Spinozas Philosophie: Über den Zusammenhang von Metaphysik und Ethik 9783787331444, 9783787331437

Der renommierte Spinoza-Forscher Wolfgang Bartuschat, dessen gerade abgeschlossene Gesamtübersetzung (PhB 91–96a) heute

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Spinozas Philosophie: Über den Zusammenhang von Metaphysik und Ethik
 9783787331444, 9783787331437

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Spinozas Philosophie Über den Zusammenhang von Metaphysik und Ethik Wolfgang Bartuschat

Meiner

Wolfgang Bartuschat Spinozas Philosophie Über den Zusammenhang von Metaphysik und Ethik

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3143-7 ISBN eBook: 978-3-7873-3144-4

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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I.  Ontologie und Subjektivität

Metaphysik als Ethik. Zu einem Buchtitel Spinozas . . . . . . . . 11 Metaphysik und Ethik in Spinozas Ethica . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Selbstsein und Absolutes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Das Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten . . . . 104 Subjekt und Metaphysik in Spinozas Ontologie . . . . . . . . . . . . 130 Unendlicher Verstand und menschliches Erkennen bei Spinoza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 II.  Ethik und Politik

Theorie und Praxis in Spinozas Ethik und Politik . . . . . . . . . . 181 Die Theorie des Guten im 4. Teil der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Moralität bei Spinoza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Freiheit als Ziel des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Ökonomie und Recht in Spinozas Theorie des Staates . . . . . . 270 Spinoza über Macht und Recht in der Politik . . . . . . . . . . . . . . 289 III. Bezüge

Spinoza in der Philosophie von Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Leibniz als Kritiker Spinozas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Teleologie bei Spinoza im Hinblick auf Kant . . . . . . . . . . . . . . 348 Über Spinozismus und menschliche Freiheit beim frühen Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Über Anfang und Fortgang von Spinozas Ethik (Spinoza versus Fichte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Nur hinein, nicht heraus. Hegel über Spinoza . . . . . . . . . . . . . 404

Angeführte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Erstveröffentlichungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434

6  |     Inhalt

Vorwort

 D

er vorliegende Band enthält eine Auswahl meiner Aufsätze zur Philosophie Spinozas; einer ist bislang nicht veröffentlicht, die anderen in einem längeren Zeitraum an verstreuten und teilweise schwer zugänglichen Orten erschienen. Ich freue mich, daß die Aufsätze jetzt in geschlossener Form in einem Verlag erscheinen, der in seiner »Philosophischen Bibliothek« sämtlichen Werken Spinozas in neuer Übersetzung den ihnen gebührenden Platz gewährt hat. Seinem Lektor, Marcel Simon-Gadhof, danke ich für die sorgfältige Betreuung, mit der er die in ihrer Form sehr unterschiedlich gestalteten ursprünglichen Texte in eine einheit­ liche Gestalt gebracht hat. Ich habe die Texte nach drei Gesichtspunkten gegliedert. Die erste Rubrik (»Ontologie und Subjektivität«) entfaltet den Aspekt, unter dem ich Spinoza seit vielen Jahren gelesen und interpretiert habe: als einen Theoretiker der Subjektivität, der das konkrete menschliche Individuum in dessen Erkennen und Handeln von der Unbedingtheit eines Absoluten her zu begreifen sucht und hierfür die Metaphysik der absoluten Substanz als eine auf das endliche Subjekt hin konzipierte funktionale Ontologie versteht. Die zweite Rubrik (»Ethik und Politik«) konkretisiert diese Überlegung unter dem Aspekt der individuellen Selbsterhaltung am menschlichen Handeln in den von Spinoza streng unterschiedenen Feldern der Ethik und Politik. Die dritte Rubrik (»Bezüge«) sucht Spinozas Metaphysik im Kontrast zu den großen anderen der Rationalität verpflichteten Systemdenkern zu konturieren, die anfangend mit Leibniz und endend mit Hegel sich an Spinoza gerieben und dabei in der Regel Spinozas in concreto entwickelte Theorie mensch­ lichen Handelns überlesen haben. Die Texte sind auf ihre drucktechnische Korrektheit hin durchgesehen, sonst aber mit Ausnahme einiger weniger stilistischer Glättungen unverändert übernommen. Vereinheitlicht sind die Angabe der Sekundärliteratur in den Fußnoten und der Stellenverweis auf Spinozas Werke im fortlaufenden Text. Diese werden, teils   |  7

im Original, teils in deutscher Übersetzung, nach ihrer internen Feingliederung zitiert: »Ethik« (E) unter Angabe von Axiom (ax.), Lehrsatz (prop.), Folgesatz (coroll.) und Anmerkung (schol.) des jeweiligen Teils (röm. Ziffer), gegebenenfalls von Hilfssatz (lem.) und Postulat (post.); »Theologisch-politscher Traktat« (TTP) unter Angabe von Kapitel (röm. Ziffer) und Untergliederung (arab. Ziffer); »Politischer Traktat« (TP) unter Angabe von Kapitel (röm. Ziffer) und Paragraph (§); die übrigen Werke »Kurzer Traktat über Gott, Mensch und dessen Glück« (KT), »Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes« (TIE) und »Briefwechsel« (Ep.) in analoger Weise. Ich widme diesen Aufsatzband dem Gedächtnis meines Freundes ­Konrad Cramer (1933 – 2013), der mich 1962 in Heidelberg, als ich noch über Nietzsche arbeitete, in eine Diskussion über Spinoza verstrickte, die fünfzig Jahre lang anhalten sollte. Hamburg, im Juli 2017

Wolfgang Bartuschat

I. ONTOLOGIE UND SUBJEK TIVITÄT

Metaphysik als Ethik Zu einem Buchtitel Spinozas

Spinozas Hauptwerk ist überschrieben mit dem Titel »Ethik«. In ihm wird eine Theorie sittlichen Handelns entworfen, aber nicht ausschließlich. Sie ist vielmehr nur Moment eines Explikationszusammenhanges, der eine Darlegung der Metaphysik intendiert. Der erste Teil der Schrift handelt von Gott und berührt die Fragen der Ethik an keiner Stelle; in ihm wird eine Metaphysik des Absoluten entworfen. Sie ist von jeher als Hauptstück der Philosophie Spinozas angesehen worden, so daß es als unverständlich erscheinen konnte, weshalb Spinoza den Titel »Ethik« gewählt hat für ein Werk, in dessen Mittelpunkt metaphysische Probleme stehen1. Es soll nun im Folgenden zu zeigen versucht werden, daß gerade im Hinblick auf Spinozas Metaphysik des Absoluten die Ethik insofern von grundsätzlicher Bedeutung ist, als sie bei der Bestimmung des für diese Metaphysik entscheidenden Verhältnisses zwischen Absolutem und endlich-Einzelnem eine wichtige Funktion hat. Das hieße: Metaphysik ist als Ethik zu entwickeln und zwar deshalb, weil in der Ethik erst jener Bezug des in der Metaphysik erörterten Absoluten auf das endlich-Einzelne explizierbar ist. Ethik ist nicht etwas, das sich aus der schon für sich bestehenden Metaphysik herleiten ließe als die Disziplin, die die Grundsätze der Metaphysik für eine Theorie sittlichen Handelns fruchtbar machte2 . Eine Theorie des Handelns mit Rücksicht auf die den Menschen bedrängenden Affekte bringt vielmehr ein Moment zur Geltung, das erst zeigt, daß die Metaphysik einen begründeten Anspruch 1 

Vgl. L. Robinson, Kommentar zu Spinozas Ethik, Leipzig 1928, 47. So wird in der Regel interpretiert. Vgl. zuletzt: K. Hammacher, Spinozas Gedanke der Identität und die Begründung im menschlichen Verhalten, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 23 (1969) 1, 24–35, und M. Walther, Metaphysik als Anti-Theologie. Die Philosophie Spinozas im Zusammenhang der religionsphilosophischen Problematik, Hamburg 1971. 2 

  |  11

zu erheben vermag, unter dem auch das sittliche Handeln des end­ lichen Wesens Mensch steht. Gegen Ende der Ethik, in einer Anmerkung zum 36. Lehrsatz des 5. Teils, knüpft Spinoza ausdrücklich an den ersten Teil und die dort dargelegte Theorie der absoluten Substanz an, indem er sagt, am Ende der Darlegungen sei dasselbe bewiesen worden wie am Anfang, dies jedoch in anderer Weise. Dort heißt es: »Obgleich ich im 1. Teil im allgemeinen bewiesen habe, daß alles (und folglich auch die menschliche Seele) nach Essenz und Existenz von Gott abhängt, so kann dieser Beweis, obwohl er richtig geführt ist und nicht den geringsten Zweifel zuläßt, die Seele doch nicht derartig affizieren, wie wenn eben dies aus der Essenz jedes Einzeldinges, das wir von Gott abhängig heißen, selbst geschlossen wird.« Das Andere des Beweises besteht darin, daß die zu beweisende Abhängigkeit des Einzelnen vom Absoluten hier vom Einzelnen her bewiesen wird, dort jedoch in einer Allgemeinheit bewiesen wurde, in der das Einzelne als solches unthematisiert bleibt. Nun ist der andersgeartete Beweis nicht nur ein beliebig anderer neben dem erstgenannten; er hat eine besondere Bedeutung, die ihn unumgänglich macht. Denn die These, Einzelnes hänge vom Absoluten ab, enthält die Differenz, das liegt in »abhängen« (pendere), von Einzelnem und Absolutem, die der Beweis zu thematisieren hat. Gewährleistet ist die genannte Differenz jedoch nur dann, wenn im Beweis das Einzelne in einer Weise zur Geltung gelangt, in der es nicht schon vom Absoluten her gedacht ist. Zwar muß der Beweis, der den Ausgang vom Einzelnen nimmt, das Absolute schon in Anspruch nehmen, weil er auf es, als ein Unbedingtes, im Ausgang vom Einzelnen nie hinführen könnte, aber er hat so den Ausgang vom Einzelnen zu nehmen, daß er am Einzelnen aufzeigt, inwiefern es, in der Differenz zum Absoluten, vom Absoluten abhängt. Wird der Bezug des Abhängens nicht am vom Absoluten Differierenden aufgezeigt, bleibt der Beweis des Abhängens abstrakt, wenn nicht bare Behauptung3. Aus den Strukturmerkmalen der absoluten Substanz muß gefolgert werden, daß kein Einzelnes, wie geartet es auch sein mag, 3  Vgl.

W. Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, Frankfurt 1966,

17 ff. 12  |  I. Ontologie und Subjektivität 

von der absoluten Substanz nicht abhängen könnte, da ein solches Nicht-Abhängen die Substanz durch ein ihr Fremdes bestimmt sein ließe, was widerspruchsvoll wäre. Die Bestimmung der göttlichen Substanz hinsichtlich aller Dinge als »causa immanens« (I, prop. 18) soll diese Widersprüchlichkeit ausschließen. Sie bringt eine Relation des Inhärierens zum Ausdruck, derzufolge die Substanz nicht aus sich herausgehen muß, um Bestimmtes der Welt durch sich bestimmt sein zu lassen. Vielmehr ist die Substanz schon bestimmt im Hinblick auf die Totalität der Dinge, die als Modi der Substanz in ihr sind. Das als Modus gefaßte Einzelne ist darin aber nicht in seinem Charakter, Einzelnes im Unterschied zu anderem Einzelnen zu sein, gefaßt, sondern in einer Allgemeinheit, die für jedes Einzelne gilt. Es könnte dann sein, daß die als Absolutes konzipierte Substanz gar nicht die Welt in deren Mannigfaltigkeit von sich abhängig sein läßt, sondern eine von sich her konstruierte Welt, in der sich nicht mehr Unterscheidungen angeben lassen, als die absolute Substanz schon in sich enthält. Das Beharren auf einer in sich differenten Mannigfaltigkeit, die nicht schon in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Absoluten steht, müßte sie als Schein deklarieren, resultierend aus einer Position, die den wahren Zusammenhang zwischen Absolutem und Einzelnem nicht durchschaut. Aber dieser Schein kann nicht als ein der Wahrheit Fremdes neben die Wahrheit gestellt werden, sondern muß als Schein begriffen werden. Die Differenz zwischen Wahrheit und Schein kann nicht selber für Schein ausgegeben werden, denn damit wäre der Grund, der zur Annahme des Scheins zwingt, negiert. Die menschliche Seele als ein endlich-Begrenztes ist auf Grund ihrer Begrenztheit der Möglichkeit des Scheins ständig ausgesetzt. Ein Beweis, der zeigte, daß die Seele in ihrer Begrenztheit, d. h. in ihrem Bezug auf Einzelnes, das nicht schon als Modus des Absoluten erkannt wird, vom Absoluten abhängt, würde mehr leisten als der im ersten Teil gegebene Abhängigkeitsbeweis. Er würde die menschliche Seele in anderer Weise affizieren können, sofern er an ihr selbst, die sich in ihrem Selbstverständnis vom Absoluten verschieden weiß, ihre Abhängigkeit vom Absoluten demonstrieren könnte. Die These von der Abhängigkeit bliebe nicht abstrakt, sondern legitimierte sich an dem, was die endliche Seele selbst erfährt. Metaphysik als Ethik  |  13

Wenn Spinoza nun am Ende der Abhandlung meint, im Fortgang von der absoluten Substanz des ersten Teils der Ethik den Abhängigkeitsbeweis in der Erweiterung geführt zu haben, daß die Abhängigkeit am Einzelnen selbst hat gezeigt werden können, so muß die Darlegung dessen, was zwischen Anfang und Ende der Ethik liegt, den Grund für Spinozas These abgeben. Dargelegt wird dort eine Theorie der menschlichen Seele hinsichtlich ihres Vermögens zu erkennen und zu handeln. Ich möchte nun zeigen, daß nicht die theoretische Philosophie für die problematische Frage eines Beweises der Abhängigkeit des Einzelnen vom Absoluten etwas beiträgt, wohl aber die im Anschluß daran gegebene Theorie der Affekte, die ins Gebiet des Handelns und damit der Ethik fällt. Die Ethik hätte dann eine zentrale Bedeutung für die Metaphysik. Sie wäre ihr Kernstück. Im 1. Teil scheint Spinoza zwischen den Prinzipien von theoretischer und praktischer Philosophie bezüglich ihrer Stellung zum Absoluten keinen Unterschied zu machen. Intellectus und voluntas kommen darin überein, daß sie beide zur natura naturata gehören (I, prop. 31 und 32), also modi des Attributes Denken sind, die aus dem als natura naturans zu fassenden Absoluten mit Notwendigkeit folgen. Beiden wird eine Potentialität abgesprochen, kraft deren sie, nicht einer Notwendigkeit schon unterliegend, von einem dem Absoluten gegenüber freien Standpunkt aus den möglichen Bezug eines auf diesem Standpunkt stehenden Einzelnen zu dem Absoluten herstellen könnten. Der Gedanke an die Freiheit des Willens wird als Illusion zurückgewiesen. Die Voraussetzung, die ihm zugrunde liegt, daß es nämlich Zufälliges gibt, das nicht durch die Notwendigkeit der natura naturans eindeutig bestimmt ist, wird als eine Täuschung entlarvt, die sich aus einem Standpunkt ergibt, von dem zu meinen, er sei gegenüber dem Absoluten ein selbständiger, gerade Täuschung ist. Der Standpunkt, den die menschliche Seele einnimmt, ist der eines besonderen endlichen Dinges. Die besonderen Dinge unterscheiden sich vom Absoluten dadurch, daß sie den Grund ihrer Existenz und ihres Wesens nicht in sich selber haben (I, prop. 24). Auf Grund dieses Unterschiedes gehört zum Wesen (essentia) des Einzeldinges, durch das es sich von einem anderen Einzelding unterscheidet, nicht das Absolute, obschon es ohne dieses nicht sein kann (II, prop. 10, schol. zu 14  |  I. Ontologie und Subjektivität 

coroll.). Die Seele kann sich in dem erfassen, was sie im Unterschied zu anderem Einzelnen ist, und darin meinen, eine vollständige Bestimmung von sich gegeben zu haben. Darin kann sie sich für frei wähnen und ihre Existenz, deren Grund sie nicht kennt, für zufällig halten. Diese Bestimmung der Zufälligkeit ist Folge einer mangelnden Einsicht in den Zusammenhang von absolutem Grund und durchgängigem Gegründetsein alles Einzelnen. Deshalb sagt Spinoza, daß »ein Ding allein im Hinblick auf einen Mangel unserer Erkenntnis zufällig genannt wird« (I, prop. 33, coroll. 1). Der 2. Teil der Ethik, der einen Abriß der Erkenntnistheorie gibt, nennt nun des näheren die Gründe für die mangelhafte Erkenntnis und die Möglichkeit, wie sich die Seele von diesen Mängeln befreien kann. Hierbei zeigt es sich, daß die Fähigkeit, die Mängel theoretischer Erkenntnis zu beseitigen, gerade in die Dimension, in der sich die mangelhafte Erkenntnis bewegt, nämlich in die Sphäre der besonderen einzelnen Dinge, nicht hineinreicht und deshalb für das Problem einer angemessenen Bestimmung des Verhältnisses zwischen Absolutem und von ihm differenten Einzelnem nichts austrägt. Die menschliche Seele ist der Möglichkeit einer mangelnden Erkenntnis ausgesetzt, weil sie als erkennende, von Gott her gesehen, lediglich Teil des unendlichen Verstandes Gottes ist (II, prop. 11, coroll.). Wenn sie erkennt, dann erkennt Gott, sofern er die Natur der menschlichen Seele konstituiert (constituit, ebd.). Da Gott aber nicht nur die Idee von Dingen hat, sofern er die menschliche Seele konstituiert, sondern über diese Beschränkung auf die mensch­ liche Seele hinaus die Idee von unendlich vielen Dingen, ist die Erkenntnis der menschlichen Seele notwendig inadäquat. Denn die menschliche Seele nimmt ein Ding in einer Weise wahr, in der sie die Beziehungen, in der dieses Ding zu unendlich vielen anderen Dingen steht, mehr oder minder unberücksichtigt läßt, Beziehungen, die, dem unendlichen Verstand Gottes unmittelbar präsent, jedes einzelne Ding hinsichtlich von essentia und existentia erst adäquat bestimmen. Die faktische je bestimmte Beschränkung der menschlichen Seele ist jedoch nicht aus ihrem Bezug zur göttlichen Substanz erklärbar, sondern aus der Struktur des Gegenstandes der Erkenntnis. Diesen Gegenstand nennt Spinoza Körper, der ein je bestimmter Modus des Attributes Ausdehnung ist (II, prop. 13). Metaphysik als Ethik  |  15

