmen anderer liegt: Personen mit Autismus sind in der Lage, kontrollierte Handlungen zu erzeugen, aber unfähig, diese Rhythmen dynamisch mit anderen im Alltag zu teilen und mitzuteilen. Sensorische Dysba­ lancen könnten demnach die Grundlage für diesen beeinträchtigenden Einfluss von Autis­ mus und anderen Kommunikationsstörungen bilden. Alltägliche kommunikative Interaktion ist ein kompliziertes choreographisches Gebil­ de aus Gestik, Stimme, Blick und Körper: Es ist eine multimodale Koordination verschiedener

Körperrhythmen. Sensibel dargebotene musi­ kalische Erfahrungen bieten hier einen siche­ ren Rahmen, um Rhythmus innerhalb einer einzelnen Modalität zu teilen – entlastet vom Druck des normalen face-to-face Kontaktes.

3 Rhythmus in der ­Kommunikation: Die ­elementare Grundlage der Musiktherapie Grundlage jedes therapeutischen Prozesses ist Kommunikation. Diese variiert vom linguis­ tisch komplexen Austausch in der Psychoana­

628 

Musiktherapie

lyse bis hin zu überwiegend viszeralen, nonver­ balen Situationen in Musik- und Spieltherapie. In den meisten Fällen kommunizieren Klient und Therapeut auf verschiedensten Ebenen ih­ res kommunikativen Repertoires. Die mensch­ liche Fähigkeit, konstruktiv Zeit miteinander zu verbringen, ist die Grundlage dieser Interakti­ onen und diese Fähigkeit entspringt wiederum dem zentralen Nervensystem, welches in der Lage ist, Handlungen zu kontrollieren. Es exis­ tieren viele unterschiedliche Formen von Musiktherapie, die von Improvisation über das ge­ meinsame Musizieren in Gruppen bis hin zum bloßen Hören von Musik reichen. Anzumerken ist, dass Musiktherapie lediglich ein Beispiel für die Bedeutung von Rhythmus in Therapie und Verhalten ist und dass diese rhythmische Fähigkeit jeden therapeutischen und kommu­ nikativen Austausch untermauert (→ Ästhe­ tische Kommunikation, → Psychomotorik). Musiktherapie bietet eine sichere Platt­ form, um rhythmische Kompetenzen zu er­ kunden und auszuprobieren. Die „American Music Therapy Association“ definiert Musik­ therapie als „verschriebene Anwendung von Musik durch eine hierfür qualifizierte Per­ son, um positive Veränderungen in der psy­ chischen, physischen, kognitiven oder sozia­ len Funktionsfähigkeit eines Individuums mit Gesundheits- oder Verhaltensproblemen zu bewirken“. Ein Schlüsselelement ist die Fä­ higkeit oder Stärke des Therapeuten, unter­ stützende und einfühlsame Rhythmen zur Verfügung zu stellen – menschliche Rhyth­ men in „synrhythmia“: dem Akt des gemein­ samen konstruktiven Teilens und Mitteilens von Zeit (Trevarthen 2007) (→ Intersubjek­ tivität und Kommunikation). Als Musiker konzentrieren wir uns auf das Spielen mit rhythmischen Klängen und machen diese für andere zugänglich, bedeutend und unwider­ stehlich einladend, erfreuend, mitreißend. Die Bedeutung des Rhythmus für mensch­ liche Kommunikation wird durch den po­ sitiven Einfluss unterstützt, den Musikthe­ rapie auf Menschen mit linguistischen oder kommunikativen Defiziten hat, insbesondere wenn sie mit eher klassischer Sprachtherapie

kombiniert wird (Brotons & Koger 2000, Wi­ gram 2002). Der Musiktherapeut stellt hierbei eine sichere Umgebung zur Verfügung, damit die Beteiligten ihre eigenen Rhythmen und die anderer erkunden können. Der Thera­ peut kann dabei helfen, die emotionale Über­ tragung, die Komplexität und die Risiken zu regulieren, indem er währenddessen dem Prinzip des scaffolding (→ Sprachtherapie) im Sinne von Vygotskij (vgl. Berk & Winsler 1995) folgt. Dieses kann dem Einzelnen hel­ fen, in seinen Fähigkeiten und seinem Selbst­ vertrauen zu wachsen und das wieder aufzu­ bauen, was so viele von uns von Geburt an für selbstverständlich halten: Die Fähigkeit, un­ sere Körper zu kontrollieren und für die der anderen sensibel zu sein. Wie Vygotskij be­ reits feststellte: „Was ein Kind heute mit Un­ terstützung tun kann, wird es morgen ganz alleine können“ (Berk & Winsler 1995, 104).

4 „We’ve got rhythm!“ [Reprise] Bewusstes Verhalten ist formbar und zielge­ richtet zugleich sowie ein Ergebnis prospek­ tiver Bewegungs- und Handlungskontrolle. Vorausschauende Kontrolle vereinigt Informa­ tionen von außerhalb des Körpers mit hinwei­ senden Informationen innerhalb des Körpers, um wohlgestaltete, geschickte Bewegungen zu erzeugen. Die Fähigkeit unseres Körpers, ver­ schiedene Informationsflüsse zu koordinieren, um Verhalten zu steuern, erzeugt ein dynami­ sches System, welches sowohl selbst führen als auch geführt werden kann – beides Elemente, die für den therapeutischen Prozess unabding­ bar sind. Musiktherapie kann als „Spielwiese“ verstanden werden, die dem Entdecken kom­ munikativer Fähigkeiten dient. Dabei stellt der Rhythmus die verschiedenen Mittel und Struk­ turen zur Verfügung, auf und mit welchen zu spielen ist. Die Texturen, Farben und Spiele kommen aus der Melodie, der Harmonie, der Klangfarbe und der Vielzahl unterschiedlicher Abstufungen, die die Musik hervorzubringen



Literatur   629

erlaubt. Die Therapeutin agiert wie die Erzie­ herin im Kindergarten, die uns an Orte führt, welche unseren Fähigkeiten entsprechen, die unsere Hand hält, wenn wir höher klettern oder weiter springen möchten, und die uns be­ schützt und unser Vertrauen wachsen lässt.

Literatur Berk, L. E. & Winsler, A. (1995): Scaffolding children’s learning: Vygotsky and early childhood education. Washington, DC: National Association for the Education of Young Children. Bernstein, N. (1967): The coordination and regulati­ on of movements. New York: Pergamon. Boucher, J. (2001): ‚Lost in a sea of time‘: Time-par­ sing and autism. In: Hoerl, C. & McCormack, T. (Eds.): Time and memory. Issues in philosophy and psychology (111–135). Oxford: Clarendon. Brotons, M. & Koger, S. (2000): The impact of mu­ sic therapy on language functioning in dementia. Journal of Music Therapy 37, 3, 183–195. Chapple, E. D. (1970): Culture and biological man. Explorations in behavioral anthropology. New York: Holt, Rinehart & Winston. Clayton, M., Sager, R., & Will, U. (2004): In time with the music: The concept of entrainment and its sig­ nificance for ethnomusicology. ESEM Counter­ point, 1–82. Condon, W. S. & Sander, L. W. (1974): Neonate move­ ment is synchronized with adult speech: Interac­ tional participation and language acquisition. Sci­ ence 183, 99–101. Donald, M. (1999): Preconditions for the evolution of protolanguages. In: Corballis, M. C. & Lea, S. E. G. (Eds.): The descent of mind: Psychological per­ spectives on hominid evolution (138–154). Oxford: Oxford University Press. Jeannerod, M. (1999): To act or not to act: Perspec­ tives on the representation of actions (The 25th Bartlett Lecture). The Quarterly Journal of Experi­ mental Psychology, Section A: Human Experimen­ tal Psychology 52A, 1, 1–29. Jones, M. R. & Boltz, M. (1989): Dynamic attending and responses to time. Psychological Review 96, 3, 459–491. Lashley, K. S. (1951): The problems of serial order in behavior. In: Jeffress, L. A. (Ed.): Cerebral mecha­ nisms in behavior (112–136). New York: Wiley. Lee, D. N. (1998): Guiding movement by coupling taus. Ecological Psychology 10, 3–4, 221–250. Lomax, A. (1982): The cross-cultural variation of rhythmic style. In: Davis, M. (Ed.): Interaction

rhythms. Periodicity in human behavior (149–174). New York: Human Sciences Press. Pinborough-Zimmerman, J., Satterfield, R., Miller, J., Bilder, D., Hossain, S., & McMahon, W. (2007): Communication disorders: Prevalence and co­ morbid intellectual disability, autism and emoti­ onal/behavioural disorders. American Journal of Speech-Language Pathology 16, 359–367. Pöppel, E. (1994): Temporal mechanisms in percep­tion. International Review of Neurobiology 37, 185–202. Prechtl, H. F. R. (2001): Prenatal and early postnatal development of human motor behaviour. In: Kal­ verboer, A. F. & Gramsbergen, A. (Eds.): Handbook on brain and behavior in human development (415–427). Dordrecht: Kluwer. Rizzolatti, G. & Craighero, L. (2004): The mirrorneuron system. Annual Review of Neuroscience 27, 169–192. Schögler, B. & Trevarthen, C. (2007): To sing and dance together. In: Bråten, S. (Ed.): On being mo­ ved: From mirror neurons to empathy (281–302). Amsterdam: Benjamins. Trevarthen, C. (1999): Musicality and the intrinsic motive pulse: Evidence from human psychobiolo­ gy and infant communication. In: Rhythms, musi­ cal narrative, and the origins of human communi­ cation. Musicae Scientiae, Special Issue, 1999–2000 (157–213). Liège: European Society for the Cogni­ tive Sciences of Music. Trevarthen, C. (2008): Human biochronology: On the source and functions of ‚musicality‘. In: Haas, R. & Brandes, V. (Eds.): Proceedings of the Mozart and Science Conference, Baden, October 2006. Vi­ enna: Springer. Trevarthen, C. & Schögler, B. (2007): Dancing minds. In: Braten, S. (Ed.): On being moved by action-per­ ception, music and speech. Mirror neurons and the developmental bases of (pre)verbal intersubjectivi­ ty and clinical applications (281–302). Cambridge: Cambridge University Press. Vygotskij, L. S. (1978): Mind in society: The deve­ lopment of higher psychological processes. Cam­ bridge (MA): Harvard University Press. Warner, R. (1988): Rhythm in social interaction. In: McGrath, J. E. (Ed.): The social psychology of time: New perspectives (63–88). Newbury Park (CA): Sage. Wigram, T. (2002): Indications in music therapy: Evi­ dence from assessment that can identify the expec­ tations of music therapy as a treatment for Autistic Spectrum Disorder (ASD): Meeting the challenge of Evidence Based Practice. British Journal of Mu­ sic Therapy 16, 1, 11–28. [Fachübersetzung: Marie-Noelle Leuer, Ulrike Lüdtke & Bodo Frank]

Psychomotorik Birgit Lütje-Klose

1 Psychomotorische ­Sprach­förderung: Begriffsund Gegenstandsgeschichte Psychomotorische Angebote sind Teil eines komplexen Sprachförderansatzes, der die Ent­ wicklung sprachlich-kommunikativer Kom­ petenzen als ganzheitlichen, mit den Entwick­ lungsdimensionen Motorik, Wahrnehmung, Kognition, Emotion und Soziabilität verknüpf­ ten Prozess versteht. Psychomotorische Situa­ tionen bieten komplexe, großräumige Spielsi­ tuationen, in denen die Kinder handelnd und sprachlich an ihren eigenen Themen arbei­ ten können. Solche Situationen können bei ­entsprechenden Rahmenbedingungen (kleine Lerngruppen bzw. Doppelbesetzung mit einer Sprachpädagogin) im Rahmen des Sportunter­ richts oder in Kleingruppen gestaltet werden. Durch die Betonung der Rolle von Spiel und Bewegung eignet sich die Psychomotorik be­ sonders im Vorschulalter und frühen Grund­ schulalter als Sprachförderkontext.

1.1  Psychomotorik Der Begriff der Psychomotorik geht in Deutschland auf den Gründervater Ernst Johnny Kiphard zurück. Kennzeichnend für die Psychomotorik ist die Annahme einer engen Wechselwirkung von körperlich-motorischen und geistig-seelischen Vorgängen, die sich auch auf den Spracherwerb bezieht. Daraus er­ gibt sich ein Förderansatz, der sich als ganzheit­ lich-humanistische, entwicklungs- und kind­ gemäße Art der Bewegungserziehung versteht (Kiphard 1980, 49). Eggert definiert die Psy­ chomotorik als „die Förderung der Entwick­ lung von Kindern durch das Zusammenspiel von Bewegen, Denken, Fühlen und Orientie­

ren im Spiel oder in einer anderen bedeutungs­ vollen sozialen Handlung mit anderen“ (Eggert & Lütje-Klose 2005, 20). Entwicklungslinien der Psychomotorik verlaufen von der im me­ dizinischen Modell anzusiedelnden psychomo­ torischen Übungsbehandlung im Sinne Kiphards über handlungstheoretische Ansätze hin zur psychoanalytisch fundierten, verstehen­ den Psychomotorik im Sinne Jürgen Seewalds oder Amara Eckerts und zur systemisch-kon­ struktivistischen Perspektive im Verständnis Rolf Balgos und Dietrich Eggerts (vgl. Köcken­ berger & Hammer 2004).

1.2 Ansätze psychomotorischer Sprachförderung Seit Mitte der 1970er Jahre finden psycho­ motorische Ansätze Berücksichtigung in der Förderung von Kindern mit sprachlich-kom­ munikativen Beeinträchtigungen. Sie sehen motorisch akzentuierte Spielhandlungen als besonders anregende, kommunikative Situa­ tionen an und nutzen diese zur Herausforde­ rung sprachlicher Lernprozesse. Der Ansatz der Integrierten Sprach- und Bewegungstherapie von Ingrid Olbrich ent­ stand 1978 auf der Grundlage von Kiphards Annahmen. Olbrich (1989, 2004) setzt einen gestaltpsychologischen Schwerpunkt und sieht die Unterstützung von Mutter-Kind-In­ teraktion als zentrales Element der (Sprach-) Förderung, im Rahmen derer die Therapeutin als Vorbild fungiert und Raum gibt für kind­ liche Selbstregulation und Selbstwirksam­ keitserfahrungen. Amara Eckert (1989, 2006) verortet ihren Ansatz der Integrierten Entwicklungs- und Kommunikationsförderung in der verstehenden Psychomotorik und betont eine psychotherapeutisch ausgerichtete Kör­ perarbeit mit Mutter und Kind. Die gesam­



Entwicklungspsychologische Begründung   631

te Persönlichkeitsentwicklung einschließlich der Sprachentwicklung soll in diesen Ansät­ zen angeregt werden, ohne dass die sprach­ lichen Beeinträchtigungen der Kinder direkt thematisiert werden. Parallel zu Olbrich und Eckert entwickel­ te Barbara Kleinert-Molitor ihren Ansatz der Psychomotorisch orientierten Sprachentwicklungsförderung (1989, 1994), in dem sie sich auf eine handlungstheoretische Grund­ lage bezieht. Sie betont den Stellenwert ei­ nes  bedeutsamen kommunikationsanregen­ den  Handlungsrahmens sowie die Rolle des Spiels für den Spracherwerb. Das thematisch gebundene Bewegungsspiel stellt für sie den „leibnahen und sinnvermittelnden Sprach­ lernort“ (Kleinert-Molitor 1989, 224) dar, in­ nerhalb dessen die Kinder aktiv und krea­ tiv mit Sprache umgehen und angebotene Sprachstrukturen aufgreifen können. Aktuelle Weiterentwicklungen dieser An­ sätze finden sich unter anderem in folgen­ den Beiträgen: Stefan Kuntz (2006) und Sylvia Bender (2004) sehen den psychomotorischen Dialog als Grundlage für die Einbindung psy­ cholinguistischer Strategien. Hildegard Heidtmann & Bernd Hansen (2004) arbeiten diag­ nostische Möglichkeiten für die pragmatische Ebene heraus, Hildegard Heidtmann & Ursel Knebel bringen vielfältige Beispiele für den Einsatz von sprachlichen Modellierungen in psychomotorischen Situationen. Dietrich Eggert & Christina Reichenbach (2004) bear­ beiten die Möglichkeiten der Unterstützung eines positiven Selbstkonzepts sprachbeein­ trächtigter Kinder in psychomotorischen Si­ tuationen und Stefanie Kuhlenkamp knüpft an den Vorschlägen Nitza Katz-Bernsteins zur Schaffung von sicheren Situationen an, in de­ nen Kinder sich verbal wie nonverbal einbrin­ gen können. Birgit Lütje-Klose (2004) stellt den Bezug zum sprachganzheitlichen Ansatz her und fokussiert den Rahmen einer inklusi­ ven Sprach- und Kommunikationsförderung, in der psychomotorische Sprachfördermaß­ nahmen in systemische kind- und umfeldbe­ zogene Beratungs- und Unterstützungspro­ zesse eingebunden werden (1997, 2003).

2 Entwicklungspsychologische Begründung Entwicklungsverständnis und Menschen­ bild gelten in der Psychomotorik als grund­ legend für die pädagogische Haltung und Be­ ziehungsgestaltung. Sprachförderung wird als aktiver, selbstgesteuerter und zugleich koope­ rativer Prozess gesehen, der auf den entwickel­ ten Strukturen des Individuums aufbaut (vgl. Piaget & Inhelder 1977, Bruner 1987) und den ganzen Menschen in allen seinen Entwick­ lungsdimensionen und seinen Einbindungen ins soziale System betrifft. Aus der Perspek­ tive des hier zugrunde gelegten sprachganz­ heitlichen Ansatzes (Norris & Hofmann 1993, 2002, Bindel 2007), der dem systemisch-kon­ struktivistischen Paradigma zuzuordnen ist, wird sprachliches Wissen durch die Verknüp­ fung von Erkenntnissen in den Bereichen ko­ gnitive, semiotische, soziale und sensomotori­ sche Entwicklung angeeignet (→ Sprache und Wahrnehmung). Der Weg führt über körperli­ che und reale Erfahrungen, soziale Rollenspie­ le und die Auseinandersetzung mit symboli­ schen Darstellungen (z. B. in Bilderbüchern) hin zur primär verbalen Kommunikation. Die entwicklungspsychologischen Zusammenhän­ ge von Sprach- und Bewegungsentwicklung sind dabei in den frühen Entwicklungsphasen besonders eng und nehmen ab der konkretoperationalen Phase nach Piaget – also in der Regel im Grundschulalter – allmählich ab (Eg­ gert & Lütje-Klose 2005). Die erwachsenen Bezugspersonen struktu­ rieren im Sinne Bruners (1987, 32 f.) als akti­ ve Sprachlehrer die Situation und machen den Kindern Interaktionsangebote, die sie auf ih­ rem je eigenen Weg in die Sprache unterstüt­ zen. Dabei werden ritualisierte gemeinsame Handlungssituationen, so genannte Formate entwickelt, im Rahmen derer die Kinder zu­ nehmend aktivere Gestalter werden und in denen „Sprache als Fortsetzung des Handelns mit anderen Mitteln“ (Hörmann in KleinertMolitor 1989, 223) wirksam wird. Eine gelin­ gende Kooperation zwischen Kind und Be­

632 

Psychomotorik

zugsperson, eine vertrauensvolle Beziehung und ein Gefühl der Sicherheit sind grund­ legend dafür, dass das Kind sich in diesem Rahmen auf eine Verunsicherung seiner bis­ herigen sprachlichen Konstruktionen einlas­ sen kann. Inwieweit dies gelingt, entscheidet letztlich darüber, ob es zur Auseinanderset­ zung motiviert ist und ob Lernprozesse vor­ an getrieben oder blockiert werden, denn Af­ fekte beeinflussen die Aufmerksamkeit und haben Auswirkungen auf die Gedächtnisleis­ tungen (Braun 2006, 17).

3  Didaktische Einordnung Die didaktischen Prinzipien der psychomoto­ rischen Sprachförderung basieren auf diesem Entwicklungsverständnis. Grundlegend sind die individuelle Entwicklungsorientierung, die Handlungs- und Erfahrungsorientierung, der Sinnbezug durch ein gemeinsames, für alle re­ levantes Thema und das kooperative Handeln von Kindern und Erwachsenen an diesem Gegenstand in einer körperbetonten, im Sin­ ne von Formaten vorstrukturierten Spielsitu­ ation (→ Welterschließung). Der Strukturie­ rung der psychomotorischen Sprachförderung liegt die Vorstellung aufeinander aufbauender, wenn auch nicht klar abzugrenzender Phasen zugrunde, die von einer eher unspezifischen, auf Kommunikation und emotionale Stabili­ sierung orientierten Phase bis hin zu spezifi­ scheren, stärker auf Sprache im engeren Sinn ausgerichteten Fördersequenzen reicht. Strate­ gien des Modellierens (Dannenbauer & Künzig 1991, Norris & Hoffman 1993) lassen sich da­ bei organisch in den Handlungs- und Interak­ tionsablauf einbinden. Sie werden gezielt und in Anpassung an die aktuellen Möglichkeiten der Kinder zum Einsatz gebracht. Eine prozessorientierte, individuelle För­ derdiagnostik bildet die Grundlage der didak­ tischen Planung. Für das Kind ist nach seinen aktuellen Fähigkeiten und Entwicklungs­ themen zu fragen, damit das Förderangebot

daran anknüpft und bedeutsames Handeln ermöglicht. Dazu muss es in motorischer, so­ zial-emotionaler, kognitiver und sprachlicher Hinsicht dem individuellen Entwicklungsni­ veau des einzelnen Kindes entsprechen und Angebote in der Zone der nächsten Entwick­ lung vorhalten. Für die psychomotorische Fördersituation ist zu untersuchen, inwie­ weit die Handlungen der Kommunikations­ partner – wie Sprachpädagogin oder andere Kinder der Gruppe –, die Unterrichtsgegen­ stände und die vereinbarten Regeln sprachund kommunikationsfördernde Bedingun­ gen bieten. Die Förderplanung berücksichtigt drei Ebenen (vgl. Tab. 1): 1. die Gestaltung einer anregenden entwick­ lungsförderlichen Lernumgebung und den Aufbau einer wechselseitigen Beziehung, 2. die Etablierung gemeinsamer Gegenstände und ihre innere Differenzierung im Hin­ blick auf die Bedürfnisse der einzelnen Kinder und 3. die Integration spezifischer Sprachförder­ maßnahmen (Lütje-Klose 1997, 221 f.).

3.1 Gestaltung einer entwicklungs­ fördernden Lernumgebung In der ersten Phase steht die Kontaktaufnah­ me, die Strukturierung einer gelingenden In­ teraktion und die Gestaltung eines bedeu­ tungsvollen gemeinsamen Handlungskontexts im Vordergrund. Eine wichtige Strategie auf der nonverbalen Ebene ist dabei das Wider­ spiegeln (mirroring), bei dem die Sprachpäd­ agogin auf grob- und feinmotorische Bewe­ gungen des Kindes reagiert und sie nachahmt, um so auf nonverbaler Ebene eine wechsel­ seitige Beziehung zu etablieren. Handlungs­ leitend ist dabei, wie Eckert betont, das Prin­ zip des SOUL der reaktiven Sprachtherapie (Weiss 1983): Die Begriffe Silence – Observation – Understanding – Listening symbolisieren eine Grundhaltung, die Kommunikation und nicht Korrektur als Grundlage einer wirksa­ men Sprachförderung ansieht. Den Kindern wird in dieser Phase Sprache angeboten, aber



Didaktische Einordnung   633

nicht abverlangt. Um dialogische Kongruenz zu erreichen, richten sich die Kommunikati­ on und Sprache der Pädagogin am gesamten verbalen wie nonverbalen Ausdruck der Schü­ lerinnen und Schüler und ihrem daraus abge­ leiteten geistigen Verstehen aus (Bindel 2007, 145). Sprach- und kommunikationsfördernde Strategien, die dabei eingesetzt werden kön­ nen, sind zum Beispiel die Interpretation der beobachteten kindlichen Handlungen in Be­ zug auf das gemeinsame Thema (sensemaking im Sinne Bruners), das handlungsbegleiten­ de Sprechen der Pädagogin im Sinne von self ­talking (Verbalisierung der eigenen Handlung) und parallel talking (Verbalisierung der kindli­ chen Handlung), die Bezugnahme auf Hand­ lungen der anderen Kinder oder das Hinzufü­ gen weiterer Aspekte.

3.2 Etablierung gemeinsamer ­Gegenstände Das Prinzip der Kooperation an einem ge­ meinsamen Gegenstand, das der entwick­ lungslogischen Didaktik Georg Feusers (1995) entstammt, prägt den Charakter der zweiten Förderphase: In der Gruppe sollen gemein­ same Spielthemen entwickelt und versprach­ licht werden. Sprache wird hier als „Schlüs­ selwerkzeug des Handelns“ (Kleinert-Molitor 1989, 225) erfahrbar. Die Spielthemen ent­ sprechen den aktuellen Lebensthemen der Kinder, die in dieser offenen Situation aus­ agiert und spielerisch gestaltet werden können (→ Ästhetische Kommunikation). Ziel ist es, die Entwicklung von kognitiver Aktivität und Intentionalität zu unterstützen (thinking for speaking, Bindel 2007). Bei der gemeinsamen Planung und Umsetzung von Aufbauten und Spielhandlung werden die Kinder z. B. durch Fragestrategien, Pausen in der eigenen Rede der Pädagogin, Signale zum Sprecherwechsel dazu angeregt, eigene kommunikative Absich­ ten zu entwickeln und umzusetzen. Die Struk­ turierung der psychomotorischen Spielsitua­ tionen ermöglicht den Einsatz von Strategien des scaffolding (Lütje-Klose 1997, 361 f.): der

gemeinsam geschaffene, als Format gestalte­ te Handlungskontext ermöglicht den Kindern die Orientierung und Übernahme zunehmend aktiverer Anteile der Handlung und Kommu­ nikation. Handlungsleitend ist dabei die Un­ terstützung des Kindes beim Aufbau einer theory of mind des Partners, die voraus setzt, dass das Kind sich in seine Kommunikations­ partner hinein zu versetzen und ihre Perspek­ tive zu berücksichtigen lernt (Norris & Hoff­ man 2002). Die Sprachpädagogin kann dies modellhaft präsentieren, indem sie die Initi­ ativen der Kinder aufgreift und weiter führt, dabei ihre eigenen Überlegungen, Strategien und Schlussfolgerungen verbalisiert und ihre Wahrnehmungen der Kommunikationspart­ ner transparent macht.

3.3 Einsatz spezifischer sprachlichkommunikativer Förderstrategien In der dritten Phase geht es schließlich darum, die im Rahmen der diagnostischen Beobach­ tungen heraus gearbeiteten kommunikativen und sprachlichen Zielstrukturen für die ein­ zelnen Kinder in Modell- und Feedback-Äu­ ßerungen zu präsentieren und die Kinder bei der Erprobung und Verwendung der neuen Strukturen zu unterstützen. Das Kind soll die angebotene Struktur zunächst rezeptiv verar­ beiten. Wenn eine spontane Imitation auftritt oder durch den Rollenwechsel im Spielformat hervorgerufen wird, greift die Sprachpädago­ gin dies auf, indem sie dem Kind ein Feedback gibt. Das kann durch Strategien des Modellie­ rens erfolgen, die die Äußerungen bestätigen oder erweitern, wie die Expansion (syntak­ tische Erweiterung) oder die Extension (se­ mantische Erweiterung), die Umformulierung oder die Kommentierung des Gesagten durch die Pädagogin. Eine andere Möglichkeit ist die Aufforderung zur Korrektur in einer Form, die dem Kind vermittelt, was es gegen seine Ab­ sicht ausgedrückt hat, z. B. durch eine Alternativfrage („Willst du einen Cräcker oder ei­ nen Trecker?“) oder durch Konsequenzen auf der Handlungsebene, wenn eine andere als die

634 

Psychomotorik

Tab. 1: Übersicht über mögliche sprachfördernde Maßnahmen in psychomotorischen Situationen 



  

                

 

 



     

 intendierte Bedeutung kommuniziert wurde. Vor allem die letztgenannten konfrontieren­ den Strategien setzen voraus, dass die Bezie­ hung zwischen Kind und Pädagogin schon ein gewisses Maß an Vertrautheit erreicht hat und das Kind emotional ausreichend gefestigt ist, um eine solche Perturbation verarbeiten zu können. Ein wesentliches Prinzip der psychomo­ torischen Sprachförderung ist dabei die Ori­ entierung auf die Bedeutungsebene und die sprachliche Zurückhaltung der Sprachpä­ dagogin in diesem Prozess: „Verstehen und Sprechen sind durch das Bedürfnis nach Sinn, Entdeckung und Initiative angetriebene Konstruktionsprozesse, die nicht behindert werden dürfen durch Aufdrängen von über­ forderndem sprachlichen Material“ (KleinertMolitor 1989, 228). Die angesprochenen sprachfördernden Stra­ tegien auf den einzelnen Ebenen didaktischer Planung und Förderung werden in Tabelle 1 übersichtsartig zusammengefasst.

                                       

4  Effektivität Die Effektivität psychomotorischer Sprachför­ derung wird seit Jahren kritisch bewertet. In der Anfangsphase der Konzeption ging man auf der Grundlage von Untersuchungen zum Zusammenhang von motorischer und sprach­ lich-kognitiver Entwicklung davon aus, dass ein direkter Transfer von Maßnahmen der Be­ wegungs- und Wahrnehmungsförderung auf sprachliche Entwicklungsprozesse erfolge. Vor allem in den USA, vereinzelt auch in Deutsch­ land (z. B. Eckert 1985) wurden in den 1960er und 1970er Jahren quantitative Untersuchun­ gen durchgeführt, die diesen direkten Zu­ sammenhang nachzuweisen versuchten. Die Metaanalysen aus dieser Zeit zeigten ein er­ nüchterndes Bild: Es waren nur selten signifi­ kante Effekte der perzeptuo-motorischen Pro­ gramme auf sprachliche Aspekte nachweisbar, eine 1:1-Übertragung erschien unwahrschein­ lich (vgl. Eggert & Lütje-Klose 1991). Die Er­ gebnisse dieser Untersuchungen, die isoliert einzelne Items, wie z. B. die Förderung der Kraft und Ausdauer zu Aussprachefähigkeiten



Literatur   635

oder IQ-Werten in Beziehung setzten, werden bis heute unverdrossen rezipiert (z. B. Grün­ ke 2006), sie berücksichtigen allerdings nicht den inzwischen zwanzig Jahre alten konzep­ tionellen Wandel in den Vorstellungen von den Wirkfaktoren psychomotorischer Situationen, die in Fallstudien mit Beobachtungen und Be­ fragungen, Längsschnittuntersuchungen und Expertenbefragungen bestätigt wurden (z. B. Kuhlenkamp 2003, Lütje-Klose 1997), wenn ihre umfassendere Überprüfung auch weiter­ hin ein Forschungsdesiderat darstellt. Dabei wird nicht von einer linearen Beziehung zwi­ schen psychomotorischen Maßnahmen und sprachlichem Fördererfolg ausgegangen, son­ dern von den Wirkungen einer gelingenden Beziehungsgestaltung und Integration indivi­ duell angemessener Sprachfördermaßnahmen in die psychomotorische Situation. Um eine ef­ fektive Sprachförderung zu ermöglichen, müs­ sen psychomotorische Fördermaßnahmen, wie alle anderen Förderkontexte, bestimmte Be­ dingungen erfüllen: Die Interaktion muss vom Kind und seinen Kommunikationspartnern als geglückt wahrgenommen werden; die Situati­ onen müssen es dem Kind ermöglichen, seine Aufmerksamkeit auf die Sprache seiner Part­ ner zu richten; und das gemeinsame Handeln muss das Kind zur Weiterentwicklung seiner sprachlichen Strukturen anregen.

Literatur Bender, S. (2004): Sprache ist mehr als Sprechen – Psychomotorische Kommunikationsförderung als Perspektive für die logopädische Therapie. Moto­ rik 27, 1, 8–15. Bindel, R. (2007): Kognitives Modellieren als didak­ tisches Prinzip. In: Kolberg, T. (Hrsg.): Sprachthe­ rapeutische Förderung im Unterricht (144–159). Stuttgart: Kohlhammer. Braun, K. (2006): Auf den Anfang kommt es an: Wie Gehirne laufen lernen. In: Fischer, K., Knab, E. & Behrens, M. (Hrsg.): Bewegung in Bildung und Ge­ sundheit (13–31). Lemgo: AkL. Bruner, J. S. (1987): Wie das Kind sprechen lernt. Stuttgart: Huber. Dannenbauer, R. & Künzig, A. (1991): Aspekte der entwicklungsproximalen Sprachtherapie und des

Therapeutenverhaltens bei entwicklungsdysphasi­ schen Kindern. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Hand­ buch der Sprachtherapie. Bd. 3: Störungen der Grammatik (167–189). Berlin: Marhold. Eckert, A. R. (1985): Auswirkungen psychomotori­ scher Förderung bei sprachbehinderten Kindern. Frankfurt a. M.: Lang. Eckert, A. R. (1989): Integrierte Entwicklungs- und Kommunikationsförderung. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Grundlagen der Sprachtherapie. Hand­ buch der Sprachtherapie. Bd. 1 (267–277). Berlin: Marhold. Eckert, A. R. (2006): Körperpsychotherapie und Psy­ chomotorik. In: Fischer, K., Knab, E. & Behrens, M. (Hrsg.): Bewegung in Bildung und Gesundheit (346–354). Lemgo: AkL. Eggert, D. & Lütje, B. (1991): Psychomotorik in der (Sonder-)Schule? Empirische Studien zu den Gren­ zen eines Förderkonzepts. Praxis der Psychomoto­ rik 16, 156–168. Eggert, D. & Lütje-Klose, B. (62005): Theorie und Pra­ xis der psychomotorischen Förderung. Dortmund: borgmann. Eggert, D. & Reichenbach, C. (2004): Die Bedeutung des Selbstkonzepts für Sprachentwicklung und Kommunikation. Motorik 27, 1, 8–15. Feuser, G. (1995): Behinderte Kinder und Jugendliche zwischen Integration und Aussonderung. Darm­ stadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Grünke, M. (2006): Der Stellenwert der Psychomoto­ rik in der Lernförderung von Kindern und Jugendli­ chen mit gravierenden Schulschwierigkeiten. In: Fi­ scher, K., Knab & E., Behrens, M. (Hrsg.): Bewegung in Bildung und Gesundheit (32–43). Lemgo: AkL. Heidtmann, H. & Hansen, B. (2004): Pragmatik in Bewegung. Diagnostische Fragestellungen mittels FiF. Motorik 27, 1, 40–48. Heidtmann, H. & Knebel, U. v. (2003): Aussprachefä­ higkeiten spielend fördern. Hamburg: Persen. Katz-Bernstein, N. (2000): Die Bedeutung von Kom­ munikation und Sprache für die Sozialisationspro­ zesse im Vorschulalter. In: Zollinger, B. (Hrsg.): Kinder im Vorschulalter (195–226). Bern: Haupt. Kiphard, E. J. (1980): Motopädagogik. Dortmund: modernes lernen. Kleinert-Molitor, B. (1989): Das Spielgeschehen als Sprachlernort – Psychomotorisch orientierte Sprach­ entwicklungsförderung. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Handbuch der Sprachtherapie. Bd. 1: Grundlagen der Sprachtherapie (222–250). Berlin: Marhold. Kleinert-Molitor, B. (1994): Sprachbildung im Spiel – Zu einigen Grundgedanken und Problempunk­ ten einer psychomotorisch orientierten Sprach­ entwicklungsförderung. In: Lotzmann, G. (Hrsg.): Sprache und Bewegung (99–125). Lemgo: AkL.

636 

Psychomotorik

Köckenberger, H. & Hammer, R. (2004): Psychomo­ torik – Ansätze und Arbeitsfelder. Dortmund: mo­ dernes lernen. Kuhlenkamp, S. (2003): Schulintegrierte psychomo­ torische Entwicklungsförderung in einem Stadtteil mit besonderem Erneuerungsbedarf. Dissertation: Universität Dortmund. Kuntz, S. (2006): Förderung grammatischer Fähigkei­ ten in psychomotorischen Kontexten. In: Fischer, K., Knab, E. & Behrens, M. (Hrsg.): Bewegung in Bildung und Gesundheit (395–401). Lemgo: AkL. Lütje-Klose, B. (1997): Wege integrativer Sprach- und Kommunikationsförderung in der Schule. Kon­ zeptionelle Entwicklungen und ihre Einschätzung durch amerikanische und deutsche Expertinnen. St. Ingbert: Röhrig. Lütje-Klose, B. (2003): Zottel spielt mit. Inklusive Sprachförderung in Spiel- und Bewegungssitua­ tionen. Sportpädagogik 4, 8–11. Lütje-Klose, B. (2004): Szenen psychomotorischer Sprachentwicklungsförderung – Analysiert aus sprachganzheitlicher Perspektive. Motorik 27, 1, 31–39.

Norris, J. A. & Hoffmann, P. R. (1993): Whole langua­ ge intervention for school age children. San Diego: Singular. Norris, J. A. & Hoffman, P. R. (2002): Language de­ velopment and late talkers: A connectionist per­ spective. In: Daniloff, R. G. (Ed.): Connectionist. Approaches to clinical problems in speech and lan­ guage (1–110). Mahwah: Erlbaum. Olbrich, I. (1989): Die integrierte Sprach- und Bewe­ gungstherapie. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Grund­ lagen der Sprachtherapie. Handbuch der Sprach­ therapie. Bd. 1 (252–265). Berlin: Marhold. Olbrich, I. (2004): Sprache und Kommunikation in der Psychomotorik. Psychomotorik als sinnstif­ tender Dialog in Förderung und Therapie ent­ wicklungsauffälliger Kinder und Jugendlicher. In: Köckenberger, H. & Hammer, R. (Hrsg.): Psycho­ motorik – Ansätze und Arbeitsfelder (103–127). Dortmund: modernes lernen. Piaget, J. & Inhelder, B. (1977): Die Psychologie des Kindes. Frankfurt: Fischer. Weiss, R. (1983): Reactive language techniques. Den­ ver: University of Colorado.

 VII  Übergänge zwischen den Förderschwerpunkten

Förderschwerpunkt Hören Klaus-B. Günther

1 Hörbehinderung als Sprachund Kommunikationsstörung: Historischer Rückblick In seiner „Geschichte des Taubstummenwe­ sens“ – bis heute auch international gesehen das wichtigste Standardwerk zur Entwicklung der Hörgeschädigtenpädagogik bis zum Be­ ginn des Zweiten Weltkrieges überhaupt – be­ zeichnet Schumann (1940, 622 ff.) die Taub­ stummenpädagogik auch als „Quellgebiet der Sprachheilschule“. Für den deutschsprachigen Raum ist dieser Zusammenhang besonders evident in der Person von Albert Gutzmann – Urvater der die Phoniatrie in Deutschland begründenden Gutzmann-Dynastie und der „Berliner Schule der Sprachheilkunde“ –, der ab 1875 als Taubstummenlehrer und von 1897 bis zu seinem Tode 1910 als Direktor an der Städtischen Taubstummenanstalt in Berlin wirkte, Konzepte und Kurse für Stot­ terer entwickelte und zusammen mit seinem Sohn Hermann Gutzmann die bemerkenswer­ te Fachzeitschrift Medizinisch-pädagogische Monatszeitschrift für die gesamte Sprachheil­ kunde gründete und herausgab (vgl. Teumer 1995). Allerdings schon bei Albert Gutzmann findet man keine überzeugende Verknüpfung von spezifischen Sprachentwicklungsstörun­ gen mit Problemen der Aneignung der gespro­ chenen und geschriebenen Sprache bei gehör­ losen Schülerinnen und Schülern.

2 Audiogene vs. Spezifische Sprachentwicklungsstörungen Obwohl Luchsinger & Arnold schon 1970 den Terminus der audiogenen Sprachent­

wicklungsstörung einführten, verwundert es nicht, dass anders als bei Spezifischen Sprach­ entwicklungsstörungen (→ Entwicklungsbe­ dingte Sprachstörungen) im Falle von Hör­ schädigungen (→ Organische Sprach- und Sprechstörungen) selten von Sprachentwick­ lungs- und Kommunikationsstörungen ge­ sprochen wird. Man ging und geht hörge­ schädigtenpädagogisch traditionell davon aus, dass eine gelingende Verbalsprachentwicklung allein durch eine richtig angewandte – bis in die 1970er Jahre orale, später in Verbindung mit frühzeitig-optimaler Diagnose und Ver­ sorgung mit Hochleistungshörgeräten bzw. Cochlea-Implantat (CI) aurale – Förderme­ thode gesichert wird.

2.1  Studien Vorwiegend durch Lese-/Schreibtests erho­ bene national repräsentative Stichproben von oral geförderten hörgeschädigten Schulab­ gängern beispielsweise in England und Wales (Conrad 1979) oder in der (alten) Bundes­ republik (Günther & Schulte 1988) zeigten jedoch übereinstimmend, dass nach zehn Schuljahren etwa jeder zweite gehörlose und jeder vierte hochgradig schwerhörige Schü­ ler die Schule auf dem Niveau funktionellen Analphabetismus verließ. Dass die zwischen­ zeitlich verbesserten Diagnose-, Versorgungsund Fördermöglichkeiten keine nachhalti­ gen Verbesserungen erbracht haben, weisen die Datenanalysen von Karchmer & Mitchell (2003, 31 f.) zum nationalen Standardisie­ rungsprojekt für den Leseverständnis-Subtest der neunten Auflage des Stanford Achievement Tests für hörende, gehörlose und schwerhörige Schülerinnen und Schüler in den Vereinigten Staaten von 1996 aus, nach denen die Hörge­ schädigten insgesamt auf allen Klassen-/Al­

640 

Förderschwerpunkt Hören

Tab. 1: Sprachentwicklungsstand ausgewählter Kinder mit CI nach der Intensivuntersuchung von Diller/Graser/ Schmalbrock (2000, 230–278) Name

Alter bei CI- Alter bei Unter­ Alter bei Unter­ Dauer der CISprachentwicklungsstand Versorgung suchungsbeginn suchungsende Versorgung (J;M) bei Untersuchungsende

Sebastian 2;4

2;6

5;6

3;2

~ normal, → Regelschule

Michael

1;11

2;10

6;2

4;3

starke Sprachentwick­­ lungsstörung, sonst normal

Lars

3;6

2;10

6;2

2;6

starke Sprach­entwick­ lungsstörung, sonst normal

Filip

2;6

2;6

5;9

3;3

Sprachentwicklungs­ störung bei Migrations­ hintergrund

tersstufen bezogen auf den Median um mehr als 50 Prozentrangplätze unter denen der Hö­ renden liegen (vgl. Tab. 2). Noch näher an der frühen Sprachentwick­ lung und ihren Störungen sind jedoch neuere Untersuchungen bei hörgeschädigten Klein-, Vor- und Grundschulkindern, die sich auf die Auswirkungen entwickelter elektroakusti­ scher Hörhilfen – digitaler Hörgeräte und vor allem des Cochlea-Implantats (CI) (→ Hören und Sprechen) – zentrieren. 2001 legte Szagun eine Untersuchung über die Sprachentwick­ lung von gehörlosen Kleinkindern mit Coch­ lea-Implantat vor. Die Stichprobe bestand neben einer Kontrollgruppe von hörenden Kleinkindern aus 22 frühversorgten und gut frühgeförderten CI-versorgten Kindern der Stichprobe, die keine Mehrfachbehinderun­ gen oder andere Muttersprachen als Deutsch aufwiesen. Nach den Ergebnissen der Stu­ die zeigen von den Kindern mit CI drei Jah­ re nach der Anpassung des Sprachprozessors über die Hälfte ein so niedriges lautsprachli­ ches Entwicklungsniveau, dass Szagun es für fraglich hält, ob sie jemals eine für gelingen­ de Kommunikation und Kognition adäqua­ te Sprachkompetenz erwerben (s. a. Szagun 2010, 8/9). Eine Bestätigung der von Szagun ermittelten Erfolgsrelation bei CI-Versorgung findet sich bei Lürßen (2003, 285), nach der bei „mindestens sechs der zehn untersuchten Kinder die expressiven sprachlichen Leistun­

gen als sprachentwicklungsgestört zu inter­ pretieren sind“. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Diller et al. (2000, 63–138), die eine für die BRD repräsentative Stichprobe von frühdi­ agnostizierten und -geförderten sowie mit Hörgeräte- oder CI-versorgten hörgeschädig­ ten Kleinkindern über mehrere Jahre bezüg­ lich der Lautsprachentwicklung untersuchten (vgl. Tab. 2). Für unsere Diskussion besonders interessant ist eine ebenfalls von Diller et al. (2000, 139–278) durchgeführte Intensivunter­ suchung bei zehn gehörlosen Kleinkindern, deren Ergebnisse für vier CI-versorgte Kinder in Tab. 1 wiedergegeben sind. Obwohl wir zur Vermeidung von verfälschenden Eindrücken einen mehrfachbehinderten Jungen mit star­ ken allgemeinen und sprachlichen Entwick­ lungsverzögerungen sowie ein Mädchen mit zu kurzer Versorgungsdauer aus der Aufstel­ lung herausgelassen haben, zeigt sich nur bei einem Kind (Sebastian) eine annähernd nor­ male Sprachentwicklung mit der Perspektive einer Regelbeschulung. Die anderen in Tab. 1 aufgeführten CI-versorgten Kinder der Inten­ sivstudie weisen trotz bis zu knapp vierjähri­ ger Versorgungsdauer deutliche bis massive Sprachentwicklungsstörungen auf. Während Schwere und Ausmaß solcher Sprachentwicklungsstörungen bei hochgra­ dig hörgeschädigten Kindern sich durchaus erklären lassen und selbst von „auraler Sei­

Audiogene vs. Spezifische Sprachentwicklungsstörungen   641



Tab. 2: Studien zur Sprach- und Kommunikationsentwicklung gehörloser und schwerhöriger Kinder im Detail Autoren

Angaben zur Untersuchung

Ergebnisse

a) Sprachkompetenz Etwa 50 % der Gehörlosen und 25 % der Schwerhörigen schließen die allgemein­bildende Schule auf dem Niveau von funktionellen Analphabeten ab.

Conrad (1979)

Schriftsprachkompetenz gehörloser und schwerhö­ri­ge Schüler zu Abschluss der allge­ meinbildenden Schule in England und Wales mittels Lückentest (N = 350)

Günther & Schulte (1988)

Schriftsprachkompetenz gehörloser/schwerhö­ Knapp 50 % der gehörlosen und 25 % der schwerhörigen Jugendli­ chen verbleiben auf funktionell analphabetischem Niveau. riger Jugendlicher in Berufs­aus­bildung/weiter­ führenden Schulen in der BRD mittels Lückentest (N = 491)

Karchmer & Mitchell (2003)

Auswertung des Subtests Leseverständnis aus den Daten des US-Standardisie­rungs­­projektes für die 9. Aufl. des Stan­ford Achievement Tests für 8- bis 15-jährige hörende und hörgeschädigte Schüler

Hörgeschädigte insgesamt liegen auf allen Klassen-/Altersstufen bezogen auf den Median um > 50 Prozentrangplätze unter denen der Hörendenvergleichspopulation.

b1) Sprachentwicklung und Sprachentwicklungsstörungen Diller u. a. (2000, 63–138) (I)

Repräsentative Stichprobe für die BRD von in Knapp zwei Drittel der Hörgeräte- und 40 % der CI-Träger weisen am auraler Früherziehung betreuten hochgradig Ende des Vor­schulalters Sprachentwicklungsstörungen auf. hörgeschädigten Klein­kindern. Daten zur Sprachentwicklung mittels Fragebögen an Eltern und Früherzieher mit 3 Erhebungs­zeitpunkten zwischen Ø 2 u. 5 Jahren (N = 92)

Diller u. a. (2000, 139–278) (II)

Intensivstudie über 3 Jahre von in auraler Früher­ ziehung betreuter hochgradig hörgeschädigter Klein­kinder Daten zur Sprachentwick­lung mittels Interviews mit Eltern und Früh­erzieher (N = 10)

Von den 6 CI-versorgten weisen nur 1 Kind eine ~ normale Sprachent­ wicklung , 4 Kinder eine SES, 1 Kind allgemeine Entwicklungs- und Sprachstörungen sowie 1 Kind eine wegen zu geringer Versorgungs­ dauer nicht beurteilbare Sprachentwicklung auf. Die vier Hörgeräte­ träger zeigen allesamt SES.

SchultzCoulon (2005)

Matched-Pairvergleich mit 22 nach Alter, Geschlecht und Schweregrad der Sprachent­ wicklungsstörung parallelisier­ten Paaren von Spezifisch vs. audiogener SES mittels verschiede­ nener Verfahren

Im Vergleich zu den Spezifisch gestörten weisen audiogen sprachentwicklungs­­gestör­te Kinder ausgeprägte Entwicklungsrück­ stände im Sprachverständnis und aktiven Wortschatz auf. Umgekehrt schneiden sie erwartungswidrig bei auditiven Gedächtnisaufgaben aber auch bei der Artikulation besser ab als die Spezifisch Sprachent­ wicklungsgestörten.

KieseHimmel (2006)

Im Göttinger Hörsprach­register über 10 Jahre ge­ hörlose/schwerhöri­­ge erfasste Vor-/Grundschul­ kinder. Prüfung der Sprach­entwicklung mit verschiedenen Verfahren (N = 336)

Die Publikation selbst enthält keine aufbereiteten Daten zur Sprach­ entwicklung hörgeschädigter Kinder. In verschiedenen kleinen Teiluntersuchungen finden sich aber deutliche Hinweise auf SES bei hochgradiger und z. T. mittelgradiger Hörschädigung.

b2) Spez. Unter­suchun­­gen zu CI-versorgten Kindern Szagun (2001)

Prüfung der Sprachentwicklung mittels meh­re­ rer Spontanspracherhebungen über ~ 3 J. bei früh mit CI versorgten und geförderten ge­hör­losen Klein­kindern (N = 22) und hörender Vergleichs­gruppe

Am Ende des Vorschulalters weisen von den CI-Kindern > 50 % eine deutliche bis massive SES, 1/3 eine durchschnittliche und  40 % der gehörlosen und schwerhörigen Schüler ihre Kommunikations­ möglichkeiten in der Familie als mäßig bis minimal ein. Mit über 50 % sind die massiven Kommunikat­ions­schwierigkeiten ge­ genüber Fremden für die hörgeschädigten Schüler insgesamt noch deutlicher ausgeprägt und steigen bei den gehörlosen auf 90 %. Nach kinderpsychiatrischem Urteil sind > 50 % der untersuchten Hör­ geschädigten als mäßig bis stark auffällig einzuschätzen, d. s. um das drei- bis vierfache höhere Werte im Vergleich zu Nichtbehinderten.

642 

Förderschwerpunkt Hören

te“ der hörgerichteten Position mittlerweile bestätigt werden (z. B. Graser 2007), sind Be­ funde, dass dies auch für einen Teil der mit­ telgradig Schwerhörigen zu gelten scheint (Kiese-Himmel 2006), in hohem Maße uner­ wartet (vgl. Tab. 2). Schultz-Coulon et al. führten 2005 einen Matched-Pairs-Vergleich mit 22 nach Alter, Geschlecht und Schweregrad der Sprachent­ wicklungsstörung parallelisierten Paaren von spezifisch vs. audiogen sprachentwicklungs­ gestörten Kindern durch. Dabei weisen die audiogen sprachentwicklungsgestörten gegen­ über auch nicht erwartungsgemäß abschnei­ denden spezifisch sprachentwicklungsgestör­ ten deutlichere Entwicklungsrückstände in Sprachverständnis und aktivem Wortschatz auf, während sie paradoxerweise im Vergleich zu Erstgenannten und im Widerspruch zu Graser (2007) bei auditiven Gedächtnisaufga­ ben aber auch bei der Artikulation besser ab­ schneiden. Es scheint so, als ob Hörgeräte bzw. CI wie auch pädagogisch-therapeutische Maßnah­ men zur Hör-Sprechförderung wohl die audi­ tiv-sprachliche Wahrnehmungs- und mittel­ bar die Sprechfähigkeit bei hörgeschädigten Kindern zum Teil deutlich erhöhen, die ei­ gentliche Sprachentwicklung jedoch in ho­ hem Maße störanfällig bleibt (→ Sprachent­ wicklung und Sprachabbau). Das gilt auch für die bezüglich des Gelin­ gens alltäglicher Kommunikation essenziel­ le emotional psycho-soziale Dimension der Sprache. Kammerers (1989) untersuchte die Einschätzung der kommunikativen Wahr­ nehmungs- und Mitteilungschancen bei 10bis 14-jährigen Schülern, die seinerzeit eine Hörgeschädigtenschule in Nordrhein-West­ falen besuchten (vgl. Tab. 2). Danach schätzen über 40 % der gehörlosen und schwerhöri­ gen Schüler ihre Kommunikationsmöglich­ keiten in der Familie als mäßig bis minimal ein, was im krassen Widerspruch zur Bewer­ tung der kommunikativen Chancen seitens ihrer Eltern, insbesondere der Mütter, steht. Gegenüber Fremden empfindet die Mehrheit der hörgeschädigten Kinder ihre kommuni­

kativen Wahrnehmungs- und Mitteilungs­ chancen als unzureichend, bei den gehörlosen steigt der Anteil auf 90 %. Die Auswirkungen dieser permanenten Kommunikationskrise lassen sich im kinderpsychiatrischen Global­ urteil nachweisen, nach dem über die Hälfte der untersuchten Hörgeschädigten als mä­ ßig bis stark auffällig einzuschätzen ist – eine Rate, die um das Drei- bis Vierfache über der einer vergleichbaren unausgelesenen Feld­ stichprobe liegt. Praktisch keine hinreichenden Erklärun­ gen finden wir bei den zuvor genannten Un­ tersuchungen insgesamt, warum ein Teil der Kinder mit Innenohrschwerhörigkeit in ei­ nem beträchtlichen Maße verbalsprachliche Entwicklungsstörungen aufweist, ein anderer jedoch nicht.

2.2  Diskussion Die genannten Befunde lassen es notwen­ dig erscheinen, systematisch zu prüfen, ob es sich bei den zu beobachtenden Sprachan­ eignungsproblemen entsprechend der klassi­ schen Auffassung tatsächlich nur um peripher bedingte Auswirkungen der Hörschädigung handelt oder ob aus der peripheren Hörstö­ rung nicht auch zentrale Verarbeitungsstörun­ gen resultieren (vgl. Pisani et al. 2008, 89 ff.) (→ Entwicklungsbedingte Sprachstörungen) (→ Organische Sprach- und Sprechstörun­ gen). Graser (2007) hat diese Überlegung zu der Hypothese zugespitzt, dass es sich auch bei CI-versorgten Kindern mit Sprachentwick­ lungsproblemen um identische „spezifische“ Störungen wie bei hörenden sprachbehinder­ ten Kindern handelt, wobei er mit Baddeley (1986) davon ausgeht, dass dem phonologi­ schen Arbeitsspeicher eine zentrale Rolle für die Sprachentwicklung zukommt. Belegen kann er diese Hypothese jedoch weder mit nach eigenem Eingeständnis den Ergebnissen seiner Untersuchung noch mit allgemeinen Daten zur Sprachkompetenzentwicklung bei hörgeschädigten Kindern. Im Einzelnen wi­ dersprechen folgende Tatbestände der Gleich­



Förderdiagnostische ­Konsequenzen für die ­Frühförderung   643

setzung von audiogenen und Spezifischen Sprachentwicklungsstörungen: • Von den vier Kindern der Studie von Gra­ ser (2007) weisen neben einem Jungen mit beeindruckender Sprachentwicklung nach CI-Versorgung nur zwei auditiv-sprachli­ che Gedächtnisstörungen im erwarteten Sinne auf, während sich bei einem weite­ ren sehr auffällige – zum Teil auditiv be­ dingte phonematische Vertauschung (z. B. [b] ➝ [w]) oder dialektal bedingte (etwa [aufräume] statt [aufräumen]) – Ausspra­ chestörungen sowie massive morphosyn­ taktische und syntaktische Probleme als klassische Merkmale von Sprachentwick­ lungsstörungen beobachten, die aber nicht in das zugrunde gelegte Konzept passen und deshalb von Graser als abweichender Fall weitgehend unanalysiert bleiben. • Der Anteil der audiogen sprachgestörten Kinder bezogen auf die Population der hochgradig hörgeschädigten (~ 50 %) liegt etwa um ein Vielfaches über dem Anteil der spezifisch ­sprachbehinderten an den nichthörgeschädigten Kinder (~ 0,5 %). Das heißt, bei hochgradig Hörgeschädigten ist jedes 2./3., bei Hörenden nur jedes 200./300. Kind von einer Sprachentwicklungsstörung betroffen. Von daher erscheint es wenig plausibel, die Sprachentwicklungsstörun­ gen nicht primär audiogen zu erklären. • Befunde der Begleitforschung zu den bi­ lingualen Gebärden- und Verbalsprache integrierenden Schulversuchen mit hoch­ gradig hörgeschädigten Schülerinnen und Schülern in Hamburg (Günther & Schäf­ ke 2004) und Berlin (Günther & Hennies 2007) ergaben deutlich bessere Werte für die Entwicklung der Sprachkompetenz in der Verbalsprache bei den bilingualen ge­ genüber den aural und/oder oral geför­ derten. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass es fehlende oder unzureichende strukturelle, kommunikative und affektive Entwicklungsimpulse in einer starken, das heißt, für das Kind bezüglich der Meilen­ steine der Entwicklung adäquaten Sprache

und nicht Teilleistungen wie beispielswei­ se das sogenannte phonologische Arbeits­ gedächtnis sind, die die sprachlichen Ent­ wicklungsstörungen bei einem Teil der schwerhörigen und gehörlosen Kinder be­ wirken. • In dieselbe Argumentationslinie weisen Erkenntnisse, aus denen sich die emotio­ nale Dimension von Sprache als essen­ tiell für das Gelingen alltäglicher Kom­ munikation und Kognition ableiten lässt. Aus der kinderpsychiatrischen Forschung der letzten zwanzig Jahre wissen wir, dass Hörgeschädigte eine ­Hochrisikogruppe dar­stellen mit einer um drei bis viermal so hohen Wahrscheinlichkeit einer psy­ chischen Erkrankung gegenüber Nor­ malhörenden und einem signifikanten Zusammenhang mit Sprach- und Kom­ munikationsproblemen (Kammerer 1988, Wehrmann et al. 2007) (→ Frühe Kommu­ nikation und Interaktion). Ebenfalls belegt sind in der Forschungsliteratur Störungen der Identitätsentwicklung bei gehörlosen und hochgradig Hörgeschädigten infolge der sprachlichen Kommunikationsproble­ me (Ahrbeck 1992, 1994, Matthes 1996).

3 Förderdiagnostische ­Konsequenzen für die ­Frühförderung Im Vergleich zu hörenden Kindern weisen hörgeschädigte einerseits einen extrem ho­ hen Anteil von Sprachentwicklungsstörungen auf. Andererseits ist forschungsmäßig belegt, dass sich diese Störungen durch psychosozial und linguistisch begründete Förder­ konzepte wie etwa dem bilingualen Modell ver­ meiden lassen. Dies führt zu der Frage, ob es sich bei den audiogenen Sprachproblemen tat­ sächlich um klassische Sprachentwicklungs­ störungen handelt oder ob sie das Ergebnis einer falschen einseitigen Methodik sind  –

644 

Förderschwerpunkt Hören

a­ lleinige lautsprachliche Förderung unter Vermeidung des Einsatzes von Gebärden­ sprache –, vor allem in der Phase der Früher­ ziehung (→ Prävention von Sprachentwick­ lungsstörungen). Grundsätzlich scheint für hörgeschädigte Kinder ein fundamentaler Paradigmenwech­ sel gegenüber der gegenwärtig dominant au­ ral-oralen Förderpraxis in Richtung auf ein offenes bilinguales Konzept in Gebärden-, Schrift- und Lautsprache notwendig, das für alle Hörgeschädigten schon in der frühen Kindheit die sprachlich-kommunikativen Ba­ sisentwicklungen in der starken Sprache kon­ sequent sichert, ohne auf individuell differen­ zierende Förderung in der schwachen Sprache zu verzichten. Für den Teil der hörgeschädig­ ten Kinder wird die Gebärdensprache (→ Ge­ bärden und Sehen) das langfristig sichernde Netz darstellen, um überhaupt zur Sprache zu kommen, für die anderen wird durch die implizite Kontrastivität des bilingualen Kon­ zeptes eine stärkere kompetenzfördernde Be­ wusstheit für Sprachen aufgebaut. Dabei geht es mit Blick auf die weiter oben genannten Be­ funde aus der Kinderpsychiatrie- und Identi­ tätsforschung keineswegs nur um Sprachför­ derung im umschriebenen klassischen Sinne, sondern um ein Konzept, das Sprache neben der kommunikativen und kognitiven auch in seiner psycho-soziale Interaktionsprozesse steuernden emotionalen Dimension (→ Ko­ gnition und Emotion) bewusst werden lässt (vgl. Marschark et al. 2006).

Literatur Ahrbeck, B. (1992): Gehörlosigkeit und Identität. Probleme der Identitätsbildung Gehörloser aus der Sicht soziologischer und psychoanalytischer Theo­ rien. Hamburg: Signum. Ahrbeck, B. (1994): Das Leben in der Welt der Hören­ den heißt Schweigen in der eigenen Sprache. Über­ legungen zur Hör-Spracherziehung. DFGS-Forum 1, 2, 106–115. Baddeley, A. D. (1986): Working Memory. Oxford: Oxford University Press. Conrad, R. (1979): The deaf schoolchild: Language and cognitive function. London: Harper & Row.

Diller, G., Graser, P. & Schmalbrock, C. (2000): Hör­ gerichtete Frühförderung hochgradig hörgeschä­ digter Kleinkinder. Heidelberg: Winter. Graser, P. (2007): Sprachentwicklung bei Kindern mit Cochlear Implant. Heidelberg: Winter. Günther, K.-B. & Hennies, J. (2007): Bilingualer Un­ terricht in Gebärden-, Laut- und Schriftsprache mit gehörlosen SchülerInnen in der Primarstufe – Zwischenbericht zum Berliner Bilingualen Schul­ versuch. Berlin: Berichtsvorlage für die Berliner Senatsschulverwaltung und das BMBW. Günther, K.-B. & Schäfke, I. (2004): Bilinguale Erzie­ hung als Förderkonzept für gehörlose SchülerIn­ nen – Abschlussbericht zum Hamburger Bilingu­ alen Schulversuch. Hamburg: Signum. Günther, K.-B. & Schulte, K. (1988): Berufssprach­ bezogene Kurzsprachuntersuchung (BSK) – Kon­ junktionale Verbindungen und Prädikatskon­ struktionen als Indikatoren für berufssprachlich geforderte Kompetenz. In: Schulte, K., SchlenkerSchulte, C. & Günther, K.-B. (Hrsg.): Fortentwick­ lung berufssprachlicher Fähigkeiten Hörgeschä­ digter. Forschungsbericht Sozialforschung 168 (245–329). Bonn: BMAS. Karchmer, M. A. & Mitchell, R. E. (2003): Demogra­ phic and achievement characteristics of deaf and hard-of-hearing students. In: Marschark, M. & Spencer, P. E. (Eds.): Oxford Handbook of Deaf Studies, Language and Education (21–37). New York: Oxford University Press. Kiese-Himmel, C. (2006): Eine Dekade Göttinger Hör-Sprachregister – Persistierende periphere Hör­ störungen und Sprachentwicklung im Kindesalter. Heidelberg: Killisch-Horn. Kammerer, E. (1989): Kinderpsychiatrische Aspekte der schweren Hörschädigung. Stuttgart: Enke. Luchsinger, R. & Arnold, G. E. (31970): Lehrbuch der Stimm- und Sprachheilkunde. Wien: Springer. Lürßen, U. (2003): Untersuchungen zum Wortschatz und phonologischen Gedächtnis bei Cochlear-Im­ plant-versorgten Kindern. Frankfurt a. M.: Lang. Marschark, M., Rhoten, C. & Fabich, M. (2006): Ethik und Hörschädigung im 21. Jahrhundert – For­ schung, Pädagogik und Politik. In: Hintermair, M. (Hrsg.): Ethik und Hörschädigung (487–522). Hei­ delberg: Median. Matthes, C. (1996): Identität und Sprache Gehörloser zwischen Laut- und Gebärdensprache, zwischen gehörloser und hörender Welt. Das Zeichen 10 (Teil I 358–365, Teil II 536–543). Pisani, D. B., Conway, Ch. M., Kronenberger, W. G., Horn, D. L., Karpicke, J. & Henning, S. C. (2008). In: Marschark, M. & Hauser, P. C. (Eds.): Deaf Co­ gnition, Foundation and Outcomes. Oxford/New York: Oxford University Press.



Literatur   645

Schultz-Coulon, K., Klüsener, P., Limberger, A. & Keilmann, A. (2005): Audiogene und spezifische Sprachentwicklungsstörung – Ein Matched-PairsVergleich. Vortrag zur Tagung „100 Jahre Phonia­ trie in Deutschland“ in Berlin 2005. E-Journal German Medical Sience (GMS – www.egms.de/de/ meetings/dgpp2005/05dgpp039.shmtl). Schumann, P. (1940): Geschichte des Taubstummen­ wesens vom deutschen Standpunkt aus dargestellt. Frankfurt a. M.: Diesterweg. Szagun, G. (2001): Wie Sprache entsteht; Spracher­ werb bei Kindern mit normalem und beeinträch­ tigtem Hören. Weinheim: Beltz.

Szagun, G. (2010): Einflüsse auf den Spracherwerb bei Kindern mit Cochlea Implantat: Implanta­ tionsalter, soziale Faktoren und die Sprache der El­ tern. Hörgeschädigte Kinder – erwachsene Hörge­ schädigte 47, 8–36. Teumer, J. (Hrsg.) (1995): Zum Beispiel Albert Gutz­ mann. Leben und Wirken eines bedeutenden Gehör­ losen- und Sprachheilpädagogen. Berlin: Marhold. Wehrmann, G., Schwenzer, D. & Lischka, E. (2007): Diagnostik und Therapie bei hörgeschädigten, psychisch kranken Kindern und Jugendlichen. hörgeschädigte kinder – erwachsene hörgeschä­ digte 44, 2, 78–80.

Förderschwerpunkt Lernen Birgit Lütje-Klose

Beeinträchtigungen in den Förderschwerpunk­ ten Lernen und Sprache sind nicht überschnei­ dungsfrei, sondern überlappen sich in großem Umfang. So sind bei Schülerinnen und Schü­ lern, die die Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen besuchen, in großem Umfang auch sprachlich-kommunikative Beeinträchti­ gungen festzustellen, und an der Förderschule mit dem Schwerpunkt Sprache finden sich Schüler, die auch spezifische oder allgemei­ ne Lernprobleme zeigen. In integrativen Settings werden sehr häufig „doppelte Förderbe­ darfe“ in diesen beiden Bereichen festgestellt, um den komplexen Problemlagen Rechnung zu tragen. Im Folgenden werden anhand von empirischen Daten und Beispielen sprachliche Beeinträchtigungen bei Schülern an der För­ derschule mit dem Schwerpunkt Lernen her­ aus gearbeitet und Möglichkeiten der Sprach­ förderung in diesem Kontext dargestellt.

1 Sonderpädagogischer ­Förderbedarf im Schwerpunkt Lernen In der menschlichen Entwicklung sind Spra­ che und Denken eng aufeinander bezogen (Vygotskij 51972 [i. O. 1934]), sprachliche und kognitive Lernprozesse bedingen einander und regen sich gegenseitig an. Versteht man Lernen im Sinne der KMK-Empfehlungen für den Förderschwerpunkt Lernen als „Entfal­ tung der eigenen Kräfte sowie als Aneignung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkei­ ten“, der sich „im Austausch des Individuums mit seiner Umwelt“ (KMK 1998a, 300) voll­ zieht, so ist in der Kommunikation mit ande­ ren eine zentrale Bedingung für die Anregung

und Gestaltung von Lernprozessen überhaupt zu sehen (→ Interdisziplinäre Theorie sprach­ lichen Lehrens und Lernens). Die KMK-Empfehlungen sehen „bei Schü­ lerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen des Lernens … die Beziehung zwischen Indi­ viduum und Umwelt dauerhaft bzw. zeitweilig so erschwert, dass sie die Ziele und Inhalte der Lehrpläne der allgemeinen Schule nicht oder nur ansatzweise erreichen können“ (KMK 1998a). Lernbeeinträchtigung wird hier als Beziehungsstörung zwischen Individuum und Umwelt verstanden, die sich auf das schuli­ sche Lernen ungünstig auswirkt, langfristig zu Schulversagen führt und in enger „Verbindung mit Beeinträchtigungen der motorischen, sen­ sorischen, kognitiven, sprachlichen sowie so­ zialen und emotionalen Fähigkeiten“ (KMK 1998a, 301) gesehen wird. Sprache wird als eine der grundlegenden Entwicklungsdimen­ sionen aufgeführt, die in Wechselwirkungen zueinander stehen. Dementsprechend bezie­ hen sich die empfohlenen diagnostischen und fördernden Maßnahmen unter anderem auf das sprachliche Handeln sowie die Kommu­ nikations- und Interaktionsfähigkeiten des einzelnen Kindes. In seinem Kommentar zu dem KMK-Empfehlungen zum Förderschwer­ punkt Lernen führt Schmetz (2000) das zu­ grunde liegende systemische Verständnis von Lernen und Lernbeeinträchtigung mit Blick auf den Stellenwert sprachlich-kommunika­ tiver Anteile näher aus: „Lernbehinderung ist im systemischen Sinne Ausdruck der nicht gelungenen und fehlenden Passung zwischen den individuellen Lernmöglichkeiten des Kin­ des und der normativen Erwartungshaltung von Schule“ (Schmetz 2000, 326). Eine solche Passung (wieder) herzustellen, ist Aufgabe der Förderangebote, dabei sind die Beziehungs­ angebote der Umwelt an das Kind wesentlich sprachlich vermittelt.



Sonderpädagogischer ­Förderbedarf im Schwerpunkt Lernen   647

Diese Sichtweise von Lernbeeinträchtigun­ gen, die das einzelne Kind im Kontext seiner verschiedenen lebensweltlichen Bezüge sieht und die Entstehung von Lernbehinderung im Rahmen eines komplexen Interaktionsprozes­ ses zwischen Individuum und Umwelt als sozi­ alen Zuschreibungsprozess versteht, setzt sich ab von den in der Geschichte der Lernbehin­ dertenpädagogik lange Zeit vorherrschenden, monokausal auf den Faktor Intelligenz bezoge­ nen Erklärungsansätzen (vgl. Werning & Lüt­ je-Klose 22006, 47 ff.). Auf einen wichtigen sprachlichen Aspekt der Entstehung von Lernstörungen gehen Lauth et al. (2004) ein. Sie unterscheiden im Sinne eines multifaktoriellen Ansatzes „all­ gemeine Lernbeeinträchtigungen“ und „be­ reichsspezifische Lernstörungen“ wie LeseRechtschreib-Schwierigkeiten [→ Beeinträch­ tigungen der Lesefähigkeit bei Kindern mit ADHD] oder Rechenschwierigkeiten, die durch mangelnde Lernaktivitäten oder Infor­ mationsverarbeitung verursacht werden und in der Folge nicht gelingender sozial-ökolo­ gischer Übergänge verstärkt werden können. Im Hinblick auf die Überschneidung zum Förderschwerpunkt Sprache ist dabei der As­ pekt der mangelnden Informationsverarbeitung von besonderem Interesse: Demnach ha­ ben Kinder mit Lernstörungen in höherem Maße als andere Schüler Schwierigkeiten, verbal zu verarbeitende Botschaften wie zum Beispiel Anweisungen oder Erklärungen ein­ zuordnen und die relevanten Informationen zu entnehmen. Stattdessen greifen sie will­ kürlich einzelne Elemente aus der Vielfalt der dargebotenen Information heraus. Das Ent­ stehen dieser Problemlage wird durch Rück­ stände in der allgemeinen oder bereichsspezi­ fischen Entwicklung erklärt, zum Beispiel im Hinblick auf das phonologische Rekodieren, das phonematische Bewusstsein oder die le­ xikalische Entwicklung, die in Kombina­tion mit Defiziten in den kognitiven Strategien (z. B. Gedächtnis) zu den Lernstörungen füh­ ren (Lauth et al. 2004, 20). Einer der ersten in Deutschland, der aus lern­ behindertenpädagogischer Sicht die sprach­-

lichen Erwartungen der Schule an die Schü­ ler problematisierte und einen engen Zusam­ menhang zwischen sozialen Problemlagen der Schüler mit Lernbeeinträchtigungen, ihrer spezifischen Sprachverwendung und ihrem Schulversagen herstellte, war Ernst Begemann (1970). Die spezifische Sprache lernbeeinträch­ tigter Schüler erklärte er unter Bezugnahme auf die Thesen des amerikanischen Soziolin­ guisten Bernstein (→ Norm und Differenz) als schichtspezifisches Phänomen: „Sie ist Ausdruck einer subkulturellen Gruppe, deren Mitglieder sie in ihrem ‚Kol­ lektiv‘ isoliert, weil diese keinen Zugang ha­ ben zu den Gefühls-, Denk- und Lebensge­ wohnheiten der Träger eines differenzierten Sprachgebrauchs. Infolgedessen sind die Kin­ der der Unterschicht durch ihre Sprachform benachteiligt für die schulischen Erziehungsund Bildungsprozesse, weil sie 1. die für die eigenen Lernprozesse notwen­ dige differenzierte Sprachform nicht besit­ zen, 2. die Sprache der Schule als Mittelschichts­ institution nicht verstehen, 3. durch ihre Sprache als ‚minderbefähigte‘ Unterschichtkinder auffallen, 4. ohne Verständnis sind für die Wertorien­ tierungen und allgemeinen Kommunika­ tionsformen der anderen sozio-kulturellen Gruppen und 5. in der Sprache kein Mittel haben, um sich distanziert affektiv zu entlasten“ (Bege­ mann 1970, 122). In einer späteren Metaanalyse führt Bege­ mann (1996) Studien an, die bei den Förder­ schülern im Vergleich zu Regelschülern einen geringeren Umfang an sprachlichen Äuße­ rungen, eine Spezifik des verwendeten Voka­ bulars, eine stärker kontextbezogene situativ gebundene Sprache und eine größere Nähe der Schülertexte zum mündlichen Sprachge­ brauch deutlich machen. Er schloss daraus auf eine spezifische Sprachverwendung bei dieser Schülergruppe (→ Norm und Differenz), die mit den sprachlichen Erwartungen der Institu­ tion Schule oft nicht zusammen passt und da­

648 

Förderschwerpunkt Lernen

durch zum Schulversagen beiträgt (Begemann 1996, 150 f.). Diese Perspektive findet wiederum in den KMK-Empfehlungen zum Förderschwer­ punkt Sprache Berücksichtigung, indem der Stellenwert von Sprache für schulisches Ler­ nen betont wird: „… in der Schule ist Spra­ che nicht nur ein herausragender Lernge­ genstand, sondern schulisches Lernen ist vor allem sprachlich vermitteltes Lernen. Sprache ist zentrales Medium schulischen Lernens“ (KMK 1998b, 227). Eine wichtige Aufgabe der sonderpädagogischen Förderung im Schwer­ punkt Sprache ist daher in der → Prävention der Entstehung von weiter gehenden Lernstö­ rungen und Schulversagen zu sehen. In der Praxis erfolgt die im Einzelfall pro­ blematische Abgrenzung zwischen einem „primären Förderbedarf“ in den Bereichen Sprache und Lernen bis heute durch Intelli­ genztests, deren Aussagekraft im Hinblick auf die Prognose von Schulerfolg seit den 1970er Jahren bis heute außerordentlich kri­ tisch gesehen wird (vgl. Werning & Lütje-Klo­ se 22006, 50). Das Konstrukt eines „primären Förderbedarfs“ ist relevant für eine institutio­ nelle Zuordnung von Kindern zu bestimmten Schulformen (→ Sprachheilpädagogische und sprachtherapeutische Institutionen und ihr gesellschaftlicher Rahmenkontext), z. B. der Förderschule mit dem Schwerpunkt Sprache oder Lernen, weniger für die Planung von kon­ kreten Fördermaßnahmen für ein bestimmtes Kind mit seiner individuellen Geschichte, sei­ nen spezifischen Ressourcen und Problemen in einer ganz bestimmten Lebenssituation.

2 Soziale Lage und Sprach­ förderbedarf bei ­Schülerinnen und Schülern mit dem ­Förderschwerpunkt Lernen Die soziale Lage von Kindern ist, wie eine ak­ tuelle Untersuchung von Walter (2007) zeigt,

bis heute von besonderem Interesse für die Einschätzung ihrer sprachlichen Förderbe­ darfe. Demnach wird der sprachliche Ent­ wicklungsstand ab dem vierten Lebensjahr stark vom Bildungsniveau der Eltern beein­ flusst. Das gilt sowohl in der Gruppe der ein­ sprachig deutschen als auch in der Gruppe der mehrsprachigen Kinder, bei letzteren ist die­ ser Zusammenhang noch stärker ausgeprägt (→ Interkulturalität und Mehrsprachigkeit). Gleichzeitig ist der Anteil bildungsferner El­ ternhäuser bei den mehrsprachigen Kindern fast doppelt so hoch (40 % gegenüber 21 % bei den einsprachig deutschen Elternhäusern in der Untersuchungsgruppe). Der überproportional hohe Anteil ­sozial randständiger Kinder an den damaligen Schu­len für Lernbehinderte wurde erstma­ lig in den 1970er Jahren in der Untersuchung von Begemann (1970) heraus gestellt, was zu einem Paradigmenwechsel weg von der mo­ nokausalen Sichtweise in der Lernbehinder­ tenpädagogik wesentlich beitrug und zur verstärkten Berücksichtigung der Lebens­ bedingungen der Schüler für die Erklärung von Lernbeeinträchtigungen führte. Dass sich an dieser Schülerzusammensetzung bis heute wenig geändert hat, zeigen die aktuel­ len Untersuchungen von Koch (2004), Wocken (2007) und Klein (2001). In Kochs Untersuchung zur sozialen Lage von Förderschülern (2004) wird ein deutlicher Unterschied zur Lage der Gesamtbevölke­ rung festgestellt. Förderschulfamilien verfü­ gen neben einem durchschnittlich geringeren Einkommen und Berufsstatus der Eltern über geringer ausgeprägte soziale Netzwerke und sind in ihren Freizeitaktivitäten eher durch passiven Konsum, vorrangig Fernsehen, be­ stimmt. Wocken (2007) stellt in seiner vergleichen­ den Untersuchung von Förderschülern und Hauptschülern, Realschülern und Gymna­ siasten in zwei Bundesländern mit den In­ strumenten der Schulvergleichsstudien LAU („Lernausgangslage von Schülerinnen und Schülern der fünften Klassen“, Lehmann & Peek 1997) und KESS („Kompetenzen und



Beispiele für sprachlich-kommunikative ­Beeinträchtigungen   649

Einstellungen von Schülerinnen und Schü­ lern Jahrgangsstufe 4“, Bos & Pietsch 2005) den sozioökonomischen Status der Fami­ lien, die Individuallage und kulturelle Lage (gemessen in Form von Bücherbestand und Fernsehkonsum) als Aspekte heraus, in denen Haupt- und Förderschüler sich unterschei­ den, und stellt zusammenfassend fest: „För­ derschulfamilien sind durch eine extreme so­ zioökonomische Deprivation charakterisiert: sehr niedrige Berufspositionen der Eltern; sehr geringes Einkommen; hohe Arbeitslosig­ keit. Von einer Chancengleichheit des sozioökonomischen Status kann nicht im Mindes­ ten gesprochen werden“ (Wocken 2007, 48). Klein, der Förderschüler in Baden-Würt­ temberg in den Jahren 1969 und 1997 in Be­ zug auf ihre Lebenslagen, ihre Intelligenztest­ ergebnisse und Schulleistungen vergleichend untersucht hat, stellt einen ungebrochenen Trend der Förderschule mit dem Schwer­ punkt Lernen als Schule der armen benachtei­ ligten Schüler fest (vgl. Klein 2001). Er macht insbesondere auf einen Unterschied in 30 Jah­ ren aufmerksam: der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund und den damit ver­ bundenen spezifischen sprachlichen Prob­ lemlagen hat in der Schulform drastisch zu­ genommen. Betrachtet man diese Ergebnisse zusammen mit den Analysen der KMK-Daten von Kornmann und Mitarbeitern (Kornmann 1998, zuletzt Kornmann & Kornmann 2003) zur Überrepräsentation von Schülern mit Mi­ grationshintergrund an Förderschulen, so lässt sich schlussfolgern, dass der sprachliche Förderbedarf in Bezug auf Deutsch als Zweit­ sprache (→ DaZ) an Schulen mit dem Förder­ schwerpunkt Lernen in allen westlichen Bun­ desländern seit Jahren kontinuierlich und in großem Umfang zunimmt. Ein weiteres sprachliches Problem für Schüler mit dem Förderschwerpunkt Ler­ nen ist in der Bewältigung des Schriftsprach­ erwerbs zu sehen (→ Lesen und Schreiben; →  Schriftspracherwerb im Unterrichtskon­ text Deutsch). Wie schon Begemann (1970) stellt Wocken (2007) fest, dass Lese-Recht­ schreib-Schwierigkeiten bei der überwie­

genden Mehrzahl der Schüler im Förder­ schwerpunkt Lernen an der Entstehung und Aufrechterhaltung des Schulversagens stark beteiligt sind (→ Beeinträchtigungen der Le­ sefähigkeit bei Kindern mit ADHD). Auch wenn der Umfang sprachlicher Entwick­ lungsverzögerungen bei Schülern mit dem Förderschwerpunkt Lernen nur unzurei­ chend untersucht ist (→ Beeinträchtigungen der Sprach-/Sprechaktivität: Entwicklungs­ bedingte Sprachstörungen), kann man an­ gesichts der Ergebnisse zu den sprachlichen Schwierigkeiten lese-rechtschreib-schwacher Schüler (vgl. Klicpera & Gasteiger-Klicpera 2007) davon ausgehen, dass auch bei dieser Schülerschaft sprachliche Aspekte wie eine gering ausgeprägte phonologische und meta­ sprachliche Bewusstheit oder eine verzögerte lexikalische Entwicklung an der Entstehung der Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten mit­ beteiligt sind.