Seine Struktur wird in einer Abfolge von Axiomen, Hilfssätzen und Postulaten angegeben (im Anschluß an II, prop. 13), d. h. im Aufgreifen von Sachverhalten, die aus der Realdefinition der göttlichen Substanz nicht deduzierbar sind. Hauptergebnis dieser Darlegungen ist der Tatbestand, daß der menschliche Körper komplex ist, d. h. »aus sehr vielen Individuen (von verschiedener Natur) zusammengesetzt« (post. 1), die ihrerseits von äußeren Körpern in verschiedener Weise affiziert werden (post. 3), so daß der menschliche Körper für die eigene Erhaltung sehr vieler anderer Körper bedarf und ohne diese nicht sein kann (post. 4). Dieser Komplexheit des Körpers korreliert die Komplexheit der Vorstellung (idea) des Körpers in der menschlichen Seele (II, prop. 15). Sie bringt es mit sich, daß die endliche Seele, die auf Grund ihrer eigenen Begrenztheit das Gefüge des Aufeinanderwirkens der Körper nicht durchschaut, sich im Zusammenfügen und Verbinden der zahlreichen Teilideen zur Idee des vorzustellenden Körpers von körperlichen Eindrücken leiten läßt, die nicht objektiv sind, sondern relativ auf die je besondere subjektive Begrenztheit. Daraus folgt, »daß die Ideen, die wir von äußeren Körpern haben, mehr den Zustand unseres Körpers als die Natur der äußeren Körper anzeigen« (II, prop. 16, coroll. 2). Sie sind Ausdruck unserer eigenen Begrenztheit, unserer Vormeinungen und Vorurteile (vgl. Anhang zum 1. Teil). Die menschliche Seele ist dabei in der Erkenntnisform der imaginatio befangen, die bloße Meinung darbietet. Die so der imaginatio folgende menschliche Seele ist aber nicht privativ zum unendlichen Verstand Gottes gedacht, mag ihr Defizit im Erkennen sich auch aus einem Zurückbleiben hinter dem, was der unendliche Verstand vermag, ergeben. Der Bezug der erkennenden Seele auf eine Körperwelt, durch die sie gemäß ihrer eigenen Begrenztheit in bestimmter Weise affiziert wird, ist in dieser Bestimmtheit selber kontingent. Der der imaginatio ausgesetzte Mensch ist auf ein je besonderes Einzelnes gerichtet, das er gerade nicht als Modus des Absoluten faßt. Er steht dabei aber in einer Differenz zum Absoluten, in der jeder Bezug zum Absoluten aufgehoben ist. Das von ihm thematisierte Zufällige ist ein schlechthin Unwahres. Die menschliche Seele reflektiert in der imaginatio ihr eigenes Können nicht auf ein mögliches Absolutes hin, sondern bleibt in der Unmittelbarkeit eines jeweiligen Affiziertseins befangen. Die Erkenntnisform, die die 16  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Mängel der imaginatio beseitigt, transzendiert diese Unmittelbarkeit und bringt darin ein über die Zufälligkeit des Affizierens Hinausgehendes in den Blick. Sie tut es aber um den Preis, daß sie dabei Einzelnes nicht erfassen kann. Es ist die Erkenntnisform der ratio, die auf das Allgemeine geht. Gegen ein Bestimmtwerden durch die zufällige Begegnung (fortuito occurso) der Dinge, von der sich die imaginatio leiten läßt, d. h. gegen ein Bestimmtwerden von außen (externa), wendet sie die Betrachtung von innen (interna), d. h. eine Reflexion, die mehrere Dinge auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin miteinander vergleicht (vgl. II, prop. 29, schol.). Die ratio liefert adäquate Erkenntnis, weil sie ihre Allgemeinbegriffe (notiones communes) nicht durch Abstraktion aus den Vorstellungswelten (imagines) der zufälligen Erfahrung gewinnt, sondern auf Grund einer Einsicht, die schon weiß, daß die Abläufe in der Körperwelt nicht so sind, wie die Seele sie im Medium sinnlicher Eindrücke wahrnimmt, sondern kraft einer Bestimmtheit geschehen, die aus der Notwendigkeit der absoluten Substanz resultiert. Die menschliche Seele hat mittels der Vernunft »eine adäquate Erkenntnis der ewigen und unendlichen Essenz Gottes« (II, prop. 47), die abstrakt und allgemein ist, d. h. nicht auch schon erkennt, wie die Mannigfaltigkeit des Seienden im Absoluten gründet. Aus dieser Erkenntnis folgt die Ableitbarkeit sehr vieler adäquater Erkenntnisse (ebd., schol.), nämlich hinsichtlich der Dinge die Erkenntnis allgemeiner Bestimmungen, die den Dingen gemeinsam sind auf Grund ihres einheitlichen Bezogenseins auf das Absolute. Scheitert die imaginatio bei ihrem Bilden von Allgemeinbegriffen daran, daß sie die Fülle der Unterschiede der einzelnen Dinge nicht zu fassen vermag und deshalb zu einer auf verkürzender Vereinseitigung beruhenden Begriffsbildung gelangt (II, prop. 40, schol. 1), so versucht die ratio nicht eine Verfeinerung der Unterscheidungskraft hinsichtlich der Mannigfaltigkeit, um zur Adäquatheit zu gelangen. Adäquate Erkenntnis erlangt sie vielmehr so, daß sie von der übergroßen Mannigfaltigkeit einzelner Dinge absieht und nur auf eine Gemeinsamkeit gerichtet ist, die im Absoluten ihren Grund hat und von der Mannigfaltigkeit des Besonderen nicht in Frage gestellt werden kann. Die Natur des Einzeldinges bleibt ihr verschlossen, denn »was allen Dingen gemein … ist, macht nicht die Essenz eines Einzeldinges aus« (II, prop. 37). Weil einerseits die Metaphysik als Ethik  |  17

imaginatio zwar sinnlich-Einzelnes erfaßt, darin aber nicht über sich hinaus auf das Absolute verweist, und andererseits die ratio zwar auf das Absolute geht, dies aber in abstrakter Weise, durch die kein Einzelnes erkannt wird, ist im Bereich der theoretischen Philosophie mit den Erkenntnisformen imaginatio und ratio ein Bezug zwischen Absolutem und endlich-Einzelnem nicht herzustellen. Neben imaginatio und ratio nennt Spinoza noch eine dritte Erkenntnisform, die scientia intuitiva (II, prop. 40, schol. 2), der der Mangel der ratio nicht anhaftet, sofern ihr die adäquate Erkenntnis der Essenz der einzelnen Dinge gelingt. Doch bleibt innerhalb der Darlegungen der theoretischen Philosophie im 2. Buch der Ethik die Möglichkeit dieser Erkenntnisform unausgewiesen, insbesondere, wie diese Erkenntnis der endlichen menschlichen Seele möglich sein soll. Spinoza behauptet zwar, daß es einen Übergang von der ratio zur scientia intuitiva gebe, aber gerade die Möglichkeit dieses Überganges bleibt unausgewiesen. In der schon zitierten Anmerkung zum Lehrsatz 47 des 2. Teils heißt es, wir könnten, dadurch daß wir aus der adäquaten Erkenntnis der Essenz Gottes sehr viele adäquate Erkenntnisse abzuleiten imstande sind, »jene dritte Erkenntnisgattung bilden«. Solange aber nicht gezeigt ist, wie die ratio, die jenen Fortgang zu einer Vielfalt von Erkenntnissen realisiert, in dieser Ausbreitung auch einen sich ausbreitenden Bezug zu den einzelnen Dingen in deren Einzelheit herzustellen vermag, ist nicht einzusehen, wie in ihr ein Fortschreiten (procedere, II, prop. 40, schol. 2) zu einer vernünftigen Erkenntnis, die zugleich Einzelnes anschaut, möglich sein soll. Nun nimmt Spinoza in der eingangs zitierten Anmerkung zum Lehrsatz 36 des 5. Teils, in der von der zu erweisenden Abhängigkeit des Einzelnen vom Absoluten die Rede ist, auf diese Erkenntnisform der scientia intuitiva Bezug. Doch ist es bezeichnend, daß sie nicht im Anschluß an die Theorie der ratio, sondern erst nach Behandlung der Affektenlehre erörtert wird. Im 3. Teil der Ethik, der einer Theorie der Affekte gewidmet ist, erst führt Spinoza in eine Dimension, die der theoretischen Philosophie des 2. Teiles verschlossen geblieben ist und die geeignet sein könnte, das zentrale Problem der Metaphysik des Absoluten, die Frage nach dem Verhältnis von Absolutem und endlich-Ein18  |  I. Ontologie und Subjektivität 

zelnem, einer Lösung zuzuführen. Spinoza gibt eine Theorie des Handelns unter der Grundbestimmung, daß Handeln ein Affekt ist. Handeln als Merkmal eines endlichen Wesens, das eigens zum Handeln sich bestimmen muß, also nicht schon ein Unbedingtes ist, ist Ausdruck eines Sichvervollkommnens, das die Richtung auf das, das Vollkommenheit garantiert, das Absolute, nimmt und dabei gegen ein Leiden angeht, auf das es stets bezogen bleibt, weshalb das ihm zugrundeliegende Handeln selber ein Affekt ist, der in der Sphäre der Endlichkeit seinen Ort hat. Gewiß werden Handeln und Leiden durch Bestimmungen definiert, die der theoretischen Philosophie entnommen sind, nämlich die von Adäquatheit und Inadäquatheit. Die Seele handelt, sofern sie adäquate Ideen hat, sie leidet, sofern sie inadäquate Ideen hat (II, prop. 1). Sie handelt, sofern sie sich von dem Körper nicht so affizieren läßt, daß sie sich auf Grund vordergründiger Eindrücke zu einem Urteil verleiten läßt, das notwendig inadäquat ist, sofern sie vielmehr gegenüber dem sinnlichen Andrängen frei ist und sich als adäquaten Erkenntnisgrund dessen, was in der Körperwelt geschieht, weiß. Die in der ratio gründende adäquate Erkenntnis in der Form, wie sie im 2. Teil dargelegt wird, wird dort von Spinoza freilich nicht als Handeln bezeichnet. Er führt den Begriff des Handelns erst zu Beginn des 3. Teils ein, in dem Moment, da er zu zeigen unternimmt, wie, über die Beziehungslosigkeit von ratio und imaginatio hinaus, der adäquaten Erkenntnis ein Bezug zur inadäquaten Erkenntnis möglich ist. Eine solche Erkenntnis kann als Handeln bezeichnet werden, insofern sie den Widerstand der verworrenen Erkenntnis bricht, insofern sich in ihr also ein Angehen gegen mögliches Leiden manifestiert, in bezug auf das das Erkennen Handeln ist. Der 3. Teil kann eine Theorie des Handelns geben, weil in ihm die Möglichkeit einer Verbindung zwischen klarer und unklarer Erkenntnis erörtert wird. Wollte man passio und actio den Erkenntnisformen imaginatio und ratio zuordnen4 , würde man die Beziehungslosigkeit von imaginatio und ratio auf die Theorie der Affekte übertragen und darin die Möglichkeit des Handelns inner­ 4  G.

Jung, Die Affektenlehre Spinozas, Kantstudien 32 (1927), 85–150: 110, eine im übrigen immer noch lesenswerte Abhandlung. Metaphysik als Ethik  |  19

halb eines Gefüges inadäquater Affekte unverständlich machen. Die als Handeln bestimmte Adäquatheit ist stets relativ auf eine zu beseitigende Inadäquatheit, und Inadäquatheit ist nur zu beseitigen durch eine Adäquatheit, die potentiell stets Inadäquatheit ist. Erst auf Grund dieses Zusammenhanges kann eine Theorie des Strebens (conatus) entwickelt werden (III, prop. 6 ff.), die in die Beziehungslosigkeit von ratio und imaginatio im theoretischen Felde eine Dynamik hineinbringt. Streben ist Streben nach Selbsterhaltung (in suo esse perseverare, III, prop. 6), und zwar ein Streben, das sich ausdrücklich gegen ein Zerstörtwerden durch äußere Dinge (III, prop. 4) wendet 5. Zerstört werden durch äußere Dinge kann die menschliche Seele aber nur dann, wenn sie das ihr Äußere für ein ihr Fremdes hält, wenn sie also nicht erkannt hat, daß es gar kein Ding gibt, das von einer ihr entgegengesetzten Natur (III, prop. 5) ist, daß vielmehr in der körperlichen Welt ein durchgängiger Zusammenhang herrscht, weil die Dinge Modifikationen des Absoluten sind und darin, aufs Ganze gesehen, nicht ein Ding das andere zerstören kann. Es ist eine Form inadäquater Einsicht, die die Möglichkeit von Zerstörung zur Folge hat und in eins damit die endliche Seele unter die Bestimmung des auf Erhaltung gehenden conatus stellt. Diese Zerstörung ist kein Schein so wie das, was Gegenstand der inadäquaten Erkenntnis ist, scheinhaft ist; sie stellt sich vielmehr faktisch ein, wenn die in der imaginatio befangene Seele sich von andrängenden Eindrücken so hinreißen läßt, daß sie ihr eigenes Selbst gegenüber dem, was ihr begegnet, verliert. Da nun alle Dinge ihrem Wesen nach auf die eine Substanz bezogen sind, ist das Vernichtung abwehrende Streben Wesensmerkmal jedes endlichen Dinges (III, prop. 7). Es ist die natürliche Tendenz jedes Dinges und damit der Seele auch dann, wenn sie inadäquate Ideen hat (III, prop. 9). Diese Tendenz äußert sich jedoch in je verschiedener Weise, je nachdem, in welcher Weise es die Seele vermag, zu adäquaten Ideen zu gelangen, und darin die Kraft des Wirkens nach außen vergrößern kann. Gemäß der Endlichkeit 5  Über

den Zusammenhang von endlicher Singularität, Körperwelt und conatus vgl. A. Matheron, Individu et communauté chez Spinoza, Paris 1969, 1. Teil. Diese Arbeit enthält die ausführlichste Würdigung der Affektenlehre Spinozas. 20  |  I. Ontologie und Subjektivität 

der strebenden Seele ist dieses Streben unabschließbar; es schließt keine endliche, sondern eine unbestimmte Zeit in sich (III, prop. 8). Streben ist Angehen gegen Inadäquatheit in einem Akt, der sich möglicher Inadäquatheit nie vollständig entziehen kann. Dieser Zusammenhang erlaubt es, die beiden Grundaffekte, Freude (laetitia) und Trauer (tristitia), als Übergang des Menschen von geringerer zu größerer Vollkommenheit bzw. umgekehrt zu definieren (III, aff. def. 2 und 3), als einen Übergang, der einen wirklichen Prozeß darstellt und unter dem Affekt der Freude ein Sichvervollkommnen der endlichen Seele ist, das einen Bezug der Endlichkeit auf das Prinzip der Vollkommenheit darlegt. Vollkommenheit und ihr Gegenteil Unvollkommenheit können deshalb nicht nur als modi des Denkens (IV, praef.) verstanden werden, in denen wir uns auf Grund unserer Begrenztheit Bestimmungen einbilden, die wir den Dingen zusprechen, die ihnen als Modifikationen der in sich bleibenden Substanz in Wahrheit aber gar nicht zukommen; sie sind nicht nur Ausdruck unserer Vorurteile. Sie sind vielmehr Begriffe, mit denen ein realer Vorgang beschrieben werden kann, nämlich der, in dem der Mensch sich dem, was er sein kann, seinem Musterbild (exemplar), mehr oder minder nähert. »Homines perfectiores aut imperfectiores dicemus, quatenus ad hoc idem exemplar magis aut minus accedunt« (IV, praef.). Das exemplar, in dem sich die Idee des Menschen erfüllt, ist zwar die Idee eines Menschen, der auf Grund adäquater Erkenntnis der Zusammenhänge der Dinge nicht zu einem Urteil veranlaßt wird, das sich auf isolierte Aspekte des universellen Zusammenhanges stützt. Daß aber eine Weise der Annäherung an diese Idee dem endlichen und darin ständig der Inadäquatheit ausgesetzten Wesen möglich ist, hat seinen Grund nicht in einer Form theoretischen Erkennens, sondern praktischen Tuns, nämlich im Prozeß des Angehens gegen Affekte, in dem sich das endliche Subjekt aus der Abhängigkeit des unmittelbaren Eingenommen-seins durch je bestimmte Eindrücke mehr oder minder befreit und in diesem Akt der Befreiung einen Übergang zu größerer Vollkommenheit realisiert. Die Grade der Vollkommenheit, die das Subjekt zu erreichen imstande ist, können nicht bloß vorurteilshafter Schein sein, denn dann wäre die Differenz der Grundaffekte Freude und Trauer, die im Mehr und Minder von Vollkommenheit ihren Metaphysik als Ethik  |  21