3 Beispiele für sprachlichkommunikative ­Beeinträchtigungen und ­Fördermöglichkeiten bei Schülern mit dem ­Förderschwerpunkt Lernen Am Beispiel einer siebten Klasse an einer städ­ tischen Schule mit dem Förderschwerpunkt Lernen soll der Zusammenhang von Proble­ men des Lernens und der Sprache veranschau­ licht werden. Daran anknüpfend wird ein Unterrichtsprojekt vorgestellt, das die Sprachund Kommunikationsförderung der Schüler zum Ziel hat (vgl. Lütje-Klose 2003). Die Klasse wird von vier Mädchen und zehn Jungen im Alter von 14–16 Jahren be­ sucht, acht von ihnen haben einen Migrati­ onshintergrund und wachsen mehrsprachig auf. Bis auf zwei leben alle in prekären Wohn­ verhältnissen und teilen ihre teilweise sehr engen Zimmer z. T. mit mehreren Geschwis­

650 

Förderschwerpunkt Lernen

tern. Es gibt lediglich vier vollständige Fa­ milien in der Klasse und nur fünf Elternteile verfügen über einen Arbeitsplatz. Fünf Schü­ ler der Klasse wurden aus der Grundschule

an die Förderschule umgeschult, sechs ka­ men nach der vierten Klasse und drei erst im Laufe der sechsten Klasse dazu. Zwei von den letztgenannten Schülern besuchten vorher die

Tab. 1: Förderbedürfnisse der Schülerinnen und Schüler sowie Fördermaßnahmen im Unterrichtsprojekt „Musiktheater“ sprachliche Ebene

Beeinträchtigungen der Schülerinnen und Schüler

Sprachfördermaßnahmen

pragmatischkommunikative Ebene

Soziale Organisation eines Gesprächs: • anderen zuhören • turntaking vollziehen

• Spielhandlung in Dialogform • Streit und Versöhnung als Thema • Einübung von Gesprächsstrategien in den Proben-Nachbesprechungen • Einfühlung in andere beim Geben von behutsamer Rückmeldung

effektive Verwirklichung kommunikati­ ver Absichten • Gedanken zielgerichtet einbringen • sich gegen „Vielredner“ durchsetzen • Sprache auf einer kontextangemes­ senen Stilebene verwenden semantischlexikaliche Ebene

• • • • •

Sprachverständnis Wortfindung begrenztes Lexikon Oberbegriffsbildung semantische Felder

• thematische Arbeit • redundante Verwendung von Begrif­ fen in unterschiedlichen Kontexten • semantische Karten • Fachsprache des Musiktheaters

grammatische Ebene

• • • •

Genuszuweisung Pluralbildung Verbflexion Nebensatzkonstruktionen

• Arbeit an freien Texten der Schüler • Behutsame Modellierung in Pla­ nungs- und Rückmeldungsrunden, • Korrektives Feedback beim Theater­ spiel • Verschriftung von Ideen, Entschei­ dungen, Handlungsverlauf auf Plakaten

phonetischphonologische Ebene

• verwaschene, undeutliche Ausspra­ che (z. T. Sozio- oder Ethnolekt, z. T. Kaschieren grammatischer oder lexikalischer Unsicherheiten) • Unsicherheiten in der phonologi­ schen Differenzierung (stimmhafte und stimmlose Plosive, Vokale)

• Erarbeitung der Bedeutung deut­ lichen und adressatenbezogenen Sprechens beim Theaterspiel • Übungen und Modellierungen zu korrekter Aussprache, lebhafter Prosodie, Atmung, angemessener Stimmlage • Lautdifferenzierung anhand der Schülertexte und Videoaufzeich­ nungen

Schriftsprache

• sehr unterschiedliche Entwicklungs­ niveaus, Förderbedarfe in Bezug auf die alphabetische, orthographische und morphematische Strategie (nach May) • sinnentnehmendes Lesen

• unterschiedliche Verschriftungs­ aufgaben: freie Texte zur The­ menfindung, Schreibkonferenzen, Zusammenstellung als Theaterstück, Entwicklung von Liedtexten etc. • differenzierte Lese- und Schreib­ aufgaben nach individuellem Niveau



Literatur   651

Förderschule mit dem Schwerpunkt sprachli­ che Entwicklung, einer wurde aus der Förder­ schule mit dem Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung umgeschult. Die Förderschulklasse stellt also ein Sam­ melbecken für Jugendliche mit den unter­ schiedlichsten Schulkarrieren, Interessen, Fähigkeiten und Bedürfnissen dar, alle sind durch die Erfahrung des Schulversagens und die damit verbundenen Misserfolgserlebnisse stark verunsichert. Zum Aufbau eines ange­ messenen Selbstkonzepts benötigen sie An­ erkennung und Kompetenzerfahrungen (vgl. Eggert & Reichenbach 2004). Dieser Bedarf sowie die umfassenden Pro­ bleme in den sprachlichen Strukturbereichen und im Kommunikationsverhalten werden in einer Unterrichtseinheit zum Musikthea­ ter aufgegriffen, im Rahmen derer die Schüler selbst die Handlung entwickeln, Songs adap­ tieren und gestalten. Als Sänger, Musiker und Schauspieler wollen sie auf der Bühne stehen und sich direkt an ein Publikum wenden oder als Unterstützer im Hintergrund die Tech­ nik aufbauen, Requisiten bereit halten und filmen. Die erfolgreichen Aufführungen am Ende des Projekts ermöglichen ihnen Kom­ petenzerfahrungen und Anerkennung sowie eine Stärkung des Gruppenzusammenhalts. Die kumulierten Förderbedürfnisse in dieser Lerngruppe sowie die im Rahmen des Musik­ theaterprojekts eingesetzten Sprachförder­ maßnahmen werden in der Tabelle zusam­ men gefasst.

4 Schlussfolgerungen für die Sprach- und ­Kommunikationsförderung von Schülern mit ­Lernbeeinträchtigungen Wie die Beispiele zeigen, sind sprachliche und kommunikative Problemlagen mit den Schul­ leistungs- und Lernproblemen von Schülern

mit dem Förderschwerpunkt Lernen unmit­ telbar verknüpft. Eine Sprach- und Kommu­ nikationsförderung, die als didaktisches Prin­ zip den gesamten Unterricht durchzieht und die einzelnen Schüler mit ihren spezifischen Problemlagen im Rahmen eines förderdia­ gnostischen Prozesses (Eggert 52007) unter­ stützt und begleitet, ist für sie nicht weniger bedeutsam als für solche Kinder, für die ein „primärer Förderbedarf “ im Bereich Sprache festgestellt wurde. Dabei sind eine Orientie­ rung an den kommunikativen Ressourcen und Kompetenzen der Schüler (vgl. Kornmann 2007), ein erfahrungs- und handlungsorien­ tierter Zugang unter Berücksichtigung ihrer lebensweltlich relevanten Interessen und Fä­ higkeiten (vgl. Werning & Lütje-Klose 2007) sowie die Anregung selbsttätigen und ko­ operativen Lernens (vgl. Lütje-Klose & Smits 2007) von besonderer Bedeutung, um ihnen Anknüpfungspunkte an die Kultur der Schule zu ermöglichen und ihre Chancen auf soziale Teilhabe auch über die Schulzeit hinaus zu er­ höhen. Sprach(behinderten)pädagogische Ex­ pertise ist daher für die Zusammenarbeit mit Schülern im Förderschwerpunkt Lernen un­ verzichtbar.

Literatur Begemann, E. (1970): Die Erziehung der sozio-kultu­ rell benachteiligten Schüler. Hannover: Schroedel. Begemann, E. (1996): (Miß-)deutungen der Sprache von Lernbehinderten. In: Eberwein, H. (Hrsg.): Handbuch Lernen und Lern-Behinderungen (259– 278). Weinheim: Beltz. Bos, W. & Pietsch, M. (2005): KESS 4. Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern Jahrgangsstufe 4. Hamburg: Behörde für Bildung und Sport und Universität Hamburg. Eggert, D. & Reichenbach, C. (2004): Die Bedeutung des Selbstkonzepts für Sprachentwicklung und Kommunikation. Motorik 27, 1, 8–15. Eggert, D. (52007): Von den Stärken ausgehen … Indi­ viduelle Entwicklungspläne (IEPs) in der Lernför­ derungsdiagnostik. Dortmund: Borgmann. Klein, G. (2001): Sozialer Hintergrund und Schullauf­ bahn von Lernbehinderten/Förderschülern 1969 und 1997. Zeitschrift für Heilpädagogik 52, 2, 51–61.

652 

Förderschwerpunkt Lernen

Klicpera, C. & Gasteiger-Klicpera, B. (2007): Leg­ asthenie. Modelle, Diagnose, Therapie und Förde­ rung. München: Reinhardt. KMK (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kul­ tusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland) (1998a): Empfehlungen zum Förder­ schwerpunkt Lernen. In: Drave, W., Rumpler, F. & Wachtel, P. (Hrsg.) (2000): Empfehlungen zur son­ derpädagogischen Förderung (299–316). Würz­ burg: Edition Bentheim. KMK (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kul­ tusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland) (1998b): Empfehlungen zum Förder­ schwerpunkt Sprache. In: Drave, W., Rumpler, F. & Wachtel, P. (Hrsg.) (2000): Empfehlungen zur son­ derpädagogischen Förderung (223–240). Würz­ burg: Edition Bentheim. KMK (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kul­ tusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland) (2005): Sonderpädagogische Förde­ rung in Schulen 1994–2003. Statistische Veröffent­ lichungen der Kultusministerkonferenz. Bonn. Koch, K. (2004): Die soziale Lage der Familien von Förderschülern – Ergebnisse einer empirischen Studie. Teil I: Sozioökonomische Bedingungen. Sonderpädagogische Förderung 49, 2, 181–200. Koch, K. (2004): Die soziale Lage der Familien von Förderschülern – Ergebnisse einer empirischen Studie. Teil 2: Sozialisationsbedingungen in Fami­ lien von Förderschülern. Sonderpädagogische För­ derung 49, 4, 411–427. Kornmann, R. (1998): Wie ist das zunehmende Schul­ versagen bei Kindern von Migranten zu erklären und zu beheben? Vierteljahresschrift für Heilpä­ dagogik und ihre Nachbargebiete (VHN) 67, 1, 49–54. Kornmann, R. (2007): Förderung des Bewusstseins kommunikativer Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen mit erhöhtem Förderbedarf im Be­ reich Lernen und Entwicklung. Zeitschrift für Heilpädagogik 58, 12 , 470–476. Kornmann, R. & Kornmann, A. (2003): Erneuter An­ stieg der Überrepräsentation ausländischer Kin­

der in Schulen für Lernbehinderte. Zeitschrift für Heilpädagogik 54, 7, 286–289. Lauth, G., Brunstein, J. & Grünke, M. (2004): Inter­ ventionen bei Lernstörungen. Stuttgart: Hogrefe. Lehmann, R. & Peek, R. (1997): Aspekte der Lern­ ausgangslage von Schülerinnen und Schülern der fünften Klassen an Hamburger Schulen. Hamburg: Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung. Lütje-Klose, B. (2003): Didaktische Überlegungen für Schülerinnen und Schüler mit Lernbeeinträchti­ gungen. In: Balgo, R. & Werning, R. (Hrsg.): Ler­ nen und Lernprobleme im systemischen Diskurs (173–203). Dortmund: Borgmann. Lütje-Klose, B. & Smits, A. M. (2007): Sachrechenge­ schichten gemeinsam erfinden. Schülerkoopera­ tion beim entdeckenden Lernen. Lernchancen 56, 10, 37–42. Schmetz, D. (2000): Förderschwerpunkt Lernen. In: Drave, W., Rumpler, F. & Wachtel. P. (Hrsg.) (2000): Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung (323–342). Würzburg: Edition Bent­ heim. Vygotskij, L. S. (51972 [i. O. 1934]): Denken und Spre­ chen. Frankfurt a. M.: Fischer. Walter, M. (2007): Ergebnisse einer epidemiologi­ schen Untersuchung zur Häufigkeit sprachlicher Förderbedürftigkeit bei Vorschulkindern in Bay­ ern. Die Sprachheilarbeit 52, 4, 146–151. Werning, R. & Lütje-Klose, B. (22006): Einführung in die Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen. Mün­ chen: Reinhardt. Werning, R. & Lütje-Klose, B. (2007): Entdeckendes Lernen. In: Heimlich, U. & Wember, F. (Hrsg.): Di­ daktik des Unterrichts im Förderschwerpunkt Ler­ nen. Stuttgart: Kohlhammer. Wocken, H. (2000): Leistung, Intelligenz und Sozial­ lage von Schülern mit Lernbehinderungen. Zeit­ schrift für Heilpädagogik 51, 12, 492–503. Wocken, H. (2007): Fördert Förderschule? Eine empi­ rische Rundreise durch Schulen für „optimale För­ derung“. In: Demmer-Dieckmann, I. & Textor, A. (Hrsg.): Integrationsforschung und Bildungspoli­ tik im Dialog (35–59). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung Clemens Hillenbrand

1 Sprache und Verhalten: ­Entwicklung, Komorbidität und pädagogisches Handeln Für viele Pädagoginnen und Pädagogen, auch im Förderschwerpunkt Sprache, stellen auffal­ lende, störende oder herausfordernde Verhal­ tensweisen der Kinder und Jugendlichen eine große Belastung dar. Der folgende Überblick bietet grundlegende Informationen für die ef­ fektive Förderung emotionaler und sozialer Kompetenzen. Zunächst erfolgt ein kurzer Überblick über die Begrifflichkeit (vgl. 1). Anschließend do­ kumentiert der Rückgriff auf relevante Un­ tersuchungen das gleichzeitige Auftreten von Förderbedürfnissen im Bereich Sprache und Verhalten (vgl. 2). Pädagogische Maßnahmen zur Prävention und Intervention (vgl. 3) wer­ den anschließend in einem Überblick darge­ stellt und unterrichtliche Maßnahmen skiz­ ziert (vgl. 4).

2 Begriffsklärung Der verbreitete Terminus „Gefühls- und Ver­ haltensstörungen“ geht auf einen Vorschlag eines US-amerikanischen Fachverbandes zu­ rück (Opp 2003): „Der Begriff Gefühls- und Verhaltensstörungen beschreibt eine Beein­ trächtigung (disability), die in der Schule als emotionale Reaktionen und Verhalten wahr­ genommen werden und sich von altersange­ messenen, kulturellen oder ethnischen Nor­ men so weit unterscheiden, dass sie auf die Erziehungserfolge des Kindes oder Jugend­ lichen einen negativen Einfluss haben. Er­

ziehungserfolge umfassen schulische Leis­ tungen, soziale, berufsqualifizierende und persönliche Fähigkeiten. Eine solche Beein­ trächtigung ist: • mehr als eine zeitlich begrenzte, erwartba­ re Reaktion auf Stresseinflüsse in der Le­ bensumgebung; • tritt über einen längeren Zeitraum in zwei verschiedenen Verhaltensbereichen (settings) auf, wobei mindestens einer dieser Bereiche schulbezogen ist; und • ist durch direkte Intervention im Rahmen allgemeiner Erziehungsmaßnahmen inso­ fern nicht aufhebbar, als diese Interven­ tionen bereits erfolglos waren oder erfolg­ los sein würden. Gefühls- und Verhaltensstörungen können im Zusammenhang mit anderen Behinderungen auftreten und erfordern für ihre Beschreibung Informationen aus verschiedenen Quellen und Messverfahren“ (Opp 2003, 509–510, zit. Forness & Knitzer 1992). Insbesondere die explizite Berücksichti­ gung der Emotionen in der Begrifflichkeit (→  Kognition und Emotion) wird durch ak­ tuelle Forschungen belegt. Die Schule wird zudem als relevantes Setting anerkannt und findet in der Diagnose entscheidende Berück­ sichtigung – dies entspricht der gesellschaftli­ chen Bedeutung dieser Institution. Die durch den Terminus bezeichneten Auffälligkeiten können in einer sehr einfa­ chen Klassifikation (vgl. Tab. 1) in vier Klas­ sen unterteilt werden (nach Myschker 31999). Umfangreiche internationale Untersuchun­ gen, etwa von Lahey et al. (1999) oder Ihle & Esser (2002), berichten von Prävalenzraten zwischen 10–20 % aller Kinder und Jugendli­ chen, bei denen Gefühls- und Verhaltensstö­ rungen vorliegen. Die Ergebnisse des aktuel­ len Kinder- und Jugendgesundheitssurveys

654 

Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung

Tab. 1: Klassifikation von Gefühls- und Verhaltensstörungen  











   

 

KiGGS in Deutschland (Hölling et al. 2007) dokumentieren die psychische Belastung von 7102 Mädchen und 7376 Jungen im Alter von 3–17 Jahren nach internationalen Kriterien. Auf Basis der Elternangaben schätzt die Stu­ die insgesamt 14,7 % der untersuchten Kinder und Jugendlichen als auffällig oder grenzwer­ tig ein. Eine besondere Häufung zeigt sich im Alter zwischen 7 und 13 Jahren. Auch die Ge­ schlechtsunterschiede sind deutlich: 11,5 % der Mädchen werden von den Eltern als auf­ fällig eingeschätzt im Vergleich zu 17,8 % der Jungen. Allerdings gleichen sich die Häufig­ keiten im Jugendalter an. Besondere Risiken stellen der Migrationshintergrund und ein niedriger sozio-ökonomischer Status dar. Diese Befunde finden Bestätigung in päda­ gogischen Untersuchungen (Hartmann et al. 2003). Die Frage der Ätiologie wird gemäß des in­ teraktionistischen Entwicklungsmodells im komplexen Zusammenwirken verschiedener Entwicklungsfaktoren auf biologischer, so­ zialer und psychischer Ebene gesehen (Kee­ se 2000, Petermann 52002). Die Resilienzfor­ schung (Opp & Fingerle 22007) identifiziert demgegenüber zahlreiche Faktoren, die eine protektive Wirkung auf die kindliche Ent­ wicklung ausüben und die Wirkung von Ri­ sikofaktoren abpuffern können. Die Entste­ hung von Gefühls- und Verhaltensstörungen ist somit das Ergebnis eines je individuellen Entwicklungspfades, der durchaus positiv be­ einflussbar ist.

Die große Verbreitung psychosozialer Pro­bleme erfordert auch die Implementa­ tion zahlreicher Hilfsangebote, denn nur ein Bruchteil der belasteten Kinder und Jugend­ lichen und ihrer Familien (Remschmidt & Walter 1990) erhält auch tatsächlich fachliche Unterstützung. Der Begriff „Erziehungs­ hilfe“ kennzeichnet diese besonderen päd­ agogischen Bemühungen (Mutzeck 1999, Hillenbrand 42008), die praktisch in allen pä­ dagogischen Feldern und Institutionen zu re­ alisieren sind.

3  Mehrfache Risiken Fachkräfte im Förderschwerpunkt Sprache berichten aufgrund ihrer Alltagsbeobachtung von einer Häufung psychosozialer Probleme bei Kindern und Jugendlichen mit dem För­ derschwerpunkt Sprache: „Zahlreiche Unter­ suchungen belegen einen engen Zusammen­ hang zwischen sprachlichen Auffälligkeiten und emotionalen Störungen“ (Keese 2000, 48). Schon die gründliche Untersuchung von Baumgartner (1978) belegt die hohe Präva­ lenz von sozial-emotionalen Auffälligkeiten bei sprachgestörten Kindern. Demnach „be­ urteilten Lehrer und Eltern bei über 50 % der Schüler das Sozialverhalten übereinstimmend als auffällig. Erzieher schätzen das Verhalten bei über 60 % der von ihnen beurteilten Vor­



Prävention und Intervention   655

schulkinder als auffällig ein“ (Baumgartner 1978, 197). Dabei treten externalisierende und internalisierende Formen (vgl. Tab.  1) etwa gleich häufig auf. Eine Münchener Untersuchung bei sprach­ entwicklungsgestörten Kindern (Noterdaeme et al. 1999) (→ Entwicklungsbedingte Sprach­ störungen, → Prävention) nutzt sowohl das international verbreitete Diagnose-In­stru­ ment „Child Behavior Checklist“ (CBCL) und zugleich eine eingehende klinisch-psychiatri­ sche Untersuchung. Bei drei Vierteln der un­ tersuchten Kinder ermitteln die Autorinnen eine klinisch-psychiatrische Diagnose, die vor allem zwei Kategorien betrifft: „Einerseits handelte es sich um hyperkinetische Störun­ gen oder einfache Aufmerksamkeitsstörun­ gen, andererseits um emotionale Störungen bzw. Anpassungsstörungen“ (Noterdaeme et al. 1999, 935). Eine Längsschnittstudie von Risikokin­ dern im Rhein-Neckar-Gebiet berichtet eben­ falls von deutlich erhöhten Auffälligkeiten: „Ein Drittel der Kinder mit Artikulationsstö­ rungen weist jedoch zusätzliche klinisch be­ deutende psychische Störungen auf und un­ terscheidet sich damit deutlich von normal entwickelten Kindern. […] Diese zusätzli­ chen psychischen Auffälligkeiten der artiku­ lationsgestörten Kinder betreffen vor allem hyperkinetische Symptome, also Aufmerk­ samkeitsstörungen und motorische Unruhe. Außerdem treten weitere entwicklungsab­ hängige psychische Auffälligkeiten gehäuft auf, so zum Beispiel Einnässen, Eß- und Schlafstörungen“ (Esser & Wyschkon 2002, 414) (→  Beeinträchtigungen der Lesefähig­ keit). Internationale Untersuchungen bestä­ tigen diese Befunde (Noterdaeme et al. 1999, 931). Auch die soziale Position von Kindern mit Förderbedarf Sprache ist erschwert: Sie sind wenig beliebte Spielpartner, finden nur schwer Akzeptanz bei ihren Peers und erlan­ gen in den Gruppen nur wenig Beachtung (Keese 2000, 48). Damit haben sie aber auch geringere Chancen auf den Erwerb sozialer Kompetenzen.

Die Prognose für den Entwicklungsverlauf erscheint jedoch nach der o. g. Längsschnitt­ untersuchung günstiger zu sein: „Bis zur Pu­ bertät halten diese Auffälligkeiten an, um sich dann im Jugendalter deutlich zurückzu­ bilden. An der Schwelle zum Erwachsenenal­ ter unterscheiden sich Kinder mit Artikulati­ onsstörungen in der Häufigkeit zusätzlicher psychischer Auffälligkeiten nicht mehr von normal entwickelten Gleichaltrigen“ (Esser & Wyschkon 2002, 414). Eine schulorganisatorische Konsequenz der Komorbidität von Entwicklungsauffälligkei­ ten in Sprache, Kognition und emotional-so­ zialen Kompetenzen besteht in der Entwick­ lung von Sonderpädagogischen Förderzentren, die inzwischen in vielen Bundes­ländern exis­ tieren (→ Institutionen).Um die Förderung mehrerer Entwicklungsbereiche realisieren zu können, fordern die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz konsequenterwei­ se die Professionalisierung sonderpädagogi­ scher Lehrkräfte in weiteren Förderbereichen (→  Pädagogische Professionalität). Die Leh­ rerbildung im Förderschwerpunkt Sprache muss „einen Überblick über den Gesamtbe­ reich der Erziehung und Unterrichtung von Schülerinnen und Schülern mit Sonderpäda­ gogischem Förderbedarf, insbesondere in den Förderschwerpunkten Lernen (→ FS Lernen) und emotionale und soziale Entwicklung, enthalten“ (KMK 1998, Nr. 7).

4 Prävention und Intervention In der Entwicklung effektiver Verfahren der Prävention und Intervention gibt es bis ­heute eine große Konkurrenz verschiedener Schu­ len, insbesondere zwischen tiefenpsychologi­ schen, verhaltenstherapeutischen und syste­ mischen Ansätzen (Hillenbrand 42008). Die Evidenzprüfung (→ Unterrichts- und The­ rapieforschung) in internationalen empiri­ schen Studien favorisiert sozial-kognitive Maßnahmen mit verhaltenstherapeutischen

656 

Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung

Elementen  (vgl. What Works Clearinghouse 2008). Neuere Metaanalysen bestätigen insbeson­ dere die prinzipielle Wirksamkeit von kind­ orientierten Präventionsmaßnahmen (Durlak 1999, Lösel & Beelmann 2003). Zudem lassen sich methodische Kriterien für eine effektive präventive Arbeit ableiten: Die präventiven Maßnahmen sollten direkt bei den Kindern ansetzen, bereits früh angebahnt werden und länger andauern. Werden die verschiedenen Ebenen der kindlichen Entwicklung einbezo­ gen, insbesondere auch sprachliche Kompe­ tenzen, zeigen sich größere Effekte. Für den Transfer und die langfristige Wirksamkeit sollte das soziale Umfeld des Kindes gezielt unterstützt werden (Petermann 2003, 68). Während im angelsächsischen Raum zahl­ reiche wissenschaftlich fundierte evidenzbasierte Programme vorliegen, finden sich nur wenige deutschsprachige Ansätze, die den Kriterien evidenzbasierter Maßnahmen ge­ nügen (zum Überblick: Hennemann 2006, 407 ff.) (→ Qualitätsentwicklung). Die Trai­ ningsprogramme stellen Formen gezielter Förderung emotional-sozialer Kompeten­ zen auch für den schulischen Einsatz dar, sie wirken sowohl präventiv als auch interventiv, bereits vorhandene Gefühls- und Verhaltens­ störungen werden reduziert. Sprache dient in der Regel als zentrales Kommunikations- und Interaktionsmittel. Die Differenzierung des Lexikons im Themenfeld Emotionen und So­ ziabilität, die jeweils zu den Zielen gehört, un­ terstützt zugleich die Differenzierung emoti­ onal-sozialer Kompetenzen!

5  Unterrichtliche Maßnahmen Die Empfehlungen der Kultusministerkon­ ferenz fordern eine Berücksichtigung der sprachlichen wie auch der emotional-sozia­ len Entwicklungsbereiche für die Gestaltung des Unterrichts: „Es werden Gelegenheiten geschaffen und Hilfen angeboten zur Ausdif-

ferenzierung und Verknüpfung grundlegender Entwicklungsbereiche der Sensorik, Motorik, Kognition, Emotion, Soziabilität, Kommuni­ kation. Dabei sind Angebote zur Förderung dieser Entwicklungsbereiche in Handlungs­ zusammenhänge einzubetten“ (KMK 1998, Nr.  4.2). In anspruchsvollen Meta-Analysen konnten wirksame schulbasierte Maßnah­ men für die Prävention von Verhaltensstörun­ gen in der Schule identifiziert werden, die zu­ gleich deren Auftreten reduzieren (Wilson et al. 2003). Insbesondere Ansätze der Unterrichtsführung (u. a. „Classroom-Management“ nach Kounin 1976) sind neben kognitiv-behavio­ ralen Trainings (s. o.) als wirksame Methoden zu nennen. Die Qualität der Unterrichtsfüh­ rung ist ein anerkannter Prädiktor für erfolg­ reiches Lernen, aber auch für die Reduktion von Unterrichtsstörungen und den Aufbau sozialer Kompetenzen (Helmke 22004). Das „KlasseKinderSpiel“, die deutschsprachige Adaption des „Good Behavior Game“, stellt eine einfache und sehr effektive Form der Unterrichtsführung mit umfassend nachge­ wiesenen Wirkungen auf das Lern- und Ar­ beitsverhalten der Schüler sowie ihren emoti­ onal-sozialen Kompetenzen dar (Hillenbrand & Pütz 2008). Insbesondere Kinder mit exter­ nalisierenden Formen (Aggression, ADHS) profitieren von solchen unterrichtsimmanen­ ten Fördermaßnahmen.

6  Ergebnis Durch den Einsatz evidenzbasierter Maßnah­ men kann auch bei Schülerinnen und Schülern im Förderschwerpunkt Sprache eine positive Entwicklung emotional-sozialer Kompeten­ zen erreicht werden. Dadurch lassen sich ne­ gative Entwicklungen bis hin zu manifesten Gefühls- und Verhaltensstörungen vermeiden oder abmildern. Wenn das Sonderpädagogi­ sche Förderzentrum ein Schulmodell mit Zu­ kunft sein soll, sind umfassende Kompetenzen



Literatur   657

der Fachkräfte für eine spezifische Förderung in den unterschiedlichen Entwicklungsberei­ chen sicher zu stellen – eine unverzichtbare Aufgabe für die Aus-, Fort- und Weiterbildung sonderpädagogischer Fachkräfte.

Literatur Baumgartner, S. (1978): Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern an Schulen für Sprachbehinderte. Mün­ chen: Inaugural-Dissertation. Durlak, J. A. (1999): School-based prevention pro­ grams for children and adolescents. Thousand Oaks: Sage. Esser, G. & Wyschkon, A. (2002): Umschriebene Ent­ wicklungsstörungen. In: Petermann, F. (Hrsg.) (52002): Lehrbuch der Klinischen Kinderpsycho­ logie und -psychotherapie (409–429). Göttingen: Hogrefe. Forness, G. & Knitzer, J. (1992): A new proposed de­ finition and terminology to replace „serious emo­ tional disturbance“ in the Individuals with Disabi­ lities Educational Act. School Psychology Review 21, 12–20. Hartmann, B., Mutzeck, W. & Fingerle, M. (2003): Die Prävalenz von Verhaltensauffälligkeiten. Er­ gebnisse einer Studie an Grundschulen. Sonderpä­ dagogik 33, 4, 191–197. Helmke, A. (22004). Unterrichtsqualität erfassen, be­ werten, verbessern. Seelze: Kallmeyer. Hennemann, T. (2006): Fit for Emotion! – Präventive Förderung emotional-sozialer Kompetenzen von Kindern in der Schule als Baustein zur längerfris­ tigen Vermeidung von Verhaltensstörungen. In: Bahr, R. & Iven, C. (Hrsg.): Sprache – Emo­tion – Bewusstheit. Beiträge zur Sprachtherapie in Schule, Praxis, Klinik (406–411). Idstein: Schulz-Kirchner. Hillenbrand, C. (42008): Einführung in die Pädago­ gik bei Verhaltensstörungen. München: Reinhardt. Hillenbrand, C. & Pütz, K. (2008): KlasseKinderSpiel. Hamburg: Körber. Hölling, H., Erhart, M., Ravens-Sieberer, U. & Schlack, R. (2007): Verhaltensauffälligkeiten  bei Kindern und Jugendlichen. Erste Ergebnisse aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS). Bundesgesundheitsblatt – Gesundheits­ forschung – Gesundheitsschutz 50, 784–793. Ihle, W. & Esser, G. (2002): Epidemiologie psychi­ scher Störungen im Kindes- und Jugendalter: Prä­

valenz, Verlauf, Komorbidität und Geschlechts­ unterschiede. Psychologische Rundschau 53, 4, 159–169. Keese, A. (2000): Sprachbehinderungen. In: Borchert, J. (Hrsg.): Handbuch der Sonderpädagogischen Psychologie (45–60). Göttingen: Hogrefe. Kultusministerkonferenz (KMK) (1998): Empfehlun­ gen zum Förderschwerpunkt Sprache. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 26. 06. 1998, Bonn. Kounin, J. S. (1976): Techniken der Klassenführung. Bern: Huber. Lahey, B. B., Miller, T. L., Gordon, R. A. & Riley, A. W. (1999): Developmental epidemiology of the disrup­ tive behavior disorders. In: Quay, H. C. & Hogan, A. E. (Eds.): Handbook of disruptive behaviour disorders (23–48). New York: Kluwer. Lösel, F. & Beelmann, A. (2003): Effects of child skills training in preventing antisocial behavior: A syste­ matic review of randomized evaluations. The An­ nals of the American Academy of Political and So­ cial Science 587, 1, 84–109. Mutzeck, W. (1999): Verhaltensgestörtenpädagogik und Erziehungshilfe. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Myschker, N. (31999): Verhaltensstörungen bei Kin­ dern und Jugendlichen. Stuttgart: Kohlhammer. Noterdaeme, M., Minow, F. & Amorosa, H. (1999): Psychische Auffälligkeiten bei sprachentwick­ lungsgestörten Kindern: Erfassung der Verhal­ tensänderungen während der Therapie anhand der Child Behavior Checklist. Praxis der Kinderpsy­ chologie und Kinderpsychiatrie 48, 141–154. Opp, G. (2003): Symptomatik, Ätiologie und Diag­ nostik bei Gefühls- und Verhaltensstörungen. In: Leonhardt, A. & Wember, F. (Hrsg.): Grundlagen der Sonderpädagogik (504–517). Weinheim: Beltz. Opp, G. & Fingerle, M. (Hrsg.) (22007): Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz. München: Reinhardt. Petermann, F. (Hrsg.) (52002): Lehrbuch der Klini­ schen Kinderpsychologie und -psychotherapie. Göttingen: Hogrefe. Petermann, F. (2003): Prävention von Verhaltensstö­ rungen – Einführung in den Themenschwerpunkt. Kindheit und Entwicklung 12, 2, 65–70. Remschmidt, H. & Walter, R. (1990): Psychische Auf­ fälligkeiten bei Schulkindern. Eine epidemiologi­ sche Untersuchung. Göttingen: Hogrefe. What Works Clearinghouse (WWC) (2008): U. S. De­ partment of Education’s Institute of Education Sci­ ences. URL: http://ies.ed.gov/ncee/wwc/.

Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung Bodo Frank & Ulrike Lüdtke

1 Dialogaufbau im ­Förderschwerpunkt geistige Entwicklung 1.1 Basale Pädagogik und ­Entwicklungslogische Didaktik Die Förderung von Menschen mit schwers­ ten Behinderungen wurde in der deutschspra­ chigen „Geistigbehindertenpädagogik“ häufig im Rahmen „Basaler Pädagogik“ (u. a. Röd­ ler et al. 2000) konzeptualisiert, welche ihre didaktische Entsprechung vielerorts in einer grundsätzlichen „Entwicklungsadäquatheit“ des Unterrichtes bis hin zur Ausarbeitung ei­ ner detaillierten „Entwicklungslogischen Di­ daktik“ (u. a. Feuser 1989) fand. Historisch bedeutsam sind diese Ansätze insbesondere deshalb, weil sie lange vor der aktuell disku­ tierten UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN 2006) und der dadurch erneut angestoßenen flächende­ ckenden bildungspolitischen Implementie­ rung von „Integration“ die Anerkennung der Menschenwürde, die Teilhabe am gesell­ schaftlichen Leben und vor allem das Recht auf Bildung, das Zusprechen der Möglichkeit von Entwicklung sowie die Befähigung zum Dialog eines jeden Menschen wissenschaft­ lich fundierten (→ Behinderung und Vulne­ rabilität). Neben anthropologischen und hu­ manistischen Perspektiven finden sich die theoretischen Grundlagen einer Basalen Pä­ da­gogik u. a. in den Arbeiten der Kulturhisto­ rischen Psychologie (insbesondere zur Zone der nächsten Entwicklung [ZnE], u. a. Vygots­ kij 1987) und der Frankfurter Schule (zu den die ZnE einfassenden sozialen Bedingungen, u. a. Adorno 1970, Habermas 1988), u. a. er­ gänzt durch systemtheoretische (u. a. Matura­

na & Varela 1987) und entwicklungspsycho­ logische Bezüge (u. a. Spitz 1965). Didaktisch wird die klassische Sachorientierung einer bil­ dungstheoretischen (Klafki 1963) und lern­ theoretischen Didaktik (Heimann et al. 1965) mittels eines tätigkeitstheoretischen Ansatzes (→  Sprachdidaktiktheorie) überwunden und damit eine Kindzentrierung und die bereits er­ wähnte Entwicklungsorientierung gewonnen.

1.2 Relationale Pädagogik und ­Didaktik Beginnt man die Fähigkeit zum Dialog nicht nur als Vorraussetzung für nonverbale wie ver­ bale Kommunikation und Sprache zu konzep­ tualisieren, sondern als diesem gesamten Spek­ trum inhärente Konstituente, sind ergänzende semiotische und linguistische Theoriebezüge unabdingbar (→ Zeichen und Semiose). Hier bietet sich die Spezifizierung der ursprünglich aus der Sprachbehindertenpädagogik stam­ menden „Relationalen Pädagogik“ (u. a. Lüdt­ ke 2004) an, welche schwere Behinderung wie Dialogentwicklung als relationale Kategorie be­ greift. Die entsprechende „Relationale Didak­ tik“ (→ Sprachdidaktiktheorie) betont statt einer Sach- oder Subjektzentrierung den As­ pekt der Relationalität intersubjektiver Bezie­ hungen, indem sie die Grundgedanken der Konstruktivistischen Pädagogik und Didaktik (u. a. Reich 2002) mit einer Relationalen Kommunikations- und Sprachtheorie (u. a. Lüdtke 2006a/b) und deren zugehöriger Erwerbstheorie verknüpft, welche auf Grundlage jüngs­ ter entwicklungsneuropsycho(patho)­logischer Erkenntnisse speziell die intersubjektive Be­ deutung der relationalen Emotionen für die gemeinsame Konstruktion sprachlicher Reprä­ sentationen betont (→ Kognition und Emoti­ on). Für den Förderschwerpunkt geistige Ent­



Zur neurosoziologischen Betrachtung basalen ­Dialogaufbaus   659

wicklung versteht sie sich als ein didaktisches Modell, welches im Rahmen des Dialogauf­ baus bei tiefgreifenden Kommunikations- und Sprach(entwicklungs)störungen den Fokus auf die kommunikations- und sprachkonstruieren­ de intersubjektive Bedeutung der Emotionen sowie deren soziale, kulturelle, ökonomische und gender-spezifische Bedingungskontexte legt. Im Mittelpunkt steht der intersubjektive Aufbau des Dialogs durch wechselseitig kon­ struierte Bedeutungsrepräsentationen, welche therapeutisch in dialogische, emotional be­ deutsame Narrative eingebettet sind. Ziel ist die Überführung idiosynkratischer in konven­ tionelle kommunikative bzw. sprachliche Zei­ chen (vgl. 5, 6).

2 Zur neurosoziologischen Betrachtung basalen ­Dialogaufbaus Um „Relationalität“ und „Intersubjektivität“ als grundlegende Kategorien einzuführen (→  Intersubjektivität und Kommunikation) und um damit in der Theorie des Dialogauf­ baus Reduktionen zu vermeiden sowie in der Praxis als Lehrerin oder Therapeutin auch in schwierigen kommunikativen Situationen re­ flexiv-empathisch bzw. „sympathetisch“ re­ agieren zu können (vgl. 6), ist es notwendig, aktuelle Ansätze unterschiedlicher Teildiszi­ plinen in die Theoriebildung einzubeziehen und in eine schlüssige und ebenenübergreifen­ de Verbindung zu überführen. Hierzu zählen beispielsweise: • die Theorie komplexer physikalischer und biologischer Systeme (Grundlagen zur zeit­ lichen Struktur komplexer biologischer Prozesse) (vgl. u. a. Haken & Haken-Krell 1989, Kauffman 1993, Deacon 2007–08), • neuere Erkenntnisse der Hirnforschung auf Basis moderner Topobiologie (Sporns et al. 2000, Edelman & Tononi 2000), • die Erkenntnisse zu Mirror Neuron Systems (MNS) und einer Feldtheorie des Psychi-

schen (Lewin 1982, Rizzolati & Arbib 1998, Gallese 2001), • die Entwicklungsneuropsycho(patho)logie (u. a. Trevarthen 2001, 2004, Trevarthen et al. 2005, Schore 2003, Tronick 2005), • die Neuropsychoanalyse (u. a. Schore 2003, Solms & Solms 2000) und • die Relationale Soziologie und Systemtheoretische Soziologie (u. a. Bourdieu 2005, Luhmann 1987). Im Folgenden soll dieser Versuch der Über­ führung von Einzelansätzen in eine konsisten­ te Theoriebildung als Perspektive einer „Neu­ rosoziologie“ konzeptualisiert werden, die anderenorts weiter entfaltet wird (u. a. Frank & Trevarthen 2011). Neurosoziologie bedeu­ tet Neukonstitution sozialen Geschehens, der sozialen Sphäre auf Basis der Neuropsycholo­ gie, z. B. der einem Syndrom zugrunde liegen­ den psychischen Abläufe. Ihr Anliegen ist es, ebenenübergreifend und -verbindend sozia­ le Phänomene nicht-reduktionistisch mit den dem Psychischen zugrundeliegenden neu­ ropsychologischen Prozessen zu verbinden. Mit diesem interdisziplinären Vorgehen über mehrere Ebenen der wissenschaftlichen Ana­ lyse hinweg kann die Voraussetzung für einen „transsubjektiven Geltungsanspruch“ (Haber­ mas 1988, 27; Herv. i. O.) geschaffen werden, dessen Bedeutung sich vom je einzelnen han­ delnden Subjekt löst und gleichzeitig für die­ ses erhalten bleibt – beides im Sinne hand­ lungsleitender Evidenz. Durch diese wissenschaftstheoretische Kon­ zeptionierung des Dialogaufbaus im Rahmen des Förderschwerpunktes geistige Entwick­ lung wird verdeutlicht, dass „Dialog“  – ver­ standen als rhythmischer Austausch von In­ formationen mit der Umwelt und anderen Systemen – eine nicht negierbare Grundei­ genschaft aller lebender (sozial organisierter) Systeme ist (vgl. u. a. Haken & Haken-Krell 1989, Kauffman 1993, Tronick 2005) (→ In­ tersubjektivität und Kommunikation, → Mu­ siktherapie). Dialogischer „relationaler“  In­ formationsaustausch findet dementsprechend von der elementarsten physiologischen (z. B.

660 

Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung

über Spiegelneurone und -systeme) über die psychologische (z. B. mittels mimetischer Kommunikation) bis hin zur komplexen sozialen Ebene (z. B. durch intersubjektive Kon­ struktion von Handlungsintentionen und Be­ deutungen im sozialen Feld) statt.

3 Dialog aus ­Perspektive der ­Relationalen ­Kommunikations- und ­Sprachtheorie Nicht nur im Förderschwerpunkt geistige Ent­ wicklung, sondern in allen sonderpädagogi­ schen Kontexten stellt sich häufig die prin­ zipielle Frage: Was ist Dialog? Und wie und warum ist beispielsweise das Zerreißen von Papier – wie im Fallbeispiel (vgl. 6.3) – ein Dia­logangebot, schon eine Kommunikation? In der Perspektive der Relationalen Kommunikations- und Sprachtheorie (Lüdtke 2006a/b) möchten wir folgende Definition vorschlagen:







Dialog ist die affektgenerierte und affektge­ steuerte intersubjektive Konstruktion von informationsübermittelnden und sinngela­ denen verbalen und nonverbalen Zeichen sowie ihr Austausch in allen Zeichen-Ko­ des. Zur näheren Erläuterung sind folgende Aspek­ te einzubeziehen (vgl. Abb. 1): • Jegliche Form von Kommunikation und Sprache – z. B. zwischen Mutter und Kind, Lehrerin und Schülerin – basiert auf dem Austausch ihrer kleinsten Elemente: den Zeichen (→ Zeichen und Semiose). • Zeichen können je nach Medium, in dem sie sich materialisieren, in unterschiedli­ che verbale (Laut- und Schriftsprache) und nonverbale Sprachkodes (z. B. Körperspra­ che, Gebärden, Braille-Schrift, Bildspra­



che; → Sehen und Gebärden) klassifiziert werden. Die Funktion des Zeichens ist, Informatio­ nen und damit Bedeutung zwischen Sen­ der und Empfänger zu übermitteln – bei­ spielsweise zwischen zwei Personen, aber auch zwischen Mensch und Tier (wie z. B. bei tiergestützter Therapie) oder Mensch und Umwelt (wie z. B. bei sensorischer Sti­ mulation). Um Informationen vermitteln zu können, konstituiert sich das Zeichen aus 3  Ele­ menten: dem wahrnehmbaren verbalen oder nonverbalen Zeichenträger (z. B. ein gesprochenes Wort), der nicht wahrnehm­ baren, „unsichtbaren“ mentalen Bedeutung (z. B. der semantische Gehalt des Wortes) sowie der Referenz in der realen äußeren, inneren oder virtuellen Welt (z. B. ein be­ zeichneter Gegenstand wie hier eine Puppe, eine Empfindung oder eine Vorstellung), auf welche das Zeichen im gemeinsamen Handlungsgebrauch verweist (→ Zeichen und Semiose, → Sprachdidaktiktheorie). Das kommunikative Bedürfnis Informatio­ nen auszutauschen, das Kommunikationsbzw. Sprech-Motiv, ist affektgeneriert und -reguliert, da – wie u. a. die Auswirkung frühkindlicher Isolation und Deprivation gezeigt hat – die Erwartung eines emotio­ nal kommunikativen Gegenübers angebo­ ren ist (Spitz 1965, Trevarthen 2001, 2004, Trevarthen et al. 2005, Frank 2003, 2009). Jeder Signifikationsprozess, das heißt je­ der Bedeutung materialisierende Zeichen­ prozess, wird demnach in der Tiefe perma­ nent emotional prozessiert (vgl. 4.3): vom Sprechmotiv bis hin zur erwarteten, emo­ tional bestätigenden Antwort des kommu­ nikativ angesprochenen Anderen. Jede Konstituente eines Sprachzeichens kann deshalb auch in unterschiedlichem Maße emotional durchdrungen sein (vgl. Abb.  1): die mentale oder reale Zeichen­ referenz (das bezeichnete Referenzobjekt, z. B. eine Puppe), welche emotional bedeut­ sam ist bzw. in ein gemeinsames emotional gefärbtes Narrativ eingebettet sein kann,



Dialog aus ­Perspektive der ­Relationalen ­Kommunikations- und ­Sprachtheorie   661

Abb. 1: Dialog aus Perspektive der Relationalen Kommunikations- und Sprachtheorie

662 







Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung

die mentale Bedeutung, der Zeicheninhalt, da in ihr der emotional bewertete kom­ munikative Andere repräsentiert und so­ mit inhärent ist (diese Puppe hast du mir geschenkt) und der materiale Zeichenträ­ ger (der in verschiedenen Kodes in unter­ schiedlichem Ausmaß emotiv markiert ist (vgl. Tab. 1): – als bildhaftes realitäts- und affektnahes Ikon (wie bei einem Foto der Puppe), – als verweisender Index mit Hinweisen auf seine affektiven Ursprünge (wie bei einer Geste oder einem lautmalerischen Kosenamen wie „püppi“), oder – als abstraktes, nahezu emotions‚freies‘ Symbol (wie in der Schriftsprache z. B. als Wortkarte ). Sprachliche Bedeutungen sind nicht sta­ tisch, fix und eineindeutig, sonder vage, flüchtig und polyvalent. In intersubjektiven Konstruktionsprozessen wird sich einer wechselseitigen kongruenten Bedeutung deshalb angenähert. Dies ist gerade in Kom­ munikationsprozessen mit Menschen mit schwersten Behinderungen relevant, wenn z. B. bei einem Schrei (als äußere wahr­ nehmbare Form des Zeichenträgers) der Dialogpartner sich zunächst der „unsicht­ baren“, mentalen Bedeutung (z. B. Angst, Schmerz oder aber Wut, Gefahr) sowie der Referenz in der realen inneren, äußeren oder virtuellen Welt (z. B. Verweis auf die inne­ re Körperphysiologie bzw. eine Phantasie­ vorstellung des Schreienden oder aber auf ein bedrohliches Gegenüber) unsicher ist. Da sprachliche Bedeutungen wechselseiti­ ge Repräsentationen sind, die über Monito­ ring-, Synchronisierungs- und MatchingProzesse mental zwischen einem sog. „Virtuellen Selbst“ (VS) und einem „Vir­ tuellen Anderen“ (VA) (vgl. Trevarthen Abb.  14, Lüdtke Abb.  2c in diesem Band) konstruiert, verhandelt und validiert wer­ den, ist ihr intersubjektiver Aufbau abhän­ gig von der emotionalen Qualität dieses Dialogs bzw. von einem emotional positiv repräsentierten Dialogpartner: dem rela­ tionalen Anderen. Negative Selbst-Ande­

re-Repräsentationen können deshalb zu schwersten Kommunikations- und Sprach­ entwicklungsstörungen führen (vgl. 5; Tre­ varthen et al. 2005; → Intersubjektivität und Kommunikation, Abb. 14).

4 Frühkindliche Dialog­ entwicklung aus ­neurosoziologischer ­Perspektive Vor dem Hintergrund der Relationalen Kom­ munikations- und Sprachtheorie werden im Folgenden zunächst die Entstehungsbedingun­ gen der frühkindlichen Dialogentwicklung aus entwicklungsneuropsychologischer und neuro­soziologischer Perspektive beschrieben. Die her­ausgearbeiteten Prämissen helfen, Beeinträch­ tigungen der Dialogentwicklung bei Menschen mit schwersten Behinderungen zu verstehen (vgl. 5).

4.1 Die Trajektorie von der intersub­ jektiven ­emotionalen ­Regulation zur individuellen ­kognitiven ­Kontrolle und ­Autonomie Die frühkindliche Dialogentwicklung durch­ läuft auf mehreren sich durchdringenden Ebe­ nen eine Trajektorie vom Primat der intersubjektiven emotionalen Regulation zum Primat individueller kognitiver Kontrolle und Autonomie (vgl. Abb. 2, und Abb. 1 Trevarthen in diesem Band). Sie kann modellhaft in Phasen eingeteilt werden (Lüdtke 2006b, 2011), wie sie mit geringen Unterschieden in allen Kulturen innerhalb der frühen psychophysischen Ent­ wicklung aufeinanderfolgen. Von der Primären zur Sekundären ­Intersubjektivität

• In der Phase der Primären Intersubjektivität (A, B) mit ihrer rein dyadischen inter­ subjektiven Intimität dominieren affektiv-



Frühkindliche Dialog­entwicklung aus ­neurosoziologischer ­Perspektive   663

mimetische Imitationen und Provokationen (vgl. Abb.  2, oben; Nagy & Molnar 2004, Nagy 2008). Beim Neugeborenen justieren sich von Geburt an nicht nur Schlafregula­ tion, Nahrungsaufnahme/Stillen und At­ mung, sondern auch Imitation des emo­ tionalen Gesichtsausdruckes der Mutter. Angeborenes „Pre-Reaching“ und Lächeln zur Stimme der Mutter sind bereits in die­ ser frühen Phase eindeutig identifizierbar (Bild ~A, vgl. Trevarthen in diesem Band Abb. 3). Diese Fähigkeit von Neugeborenen, relationale Emotionen zu spiegeln sowie in­ tentional zu kommunizieren, wird durch die angeborene neurobiologische Bereit­ schaft der IMF (Intrinsic Motive Formation/Intrinsische Motiv-Formation) und des EMS (Emotional Motor System/emotionalmotorisches Ausdruckssystem) gewähr­ leistet (→ Intersubjektivität und Kommu­ nikation). Die kindliche Antizipation eines emotional antwortenden Anderen sowie das Streben nach emotional durchdrunge­ nem kommunikativen Austausch ist prin­ zipiell durch IMF und EMS pränatal psy­ chophysiologisch angelegt. Hier liegt auch die neurobiologische Grundlage für die so genannte Lächelreaktion, die bereits von Spitz (1965) als erster Organisator des Psychischen identifiziert worden war. • In der Phase der Mutter-Kind-Spiele (C) wird deutlich, wie sehr die intersubjekti­ ve Spiegelung relationaler Emotionen der primäre Organisator der frühkindlichen Dialogentwicklung ist (→ Kognition und Emotion): Das Baby fixiert lächelnd die Augen des Gegenübers und ist fähig zur Protokonversation. Die Imitation von af­ fektiv gefärbten Mund- und Zungenbe­ wegungen bahnt den Weg zur weiteren stimmlich-lautlichen und gestischen Ent­ wicklung (Bild ~B–D, vgl. Trevarthen in diesem Band Abb. 4). Den Bewegungen der Mutter folgt das Baby visuell, es kann den Kopf wesentlich besser halten und benutzt Arme und Hände zum Greifen und Fangen. • Die Phase intensiver Mutter-Kind-ObjektSpiele (D), z. B. unter Einbeziehung von

Stofftieren und Puppen, geht mit der Nach­ ahmung von Klatschen, genauerem Greifen und Zeigen sowie einem Selbst-Erkennen des Babys im Spiegel (mirror recognition) einher. • In der Phase des „Showing off“ (E) vom 6.  bis 10. Monat findet sich eine größere Verspieltheit und ein sichereres Nachah­ men. Auch ein selbstbewusstes Sich-Darstellen gegenüber Anderen ist zu beob­ achten (vgl. Bild ~E–F, vgl. Trevarthen in diesem Band Abb.  8), allerdings zugleich auch das so genannte „Fremdeln“ bzw. die „Acht-Monats-Angst“, die Spitz (1965) als zweiten Organisator des Psychischen be­ zeichnete. • In der Phase der Entfaltung der Sekundären Intersubjektivität (F, G) erweitert sich die intersubjektive Bewusstheit konstant um ein drittes Element, einen spezifischen Ge­ genstand, und Triangulation entsteht (vgl. Bild F–G; vgl. Trevarthen in diesem Band Abb.  9). Das Kind kooperiert in gemein­ samen spielerischen Aufgaben und entwi­ ckelt Proto-Sprache: Es folgt den verbalen Hinweisen der Bezugsperson, es „albert“ mit dieser herum, es kombiniert Gegen­ stände und Lautsegmente, zeigt vollziehen­ des Denken und kategorisiert Erfahrungen und Erlebnisse. Es ist auch die Altersstufe, in welcher es das aufrechte Gehen lernt. Im Übergang zu Phase G beginnt die Mimesis absichtsvoller Handlungen, der Gebrauch von Hilfsmitteln und letztlich von kultu­ rellem Lernen. Diese Triangulation sowie der Gebrauch der ersten Worte wurden von Spitz (1965) als dritter psychischer Organisator identifiziert. Von coenästhetischer/amphoteronomischer zur diakritischen/synrhythmischen Organisation des Selbst

In der klassischen Terminologie Spitz’ geht die Trajektorie von der dyadisch-emotio­ nalen Regulation zur kognitiven Kontrol­ le und Autonomie zugleich mit der sukzessi­ ven Entwicklung von einer coenästhetischen

664 

Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung

Wahrnehmung von Weltereignissen zu einer diakritischen, zunehmend distinkt unterschei­ denden Wahrnehmung einher (vgl. Abb.  2, Mitte). In der coenästhetischen Phase der Or­ ganisation des Selbst sind die Empfindungen extensiv und manifestieren sich in Form von Affekten (z. B. als Intensität aber nicht Loka­ lisation eines Schmerzes). Dem gegenüber bezeichnet diakritisch eine psychische Or­ ganisation, in der die Wahrnehmung mittels peripherer Sinnesorgane distinkt stattfindet und sich in kognitiven Prozessen manifestiert. Trevarthen bezeichnet diese Entwicklung in­ nerhalb der Mutter-Kind-Dyade als sich von amphoteronomisch (gemeinsame psychobio­ logische Regulation physiologisch-affektiver Zustände) zu synrhythmisch (u. a. rhythmisch alternierende Kommunikation durch immer lebhafter werdende gemeinsame Körper-ba­ sierte Spiele) und später zu symbolisch entwi­ ckelnd (vgl. Trevarthen in diesem Band Abb. 1; → Intersubjektivität und Kommunikation). Neuere Untersuchungen verweisen zudem darauf, dass die frühkindlichen Emotionen und ihre Regulation zu Beginn der Entwick­ lung die funktionelle Ausdifferenzierung des Gehirns und die Entwicklung kognitiver Fä­ higkeiten beeinflussen (u. a. Cicchetti 2002) – inklusive der Fähigkeit zur Kommunikation und ­Sprache mittels nonverbaler und verbaler Zeichen. Von der ikonisch-intersemiotischen zur symbolisch-verbalen Kommunikation

Auf kommunikativ-sprachlicher Ebene (vgl. 3) bildet sich diese Entwicklung von der dya­ disch-emotionalen Regulation zur individu­ ell kognitiven Kontrolle und Autonomie als Trajektorie von einer hohen emotionalen Markiertheit zu einem hohen Abstraktionsgrad der vom Kind verwendeten kommunikativen Zeichen ab (Lüdtke & Frank 2007; → Person und Sprache). Dies geht einher mit einer ur­ sprünglichen Verwobenheit vieler körper- und affektbasierter Zeichenkodes hin zu einer Fokussierung auf den verbalen Zeichenkode (vgl. Abb. 2, unten):

• Bereits intrauterin kommuniziert der Fö­ tus nonverbal mit der Mutter – und zwar aktiv, motiviert und intentional z. B. mit­ tels affektgenerierter Bewegungen oder Lageveränderungen. Der intersubjektive Austausch von Bedeutungen und emotio­ nal bedeutsamen Narrativen stellt sich zwi­ schen den Subjekten über ein gemeinsames inneres Referenzobjekt her: das jeweilige, aber miteinander verbundene psychophy­ siologische Körperselbst. Die Kommu­ nikation ist vornehmlich eine ikonische Kommunikation, denn die motorischen Bewegungen des Kindes als semiotische Zeichen- bzw. Bedeutungsträger sind affektnah, das heißt unmittelbar durchdrun­ gen von archaischen emotionalen Spuren z. B. des Wohl- oder Missbefindens. Die in­ tersubjektive Bedeutungskonstruktion, das heißt der Abstimmungsprozess zwischen Mutter und Kind über die kommunizier­ te Bedeutung dieser motorisch-proprio­ zeptiven Zeichen, findet in dynamischer Verhandlung und Validierung der inten­ tionalen Bedeutung statt. Hierbei nähert speziell die Mutter über permanente Mo­ nitoring- und Evaluationsprozesse des Virtuellen Selbst (VS) und des Virtuellen Anderen (VA) (vgl. Abb. 1) die mentale Re­ präsentation der eigenen Zeichenbedeu­ tung (~Wohlbefinden) an die des Kindes (~Wohlbefinden) an. Eine „Sinnentnah­ me“, ein „Verstehen“ der Mutter vollzieht sich dabei stets in Bezug zur Einbettung der Repräsentationen in das von beiden er­ lebte referenziell-emotionale Narrativ, z. B. ihrem gerade ‚gemeinsam‘ unternomme­ nen Spaziergang. • Nach der Geburt setzt das Neugeborene diese intentionale Kommunikation mit ei­ nem viel größeren Ausdrucks- und Wahr­ nehmungsrepertoire fort: auditiv, visuell, taktil, olfaktorisch. Der intersubjektive Be­ deutungsaustausch, der hier als primäre Intersubjektivität die Sprachentwicklung leitet, stellt sich nun zwischen den Sub­ jekten über ein gemeinsames peripheres Referenz­objekt her, welches den Übergang



Frühkindliche Dialog­entwicklung aus ­neurosoziologischer ­Perspektive   665

Innenwelt/Außenwelt vermittelt: das wech­ selseitige intersemiotische „Display“ aus Mimik, Gestik, Stimme, Lauten, Gerüchen und Blicken. Die Bedeutungskon­struktion

zwischen Mutter und Kind ist hier bereits ikonisch-indexikalisch, denn bezogen auf das referierte stimmlich-mimisch-gesti­ sche Display des Anderen können die Zei­

Abb. 2: Die Trajektorie der frühkindlichen Dialogentwicklung: Von der intersubjektiven emotionalen Regulation zur individuellen kognitiven Kontrolle und Autonomie (Fotos mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Colwyn Trevarthen, Universität Edinburgh)

666 

Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung

chenträger sowohl ähnlich – z. B. in mime­ tischer Imitation eines Lächelns – als auch verweisend, indizierend sein – z. B. bei ei­ nem fragenden oder herausfordernden Blick. • Um das 1. Lebensjahr vollzieht sich im Zuge zunehmender kognitiver Kontrol­ le mit dem Erscheinen der ersten ProtoWörter wie „mama“, „papa“ oder „dada“ der Übergang von der prälinguistisch-se­ miotischen zur protolinguistischen bzw. protoverbalen Entwicklung (→ Sprachent­ wicklung und Sprachverlust). Der inter­ subjektive Bedeutungsaustausch zwischen den Subjekten stellt sich nun im Kontext der sekundären Intersubjektivität über ein gemeinsames konkretes Referenzobjekt  – z. B. eine Puppe – her, welche in komplexe trianguläre Spielhandlungen eingebunden ist. Die Bedeutungskonstruktion zwischen Mutter und Kind ist hier primär symbolisch, denn der verbale Zeichenträger – z. B. der Kosename „Püppi“ – ist bis auf weni­ ge indexikalische Begleit-Spuren wie z. B. das Diminutiv-Suffix oder die Lautmale­ rei (vgl. Abb. 4) arbiträr und abstrakt, das heißt aufgrund von Konventionen und ohne emotionale Markiertheit, mit dem Referenzgegenstand verbunden.

4.2 Dialogentwicklung im ­Relationalen Entwicklungsraum In einer entwicklungsneuropsychologischen und neurosoziologischen Perspektive darf sich ein Verständnis der frühkindlichen Dialog­ entwicklung nicht auf die bislang beschriebe­ ne physiologische und psychologische Ebene beschränken, sondern muss durch die sozia­ le Ebene ergänzt werden. Dies geschieht, in­ dem deutlich wird, dass – in der Terminolo­ gie Bourdieus (2005, s. u.) – die Bedeutung von kommunikativen und sprachlichen Akten grundsätzlich innerhalb sozialer Dispositionen erzeugt wird, Sprache soziales Kapital darstellt und die affektgenerierte und affektgesteuerte intersubjektive Konstruktion von informati­

onsübermittelnden und sinngeladenen verba­ len und nonverbalen Zeichen, als die Dialog ja eingangs definiert worden war (vgl. 2), immer in ein soziales Feld eingebettet ist. Die früh­ kindliche Dialogentwicklung – in Abb.  3 als Entwicklungskegel dargestellt – wird deshalb im so genannten „Relationalen Entwicklungs­ raum“ sozial verortet, welcher sich u. a. aus zwei, hier lediglich angerissenen theoretischen Momenten konstituiert (→ Person und Spra­ che, → Norm und Differenz): • dem Konzept der „Semiosphäre“ (Lotman 1990), das beschreibt, wie sämtliche exis­ tente semiotische Strukturen an bestimm­ ten zentralen oder peripheren Positionen eines gesamtgesellschaftlichen Raumes verortet sind und wie diese z. B. durch idio­ synkratische Regelverstöße (vgl. 5) margi­ nalisiert oder durch (therapeutische) An­ passung an kommunikativ-sprachliche Normen und Konventionen sozial integ­ riert werden (vgl. 6); und • dem Konzept des „sprachlichen Marktes“ (Bourdieu 2005), das analysiert, wie ab­ hängig vom Wert des „sprachlichen Kapi­ tals“ ein bestimmter „sprachlicher Habi­ tus“ ab- oder aufgewertet wird und so eine sprachliche „gate-keeping“-Funktion be­ züglich des Zugangs zu gesellschaftlichen → Institutionen (z. B. zu Kitas, Schulen, bestimmten Förderschwerpunkten) erhält. Die frühkindliche Dialogentwicklung un­ terliegt den je spezifischen Einflüssen dieses Relationalen Entwicklungsraumes durch ei­ nerseits dessen Inkorporierung (embodiment) und andererseits dessen Ausdruck mittels so­ zio-emotiver Spuren in Zeichen. Beispielhaft hierfür ist die Beeinflussung der Entwicklung des „Proto-Habitus“ (Gratier 2003, Gratier & Apter-Danon 2009) z. B. durch Migrationsbe­ dingungen (→ Intersubjektivität und Kom­ munikation, → Interkulturalität und Mehr­ sprachigkeit) oder die Affektüberladenheit der verbalen Sprache (z. B. Schreie, Lautmalerei­ en, Gebrauch tabuisierter oder sanktionierter Wörter) bzw. der Bildsprache (Kritzelbilder, Graffiti) bei marginalisierten sozialen Grup­



Frühkindliche Dialog­entwicklung aus ­neurosoziologischer ­Perspektive   667

Abb. 3:  Die frühkindliche Dialogentwicklung im Rela­ tionalen Entwicklungsraum

pen oder aber bei Menschen mit schwersten Behinderungen (Lüdtke & Frank 2007).

4.3 Die affektive Prozessierung des ­Dialogs In einer neurosoziologischen Perspektive be­ nötigt ein tieferes Verständnis der frühkind­ lichen Dialogentwicklung noch eine weitere theoretische Ausdifferenzierung in eine an­ dere Richtung: nämlich hinsichtlich der theo­ retischen Konzeptualisierung der den Dialog generierenden und regulierenden Affekte bzw. Emotionen (→ Person und Sprache, → Kogni­ tion und Emotion). Ausgehend von der Definition, dass eine Emotion das Ergebnis eines Informationsab­ gleichs zwischen vorhandener und notwendi­ ger Information zur Befriedigung eines aktu­ ellen Bedürfnisses ist (mit je positivem oder negativem Emotions-Resultat), arbeitete Si­ monov (1986) die emotional regulierte Inter­

dependenz aller an einer Handlung beteilig­ ten funktionellen Einheiten heraus. Affekte und Emotionen sind in ihrer Grundstruk­ tur letztlich Zeitprozesse, da der Organis­ mus auf physiologischer Ebene die Informa­ tion über eine Differenz bzw. Gleichheit von angestrebtem und tatsächlichem Zustand zu einem gegebenen Zeitpunkt als affektiv nega­ tiv oder positiv bewertet (Jantzen 2004). Ad­ aptiert man nun Simonovs allgemein formu­ liertes Modell auf die Kommunikations- bzw. Sprach-Handlung (Lüdtke 2006b), d. h. auf die Signifikation als Manifestierung des Be­ deutens mittels sprachlicher Zeichen, ergeben sich folgende Aspekte (vgl. Abb. 4): • Der Austausch von bedeutungstragenden Informationen ist prinzipiell als affek­ tiv negativer oder positiver Energieaus­ tausch mit einer bestimmten zeitlichen Struktur anzusehen (Frank & Trevarthen 2010). Zeichenkonstruktion, Zeichenüber­ mittlung  und Zeichenverständnis sind deshalb immer als affektiv generierte und

668 

Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung

Abb. 4: Emotionen als Zeitprozesse: Die affektive Prozessierung des Dialogs

durchdrungene und zugleich als mittels Mediation und Regulation affektiv prozessierte, dynamisch-fluktuierende Prozesse anzusehen. • Aufgrund dieser affektiven Durchdrungen­ heit ist in einem Informationsaustauschpro­ zess zwischen zwei Personen deshalb nicht nur das „Verstehen“ der Zeichen des An­ deren (die sog. Bedeutungs-„Entnahme“) zunächst ein momenthaftes, vages Ereig­ nis, was erst durch Bezug zu vergangenen wie zukünftig möglichen Informationsaus­ tauschprozessen validiert und gefestigt wer­

den muss (Bedeutung ‚in-process‘), sondern auch jedes Subjekt und der kommunikative Akt bzw. die Sprachhandlung in ihrer zeit­ lichen Dauer sind nicht statisch, sondern befinden sich „im Prozess“ (Lüdtke 2006a, → Person und Sprache).

4.4 Der Relationale Andere und der Dialogische Möglichkeitsraum Mit diesem Verständnis des relationalen Ent­ wicklungsraumes und der affektiven Generie­



Frühkindliche Dialog­entwicklung aus ­neurosoziologischer ­Perspektive   669

Abb. 5: Relationale Entstehungsbedingungen des frühen Dialogs im Möglichkeitsraum [X = Differenz zwischen zwei Möglichkeitsräumen]

rung und Prozessierung des Dialogs kann sich erneut und vertieft der dyadischen Struktur der Dialogentwicklung zugewendet werden. Ausgehend von der Prämisse, dass relationa­ le Affekte und Emotionen die Signifikation, das heißt die Bedeutungsgebung mittels Zei­ chen, generieren und regulieren, kann dem emotional bedeutsamen Anderen, dem mittels Zeichen etwas Bedeutsames übermittelt wer­ den soll, eine konstruktionsleitende Funktion zugesprochen werden, da sich ja auf ihn die relationalen Emotionen des Dialogpartners

beziehen  – und zwar als realer Anderer (als kommunikatives Gegenüber) wie auch als vir­ tueller Anderer (VA, repräsentiert innerhalb der Zeichenbedeutung, Abb. 5). In einer derartigen Perspektive ist es wich­ tig, diese Intersubjektivität und Relationali­ tät zwischen Selbst und Anderem im Dialog, das heißt im Kontext der affektgenerierten und affektgesteuerten intersubjektiven Kon­ struktion von informationsübermittelnden und sinngeladenen verbalen und nonverbalen Zeichen (s. Eingangsdefinition), nicht menta­

670 

Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung

listisch, sondern als biopsychosoziale Einheit zu verstehen (vgl. Abb. 5). Dies bedeutet kon­ kret, dass zwei Subjekte – seien es Mutter und Kind, aber auch Therapeutin und Schülerin – mittels „affective attunement“ (Field et al. 2001), das heißt mittels affektivem Aufeinan­ dereinstimmen, etliche ihrer psychophysiolo­ gischen Parameter (wie z. B. Atmung, Herz­ schlag, psychobiologische Zeit; vgl. Tab. 1–3, Trevarthen in diesem Band) unbewusst anei­ nander angleichen. Schore (2003) spricht hier sogar von „brain-brain-conversation“, womit er auf die neurophysiologische und neuro­ psychologische Basis eines jeden Dialogs ver­ weist. Der Andere ist somit stets „Relationaler Anderer“ (→ Intersubjektivität und Kommu­ nikation, → FS Körperliche und motorische Entwicklung, → Musiktherapie). Betrachtet man die primäre Mutter-KindDyade, in der die frühkindliche Dialogent­ wicklung eingebettet ist, lässt sich diese bio­ psychosoziale Einheit von der Empfängnis an nachvollziehen. Das Besondere an einem derartigen neurosoziologischen Verständ­ nis von Entwicklungsprozessen ist, dass auch der sog. „Möglichkeitsraum“, das heißt der Raum möglicher frühkindlicher Entwicklun­ gen, relational konzipiert ist und somit auf af­ fektiven, psychophysiologischen attunementProzessen basiert (vgl. X als Differenz von zwei Möglichkeitsräumen in Abb. 5). Hieraus ergibt sich unter konkreten, realen Bedingun­ gen, dass der Möglichkeitsraum der frühkind­ lichen Dialogentwicklung durch ebenenüber­ greifende, einschränkende Bedingungen in der psychophysischen und sozialen Entwick­ lungsumgebung (z. B. Deprivation) verringert (= X–) oder bei förderlichen bzw. fördernden Bedingungen erweitert (= X+) sein kann. Von hier aus ist dann auch der thera­ peutische Dialogaufbau bei Menschen mit schwersten Behinderungen theoretisch zu konzipieren, in dem der Therapeut auf psy­ chophysiologischer Basis die Rolle des Relati­ onalen Anderen und die Aufgabe der Erwei­ terung des Möglichkeitsraumes übernimmt.

5 Relationale Entstehungs­ bedingungen von ­schweren ­Beeinträchtigungen der ­frühkindlichen ­Dialogentwicklung Die dargelegten relationalen Entstehungsbe­ dingungen der frühkindlichen Dialogentwick­ lung können in nachfolgenden Kernpunkten zusammengefasst werden. Diese Prämissen können durch einschränkende biopsychoso­ ziale Entwicklungsbedingungen auf vielfältige Weise verändert und gestört sein und zu Beein­ trächtigungen der frühkindlichen Dialogent­ wicklung führen, die sich u. U. als tiefgreifende, relational bedingte Kommunikations- und Sprachentwicklungsstörungen manifestieren kön­nen (→ Sprachdidaktiktheorie): • Frühkindliche Emotionen beeinflussen die funktionelle Ausdifferenzierung des Gehirns und die Entwicklung kogniti­ ver Fähigkeiten, inklusive der Fähigkeit zur Kommunikation und Sprache mittels nonverbaler und verbaler Zeichen. ➝ Ne­ gative Veränderungen der frühkindlichen Emo­tionalität jeglicher Art können die neuronale, kognitive und kommunikativsprachliche Entwicklung beeinträchtigen. • Die intersubjektive Spiegelung relationa­ ler Emotionen ist der primäre Organisa­ tor der frühkindlichen Dialogentwicklung. ➝ Werden dem Baby „keine“ oder negative relationale Emotionen zurück gespiegelt, wird die Organisation der frühkindlichen Dialogentwicklung von Grund auf nach­ haltig gestört. • Die Fähigkeit von Neugeborenen, relatio­ nale Emotionen mimetisch zu „spiegeln“ sowie intentional zu kommunizieren, wird durch die angeborene neurobiologische Bereitschaft der IMF und des EMS gewähr­ leistet. ➝ IMF und EMS können aufgrund von Besonderheiten der emotional-neu­ ronalen Entwicklungen (z. B. bei Autis­ mus-Spektrum-Störungen) bereits beein­



Relationale Entstehungs­bedingungen von ­schweren ­Beeinträchtigungen   671

trächtigt sein, so dass das Neugeborene relationale Emotionen weder hinreichend spiegeln noch intentional ausdrücken kann (→ Intersubjektivität und Kommu­ nikation). Das kommunikative Gegenüber, meist die Mutter, kann hierdurch in ihrem eigenen emotional-kommunikativen Aus­ druck verunsichert und verstört werden, was teufelskreisartig zu weiteren Entwick­ lungsbeeinträchtigungen führen kann. • Die kindliche Antizipation eines emotio­ nal antwortenden Relationalen Anderen sowie das Streben nach emotional durch­ drungenem kommunikativen Austausch ist prinzipiell durch IMF und EMS präna­ tal psychophysiologisch angelegt. ➝ Fehlt ein emotional-kommunikatives Gegen­ über oder reagiert der Relationale Andere nicht bzw. nicht den Bedürfnissen und Er­ wartungen entsprechend (z. B. eine Mutter mit einer postnatalen Depression), kann das Baby hierdurch in seinem eigenen emo­ tional-kommunikativen Ausdruck verun­ sichert und verstört werden (vgl. Abb.  6; sowie die „Double Television Replay“-Me­ thode Abb. 5, Trevarthen in diesem Band). • Durch den intersubjektiven Austausch re­ lationaler Emotionen findet zugleich eine Verortung im sozio-emotionalen Relati­ onalen Entwicklungsraum sowie dessen Inkorporierung (embodiment) und dessen Ausdruck mittels sozio-emotiver Spuren in Zeichen statt. Beispielhaft hierfür ist die Entwicklung des Proto-Habitus. ➝ Weist der sozio-emotionale relationale Entwick­ lungsraum, z. B. durch Migration, Armut, Deprivation etc., Besonderheiten auf, hin­ terlässt dies in den kommunizierten Zei­ chen des Kindes auffällige sozio-emoti­ ve Spuren (z. B. emotionale Überflutung oder aber Emotionslosigkeit) und auch die Entwicklung des Proto-Habitus sowie nachfolgend von Proto-Konversation und Proto-Spache können beeinträchtigt sein (→  Intersubjektivität und Kommunikati­ on). Insgesamt können ebenenübergreifen­ de, einschränkende Bedingungen in der psychophysischen und sozialen Entwick­

lungsumgebung zu einer Verringerung des Möglichkeitsraumes führen. Ein exemplarisches Beispiel (vgl. Abb. 6) soll mit Bezug zu Trevarthens Erläuterungen der intersubjektiv-zirkulär beeinträchtigten SelbstAndere-Repräsentation in besonderen Ent­ wicklungs-Dyaden, wie z. B. bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen, Williams-Beuren-Syndrom, Down-Syndrom und Rett-Syndrom oder der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bzw. bei Müttern mit psychischen Erkrankungen wie BorderlineSyndrom oder postnataler Depression, Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) etc. (vgl. ausführlich Trevarthen in diesem Band, Abb.  14) die relationalen Entstehungsbedin­ gungen von Kommunikations- und Sprachent­ wicklungsstörungen verdeutlichen. Relationale Entstehungsbedingungen von ­Kommunikations- und Sprachentwicklungs­ störungen bei einer Mutter mit postnataler Depression und ihrem Kind

In einer postnatalen Depression ist bei der Mutter sowohl das verinnerlichte Modell ihres virtuellen Selbst als auch ihr Selbstausdruck verzerrt (= B-VS ~?) (vgl. Abb. 6, links). Als Bezugsperson ist ihr Erleben des Kindes als virtuellen Anderen zudem nicht abgegrenzt von ihrem eigenen Selbst und zugleich ver­ stört (= B-VA/VS ~?). Dies kann bei der Mut­ ter zu einer idiosynkratischen Veränderung ei­ ner oder mehrerer Konstituenten, der von ihr verwendeten Zeichen führen: • Die übermittelte Bedeutung kann im Sin­ ne emotional veränderter Zeicheninhalte (z. B. Regression, Tabubrüche, Normverletzungen) verändert sein; die wechselseitige mentale Repräsentation von Bedeutungen kann aufgrund der Anteile eines verzerr­ ten, verstörten Virtuellen Selbst und eines nicht abgegrenzten und verzerrt wahrge­ nommenen Virtuellen Anderen emotional negativ gefärbt sein. • Die äußere Form der ­kommunizierten Zeichen kann in einem oder ­mehreren Zeichenkodes (Mimik, Gestik, S­ timme,

672 

Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung

Abb. 6: Relationale Entstehungsbedingungen von Kommunikations- und Sprachentwicklungsstörungen bei einer Mutter mit postnataler Depression und ihrem Kind [obere Diagrammhälfte mit freundlicher Genehmigung von Prof. Colwyn Trevarthen, Universität Edin­ burgh; vgl. Abb. 14 in diesem Band]  -VS ~? = Bezugsperson-Virtuelles Selbst verzerrt B B-VA/VS ~? = Bezugsperson Virtueller Anderer/Virtuelles Selbst nicht differenziert, abgegrenzt und verzerrt K-VA ~? = Kind-Virtueller Anderer verzerrt, verstört K-vs = Kind- Virtuelles Selbst geschwächt

Ver­balsprache) eine große ­emotionale Durch­ drungen­heit aufweisen, welche sich z. B. als Überflutung von „negativen“ Impulsen, als Perseverierungen und Stereotypien aber auch als befremdlich wirkende „Emotionslosig­ keit“ bzw. „Leere“ und „Kälte“ äußern kann. • Auch der gemeinsame Gebrauch des Refe­ renzobjektes kann z. B. durch ein Fehlen gemeinsamer Spielhandlungen und/oder mangelnde joint attention verändert sein; auch

können vorhandene Spielhandlungen z. B. in durch Traurigkeit, Schwere, Apathie und sonstige emotional negativ gefärbte Erzählkontexte und Narrative eingebettet sein. Als Konsequenz entspricht die kindliche Wahrnehmung der Mutter nicht wirklich dem angeborenen Modell bzw. der erwarte­ ten „virtuellen Bezugsperson“ und ist eben­ falls verstört (= K-VA ~?) (vgl. Abb. 6, rechts).



Relationale ­Didaktik: ­Möglichkeiten des ­therapeutischen ­Dialogaufbaus   673

Hierdurch wird in Folge das vom Kind ausge­ drückte virtuelle Selbst geschwächt (= K-vs). Dies kann wiederum beim Kind ebenfalls zu einer idiosynkratischen Veränderung einer oder mehrerer Konstituenten, der von ihm verwendeten Zeichen führen: • Die vom Kind übermittelte Bedeutung kann auch im Sinne emotional veränderter Zeicheninhalte (z. B. Abwehr oder Bedürftigkeit) verändert sein; und seine menta­ le Repräsentation von Bedeutungen kann ebenfalls aufgrund der negativ gefärbten emotionalen Anteile eines verstört wahrge­ nommenen Virtuellen Anderen und eines in Folge geschwächten Virtuellen Selbst beeinträchtigt sein. • Auch die äußere Form der von ihm kom­ munizierten Zeichen kann in einem oder mehreren Zeichenkodes eine große emotionale Durchdrungenheit z. B. in Form von lautem Schreien, heftigen Schlägen und Weinen aufweisen, welche sich aber suk­ zessive auch als gespiegelte „Emotionslo­ sigkeit“ bzw. „Leere“ äußern kann. • Auch auf Seiten des Kindes kann der ge­ meinsame Gebrauch des Referenzobjektes verändert sein z. B. durch einen Rückzug aus dem emotional negativ gefärbten Erzählkontext gemeinsamer Spielhandlun­ gen, durch zunehmende Unruhe und abnehmende joint attention oder durch die Entwicklung vereinzelter, isolierter, nichtdaydischer Spielhandlungen und Narrative mit idiosynkratischen oder die negati­ ve Emotionalität abführenden aggressiven, zerstörenden Akten.