Grund hat, selber bloßer Schein und damit die ganze Affektenlehre sinnlos. Soll das Sichvervollkommnen nicht bloßer Schein sein, muß in der Bewegung auf das Prinzip der Vollkommenheit, die absolute Substanz, hin ein Sichfortbewegen über Momente sichtbar sein, die sich so von der absoluten Substanz unterscheiden, daß sie nicht bloße Modifikationen von ihr sind und darin schon deren Notwendigkeit unterliegen. Es ist bezeichnend, daß Spinoza erst innerhalb der Affektenlehre den Begriff der Möglichkeit einführt. In Ethik I, ausdrücklich gemacht in der 1. Anmerkung zum 33. Lehrsatz, fällt dieser Begriff mit dem der Zufälligkeit zusammen. Potentialität, die die Möglichkeit der Veränderung von etwas impliziert, ist hier nichts anderes als Ausfluß menschlichen Irrtums, der auf Grund unzureichender Erkenntnis dem Menschen etwas zuspricht, was ihm in Wahrheit gar nicht zukommt. In der Definition  4 des 4. Teils erhält der Möglichkeitsbegriff jedoch eine positive Bestimmung, nämlich innerhalb des Relationsgefüges einer Vielzahl von Affekten das Moment der Unbestimmtheit eines bestimmten Affektes hinsichtlich seines Hervorgerufenseins durch einen anderen Affekt auszudrücken und damit das der Veränderbarkeit eines Affektes durch einen anderen. In eins damit erhält der Begriff der Zufälligkeit eine positive Bedeutung. Er ist zwar auch in der Affektenlehre durch das negative Merkmal charakterisiert, daß der Grund für das Sosein des Dinges, das zufällig genannt wird, nicht gewußt wird, doch ist hier dieses Nichtwissen die Bedingung, unter der Affekte als reale Ereignisse auftreten können (vgl. III, prop. 15 und 50). Daß jedes Ding durch Zufall Ursache eines Affektes sein kann, das bedeutet, daß eine Theorie der Affekte nicht auf die Kenntnis der wahren Ursachen der einzelnen Affekte aus sein darf, denn die Wahrheit des Zusammenhanges, in dem ein Subjekt Affekte erleidet, d. h. er sub specie aeternitatis betrachtet, macht das Auftreten von Affekten gerade unverständlich und damit zugleich das, was dem endlichen Subjekt wesentlich ist. Es gehört zum Wesen des Affektes, daß er nicht auf die wahre Natur des Dinges, das von dem Subjekt in der Weise eines Affiziertwerdens erfaßt wird, bezogen werden kann. Denn die Wahrheit der Dinge, d. h. das Verständnis ihrer als notwendiger Modifikationen der einen Substanz, läßt gerade keinen Platz für 22  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Affekte. Das zufällige Auftreten von Affekten ist Voraussetzung dafür, daß sich das Subjekt in einer Weise zu ihnen verhalten kann, in der es sich in Freiheit von deren Zwang schrittweise befreit und darin eine Richtung nimmt, die im Angehen gegen Bedingtes auf das Unbedingte verweist. Ohne diese Voraussetzung, derzufolge der einzelne Affekt nicht bloß privativ von der einen Substanz her gesehen wird, wäre der Anspruch, im Verändern von Affekten einen Spielraum möglichen freien Sichverhaltens zu haben, bloße Illusion. Der 1. Lehrsatz des 4. Teils der Ethik, mit dem die Theorie des Sichverhaltens gegenüber den Affekten einsetzt, lautet deshalb: »Von dem, was eine falsche Idee an Positivem enthält, wird durch die Gegenwart des Wahren, sofern es wahr ist, nichts aufgehoben.« Der Affekt, der eine falsche Idee darstellt, sofern er Leiden und darin Inadäquatheit ausdrückt, enthält gleichwohl eine Positivität, die durch die Wahrheit der adäquaten Idee Gottes nicht negiert werden kann. Damit ist die Struktur gewonnen, die gesucht worden ist: ein Endliches so in Relation zum Unendlichen zu bringen, daß es kraft dieses Bezuges in seiner Endlichkeit nicht auch schon aufgehoben wird. Befreiung von den Affekten und damit eine mögliche Negierung des Leidens kann deshalb auch nur bedeuten: einen Affekt gegen den anderen zu setzen (vgl. IV, prop. 7), und nicht: sich aus der Sphäre der Affizierbarkeit lösen zu wollen (vgl. IV, prop. 14). Jenseits aller Affektivität, im Felde der wahren Erkenntnis, die alle Inadäquatheit ausgeschlossen hat, können Affekte nicht gehemmt werden; denn das, worauf sich diese Erkenntnis bezieht, ist das Wahre, das wahr durch den Bezug auf die göttliche Substanz ist. Von ihr ist nicht einzusehen, wieso sie etwas hemmen sollte; sie müßte sich selber hemmen, was in sich widerspruchsvoll ist. Die wahre Erkenntnis kann nur hemmen, sofern sie selber als Affekt angesehen wird (IV, prop. 14), d. h. in der Bedingtheit von Freude und Trauer, deren sich der Mensch bewußt wird, wenn er einen Übergang zu größerer bzw. minderer Vollkommenheit realisiert, also gerade nicht sofern sie wahr ist in dem Sinne, daß der Begriff der Wahrheit den der Unbedingtheit schon in Anspruch nimmt. Im Hinblick auf das wechselseitige Sichhemmen der Affekte stellt sich die Frage nach dem Kriterium für die Hierarchie der Affekte, ein Kriterium, das dem faktischen Sichbekunden von Metaphysik als Ethik  |  23

Affekten offenbar vorgängig sein muß, wenn das Subjekt einen Affekt gegen den anderen soll setzen können und das nicht in bloßer Beliebigkeit, sondern in einer Weise, in der es sich vervollkommnet. Der Affekt der Freude zeigt zwar einen solchen Fortschritt auf größere Vollkommenheit hin an, aber nachträglich, als das Resultat einer bestimmten Affektenkombination, das sich einstellt, wenn bestimmte Affekte so zusammengewirkt haben, daß sie die Vollkommenheit des Menschen befördern. Wie das Subjekt aber dieses Zusammenwirken steuern kann, ist vom Affekt der Freude her nicht ersichtlich. Hier erhält nun der neben Freude und Trauer dritte Grundaffekt, die Begierde (cupiditas), eine Funktion. Als bloßer Affekt ist sie nicht einheitlich bestimmt, sondern Ausdruck dafür, daß das Subjekt etwas zu tun bestimmt wird durch eine Affektion, wie geartet diese auch sein mag (IV, aff. def. 1). Die Begierde ist Ausdruck subjektiven Sichverhaltens im Hinblick auf Affektionen, sie als solche gibt aber nicht die Richtung an, durch die Affekte über die Beliebigkeit ihres Auftretens hinaus einander entgegengesetzt und darin in der Macht ihres Affizierens eingeschränkt werden können. Die Begierde muß die Kraft des Vorziehens haben. Geleitet werden kann sie dabei freilich nicht durch die zu bevorzugende Qualität bestimmter Objekte, das implizierte einen teleologischen Bezug, der im Feld der Vorurteile zu Hause ist. Geleitet wird sie vielmehr von der Vernunft, die zu der Einsicht gelangt ist, daß das Subjekt dann Affekten erliegt, wenn es durch etwas von außen beeinflußt wird. Außen im Gegensatz zum Inneren des Subjekts ist aber all das, von dem das Subjekt nicht erkannt hat, in welcher Weise es mit dem Subjekt zusammenhängt. Die von der Vernunft geleitete Begierde wird daher danach streben, solches zu tun, das allein aus der Natur des Subjekts folgt. Der dieser Begierde folgende Mensch handelt aus Tugend (IV, def. 8). »Wahre Tugend ist nichts anderes als allein nach der Leitung der Vernunft leben, und daher besteht die Ohnmacht allein darin, daß der Mensch sich von den Dingen außer ihm leiten läßt und von ihnen bestimmt wird, das zu tun, was der gemeinsame Zustand der äußeren Dinge verlangt, und nicht das, was seine eigene Natur, für sich allein betrachtet, fordert« (IV, prop. 37, schol. 1).Tugend ist somit wesentlich Erkenntnis (IV, prop. 23), und das aus ihr hervorgehende Streben ist nichts anderes als Erkennen (IV, prop. 26), denn seiner eigenen 24  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Natur folgen, heißt bloße inadäquate Meinung ausschließen, die das Verhältnis der äußeren Welt zu uns selber in einer uns verwirrenden Weise wahrheitsferner Verworrenheit erscheinen läßt. Der Mensch, der seiner eigenen Natur folgt, kann dabei aber, sofern er ein endliches Wesen ist, nie davon absehen, daß er durch Äußeres bestimmt wird, das er nicht einzusehen vermag und deshalb nicht in seine Gewalt bekommen kann. Da »wir nur ein Teil der ganzen Natur sind, deren Ordnung wir folgen«, wird unsere Kraft »von der Kraft der äußeren Ursachen unendlich übertroffen« (IV, caput 32). Die als Tugend auftretende Einsicht bleibt ein Affekt, denn sie ist stets bezogen auf ein mögliches Außerhalb, über dessen Macht sie nie vollständig Rechenschaft geben kann. Bliebe die menschliche Seele bei sich selber und würde nichts als sich selber erkennen, wäre sie nicht vollkommen (IV, prop. 18, schol.), denn sie würde durch die Negation des Außen nur die eigene Begrenztheit verabsolutieren und das, was der Seele möglich ist, zugunsten der Faktizität des jeweiligen Zustandes verkürzen. Derjenige Mensch ist Herr über seine Affekte und darin ein freier Mensch (vgl. IV, prop. 66, schol.), der sich von ihnen nicht so einnehmen läßt, daß diese sein eigenes Sein zerstören, der vielmehr das, was affizierend wirkt, so auf sich bezieht, daß es ihm förderlich ist und seinem eigenen Nutzen dient. Darin steht der freie Mensch mit der Theorie der absoluten Substanz in Einklang; denn er läßt sich von der Einsicht leiten, daß so wie die menschliche Seele nur ein Teil der unendlichen Substanz ist, auch all das, was außerhalb von ihr liegt, Teil dieser Substanz ist und darin eine Zusammengehörigkeit beider besteht, die im Hinblick auf je bestimmte Affekte sich zu verdeutlichen die Intention der strebenden Seele ist. Die dergestalt strebende Seele vervollkommnet sich, sofern sie im konkreten Vollzug eines Angehens gegen Affekte jene Widerständigkeit bricht, die den Anschein erweckt, als gäbe es im Bereich des Endlichen einen absoluten Widerstreit, der ausschlösse, daß alles endlich Seiende modus der absoluten Substanz ist. In der Theorie des Sichverhaltens gegenüber den Affekten, in der philosophischen Ethik also, ist jener im 1. Teil der Ethik dargelegte Bezug zwischen Absolutem und endlich-Einzelnem vom endlich-Einzelnen her demonstrierbar. Nun ist gewiß nicht zu leugnen, daß im Fortgang der Ethik auf den 5. Teil hin die Tendenz sichtbar wird, jenes Gebundensein der Metaphysik als Ethik  |  25

endlichen Seele an Affekte, wenn sie gegen die Affekte angeht, auch noch zu beseitigen und die Befreiung von den Affekten in einem Zustand gipfeln zu lassen, der jenseits aller Affektivität liegt. Und es ist auch deutlich, daß diese Tendenz in der Exposition des Affektengefüges, wie es im 3. und 4. Teil dargelegt wird, schon gelegen ist. Es ist die Zweideutigkeit im Begriff der Erhaltung (conservatio), auf die der Grundaffekt der Begierde, der das Moment der Veränderbarkeit im Übergang von einem Affekt zum anderen ausdrückt, wesentlich gerichtet ist (IV, prop. 22, coroll.). In dieser paradoxen Struktur, daß der Trieb nach Veränderung auf eine Erhaltung geht, liegt zweierlei. Einmal wird ein Außerhalb des Subjekts, auf das sich das Subjekt hin entwickeln müßte, negiert. Im Felde des Bewußtseins (und Begierde wird von Spinoza als Trieb mit dem Bewußtsein des Triebes definiert (III, prop. 9, schol.) ist es insbesondere die Negation von Zweck, von jeglichem Umwillen, im Hinblick auf das gehandelt werden müßte. Die Annahme eines solchen Zweckes ist nichts als ein Vorurteil, das aus mangelnder Einsicht resultiert. So kann die Begierde des Menschen als Tätigkeit bestimmt werden, nämlich als Angehen gegen Vorurteile, die den wesentlichen Zusammenhang, in dem der Mensch existiert, verstellen. Doch ist Abbau von Vorurteilen eine negative Bestimmung, nämlich Abbau der Unwahrheit dessen, was eigentlich ist. Und so liegt in Erhaltung das zweite Moment: bloßes Bewahren dessen, was ist, weil in diesem schon alle Vollkommenheit gelegen ist; es ist zu bewahren gegen die Verstellung durch Unwahrheit, die ihrerseits im Standpunkt der Endlichkeit wurzelt. Bewahren heißt dann aber Negation aller Aktivität, die Ausdruck der Endlichkeit ist, und Selbstaufgabe der Endlichkeit zugunsten eines Aufgehens im Unendlichen, ein paradoxes Moment, sofern die Selbstaufgabe immer noch die Leistung eines Selbst, das die Aufgabe vollzieht, impliziert6 . Dann ist der Gedanke eines Sichvervollkommnens der end­ lichen Seele selber Illusion, und dann ist es nur konsequent, wenn Spinoza die Affektenlehre in einem Affekt gipfeln läßt, der schon 6 

So deutet Schelling, Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus, in: Schellings Werke, nach d. Orig.-Ausg. in neuer Anordnung hrsg. von Manfred Schröter, Bd. I, München 1927, 240. 26  |  I. Ontologie und Subjektivität 

keiner mehr ist und in dessen Zustand der Mensch der Bestimmung enthoben ist, einen Übergang zu größerer Vollkommenheit erst realisieren zu müssen. Der amor intellectualis Dei, in welcher geistigen Liebe zu Gott jene subjektive Haltung absoluter Freiheit erreicht ist, in der aller von Partikularitäten ausgehender Zwang überwunden ist, ist gleichermaßen die Liebe Gottes selbst, also eine unendliche Liebe, mit der Gott sich selbst liebt (V, prop. 36). In ihr ist die Besonderheit des Menschen, die zu sichern die Theorie des Affektengefüges diente, verschwunden. Spinoza kann die These von der Vervollkommnung des Menschen in der geistigen Liebe zu Gott nur so aufrechterhalten, daß er die geistige Liebe als eine Steigerung gegenüber dem Affekt der Freude ansieht (V, prop. 33, schol.), doch ist dies nach Spinozas eigenem Eingeständnis eine »Fiktion« (ebd.), eine uneigentliche Sprechweise, die sich auf den Gang der philosophischen Darlegung bezieht, nicht jedoch auf die dargelegte Sache, denn die Ewigkeit der Seele, die die Voraussetzung für den amor intellectualis ist, impliziert, daß die Seele alle ihr zukommenden Bestimmungen immer schon hat und nicht erst erlangt7. So bleibt Spinoza am Ende, um die Aktivität der Seele als Ausdruck einer Steigerung auf größere Vollkommenheit hin verständlich machen zu können, nur die dubiose Unterscheidung zwischen zwei Seelenteilen, von denen der eine unsterblich weil ewig, der andere sterblich weil körperbezogen ist (V, prop. 23), die es erlauben könnte, dem einen Teil eine größere Vollkommenheit als dem anderen beizulegen (V, prop. 40, coroll.). Doch kann diese Unterscheidung den möglichen Bezug zwischen den Seelenteilen gerade nicht verständlich machen und damit auch nicht den möglichen Bezug zwischen Unendlichem und Endlichem. Ethik ist zur Metaphysik des Unendlichen geworden und hat das Moment des Handelns der reinen Kontemplation geopfert. Die Metaphysik des Absoluten ist am Ende wieder bei sich selber und nicht beim Endlichen, von dem behauptet worden ist, es in der Dif7 