6 Relationale ­Didaktik: ­Möglichkeiten des ­therapeutischen ­Dialogaufbaus „Infant semiosis is emotional, not just repre­ sentational or referential. It is fundamentally

‚self-with-other-referred‘ […]. Cultural ex­ ploitation of the environment is entirely de­ pendent on the innate mirroring mechanisms that link human minds which have different age, experience, and skill. Educational practi­ ces depend on this intersubjective system and the collaborative learning it makes possible“ (Trevarthen & Aitken 2001, 16/25).

6.1 Die Überführung von ­idiosynkratischen in ­konventionelle Zeichen Didaktisch betrachtet kann eine der Haupt­ aufgaben bei Personen mit tiefgreifenden, re­ lational bedingten Kommunikations- und Sprachentwicklungsstörungen wie folgt ge­ fasst werden (→ Sprachdidaktiktheorie): Ziel der Relationalen Didaktik im Förder­ schwerpunkt geistige Entwicklung ist, zum Zwecke des Dialogaufbaus idiosynkratische in konventionelle Zeichen zu überführen.

6.2 Die didaktische Berücksichtigung der Zeichenentwicklung beim ­Dialogaufbau im Förderschwer­ punkt geistige Entwicklung Ein wichtiges didaktisches Element bei der Überführung von idiosynkratischen in kon­ ventionelle Zeichen ist die Berücksichtigung der beschriebenen Zeichenentwicklung beim Dialogaufbau, denn der Verlauf der Zeichen­ entwicklung – die beschriebene Trajektorie von der emotionalen Regulation und der Ver­ wobenheit mehrerer körper- und affektnaher Kodes hin zur kognitiven Kontrolle bzw. Auto­ nomie und Fokussierung des verbalen Kodes (vgl. Abb.  2) – geht einher mit einer Zunah­ me der Lernabhängigkeit des Zeichens in seiner Produktion (Sprechen, Schreiben) wie Rezep­ tion (Hörverstehen, Lesen), was in Tabelle  2 anhand der grafisch-schriftsprachlichen Dar­ stellung des Referenzobjektes „Sonne“ veran­ schaulicht werden soll:

674 

Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung

Tab. 1: Die didaktische Berücksichtigung der Zeichenentwicklung beim Dialogaufbau im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung



Relationale ­Didaktik: ­Möglichkeiten des ­therapeutischen ­Dialogaufbaus   675

• Das Ikon, mit seinem archaisch-universel­ len Gefühlsausdruck und seiner großen emotionalen Durchdrungenheit aufgrund seiner Ähnlichkeitsrelation zum bezeich­ neten Referenzobjekt (hier: die Ähnlichkeit eines emotional „warm“ und positiv dar­ gestellten runden Körpers mit zentrifuga­ len Strahlen zur Sonne), braucht gar nicht oder kaum erlernt zu werden, da seine Konstituierung wie sein Verständnis af­ fekt- und sinnesbasiert ist. Seine (Infor­ mations-Übermittlung erfolgt über ein „gespiegeltes“ unmittelbares psychophysio­ logisches Mitempfinden (sympathy); aller­ dings ist dadurch das „Verstehen“ der Be­ deutung häufig vage und uneindeutig, und der Offenheitsgrad der referenziellen Inter­ pretation (z. B. bei einem Schrei) hoch. • Der Index, der einerseits bereits durch so­ ziokulturelle Erfahrung überfomt ist und andererseits mit dem Referenzobjekt kau­ sal in Beziehung steht und deshalb nur noch geringe emotionale Spuren aufweist, muss bereits zu einem großen Teil gelernt werden, da die kausale Verbindung (hier: aus einer Ecke kommende Strahlen, die auf eine nicht zu sehende Strahlenquelle ver­ weisen) über logische Schlussfolgerungen zu erschließen ist. Die Übermittlung er­ folgt deshalb über ein mittelbares Reagie­ ren, was bereits einen gewissen Interpreta­ tionsspielraum eröffnet. • Das Symbol, mit seinen konventionell fest­ gelegten „display“-Regeln und der Abwe­ senheit emotionaler Spuren, das heißt sei­ ner Abstraktheit aufgrund einer arbiträren Gesetzesrelation zum bezeichneten Refe­ renzobjekt (hier: einzelner Buchstaben), muss von Grund auf kognitiv erlernt wer­ den, da es rein vom gelernten Regelwis­ sen (hier: Graphem-Phonem-Korrespon­ denzregeln) abhängt. Seine Übermittlung erfolgt rein kognitiv-mental, weshalb sein Verstehen nahezu eindeutig ist. Je nach Entwicklungsstand ist also therapeu­ tisch entwicklungsgeschichtlich auf der frü­ hesten und „einfachsten“ ikonischen und

i­ ntersemiotischen Zeichenebene anzusetzen und sukzessive zur später folgenden „schwie­ rigeren“ indexikalischen und letztlich symboli­ schen, meist laut- und schriftsprachlichen Ebe­ ne überzugehen. Entsprechend sind zu Beginn ikonische Medien (z. B. Realmedien, Fotografien) einzusetzen und erst allmählich indexika­ lische (z. B. verweisende Gesten) und symbo­ lische Medien (z. B. Wortkarten, Buchstaben, symbolische Gebärden) (→ Medien, → Unter­ stützte Kommunikation, → Sehen und Gebär­ den). Ein ebenenübergreifendes Verständnis der Ursachen schwerwiegender Störungen von Dialog und damit Kommunikation und Sprache muss beim Dialogaufbau therapeu­ tisch-didaktisch an der intersubjektiven Be­ deutungskonstruktion und damit Sinn(re)konstruktion ansetzen – und zwar, wie nachfolgendes Fallbeispiel des 24-jährigen „Be­ rusz“ zeigt, im Kontext der häufig als „pa­ thologisch“ erscheinenden Handlungen und Handlungsmuster des „Klienten“ innerhalb einer sonderpädagogischen Institution. Psychobiologisches Attunement als „being on the same wavelength“ (Field et al. 2001) ist innerhalb einer therapeutischen Dyade die Basis für die didaktische Verkörperung des Relationalen Anderen durch die Therapeu­ tin (→ FS Körperliche und motorische Ent­ wicklung) und relevant sind die affektiven Momente, die der Therapeut auf Basis seiner Kenntnisse und seines Einfühlungsvermö­ gens (sympathy) als günstig für den Aufbau einer wechselseitigen Bedeutungsrepräsenta­ tion identifiziert (Frank 2003, 2009, Frank & Trevarthen 2011). Berusz sitzt oft stundenlang alleine auf dem Boden des Flures oder in seinem Zimmer und zerreißt Papier [idiosynkratische ikonisch-indexikalische Zeichen]. Er wirkt in sich versunken, Kontaktversuche anderer Bewohner oder der Mitarbeiter verbleiben scheinbar ohne kommunikative Reaktion. Über Stunden des Zerreißens bilden sich gro­ ße Haufen aus Papierschnipseln [Reihung/

676 

Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung

Perseverierung]. Keiner weiß, was diese Haufen bedeuten sollen, der Eindruck von Isolation entsteht [Beeinträchtigung der intersubjektiven Bedeutungskonstruktion]. Setze ich mich zu ihm, nimmt er zu­ nächst keine Notiz von mir und setzt das Zerreißen fort. Irgendwann wende ich mich selbst, nachdem ich einige Male Blickkontakt aufgenommen habe, dem Pa­ pier zu und zerreiße es, so wie er [Spiegelung]. Einige Zeit später, vielleicht 10 bis 20 Minuten [langsames affective attunement], bemerkt Berusz meine Handlung, die seiner nun sehr gleicht [Sekundäre Intersubjektivität]. Da ich sehr nah an ihm sitze, passiert es dann, dass er mir die Pa­ pierstückchen, die ich gerade bearbeiten will, aus der Hand nimmt und auf seinen Haufen wirft [gemeinsamer Gebrauch des Referenzobjektes]. Das wiederholt sich ei­ nige Male, bis ich – ihn wiederum spie­ gelnd – in seine Hand greife: zunächst auf das gerade mir entwendete Stückchen Pa­ pier, welches er erst festhält, um es dann auf den vor uns liegenden Haufen zu wer­ fen. Wiederum einige Zeit später greife ich nicht das Stückchen Papier, welches er mir gerade entwendet hat, sondern berühre sei­ ne Hand, mit der er es hält [Versuch intersubjektiver Bedeutungskonstruktion]. Eini­ ge weitere Male wirft er das jeweils gerade mir aus der Hand genommene Stückchen Papier auf den besagten Haufen [umgekehrte Spiegelung]. Einige Wiederholungen später hält Berusz, nachdem er mir wiede­ rum mein Stückchen Papier abgenommen hat und ich gerade seine Hand berühre, ein klein wenig in der Bewegung inne und schaut mich dabei an. Meine Hand berührt weiterhin die seine, in welcher sich mein Stückchen Papier noch befindet und ich führe nun seine Hand mit meinem Papier­ stückchen auf seinen Körper zu [Verstärkung der intersubjektiven Bedeutung durch indexikalische Geste]. Dabei versuche ich neben der Geste „Dies ist Deines. Ich neh­ me es Dir nicht weg“ den Blickkontakt

zu halten [affective attunement]. Berusz hält wiederum inne, wirft aber trotzdem noch einige Male – diesmal aber mit länge­ rem Blickkontakt zu mir – meine mir ab­ genommenen Papierstückchen auf besag­ ten Haufen. Noch einige Male später, meine Hand berührt wiederum die seine, landet mein Stückchen Papier nicht mehr auf be­ sagtem Haufen sondern zurück in meiner Hand [gelungene kongruente intersubjektive Bedeutungskonstruktion auf Basis gemeinsamer Handlungen und relationaler Emo­ tionen]: Für eine kurzen Moment erscheine ich als emotional bedeutsamer relationaler Anderer, mit dem bedeutsame Informatio­ nen ausgetauscht und sinnvolle Akte herge­ stellt werden können: des Dialogs. Ist man also im Zusammensein mit einer Per­ son mit schwerster Behinderung in einer als zunächst „unverständlichen“, „monologisch“ erscheinenden kommunikativen Situation als Relationaler Anderer präsent und begibt sich zunächst spiegelsymmetrisch, dann behutsam variierend in die als in sich geschlossen und isoliert wirkenden kommunikativen Hand­ lungen, entsteht auf Basis der miteinander verschränkten, aufeinander eingestimmten biopsychosozialen Felder eine Bedeutung des gemeinsamen Handlungsgegenstandes, der bedeutsam, sinnvoll für den anderen wird. Da­ durch entsteht genau jener Möglichkeitsraum, in dem sich Dialogentwicklung (wieder) ent­ falten kann.

6.4 Relationale Didaktik: ­Sprachdidaktische Valenzen von relationalen Emotionen Aus der herausgearbeiteten konstitutiven Rol­ le der relationalen Emotionen für die Dialog­ entwicklung lassen sich zusammenfassend folgende zentrale sprachdidaktische Valenzen ableiten, die sich als didaktisches Primat der intersubjektiv konstruierten Bedeutung zu­ sammenfassen lassen (Lüdtke 2004, 2011).



Literatur   677

Die in ihrer Dialog-, Kommunikations- und Sprachentwicklung zu fördernde Person braucht: • die Anerkennung als denkendes und emp­ findendes Wesen, das Kommunikation und Sprache primär entwickelt, um emo­ tional bedeutsame Inhalte auszudrücken und einem bedeutsamen Anderen mitzu­ teilen. • einen emotional bestätigenden, kommu­ nikativen Anderen (Lehrer/Lehrerin oder Therapeut/Therapeutin), mit dem sie ge­ meinsam ein Bewusstsein für die Wirkung und Bedeutung ausgetauschter Zeichen auf den je Anderen entwickeln kann. • als Lerngrundlage eine psychophysiologi­ sche emotionale Verbundenheit mit dem Anderen, um die entstehenden sozio-emo­ tionalen Austauschprozesse als Dialogmo­ tivation nutzen zu können. • unter Umständen die Einbettung in die af­ fektiv-leibliche Einheit mit dem Anderen, um die hier wurzelnden Grundlagen frü­ hester affekt-besetzter Signifikationspro­ zesse nachzuholen. • die Spiegelung, Imitation und Beantwor­ tung ihrer (kommunikativen) Handlun­ gen, insbesondere der sie generierenden und regulierenden Emotionen und Moti­ ve, um hieraus Proto-Konversation, ProtoZeichen, Proto-Symbole und Proto-Gram­ matik entwickeln zu können. • ein Gegenüber, dass offen für ihre idiosyn­ kratischen Zeichen und kreativen kommu­ nikativen Neuschöpfungen ist und dem das Eingehen auf ihre subjektiv bedeutsa­ men verbalen wie nonverbalen Produkti­ onsprozesse zunächst wichtiger ist als die Arbeit an der korrekten Form eines norm­ gerechten sprachlichen Endproduktes. • die Einbettung der Bedeutungskonstrukti­ on in positiv gefärbte emotionale Narrati­ ve, die in der sympathetischen Dyade mit dem Anderen geschaffen werden. • Zeit und Raum in der Therapie, um aus der anfänglichen Bedeutungsvagheit sukzes­ sive eine reziproke Bedeutungskongruenz

herauszukristallisieren und allmählich Be­ deutungspermanenz zu etablieren. • zu Beginn die Einbeziehung aller emoti­ onal markierten Zeichenkodes in die Be­ deutungskommunikation – wie z. B. der Körpersprache (Gestik, Mimik, Stimme) und der Bildsprache (Kritzeln, Schmieren, Plastizieren) – und erst allmählich eine Fo­ kussierung auf das lautlich-verbale Medi­ um. • Unterstützung bei der allmählichen Zu­ nahme der kognitiven Kontrolle und der gleichzeitigen Abnahme der negativen Af­ fektspuren, damit sich ein Übergang von einem geschlossenen, ikonischen, analogganzheitlichen zu einem offenen, symbo­ lisch-arbiträren, analytisch-synthetischen Zeichensystem vollziehen kann.

Literatur Adorno, T. W. (1970): Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bourdieu, P. (2005): Language and symbolic power. Cambridge (UK): Polity Press. Cicchetti, D. (2002): The impact of social experience on neurobiological systems: Illustration from a constructivist view of child maltreatment. Cogni­ tive Development 17, 1407–1428. Deacon, T. W. (2007–08): Shannon – Boltzmann – Darwin: Redefining information (Part I+II). Cog­ nitive Semiotics 1, 123–148. Edelman, G. M. & Tononi, G. (2000): A universe of consciousness. New York: Basic Books. Feuser, G. (1989): Allgemeine integrative Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik. Behinderten­ pädagogik 28, 1, 4–48. Field, T., Sanders, C. & Nadel, J. (2001): Children with autism display more social behaviour after repea­ ted imitation sessions. Autism 5, 3, 317–323. Frank, B. (2003): Autismus als erlernte Sprachlosig­ keit – Zum Verhältnis von „Natur“, Kultur und Be­ hinderung. Die Sprachheilarbeit 48, 5, 212–216. Frank, B. (2009): Bindung. In: Dederich, M. & Jant­ zen, W. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizi­ pation – Enzyklopädisches Handbuch der Be­ hindertenpädagogik. Bd. 2: Behinderung und An­ erkennung (192–198). Stuttgart: Kohlhammer. Frank, B. & Trevarthen, C. (2011): Intuitive mea­ ning: Supporting impulses for interpersonal life

678 

Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung

in the sociosphere of human knowledge, ­practice and language. In: Zlatev, J., Foolen, A., Racine, T. & Lüdtke, U. (Eds.): Moving ourselves, moving others: Mo­tion and emotion in intersubjectivity, consciousness and language. Consciousness and Emotion Series. Amsterdam: Benjamins. Gallese, V. (2001): The ‚Shared Manifold‘ hypothesis: From mirror neurons to empathy. In: Thompson, E. (Ed.): Between ourselves. Second person issues in the study of consciousness (33–51). Thorverton: Imprint Academic. Gratier, M. (2003): Expressive timing and interactio­ nal synchrony between mothers and infants: Cul­ tural similarities, cultural differences, and the im­ migration experience. Cognitive Development 18, 4, 533–554. Gratier, M. & Apter-Danon, G. (2009): The improvised musicality of belonging: Repetition and variation in mother-infant vocal interaction. In: Malloch, S. & Trevarthen, C. (Eds.): Communicative musicality: Narratives of expressive gesture and being human (301–327). Oxford: Oxford University Press. Habermas, J. (1988): Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1 u. 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Haken, H. & Haken-Krell, M. (1989): Entstehung von biologischer Information und Ordnung. Dimensi­ onen der modernen Biologie 3. Darmstadt: Wis­ senschaftliche Buchgesellschaft. Heimann, P., Otto, G. & Schulz, W. (1965): Unterricht – Analyse und Planung. Hannover: Schroedel. Jantzen, W. (2004): Sprache, Bewusstsein und Tätig­ keit – Methodologische Bemerkungen. In: Lüdt­ ke, U. (Hrsg.): Fokus: MENSCH. Subjektzentrierte Unterrichts- und Therapiemodelle in der Sprach­ behindertenpädagogik (155–172): Würzburg: von freisleben. Kauffman, S. A. (1993): The origins of order. Self-or­ ganization and selection in evolution. New York: Oxford University Press. Klafki, W. (1963): Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim: Beltz. Lewin, K. (1982): Feldtheorie. Stuttgart: Klett-Cotta. Lotman, Y. (1990): Über die Semiosphäre. Zeitschrift für Semiotik 4, 287–305. Lüdtke, U. (2004): Emotionen im Unterricht – The­ orie und Praxis einer Relationalen Didaktik im Förderschwerpunkt Sprache. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Bd. 5: Bildung, Erziehung und Unter­ richt (106–126). Stuttgart: Kohlhammer. Lüdtke, U. (2006a): Intersubjektivität und Intertex­ tualität. Neurowissenschaftliche Evidenzen für die enge Relation zwischen emotionaler und sprachli­ cher Entwicklung. Sonderpädagogische Förderung 51, 3, 275–297.

Lüdtke, U. (2006b): Sprache und Emotion. Neurowis­ senschaftliche und linguistische Relationen. Die Sprachheilarbeit 51, 4, 60–75. Lüdtke, U. (2011): Relational emotions in semiotic and linguistic development: Towards an intersub­ jective theory of language learning and language therapy. In: Zlatev, J., Foolen, A., Racine, T. & Lüdt­ ke, U. (Eds.): Moving ourselves, moving others: Mo­tion and emotion in intersubjectivity, con­ sciousness and language. Consciousness and Emo­ tion Series. Amsterdam: Benjamins. Lüdtke, U. & Frank, B. (2007): Die Sprache der Ge­ fühle – Gefühle in der Sprache: Ausdruck, Ent­ wicklung und pädagogische Regulation von Emo­ tionen am Beispiel der Jugendsprache. In: Arnold, R. & Holzapfel, G. (Hrsg.): Die vergessenen Gefüh­ le in der Erwachsenenpädagogik (119–142). Ho­ hengehren: Schneider. Luhmann, N. (1987): Social systems. Stanford: Stan­ ford University Press. Maturana, H. R. & Varela, F. J. (1987): Der Baum der Erkenntnis. München: Scherz. Nagy, E. (2008): Innate intersubjectivity: Newborns’ sensitivity to communication disturbance. Deve­ lopmental Psychology 44, 6, 1779–1784. Nagy, E. & Molnar, P. (2004): Homo imitans or homo provocans? The phenomenon of neonatal imitati­ on. Infant Behavior and Development 27, 1, 57–63. Reich, K. (2002): Konstruktivistische Didaktik. Leh­ ren und Lernen aus interaktionistischer Sicht. Neuwied: Luchterhand. Rizzolati, G. & Arbib, M. A. (1998): Language within our grasp. Trends in Neuroscience 21, 5, 188–194. Rödler, P., Berger, E. & Jantzen, W. (Hrsg.) (2001): Es gibt keinen Rest! Basale Pädagogik für Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen. Neuwied: Luchterhand. Schore, A. N. (2003): Affect regulation and the repair of the Self. New York: Norton. Simonov, P. (1986): The emotional brain. Physiolo­ gy, neuroanatomy, psychology, and emotion. New York: Plenum Press. Solms, M. & Solms, K. K. (2000): Clinical studies in Neuro-Psychoanalysis: Introduction to a depth neuropsychology. London: Karnac. Spitz, R. (1974 [i. O. 1965]): Vom Säugling zum Klein­ kind. Stuttgart: Klett-Cotta. Sporns, O., Tononi, G. & Edelman, G. M. (2000): Connectivity and complexity: The relationship between neuroanatomy and brain dynamics. Neu­ ral Networks 13, 909–922. Trevarthen, C. (2001): The neurobiology of ­early communication: Intersubjective regulations in hu­man brain development. In: Kalverboer, A. F. & Gramsbergen, A. (Eds.): Handbook on brain



Literatur   679

and behavior in human development (841–882). Dordrecht: Kluwer. Trevarthen, C. (2004): Language development: Me­ chanisms in the brain. In: Adelman, G. & Smith, B. H. (Eds.): Encyclopaedia of neuroscience. Ams­ terdam: Elsevier Science. Trevarthen, C. & Aitken, K. J. (2001): Infant intersub­ jectivity: Research, theory, and clinical applications: Annual Research Review. Journal of Child Psycho­ logy, Psychiatry & Allied Disciplines 42, 13–48. Trevarthen, C., Aitken, K. J., Vandekerckhove, M., Delafield-Butt, J. & Nagy, E. (2005): Collaborative regulations of vitality in early childhood: Stress in intimate relationships and postnatal psychopatho­

logy. In: Cicchetti, D. & Cohen, H. (Eds.): Develop­ mental Psychopathology. New York: Wileys. Tronick, E. (2005): Why is connection with others so critical? The formation of dyadic states of con­ sciousness and the expansion of individuals’ states of consciousness. In: Nadel, J. & Darwin, M. (Eds.): Emotional development: Recent research results. Oxford: Oxford University Press. UN (United Nations) (2006): Convention on the rights of persons with disabilities. New York: Uni­ ted Nations. Vygotskij, L. S. (1987): Ausgewählte Schriften. Bd. 2: Arbeiten zur psychischen Entwicklung der Persön­ lichkeit. Köln: Pahl-Rugenstein.

Förderschwerpunkt Körperliche und motorische ­Entwicklung Helen Marwick

1 Die kommunikativen ­Bedürfnisse von Kindern mit Schwerstmehrfach­ behinderungen Der Begriff „Schwerstmehrfachbehinderung“ (SMB) bzw. im angloamerikanischen Raum „Profound and Multiple Learning Difficul­ ties“ (PMLD) wird benutzt, um Personen zu bezeichnen, die mehrere Behinderungen auf­ weisen, darunter schwere geistige Beeinträch­ tigungen. Personen, die mit dieser Kategorie erfasst werden, weisen häufig eine Zerebralpa­ rese sowie andere sensorische und physische Schädigungen auf, aber auch Epilepsie oder Autismus (vgl. Evans & Ware 1987). Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderungen benö­ tigen daher Unterstützung im alltäglichen Le­ bensvollzug. Die Behinderungen innerhalb der Klassifikation „Schwerstmehrfachbehinde­ rung“ können neurologische oder genetische Ursachen haben, an ihrer Entstehung können pränatale, perinatale oder postnatale Faktoren beteiligt sein, sie können Folge einer später er­ worbenen schweren Erkrankung oder einer Verletzung sein oder aber keine genau identi­ fizierbare Ursache haben (vgl. Frederickson & Cline 2002). In der Fachliteratur werden eine Reihe von Termini benutzt, um diese Personen­ gruppe zu beschreiben. Im angloamerikani­ schen Raum schlug Hogg (1993) den Terminus „profound intellectual disability with multip­ le physical and/or sensory disabilities“ vor, da dieser der informativste und angemessenste sei. Zwar ordnet der Begriff „schwere geistige Behinderung“ (profound intellectual disability) gemäß ICD-10 (WHO 1992) die betroffenen Personen auf der IQ-Skala unter einem Rang

von 20 ein, doch ist auf die Begrenztheit ei­ ner Bezugnahme auf IQ-Werte, sobald gleich­ zeitig Motorik und basale Ausdrucksfähigkeit beeinträchtigt sind, mehrfach hingewiesen worden (vgl. u. a. Lacey 1998, Carnaby 2004, Simmons & Bayliss 2007). Die Notwendigkeit einer konsistenten Terminologie und ein kla­ res Verständnis dessen, was diese Terminologie impliziert, ist nach wie vor ein aktuelles Dis­ kussionsthema (Simmons & Bayliss 2007). Kinder mit Schwerstmehrfachbehinderun­ gen haben einen großen Bedarf an kommuni­ kativer Unterstützung. Ihre Kommunikation findet überwiegend auf nonverbalem Wege statt, wobei körperliche, motorische und sensorische Beeinträchtigungen das kom­ munikative Ausdrucksvermögen zusätzlich einschränken können. Die nonverbale Aus­ drucksfähigkeit von Kindern mit Schwerst­ mehrfachbehinderungen mittels Bewegung, Stimme, Körperhaltung, Mimik und/oder Gestik kann sehr komplex und individuali­ siert sein; doch obwohl einige Kinder in der Lage sein können, einige Zeichen oder Sym­ bole bzw. etwas Sprache zu benutzen, um auf Objekte, Ereignisse, Handlungen und Men­ schen referenziell zu verweisen, ist der Zugang von Kindern mit Schwerstmehrfachbehin­ derungen zu einem gemeinsamen, allgemein anerkannten Kommunikationssystem stark eingeschränkt. Elementare Voraussetzung für Kommunikation ist ein gemeinsam ge­ nutztes System kommunikativen Ausdrucks (Marwick & Murray 2008); wenn dieses fehlt, können hieraus ein Nicht-Erkennen kommu­ nikativer Intentionen und Reaktionen, ein Nicht-Zustandebringen eines Kommunika­ tionsergebnisses sowie ein Nicht-Registrieren der kommunikativen Kompetenz resultieren (Detheridge 1997).



Die Förderung basaler ­dialogischer und interpersonaler Prozesse   681

Die vielen unterschiedlichen Ansätze der → Unterstützten Kommunikation (UK) bzw. der „Augmentative and Alternative Communi­ cation“ (AAC), welche Ausdrucksvermögen, Verständnis und Teilnahme an Kommuni­ kation fördern oder verbessern, wenn verba­ le Kommunikation fehlt oder eingeschränkt bzw. kommunikative Ausdrucksfähigkeit und Partizipation begrenzt ist, sind deshalb bei der Kommunikationsförderung von Kin­ dern mit Schwerstmehrfachbehinderungen von essenzieller Bedeutung und können ih­ nen bei Wahlmöglichkeiten und Präferenzen in Kommunikationssituationen und bei der Übermittlung von Gefühlen und kommunika­ tiven Zielen helfen. UK-Ansätze können Ges­ tik und Gebärden (→ Gebärden und Sehen), die Benutzung von Symbolen, Bildern oder gegenständlichen Darstellungen wie auch den Einsatz von Computern und anderen Techno­ logien beinhalten (→ Medien). Darüber hin­ aus können sie Aufbau und Bereitstellung ei­ ner kommunikativen Umgebung umfassen, um hiermit basale Prozesse interpersonalen Dialogs und nonverbaler Kommunikation zu fördern (Ware 1996, Bradley 1998, Caldwell 2000, Sigafoos et al. 2003), aus denen heraus kommunikative Motive, Absichten und in­ terpersonale Erwartungen, ebenso wie refe­ renzielles Bewusstsein und gemeinsame kon­ zeptionelle Repräsentation (→ Sprache und Wahrnehmung) aufgebaut werden können (Murray & Trevarthen 1986, Marwick & Mur­ ray 2008). Kinder mit Schwerstmehrfachbehinderun­ gen werden auch als „early communicators“ bezeichnet (Sigafoos et al. 2003). Mit diesem Terminus soll auf die frühen Kommunika­ tionsprozesse hingewiesen werden, die bei diesen Kindern der Förderung bedürfen, da ohne diese Unterstützung die Gelegenheiten, in denen sie erleben können, auf ihre Umwelt erfolgreich einzuwirken und auf sie adäquat zu reagieren, gering sein können (Barber & Goldbart 1998, Ware 2004). Wesentlich für gelingende Kommunikation ist ein gemein­ samer Rhythmus und eine zuverlässige Res­ ponsivität, die in der normalen Entwicklung

von den frühesten Phasen an beobachtet wer­ den kann (Murray & Trevarthen 1986, Mal­ loch 1999, Trevarthen 2001). Sich normal ent­ wickelnde Kleinkinder zeigen von Geburt an Diskriminationsfähigkeit sowie Präferenzen für sensorische Stimuli und reagieren sofort aufmerksam und responsiv auf den kom­ munikativen Ausdruck anderer Menschen (Stratton & Connolly 1973, Eisenberg 1979, Trevarthen 1979). Stimmige Imitation, ge­ meinsamer Fokus, reziproke Initiierung und Beantwortung im aufeinander eingestimm­ ten Dialog ermöglichen, interpersonale kom­ munikative Erwartungen und Vorhersagen in der Interaktion zu entwickeln, um kom­ munikative Intentionalität, Entscheidungen und geteilte Aufmerksamkeit (joint attention) gegenüber der Umgebung mittels gemeinsa­ mer Referenz und gemeinsamer Bedeutungen zu unterstützen (Trevarthen 1979, Marwick & Murray 2008) (→ Intersubjektivität und Kommunikation).

2 Die Förderung basaler ­dialogischer und interpersonaler Prozesse Durch moderne Mikro-Computer-Techno­ logie ist es möglich geworden, zielgerichtete Aufmerksamkeit und präferenzielle Respon­ sivität bei kleinen Kindern (Glenn & Cun­ ningham 1984, O’Brien et al. 1994) sowie bei Erwachsenen mit Schwerstmehrfachbehinde­ rungen (Saunders et al. 2007) nachzuweisen. Zudem ist festgestellt worden, dass Kinder mit Schwerstmehrfachbehinderungen auch in der Lage sind, Erwartungen hinsichtlich der Wirk­ samkeit ihrer Einflussnahme auf ihre Umge­ bung zu entwickeln (Glenn & Cunningham 1984, O’Brien et al. 1994). Micro-switch technology ermöglicht es, auf minimale und subtile Bewegungen zu reagieren und konsistente, zu­ verlässige Antwortmöglichkeiten auf willkür­ liche und unwillkürliche Bewegungen anzu­

682 

Förderschwerpunkt Körperliche und motorische ­Entwicklung

bieten (Goldbart 1994, Taylor 1998). Darüber hinaus wurden eine Reihe von interaktiven, multisensorischen Umgebungen entwickelt, welche persönliche Handlungskontingenz fördern (Glenn & O’Brien 1994, Baillon et al. 2002). Dies umfasst Technologien, die bei­ spielsweise durch Ultraschall-Wellen Bewe­ gungen in Töne umwandeln (Ellis 1997, 2004) sowie vibroakustische Möbel und Kissen oder auch interaktive und multisensorische hydro­ therapeutische Becken (→ Medien). Kontingenzerfahrung – das heißt erlebte Verlässlichkeit und Wirksamkeit von Ant­ worten im Dialog – unterstützt Bewegungsin­ tentionalität und fördert Erwartung, Planung und Bewusstsein eines zuverlässigen Timings. Es konnte gezeigt werden, dass Kinder mit Schwerstmehrfachbehinderungen emotional positiv auf das Erleben ihres Kontingenzbe­ wusstseins reagieren (O’Brien et al. 1994, Ellis 1997), und sich ihre Kommunikationsfähig­ keit und ihr Wohlbefinden verbessert (Ellis 2004). Bei Personen mit Schwerstmehrfachbe­ hinderungen konnte eine Vorliebe für soziale Kontingenzen nachgewiesen werden (Schwei­ gert 1989, Saunders et al. 2007) – ebenso wie mittlerweile anerkannt ist, dass es für die kommunikative Entwicklung schwerstmehr­ fachbehinderter Kinder notwendig ist, in­ terpersonale Kontingenz zu erfahren (Glenn & O’Brien 1994, von Tetzchner & Martinsen 2000).

2.1  Diagnostik Betroffene Personen verbleiben unter Um­ ständen solange in einem „präintentionalen“ Zustand, bis ihre Intentionalität (→ Sprache und Sprechen) gefördert wird. Bradley (1998) betont deshalb die Notwendigkeit, die genaue Stufe der kommunikativen Entwicklung ei­ nes Menschen mit Schwerstmehrfachbehin­ derung zu diagnostizieren, um seine weitere kommunikative Entwicklung adäquat fördern und unterstützen zu können. Diagnostik muss dementsprechend sensibel für die frühesten kommunikativen Entwicklungsstadien sein.

Detheridge (1997) verweist insbesondere da­ rauf, dass eine Diagnostik, die nicht hinrei­ chend sensibel für frühe kommunikative Aus­ drucksformen ist, zur Auffassung kommen kann, Menschen mit Schwerstmehrfachbehin­ derungen könnten nicht kommunizieren. Tat­ sächlich stellten Evans & Ware (1987) in einer Untersuchung fest, dass Lehrerinnen und Leh­ rer in Sondereinrichtungen der Auffassung waren, 81 % der Kinder mit Schwerstmehr­ fachbehinderungen hätten keine Kommuni­ kation. Die kommunikative Ausdrucksfähigkeit zu diagnostizieren, kann für Therapeutinnen und Therapeuten aufgrund der Begrenztheit von Motorik und Ausdruck der Betroffenen problematisch sein. Bradley (1998) verweist auf diagnostische Schwierigkeiten, die auf­ grund von offensichtlich erscheinender Re­ aktionslosigkeit bzw. Nicht-Responsivität, offensichtlich erscheinender Zufälligkeit der Reaktionen, Kürze der Reaktionen, Reakti­ onsverzögerung oder von kontextbedingten festgefahrenen Reaktionen (sog. response sets) entstehen können. Ergänzend hierzu betont Ware (1996) diejenigen Schwierigkeiten, die daraus resultieren, spontan produzierte Ant­ worten von den durch das Personal initiierten zu unterscheiden. Diagnostik der kommuni­ kativen Kompetenz basiert deshalb letztlich auf behutsamen Beobachtungen und Teamar­ beit. Es ist wichtig, zu diagnostizieren, ob ab­ sichtsvolles Verhalten, wie z. B. eine minima­ le Bewegung in einem bestimmten Kontext, tatsächlich nachweisbar ist und welche Be­ dingungen für diese Person notwendig sind, um Kontingenz zu erfahren. Ein Erkennen von sehr viel indirekterer Responsivität, wie z. B. einem Lächeln, wenn andere Personen miteinander sprechen, ist ebenfalls vonnöten. Derartige Verhaltensweisen verweisen auf interpersonelle sympathetische Prozesse des wechselseitigen Mitempfindens (Trevarthen 2001) (→ Intersubjektivität und Kommuni­ kation, → Musik), auf die u. U. mittels basa­ ler Prozesse intersubjektiver Verbindung, wie z. B. verlässlicher Imitation, aufgebaut werden kann.



Aufbau und Förderung ­gemeinsamer Referenz in der Kommunikation   683

2.2  Therapeutische Ansätze Ein Ansatz zur Förderung der Erfahrung in­ terpersoneller Kontingenz ist die von Nind & Hewett (1994) entwickelte „Intensive Interac­ tion“ (→ Unterstützte Kommunikation). Er hat das Ziel, ein Mittler zu sein, um mit denjeni­ gen Personen in kommunikativen Kontakt zu treten, für die eine Partizipation an der Inter­ aktion mit anderen völlig fehlt oder aber stark eingeschränkt ist. Dieser Ansatz verfolgt die Absicht, den frühkindlichen kommunikativen Kontext in der Art und Weise nachzuahmen, wie er von normal sich entwickelnden Säuglin­ gen und Kleinkindern erfahren wird, indem er diejenigen elementaren Kommunikationspro­ zesse nutzt, die die Interaktion zwischen Kind und primärer Bezugsperson prägen. Auf diese Weise kann die adäquate Imitation eines Lau­ tes, einer Bewegung, eines Rhythmus’ (→ Mu­ sik) oder eines anderen Ausdruckselementes verwendet werden, um an dem gegenwärtigen Erlebnis einer Person teilzuhaben – mit dem Ziel, dass dies u. U. zu einem Wandel von einer subjektiven zu einer intersubjektiven Bewusst­ heit sowie zur Entwicklung verlässlicher Re­ ziprozität führen kann (Nind & Hewett 1994, Caldwell 2007). Caldwell betont in diesem Zu­ sammenhang die Notwendigkeit, die vorhan­ dene Expressivität der betroffenen Person – sei es Bewegung, Stimme oder evtl. lediglich der Atemrhythmus – als Basis eines allmählichen gemeinsamen Erlebens zu nutzen. In einer Reihe von Studien ist nachgewie­ sen worden, dass Intensive Interaction sowohl bei Kindern mit schweren Lernbeeinträch­ tigungen (Nind 1996, Hewett & Nind 1998, Kellet 2000) als auch bei Kindern mit geisti­ ger Behinderung und weiteren zusätzlichen Beeinträchtigungen (Watson 1994, Watson & Fisher 1997, Kellet 2005) (→ FS geistige Ent­ wicklung) zu positiven Veränderungen im interpersonalen Dialog und im Sozialverhal­ ten – wie beispielsweise Augenkontakt, Lä­ cheln und Initiierung von Kommunikation – führt. Fortschritte im Sozialverhalten durch die Anwendung von Intensive Interaction sind auch bei Erwachsenen mit Schwerstmehr­

fachbehinderungen festgestellt worden (Cald­ well 1998, Caldwell 2005, Leaning & Watson 2006). Besonders betont wird in diesen Stu­ dien die Zunahme der Lebensfreude und ak­ tiver Partizipation in interpersonaler Interak­ tion sowie die Bedeutung von Berührungen, von Körperkontakt und einem spielerischen Umgang miteinander (Watson & Fisher 1997, Hewett 2007).

3 Aufbau und Förderung ­gemeinsamer Referenz in der Kommunikation Die Förderung des intersubjektiven Erlebens des sich Beteiligens und Beteiligtwerdens an gemeinsamen Erfahrungen, gemeinsamen Ge­ fühlswelten und gemeinsamer Intentionalität ermöglicht die Herstellung eines gemeinsamen Bezugspunktes, auf dessen Grundlage Kom­ munikationserwartungen und referenzielle Bewusstheit entwickelt werden können (Mar­ wick & Murray 2008). Referenzielle Kommuni­ kation beinhaltet zu Beginn der Kommunika­ tionsentwicklung ein gemeinsames Verstehen von etwas – einem Erlebnis, einem Gefühl, einer Idee, einem Objekt, einer Handlung, ei­ nem Ereignis oder einer Person –, auf das dann innerhalb eines gemeinsamen Bedeutungs­ codes mit Bewegungen, Gesten, Rhythmen oder Lauten „referenziell“ verwiesen werden kann. Bei Personen mit Schwerstmehrfachbe­ hinderungen kann die Bezugnahme, das Ver­ weisen, das heißt die Referenz (→ Zeichen und Semiose), äußerst subtil und idiosynkratisch sein, weshalb die Notwendigkeit eines respon­ siven Kontextes besonders betont wird (Ware 1996, 2004). Selbstverständlich ist jede ein­ zelne Person ganz unterschiedlich, doch bei aufeinander eingestimmtem Verstehen und Interpretieren von Bedeutungen können idio­ synkratische Verhaltensreferenzen von Men­ schen mit Schwerstmehrfachbehinderungen – beispielsweise charakteristische Laute und

684 

Förderschwerpunkt Körperliche und motorische ­Entwicklung

Bewegungen – sehr effektiv Bedürfnisse, Vor­ lieben und Gefühle kommunizieren (Goldbart 1994). Grove et al. (1999) weisen darauf hin, dass die Interpretation einer Kommunikation im­ mer auch auf Inferenz (→ Sprache und Wahr­ nehmung) beruht, und Porter et al. (2001) ergänzen, dass Gewissheit über die Richtig­ keit einer Interpretation schwer zu erlangen ist. Ware (2004) betont, dass eine Interpreta­ tion immer durch eine systematische und in­ nerhalb eines Teams wechselseitig überprüf­ te Beobachtung abgesichert werden sollte, und zwar unter Berücksichtigung der bereits übereinstimmend gesammelten Informatio­ nen über die Responsivität und Präferenzen der betroffenen Person. Die Etablierung gemeinsamer referenziel­ ler Fähigkeiten kann darüber hinaus auch zum Einsatz von Gegenständen und visuellen Repräsentationen von Erlebnissen und Hand­ lungen zur Kommunikation von Präferenzen und Entscheidungen führen, z. B. mittels Bli­ cken (eye-pointing) oder mittels micro-switch technology (→ Medien). Gemeinsame referen­ zielle Fähigkeiten können u. U. auch zur Eta­ blierung symbolischer Referenz führen und dadurch den Einsatz einer symbolischen Re­ präsentation von Gegenständen, Erfahrungen und Handlungen in der Kommunikation er­ möglichen: inklusive ikonischer Repräsentati­ on mittels Bilder, Photografien, Zeichnungen und Abbildungen; inclusive indexikalischer Repräsentation von bestimmten „Referenz­ objekten“ und ihren sensorischen Eigenschaf­ ten sowie symbolischen manuellen, grafischen und verbal-lautsprachlichen Zeichen (→ Zei­ chen und Semiose, → Sprache und Wahrneh­ mung). Es ist mittlerweile anerkannt, dass der ge­ wählte referenzielle Modus und die gewählte Methode, mittels derer der Repräsentations­ modus im Dialogaufbau eingesetzt wird, den Charakteristiken und kommunikativen Ab­ sichten und Vorlieben des jeweiligen Kommu­ nikationspartners entsprechen sollte (Baum­ gart et al. 1994, Sigafoos et al. 2003). So ist z. B. die Entscheidung eines Erwachsenen mit

Schwerstmehrfachbehinderung, für die For­ mulierung seiner Bedürfnisse lieber ein Ge­ rät mit Sprachausgabe als eine Kommunikati­ onstafel zu benutzen (Soto et al. 1993), ebenso dokumentiert wie individuelle Lernfort­ schritte beim Gebrauch von Referenzobjek­ ten bei Erwachsenen mit Schwerstmehrfach­ behinderungen (Jones et al. 2002). Bradley (1998) weist in diesem Zusammenhang dar­ auf hin, dass sich in der Methodik eine Ent­ wicklung weg vom Lehren von Zeichen inner­ halb eines bedeutungsvollen Kontextes hin zu einer Anbindung der Zeichen an ein bedeut­ sames Erleben des Lernenden vollzogen hat. Beukelman & Mirenda (2005) betonen, dass die Beweggründe einer Person, ein bestimm­ tes technisches Medium der UK zu benutzen, Vorrang haben sollten und manchmal tech­ nisch relativ einfache Systeme von einzel­ nen Personen wegen der von ihnen benötig­ ten „sozialen Nähe“ (Light 1988) bevorzugt werden (→ Unterstützte Kommunikation). Zugang zu einem Kommunikationsmedi­ um zu erlangen, mittels dessen Entscheidun­ gen und Wünsche ausgedrückt werden kön­ nen, ist von grundlegender Wichtigkeit für die Kommunikationsentwicklung –+ und den wechselseitigen Dialog mit Kindern mit Schwerstmehrfachbehinderungen, denn der Zugang zu sozialem Austausch ist unab­ dingbar für Motivation, Lebensfreude und Weiterentwicklung (Schweigert 1989, Dethe­ ridge 1997, Leaning & Watson 2006, Hewett 2007). Ware (1996) betont, dass eine responsive Umgebung die Kommunikation von Kindern mit Schwerstmehrfachbehinderungen för­ dern sollte, indem sie Zeit und Raum für Ant­ worten und dialogisches Wechselspiel lässt und dem Kind Gelegenheit gibt, im Dialog die Führung zu übernehmen. Das „Picture Exchange Communication System“ (PECS) (Bondy & Frost 1994) (→ Unterstützte Kom­ munikation) bietet einen anderen Ansatz, Bedürfnisse zu formulieren, wenn die Fä­ higkeit, manuell zu agieren, vorhanden ist. Zunächst auf der Basis assoziativen Lernens fordert PECS eine Person dazu auf, ein Refe­



Inklusion innerhalb eines ­responsiven Bildungs- und Erziehungskontextes   685

renzobjekt oder Symbol eines gewünschten Objektes einer anderen Person zu geben, um das gewünschte Objekt anstelle des gereich­ ten Symbols zu erhalten. Die Etablierung in­ itiativer Fähigkeiten ist die Schlüsselfähig­ keit in diesem Ansatz, in dem die einzelnen Personen sich über unterschiedliche Stufen der Entscheidungsfindung, der Präferenzen und Kommentare weiter entwickeln können. Baumgart et al. (1994) betonen, dass sobald ein spezifisches Kommunikationssystem eta­ bliert ist, die Notwendigkeit der Aufrechter­ haltung des Vokabulars bzw. Lexikons bzw. des permanenten Erneuerns (updating) der Zeichen oder Symbole besteht und die Erwei­ terung des Kommunikationssystems geprüft werden muss.

4 Inklusion innerhalb eines ­responsiven Bildungs- und Erziehungskontextes In den letzten Jahren hat sich die Gesetzge­ bung hin zu einem grundsätzlichen Zugang von Bildungsressourcen entwickelt und der Ansatz der Inklusion aller Schülerinnen und Schüler in das allgemeine Bildungssystem vor­angetrieben (vgl. Wearmouth 2001) – ein­ schließlich der Kinder mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten (→ Behinderung und Vulnerabilität, → Institutionen). Die Rolle spezieller Förderung hinsichtlich eines adäquaten Eingehens auf die tatsächlichen Bedürfnisse bestimmter Kinder und der Be­ reitstellung adäquater Bildungs- und Förder­ möglichkeiten bleibt allerdings immer noch eine offene Frage (vgl. Warnock 2005). Des­ sen ungeachtet vertreten Simmons & Bayliss (2007) die Ansicht, dass das soziale Interak­ tionspotenzial in allgemeinen Schulen mög­ licherweise besser die Entwicklung von Kin­ dern mit Schwerstmehrfachbehinderungen unterstützen könne als die Erfahrungen, die eine Sonderschule bieten könne. Wesentlich

für diese Position sind Fragen bezüglich der Kompetenz und Ausbildung des dortigen Per­ sonals und die Anerkennung fundamentaler sozialer Prozesse der Kommunikationsent­ wicklung. Simmons & Bayliss (2007) stellten in einer Studie fest, dass das Sonderschulpersonal sich nicht kompetent für die Arbeit mit Kindern mit Schwerstmehrfachbehinderungen fühl­ te, dass die Erwartungen des Personals hin­ sichtlich der Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder gering waren und dass – in Überein­ stimmung mit den bereits vor 30 Jahren ge­ wonnenen Ergebnissen von Evans & Ware (1987) – die Einstellungen des Personals ge­ genüber den Fähigkeiten und dem Potenzial einzelner Kinder negativ waren (→ Profes­ sionalisierung). Ware & Healy (1994) weisen in diesem Zusammenhang besonders auf die Schwierigkeiten von Lehrerinnen und Leh­ rern hin, die äußerst kleinen Lernfortschrit­ te bei einem Kind mit Schwerstmehrfachbe­ hinderung zu erkennen und zu beurteilen. Die Autoren schlagen deshalb vor, dass das Verständnis von Lernzuwachs auf einem um­ fassenden Kriterienspektrum fußen sollte – einschließlich solcher Kriterien wie „Lebens­ qualität“. Die Relevanz eines Curriculums ist dabei nach wie vor ein Diskussionsthe­ ma. Simmons & Bayliss (2007) stellten fest, dass die Lernerfahrungen für Kinder mit Schwerstmehrfachbehinderungen in Son­ dereinrichtungen sehr gering waren – insbe­ sondere hinsichtlich schlechter Qualität der sozialen Interaktion – und fordern deshalb Fort- und Weiterbildung des dortigen Perso­ nals (→ Beratung), denn der soziale Kontext der Kommunikation und ein responsiver und zugewandter Kommunikationspartner sind für Kinder mit Schwerstmehrfachbehinde­ rungen von höchster Bedeutung (Goldbart 1994, Ware 1996, Bayliss 1998, von Tetzchner & Martinsen 2000, Porter et al. 2001). Die Sti­ mulation von Gruppeninteraktion ist mitt­ lerweile als eine der wichtigsten Vorteile der Inklusion in allgemeine Bildungseinrichtun­ gen erkannt worden (Watson 1994, Simmons & Bayliss 2007) und kontinuierliche Fort- und

686 

Förderschwerpunkt Körperliche und motorische ­Entwicklung

Weiterentwicklung des Personals, welche die dort Tätigen eventuell für die subtilen, sozialinteraktiven Bedürfnisse innerhalb der Kom­ munikationsentwicklung von Kindern mit Schwerstmehrfachbehinderungen zu sensibi­ lisieren vermag, wird von vielen Forschern in diesem Bereich als notwendig erachtet (Grove et al. 1999, Beukelman & Mirenda 2005, Hea­ ly & Walsh 2007) (→ Qualitätsentwicklung und Evaluation).

5  Zukünftige Forschungsfragen Beukelman et al. (2005) konstatieren den der­ zeitigen positiven Fokus der Forschung auf die Unterstützte Kommunikation. Fragestel­ lungen speziell hinsichtlich der Erfolge von einzelnen Ansätzen der Förderung kommu­ nikativer Prozesse sowie Fragen hinsicht­ lich Diagnostik, einfühlsamer Interpretation, Verständnis des Bedürfnisses nach und der Motivation für soziale Kommunikation blei­ ben jedoch nach wie vor die Hauptschwer­ punkte zukünftiger Forschung. Daneben ist die Implementierung einer kontinuierlichen Fort- und Weiterbildung des Personals ebenso wichtig. Carnaby (2004) schlägt in diesem Zu­ sammenhang vor, dass die Effektivität solcher Trainingsprogramme hinsichtlich eines ver­ besserten Verständnisses und einer verbesser­ ten Förderung der Kommunikation von Per­ sonen mit Schwerstmehrfachbehinderungen unbedingt untersucht werden müsse. Denn wie für jeden von uns ist speziell auch für die kommunikative Entwicklung von Kindern mit Schwerstmehrfachbehinderungen eine responsive Umgebung unabdingbar. Sie wird einen kommunikativen Austausch ermögli­ chen, von dem alle Beteiligten profitieren und sich freuen, Bedeutsames, Empfindungen und Freude (mit) zu teilen (Bradley 1998).

Literatur Baillon, S., van Diepen, E. & Prettyman, R. (2002): Multisensory therapy in psychiatric care. Advan­ ces in Psychiatric Treatment 8, 444–452. Barber, M. & Goldbart, J. (2003): Accounting for lear­ ning and failure to learn. In: Lacey, P. & Ouvry, E. (Eds.): People with profound and multiple learning difficulties (102–116). London: Fulton. Baumgart, D., Johnson, J. & Helmstetter, E. (1994): Augmentative and alternative communication sys­ tems for persons with moderate and severe disabi­ lities. Baltimore: Brookes. Bayliss, P. D. (1998): Theorising special education. Models of complexity: Theory driven intervention practice. In: Clark, C., Dyson, A. & Millward, A. (Eds.): Theorising special education (61–78). Lon­ don: Routledge. Beukelman, D. & Mirenda, P. (2005): Management of severe communication disorders in children and adults. Baltimore: Brookes. Bondy, A. & Frost, L. (1994): The Picture Exchange Communication System. Focus on autistic behavi­ our 9, 3, 1–19. Bradley, H. (1998): Assessing and developing suc­ cessful communication. In: Lacey, P. & Ouvry, C. (Eds.): People with profound and multiple learning disabilities. A collaborative approach to meeting complex needs (50–65) London: Fulton. Caldwell, P. (1998): Person to person. Establishing contact with people with profound learning disa­ bilities. Brighton: Pavilion. Caldwell, P. (2000): You don’t know what it’s like. Finding ways of building relationships with peo­ ple with severe learning disabilities, autistic spec­ trum disorder, and other impairments. Brighton: Pavilion. Caldwell, P. (2005): Finding you, finding me: Using Intensive Interaction to get in touch with people with severe learning disabilities combined with au­ tistic spectrum disorder. London: Kingsley. Caldwell, P. (2007): From isolation to intimacy: Ma­ king friends without words. London: Kingsley. Carnaby, S. (2004): People with profound and multi­ ple learning disabilities: A review of research about their lives. MENCAP. Detheridge, T. (1997): Bridging the communication gap (for pupils with profound and multiple lear­ ning difficulties). British Journal of Special Educa­ tion 24, 1, 21–26. Eisenberg, R. B. (1976): Auditory competence in early life: The roots of communicative behaviour. Balti­ more (MD): University Park Press. Ellis, P. (1997): The music of sound: A new approach for children with severe and profound and multiple



Literatur   687

learning difficulties. British Journal of Music Edu­ cation 14, 2, 173–186. Ellis, P. (2004): Improving quality of life and wellbeing for children and the elderly through Vib­ roacoustic Sound Therapy. In: Miesenberger, K., Klaus, J., Zagler, W. & Burger, D. (Eds.): Compu­ ters helping people with special needs (416–422). Berlin: Springer. Evans, P. & Ware, J. (1987): ‚Special Care‘ provision. The education of children with profound and mul­ tiple learning difficulties. Berkshire: NFER-Nelson. Frederickson, N. & Cline, T. (2002): Special educa­ tional needs, inclusion and diversity. Buckingham: Open University Press. Glenn, S. M. & Cunningham, C. C. (1984): Selec­tive auditory preferences and the use of automated equipment by severely, profoundly and multiply handicapped children. Journal of Mental Deficien­ cy Research 28, 281–296. Glenn, S. & O’Brien, Y. (1994): Microcomputers: Do they have a part to play in the education of chil­dren with PMLDs? In: Ware, J. (Ed.): Educating chil­dren with profound and multiple learning difficulties (99–109). London: Fulton. Goldbart, J. (1994): Opening the communication curriculum to students with PMLDs. In: Ware, J. (Ed.): Educating children with profound and mul­ tiple learning difficulties (15–62). London: Fulton. Grove, N., Bunning, K., Porter, J. & Olsson, C. (1999): See what I mean: Interpreting the meaning of com­ munication by people with severe and profound in­ tellectual disabilities. Journal of Applied Research in Intellectual Disabilities 12, 3, 190–203. Healy, D. & Walsh, P. N. (2007): Communication among nurses and adults with severe and profound intellectual disabilities. Predicted and observed strategies. Journal of Intellectual Disabilities 11, 2, 127–141. Hewett, D. (2007): Do touch: Physical contact and people who have severe, profound and multiple learning difficulties. Support for Learning 22, 3, 116–123. Hewett, D. & Nind, M. (Eds.) (1998): Interaction in action: Reflections on the use of Intensive Interac­ tion. London: Fulton. Hogg, J. (1993): Developments in further education for adults with profound intellectual and ­multiple disabilities. In: Watson, J. (Ed.): Innovatory prac­ tice and severe learning difficulties (163–181). Edinburgh: Murray House. Jones, F., Pring, T. & Grove, N. (2002): Developing communication in adults with profound and mul­ tiple learning difficulties using objects of reference. International Journal of Language and Communi­ cation Disorders 37, 2, 173–84.

Kellett, M. (2000): Sam’s story: Evaluating Intensive Interaction in terms of its effect on the social and communicative ability of a young child with se­vere learning difficulties. Support for Learning 15, 4, 165–171. Kellett, M. (2005): Catherine’s legacy: Social com­ munication development for individuals with pro­ found learning difficulties and fragile life expec­ tancies. British Journal of Special Education 32, 3, 116–121. Lacey, P. (1998): Meeting complex needs through col­ laborative multidisciplinary teamwork. In: Lacey, P. & Ouvry, C. (Eds.): People with profound and multiple learning disabilities. A collaborative ap­ proach to meeting complex needs (ix–xvii). Lon­ don: Fulton. Leaning, B. & Watson, T. (2006): From the inside loo­ king out. – An Intensive Interaction group for peo­ ple with profound and multiple learning difficul­ ties. British Journal of Learning Disabilities 34, 103–109. Light, J. (1988): Interaction involving individuals using augmentative and alternative communica­ tion systems: State of the art and future directions. Augmentative and Alternative Communication 4, 66–82. Malloch, S. (1999): Mother and infants and commu­ nicative musicality. In: Rhythms, musical narrati­ ve, and the origins of human communication (13– 28). Musicae Scientiae, Special Issue, 1999–2000. Liège: European Society for the Cognitive Sciences of Music. Marwick, H. & Murray, L. (2009): The effects of ma­ ternal depression on the musicality of infant di­ rected speech and conversational engagement. In: Malloch, S. & Trevarthen, C. (Eds.): Communica­ tive musicality: Narratives of expressive gesture and being human (281–300). Oxford: Oxford Uni­ versity Press. Murray, L. & Trevarthen, C. (1986): The infant’s role in mother-infant communication. Journal of Child Language 13, 1, 15–29. Nind, M. (1996): Efficacy of Intensive Interaction: Developing sociability and communication in peo­ ple with severe and complex learning difficulties using an approach based on caregiver-infant inter­ action. European Journal of Special Needs Educa­ tion 11, 1, 48–66. Nind, M. & Hewett, D. (21994): Access to commu­ nication: Developing the basics of communica­ tion with people with severe learning difficulties through Intensive Interaction. London: Fulton. O’Brien, Y., Glenn, S. & Cunningham, C. (1994): Contingency awareness in infants and children with severe and profound learning disabilities. In­

688 

Förderschwerpunkt Körperliche und motorische ­Entwicklung

ternational Journal of Disability, Development and Education 41, 3, 231–243. Porter, J., Ouvry, C., Morgan, M. & Downs, C. (2001): Interpreting the communication of people with profound and multiple learning difficulties. Bri­ tish Journal of Learning Disabilities 29, 1, 12–16. Saunders, R. R., Saunders, M. D., Struve, B., Munce, A. L., Olswang, L. B., Dowden, P. A. & Klasner, E. R. (2007): Discovering indices of contingency aware­ ness in adults with multiple profound disabilities. American Journal on Mental Retardation 112, 4, 246–260. Schweigert, P. (1989): The use of microswitch techno­ logy to facilitate social contingency awareness as a basis for early communication skills. Augmentati­ ve and Alternative Communication 5, 3, 192–198. Sigafoos, J., Drasgow, E. & Schlosser, R. W. (2003): Strategies for beginning communication. In: Schlosser, R. (Ed.): The efficacy of augmentative and alternative communication towards evidence based practice (324–341). San Diego: Academic Press. Simmons, B. R. & Bayliss, P. D. (2007): The role of special schools for children with profound and multiple learning difficulties: Is segregation al­ ways best? British Journal of Special Education 34, 1, 19–24. Soto, G., Belfiore, P., Schlosser, R. & Haynes, C. (1993): Teaching specific requests: A comparative analysis on skill acquisition and preference using two AAC aids. Education and Training in Mental Retardation 28, 169–178. Stratton, P. & Connolly, K. (1973): Discrimination by newborns of the intensity, frequency and temporal characteristics of auditory stimuli. British Journal of Psychology 64, 219–232. Taylor, J. (1998): Technology for living and learning. In: Lacey, P. & Ouvry, C. (Eds.): People with pro­ found and multiple learning difficulties (156–166). London: Fulton. Trevarthen, C. (1979): Communication and coope­ ration in early infancy: A description of prima­ ry intersubjectivity. In: Bullowa, M. (Ed.): Before speech: The beginnings of human communica­

tion (321–346). Cambridge: Cambridge University Press. Trevarthen, C. (2001): Intrinsic motives for compa­ nionship in understanding: Their origin, develop­ ment and significance for infant mental health. In­ fant Mental Health 22, 1–2, 95–131. Tetzchner, S. von & Martinsen, H. (2000): Introduc­ tion to augmentative and alternative communica­ tion. London: Whurr. Ware, J. (1996): Creating a responsive environment for people with profound and multiple learning difficulties. London: Fulton. Ware, J. (2004): Ascertaining the views of people with profound and multiple learning disabilities. British Journal of Learning Disabilities 32, 4, 175–179. Ware, J. & Healy, I. (1994): Conceptualising progress in children with profound and multiple learning difficulties. In: Ware, J. (Ed.): Educating children with profound and multiple learning difficulties (1–14). London: Fulton. Warnock, B. M. (2005): ‚Special Educational Needs – A New Look‘. Impact No. 11. London: Philosophy of Education Society of Great Britain. Watson, J. (1994): Using interaction in the education of pupils with PMLDs. Intensive Interaction: Two case studies. In: Ware, J. (Ed.): Educating children with profound and multiple learning difficulties (150–159). London: Fulton. Watson, J. & Fisher, A. (1997): Evaluating the effective­ ness of Intensive Interaction teaching with pupils with profound and complex learning disabilities. British Journal of Special Education 24, 2, 80–87. Wearmouth, J. (2001): The Warnock Report: ‚The Historical Background‘. In: Wearmouth, J. (Ed.): Special educational provision in the context of in­ clusion. Policy and practice in schools (5–35). The Open University. London: Fulton. WHO (World Health Organisation) (1992): The ICD10 Classification of Mental and Behavioural Disor­ ders: Clinical Descriptions and Diagnostic Guide­ lines. Geneva: WHO. [Fachübersetzung: Maike Kersten, Ulrike Lüdtke & Bodo Frank]

Sachregister

A a posteriori-Signifikation 179 a priori-Zeichensystem 179 Aachener Aphasie Test (AAT) 391 Abjektion 66 Ablesen 149, 313 Abwertung 71, 78 Acetylcholin 235 action-time 624/625 Adagio 103, 104, 124 Adenotomie 362, 371 ADHS 134, 419, 656, 671 Adoption 143 affect hunger 222 affective attunement 670, 676 Affen 87, 127 Affrikate 286 Agnosie 234 Agnostizismus 62 agrammatismus infantilis 249 A-I-Probe 361 Akkomodation 467 Akustikusneurinom 366 Akutphase 270, 397 Akzentmethode 388 Alexithymie 223 aliquid pro aliquo 198 Allegro 110, 124 Allgemeine Heilpädagogik 492 Alphabet 291 Alphabetschrift 291, 300 Alter 55, 247, 412 alterozentrisch 222 Altersstimme 382 Altertum 20 Alveolen 282 Alzheimer-Demenz 248 Amboss 278 American Sign Language (ASL) 305, 312 Ammensprache 503 amphoteronomische Organisation 91/92, 121, 663, 665 Analphabet 55, 290, 639 analytische Methoden 297 analytische Semantik 179 analytische Sprachphilosophie 188, 197 Anblick 42 Andante 103, 110, 124

Anderer 138/139, 669, 676 ANELT (Amsterdam-Nijmegen Everyday Language Test) 392 Anerkennung 42, 477, 651 Anfangsunterricht 297 angulus pontocerebellaris 280 Animalisches 62, 214 Animalisierung 64 Anlauttabelle 299, 582, 591 Anormalität 41, 130, 137, 140 Ansatzrohr 284/285 Anschauung 194, 308 anterior 231, 380 Anthropologie 50, 60, 100, 525 Anthroposemiose 61 Anthropozentrismus 62, 79 Antike 20, 64, 161, 218, 293 Anti-Logos 66, 218 Anti-Lokalisationisten 233 Anzeichen 265, 281, 336 Apert-Syndrom 351 Aphasie 20, 230, 247, 270, 391, 452 Aphasie-Check-Liste 391 Aphasiologie 234, 249, 272, 392 Aphemie 230 Aphonie 382, 387 apparative Hilfen 389 Appellfunktion 220 Appräsentation 178, 182 Apraxie 234, 358, 381, 557 Arbitrarität 166, 180, 190 Areale 215, 231, 233, 236, 270, 291 Aristotelestradition 293 Artikulation 21, 233, 282, 284, 286, 327, 352, 382, 393, 458, 547, 641 Artikulationsart 286 Artikulationsorgane 284, 348, 361 Artikulationsort 286, 366 Artikulationsstörung 230, 360 Artikulationszonen 286 Aryknorpelluxation 381 ASHA (American Speech-Language-Hearing Association) 14, 329, 451, 556 Asigmatismus 353 Asphyxie 368 Aspiration 402, 414 Aspirationspneumonie 397 Assimilation 467

690 

Sachregister

Assoziationsbahnen 235 Assoziationsfeld 281 ASSR (Auditory Steady-State Response) 371 Ästhetische Kommunikation 608, 612 Atemdreieck 284 Atemhilfsmuskulatur 282 Atemwegsobstruktion 413 Ätiologie 137, 252, 393, 654 Atmung 281, 339, 382, 401, 413, 663, 670 Atmungsapparat 282 Atomismus 196, 199 atomistic concept 199 Atrophie 233 attunement 107, 222, 670, 676 audiometrische Diagnostik 368 auditorische Neuropathie 365 Aufklärung 39, 46, 55, 133, 416 Augmentative and Alternative Communication (AAC) 556, 681 auricula 277 auris interna 278 auris media 278 Ausatmung 282, 414 Ausdruck 90, 127, 145, 164, 202, 216, 340, 464, 568, 588, 633, 666 Ausdrucksfunktion 220 Ausgrenzung 56, 71 Ausschluss 64 Aussprachestörungen 266, 347, 353, 437, 643 Ausspracheüberprüfung 357 Ausstoßung 65 Autismus-Spektrum-Störung 135, 453, 469, 670 Autopoiesis 31 AVWS (auditive Verarbeitungs- und Wahrneh­ mungsstörung) 366, 375, 509 Axiom 61, 475 B BA (Brodmann-Areal) 231, 239 Baby 96, 99, 116, 144, 218, 663, 670 Babysprache 103 Bahnung 281 Bailey-Entwicklungstest 140 Barbaren 64 Basale Pädagogik 658 Basalganglien 127, 233, 399 Basilarmembran 279 Basis-Emotionen 216 Bauchatmung 283 Bedeutung 82, 128, 185, 189, 463 Bedeutungsaktivierung 184, 190, 193 Bedeutungsentwicklung 222, 262 Bedeutungserfassung 294 Bedeutungskonstituierung 190 Bedeutungspermanenz 223, 677

Bedeutungstheorie 187, 198 Bedeutungsträger 180, 184, 315, 664 Beeinträchtigungen 331, 338, 626, 649, 670 Begriffsschrift 180, 298 Behaviorismus 202, 464/465 behindert(es) Sein 39 Behindertenpädagogik 146, 515, 571, 577, 593 Behinderung 39, 75, 504 Behinderungs-Situation 43/44 belonging 105 Beobachtung 96, 182, 216, 221, 298, 356, 415, 436, 536, 684 BERA (brainstem evoked response audiometry) 368, 371, 508 Beratung 374, 342, 362, 381, 389, 410, 444, 482, 483, 550, 512, 515, 520, 526, 548, 579 Beratungskompetenzen 550 Berliner Schule 22, 458, 471, 639 Bernoulli-Effekt 284 Beschädigung 73, 75, 77, 192, 216 Beschallungs-EEG 365, 371 Bewegung 119 Bewegungsabbild 625 Bewegungstherapie 137, 145, 630 Bewusstsein 116, 119 Bewusstseinsakte 198 Beziehungsdidaktik 475, 534 Beziehungsgestaltung 481, 493, 529, 536, 631 Bilderbücher 510, 547, 590 bildgebende Verfahren 83, 129, 213, 469 Bildikonizität 167 Bildung 90, 147, 492/493 Bildungs- und Erziehungsauftrag 470 Bildungssystem 69, 543, 567, 685 bilingualer Spracherwerb 247 bilinguales Konzept 644 Bindung 96 Bindungstheorie 505 Biochronologie 119 Biosemiotik 161 bitstream 181 black box 213, 458 Blickbewegungsmessungen 253 Blickkommunikation 171, 173 Bliss-Symbole 175, 556 Bobath-Konzept 407 Bolus 400, 412, 415 Boolesche Algebra 181 Borderline-Persönlichkeitsstörung 106, 146, 626 borrowing 264 bottom-up-Prozesse 294 Botulinumtoxin 387 Brailleschrift 174 Brazelton Neonatal Behaviour Assessment Scale (BNBAS) 144

Bricolage 70 British Sign Language (BSL) 305 Broca-Aphasie 231, 391 Broca-Areal 231, 240, 252 Brodmann-Areal (BA) 231, 239 Brüche 67, 70, 218 Brüchigkeit 74, 85 Brustatmung 283 Brustkorb 282 bytes 181 C Capgras-Syndrom 216 capsula externa 233 capsula interna 233 Cartesianischer Rationalismus 63, 471 cartilago arytaenoidea 283 cartilago cricoidea 283 cartilago epiglottica 283 cartilago thyreoidea 283 cavitas nasi 282 cavitas oris 282 cavitas tympanica 278 CBLC (Child Behavior Checklist) 655 Cerumen 365 CETI (Communicative Effectiveness Index) 392 Chat-Kommunikation 70 Chereme 172 Cherologie 172 CHILDES 248, 438 Chirp 371 Chirurgie 21, 387 Chora 220 Chromosomenanomalien 368 Chronemik 173 classroom management 656 classroom-based-Modelle 451 clearing 405 Cochlea 278, 373 Cochlea-Implantat (CI) 373, 508, 639 Cochleariskerne 280 Code 165, 168, 173, 181 code-switching 264 Codewechsel 57 coenästhische Organisation 663, 664 Cognition 213 Cognition & Emotion 213 cognitive maps 189, 199 colliculus inferior 281 Complementierer-Phrase (CP) 270 Compliance 410, 538 Computer 213, 509, 542, 571 concept 180, 199 conceptual blending 199 conceptual metaphors 199

Sachregister   691 Conseil National Handicap 47 Construction Grammar 207 content 452, 463 contours of vitality 92 Co-Regulation 140 Corporeal Pragmatics 177, 183 corporeal turn 182 corpus geniculatum mediale 280/281 Cortex 281 Corti-Organ 279 COSS (communicative sign systems) 185, 198 Cours de linguistique générale 165 CPG (Central Pattern Generator for Swallowing) 399/400 CROS-Versorgung (Contralateral Routing of Signals) 372 Crouzon-Syndrom 351 CT (Computertomografie) 253, 349, 371 D DaF (Deutsch als Fremdsprache) 434, 588 Dansk Tegnsprok 305 Darstellungsfunktion 216, 220 DaZ (Deutsch als Zweitsprache) 434, 588, 591 Deafferenzierung 234 Degeneration 233 degenerative Erkrankungen 393 DeGEval 445 Dehumanisierung 64 Dehydratation 397, 406, 413 Deixis 177, 187, 189, 195, 197 Deixisneutralisation 180 Dekanülierung 415 Dekonnektion 234, 237 Dekonstruktivismus 163 demenzielles Syndrom 233 Demokratie der Nähe 39 Denotation 162, 164 Depersonalisierung 75 Depression 140, 626, 671 desire 220 Destabilisierung 69 Deutsch 331, 582, 585 development/developmental guidance 145 DGNKN 410, 416 Diachronie 162, 202 Diagnostik 143, 335, 368, 374, 391, 393, 403, 422, 523 diakritische Organisation 663 diakritische Zeichen 285 Dialekt 75, 306 Dialog 90, 107, 660 Dialogaufbau 658, 673 Dialogentwicklung 662, 666, 670 Dialoggrammatik 203 Dialogimprovisationen 99

692  dialogischer Möglichkeitsraum 668 dialogisches Vorlesen 510, 590 Dialogkompetenz 482 Diaphragma 282, 387 Didaktik 475, 532, 658, 673, 676 Didaktikkonzepte 29 Didaktiktheorie 31 differance 47, 194 Differenz 47, 49 Differenzanerkennung 79 Differenzrelation 180 digitaler Code 181 diglossische Situation 52 DIN EN ISO-Normungen 442/443 Direktionalität 185, 198 disembodiment 190, 199 Diskonnektionssyndrome 234 Diskriminierungsstörungen 267 Diskurs 80, 428, 492 Diskursanalyse 163, 453 display 665, 675 Dispositionen 68, 143, 339, 666 Dissoziationen 258, 268, 271, 391 distinktives Merkmal 286/287 Diversität 55, 453 domain specificity 255 Dominanz 231, 464 Dopamin 235, 420 dopaminerge Aktivität (DA) 128 Doppeldirektionalität 187 doppelter Erstspracherwerb 264 dorsal 236, 242 Double Television Intercom Experiment 107 Down-Syndrom 134, 351, 671 Dreieck 164, 166, 279, 479 drooling 401 DSI (Dysphonia Severity Index) 386 Dualismus 199, 215 ductus cochlearis 278/279 Dyade 85, 145, 664, 670 dyadisches Zeichenmodell 166, 454 Dysglossie 347, 350, 394 Dysarthrie 348, 393 Dysarthrophonie 404 Dysgrammatismus 249, 271, 458, 465, 507, 578 Dyskinesie 348 Dyslalie 347, 450 Dyslexie 134, 137 Dysphagie 410, 413 Dysphonie 378, 382, 464 Dysprosodie 348 E EBP (evidenzbasierte Praxis) 389, 433, 439, 440 Effektivitätsstudien 450, 461

Sachregister egocentric particulars (ego-zentrische Partikel) 198 eidos 177, 178 Einatmung 282 eingebettete Sprachentwicklungsstörungen 469 Einzigartigkeit 40, 43, 47, 75, 429 EKN1 235 EKP (ereigniskorrelierte elektrische Potenziale) 235, 253, 254 ELAN 518, 519 Elektroaudiometrie 374 Elektrocochleographie 371 Elektroglottographie 385 ELFRA-1 518, 519 ELFRA-2 518, 519 Elternfragebögen 252, 367, 518, 520 Emanzipation 56, 472, 493 embodied concept 196, 199 embodied consciousness 119 embodiment 83, 199, 214, 220, 463, 534, 666, 671 Embryo 128, 130, 135 Embryonalentwicklung 281 Emergent Grammar 207 Emergenzmodell 255, 464 EMG (Elektromyographie) 406 Emoticon 70 Emotionen 104, 109, 112, 127, 213, 215, 223 emotionale Kommunikation 218 emotionale Störungen 133, 143, 655 Emotionalentwicklung 222 Emotionsausdruck 216, 217 Emotionsbeschreibungen 224 Emotionsvokabular 223, 224 emotive Wende 225, 463 empathy 131, 133, 150 empathy disorders 131 Empfänger 70, 86, 89, 165, 168, 173, 221, 291, 660 EMS (emotion motor system; emotional-motorisches System) 469, 663, 670 endokrine Dysfunktion 382 Endolymphe 279, 280 Endoskopie 361, 381 energeia 60 enfants différents 46 Ensemble 70, 208 Entkörperung 190, 199 Entwicklung 19, 87, 91, 109, 142, 230, 287, 322, 653 Entwicklungsdysphasie 249 Entwicklungsdyspraxie 347, 358, 360 entwicklungslogische Didaktik 658 Entwicklungspsychologie 13, 100, 110, 428, 475, 536, 597 Entwicklungsschädigung 85 Entwicklungsstörung 90, 129, 130, 149, 352, 395, 449, 455, 460, 515, 558, 579 Entwicklungsstottern 24



Sachregister   693

entwicklungstheoretische Ansätze 221 Epiglottis 401, 411 Epipharynx 278 Ergebnisqualität 444 ergon 60 Ergotherapie 410 Erkenntnis 29, 31, 62, 187, 204, 209, 221, 296, 590, 597 Ernährung 121, 144, 406, 410, 416, 623 Ersatzstimme 389 Erstleselehrgänge 298 Erstleseunterricht 297 Erstspracherwerb 247, 264, 308, 578, 593 Erwerb 148, 246, 251, 261, 270, 282, 288, 296, 299, 300, 326, 331, 341, 375, 390, 419, 439, 452, 467, 478, 516, 518, 523, 532, 537, 560, 578, 588, 655 Erziehung 24, 28, 90, 147, 431, 471, 492, 493, 547 Erziehungshilfe 654 Erziehungswissenschaft 26, 208, 427, 434, 472, 492, 497, 524, 589 Ethik des Willkommens 41, 42 Ethnolekt 57 Ethnomethodologie 60, 203 Ethos 220 eustachische Röhre 278 Evaluationsforschung 345, 433, 440, 445, 548, 567, 570, 601 Evaluationsstudien 434, 445, 446, 510 Evidenzbasierung (evidence based practice) 445, 453 Evolution 31, 50, 86, 161, 171, 181, 190, 221 Existenz 41, 61, 74, 178, 187, 189, 305, 322, 358, 451, 565, 624 Experiment 70, 94, 96, 107, 211, 436 Expressivität 88, 108, 223, 683 Exsikkose 397 Exspiration 282 eye tracking 254 F F.O.T.T. 407, 412 Fachgeschichte 13 Fachrichtungen 13, 14 Fachsystematik 13, 15, 17 faculté de langage 60 Fähigkeiten 94, 146, 263, 332 Falldarstellung 231 Falsifikation 26, 435 Fasciculus arcuatus [Fa] 232, 234 fast mapping 262 Fazilitation 407, 412 Feedback 141, 145, 169, 459, 465, 633 FEES (Fiberoptic Endoscopic Evaluation of Swallowing) 406 Felszeichnungen 171

fenestra vestibuli 278, 280 Fibellehrgang 583 Fibrosierung 379, 381 Fingeralphabet 306, 312 Fissura Sylvii [Fs] 230, 232 Flaggenalphabet 174 FLB (the faculty of language in the broad sense) 207 FLN (the faculty of language in the narrow sense) 207 Fluency-Shaping-Ansätze 340 FM-Anlagen 366 fMRT (funktionelle Magnetresonanztomografie) 235, 243, 253 Förderbedürfnis 26, 475, 532, 534, 580, 650, 653 Förderdiagnostik 301, 632 Förderschwerpunkt (FS) 493, 529, 639, 646, 653, 658, 673, 680 Förderung 335, 344, 374, 529, 532, 534, 591, 600, 612, 614, 681, 683 form 452, 455 Formalsinn 179 Formalsprache 181, 195, 198, 214 Formanten 285, 286 Forschungsmethoden 94, 246, 252, 435 Fortschrittskultur 40 Fötus 92, 127, 130, 281, 664 FOXP2 235 Fragebogen 252, 386, 436, 518, 641 Fragiles-X-Syndrom 137 FRAKIS 519 Franceschetti-Syndrom 351 Französische Methode 312 Freiburger Sprachverständnistest 371 Fremdspracherwerb 247 Frikative 286, 333, 367 Frontalhirn 233 Frontallappen 230, 236, 238, 243 Frühdiagnostik 515, 518, 520 Frühenglisch 596, 598, 601 Früherkennung 288, 369, 507, 512, 515, 518, 519 Frühförderung 372, 375, 507, 515, 520, 643 Frühgeburt 139, 348, 410 Frühgeschichte 61 Frühindikatoren 517, 520 Frühintervention 507, 511 Funktionale Grammatik 207 funktionelle bildgebende Verfahren (functional brain imaging) 83, 129 Funktionswörter 182, 187, 262, 270 Fürsorge 43, 99, 121, 139, 140, 145, 147, 411 G Gamma-Aminobuttersäure 235 Ganzheitlichkeit 492

694 

Sachregister

gastro-oesophagealer Reflux 387, 410 gate-keeping-Funktion 72 Gaumen 182, 286, 356, 360, 394, 399, 401 Gaumenspalte 351, 362 Gebärden 146, 172, 305, 546, 561, 643, 660, 675, 681 Gebärdenabfolge 311 Gebärdenraum 309, 311, 314 Gebärdensprache 149, 171, 174, 305, 366, 375, 508, 547, 561, 644 Gebärdensprachforschung 308, 315, 375 gebärdensprachliche Grammatik 310 Gebärdensprachlinguistik 315 Gebrauch (use) 198, 453, 455, 460, 467 Geburt 82, 90, 100, 111, 131, 143, 222, 260, 365, 380, 508, 515, 565, 663, 681 Gefühle 82, 86, 94, 100, 109, 126, 133, 134, 140, 149, 214, 216, 224, 340, 618, 684 Gefühls- und Verhaltensstörungen 653, 656 gefühlte Unmittelbarkeit 105 Gegenwart 33, 42, 84, 95, 99, 115, 122, 138, 181, 492 Gehalt 103, 141, 178, 185, 190, 308, 660 Geheimsprachen 65, 174 Gehirn 31, 84, 87, 122, 124, 129, 213, 215, 230, 253, 258, 626 Gehirnstrukturen 215 Gehörgang 278, 366, 371, 374 Gehörgangsatresie 372 Gehörknöchelchen 278, 364, 373 Gehörlose 306, 312, 315 Gehörlosenbildung 312 Gehörlosengemeinschaften 305, 312 Gehörlosenpädagogik 316 Gehörlosigkeit 367, 372, 374, 545 Geist 40, 83, 110, 121, 130, 149, 169, 215 Geisteswissenschaftliche Pädagogik 28, 471 geistige Behinderung 134, 145, 680 Gemeinschaft 40, 46, 51, 74, 85, 89, 96, 105, 109, 131, 142, 150, 209, 211, 577 Gender 68, 188 General-Tau-Theory 624 Generative Grammatik 50, 202, 213, 239 Generative Lingusitik 60, 80, 459, 465 Generative Transformationsgrammatik 460 Gerontolekt 75 Gesang 90, 112, 113, 126, 136 Geschichte (historisch) 19, 45, 60, 63, 66, 161, 182, 190, 202, 214, 248, 290, 427, 556, 565, 570, 647 Geschichte (narrativ) 82, 85, 90, 110, 115, 119, 122, 126, 135, 142, 149, 465, 511, 546, 547, 616, 618 Gesellschaft 39, 46, 53, 61, 67, 74, 77, 80, 115, 129, 147, 173, 315, 321, 332, 473, 559, 603 Gestaltwahrnehmung 213 Gesten 88, 95, 101, 105, 107, 110, 112, 115, 121, 127, 140, 146, 149, 167, 173, 185, 223, 305, 519, 675, 683