Hinsichtlich eines zeitlichen Momentes der der ewigen Seele möglichen dritten Erkenntnisgattung vgl. hingegen A. Matheron, Individu et communauté chez Spinoza, a. a. O., 580 ff. Eine Auseinandersetzung mit der dortigen These ist hier leider nicht möglich. Metaphysik als Ethik  |  27

ferenz zum Absoluten gründe im Absoluten. Jene dritte Erkenntnisgattung, die in der Vernunft das Einzelne erfassende scientia intuitiva, die innerhalb der Theorie des Erkenntnisvermögens der von der absoluten Substanz abhängenden endlichen Seele in ihrer Möglichkeit unerörtert geblieben ist, wird am Ende der Ethik in bezug auf die Seele, die ewig ist (V, prop. 31), neu erörtert, also auf einer Ebene, die nicht die der im 2. Teil abgehandelten Erkenntnisvermögen ist, und auch ohne Vermittlung durch die Form subjektiver Endlichkeit, die in der Theorie der Affekte vorstellig gemacht worden ist. Die mit der intuitiven Erkenntnis verbundene Liebe behält von dem in der Affektenlehre aufgezeigten Bezug der Seele auf Einzelnes nichts zurück. Wenn zu Beginn des 5. Teils der Ethik die mögliche Beherrschbarkeit der Affekte durch den Hinweis darauf eingeleitet wird, daß sich von jedem Affekt ein klarer und deutlicher Begriff bilden lasse (V, prop. 4), so bezieht sich Spinoza darauf, daß alle menschlichen Affektionen ihren Grund im conatus der menschlichen Seele haben (V, prop. 4, coroll.), der als allgemeiner Begriff seinerseits aus dem modus-Charakter aller endlichen Dinge erkannt werden kann. Aber dieser gemeinsame Grund erklärt in seiner Abstraktheit nicht die Differenz der verschiedenen Affekte untereinander, so daß der Bezug der Affekte auf die Idee Gottes, der eine wahre Erkenntnis von ihnen soll ermöglichen können, gerade nicht die Besonderheit der Affektion verständlich macht. Die intuitive Erkenntnis, die über diese Abstraktheit hinaus will, sofern sie auf Einzelnes geht, hat als Bedingung ihrer Möglichkeit die absolute Substanz, in der die Seele aufgegangen ist, schon zur Voraussetzung. Von dieser Voraussetzung her ist alles endlich-Einzelne schon vermittelt, aber gerade nicht als endlich-Einzelnes 8 . So kann im amor intellectualis Dei nicht mehr geleistet werden, als im Anfang der Ethik schon offenbar ist. Daß sich auf ihn jener an8 

B. Rousset, La perspective finale de »l’Éthique« et le problème de la cohérence du Spinozisme, Paris 1968, der die Kohärenz der intuitiven Erkenntnis mit der rationalen Theorie Spinozas nachzuweisen unternimmt, kann die Leistungsfähigkeit dieser Erkenntnisform nur um den Preis erhalten, daß er meint, sie sei gar nicht auf die Erkenntnis der Einzeldinge in deren Besonderheit gerichtet, sondern nur auf die Erkenntnis ihrer als modi (110), setze also bei den Einzeldingen eine durch den Bezug auf Gott gesetzte Gemeinsamkeit schon voraus. So auch schon A. Darbon, Études spinozistes, Paris 1946, 103. 28  |  I. Ontologie und Subjektivität 

dersgeartete Beweis, der die Abhängigkeit der Einzeldinge von der göttlichen Substanz aus der Essenz des Einzeldinges schließt, stützen könnte, scheint deshalb ausgeschlossen, obwohl Spinoza diese Überlegung in der Anmerkung zu einem Lehrsatz anstellt, die den amor intellectualis zum Gegenstand hat (V, prop. 36) und damit den Bezug zur scientia intuitiva enthält (vgl. V, prop. 33). Denn die andere Form des Abhängigkeitsbeweises entspringt einem Bedürfnis der endlichen Seele; sie kann sich nicht auf ein Können berufen, das der Seele nur zukommt, sofern sie kein Bedürfnis hat. Die im amor intellectualis als ewig gefaßte Seele ist darin des Bezuges auf den Körper enthoben (V, prop. 20, schol.). In dieser Form kann sie nicht modus sein, denn die Parallelität der Attribute verbietet eine Konzeption der Seele ohne einen ihr korrespondierenden Körper. Die vom Körper befreite Seele kann nur das Absolute selber sein. Daß in der Lehre vom amor intellectualis die Vermittlung zwischen Unendlichem und Endlichem gelinge9, ist deshalb nicht einsichtig. Der Beweis, der die Abhängigkeit des Einzelnen vom Absoluten am Einzelnen aufzeigen will, bleibt auf das verwiesen, was in der Theorie der Affekte dargelegt worden ist, auf die einzelne Seele, die aufgrund ihrer Endlichkeit Affekten ausgesetzt ist, deren Beherrschung einen Bezug der Seele auf das Absolute impliziert, aber so, daß dieser Bezug hergestellt werden muß in einem Sichverhalten zu Affekten, das selber einen Affekt darstellt. Diese Bewegung des Endlichen auf das Absolute hin ist ein Akt der Handlung und gründet nicht in einer Position der Seele, in der diese nicht mehr zu handeln braucht. Der Beweis der Unsterblichkeit der Seele verändert den in der Theorie der Affekte entwickelten Zusammenhang nicht; dieser ist vielmehr von jenem Beweis ganz unabhängig (V, prop. 41). Von diesem Problem der Vermittlung zwischen Endlichem und Absolutem her, das für eine Philosophie des Absoluten zentral ist, sich aber nur in einer Weise praktischen Handelns einer Lösung zuführen läßt, erhält der Titel »Ethik«, unter dem Spinoza seine 9 So

W. Janke, Tugend und Freiheit. Spinozas kontemplative Begründung der Ethik, in: P. Engelhardt (Hg.), Sein und Ethos. Untersuchungen zur Grundlegung der Ethik, Mainz 1963, 346. Metaphysik als Ethik  |  29

Philosophie des Absoluten abgehandelt hat, seine rechte Bedeutung. Für das Verhältnis von Metaphysik und Ethik eröffnet er eine Perspektive, derzufolge weder die Ethik nur einen Anwendungsbereich metaphysischer Prinzipien darstellt, noch die Metaphysik nur konzipiert wird, um das Fundament für eine auf ihr aufbauende Ethik zu legen, sondern derzufolge Metaphysik und Ethik sich wechselseitig bestimmen.

30  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Metaphysik und Ethik in Spinozas »Ethica« I.

Spinoza hat seine Metaphysik unter dem Titel Ethica veröffentlichen lassen und darin eine enge Verknüpfung zwischen Metaphysik, die eine Theorie der absoluten Substanz ist, und Ethik, die eine Theorie menschlichen Handelns ist, angezeigt. Das Werk beginnt, jedermann weiß es, mit Gott und endet mit dem Glück des Menschen. Nun ist der Mensch, in Spinozas Terminologie, ein Modus und gehört folglich zu dem unendlich vielen, das gemäß Lehrsatz 16 des 1. Teils der Ethica auf unendlich viele Weisen aus der göttlichen Substanz folgt. Zu Beginn ihres 2. Teils sagt Spinoza, daß er nicht alles, was dergestalt aus Gott folgt, behandeln werde – wie sollte er das auch können? –, sondern nur das, was ihn interessiert, und das ist das Sein des menschlichen Geistes und dessen höchstes Glück. Ihn interessiert der Mensch als ein erkennendes und handelndes Wesen. Meine These ist nun, daß dieses Interesse eine ursprüngliche Bedeutung für die Organisation des spinozanischen Systems hat und daß deshalb Metaphysik und Ethik eng miteinander verknüpft sind. Der Mensch ist, dem Anschein der Vorbemerkung im 2. Teil zum Trotz, nicht irgend etwas unter dem vielen, das aus der absoluten Substanz folgt. Der Modus Mensch ist nicht ein Fall von Modus überhaupt. Vielmehr ist es das Interesse am Menschen, das die Metaphysik der absoluten Substanz selber bestimmt, mit der Konsequenz, daß das Absolute auf den Menschen hin konzipiert ist. Für die Verhältnisbestimmung von Metaphysik und Ethik bedeutet das: Die Ethik basiert nicht auf einer ihr vorangehenden Metaphysik, die unabhängig von ihr bestünde. Sondern Probleme der Ethik, insbesondere die Möglichkeit vernünftigen menschlichen Handelns, sind es, die eine Metaphysik erforderlich machen und zugleich deren Konzept von sich aus bestimmen. Ich möchte diese These zunächst über eine Verhältnisbestimmung der Teile I und II von Spinozas Ethica begründen. Im sach  |  31

lichen Gang dieser Schrift, also nicht in der strategischen Reflexion auf ihn in den Anmerkungen, ist vom Gegenstand der Ethik, also vom Menschen, erstmals im Axiom 1 des 2. Teils die Rede. Im Teil 1, der von Gott handelt, kann von ihm nicht die Rede sein, weil dort überhaupt von keinem Inhalt die Rede sein kann. Aus Gott, aus dessen Macht alles folgt, folgt ebendeshalb nichts Bestimmtes. Der 1. Teil entfaltet allein Strukturen, die den Satz, daß alles, was ist, aus Gott folgt, beweisfähig machen. Die Elemente dieser Strukturtheorie sind die Terme Substanz, Attribut und Modus, deren Beziehungsgefüge entwickelt wird. Nur die Substanz, weil deren Einzigkeit bewiesen werden kann, erfährt eine inhaltliche Bestimmung, daß sie Gott ist, die aber leer bleibt, solange nicht die anderen Terme eine inhaltliche Füllung haben. Von ihnen, von denen es jeweils mehr als eines gibt, kann auf der Ebene der Struktur­ ontologie nur als von Attributen überhaupt und Modi überhaupt gesprochen werden, letztere gegliedert in zwei unendliche und unendlich viele endliche. Ihre inhaltliche Füllung bedarf der Empirie und damit eines aus der Substanz nicht Deduzierbaren. Erstmals thematisch ist die Empirie in den Axiomen des 2. Teils, die allesamt vom Menschen handeln. Der nicht beweisfähige Tatbestand, daß der Mensch denkt (II, ax. 2) und daß wir einen vielfach affizierten Körper empfinden (II, ax. 4), erlaubt erst eine inhaltliche Bestimmung von Attribut als Cogitatio und Extensio, die in dieser Inhaltlichkeit nicht aus Gott gewonnen werden kann, der ja weder denkt noch ausgedehnt ist. Die attributiven Bestimmungen Denken und Ausdehnung kommen ihm aber zu, wenn menschliches Denken und menschliche Körperverfassung, faktische Seinsweisen eines bestimmten Modus, sollen begreifbar gemacht werden können. Und es ist der nicht deduzierbare Tatbestand einer Dualität von Denken und Körperlichkeit, der zu der attributiven Gliederung Gottes führt, d. h. zu einer Komplexität gleichursprüng­licher Wesensbestimmungen.1 Ein einfaches in sich ungegliedertes Wesen könnte nicht Ursache des Seins einer komplexen Welt sein. Ein solches Wesen würde es insbesondere uns unmöglich machen, 1 

Nicht sind Geist und Körper verschieden, weil sie aus unterschiedlichen Attributen resultieren. Sondern weil sie verschieden sind, muß Gott, der sie hervorbringt, in verschiedene Attribute gegliedert sein. 32  |  I. Ontologie und Subjektivität 

diese Welt aus dem, was sie verursacht hat, auch zu begreifen.2 So wenig wie die Komplexität der Welt unter dem empirischen Aspekt menschlichen Denkens und menschlicher Körperlichkeit aus Gott, dieser für sich betrachtet, folgt, so wenig folgt aus ihm das menschliche Interesse an einer vernünftigen Weltorientierung, durch das sich der Modus Mensch von anderen Modi unterscheidet.3 Beides geht der Theorie Gottes voran. Dieses Interesse, eine humane Angelegenheit, die unabhängig von aller Metaphysik ist, führt zur Metaphysik, weil anders es nicht in angemessener Weise befriedigt werden kann. Wird Gott also im 1. Teil unabhängig von einer Analyse des Menschen bestimmt in einer vorgängigen Theorie, die die Perspektive auf uns nicht einnimmt, weil Gott selber eine solche Perspektive nicht hat, dann schließt das eine Funktionalität der dort entwickelten Struktur­ ontologie nicht aus. Sie kann als ein Konzept verstanden werden, das eine Theorie des menschlichen Seins unter dem spezifischen Aspekt der Ermöglichung eines adäquaten menschlichen Wissens von diesem Sein gibt. Denn es läßt sich zeigen, daß der Hinblick auf uns als erkennende Wesen es ist, der zu der spezifisch spinozanischen Theorie des Absoluten führt: daß das Absolute wesentlich potentia ist, d. h. eine hervorbringende Macht, die sich in dem Hervorgebrachten erfüllt. Ist das Absolute in ihm ganz präsent, behält es also gegenüber den Modi, seinen Produkten, keinen Rest zurück, dann ist es aus den Modi begreifbar, in denen die Macht ist, bar jeder Transzendenz. Die Theorie des Absoluten, gipfelnd in einer Theorie der immanenten Kausalität, ist funktional auf eine Theorie menschlichen Erkennens, die als Theorie vollständiger rationaler Einsicht durch die Theorie des Absoluten ermöglicht werden soll. Spinoza sagt es (E I, prop. 33, schol. 2) in aller Deutlichkeit: ein anderes Konzept Gottes wäre ein magnum scientiae obstaculum. Und dieser Sinn der Theorie des Absoluten impliziert, daß es endliche Modi gibt, gewiß ein Lehrsatz der Ontologie (I, prop. 25), der aber aus der Unendlichkeit Gottes nicht gewonnen werden kann, 2 

Grundlegend hierzu M. Gueroult, Spinoza I (Dieu), Paris 1968, Introduc-

tion. 3  Vgl. C. Troisfontaines, Dieu dans le premier livre de l Éthique, in: Revue philosophique de Louvain 72 (1974), 467–481. Metaphysik und Ethik in Spinozas »Ethica«  |  33

wenn in den Begriff Gottes nicht schon ein Hinblick eingegangen ist, nämlich auf den erkennenden Menschen, der ein singuläres endliches Wesen ist. Das Zusammen dieser beiden Momente ergibt: Ist die absolute Substanz eine sich erfüllende Kausalität, die in den Dingen (Modi) ist, dies aus der Struktur der Substanz erschlossen, und gibt es einzelne Dinge, dies aus dem Interesse des Menschen an vernünftiger Weltorientierung vorausgesetzt, dann ist die absolute Substanz im einzelnen Ding. Das heißt: es gibt im Singulären ein Essentielles, das aus der Substanz ist und das deshalb selber potentia ist. Und das gilt, von der Kausalität Gottes her gesehen, selbstverständlich für jedes Seiende, nicht nur für das humane.4 Der letzte Lehrsatz von Teil 1 (prop. 36) formuliert die hier entwickelte Konsequenz: »Nihil existit, ex cuius natura aliquis effectus non sequatur«. Aus der Natur jedes einzelnen folgt irgendeine Wirkung, weil sie selber potentia ist, ein aus sich heraus Tätiges. Unter Bedingungen der Zeitlichkeit hat Spinoza die potentia eines Singulären als conatus perseverandi bestimmt, der jedes Ding auf ein »in suo esse« bezogen sein läßt (E III, prop. 6). Das schließt aus, daß ein Singuläres nur Teil einer Totalität ist. Jedes ist vielmehr etwas an sich selbst, wenn auch nur innerhalb der Totalität, dem Ganzen dessen, was aus der Substanz folgt. So ist mit der Metaphysik der absoluten Substanz eine Theorie der Individualität verbunden, mit dem absoluten Sein ein bestimmtes Sein. Das bestimmte Sein, ein endlicher Modus, ist nicht ohne die Substanz, das ist die These der Metaphysik, die aber nicht auch schon die Bedingung enthält, daß ein endlicher Modus in seiner Bestimmtheit aus der Substanz folgt. Wenigstens zeigt Spinoza nirgendwo, daß dem so sein könnte. 5 Offensichtlich gehören zum spezifischen Sein eines Individuums bestimmte Formen der Äuße­r ung, die nicht aus dem Absoluten zu deduzieren sind. Sie sind abhängig von der nur empirisch zugänglichen Verfassung des Individuums und von dem ebenfalls nur empirisch zugänglichen 4 

A. Matheron, Individu et communauté chez Spinoza, Paris 19882, hat von diesem Gesichtspunkt her den strukturellen Aufbau der Teile III–V der Ethik analysiert. 5  W. Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, Frankfurt 1966. 34  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Feld, in dem das Individuum aufgrund seiner Beschaffenheit überhaupt agieren kann. Spinoza behauptet im 1. Teil der Ethica das Folgen endlicher Modi aus der unendlichen Substanz, aber er deduziert aus guten Gründen ein solches Folgen nicht. An die Stelle einer Deduktion tritt in den folgenden Teilen ein Verfahren, das zeigt, wie unter Bedingungen der spezifischen Verfassung des Menschen der Mensch überhaupt ein Seiendes sein kann, das aus sich heraus tätig ist und nicht nur von ihm Äußerem abhängig bleibt. In diesem Verfahren wird am Menschen selbst aufgezeigt, inwiefern er ein Modus der unendlichen Substanz ist. 6 Und zugleich wird gezeigt, daß im Wissen um diesen Status allein die Vernünftigkeit seines Handelns besteht. Im 5. Teil gelangt dieses Verfahren an sein Ziel, das im 2. Teil vom konkret existierenden Menschen seinen Ausgang genommen hat. Dieser Ausgang macht deutlich: Strebt ein Individuum wesentlich danach, sich selbst zu erhalten, so ist sein Streben durch seine spezifische Natur bestimmt. Es geschieht im Kontext von Ereignissen einer dem Individuum äußeren Natur, gegen die es sich zu erhalten sucht, denen es aber, sofern sie wirkungsmächtiger als die eigene Natur sind, weitgehend erliegt. Der ontologische Status des Erhaltungsstrebens sagt deshalb noch nichts über das tatsächliche Sich-Erhalten eines Individuums. Vielmehr verliert es unter den Bedingungen des ihm Äußeren in seinem Streben, sofern dieses nicht von vernünftiger Einsicht geleitet ist, die ihm eigene Individualität, worin es zum Glied einer es übergreifenden Ereigniskette wird, als das es fremdbestimmt und somit unfrei ist. Spinozas Ethica entwickelt angesichts dieses Tatbestandes die Bedingungen, unter denen menschliche Freiheit möglich ist. Im Hinblick darauf hat die Metaphysik der Substanz ihre Bedeutung; sie legt dar, inwiefern die menschliche Freiheit unter den Bedingungen der Abhängigkeit des Menschen von der göttlichen Substanz steht. Aber genau dies, wieweit ein bestimmtes Individuum von der Substanz abhängig ist, kann nicht aus der Perspektive der Substanz, sondern nur aus der eines endlichen Modus dargetan werden, und zwar allein aus der des menschlichen Modus, näm6  W.