Gestik 108, 145, 173, 222, 598, 618, 627, 665, 671, 677, 680 geteilte Aufmerksamkeit 134, 145, 222, 467, 681 Ghetto-Deutsch 75 Globalisierung 13, 56 Glottis 284, 387, 411 Glottoplastik 387 Glutamat 235 Glycin 235 Goldenhar-Syndrom 351 Goldstandard 445, 446 Gott 62 Göttinger Kindersprachverständnistest I-II 371 Grammatik 27, 67, 135, 176, 207, 225, 263, 266, 333, 463, 518, 571, 592, 598 Grammatikerwerb 262, 499 Grammatiktheorien 213 Granulationen 413 Graphem 291, 294, 296, 298 Graphem-Laut-Korrespondenz 294 Griechenland 63, 64, 96 Gütekriterien 19, 27, 435, 517, 564, 571 Gutzmann-Schule 22 Gyrus frontalis inferior [Gfi] 230, 233, 236, 242 Gyrus praecentralis [Gprc] 230, 236, 242 Gyrus temporalis superior [Gts] 230, 232, 236, 241 Gyrus temporalis transversus 232 H Haarzellen 279, 365, 371, 280 Habituationsparadigma 254 Habitus 68, 105, 568, 589, 666 Hammer 278 Handalphabete 175, 312 handlungsorientierter Unterricht 472, 473 Handlungsorientierung 30, 470, 473 Handlungsspiel 205, 209 Hanen-Programm 509 hard-edged concept 193 Hauchspiegelprobe 360 Head-Start-Programm 146 Helicotrema 278, 280 Hemiparese 404 Hermeneutik 28, 29, 429 Herrschaftsinstrument 71 Herzschlagrate 98 Heschl-Querwindung 281 Heterogenität 13, 50, 56, 66, 72, 249, 250, 252, 260, 272, 302, 439, 478, 521 Hexen 65 high amplitude sucking 254 Hinter-dem-Ohr-Geräte (HdO) 372 Hip-Hop-Szene 70 Hirninfarkte 349, 391, 393 Hirnnerv 380, 399, 400



Sachregister   695

Hirnrinde 233, 281 Hirnschädigung 144, 230, 233, 237, 247, 251, 248, 390, 507, 512, 556 Hirnstamm 127, 280, 399, 400 Hirnstammaudiometrie 371 Historizität 63 Hochdeutsch 86, 70 Hochgeschwindigkeitsglottographie 385 Höhlenzeichnungen 291 holistisches Modell 208, 209 Homo sapiens 41, 61 Homo socians 41 Homogenität 50, 52, 55, 67, 69, 79 Homologie 182 Hörbahn 280, 366 Hörbahnreifung 281, 288, 366, 368 Hördiagnostik 367 Hören 113, 119, 144, 146, 149, 277, 375, 601, 612, 628, 639 Hörentwicklung 281 Hörer 50, 104, 169, 202, 218 Hörgeräte 372, 547, 640, 642 Hörgeräteanpassung 372 Hörgeräteversorgung 366, 368, 372, 374 Hörgeschädigtenpädagogik 375, 639 Hörhilfen 365, 370, 372, 640 Hörnerv 280, 365 Hörnervenfasern 280, 365 Hörorgan 277, 281 Hörprüfung 368 Hörschnecke 278 Hörschwelle 369, 370, 372 Hörstörungen 137, 257, 277, 288, 355, 364, 453, 508, 512 Hörtaktik 374 Hörtests 368, 369, 370 Hörunterstützung 372 Hörverlust 368, 374 Hörvermögen 281, 351, 508 Humanismus 39, 163 Hybridmodell 256 Hyperämie 383 Hyperfunktion 382, 388 Hypernasalierung 367 Hypersalivation 410 Hyperventilation 135 Hypofunktion 382, 388 Hypoglossus-Parese 401 I ICD-10 321, 341, 516, 520, 567, 680 ICF 251, 321, 327, 338, 343, 390, 392, 434, 444, 453, 520, 536, 540, 545, 550, 559, 567 ICF-CY 322, 325, 328 ICIDH 323, 326, 328

idealer Sprecher/Hörer 50, 202 Idealisierung 50, 67 Identität 39, 42, 44, 52, 73, 75, 78, 85, 98, 534, 536, 540, 569 Identitäts-De- und Rekonstruktion 74 Identitätsgarant 74 Identitätskonzept 74 Identitätskrise 76 Identitätsmerkmal 57, 76 Identitätsmodell 74 Identitätszerfall 75 Ideographien 172 IGLU 295, 299, 433, 589 Ikon 167, 662, 675 Ikonizität 61, 168, 176, 184, 191, 193, 316 image 180 IMF (Intrinsic Motive Formation, Intrinsische Motiv-Formation) 128, 138, 469, 663, 670, 671 IMF-Systeme 139 Imitation 98, 119, 146, 222, 367, 459, 464, 497, 633, 666, 677, 681 IMP (Intrinsic Motive Pulse, Intrinsischer MotivImpuls) 84, 110, 112, 122 Impedanzmessung 370 improvisation zone 105 Impuls 86, 112, 568, 625 Index 167, 386, 662, 675 indigene Völker 64 Individualismus 40 Individualität 74, 206, 208, 250, 287, 531 Individuum 40, 61, 67, 70, 73, 76, 79, 140, 150, 210, 321, 323, 328, 364, 430, 453, 564, 610, 646 Induktivismus 27 infant-directed speech (IDS) 103, 140 Inferenz 95, 189, 199, 207, 225, 684 Inferenzieller Realismus 188, 189 Informationsverarbeitungstheorie 88, 294 Inhalationsschädigungen 381 Inhaltsdidaktik 475 Inhibition 412 Inklusion 46, 72, 73, 685 Inklusionsprozesse 73 Inklusionsverhältnis 61, 215 innate intersubjectivity 93 innateness 255 Innenohr 278, 370, 372 Innenohrprothesen 365 Innenohrschwerhörigkeiten 365, 369, 642 Input 247, 255, 372, 464, 499, 511, 588 Input-Management 465 Inputspezifizierung 466, 480 Inputverarbeitung 354, 355, 360 Inselrinde 232, 233, 238, 239 Inspiration 282

696 

Sachregister

Institution 72, 78, 443, 451, 523, 567, 568, 573, 647, 653, 675 Instruktion 150, 247, 264, 298, 475, 500, 542 Insula 232 Intake 463, 465, 499 Integration 30, 57, 72, 78, 102, 571, 589, 658 Integrational Linguistics 207 Intelligenz 43, 102, 126, 130, 136, 147, 150, 215, 505, 509, 571, 647 Intensive Interaction 561, 683 Intentionalität 101, 148, 185, 194, 305, 633, 681 Intentionen 83, 86, 91, 98, 102, 107, 110, 127, 134, 148, 221, 500, 537, 559, 680 Interaktion 41, 68, 91, 104, 128, 139, 145, 188, 192, 203, 211, 222, 253, 344, 367, 437, 503, 511, 540, 590, 604, 627, 632, 681, 683 Interaktionistische Spracherwerbsmodelle 222 Interjektionen 224 Interkulturalität 577 Interkulturelle Pädagogik 577, 579 intermodal fluency 149 internal state language 224 International Phonetic Association (IPA) 284 Internationales Phonetisches Alphabet 285 Interpretant 166, 167 intersubjektive Therapien 143, 145 Intersubjektivität 82, 86, 90, 99, 127, 133, 662 Intertextualität 163 Intervention 146, 258, 266, 327, 342, 344, 364, 433, 436, 438, 451, 457, 494, 533, 580, 653 Interview 252, 413, 436, 614, 619 Introjekte 465 Intubationen 381, 557 Intubationsgranulom 381 Intuitive elterliche Didaktik 449, 497, 503 IPA (Internationales Phonetisches Alphabet) IQ-Skala 680 ISAAC (International Society for Augmentative and Alternative Communication) 556, 558, 561 J Jahres-Hörbilanz 368 Jazz-Duett 104 Jazz-Improvisationen 105 Jitter 384, 386 joint attention 222, 263, 453, 456, 467, 672, 681 Jugendsprache 52, 56, 75 K Kachexie 397 Kanak-Sprache 70 Kanal 88, 149, 169, 171, 174, 216, 367 Kangarooing 143, 144 Känguruh-Methode 144 Kapital 68, 69, 666

Kappazismus 353 Karte 168, 231 Kaspar Hauser 65 Kasusmarkierung 262, 266, 499 Kategorisierung 40, 213, 225, 262, 560 Kausalität 32, 498 Kehldeckel 399, 404 Kehlkopf 231, 282, 383, 386, 399, 401 Kehlkopflähmungen 380, 381 Kehlkopfparesen 381 Kehlkopfspiegel 384 Kehlkopfton 284, 285 Kieselsteinmethode 20 Kinder mit Migrationshintergrund 299, 332 Kinderlieder 98, 110, 124 Kinderreime 110 Kindersprache 101, 248, 259, 263, 266, 271, 605 Kind-gerichtetes Sprechen (infant-directed speech) 103, 140 Kind-Umfeld-Analyse 521, 525 Kinesik 173 Klangbilder 232, 285 Klangfarbe 386, 628 Klassifikation 256, 321, 347, 654 Klassifikationssysteme 321, 326 Klatschlieder 110, 111, 114, 117 Kleinhirn 240, 399 Kleinhirnbrückenwinkel 280, 366 Klimakterium 382 Klinische Linguistik 249, 536 KMK 494, 567, 584, 589, 613, 646, 648, 655 Knochenleitungs-Hörgeräte 372 Knochenleitungsschwelle 369 Koartikulation 282, 286 Kode 165, 168, 173, 181 Kognition 63, 94, 139, 165, 209, 213, 249, 288, 461, 463, 466, 515, 532, 605, 609, 613, 630, 640, 643, 655 Kognitionspsychologie 213 Kognitive Grammatik 213 Kognitive Linguistik 60, 63, 80, 183, 187, 189, 196, 215 Kognitive Neurolinguistik 63, 80, 234, 461 Kognitive Neuropsychologie 250, 251, 347 kognitive Prozesse 149, 213, 215, 255 Kognitive Psychologie 213, 294, 461 Kognitive Sprachtheorie 183 Kognitives Modellieren 531, 532, 533 Kommunikation 19, 82, 86, 91, 119, 129, 143, 168, 172, 196, 216, 503, 536, 556, 608, 612, 627, 664, 683 Kommunikationsakte 169 Kommunikationsbehinderung 19 Kommunikationsforschung 172 Kommunikationsfunktionen 220



Sachregister   697

Kommunikationskanal 171, 176, 307 Kommunikationsmodell 27, 220, 466 Kommunikationspartner 29, 74, 84, 95, 99, 139, 169, 210, 222, 292, 466, 624, 632, 685 Kommunikationsstörung 64, 169, 323, 639 Kommunikationstheorie 29, 165 Kommunikationstherapie 29, 531 Kommunikative Kompetenz 50, 51, 84, 204 Kommunikator 168, 169 Komorbidität 257, 419, 421, 653, 655 Kompetenz 202, 460, 467, 585 Kompetenz-in-der-Performanz 206, 210 Komplexität 211, 476, 477 Konnexionen 232 Konnotation 64, 65, 162, 224 Konsonanten 172, 261, 285, 334, 256, 359 Konstituenten 76, 164, 262, 270, 454, 479, 482, 671, 673 Konstruktion 31, 55, 76, 99, 207, 224, 295, 450, 460, 469, 475, 501, 603, 658, 660, 669 Konstruktivismus 30, 33, 94, 475, 500 Konstruktivistische Didaktik 475, 480, 658 Konstruktivistische Pädagogik 475, 480, 658 Kontakt-Varietäten 75 Kontext 453, 497, 578, 607 Kontextoptimierung 438, 466, 478, 481, 499, 501, 530, 533, 592 Kontingenz 45, 92, 503, 682 Kontrastierung 220, 464, 469, 478 Konventionen 55, 68, 70, 88, 110, 148, 161, 164, 203, 208, 310, 500, 558, 666 Konversationsanalyse 60, 100, 203, 205, 253 Konzept 19, 189, 190, 197 Kooperation 85, 90, 99, 102, 115, 133, 136, 139, 150, 338, 374, 444, 470, 521, 583, 631, 633 Kooperative Pädagogik 473, 475 Kooperative Sprachdidaktik 532, 533 Kooperativer Sprachunterricht 30 Kopenhagen-Schule 202 Ko-Präsenz 66 Körper 127 Körperkommunikation 173 Korpuslinguistik 204 Korrelate 133, 164, 167 Korrelationale Soziolinguistik 51 Kortex 121, 128, 135, 215, 232, 238, 242, 400 Kortexareale 231, 234, 235 Kratylos 161 Krise 19, 233, 343, 430, 480 Kritik der Urteilskraft 179, 188 Kritischer Rationalismus 27, 33 Kultur 61, 64, 87, 90, 147 Kulturanthropologie 171 Kulturen 61, 66, 105, 188, 223, 326, 597, 662 Kulturgeschichte 88

Kulturgüter 65 Kulturhistorisch-tätigkeitstheoretische Pädagogik 472 Kultursemiotik 161 Kulturtechniken 90 Kulturtheorie 53 Kulturvölker 64 Künstliche Intelligenz-Forschung 234 Kunstunterricht 608, 612, 614, 616, 620 L L1 225, 588, 590, 593 L2 225, 588, 590, 593 L2 detachment effect 225 labyrinthus cochlearis 278 Lähmungen 361, 362, 380, 381, 384 Lakoff-Schule 177, 183, 197 Lallen 20, 288, 507 Lallperiode 281, 287, 288 lamina basilaris 278, 279, 280 Langue des Signes Française 305 langue 49, 51, 60, 202, 204, 305, 455, 459 Largo 110, 122 Laryngektomie 387, 388, 413, 414 Laryngopathia gravidarum 380 Laryngoskop 384, 386 Laryngoskopie 384, 385, 386 Larynx 222, 282, 399, 401, 406, 411, 413 Larynxfrakturen 381 Läsionen 233, 242, 249, 253, 254, 269, 348, 381, 384 late talker 265, 517, 519, 521, 561 Laterale 286, 361 Lateralisierung 128 Lautanalyse 296, 299, 300, 376 Lautanbahnung 351, 357 Lautbildung 281, 284, 287, 356, 359, 560 Lautdiskrimination 366 Laute 44, 49, 51, 65, 93, 103, 267, 281, 284, 291, 296, 307, 333, 353, 362, 683 Lautentwicklung 287, 517 Lauterwerb 287 Lautgebärden 297 Lautgebärdenmethode 297 Lautgesetze 49 Lautinventar 281, 284, 287 Lautoppositionen 287 Lautsprache 25, 65, 171, 231, 307, 316, 343, 367, 375, 391, 508, 538, 545, 556, 559, 644 Lautstärke 359, 370, 371, 384 Lautsymbolik 168 Lautsystem 287, 333, 364 Lautveränderungen 49, 341, 359 Lautwahrnehmung 260, 284 LBG (Lautsprachbegleitendes Gebärden) 306, 375, 561

698 

Sachregister

leaking 400, 402 Lebensbedeutsamkeit 26, 28, 584 Lebensspanne 7, 246, 251, 479, 540, 565 Lebenswelt 7, 28, 30, 430, 453, 494, 524, 577, 579, 603 Lebenswirklichkeit 6, 28, 429, 472, 524, 554, 568, 603, 614 leere Signifikanten 180 Lehren 61, 433, 470, 497, 529, 534, 589, 684 Leitlinien 211, 410, 416, 440, 444, 445, 531, 533, 570 Lernbeeinträchtigungen 647, 648, 651, 683 Lernmodelle 498, 500 Lernervarietäten 75, 78 Lernverläufe 302 Lernzielorientierte Didaktik 472 Lernzielüberprüfbarkeit 472 Lesebegriff 297 Leseförderung 299, 422 Leseforschung 293, 294, 296 Lesekompetenz 295, 297, 299, 422, 509, 512, 582, 607 Lesekultur 173, 297, 299 Leselehrverfahren 297, 298 Leseleistung 295 Lesemotivation 299, 604, 607 Lesen durch Schreiben 297, 298, 582, 591 Lesen 242, 243, 290, 419, 420, 582, 587, 592, 600, 601, 673 Leseprozesse 294, 295 Lesestörung 419, 420, 421 Lesestrategien 296, 298, 299 Lesetechnik 297, 298 Lexikon- und Semantikerwerb 261 ligamentum vocale 289 limbisches System 215 lingua 284 Lingua Brasileira de Sinais 305 linguistic identity 74, 77 Linguistik 27, 51, 100, 170, 181, 182, 183, 187, 189, 193, 202, 208, 209, 213, 225, 293, 450, 452, 453, 454, 460, 463, 534, 589 linguistische Ebenen 455, 534, 620 Linguistischer Strukturalismus 213 lingWAVES 383 linke Hirnhemisphäre 230 Lippen 101, 122, 124, 127, 231, 284, 394, 399 Lippen-, Kiefer, Gaumenspalten (LKGS) 350, 351, 352, 353, 361, 362, 394, 395, 397 Lippenlesen 313 Literacy 297, 299 lobi pulmonales 282 lobus frontalis 230 lobus occipitalis 230 lobus parietalis 230 lobus temporalis 230 Logik 45, 63, 66, 171, 179, 197, 338, 343, 428 Logogramme 291, 292

Logopädie 27, 375, 456, 536, 547, 561, 562, 571, 572, 573 logos 62, 66, 67, 214, 218, 220 Lokalisation 230, 231, 233, 234, 242, 253, 264, 348, 350, 364, 368, 393, 664 Lokalisationsansatz 231, 233 Lokalisationsdebatte 234 Lokalisationstheorie 233 LRS (Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten) 235, 242, 419, 420, 421, 422, 569, 647, 649 Luftleitungs-Hörgeräte 372 Luftleitungsschwelle 369 Luftröhre 282, 399, 404, 413 Lunge 282, 399, 414 Lungenlappen 282 Lungenvolumen 282 M magische Sprachkräfte 65 magischer Zeichengebrauch 62 Mainzer Kindersprachtest I-III 371 malleus 278 malnutration 397 mandibula 284 Manipulatoren 309 Manualzeichen 307, 309 Mapping 189, 199 Mapping-Prozesse 182, 197 Marginalisierung 52, 56, 69, 71, 78 Markt 68, 71, 78 Marokkaner-Niederländisch 57 Massenmedien 73, 509, 543, 544, 547 Materialien 124, 184, 288, 455, 480, 542, 544, 546, 547, 548, 561, 579, 583, 584, 586, 610, 618, 619 maximaler Kontrast 287 meaning attunement 222 meatus acusticus externus 278 meatus acusticus internus 280, 366, 374 Medien 57, 69, 88, 124, 161, 480, 531, 542, 544, 545, 560, 587, 675 Medienbildung 543 Mediendidaktik 544 Medienerziehung 544, 547 Mediensemiotik 161 Medienwissenschaft 542 Medizin 5, 20, 21, 69, 249, 416, 427, 442, 445, 450, 536, 564, 567, 572 MEG (Magnetenzephalografie) 235, 253 mehrsprachiger Spracherwerb 264 Mehrsprachigkeit 225, 264, 272, 342, 577, 578, 579, 593, 594, 597 membrana tectoria 279, 280 membrana tympanica 278 Menschen 91, 129, 570, 624 Menschenaffen 127



Sachregister   699

Menschenbilder 80 Menschwerdung 61, 64 Mentalismus 187 Merkmal 70, 71, 72, 166, 185, 187, 203, 322, 419, 439, 554, 564 Merkspanne 366, 368 Meta-Analyse 656 metakognitive Prozesse und Strategien 295 metakognitives Wissen 296 metalinguistische Konzeptualisierungen 54 Metapher 65, 167, 168, 177, 192, 193, 213, 235, 463, 479, 537 Metaphon-Ansatz 469 metaphonologische Fähigkeiten 27 Metaphysik 188 Metasprache 68, 366, 499 Metasprach-Methode 469, 478 Metazeichen 171 Methoden 253, 254, 435, 438 Methodenkompetenz 480, 482, 483 Metonymie 235, 463 micro-switch technology 681, 684 Migrationserfahrungen 106 Migrationshintergrund 19, 69, 72, 78, 299, 332, 569, 589, 590, 591, 640, 649, 654 Mikroanalyse 104, 112, 428 Mikrolaryngoskopie 386 Mimesis 82, 89, 663 mimetische Kapazität 222 mimetische Rituale 87, 89 mimetischer Akt 82 Mimik 88, 108, 173, 216, 222, 314, 598, 618, 665, 671, 677, 680 Minimalpaare 469 mirror of mind 63, 214 mirroring 129, 632, 673 Missbrauch 142 Misshandlung 142, 143, 504 Mitempfinden (sympathising) 84, 87, 88, 89, 91, 92, 103, 109, 112, 129, 133, 142, 148, 149, 150, 675, 682 Mittelalter 20, 21, 61, 174, 291 Mittelohr 367, 370, 373, 508 Mittelohrsanierung 372 Mixed Game Model 208 MLU (mean length of utterance) 248, 263, 271 Modalitätenwechsel 466 Modellieren 452, 459, 465, 478, 632, 633 Moderato 124 Moderne 41, 73, 74 Monolog 221 moral emotions 84 Morbus Parkinson 402 Morgenstern 179, 195, 197 Morpheme 172, 243, 311, 367, 454, 455, 501 Morsealphabet 175

Motherese 75, 103, 104, 128, 503 Mothering 141, 144 Motivation 88, 96, 112, 128, 135, 137, 141, 145, 146, 147, 148, 149, 301, 342, 343, 381, 436, 498, 505, 538, 588, 592, 684, 686 Motivbildung 131, 141 Motive 133, 150 Motiviertheit 30, 455 Motorik 86, 135, 288, 297, 452, 532, 609, 612, 613, 614, 630, 656, 680, 682 motorische Aphasie 232 motorische Areale 231, 240 motorische Stereotypien 135 motorisches Sprachzentrum 231 Mowgli 65 MRT (Magnetresonanztomografie) 253, 349, 371 Multiple Sklerose 366 Mundbilder 176, 313, 365, 366 Mundhöhle 282, 401, 404, 411, 413 Mundrachen 284 musculus vocalis 380 Musical Semantics 89 Musikalität 84, 89, 92, 93, 110, 115, 119, 145, 148 Musiktheater 650, 651 Musiktherapie 88, 136, 145, 146, 623, 627 mutatio incompleta 381 mutatio perversa 382 mutatio praecox 381 Mutation 235, 381, 382 Mutationsfistelstimme 381 Mutismus 338, 342, 343, 344, 345, 464, 546 Mütter 103, 106, 109, 110, 113, 132, 134, 140, 141, 145, 520, 642 mutual representation 456 Myelinisierung 281 myofunktionelle Störung 357 myofunktionelle Therapie 395 N Nachricht 167, 168, 169, 173, 174, 220 Nachrichtentheoretisches Modell 170 Nachrichtenübermittlung 169, 175 Narrative 89, 99, 109, 110, 116, 456, 457, 470, 659, 664, 672, 673 Narzissmus 44 Nase 97, 224, 282, 360, 361, 394, 399, 401, 406, 626 Näseln 347, 359, 360, 361, 362, 395 Nasennebenhöhlen 282 Nasenrachen 278, 284, 286 Nasometer 361 Nasopharynx 284, 360, 362 natürliche Sprache 178, 181, 182, 183, 186, 193, 196, 197, 198, 497 Naturreligionen 62 Naturvölker 64

700 

Sachregister

Negation 40, 263 Neglect 213, 404 Neokortex 215 Neologismen 188, 267 nervi cochleares 280 nervus acusticus 25 nervus laryngeus inferior 380 nervus laryngeus superior 380 nervus vagus 380 nervus vestibulocochlearis 232, 280, 366, 373, 374 Netzwerke der Sprachprozessierung 235, 237, 239, 241 Netzwerkmodelle 234, 238 Neudefinition 189, 190, 191, 192, 193, 195 Neugeborene 91, 94, 95, 96, 97, 98, 100, 103, 281, 368, 664, 671 Neuroarchitektur der Sprache 235 Neurodidaktik 497, 534 neurogene Sprachstörungen 230, 231 neuroimaging 213 Neurolinguistik 14, 63, 69, 80 Neuropsychologie 69, 410, 497, 659 Neurosoziologie 659 Neurotransmitter 140, 235 Neurowissenschaften 5, 13, 177, 345, 461, 463, 536 Neurowissenschaftliche Forschung 181 NIRS (Nahinfrarotspektroskopie) 253, 254 Noemata 178 Noeses 178 Non-Avoidance-Ansätze 340 Noradrenalin 235 noradrenerge Aktivität (NA) 128 Norm 49, 69, 70, 71, 72, 251, 259, 288, 321, 383, 516, 518, 523 Normabweichung 69 Normakusis 369 Normalität 41, 44, 68, 150 Normativität 50, 52, 53, 67 Normen, sprachliche 67, 68, 69, 70, 666 Normenmonopol 71 Normenpluralismus 72 Normenreflexion 73 Normkonstituierung 72 Normstabilisierung 72 Notched Noise BERA 371 Noxen 384 nucleus olivaris superior 281 nuclei cochlearis 280 O OAE (Otoakustische Emissionen) 365, 368, 371, 508 oberer Olivenkern 281 Oberflächenerscheinungen 50 Objektivismus 32, 33, 177 Objektivität 146, 179, 435

Objektpermanenz 140 Ödeme 387 Ösophagus 387, 389, 401, 404, 414, 415 Off-Label-Use 387 Ohr 277, 361, 366, 369, 370, 372, 373, 375 Ohrmuschel 277 Ohrtrompete 278 Ökonomisierung 13, 181, 186, 357, 394 Okzipitallappen 236 OLKI (Oldenburger Kinderreimtest) 371 onomatopoeia 190 ontisch-ontologischer Unterschied 194 Ontogenese 161, 222, 290, 430 Operationalisierung 26, 28, 328, 472 Options-Methode 147 Ordinary Language Philosophy 203 Ordnung 42, 46, 65, 66, 211, 323, 599 Organiker 23, 471 organum spirale 279 orofaziale Dysfunktionen 394, 395 orofaziale Regulationstherapie 349 Oropharynx 284 Orthographie 296, 312 orthographische Prinzipien 296 orthographische Strategie 297 os hyoideum 401 Ösophagussphinkter (ÖOS) 401, 402, 405, 410, 412 Ösophagusstimme 389 ossicula auditoria 278 Ostension 186 Otosklerose 365 Outputgenerierung 354, 355, 360 ovales Fenster 278, 370 P Pädagogik 442, 471, 544, 658 Pädagogische Psychologie 434 Pädaudiologie 13 Palatolalien 394, 395 palatum durum 286 palatum molle 284 Palpation 351 Pansemiotismus 61, 64 Pantomime 315, 547 Paradigma 22, 23, 26, 28, 29, 196 Paradigmenwechsel 19, 24, 26, 27, 33, 451, 459, 463, 644, 648 Paraphasien 238, 267 Parasigmatismus 354 Parasprache 173 Parietallappen 236, 238, 242 parole 49, 60, 63, 202, 209, 455, 459, 460 Pars opercularis [Po] 230, 233, 236, 237, 238, 239, 241 Pars triangularis [Ptri] 230, 233, 236, 237, 241 Partizipation 67, 338, 344



Sachregister   701

Patchwork-Identitäten 74 Patholinguistik 69, 249, 450, 536 Patholinguistische Therapie 466 Pathologie 40, 42, 134, 398, 401, 427 Pathos 218, 220 pattern drill 452, 459 Paukenhöhle 278, 350 PECS (Picture Exchange Communication System) 561, 684 PEG (Perkutane Endoskopische Gastrostomie) 406, 410 Peircesche Semiotik 178 Penetration 401, 402, 405, 414 Perfektion 40, 45 Performanz 60, 202, 205, 206, 207, 209, 210, 459, 460 Performanzmodell 203, 205, 211 Perilymphe 278, 279 Periode 19, 20, 21, 22, 23, 52, 122, 124, 129, 181 Periods of Rapid Change (PRC) 93 peripher bedingte Sprechstörungen 348, 350 Person und Sprache 60 personale Veränderungen 61, 66, 72 Personorientierung 492 person-person-games 113 person-person-object-games 113 Personwerdung 73 Perspektive 53, 524, 660, 662 perzeptuelle Basis 181 perzeptuelle Kommunikation 181 PET (Positronen-Emissions-Tomographie) 235, 253 Petroglyphen 171 Pfaundler-Syndrom 351 Pfeifsprachen 174 Pflegefamilie 143 Phänomenologie 31, 178, 189, 249, 256 phänomenologische Analyse 182 Phantasma 44 Pharynx 282, 399, 400, 402, 404, 411, 414 Philosophie 39, 53, 83, 197, 208, 214 ph-Metrie 406 Phonation 21, 24, 282, 283, 285, 286, 348, 349, 350, 359, 361, 378, 380, 382, 385, 388, 389, 414 Phonationsatmung 283 Phonationsverdickungen 378, 383 Phonationszeit 384 Phonem 264, 298, 454, 455, 459 Phonemanalyse 296, 300 Phonembestimmtes Manualsystem (PMS) 365, 547, 598 Phonembewusstsein 296 Phonem-Graphem-Korrespondenz 296, 591 Phonerwerb 288 Phonetik 21, 246, 266, 282, 284, 376, 458, 524, 604 phonetisch-alphabetische Strategie 297 phonetische Grundlagen 284

phonetische Sprachtherapie 22 phonetische Störungen 333, 347, 354, 360 Phoniatrie 13, 69, 450, 458, 470, 471, 639 Phoninventar 286 Phonochirurgie 387 Phonogramm 293 Phonologie 27, 63, 213, 246, 250, 251, 254, 266, 268, 270, 271, 282, 284, 376, 391, 460, 604 phonologisch orientierte Therapie 376 phonologische Bewusstheit 264, 296, 300, 376, 420, 421 phonologische Entwicklung 260, 360, 376 phonologische Fähigkeiten 300 phonologische Kodierung 294 phonologische Prozessanalyse 356, 357 phonologische Störungen 266, 267, 268, 347, 358, 359, 360, 460 phonologisches Training 300 Phonotaktik 286 Phrase 92, 111, 122, 136, 182, 260, 263, 291, 625 Phraseogramm 291 Phylogenese 161, 221, 290 Physiotherapie 410 Pierre-Robin-Syndrom 351 Piktographie 171 PISA 13, 295, 299, 433, 512, 589 PLAKSS 356, 357, 358, 359 Planungs- und Reflexionsmodell 476, 479 plicae vocalis 284, 289 Plosive 286, 367 PMLD (Profound and Multiple Learning Difficul­ ties) 680 PNF (Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation) 407 Polen-Englisch 57 Poltern 338, 341 Polypen 379 Polyphonie 46 Portage 146 porus acusticus internus 280 Positivismus 63, 198 posterior 231, 232, 380 Postmoderne 13, 53, 54, 55, 70, 73, 74, 75, 178, 475 Poststrukturalismus 162, 178 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) 142, 143, 671 präfrontaler Kortex 215 Prager Schule 202 Prager Strukturalisten 293 pragmatic language impairment 266 Pragmatik 183, 266 Praktiken 30, 41, 55, 106, 452 Praktische Vernunft 206 Präpositionen 187 Präsuppositionen 177, 197

702 

Sachregister

Prävalenz 133, 134, 327, 347, 365, 368, 505, 654 Prävention 507, 508, 509, 655 Praxie 288, 289, 350, 358 preferential head turn 254 preferential looking 254 Presbyphagie 412 Presbyphonie 382 Prespeech 101 Prestige 50, 51, 52, 220, 291 Presto 124 Primäre Intersubjektivität 222, 664 Primaten 127 Priming-Effekte 267 Principia Mathematica 88 Prinzip der doppelten Gliederung 172 Produktion 47, 69, 71, 73, 89, 104, 171, 196, 216, 247, 260, 267, 268, 291, 307, 308, 360, 391, 458, 627, 673 Professionalisierung 15, 20, 30, 427, 428, 429, 430, 431, 432, 434, 435, 477, 478, 559, 655, 685 Professionalität 427, 428, 430, 431, 437, 449, 545, 559 Professionstheorie 431 Profilanalyse 30 Proposition 177, 197, 269 propositional attitude 197 propositionale Akte 179, 531 propositionale Inhalte 221 Prosodie 89, 102, 103, 104, 128, 135, 146, 359, 393, 547, 560 Prosopagnosie 216 Prothesen 149, 389, 412 Proto-Dialog 222 Proto-Grammatik 89, 222, 677 Proto-Habitus 104, 105, 106, 666, 671 Proto-Konversation 89, 112, 219, 222, 671, 677 Proto-Sprache 222, 663 Proto-Symbole 223, 677 Proto-Syntax 182 Provozieren 98 Proxemik 173 Prozessqualität 444 psychiatrische Patienten 145 Psychiker 23, 465 psychische Zeit 625 Psychoanalyse 162, 220 Psychoanalytische Sprachtheorie 220 psychoanalytischer Ansatz 178 Psychobiologie 86, 88, 94, 119 Psycholinguistik 27, 234, 249, 434 psycholinguistische Theorien 287 Psychologie 27, 94, 112, 213, 225, 443, 524, 536 Psychomotorik 17, 137, 145, 461, 613, 628, 630, 631, 632, 634, 636 psychomotorische Sprachförderung 534, 604 Psychoneurose 24, 464

psychoreaktive Redestörungen 15, 22, 77, 338, 340, 342, 344, 345, 346, 390, 397 Psychostimulantien 137 PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) 142, 143, 671 pull-out-Modelle 451 pulmo 282 Pulsoximetrie 404, 415 Q Q7 443 Qualia 119 Qualitätsbegriffe 442 Qualitätsentwicklung 442 Qualitätsmanagement 442, 443, 548, 550, 554, 569, 570 Qualitätsmodelle 442 Qualitätssicherung 345, 368, 392, 433, 442, 554, 559 Quanta 185, 198 R Rachen 44, 282, 399, 406 Rap-Texte 71 Rationalismus 63, 214, 471 reading literacy 299 Realismus 188, 189, 195 Recurrensparese 413 Redekreislauf 168, 169 Referenz 82, 84, 124, 184, 186, 187, 189, 193, 195, 197, 198, 261, 660, 662, 681, 683, 684 Referenzobjekt 62, 63, 164, 165, 176, 455, 456, 660, 664, 666, 675 Reflexion 427, 478, 480, 482 Reflexionsebenen 15, 80 Reflux 410 Register 44, 73, 75, 78, 104 Regressionshypothese 246, 251, 259, 270, 271 Regulation 92, 475, 662, 665 Rehabilitation 328, 388, 472, 507, 537, 544, 556 Reissner-Membran 278 Re-Konstruktion 54 Rekurrens 380 Rekurrensparese 380, 388 relationale Affekte 102, 669 Relationale Didaktik 478, 480, 532, 533, 534, 658, 673, 675, 676 relationale Emotionen 148, 456, 469, 663, 670, 671 Relationale Kommunikations- und Sprachtheorie 658, 660, 661, 662 Relationale Sprachdidaktik 470 relationale Theorie 469, 478 Relationaler Anderer 670, 676 Relationaler Entwicklungsraum 666, 667, 668, 671 relationales Wortinventar 518 Relationalität 80, 658, 659, 669



Sachregister   703

Relationen 60, 61, 69, 70, 79, 87, 119, 148, 150, 162, 167, 177, 179, 186, 196, 197, 198, 223 Relativitätstheorie 215 Reliabilität 435, 436, 446, 517 reliance 41, 46, 47 Religion 46, 68, 564 Renaissance 20, 233 Reorganisation 258, 259, 269, 270, 464, 467, 469, 480 Repräsentationssysteme 291 res cogitans 63 res extensa 63 Resektion 387, 388 Residuen 402 404 Resilienz 142 Resilienzforschung 654 Respiration 21, 24, 121, 282, 284, 361, 378, 380 Respirationstrakt 282 Response 465, 625, 682 Responsivität 141, 681, 682, 684 Rett-Syndrom 134, 135, 137, 145, 149, 453, 671 Revision 183, 190, 322, 323 Revolution 19, 21, 26, 41, 46, 55, 291, 292, 452 Revolution der poetischen Sprache 220 rezidivierende Paukenergüsse 367 Rezipient 168, 169, 284, 312 Rhetorik 210, 218 Rhinolalia aperta 359 Rhinolalia clausa 359 Rhinolalien 394, 395 Rhinomanometrie 361 Rhinopathia gravidarum 380 Rhinophonia 359 Rhinophonie 347, 359, 361 Rhinoskopie 360 Rhythmus 26, 45, 84, 86, 92, 93, 103, 106, 109, 135, 146, 173, 623, 624, 625, 626, 627, 628, 681, 683 Richtungshören 366, 372 Rindengebiete 232, 235 Riten 218 Rituale 62, 87 Romantik 55, 214 ROBOI1 235 ROSS (read-only sign systems, lese-spezifische Zeichensysteme) 185, 198 Routinen 53, 54, 57, 58, 102, 121, 238, 242 Rückkopplungskreise 169 Ructusstimme 389 RWI 518, 519 S Sachkompetenz 482, 483 Sachorientierung 481, 658 Sachunterricht 603, 604, 606, 607 safe place 343, 465 Sagittalschnitt 285, 286

Sanskrit-Grammatik 67 Sapir-Whorf-Hypothese 214, 223, 225 Säuberung 55, 56 Säuglingsforschung 146, 148 Säuglingsmassage 145 scaffolding 117, 467, 537, 538, 539, 540, 628, 633 scala tympani 278 scala vestibuli 278 Schachspiel 208 Schädel-Hirn-Traumata 391, 393 Schalldruckpegel 364, 370 Schallempfindungsschwerhörigkeit (SES) 364, 365, 366, 369 Schallleitungsschwerhörigkeit (SLS) 350, 364, 366, 369, 508 Schallwellen 169, 278, 279, 280, 364 Scham 84, 85, 94, 112, 142, 148, 340, 344 Schamanenpriester 65 Schatten 66, 220 Schein 40, 44, 45 Schema 25, 184, 196, 198, 232, 233 Schematisierung 185, 186, 190, 192, 193, 197, 198 Schildknorpel 382, 402 Schizophrenie 134, 139, 145 Schlaflieder 110, 111 Schlaganfall 258, 260, 269, 270, 397, 399, 557, 558 Schluckakt 397, 398, 399, 401, 402, 404, 405, 410, 411, 412 Schluck-Apnoe 401 Schluckstörungen 69, 77, 257, 281, 323, 327, 328, 329, 349, 355, 381, 387, 389, 395, 397, 398, 399, 400, 406, 410, 412, 415, 416, 557, 558 Schlucktherapie 407, 408 Schluckzentren 399 Schneckengang 278 Schrift 171, 172, 176, 290, 291, 292, 293, 296, 297, 298, 300, 301, 332, 336, 545, 583, 584, 586, 590, 599, 617, 618, 619, 620, 644 Schrifterfahrungen 290 Schriftkultur 173, 292, 297, 298, 299, 300 Schriftsprache 171, 173, 174, 175, 240, 258, 264, 266, 292, 297, 300, 334, 336, 454, 499, 542, 582, 583, 584, 591, 614, 660, 662 Schriftspracherwerb 13, 264, 296, 297, 298, 299, 300, 301, 302, 336, 368, 434, 507, 546, 547, 582, 583, 584, 585, 586, 590, 591, 649 Schriftspracherwerbsprobleme 301 Schriftsysteme 172, 290, 296, 591 Schule 32, 51, 73, 77, 290, 301, 336, 341, 366, 372, 419, 445, 449, 451, 470, 473, 529, 533, 565, 569, 582, 589, 591, 607, 639, 641, 646, 647, 648, 649, 651, 653, 656 Schüler 26, 32, 72, 91, 434, 437, 439, 444, 475, 532, 568, 582, 584, 586, 591, 597, 603, 606, 610, 633, 641, 647, 651, 654, 685 Schullaufbahnplanung 71