Bartuschat, Metaphysik als Ethik. Zu einem Buchtitel Spinozas [in diesem Band, S. 11 – 30]. Metaphysik und Ethik in Spinozas »Ethica«  |  35

lich eines solchen Modus, der sich selber in eine Perspektive zur Substanz bringen kann, der also denkt. Das ist die mens humana, der Gegenstand des 2. Teils. Nur wenn das, was aus der Theorie der immanenten Kausalität Gottes folgt, das Sein Gottes in dessen Produkten, den Modi, von einem endlichen Modus her ausgewiesen wird, der sich von diesem Sein her weiß, ist erwiesen, daß Gott nicht nur die Ursache von allem en bloc ist, sondern die Ursache eines endlichen Modus als solchen. Ist das nun nur erweisbar für denjenigen Modus, der sich in eine erkennende Beziehung zu der Substanz bringen kann und der darin sich zugleich als frei erweist, dann verweisen Metaphysik und Ethik in einem eminenten Maße wechselseitig aufeinander. Die Theorie des an einem adäquaten Erkennen orientierten Handelns des Menschen bedarf einer Theorie der unbedingten Substanz, die in Teil 1 der Ethica entwickelt wird, die aber ihrerseits der Hinzunahme der weiteren Teile, die den endlichen Modus Mensch thematisch machen, bedarf, weil an dessen Sein erst zu erweisen ist, inwiefern die metaphysische Theorie der Substanz eine Theorie von leistungsfähiger Erklärungskraft ist. Negativ formuliert heißt das: läßt sich zeigen, daß die Theorie des Menschen und das heißt für Spinoza insbesondere die Ethik keiner Metaphysik bedarf, dann ist die Metaphysik überhaupt ein verfehltes Unterfangen. II.

Entschieden wird also über Recht und Unrecht der Metaphysik der unendlichen Substanz aus der Perspektive des Endlichen, die einzunehmen es eines Perspektivenwechsels bedarf. Diesen Wechsel nimmt Spinoza, um die Bestimmtheit des Modus Mensch in den Blick zu bringen, im Verlauf der Darlegungen der Ethica auch in den Lehrsätzen vor. Er setzt ein mit Lehrsatz 11 des 2. Teils, der vom wirklichen Sein des menschlichen Geistes (actuale mentis humanae esse) handelt und in dem Spinoza jetzt von unten her, von einem konkreten Modus her argumentiert, vom Menschen, dessen Denken als Idee eines wirklich existierenden Einzeldinges bestimmt wird. Das erste, was Spinoza über den Menschen sagt, hat er in nicht-deduzierbaren Axiomen formuliert. E II, ax. 1 lautet: »Hominis essentia non involvit necessariam existentiam.« Was aus 36  |  I. Ontologie und Subjektivität 

der Struktur der Substanz deduzierbar ist, daß ein endlicher Modus nicht causa sui ist, also nicht durch sich selbst existiert, muß in bezug auf ein bestimmtes Endliches, also den Menschen beispielsweise, axiomatisch eingeführt werden, weil dies, daß ein Mensch überhaupt existiert, nicht deduzierbar ist. Was das Sein eines Individuums konstituiert, seine Essenz, ist nur in den Äußerungen dieses Individuums. Daß die Äußerungen eines Individuums, in Spinozas Terminologie eines endlichen Modus, letztlich von der göttlichen Substanz abhängen, also Modifikationen der Attribute Gottes sind, ist eine so leere Bestimmung, daß darauf nicht ernsthaft eine Theorie des Menschen aufbauen kann. Sie muß das Feld der Modi in sich differenzieren, will sie nicht bei einem PseudoSpinozismus enden, demzufolge in Wirklichkeit alles eins ist und Differenzen nur für unseren mangelhaften Verstand sind. In Lehrsatz 13 des 2. Teils bestimmt Spinoza die Idee, die der menschliche Geist ist, des näheren als Idee des menschlichen Körpers, den die Idee repräsentiert. Daß es der menschliche Körper ist, ist Konsequenz eines Axioms, daß wir ihn nämlich empfinden. Und daß der Mensch vieles wahrnimmt, wird aus einer Analyse des menschlichen Körpers erläutert, in einem auf Lehrsatz 13 folgenden physikalischen Einschub, der in einer Abfolge von Axiomata, Lemmata und nicht beweisfähigen Postulaten die Komplexität des menschlichen Körpers vorstellig macht, die ihn in Beziehung zu sehr vielen anderen Körpern setzt, die auf ihn einwirken und auf die er seinerseits wirkt.7 Aus dieser internen Vielfalt des menschlichen Körpers schließt Spinoza zurück auf eine Vielfalt von Ideen, die sich dem Affektionsgefüge, in dem der menschliche Körper steht, gemäß verketten. Das ist der Ursprung inadäquaten Erkennens. Der Sache nach oder an sich sind alle diese Ideen wahr, denn sie stimmen, verbürgt durch den attributiven Parallelismus der Substanz, mit ihren Objekten überein, und der intellectus infinitus erkennt in jeder Idee deren Verflechtung mit allen anderen Ideen, die der Verflechtung im Affektionsgefüge der Körper korrespondiert. Aber für den endlichen Menschen stellt sich der Sachverhalt so nicht dar, sondern in einer 7  Es

ist evident, daß die hier entwickelte Theorie der Physik unabhängig von der Theorie der Substanz entwickelt wird. Metaphysik und Ethik in Spinozas »Ethica«  |  37

perspektivischen Verzerrung, die einzelnes nicht wahrnimmt, wie es an sich ist, sondern wie es dem Wahrnehmenden bloß erscheint, bedingt durch die Kontingenz seiner körperlichen Verfassung und die Zufälligkeit der Eindrücke, die er im Umkreis seiner Lebenswelt erlangt und assoziativ verarbeitet. Auf diesem Hintergrund, einer Theorie anthropologisch bedingten defekten Erkennens, entwickelt Spinoza seine Ethik, deren Herzstück eine Theorie des Handelns ist, das gegen das mit der inadäquaten Erkenntnis verbundene Leiden gekehrt wird. In einer Theorie affektiven Sichverstehens entwickelt Spinoza zunächst den Zusammenhang von inadäquatem Erkennen und Leiden. Ist das inadäquate Erkennen eine Konsequenz der Verfassung des Menschen, dann ist es auch sein Leiden. Das heißt: es ist nicht die Konsequenz dessen, daß er ein Modus des Absoluten ist und darin von diesem abhängig. Gewiß, der Mensch leidet notwendigerweise, weil er bloß Teil der Natur ist und darin Veränderungen unterliegt, die nicht aus ihm allein folgen (E IV, prop. 4). Deshalb ist aber nicht auch schon die Weise, in der er leidet, notwendig, also nicht, welchen Affekten er ausgesetzt ist und in welchem Maße er es ist. Sie ergibt sich allererst aus der spezifischen Verfassung des Menschen. 8 Von ihr zeigt Spinoza, inwieweit sie die Ursache menschlichen Leidens ist, und aus ihr gewinnt er zugleich die Möglichkeit einer Befreiung vom Leiden. Das ist die mentale Verfassung des Menschen, aufgrund derer der Mensch nicht nur Körperliches vorstellt, sondern um diese Vorstellungen auch weiß. Spinoza zeigt, wie die bewußtseinsmäßige Gestaltung des conatus perseverandi zu den charakteristischen Formen menschlicher Affektivität führt. Der Mensch strebt wie jegliches Seiende nach der Erhaltung seiner selbst, dergestalt daß sein Tun, worauf immer es sich richten mag, Ausdruck dieses Strebens ist, gegen das der Mensch nichts vermag. Aber er ist dabei von einer Vorstellung geleitet, was das eigene Sein ist, und in eins damit von der Vorstellung, welche Mittel für die Selbsterhaltung tauglich sind. Der Mensch erstrebt nicht nur das für die eigene Erhaltung Gute, sondern das, von dem er meint, daß 8 

Vgl. R. Wiehl, Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft: Das Problem der Rationalität in Spinozas Affektenlehre, Göttingen 1983, 18 ff. 38  |  I. Ontologie und Subjektivität 

es hierfür gut ist. Sein conatus ist ein conatus imaginandi, der Gemeintes erstrebt.9 Genau das führt zur Unstabilität des affektiven Lebens: Die natürliche Tendenz des Menschen auf Steigerung der eigenen Wirksamkeit, die den Affekt der Freude gegenüber dem der Trauer favorisiert, ist der ständigen Gefahr ausgesetzt, daß Freude in Trauer umschlägt und entsprechend, bezogen auf die Objekte, Liebe in Haß. Denn ein Objekt wird nicht nur geliebt, wenn es zur Förderung des eigenen Selbst tatsächlich etwas beiträgt, sondern auch dann, wenn der Liebende dies bloß meint und darin sich selbst und in eins damit das für ihn Gute mißversteht. Jedes Ding kann durch Zufall (per accidens) Ursache eines Affekts sein (E III, prop. 15), und wir können es allein deshalb lieben, weil wir es in einem Affekt der Freude betrachten, dessen bewirkende Ursache es der Sache nach gar nicht ist (E III, prop. 15, coroll.). Gewinnt der Mensch in der imaginatio eine Distanz zu den Objekten, die es ihm ermöglicht, sich eigens zu ihnen zu verhalten und darin Präferenzen im Begehren zu setzen, die unabhängig von der Unmittelbarkeit des Eingenommenseins sind, so folgt er doch seinem conatus mehr oder minder blind, weil er sein Begehren im imaginari nur von den äußeren Objekten her begreift, gegen die er sich zu erhalten sucht. Deren Verflechtung untereinander ist ihm nur in perspektivischer Verkürzung präsent, und er folgt inadäquaten Vorstellungen, in denen er, äußeren Zwängen erliegend, fremdbestimmt ist. Das ist die Konsequenz seiner Verfassung, idea corporis actu existentis zu sein und sich nicht anders zu wissen als im Wissen der Vorstellungen des wirklich existierenden Körpers, der Teil einer Verschränkung von corpora ist, die dem endlichen Menschen gar nicht adäquat präsent sein kann. Ist es diese Verfassung des Menschen, die ihn fremdbestimmt, und nicht etwa der pure Tatbestand, daß er ein Modus ist, dann ist er nicht notwendig fremdbestimmt, wenn es mit dieser Verfassung vereinbar ist, daß er auch einer adäquaten Erkenntnis fähig ist. Sie erlaubte es ihm, zu erkennen, was ihm tatsächlich nützt – und dies zu begehren, wäre ein dem einzelnen zurechenbares Handeln, weil 9 

Die Analyse menschlicher Affektivität beginnt mit dem Tatbestand, daß der menschliche Geist danach strebt, etwas vorzustellen (»Mens, quantum pot­est, ea imaginari conatur…,« III, prop. 12). Metaphysik und Ethik in Spinozas »Ethica«  |  39

es aus vernünftiger Einsicht, die der Mensch hat, resultierte. Hier greift nun Spinozas Metaphysik des Absoluten. Sie gibt, zumindest in der Form, in der ich sie interpretiert habe, den Schlüssel dafür an die Hand, daß der Mensch, um sich adäquat zu wissen, sich nicht von dem Gefüge der Welt her wissen muß, zu der er als Modus gehört und die ihm immer ein ihm äußerlich bleibender Zusammenhang ist. Adäquate Erkenntnis kann für den Menschen nie Totalitätserkenntnis sein; sie ist für ihn prinzipiell Partialerkenntnis. Aber sie kann von der Art sein, daß sie, das ist Spinozas Grundgedanke, im Teil etwas erkennt, was im Teil nicht anders als im Ganzen ist (»aeque in parte ac in toto«, E II, prop. 38). Die göttliche Substanz, die in jedem einzelnen ist und nicht nur in der Totalität dessen, was überhaupt ist, also in jeder Idee, welcher auch immer, die der Mensch hat (E II, prop. 45), sie ist der Grund der Möglichkeit einer solchen Erkenntnis. Wird sie selbst zum Gegenstand der Erkenntnis, dann liegt die höchste Form menschlichen adäquaten Erkennens vor, die Spinoza intuitive Erkenntnis (scientia intuitiva) nennt (E II, prop. 47). Allerdings, für die Möglichkeit menschlicher Selbsterkenntnis bliebe die Erkenntnis Gottes eine leere Bestimmung, wenn nicht gezeigt werden könnte, wie sich der Mensch darin in seinem spezifischen Sein begreifen kann, d. h. in seiner bestimmten Relationalität zu den anderen Modi, zu denen er in Beziehung steht, sofern er im Hinblick auf sie agiert. Der Mensch muß sich, will er sich nicht verkennen, in diesem Gefüge adäquat erkennen, in dem er seine Bestimmtheit als endlicher Modus hat. Will er sich in dieser Relationalität begreifen, muß er sich, so Spinozas Überlegung, von einem Allgemeinen her begreifen, das in ihm nicht anders als in jedem anderen dieser Relation ist. Die Weise der Erkenntnis des Allgemeinen bestimmt Spinoza als rationale Erkenntnisart (E II, prop. 40, schol. 2). Das Allgemeine der Glieder einer spezifischen Relation ist weder die Substanz, noch kann es etwas sein, das unmittelbar aus ihr folgt. Dergestalt unmittelbar sind die unend­ lichen Modi, die, weil sie aus der absoluten Substanz unmittelbar folgen, ganz abstrakt sind. Als notiones communes enthalten sie nur das, was allen Dingen gemeinsam ist, nicht aber eine spezifische Bestimmung von einzelnem (E II, prop. 37). Von ihnen her sich in seinem eigenen Sein zu verstehen, würde bedeuten, daß 40  |  I. Ontologie und Subjektivität 

der Mensch sich als unselbständiger Teil einer Totalität versteht. In dem von einem solchen Verständnis geleiteten Handeln würde sich die Ethik vernünftiger Selbsterhaltung in eine Ethik vernunftwidriger Selbstvernichtung verkehren. Die Vernunft, die nichts gegen die Natur fordert, fordert aber, daß jeder sein Sein, soweit er es vermag, zu erhalten strebt (cf. E IV, prop. 18, schol.). Der Mensch muß sich deshalb in seinem Sein von einem spezifischen Allgemeinen her begreifen, nicht einem commune aller Dinge, sondern einem commune et proprium einiger Dinge, wie es in E II, prop. 39 heißt, einem Allgemeinen in Rücksicht auf Eigentümlichkeiten bloß des Menschen und dessen, was ihn affiziert. Die Erkenntnis eines solchen Allgemeinen wäre als Basis menschlichen Handelns völlig ausreichend. Daß der Mensch von einer Totalität her bestimmt ist, als Glied der Welt im Ganzen, ist eine bedeutungslose Bestimmung, weil sie den Menschen nur unter der Formalbestimmung, Modus zu sein, faßt, aber nicht in dem, was für ihn konstitutiv ist. »Substantia formam hominis non constituit« (E II, prop. 10). Macht es nicht die Substanz, dann macht es auch nicht das, was aus ihr mit Notwendigkeit folgt, die natura naturata als die Totalität aller Modi. In seiner spezifischen Verfassung ist der Mensch nicht durch die Unendlichkeit modaler Relationen bestimmt, sondern nur durch das Geflecht derjenigen Modi, zu denen er als konkret existierender Modus von kontingenter Beschaffenheit überhaupt eine Relation haben kann.10 »Ein Einzelding«, heißt es in E IV, prop. 29, »dessen Natur von der unsrigen gänzlich verschieden ist, kann unsere Wirkungskraft weder fördern noch hemmen; und überhaupt kann kein Ding für uns gut oder schlecht sein, wenn es nicht irgendetwas mit uns gemein hat«. Die gemeinsame Bestimmung aller Dinge, Modi der einen Substanz zu sein, ist bedeutungslos, weil sie kein Ding an ihm selbst charakterisiert und damit auch nicht ein Ding in seiner Relation zu anderen Dingen.

10 

Vgl. W. Bartuschat, Das Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten [in diesem Band, S. 104 – 129] Metaphysik und Ethik in Spinozas »Ethica«  |  41

III.

Gibt es aber überhaupt, und an dieser Frage entscheidet sich nahezu alles, ein spezifisch Allgemeines, von dem her der Mensch sich in seinen Bezügen zu der ihm äußeren Welt adäquat begreifen kann, ein solches, das gleichermaßen im Teil und im Ganzen der menschlichen Weltbezüge ist und das, adäquat erkannt, nicht nur die Verallgemeinerung je subjektiver inadäquater Erfahrungen ist?11 In dieser Frage sind zwei Probleme miteinander verknüpft, das einer empirischen Spezifikation und das einer nichtempirischen Allgemeinheit. Von ihnen her kann die der Philosophie Spinozas eigentümliche Verknüpfung von Anthropologie und Metaphysik in ihrer Motivation verständlich gemacht werden. Die Bestimmung des Spezifischen ist unabhängig von aller Metaphysik. Das äußere Feld, in dem der Mensch agiert und das die je eigenen Äußerungen einschränkt, bestimmt Spinoza von einem anthropologischen Faktum her, aus dem Tatbestand, daß menschliche Äußerungen sich in mentalen Akten der Hinsicht und Erwartung, des Ausblendens und Verdrängens artikulieren. Äußeres ist darin für den Menschen vorgestelltes Äußeres, und daraus folgert Spinoza, daß der Mensch in seiner natürlichen Tendenz der Selbsterhaltung nicht primär deshalb behindert ist, weil er das Äußere inadäquat vorstellt, sondern weil er in seinem inadäquaten Vorstellen auf das ebenfalls inadäquate Vorstellen anderer Wesen trifft, mit dem es kollidiert. Bedeutsam für den Menschen ist deshalb das ihm Äußere, das selber vorstellt, also die anderen Menschen. Als vorstellendes Wesen hat der Mensch seiner Natur nach eine Gemeinsamkeit mit den Wesen, die ihrerseits vorstellen. Sie allein fördern oder hemmen gemäß Lehrsatz 29 des 4. Teils die menschliche potentia agendi. Das Vorstellen läßt nun wegen der mit ihm verbundenen Inadäquatheit die Menschen unterschiedlich begehren. Dieser Unterschied führt zu intersubjektiven Konflikten, die das, worauf jeder Mensch aus ist, die Erhaltung seiner 11 

Lehrsatz 39 des 2. Teils beantwortet die Frage keineswegs. Dort wird ein spezifisch Allgemeines in bezug auf den menschlichen Körper behauptet, das bestenfalls eine Spezifikation allgemeiner Bewegungsgesetze ist, die das Spezifische der mentalen Akte ausblendet. 42  |  I. Ontologie und Subjektivität 

selbst, nicht nur gefährden, sondern unmöglich machen. Zugleich ist darin gelegen, entsprechend der Korrelation von »schlecht« und »gut« (vgl. E IV, prop. 68, dem.), daß das, was dem Menschen dergestalt schädlich ist, auch allein nützlich ist. Nicht die äußeren nichthumanen Dinge sind ihm nützlich, die Lebensmittel im weitesten Sinne, sondern das, was dem Menschen deren konfliktfreien Gebrauch ermöglicht, der begehrende Zugriff anderer Menschen auf die Dinge. In dessen Horizont haben Schaden und Nutzen des Menschen und damit alles, was für ihn von Bedeutung ist, ihren Ort. Über das ihm eigentümliche Merkmal des cogitare im Sinne einer weit-gefaßten geistigen Tätigkeit erfährt der Modus Mensch, der Teil der Natur im Ganzen ist, eine Spezifikation, die das Feld dessen absteckt, was für das Sein des Menschen von Bedeutung ist. Die Vernunft, die uns lehrt, das für uns wahrhaft Gute zu suchen, so in E IV, prop. 37, schol. 1, sie lehrt, »daß wir uns mit den Menschen verbinden müssen, nicht aber mit den Tieren oder mit Dingen, deren Natur von der menschlichen Natur verschieden ist«. Die Theorie, die das Sein des Menschen aus dem Absoluten zu bestimmen sucht, das auch Grund des Seins von allem ist, und die darin dem Menschen die bevorzugte Stellung im Kosmos des Seienden zu nehmen scheint, schließt nicht aus, sondern ein, daß es vernünftig ist – und die Vernunft fordert nichts gegen das Sein –, daß wir Menschen, und dies aus derselben Stelle paraphrasiert, die Tiere oder, so läßt sich ergänzen, überhaupt nichthumanes Seiendes nach Belieben gebrauchen und so behandeln, wie es uns am besten paßt. Da diese Dinge ihrer Natur nach nichts mit uns gemein haben, sind sie bloße Gebrauchsgegenstände für uns. Ein deut­licher Hiat im Ontischen liegt hier vor, der natürlich nicht aus dem Absoluten folgt, sondern aus einem bestimmten Selbstverständnis des Menschen.12 In bezug auf dieses Selbstverständnis des Menschen ist die Metaphysik der Substanz eine Strukturanalyse der Bedingungen, 12 

Für eine ökologische Ethik ist Spinoza nur auswertbar, wenn auch für sie das Fundament in eine vernünftige Intersubjektivität gelegt wird und nicht in ein Selbstverständnis, das physiozentrisch ist. Vgl. auch E. Curley, Man and nature in Spinoza, in: J. Wetlesen (Hg.), Spinoza’s philosophy of man, Oslo 1978, 19–26. Metaphysik und Ethik in Spinozas »Ethica«  |  43

unter denen eine Übereinstimmung der Menschen in deren durch Wissen bestimmtem Begehren möglich ist, insofern sie die Bedingungen entwickelt, unter denen den Menschen eine adäquate Erkenntnis möglich ist. Und Spinoza läßt keinen Zweifel daran: die durch adäquates Erkennen gekennzeichnete Vernunft allein ist es, die die Menschen, sofern sie sich an ihr orientieren, miteinander übereinstimmen läßt (vgl. E IV, prop. 35). Darin ist die Metaphysik auch das Fundament der Ethik, sofern die Ethik die Theorie der Bedingungen ist, unter denen der Mensch sich erhält und nicht zerstörerischen Einflüssen von außen erliegt, und als Zentrum dies hat, daß der Mensch sich in einer Weise versteht, in der er mit dem ihm Äußeren und das heißt mit den anderen Menschen übereinstimmt. Nun ist ein solches Programm einer grundlegenden Schwierigkeit ausgesetzt, daß nämlich Übereinstimmung aus der Perspektive derer, die nicht übereinstimmen, erst zu realisieren ist, und daß deshalb gezeigt werden müßte, daß das metaphysische Prinzip des Unbedingten, mit Kant zu reden, eine Motivationskraft im Bedingten hat, die es macht, daß die Menschen sich auch von ihm leiten lassen. Hat die Metaphysik der absoluten Substanz die Funktion, die Möglichkeit einer Gemeinsamkeit in den Akten menschlichen Denkens darzutun, so muß sie das aus der menschli­ chen Perspektive dartun, d. h. auf der Basis dessen, daß eine solche Gemeinsamkeit nicht besteht, sofern die Menschen nur denken, da sie sich ja aufgrund ihrer kontingenten Beschaffenheit je unterschiedlich verstehen. Gerade im System Spinozas zeigt sich hier eine besondere Schwierigkeit, nämlich im Ausgang vom endlichen Subjekt einen Bezug herzustellen, in dem sich das Subjekt durch die göttliche Substanz bestimmen läßt. Grundthese der Metaphysik Spinozas ist, daß dieser Bezug nur von der Art sein kann, daß das Subjekt vorgängig durch die Substanz immer schon bestimmt ist, also ein Modus ist, der das Produkt der immanenten Kausalität Gottes ist und darin ohne die Substanz nicht sein kann. Doch ist es ein anthropologischer Tatbestand, daß das Selbstverständnis des Menschen mit diesem ontologischen Sachverhalt nicht schon konform ist und daß es dieses Selbstverständnis ist, mit dem die Menschen untereinander konfrontiert sind. Es ist das Äußere, dem sich der einzelne gegenübersieht, von dem zu sagen, 44  |  I. Ontologie und Subjektivität 

daß in ihm die göttliche Substanz, wenn auch dem einzelnen verdeckt, schon wirksam ist, und daß deshalb alle Modi eine Gemeinsamkeit haben, eine gänzlich leere Bestimmung ist. Denn dieses abstrakte Gemeinsame ist gerade nicht ein ihnen Gemeinsames, solange sie in einem Selbstverständnis verharren, das um diese Gemeinsamkeit nicht weiß. Ist ontologisch das Gemeinsame, das aus dem Prinzip der einen Substanz ist, das Erste, so ist anthropologisch, auf der Basis einer Gemeinsamkeit der menschlichen Natur, die Differenz das erste, die zu einem bloßen Schein erklären zu wollen, Spinozas Ethica arm machte. Die durch das cogitare gekennzeichnete gemeinsame Natur der Menschen ist gerade als Ursprung des Gegeneinanders der Menschen in deren affektivem Leben erwiesen worden; sie enthält deshalb noch nicht ein die Menschen verbindendes Gemeinsames. Ist das Gegeneinander aber der Ausgangspunkt, inbezug worauf die Ethik einsetzt als Theorie der in der Gewalt der Menschen stehenden Bedingungen, unter denen das Gegeneinander aufgehoben werden kann, dann kann unter dieser die Ethik leitenden Perspektive die Gemeinsamkeit nicht aus der absoluten Substanz in der Weise folgen, die die Ontologie des 1. Teils der Ethica beschrieben hat. Eine Gemeinsamkeit der Menschen im Sinne der Übereinstimmung liegt nicht vor, wenn sie in ihrem Denken einem Gemein­ samen folgen, das sie immer schon bestimmt, sei das sie Bestimmende der conatus perseverandi, sei es gar die absolute Substanz selber, die in jedem einzelnen wirksam ist. Denn die Menschen bringt in einen sie wechselseitig bestimmenden Bezug zueinander allein das, was das sie immer schon Bestimmende für sie ist, d. h. die Weise, wie sie sich selbst verstehen. Aus dieser Perspektive stimmen sie nicht überein, solange ihr Selbstverständnis das der imaginatio ist. Sie stimmen aber auch nicht aus der Perspektive dessen, was an sich ist, überein, solange dieses nichts für sie ist und sie deshalb durch es nur äußerlich charakterisiert werden. »Wenn man von Dingen sagt«, so in E IV, prop. 33, dem., »daß sie der Natur nach übereinstimmen, so versteht man darunter, daß sie der potentia nach [also aufgrund einer inneren ihnen selbst zukommenden Bestimmung, W.B.] übereinstimmen und nicht der impotentia oder negatio nach.« »Denn Dinge, die allein in der Verneinung oder in dem, was sie nicht haben, übereinstimmen, stimmen in Wahrheit Metaphysik und Ethik in Spinozas »Ethica«  |  45

in nichts überein« (E IV, prop. 32, schol.) Das heißt: zwei Menschen, die nur darin übereinstimmen, daß beide endlich sind, ohnmächtig sind, nicht infolge der Notwendigkeit ihrer Natur existieren oder von der Macht äußerer Ursachen unbestimmt übertroffen werden, kurz, daß sie Modi sind, sie kommen gerade in nichts überein. Sie wären unselbständige Modifikationen einer allgemeinen Struktur. Übereinstimmung von zweien hat ein internes Bestimmtsein zur Voraussetzung und das kann nur heißen, eine Form von Tätigkeit (potentia), in der das Individuum etwas von sich aus tut. Gewiß, die potentia als das essentielle Merkmal eines endlichen Seienden ist durch die Metaphysik der Substanz verbürgt. Der Schlußlehrsatz des 1. Teils der Ethica macht das deutlich. Aber damit ist die potentia noch nicht etwas für das Individuum. Dies zu sein, ist die Voraussetzung dafür, daß ein Individuum von sich aus tätig ist, worin es erst im Unterschied zum Leiden, das ebenfalls Ausdruck der potentia ist, im strengen Sinne handelt. Die Metaphysik gibt eine Strukturanalyse des Absoluten, die verdeutlicht, daß das Absolute nicht nur im einzelnen wirkt und dieses immer schon bestimmt, sondern daß es vom einzelnen auch gewußt werden kann. Sie nennt zugleich mit dem Gegenstand, dessen Erkenntnis adäquat ist, die Bedingungen, unter denen diese Erkenntnis möglich ist. Und sie zeigt, daß allein in dieser Erkenntnis die Menschen nicht divergieren. Aber es bleibt, daß sie nur dann übereinstimmen, wenn der einzelne von der Vernunft tatsächlich Gebrauch macht. Und so mag es vom menschlichen Körper eine Theorie dessen geben, was ihm commune et proprium ist; Spinoza versucht sie auch nur im Hinblick darauf zu entwickeln. Es kann sie nicht vom menschlichen Geist geben, weil das, was den Geistern gemeinsam ist, anders als bei den Körpern, kein vom einzelnen abgehobenes Allgemeines ist, sondern ein Gemeinsames, das aus dem tatsächlichen Vollzug der jeweiligen Individuen erst resultiert, den zu vollziehen kontingent ist.13 Das höchste Gut, das die Men13 

Der Parallelismus von Geist und Körper gilt hier nicht. Er gilt nur aus göttlicher Perspektive. Soll sich der Mensch aus seiner Perspektive mit dieser Perspektive in Einklang bringen können, muß eine Eigenart des Geistes angenommen werden, der im Felde des Körperlichen nichts korrespondiert. Sie entwickelt Spinoza im 5. Teil der Ethica in einer Analyse der scientia intuitiva, die für den erkennenden Geist eine Ewigkeit erweist, die dem Körper nicht 46  |  I. Ontologie und Subjektivität 

schen vereinigt, ist nicht Gott, sondern die Erkenntnis Gottes (vgl. E IV, prop. 28), die ein jeder von sich aus realisieren muß. Das den Menschen Gemeinsame sind allein zu vollziehende Akte. Die Metaphysik vermag nicht mehr, als deren bloße Möglichkeit zu erweisen. Dieser für ihn selber fatalen Konsequenz hat Spinoza mit dem Hinweis entgehen wollen, »daß es nicht aus Zufall, sondern aus der Natur der Vernunft selbst entspringt, daß des Menschen höchstes Gut allen gemein ist; weil es nämlich aus der menschlichen Essenz selbst, sofern sie durch Vernunft definiert wird, abgeleitet wird, und weil der Mensch weder sein noch begriffen werden könnte, wenn er nicht das Vermögen (potestas) hätte, sich dieses höchsten Gutes zu erfreuen« (E IV, prop. 36, schol.).

IV.

Aber diese Auskunft ist problematisch. Spinoza ontologisiert hier die menschliche Vernunft, indem er sie zu einer Wesensbestimmung des Menschen erhebt und damit zu etwas, was aus dem Wesen Gottes folgt. Die Begründung hierfür erfolgt freilich aus anthropologischer Perspektive, wenn auch an dieser Stelle wie überall in der Ethica nur implizit, daß nämlich anders keine angemessene Theorie dessen, was der Mensch ist, gegeben werden könnte. Seine Vernünftigkeit besteht darin, sich in der Welt orientieren zu können kraft eines sicheren Wissens, zu dem befähigt zu sein (potestas), Merkmal des Menschen sein muß, soll der Anspruch der Vernunft nicht eine Illusion sein. Wird diese Fähigkeit durch die Struktur der göttlichen Substanz garantiert, so ist sie aus der Perspektive des Menschen nicht schon eine Folge dieser Struktur. Das eigene Leben durch sie bestimmt sein zu lassen, ist angesichts der Faktizität menschlichen Begehrens vielmehr eine bloße Idee. Es ist die Formulierung eines Ideals der menschlichen Natur (vgl. E IV, praef.), das ein bloßer Gedankenentwurf ohne ontologische Validität ist. Von ihm her das Sein des Menschen verstehen zu wollen, hieße, das Streben des Menschen an einer Norm auszurichten, die zukommt, obschon dieser aus der Sicht Gottes gleichermaßen ewig ist wie der Geist. Metaphysik und Ethik in Spinozas »Ethica«  |  47