704 

Sachregister

Schwangerschaftswoche (SSW) 281 Schweizer Heilpädagogik 471 Schwelle, semiotische 61, 62 Schwerhörigkeit 366, 367, 372, 376, 508, 545 Schwerstmehrfachbehinderung (SMB) 454, 457, 608, 681, 682, 683, 684, 685, 686 Schwingungsablauf 284, 385 Sedativa 402 Sedlackova-Syndrom 351 SEE (Signing Exact English) 306 Segmentierung 294, 296 Sehen 113, 119, 305, 399, 612 Sein 39, 43, 44 Sekundäre Intersubjektivität 102, 676 Selbst 44, 61, 73, 75, 76, 77, 80, 85, 86, 87, 91, 96, 98, 100, 109, 115, 127, 132, 138, 139, 149, 532, 664, 669, 671 Selbstbewertung 85, 386 Selbsthilfe, -potenzial 345, 551 Selbstorganisation 556 Selektion 72 semantic drift 179 Semantik 30, 63, 179, 183, 213, 246, 250, 255, 264, 268, 269, 270, 271, 282, 336, 376, 391, 460, 463, 592, 604, 616 Semantiktradition 63, 179 semantische Dekodierung 294 semantische Verschiebung 183, 188 Semiologie 162, 163, 165 Semiose 86, 161, 167, 168, 170, 171, 185, 188, 191, 192, 198 Semiosphäre 61, 67, 70, 666 Semiotik 161-171, 450, 454, 534 Semiotische, das 220 Semiotizität 173 Sender 89, 165, 168, 169, 170, 171, 173, 221, 660 sensible Phasen 281, 512 Serotonin 235 SETK-2 518, 519 SETK-3-5 518 SGB IX 515 shared intentionality 222 showing off 115, 663 Shunt-Prothese (Provox) 389 Shunt-Ventil 414 Sigmatismus 333, 354, 357, 458 Signal 107, 121, 127, 168, 169, 170, 221, 222, 280, 366, 370, 503, 506, 508, 633 Signalisierung 52, 96, 221 Signifikant (signifiant, das Bezeichnende) 63, 165, 166, 180, 183, 184, 185, 186, 187, 188, 190, 193, 199, 454, 455, 458, 459 Signifikant-Signifikat-Relation 183 Signifikat (signifié, das Bezeichnete) 63, 165, 166, 180, 183, 184, 186, 187, 188, 190, 192, 193, 196, 454, 455, 459, 464

Signifikation 168, 169, 170, 179, 181, 183, 186, 192, 197, 667, 669 signum 185, 198 Silbenschriften 172 Sing- und Sprechstimmfeld 383 Sinn 28, 40, 41, 46, 83, 89, 91, 179, 456, 532, 634 Sinnentnahme 295, 297, 298, 664 sinus paranasales 282 Situationsansatz 29 Slang 75 SLI (Specific Language Impairment) 235, 249, 453, 461 SLP (Speech-Language-Pathology) 329, 451 small Broca’s aphasia 233 soft rationality 206 soft-core concept 193, 194 soft-edged concept 193, 194 Solidarität 5, 42, 43, 44 Solipsismus 71 Sonden 410 Sonderpädagogik 13, 85, 130, 150, 589 Sonderpädagogischer Förderbedarf 19, 608, 609, 646, 655 soziale Lage 648 Sozialfunktionalismus 52, 70 Sozialkonstruktivismus 53, 475 Soziolekt 75 Soziolinguistik 50, 51, 60, 67, 70, 80, 205, 207, 467 Soziologie 53, 204, 589, 659 Soziosemiotik 67, 70 SPECT (Single Photon Emission Computed Tomo­ graphy) 253 Speech-Language Pathologist 439, 440, 451 Speicherstörung 267 Speiseröhre 389, 399, 401, 402, 404, 414 Spektrogramm 93, 219 Spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES) 257, 265, 336, 461, 478, 512, 516, 519, 520, 578, 639 Spiegel der Kognition 214 Spiegelmechanismen 214, 221, 222 Spiegeln (mirroring) 112, 129, 147, 469, 539, 632, 663, 670, 673, 676 Spiegelneuronen 214, 221, 469, 660 Spiegelsysteme 221, 222, 469 Spiegelung 182, 222, 469, 663, 670, 676, 677 Spiel 95, 105, 109, 113, 136, 141, 146, 149, 510, 538, 546, 614, 630 Spielaudiometrie 369 Spindelzellen 215 Spirometrie 384 Spontansprachanalysen 253, 357 Spontansprachdiagnostik 30 Sprachabbau 246, 247, 249, 258, 260, 267, 270, 271, 272 Sprachaneignung 466



Sachregister   705

sprachaudiometrische Tests 370 Sprachauffassung 25, 26, 28 Sprachbanane 364, 365 Sprachbarrieren 174 Sprachbeeinträchtigung 19, 492, 606, 613 Sprachbegriff 202-207, 560, 561, 578 Sprachbehindertenpädagogik 13, 29, 69, 443, 454, 461, 470, 471, 472, 492, 571, 572, 573, 593, 658 Sprachbehinderung 19, 430, 450, 531, 565, 568 Sprachbesitz 61, 62, 64, 65, 66 Sprachbewusstheit 296, 584 Sprachbewusstsein 300 Sprach-Bilder 80 Sprachdiagnostik 72, 525 Sprachdidaktik 13, 15, 225, 449, 450, 453, 463, 470, 476, 480, 483, 591 Sprachdidaktiktheorie 449, 451, 457, 464, 470, 476, 483 Sprachdirektionalität 185 Sprache innerhalb der Sprache 89 Sprache 19, 28, 29, 30, 49, 53, 60, 82, 171, 177, 179, 189, 202, 321, 452, 463, 611 Sprachebenen 63, 331, 332, 335 Sprachentwicklung 141, 221, 222, 247, 256, 261, 265, 301, 331, 335, 339, 366, 367, 464, 469, 508, 516, 517, 519, 539, 578, 604, 641, 664 Sprachentwicklungspsychologie 27 Sprachentwicklungsstörungen 247, 249, 251, 256, 257, 263, 264, 301, 356, 366, 438, 455, 461, 465, 507, 578, 640 Sprachentwicklungstheorien 222 Sprachentwicklungsverzögerung 249, 452, 512, 521 Spracherfahrungsansatz 297, 298, 582, 583 Spracherwerb 133, 246, 247, 249, 254, 255, 256, 257, 260, 264, 265, 270, 271, 272, 331, 465, 466, 497, 518 Spracherwerbsmodelle 222, 465, 466, 472, 473, 475 Spracherwerbsstörungen 247, 249, 256, 272, 467, 508 Sprachfähigkeit 60, 235, 246, 247, 248, 249, 252, 420 Sprachförderung 71, 72, 375, 494, 511, 512, 525, 526, 530, 533, 560, 561, 590, 596, 603, 607, 608, 630, 644, 646 Sprachgebrauch 49-57, 62, 68, 183, 188, 189, 192, 193, 198, 203, 204, 207, 209, 210, 211, 467, 500, 524, 577, 608, 647 Sprachgemeinschaft 50, 51, 52, 67, 161, 183, 184, 186, 187, 188, 198 Sprachhandlung 29, 467, 537, 668 Sprach-Handlungs-Spielräume 29, 461, 494 Sprachheilklassen 21, 471 Sprachheilkurse 21, 471 Sprachheilpädagogik 19, 20, 21, 22, 26, 27, 249, 427, 433, 437, 536, 547, 551, 554, 609 Sprachheilschule 437, 450, 471, 478, 567 Sprachkodes 174, 175, 206, 660

Sprachkontaktsituation 57 Sprachlaut 192, 286, 296, 307, 313, 333, 357, 360, 374, 376 Sprachlauterwerb 287 sprachliches Handeln 30, 68, 203, 429, 455 Sprachlichkeit 28, 29, 70, 471, 472, 483 Sprachmagie 218 Sprachmangel 64, 65 Sprachmischung 264, 331 Sprachnaturalismus 177 Sprachpädagogik 186, 427, 428, 429, 431, 475, 476, 477 Sprachphilosophie 60, 63, 177, 182, 188, 189, 193, 197, 198 Sprachpolitik 55 Sprachproduktion 231, 238, 248, 249, 261, 270, 335, 420, 507, 516, 519 Sprachpsychologie 60 Sprachraum 13, 67, 70, 72, 73, 75, 306, 359, 375, 461 Sprachrehabilitation 30 Sprachsoziologie 50, 67 Sprachspiele 198, 334, 591 Sprachstandsfeststellung 67, 71, 589 Sprachstörungen 20, 66, 233, 246, 249, 250, 256, 258, 269, 272, 331, 342, 391, 420, 457, 460, 646, 471, 552, 569, 614 Sprachsubstitute 173, 174, 175 Sprachsystem 49, 51, 71, 72, 202, 206, 213, 251, 258, 267, 293, 305, 392, 459, 460, 461, 508, 600 sprachsystematische Ebenen 359, 376 Sprachtabus 174 Sprachtheorie 177, 178, 183, 316, 475, 534, 658, 660, 661, 662 Sprachtherapeutischer Unterricht 19, 31, 473, 478, 531, 533, 598 Sprachtherapie 19, 21, 29, 63, 246, 256, 323, 328, 335, 347, 375, 376, 427, 431, 439, 443, 445, 450, 494, 507, 511, 530, 536, 550, 561, 571, 632 Sprachvarietät 52, 68, 588 Sprachverarbeitungsprozesse 271, 467, 469 Sprachverlust 246, 247, 249, 251, 258, 260, 267, 272, 546, 557 Sprachverstehensleistung 370 Sprachwandel 50, 458, 459 Sprachwissenschaft 54, 60, 63, 80, 202, 203, 204, 208, 214, 225, 293, 458, 459, 524 Sprachwissenschaftler 49, 54, 57, 161 Sprachzeichen 165, 166, 167, 458, 459, 460, 660 Sprachzentrum 25, 221, 231, 232, 343 Sprechakttheorie 60, 203, 204, 207, 453, 473 Sprechakttypen 203 Sprechapraxie 348, 358, 393, 394 Sprechen 27, 60, 62, 90, 134, 202, 205, 209, 211, 277, 281, 297, 340, 359, 361, 383, 458, 460, 466, 532, 600, 604, 673

706 

Sachregister

Sprecher 49, 51, 54, 68, 71, 73, 74, 75, 89, 149, 183, 195, 196, 197, 198, 202, 207, 284, 588 Sprechmotorik 221, 230, 348, 349 Sprechstimmlage 367, 368, 376, 382, 383, 386 Sprechstörungen 348, 351, 354, 390, 393, 458 Sprechtempo 233, 287, 341 Sprechverarbeitungsmodell 354, 355 Spurentilgungshypothese 269 SSES (Spezifische Sprachentwicklungsstörung) 257, 265, 336, 461, 478, 512, 516, 519, 520, 578, 639 Städte 46, 51, 57 Stammeln 20, 347, 458, 471 Standardisierung 55, 56, 416 Standardsprache 51, 55, 56, 68 Standardvarietät 55, 56, 57, 71 Stapediusreflex 370 stapes 278, 370 Stapesfußplatte 278 Status 42, 51, 52, 54, 68, 73, 352, 517, 649, 654 Steigbügel 278 Stellknorpel 284 Stenose 374 Stereotypien 39, 135, 627, 672 Stigmatisierung 56, 77, 414, 415, 520 Stilisierung 57, 308, 315 Stilistik 218 Still face-Methode 107, 113 Stillen 121, 411, 505, 663 Stimmapparat 128, 382, 383 Stimmband 289, 399, 402 Stimmbelastungstest 386 Stimmbeteiligung 286 Stimmdiagnostik 384, 385, 386 Stimme 26, 74, 82, 95, 99, 105, 108, 111, 121, 135, 144, 146, 173, 222, 282, 361, 380, 390, 393, 625, 663, 671, 680 Stimmeinsatz 340, 386 Stimmfeld 383, 386, 389 Stimmgebung 281, 282, 289, 343, 361, 368, 382, 383, 386, 387, 388, 389, 414 stimmhygienische Beratung 381 Stimmklangveränderungen 359, 378, 380, 382 Stimmlage 103, 216, 382, 387 Stimmlippen 283, 284, 289, 379, 380, 381, 383, 385, 387, 402, 413, 414 Stimmlippenknötchen 378, 379, 383 Stimmlippenkontusionen 381 Stimmlippenlähmungen 381, 387 Stimmlippenpolyp 378, 387 Stimmlippenspanner 381 Stimmrehabilitation 388 Stimmritze 284 Stimmschall 386 Stimmschallanalyse 386 Stimmstärke 386

Stimmstörungen 78, 378, 382, 390, 393, 394, 407 Stimmstörungsindex 386 Stimmtherapie 351, 376, 388 Stimmübungsbehandlung 381 Stimmungs-Induktion 145 Stimulus 359, 465, 625 Stirnhirn 233, 269 Stirnhirnwindung 230, 231, 233 Stolz 56, 84, 85, 94, 105, 112, 115, 142, 143, 148, 150 Störgeräusch 366, 370, 374 Störquellen 169 Störungen 129, 135, 143, 258, 265, 332, 354, 360, 401, 459 Störungsbewusstsein 26, 341, 469, 480 Störungsbilder 20, 134, 145, 232, 247, 342, 347, 355, 358, 381, 394, 421, 445, 460, 464 Störungsbildspektrum 453, 463 Stottern 20, 22, 24, 338, 344, 450, 452, 458, 464, 471 Stottertheorie 22, 24 Stottertherapie 22, 24, 27, 340, 345 Straßensprache 57 Stress 87, 108, 131, 133, 142, 143, 506 stria vascularis 278, 279 Stridor 413 Stroboskopie 385 Strukturale Linguistik 80, 162, 454, 459 Strukturale Semiotik 168 Strukturalismus 50, 63, 162, 163, 178, 180, 181, 202, 213, 459, 475, 532 strukturalistische Entwicklungsgesetze 287 Strukturalistische Linguistik 60, 293 Strukturqualität 444 Stützlaryngoskopie 386 Stützzellen 279 subglottischer Druck 383, 388 Subjekt 31, 41, 42, 43, 86, 87, 109, 124, 138, 163, 311, 469, 659, 668 Subjektivismus 32, 187 Subjektivität 29, 84, 86, 87, 91, 101 Subjektorientierung 14, 33 Subjekt-Verb-Kongruenz 262, 333, 579 Subjektzentrierung 473, 481, 482, 529, 532, 533, 534, 658 Sublimierung 220, 221, 611 Substandard-Varietät 71, 75, 78 Substitutoren 309 sufficient semiosis 185, 188, 192 Sulcus centralis [Sc] 230, 231, 232 Supervision 345, 410, 444, 546, 550, 553, 554 suprasegmentale Ebene 267, 287 Suprasegmentalia 282 Sylvische Fissur [Fs] 232 Sylvische Furche 232 Symbol 164, 166, 167, 662, 675, 685 Symbolische, das 220



Sachregister   707

Symbolspiel 465, 480 Symbolverständnis 298, 301, 480 sympathetischer Austausch 83, 107, 122, 139 Sympathie (sympathy) 103, 129, 133, 150, 675 synaptischer Spalt 280 Synaptogenese 281 Synchronie 162, 202 Synchronizität 63, 89, 139, 623 Syndrom 133, 233, 234, 249, 250, 252, 257, 258, 339, 381, 391, 394, 546, 659 Syndromansatz 234, 250, 252, 392 Synkretismus 66, 67, 78, 609 synrhythmische Organisation 663 Syntagma 202 syntaktische Störung 233, 249, 266, 268, 269 Syntax 30, 110, 121, 141, 180, 213, 239, 240, 246, 250, 252, 262, 266, 269, 270, 282, 376, 282, 376, 391, 460, 467, 519, 604 Systemlinguistik 213 Systemstabilisierung 67, 68 Szintigraphie 406 T Tachistoskopie 253 tachistoskopische Darbietung 294 Tanz 83, 90, 111, 112, 122, 126, 148, 613, 625 targets 452 Tarzan 65 Taschenfalten 384, 387 Taschenfaltenstimme 383 Tätigkeit 83, 291, 427, 431, 466, 501, 523, 550, 567, 572 Tätigkeitstheorie 470 Taubheit 44, 366, 368, 369 Taubstummenanstalten 21, 639 Taubstummenärzte 21 Taubstummenlehrer 21, 639 Taubstummenpädagogik 470, 471, 639 Taubstummenschulen 21, 22, 471 Teilhabe 32, 47, 61, 64, 67, 136, 251, 292, 321, 343, 390, 392, 444, 531, 545, 550, 559, 620, 651, 658 Temporallappen 232, 233, 236, 238, 240, 242, 281 TEOAE (transitorisch evozierte otoakustische Emissionen) 508 Termiten 90 Text 85, 110, 205, 210, 220, 289, 600, 601, 617, 618 Thalamus 127 The One Law 220 The Silent Other 220 Theater 40, 90, 161 Theorie der kognitiven Informationsverarbeitung 88, 294 Theorie des kommunikativen Handelns 460 Theorie des sprachlichen Marktes 71 Theorie des Virtuellen Anderen 138

Theoriebildung 19, 27, 28, 29, 33, 52, 98, 177, 205, 206, 208, 209, 269, 428, 433, 453, 478, 534, 548, 659 Theory of Mind (ToM) 136 theory-therapy-gap 452, 460, 470 Therapeut 31, 141, 146, 390, 415, 434, 455, 476, 539, 553, 568, 624, 659, 670, 675, 682 Therapie 133, 143, 349, 352, 357, 372, 382, 386, 392, 407, 422, 442, 529, 553 Therapieforschung 433, 434, 435, 436, 437, 439, 541 Thorax 282 Thyreoplastik 387 Tiefenpsychologische Ansätze 66 Tiere 61, 64, 65, 83, 84, 86, 87, 88, 90, 137, 216, 235, 547 TMS (Transkranielle Magnetstimulation) 235, 254 Tod 43, 62, 63, 163, 166, 397 Tonaudiogramm 365, 366, 369 Tonhaltedauer 386 Tonhöhe 93, 104, 111, 112, 124, 384, 386, 600 Tonhöhenumfang 109, 382, 386 Tonschwellenaudiometrie 370 Tonusabbau 388 Tonusaufbau 388 tools of quality 443 top-down-Prozess 294 Trachea 282, 389, 404, 413, 415 Trachealkanüle 413, 414, 415 Tracheostoma 387, 389, 413 Tracheostomie 413, 557 Tracheotomie 413 Tracking 368 Tradition 43, 56, 61, 62, 67, 69, 161, 187, 190, 195, 196, 214, 215, 216, 218, 220, 292, 391, 427, 458, 577 Trajektorie 106, 662, 663, 664, 665, 673 Transkription 206, 285, 356, 357, 436, 438 transsexuelle Menschen 387 Trauma 85, 131, 133, 142, 143, 349, 365 Traumatisierung 121, 131, 142 Tree-Pruning-Hypothese 268, 269 Triade 166, 167 triadische Zeichentheorie 163 triangulieren 98, 481, 482, 483 Triangulierung 467, 477, 479, 480, 481, 482, 536 Trias 60, 220 Trigger 142, 255, 256, 465 Trigger-Konzentrate 466 TRIP (Transactional Intervention Program) 505 Trommelfell 278, 364, 365, 370 Trommelsprachen 174 Trust the Text 204 truth-conditional semantics 198 tuba auditiva 278 Tumore 362, 365, 366, 381, 384, 387, 413 Türken-Deutsch 57, 75, 78

708 

Sachregister

turn taking 107, 135, 139, 146, 203, 263 TV Replay-Test 107 Typologie der Zeichen 167 Tyrannen 65 U U3- bis U8-Untersuchungen 366 Übergangsobjekte 223, 465 Übungsbehandlung 29, 361, 387, 388, 389, 470, 471, 630 Umerziehung 23, 24, 471, 492 Umfeldorientierung 492 Unbewusstes 43, 62, 63, 162, 189 Ungleichheit 45, 54, 69, 71 Uniformität 42, 55 universalistischer Ansatz 287 Universalsprache 176 universelle Gesetzmäßigkeiten 287 Universelles Neugeborenen-Hörscreening (UNHS) 368 Universum 40, 41, 46, 47, 61, 62, 63, 188, 189, 477 UN-Konvention 322, 658 Unterkiefer 284, 411 Unterricht 299, 472, 473, 529, 553, 598 Unterrichtsforschung 433, 435, 437, 439 Unterrichtsmodelle 470, 478 Unterstützte Kommunikation (UK) 556, 681, 684 Urbanolekt 75 Urgrund der Sprache 180 Ursprache 49 Usage-Based Theory of Language Acquisition 500 use 198, 453, 455, 460, 467, 580 V Validierung 76, 664 Validität 435, 436, 446, 517, 519 Variabilität 73, 96, 144, 162, 202, 204, 205, 207, 287, 302, 310, 321, 326, 368, 374, 518, 520, 623 Variation 50, 77, 182, 247, 284, 286, 404, 596 Varietät 51, 54, 56, 57, 68, 71, 73, 74, 75, 77, 78 Varietätenraum 74 Väterliches Gesetz 220 velokardiofaziales Syndrom 351 velum palatinum 284 ventral 236, 237, 239, 241, 242, 243 Verbzweitstellung 262, 263, 266, 499 Verdinglichung 41 Verfehlung 43, 45 Verhalten 53, 64, 85, 115, 128, 181, 206, 220, 253, 314, 332, 340, 381, 411, 437, 458, 497, 503, 509, 553, 571, 609, 623, 653, 682 Verletzlichkeit 39, 41, 44, 45, 47, 144 Vernunft 55, 62, 66, 179, 206, 209, 210 Verstand 43, 66, 124, 126, 129, 149, 189, 215 Verwirrer 499

VFSS (Video Fluoroscopic Swallowing Study) 404, 406 Vibranten 286 Video-Feedback-Training 141, 145 Videofluoroskopie 316, 405 Videograf 438 Vielfalt 5, 21, 40, 49, 61, 164, 203, 305, 492, 523, 560, 606, 674 virtuelle Welten 74, 660 Virtueller Anderer (VA) 138, 206, 456, 662, 671 Virtuelles Selbst (VS) 138, 456, 662, 671 Viskosität 401 visuelle Sprachsysteme 305 Vitalitätsaffekte (vitality affects) 149 Vitalitätskonturen (vitality contours) 92 Vocalis 289, 380 Vogelarten 104 Voice Handicap Index 386 Voice-Related-Quality of Life 386 Vokale 172, 285, 291, 359 Vokalisationen 88, 100, 126, 260, 517, 624 Voodoo-Tradition 62 Vorstellung 43, 89, 94, 164, 179, 195, 307, 464, 472, 498, 500, 623, 660 Vulnerabilität 15, 39, 40, 41, 46, 47, 51, 140, 505 W Waardenburg-Syndrom 351 Wada-Test 254 Wahrheitskonditionalität 198 Wahrnehmung 53, 83, 100, 102, 119, 141, 165, 180, 209, 214, 224, 232, 247, 284, 294, 309, 327, 340, 354, 366, 399, 412, 419, 515, 534, 605, 608, 626, 630, 664, 672 Wahrnehmungskomponenten 179 Wahrnehmungsmodalität 231 Wahrnehmungsorientierte Pragmatik 177, 183, 195, 199 Wahrnehmungsspuren 196, 199 Wahrnehmungsvergessenheit 177, 181 Welt 31, 40, 54, 61, 82, 102, 126, 144, 161, 177, 195, 209, 214, 255, 310, 430, 435, 506, 603 Wende 27, 31, 54, 182, 202, 213, 225, 452, 458, 460, 463, 597 Wernicke-Areal (WA) 232, 234, 237, 252 Wernicke-Lichtheim-Schema 232, 233 WHO 15, 251, 321, 342, 444, 516, 520, 567 whole language approach 453 Wiener Schule 23, 26, 465 Wilde 64, 66 wilde Kinder 65 Wilde von Aveyron 65 Williams-Beuren-Syndrom 134, 453, 671 Wirklichkeit 19, 31, 143, 214, 223, 309, 435, 483, 501, 577, 590, 603

wissenschaftliche Revolution 19, 21, 26 Wissenschaftstheorie 30, 208 Wolfskinder 65 Wortabrufstörungen 237 Wortartenentwicklung 262 Wörterbucheinträge 186 Worterkennen 294 Wortfindungsstörung 332 Wortklangzentrum 25 Wortschatzerwerb 134, 367 Wortschatzspurt 261 Wortverarbeitung 235, 240 Wortverarbeitungsstörung 235 Wortverständnis 232 Würde 39, 43, 45, 537 Z Zahnprothesen 412 Zäpfchen 399 Zauberer 65 Zeichen 61, 90, 161, 185, 191, 673 Zeichen-Agenten 61 Zeichenbenutzer 168, 170 Zeichencluster 186 Zeichendyade 63 Zeichenentwicklung 673 Zeichenhaftigkeit 61 Zeicheninstanzen 168 Zeichenkette 167 Zeichenklassen 165 Zeichencodes 164, 664, 671, 677 Zeichenkonstituenten 455 Zeichenmodell 63, 165, 454, 456 Zeichenproduktion und -rezeption 169 Zeichenprozesse 161, 170 Zeichenraum 67 Zeichenreferenz 660 Zeichenrelationierung 307

Sachregister   709 Zeichenrepertoire 222 Zeichensprachen 173 Zeichenstrukturen 161 Zeichensystem 161, 173, 179, 182, 202, 205, 297, 677 Zeichentheorie 63, 163, 165 Zeichenträger 164, 173, 183, 185, 455, 660, 662, 666 Zeichentypen 167, 307 Zeichentypologie 161 Zeichenvielfalt 307 Zeichenwissenschaft 168 Zeichnungen 135, 600, 684 Zeit 50, 63, 84, 92, 100, 105, 116, 119, 121, 124, 146, 210, 625, 670 Zeitempfindung 624 Zeitspektren 124 Zentralfurche 231 Zerbrechlichkeit 39, 45, 140, 143 Zerebellum 127, 137 Zielsprache Deutsch 68, 578, 588 Zielstrukturen 30, 436, 452, 460, 499, 599, 633 Zirkel 143, 180 Zivilisation 564 Zone der nächsten Entwicklung (ZdnE) 150, 466, 632, 658 zōon logon echon 62 zōon politikon 63 Zoosemiose 61 Zoosemiotik 161 Zugehörigkeit (belonging) 105 Zugehörigkeitsgefühl 106 Zugriffsstörungen 266 Zunge 21, 96, 121, 182, 284, 356, 394, 411 Zungenbein 399, 411 Zungengymnastik 452, 458 Zusammenbruch 187 Zuschreibung 6, 71, 342 Zweitspracherwerb 247, 264, 578, 589, 593 Zwerchfell 282

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Agentur Opale 8, rue Charlot F-75003 Paris FRANCE Friederike Altmann Dipl. Malerin und Grafikerin Dipl. Kunsttherapeutin Leiterin des KunstRaum Dresden am Förderzentrum Sprache Dresden Schule im Albertpark Fischhausstraße 12b D-01099 Dresden Dr. Reiner Bahr Sonderschulrektor Wilhelm-Körber-Schule Förderschwerpunkt Sprache Franz-Arens-Straße 1 D-45139 Essen Martin Bannert Dipl.-Sozialwissenschaftler Fachübersetzung Französisch Gellertstraße 100 D-28201 Bremen Dr. Barbara Bental Center for Advancement of Learning Lohamei Haghetaot 16 Haifa 35025 ISRAEL Anja Blume Schule an der Strauchwiese Schule mit sonderpädagogischem Förder­ schwerpunkt „Sprache“ Grundschule Lindenberger Straße 12 D-13156 Berlin

Prof. Dr. Otto Braun Humboldt-Universität zu Berlin Institut für Rehabilitationswissenschaften Abteilung Sprachbehindertenpädagogik Unter den Linden 6 D-10099 Berlin Prof. Dr. Erwin Breitenbach Humboldt-Universität zu Berlin Institut für Rehabilitationswissenschaften Abteilung Rehabilitationspsychologie Unter den Linden 6 D-10099 Berlin Angela Cornelissen Seminarleiterin Studienseminar für Lehrämter an Schulen Duisburg I Lehramt für Sonderpädagogik Bismarckstraße 120 D-47057 Duisburg Dr. med. Dirk Deuster Leitender Oberarzt Universitätsklinikum Münster Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie Kardinal-von-Galen-Ring 10 D-48149 Münster Dr. med. Paul Diesener Leitender Arzt Intensivmedizin-Frührehabilitation Hegau-Jugendwerk Kapellenstraße 31 D-78262 Gailingen



Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter   711

Dr. Frank Domahs Universität Marburg Fachbereich 09 Germanistik und Kunstwis­ senschaften Institut für Germanistische Sprachwissen­ schaft AG Klinische Linguistik Wilhelm-Röpke-Straße 6 D-35032 Marburg und Universitätsklinikum der RWTH Aachen Lehr- und Forschungsgebiet Neuropsycholo­ gie an der Neurologischen Klinik Pauwelsstraße 30 D-52074 Aachen Prof. Dr. Gregor Dupuis Technische Universität Dortmund Fakultät 13 Rehabilitationswissenschaften Abteilung Rehabilitation und Pädagogik bei Sprach-, Kommunikations- und Hörstörun­ gen Emil-Figge-Straße 50 D-44221 Dortmund Prof. Dr. Horst Ebbinghaus Humboldt-Universität zu Berlin Philosophische Fakultät IV Institut für Rehabilitationswissenschaften Abteilung Gebärdensprachdolmetschen Unter den Linden 6 D-10099 Berlin Sarah Effenberger Grafikerin Rungestraße 11 D-10179 Berlin Brigitte Ernst Studienseminar für das Lehramt an Schulen Duisburg I Seminar für Sonderpädagogik Bismarckstraße 120 D-47057 Duisburg

Dr. Anja Fiori Dipl.-Logopädin Fachhochschule Münster Fachbereich Pflege und Gesundheit Leonardo Campus 8 48149 Münster Prof. Dr. Ad Foolen Department of Linguistics Radboud University Nijmegen P. P. Box 9103 NL-6500 HD Nijmegen NETHERLANDS Dr. Bodo Frank c/o Prof. Dr. Georg Feuser Philosophische Fakultät Institut für Sonderpädagogik Universität Zürich Hirschengraben 48 CH-8001 Zürich SCHWEIZ Prof. Dr. Iris Füssenich Pädagogische Hochschule Ludwigsburg Fakultät III – Standort Reutlingen Institut für sonderpädagogische Förder­ schwerpunkte Fachrichtung Sprache und Kommunikation Pestalozzistraße 53 D-72762 Reutlingen Prof. Dr. Charles Gardou l’Institut des Sciences et Pratiques d’Education et de Formation (ISPEF) Université Lumière Lyon 2 86, rue Pasteur F-69365 Lyon Cedex 07 FRANCE Fausto Giaccone Agentur Anzenberger Zeinlhofergasse 7 A-1050 Wien ÖSTERREICH www.anzenberger.com www.anzenbergergallery.com

712 

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Dr. Barbara Giel Institut für Sprachtherapieforschung Goethestraße 16 D-47441 Moers Prof. Dr. Christian W. Glück Universität Leipzig Erziehungswissenschaftliche Fakultät Institut für Förderpädagogik Sprachbehindertenpädagogik Marschnerstraße 29a D-04109 Leipzig Prof. Dr. Klaus-B. Günther Humboldt-Universität zu Berlin Philosophische Fakultät IV Institut für Rehabilitationswissenschaften Abteilung Gebärdensprachpädagogik Unter den Linden 6 D-10099 Berlin Dr. Bernd Hansen Universität Flensburg Abteilung Pädagogik für Menschen mit Sprach- und Kommunikationsstörungen Auf dem Campus 1 D-24943 Flensburg Prof. Dr. Hildegard Heidtmann Universität Flensburg Abteilung Pädagogik für Menschen mit Sprach- und Kommunikationsstörungen Auf dem Campus 1 D-24943 Flensburg Prof. Dr. Clemens Hillenbrand Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Department Heilpädagogik und Rehabilita­ tion Lehrstuhl für Erziehungshilfe und sozialemotionale Entwicklungsförderung Klosterstraße 79c D-50931 Köln

Prof. Dr. Gerhard Homburg Universität Bremen Fachbereich 12 Erziehungs- und Bildungswissenschaften Sprachbehindertenpädagogik Postfach 33 04 40 D-28334 Bremen Prof. Dr. Walter Huber Universitätsklinikum Aachen Medizinische Fakultät der RWTH Leitung Lehr- und Forschungsgebiet Neuro­ linguistik Pauwelsstraße 30 D-52074 Aachen Prof. Dr. Claudia Iven Europa Fachhochschule Fresenius Limburger Straße 2 D-65510 Idstein Dr. Jürgen Jaspers Universität Antwerpen Dept. Taalkunde Stadscampus S. D. 227 Grote Kauwenberg 18 B-2000 Antwerpen BELGIEN Prof. Dr. Dr. Dr. h. c. Ulrich Joos Direktor der Klinik und Poliklinik für Mund- und Kiefer-Gesichtschirurgie Westfälische Wilhelms-Universität Münster Waldeyerstraße 30 D-48149 Münster Karlsbader Schluckzentrum (KSZ) SRH Klinikum Karlsbad-Langensteinbach Guttmannstraße 1 D-76307 Karlsbad



Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter   713

Prof. Dr. Nitza Katz-Bernstein Technische Universität Dortmund Fakultät 13 Rehabilitationswissenschaften Abteilung Rehabilitation und Pädagogik bei Sprach-, Kommunikations- und Hörstörun­ gen Emil-Figge-Straße 50 D-44221 Dortmund Prof. Dr. Christina Kauschke Universität Marburg Fachbereich 09 Germanistik und Kunstwis­ senschaften Institut für Germanistische Sprachwissen­ schaft AG Klinische Linguistik Wilhelm-Röpke-Straße 6 D-35032 Marburg PD Dr. Ulrich von Knebel Universität Hamburg Fachbereich Erziehungswissenschaft Institut für Behindertenpädagogik Sprachbehindertenpädagogik Sedanstraße 19 D-20146 Hamburg Prof. Dr. Annette Kracht Universität Koblenz-Landau, Campus Landau Institut für Sonderpädagogik Pädagogik bei Sprach- und Kommunikations­ störungen Xylanderstraße 1 D-76829 Landau Prof. Dr. Julia Kristeva Université Paris 7 – Denis Diderot UFR de Sciences des Textes et Documents Case 7010 2, place Jussieu F-75005 Paris FRANCE PD Dr. Ernst G. de Langen Klinikum Passauer Wolf Leiter Abteilung Sprachtherapie Bürgermeister-Hartl-Platz 1 D-94086 Griesbach

Antje Leisner Dipl. Sprachheilpädagogin Stellv. Schulleiterin Förderzentrum Sprache Dresden Schule im Albertpark Fischhausstraße 12b D-01099 Dresden Marie-Noelle Leuer Dipl. Pädagogin Fachübersetzung Englisch Lühnstiege 6 48151 Münster Prof. Dr. habil. Ulrike M. Lüdtke Leibniz Universität Hannover Institut für Sonderpädagogik Abteilung Sprach-Pädagogik und -Therapie Schloßwenderstraße 1 D-30159 Hannover Prof. Dr. Birgit Lütje-Klose Universität Bielefeld Fakultät für Erziehungswissenschaft Schwerpunkt Heterogenität Postfach 10 01 31 D-33501 Bielefeld Dr. Helen Marwick Department of Childhood and Primary ­Studies University of Strathclyde David Stow Building, Jordanhill Campus 76 Southbrae Drive Glasgow G13 1PP UK Christel Meissner OstR’in Fachübersetzung Französisch Heiderweg 35 D-40489 Düsseldorf Andrea Modder Fachübersetzung Niederländisch Skalitzer Straße 54a D-10997 Berlin

714 

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Hildegard Mönter Kinder- und Jugend-Universität für das ­Bergische Land Wall 39 D-42103 Wuppertal Prof. Dr. Winfried Nöth Universität Kassel Sprach- und Literaturwissenschaften Georg-Forster-Straße 3 D-34109 Kassel Eva Ojeda Dipl. Sprachtherapeutin Verein für Menschen mit Körperbehinderung e. V. Frühförderung Kinderhilfe Egidienplatz 11 D-90403 Nürnberg Annette Orphal Psychologin (DESS) Fachübersetzung Französisch 2 square des Néerlandais F-91 300 Massy FRANCE Prof. Dr. Claudia Osburg Universität Hamburg FB Erziehungswissenschaft – Institut 3 Schulpädagogik/Pädagogische Psychologie Sedanstraße 19 D-20146 Hamburg Prof. Dr. med. Peter Pokieser Leiter Medical Media Services Medizinische Universität Wien Währinger Gürtel 18–20 A-1090 Wien ÖSTERREICH Dr. med. Mario Prosiegel Leiter Zentrum für Schluckstörungen Fachabteilung für Neurologie Fachklinik Bad Heilbrunn Wörnerweg 30 D-83670 Bad Heilbrunn

Elfi Quiram-Jurkiewicz Seminarleiterin Studienseminar für Lehrämter an Schulen Solingen Lehramt für Sonderpädagogik Eintrachtstraße 31 D-42655 Solingen PD Dr. Christel Rittmeyer Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Institut für Sonderpädagogik, Prävention und Rehabilitation Fakultät I Pädagogik bei geistiger Behinderung Ammerländer Heerstraße 114–118 D-26129 Oldenburg Dr. Karla Röhner-Münch Humboldt-Universität Berlin Philosophische Fakultät IV Institut für Rehabilitationswissenschaften Abteilung Sprachbehindertenpädagogik Unter den Linden 6 D-10099 Berlin Prof. Dr. Roswitha Romonath Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Department Heilpädagogik und Rehabilita­ tion Pädagogik und Therapie bei Sprech- und Sprachstörungen Klosterstraße 79b D-50931 Köln Prof. Dr. Horst Ruthrof English and Philosophy Murdoch University Perth Western Australia 6150 AUSTRALIA



Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter   715

Eckart Rupp, M. A. Ludwig-Maximilians-Universität Institut für Deutsche Philologie Department für Germanistik, Komparatistik, Nordistik, Deutsch als Fremdsprache Schellingstraße 3 D-80799 München

Prof. Dr. Jürgen Tesak † Europa Fachhochschule Fresenius Limburger Straße 2 D-65510 Idstein

Katharina Schmidt Selchower Straße 12 12049 Berlin

Anke Thummes Schulleiterin Städtische Förderschule Förderschwerpunkt Sprache Kopernikusstraße 40 51065 Köln

Dr. Benjamin Schögler Perception in Action Laboratories PESLS St Leonards Land Edinburgh University UK

Prof. Dr. Colwyn Trevarthen Department of Psychology University of Edinburgh 7 George Square Edinburgh EH 8 9JZ UK

Heiko Seiffert Rheinische Förderschule Förderschwerpunkt Sprache (Sekundarstufe I) Heinrich-Welsch-Schule Am Feldrain 10 D-51061 Köln

Prof. Dr. Renate Valtin Humboldt-Universität zu Berlin Philosophische Fakultät IV Institut für Schulpädagogik und pädagogische Psychologie Unter den Linden 6 D-10117 Berlin

PD Dr. Katja Subellok Technische Universität Dortmund Fakultät 13 Rehabilitationswissenschaften Abteilung Rehabilitation und Pädagogik bei Sprach-, Kommunikations- und Hörstörun­ gen Emil-Figge-Straße 50 D-44221 Dortmund

Prof. Dr. Edda Weigand Westfälische Wilhelms-Universität Münster Fachbereich 9: Philologie Sprachwissenschaft Bispinghof 2B D-48143 Münster

Prof. Dr. med. Waldemar von Suchodoletz Ludwig-Maximilians-Universität München Institut für Kinder- und Jugendpsychiatrie Nußbaumstraße 7 D-80336 München

Prof. Dr. Alfons Welling Universität Hamburg Fachbereich Erziehungswissenschaft Institut für Behindertenpädagogik Sprachbehindertenpädagogik Sedanstraße 19 D-21146 Hamburg

716 

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Prof. Dr. Monika Schwarz-Friesel Technische Universität Berlin Institut für Sprache und Kommunikation Fachgebiet Allgemeine Linguistik Straße des 17. Juni 135 D-10623 Berlin

Prof. Dr. med. Antoinette G. am ZehnhoffDinnesen Universitätsklinikum Münster Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie Kardinal-von-Galen-Ring 10 D-48149 Münster

Behinderung, Bildung, Partizipation Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik Überblick über das Gesamtwerk Bd. 1: Wissenschaftstheorie Hrsg. von Detlef Horster & Wolfgang Jantzen Bd. 2: Behinderung und Anerkennung Hrsg. von Markus Dederich & Wolfgang Jantzen Bd. 3: Bildung und Erziehung Hrsg. von Astrid Kaiser, Ditmar Schmetz, Peter Wachtel & Birgit Werner Bd. 4: Didaktik und Unterricht Hrsg. von Astrid Kaiser, Ditmar Schmetz, Peter Wachtel & Birgit Werner Bd. 5: Lebenslagen und Lebensbewältigung Hrsg. von Iris Beck & Heinrich Greving Bd. 6: Gemeindeorientierte pädagogische Dienstleistungen Hrsg. von Iris Beck & Heinrich Greving Bd. 7: Entwicklung und Lernen Hrsg. von Georg Feuser, Joachim Kutscher & Birger Siebert Bd. 8: Sprache und Kommunikation Hrsg. von Otto Braun und Ulrike Lüdtke Bd. 9: Sinne, Körper und Bewegung Hrsg. von Markus Dederich, Wolfgang Jantzen & Renate Walthes Bd. 10: Emotion und Persönlichkeit Hrsg. von Georg Feuser, Birgit Herz & Wolfgang Jantzen