mit der Struktur der spinozanischen Metaphysik unverträglich ist. Der Hinblick auf eine Idee von Vernunft überspringt die Wirklichkeit menschlichen Begehrens, die Spinoza in seiner Affektenlehre eindrucksvoll beschrieben hat. Ihr zufolge ist die Essenz des Menschen, sein conatus, gerade nicht Vernunft. Und zu unterstellen, der Mensch sei in seinen Vorstellungen auf eine Vernunft, die sich in der Gotteserkenntnis erfüllt, angelegt, implizierte eine Teleologie, deren erbitterter Gegner Spinoza selber ist. Die Bedingung vernünftiger Selbsterkenntnis des Menschen, das Absolute im einzelnen, schließt jede Form von Teleologie aus. Die Immanenz Gottes verkehrte sich in eine Transzendenz, in der Gott den Dingen äußerlich bleibt. Haben die Dinge eine natürliche Tendenz auf sich selber und nicht auf Gott, und ist diese Tendenz durch die je eigene Natur bestimmt, dann ist ausgeschlossen, daß die Dinge eine natürliche Tendenz auf ein ihnen Gemeinsames hin haben. Die natürliche Verfassung der Dinge, die empirisch bedingt ist, entzieht sich einem auf das Gemeinsame gehenden rationalen Wissen. Das aus ihr folgende Agieren ist nicht auf adäquate Erkenntnis hin angelegt und damit auch nicht auf ein entsprechendes Erkanntwerden. Deshalb sind auch die nichthumanen Dinge der Natur, von denen es heißt, daß der Mensch sie sich zu Nutzen machen darf, etwas an sich selbst und existieren keineswegs um der durch Geistigkeit bestimmten Menschen willen. Ihre Wirksamkeit (potentia agendi) ist nicht nach unserem Nutzen bemessen, heißt es im Anhang zum 4. Teil der Ethica (Hauptsatz 30). Deshalb hat der Mensch die Dinge der Natur zwar nicht an ihnen selbst zu respektieren, doch wird er nie adäquat wissen können, wie sie zu gebrauchen sind, damit sie ihm tatsächlich nützen. Ist das, was das Gute ist, mit dem Nützlichen im Sinne des der individuellen Selbsterhaltung Dienlichen identisch, und ist es als das wahrhaft Gute im Unterschied zum bloß scheinbar Guten an sicheres Wissen gebunden (vgl. E IV, def. 1), dann ist eine materiale Theorie des Guten ausgeschlossen. Daraus hat Spinoza gefolgert, daß es im Hinblick auf je bestimmte materiale Güter zu keiner die Menschen verbindenden Übereinstimmung wird kommen können. Eine Bestimmung des Guten, von der der einzelne sicher sein kann, daß auch andere ihm ihre Zustimmung geben können, weil 48  |  I. Ontologie und Subjektivität 

er sich in ihr auf nichts, was nur private Gültigkeit hat, beruft, wird deshalb, durchaus schon in kantischer Linie, formal sein müssen. Bei Spinoza führt es freilich, darin ganz unkantisch, zur Bindung des Guten an den Akt theoretischer Einsicht, der nicht ein von ihm noch verschiedenes Gutes zum Gegenstand hat. Nur von dem wissen wir mit Gewißheit, daß es gut sei, was wahrhaft zur Einsicht beiträgt: »Nihil certo scimus bonum esse, nisi id, quod ad intelligendum revera conducit« (E IV, prop. 27, dem.). Das gute Leben ist untrennbar mit der emendatio intellectus verknüpft – das ist schon Thema der frühesten Schrift Spinozas. Die Exposition der Metaphysik in der Ethica dient der Rechtfertigung dieser These. Dabei zeigt der Fortgang vom 4. zum 5. Teil der Ethica, daß der Terminus »gut« seine Bedeutung verliert, sobald erkannt ist, daß das dem Menschen Nützliche ein adäquates Erkennen ist, das sich nicht auf materiale Gegenstände richtet, sondern allein auf den Gegenstand, der zugleich Bedingung aller Adäquatheit ist, die göttliche Substanz (vgl. E IV, prop. 28 und E V, prop. 25). Relativ auf den Begriff des Schlechten ist der Begriff des Guten eine transzendente Norm angesichts der Faktizität des Eingeschränktseins unserer potentia agendi im adäquaten Erkennen. Er hebt sich auf, sobald das adäquate Erkennen als ein Vollzug verstanden wird, in dem der Mensch nicht das, was Gegenstand inadäquater Erkenntnis ist, besser zu begreifen sucht, in dem er vielmehr sich selbst als rein erkennendes Wesen aus der Natur Gottes begreift, die in der dritten Erkenntnisart der scientia intuitiva in ihm auch für ihn ist.14 Als Basis einer Ethik in intersubjektiver Perspektive bleibt aber das in der Metaphysik des Absoluten verankerte vernünftige Wissen des einzelnen auf ein materiales Äußeres bezogen, nämlich auf die anderen menschlichen Individuen, in bezug auf die die Orientierung am adäquaten Erkennen ein bloßes Ideal ist. Dieses Äußere in seiner latenten Vernünftigkeit, das zu respektieren die Vernunft des einzelnen gebietet und in bezug auf das der Vernünftige weiß, wie er sich zu verhalten hat, auch es setzt dem Wissen, nicht anders als die Dinge nichthumaner Art, eine nicht aufzuhebende Grenze. Es ist der Tatbestand, daß die Vernunft, im Leben nicht immer schon realisiert, nur eine Möglichkeit des Menschen ist, auf 14 

Vgl. W. Bartuschat, Selbstsein und Absolutes [in diesem Band: S. 53 – 103 ]. Metaphysik und Ethik in Spinozas »Ethica«  |  49

die hin das faktische Sichverhalten der Menschen angelegt sein zu lassen, eine Teleologie implizierte, die der Metaphysik zuwiderläuft und somit nicht angenommen werden darf. Das ist die eigentliche Ohnmacht der Vernunft angesichts der Faktizität menschlichen Sichverhaltens, dergegenüber das vorhin zitierte Verständnis der Essenz des Menschen als durch Vernunft definiert den Charakter einer bloßen Idee hat, die der Weise, in der die Menschen miteinander kommunizieren, transzendent ist. Auch der Vernünftige, der um sich wahrhaft weiß und deshalb für sich nichts erstrebt, was er nur auf Kosten anderer Menschen erlangt, wird die Gemeinsamkeit, deren Basis die Vernunft ist, von sich aus nicht zustandebringen. Denn er hat über den Vernunftgebrauch der anderen keine Gewalt, mag er auch durch ein vorbildhaftes Leben, das die Haltung der pietas und honestas, die auf Wohltun und Freundschaft aus sind, einschließt (vgl. E IV, prop. 37, schol. 1), Konflikte entschärfen und eine friedliche Kommunikation der Menschen fördern. Er wird in seinem Agieren, mag es noch so vernunftgeleitet sein, immer auf ein Sichverstehen der anderen bezogen sein, von dem er nie sicher sein kann, daß es adäquat ist, d. h. die vernünftigen Aktionen in dem, was sie sind, auch versteht und nicht gemäß der eigenen affektiven Einstellung in den Dienst dessen stellt, von dem er meint, daß es für ihn gut ist. Deshalb bleibt der Vernünftige, obschon das Prinzip von Gemeinsamkeit in ihm ist, vereinzelt. Gefährdet durch die Unvernunft der anderen, wird er, wenn er auf die individuelle Selbsterhaltung aus ist, strategisch verfahren müssen. Er wird im Verzicht auf seine eigene Domäne, das Erkennen, eine Instanz akzeptieren, die das affektive Gegeneinander der Menschen durch die Äußerlichkeit von Zwangsgesetzen und damit im Medium der Affektivität aufzuheben sucht. Das ist der Staat, dessen interne Problematik, das sei nur angedeutet, darin besteht, daß er, will er leistungs­f ähig, nämlich gemeinschaftsstiftend sein, sich als ein Gemeinsames aller Individuen erweisen muß, das nicht die Gemeinsamkeit des Erkennens sein kann. Spinoza hat dieses Problem über den Begriff einer gemeinsamen Macht lösen wollen, also im Rückgriff auf jene ursprüngliche ontologische Bestimmung jedes einzelnen, als Modifikation der absoluten Substanz selber potentia zu sein, von der Spinoza zugleich wußte, daß sie sich beim Menschen als ein vor50  |  I. Ontologie und Subjektivität 

stellendes Sichverhalten zu dieser potentia artikuliert, das darin der Gemeinsamkeit im Wege steht.15 Das führt zur Dichotomie zweier menschlicher Lebensformen, der im politischen Verband kommunizierenden aller Individuen und der dem bloßen Erkennen verpflichteten des philosophierenden Individuums, zwischen denen Spinoza eine sie verbindende Gemeinsamkeit in befriedigender Weise nicht hat herstellen können. Vielleicht beruht dieses Ungenügen auf einer zu eng gefaßten Metaphysik, die zu sehr auf die Rationalität eines Erkennens abgestellt ist, dessen Prinzip, die absolute Substanz, jede Form von Transzendenz ausschließt, die es erlauben könnte, das faktische Tun des Menschen auf etwas bezogen sein zu lassen, durch das es nicht immer schon bestimmt ist. Doch ist der conatus perseverandi des Menschen nicht ein conatus ratiocinandi. Die Philosophie der Immanenz, die zur Ermöglichung eines uneingeschränkten adäquaten Wissens des Menschen die Transzendenz des Unbedingten leugnet, setzt im Menschen eine Spaltung, die nicht vermittelt werden kann und die darin in ihm eine neue Transzendenz schafft. Das Unbedingte in ihm ist dem imaginativ bedingten Begehren, das zur menschlichen Natur gehört, transzendent. Der Mensch kann sich nicht nur nach unterschiedlichen Hinsichten verstehen, »cum relatione ad certum tempus et locum« und »sub aeternitatis specie« (E V, prop. 29, schol.). Er wird auch zu einem aus Teilen bestehenden Wesen (vgl. E V, prop. 38, schol.), deren Zusammengehörigkeit im Begriff des Menschen weder die Metaphysik noch die Anthropologie aufzuzeigen vermag. Das des Unbedingten sich versichernde Erkennen, dem endlichen Modus Mensch zugesprochen, bleibt dem menschlichen Begehren, das seine Endlichkeit darin hat, gegen Äußeres anzugehen, transzendent. Eine transzendente Metaphysik ist sicher eine schlechte Metaphysik. Eine solche Feststellung ist nur ein Referat Spinozas. Als Theorie nichtempirischer Bedingungen von Empirischem ist sie gewiß nicht notwendigerweise eine Theorie des Absoluten. Aber auch die Theorie, die Spinoza gegeben hat, bedarf eines Ausweises im Phänomenbereich des Empirischen, weil ihn begreifbar zu 15 

Vgl. hierzu E. Balibar, Spinoza et la politique. Paris 1985. Ferner W. Bartuschat, Freiheit als Ziel des Staates bei Spinoza [in diesem Band: S. 246 – 269]. Metaphysik und Ethik in Spinozas »Ethica«  |  51

machen die Funktion der Theorie ist. Für Spinoza ist dieser Bereich der der Anthropologie, der ihn die Metaphysik unter den Titel »Ethik« hat bringen lassen. Die Theorie des Menschen kann sicherlich, auch mit stärkerer Überzeugungskraft, anders gefaßt werden, als Spinoza es getan hat, ohne daß man damit ein grundlegendes Argument gegen eine Verbindung von Metaphysik und Ethik, die für Spinoza leitend gewesen ist, vorgebracht hätte. Denn was der Mensch ist, folgt auch in Spinozas Theorie nicht aus der Unbedingtheit der Substanz. Die These hingegen, daß eine Theorie des Menschen in überzeugender Weise gegeben werden kann, ohne daß es hierfür einer Theorie des Unbedingten bedarf, erst sie wäre ein substantieller Einwand gegen Spinoza. Wen eine solche These nicht überzeugt, der wird Spinoza auch mit sachlichem Gewinn lesen können.

52  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Selbstsein und Absolutes I.

In Spinozas »Ethik« zeigt sich ein Grundzug der neuzeitlichen Philosophie: die zentrale Rolle, die dem Moment der Selbstbezüg­ lichkeit des einzelnen Seienden zugesprochen wird. Selbstbezüglichkeit erscheint bei Spinoza als Tendenz zur Selbsterhaltung (conatus in suo esse perseverandi). Selbsterhaltung, die eigens angestrebt wird, hat die Bedeutung von Selbstbehauptung im Sinne eines Sichdurchsetzens gegen ein drohendes Vernichtetwerden von außen. Selbstbehauptung als eine positive Bestimmung, als Wesensmerkmal des einzelnen Seienden, macht die Vernichtung zu einer unwahren Bestimmung. Vernichtung ist zwar faktisch, sonst wäre die sich dagegenstemmende Tendenz nicht faktisch, aber sie ist unwahr, weil sie auf einem Sachverhalt beruht, den das einzelne Seiende nicht erkennt und der vernichtend nur wirken kann, weil er unerkannt oder mangelhaft erkannt bleibt und darin das einzelne Seiende durch ihn etwas erleidet. Sichdurchsetzende Selbstbehauptung muß demnach die Macht des den Einzelnen bedrohenden Außen so brechen, daß sie sich Einsicht in die Welt verschafft. Diesen Grundzug hat Spinoza mit der neuzeitlichen Philosophie, die vom Bewußtsein ausgeht, gemeinsam. Gewonnene Einsicht ist eine Leistung des Erkennenden und nimmt der Welt, die erkannt ist, den Charakter der Äußerlichkeit, der für das Einzelne bedrohend wirkt. Selbstsein ist nur in der erkennenden Durchdringung der Welt und nicht in einem Rückzug von der Welt, nicht in einer Abkapselung, nicht in einem Beharren auf selbstischer Partikularität. Selbstsein ist ein Bezug auf sich, in dem die Welt nicht einfach da ist und Eindrücke im einzelnen Seienden hinterläßt, in dem sie vielmehr etwas für den Einzelnen ist. Durch einen solchen Bezug erst erhält die Welt eine Bedeutung, die ihr die Fremdheit und Bedrohlichkeit nimmt. Sichdurchsetzendes Sichbehaupten ist prozessuales Gestalten der Welt. Erst dieses Gestalten der Welt durch ein aktives Seiendes ermöglicht ein Selbstsein des einzelnen Seienden,   |  53

ein Sichbehaupten gegen andrängende Eindrücke. Aber es ist klar, daß sich das Selbstsein in der Gestaltung der Welt im Sinne eines bewußten Durchdringens der Welt nicht herausbilden könnte, wenn es dem Akt der Gestaltung nicht schon zugrundeläge. Nur wenn dieses Gestalten nicht blind geschieht, sondern nach einem Prinzip, das es lenkt, kann die Welt in einer Weise gestaltet werden, die es sinnvoll sein läßt zu sagen, die Welt erhalte durch die Gestaltung eine Bedeutung, die ihr zugleich die Kraft nimmt, gegen das gestaltende Selbst zu wirken. Seit Kant wird dieses Selbst als Ich gedacht, d. h. als Selbstbewußtsein. Seine idealistischen Nachfolger haben diesen Ansatz zu einem Konstitutionsidealismus gesteigert, der dem Selbstsein die Selbstmächtigkeit eines Produzierens der Welt zuspricht. Selbstsein wird dann vom Selbstbewußtsein her gedacht und in eins damit auch die produzierte Welt, dergestalt, daß ihr ein Ansichsein, das unabhängig vom Selbstbewußtsein wäre, abgesprochen wird. Die Welt erscheint als konstituierte, und daß das Konstituieren ein Prozeß ist, erklärt sich aus der Widerständigkeit des Andersseins des Ich, aber so, daß dieses Andere eine leere Unbestimmtheit ist, die alle es spezifizierenden Merkmale allein vom gestaltenden Bewußtsein her hat. Spinoza ist diesen Weg nicht gegangen. Er hat eine Theorie der Selbstbezüglichkeit entworfen, derzufolge Selbstsein Wesensmerkmal des einzelnen Seienden ist, der Status des Einzelnen in dessen Bezug zum Anderssein, zum Ganzen der Welt, also durch Selbstbezüglichkeit charakterisiert ist, ohne daß das implizierte, das einzelne Seiende sei selbstmächtig gegenüber der Welt in dem Sinne, daß es von sich aus, seinem Bewußtsein aus, den Sinn der Welt bestimmen könnte und dementsprechend das Sein der Welt in dem, was es für das Bewußtsein eines Einzelnen ist, aufginge. Die Welt ist vielmehr hervorgebracht von einem Seienden, das nicht vom Charakter eines sich im Streben erst behauptenden Selbst ist, von der absoluten Substanz. Das einzelne Seiende als Moment dieser Welt ist in seinem Selbstsein ohne dieses Absolute ebensowenig möglich wie es die Welt im Ganzen ist. Selbstsein, weit davon entfernt, selbstmächtig zu sein, ist ohne Bezug des Selbst auf ein Absolutes, das nicht von der Struktur des Selbst ist, nicht denkbar. Gleichwohl handelt es sich um ein Selbstsein, das dem Einzelnen wesentlich ist, weil das einzelne Seiende, obschon auf ein ihm trans­zendentes 54  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Absolutes verwiesen, sich nicht in einem Streben über sich hinaus erfüllt, sondern in einem Selbstbezug. Spinozas Theorie ist deshalb interessant, weil sie aus dem Bezug zum Absoluten eine Theorie des Selbst entwickelt, ja gerade aus diesem Bezug begründet. Sie bindet das Selbstsein an ein Anderssein, das nicht von diesem Selbst durchgehend geformt und darin letztlich beseitigt werden kann, das aber auch nicht als transzendente Instanz das Telos des strebenden Selbst ist und darin das Selbst beseitigte. Spinoza bestimmt in der »Ethik« das Streben nach Selbsterhaltung als die wirkliche Essenz eines jeden Dinges (Eth. III, prop. 6 und 7). Zwei Momente sind in dieser These enthalten1: 1. daß jedes Seiende danach strebt, in seinem Sein zu beharren (prop. 6) und 2. daß dies nicht eine beliebige Bestimmung ist, sondern eine dem Seienden wesentliche (prop. 7). Das erste Moment resultiert aus dem Faktum der Endlichkeit der Einzeldinge (res singulares), daraus nämlich, daß endlich-Einzelnes ein Anderes gleicher Art außerhalb von sich hat, im Hinblick worauf es als Streben (conatus) verstanden wird, nämlich als Angehen gegen Äußeres, durch das es bedroht wird und vernichtet werden kann. Das zweite Moment resultiert aus der Dependenz des Einzelnen von der göttlichen Substanz, deren modus es ist und von der her allein ein Einzelnes in seinem Wesen bestimmt werden kann. Somit ist jedes Seiende doppelt bestimmt, einmal in seinem Charakter, modus zu sein; aus ihm ergibt sich, daß das Streben dem Ding wesentlich ist, sofern Vernichtetwerden durch Anderes seinem Status, Ausdruck der göttlichen Substanz zu sein, zuwiderläuft; zum anderen in der Faktizität dessen, daß es Einzelnes neben anderem Einzelnen gibt, ein Tatbestand, der nicht aus der in Teil I der »Ethik« exponierten Struktur der göttlichen Substanz hergeleitet werden kann. Daß jedes Seiende strebt, ist faktisch, weil resultierend aus dem Faktum des realen Auseinanderseins endlicher Glieder. Daß, wenn jedes Seiende strebt, dieses Streben dem Seienden wesentlich ist, ergibt sich aus der Natur von Deus. Allgemein gilt: Aus der Struktur Got1  Vgl.

A. Matheron, Individu et communauté chez Spinoza, Paris 1969, 1. Teil. Von einer Auseinandersetzung mit der neueren Literatur sehe ich hier ab. Ich verweise auf meine Sammelbesprechung »Neuere Spinoza-Literatur«, in Philosoph. Rundschau 1977. Selbstsein und Absolutes  |  55

tes ist zwar herleitbar, daß alles, was ist, vom Charakter des modus ist (Eth. I, prop. 15), nicht aber daß Einzelnes in einer spezifischen Differenz zu anderem Einzelnen ist. Die Mannigfaltigkeit dessen, was als die Mannigfaltigkeit endlicher modi bestimmt wird, ist faktisch da. Der Begriff Gottes wird konzipiert, um endlich-Einzelnes begreifbar zu machen. Die Analyse des Begriffes Gottes ist in der »Ethik« das Erste, weil der Weg, im Ausgang vom Endlichen zu einer angemessenen Bestimmung des Absoluten zu gelangen, verfehlt ist, enthält aber nicht den unsinnigen Gedanken, daß aus dem Begriff Gottes die endlichen modi deduziert werden müßten. Sie sind das faktisch Unabweisbare und darin das Erste, das es philosophisch zu erklären gilt. Im System Spinozas ist endlich-Einzelnes real und keineswegs nur Ausdruck unseres mangelnden Erkenntnisvermögens, für das das Einzelne, von unserer Endlichkeit getrübt, verzerrt erscheint, während es in Wahrheit die eine Substanz ist. Conatus als Wesensbestimmung des Einzeldinges schließt diese Deutung aus. Denn hier wird dem Einzelnen als wesentlich und nicht nur als erscheinend für uns ein Merkmal zugesprochen, das zwar aus dem Bezug zu Gott seine Bedeutung hat (Tendenz zur Selbsterhaltung, weil der von Gott produzierte modus, innerlich bestimmt, sich einem Vernichtetwerden sperrt), das aber das reale Auseinandersein der endlichen Glieder und darin das faktische Bedrohtsein von außen zur Voraussetzung hat. Anders wäre die konkrete Mannigfaltigkeit der Welt bloß fiktiv, ein Schein, aus dem das Aufgehen in das AllEine uns erst befreite (ein philosophisch armer Gedanke). Zudem wäre der Grund für das uns erscheinende reale Auseinandersein von Wirklichem, die mangelnde Erkenntnisleistung des erkennenden Subjekts, selber in einer mangelnden Erkenntnisleistung begründet (ein in sich absurder Gedanke). Der conatus als Wesensbestimmung des einzelnen Seienden ist Ausdruck einer inneren Spannung, die konstitutiv für dieses Seiende ist. Es ist die Spannung zwischen der endlichen Begrenztheit eines Dinges, durch die anderes Endliches außerhalb von ihm gelegen ist, und der Unendlichkeit des Absoluten, dessen Effekt dieses Ding ist. In diesem Effekt drückt sich die unbedingte göttliche Kausalität aus, die Spinoza als »causa immanens« (I, prop. 18) bezeichnet, weil Gott im Hervorbringen von Einzelnem nicht aus sich 56  |  I. Ontologie und Subjektivität 

herausgeht. Als geschaffenes und darin vom Charakter, ein modus zu sein, ist zwar jedes bestimmte Seiende von Gott verschieden, aber so, daß es in seinem Sein aus dessen Wesen folgt. Darin ist es ein positiv bestimmtes, das einen Wert in sich selbst hat. Da es nun anderes Endliches außer sich hat, läuft es Gefahr, vernichtet zu werden, d. h. seine Positivität zu verlieren. Insofern ist es ihm wesentlich, gegen das mögliche Vernichtetwerden sich selbst zu erhalten zu streben. Der conatus als Ausdruck der beschriebenen Spannung gelangt also nicht so zum Austrag, daß das Endliche in einer Tendenz zum Unendlichen seine Endlichkeit zu überwinden, sondern daß es sich in seiner besonderen Endlichkeit gerade zu erhalten trachtet. Conatus als Tendenz zur Selbsterhaltung läßt das Einzelne auf sich tendieren, nicht aber über sich hinaus auf einen Anderen hin, auf einen ihm transzendenten Gott als dem Telos der Selbsterfüllung der geschaffenen Kreatur. Einzelnes will sich selbst erhalten. Dies, daß das Unendliche sich im Endlichen ausdrückt, dies drückt sich gerade in einem Bezug des Endlichen auf sich selber aus. Dies soll im Folgenden im einzelnen untersucht werden. Zunächst gilt es sich die Relation deutlich zu machen, in der ein Einzelnes zu dem ihm Äußeren steht, um dann die in der Tendenz zur Selbsterhaltung gelegenen Implikationen aufzuweisen.

II.

Der Verweis auf Äußeres ergibt sich aus der Definition von Endlichkeit (I, def. 2). Ein endliches Ding ist begrenzt durch ein anderes desselben Attributes und steht damit in Relation zu etwas, das außerhalb von ihm gelegen ist. Darin unterscheidet sich das endliche Ding einmal von einem unendlichen Ding, das wie das endliche ein geschaffener modus ist, darin zwar ein Außerhalb hat, den produzierenden Deus, aber nicht begrenzt wird durch ein anderes der gleichen Art, zum anderen von der göttlichen Substanz selber, die in sich ist und kraft dieses Insichseins unbezüglich auf ein Anderes, in Relation auf das sie erst wäre und begriffen werden könnte. Aus der Unbezüglichkeit Gottes folgt, daß alles, was ist, in Gott ist (I, prop. 15) und zwar als geschaffenes (I, prop. 16, coroll. 1), resulSelbstsein und Absolutes  |  57

tierend aus der Notwendigkeit der Natur Gottes (I, prop. 17). So aus der Notwendigkeit Gottes folgend, ist die Totalität dessen, was ist, so, wie sie ist, mit Notwendigkeit (I, prop. 29). Sie hätte nicht anders hervorgebracht werden können und kann auch nicht in Zukunft anders werden; beide Möglichkeiten implizierten ein anders-seinKönnen der göttlichen Natur und damit die Möglichkeit mehrerer göttlicher Substanzen (I, prop. 33). So sind die unendlichen modi als Totalität der endlichen modi ewig und unvergänglich (I, prop. 21 und 22). Aber auch jeder endliche modus, der aufgrund seiner Begrenztheit nicht unmittelbar aus der unbegrenzten Natur Gottes folgen kann, sondern nur aus einem anderen endlichen modus, der seinerseits aus einem anderen endlichen modus folgt und dies ins Unendliche, kann in diesem Wirkzusammenhang nur sein unter der Voraussetzung, daß sich Gott in dem jeweils einzelnen modus manifestiert. So wirken zwar endliche modi aufeinander, aber in ihnen wirkt die göttliche Kausalität (I, prop. 28, coroll.). Von ihr her gesehen ist das Ganze der endlichen modi ein in sich geschlossenes Ganzes, das außerhalb von sich nur Gott hat, der als Produzent der natura naturata nicht zugleich deren Zerstörer sein kann. Von Zerstörtwerden kann also nur geredet werden in Bezug auf einen endlichen modus in dessen Verhältnis zu einem anderen modus derselben Art, wobei das Ganze der endlichen modi beim Wechsel und Vergehen seiner Glieder erhalten bleibt. Anders gewendet: Zerstörung ist nur aus der Perspektive eines einzelnen modus oder eines Komplexes mehrerer modi, nicht aber aus der Perspektive dessen, der das Ganze überschaut, d. h. nicht für den intellectus infinitus. Deshalb ist aber Zerstörung, Vernichtetwerden kein bloßer Anschein, nicht ein gleichsam verzerrter und darin unwesentlicher Aspekt der Dinge. Der conatus ist die wirkliche oder, wie Spinoza auch sagt, gegebene Essenz des Dinges, data vel actualis essentia (III, prop. 7, dem.), eine Bestimmung, die nicht vom Ding fingiert wird, die es sich nicht einbildet, darin einem Vorurteil erliegend wie jenem, Dinge handelten um eines Zweckes willen, den es zu erreichen gälte (I, app.). Sie ist mit dem Gesetztsein des Dinges mitgesetzt, gegeben und nicht subjektiv hervorgebracht. Spinoza gibt diese Bestimmung, weil kein endliches Seiendes, von dem wir Kenntnis haben, die Totalität des Verknüpfungszu58  |  I. Ontologie und Subjektivität 

sammenhanges, in dem die endlichen modi eines Attributes stehen, begreifen kann und darin sich selbst in dem spezifischen Ort des Gesamtgefüges, in bezug auf das es kein zerstörerisches Außen gibt. Einzelnes Seiendes ist durch diese Begrenzung konstituiert. Ein Zusammenhang, der an sich ist, ist so nicht für das einzelne Ding. Es ist bestimmt in einem Zusammenhang zu agieren, ohne um diesen Zusammenhang zu wissen. Für ein Ding wirklich, d. h. es in seiner bestimmten Beschaffenheit konstituierend, ist jeweils nur ein Ausschnitt aus dem Totalitätszusammenhang, der in Relation steht zu anderen Gliedern dieses Zusammenhanges, die dem einzelnen Ding verborgen bleiben, die aber das, was das einzelne Ding ausmacht, mitbestimmen, sofern das Einzelne zwar ein je bestimmtes ist, aber nur ist als Glied eines Zusammenhanges, der das Ganze der modi eines Attributes darstellt. Das, was das Ding für sich ist gemäß den Wirklichkeitsbeziehungen, die es in sich aufnimmt, kommt demnach nicht damit überein, was das Ding in der Relation zu der Totalität der übrigen Dinge und damit aus der Perspektive des unendlichen Verstandes ist. Was das einzelne Ding bewirkt, wie es agiert und zwar in bezug auf andere Dinge, das ist das Resultat dessen, was das einzelne Ding entsprechend seinem je bestimmten Weltbezug für sich ist. Das Ding handelt dann in einer Weise, in der es mitbestimmt ist von Zusammenhängen, die ihm fremd sind, so daß es selbst nicht der innere Bestimmungsgrund seines Handelns ist. Sein Handeln ist in Wahrheit ein Leiden, da das Ding eingenommen ist von ihm äußerlich Bleibendem. Dergestalt beschränkt agierend ist es ein Wirken, das auf etwas aus ist, das nur die Beschränktheit des Dinges zum Ausdruck bringt und darin in Konflikt gerät mit anderen Dingen, die ebenfalls ihren beschränkten Standpunkt durchsetzen wollen. In diesem Konflikt wirkt das eine auf das andere zerstörerisch und ist der ständigen Gefahr ausgesetzt, selber zerstört zu werden. Das Streben, gegen das Zerstört-werden anzugehen, das die natürliche Tendenz jedes Dinges ist, sagt über die Chance, sich selbst auch tatsächlich zu erhalten, somit noch nichts aus. Die Chance auf Erfolg ist davon abhängig, welche Beziehungen das Ding zu anderen Dingen herstellen kann und das heißt gerade, wie wenig es eingeengt ist auf ein Selbst, dem ein Großteil der Weltbeziehungen verborgen bleibt. Selbstsein und Absolutes  |  59

Im Gegensatz zu Leibniz, in dessen System die einzelnen Seienden, als Substanzen (Monaden) bestimmt, miteinander harmonieren, weil ihr conatus teleologisch bestimmt ist als Entfaltung des einen in jedem Seienden enthaltenen Weltzusammenhanges, konkurrieren bei Spinoza die einzelnen Seienden miteinander, weil sie keine Substanzen sind, sondern beschränkte modi, denen der Bezug auf das Ganze des Seienden nicht potentiell offen, sondern faktisch verschlossen ist und deren Streben deshalb nicht von einem Telos geleitet ist, auf das hin Einzelnes mit anderem Einzelnen harmoniert. Zwar bleibt das Ganze des Seienden erhalten, doch geht das Einzelne in seiner konkreten Bestimmtheit gerade zugrunde, weil es in seiner Beschränktheit nicht auf das Ganze verweist. Ein solcher Verweis ist zwar für den unendlichen Verstand, aber gerade so, daß er neben dem einzelnen Seienden anderes Seiendes, das von diesem Seienden verschieden ist, erfaßt, deren Zusammenwirken das in sich ruhende Ganze ausmacht. Er erfaßt Anderes als dieses Seiende, nicht aber etwas an ihm, das auf das Ganze tendierte und nicht nur Ausdruck beschränkter Partikularität wäre. Jedes Ding strebt, weil es beschränkt ist durch Anderes. Dieses Streben, das jedem Ding zukommt, ist zwar ein gemeinsames Merkmal aller Dinge; es ist jedoch bei jedem Ding so unterschiedlich, wie die Dinge unterschieden sind, die streben. Jedes Ding strebt, soviel an ihm ist (»quantum in se est« III, prop. 6), und das bedeutet, wie der Beweis zu diesem Lehrsatz synonym formuliert, soviel es vermag (»quantum potest«). Die Verschiedenheit dieses Könnens ist relativ auf die Äußerlichkeit, in bezug auf die das Ding in seinem Streben mehr oder minder erfolgreich sein kann, je nachdem welche Beziehungen es von sich aus zu dem Außen herstellen kann. Selbstbehauptung, ständig gefährdet, ist abhängig von einer spezifischen Kraft des Sichdurchsetzens. Dergestalt ist das konkrete Selbstsein eines Dinges nur in der Auseinandersetzung mit dem, was dem Ding äußerlich ist; der Bezug zu den äußeren Dingen entscheidet, wieweit die Tendenz zur Selbsterhaltung realisiert werden kann. Es ist außer Frage, daß bei Spinoza Selbstsein qua Selbst­behaup­ tung (im Angehen gegen Äußeres) nicht von der Struktur der Reflexion und damit nicht vom Selbstbewußtsein her gedacht ist. Der Drang, in suo esse perseverare, wird jedem Ding zugesprochen, 60  |  I. Ontologie und Subjektivität 

auch dem mineralischer, vegetativer und animalischer Art; er setzt keineswegs Bewußtsein voraus. Es handelt sich um eine ontologische Bestimmung 2 , gefolgert aus der Positivität jedes Seienden als eines von Gott mit Notwendigkeit produzierten modus, die ausschließt, ein Ding dieser Art könne anders als von außen zerstört werden (III, prop. 4). Von daher wird das Angehen gegen das ­Außen als ein Rückbezug auf die Innerlichkeit des Dinges verstanden. Das bedeutet, daß der conatus als Tendenz zur Selbsterhaltung zwar eine innere, weil ihm wesentliche Bestimmung jedes Seienden ist, damit aber noch nicht eine Bestimmung für dieses Seiende. Das Seiende strebt, sich selbst zu behaupten, ohne darin schon für sich ein Selbst zu sein. Es folgt darin einem blinden, d. h. von ihm selbst nicht gewußten Drang. Aber auch hier ist die Chance, die Selbsterhaltung nicht nur anzustreben, sondern auch mehr oder minder verwirklichen zu können, verschieden, nämlich abhängig von der Weise des Bezuges des einzelnen Dinges auf die Außenwelt; sie ist umso größer, je mehr das Ding von dem Äußeren auf sich bezieht. Sie ist beim Tier größer als bei der Pflanze und beim höherentwickelten Tier größer als beim niederentwickelten. Sie ist am größten beim Menschen, der der Reflexion fähig ist. Denn er vermag eine Beziehung zu der ihn umgebenden Welt herzustellen, die im höchsten Maße dies garantiert, daß er kein abgekapseltes und darin beziehungsarmes Selbst darstellt. Die Fähigkeit zur Reflexion bewahrt ihn vor der Gefahr, sich auf ein Selbst zurückzuziehen, dem die Vielfalt der Weltbeziehungen verschlossen bleibt und das deshalb gerade in Konflikt mit anderen strebenden Seienden gerät. Sie vergrößert die Chance, die angestrebte Selbstbehauptung erfolgreich zu realisieren, und ist darüber hinaus nicht nur eine 2  Vgl.

H. Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität, in: Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, 1969, 371 f. Blumenbergs These, mit dem ›in suo esse perseverare‹ sei keine transitive Tendenz auf Erhaltung verbunden, macht allerdings den Sinn des Terminus conatus unverständlich. Sie verkennt die Bedeutung, die dem Außen gerade deshalb, weil gegen es das einzelne Seiende sich behaupten muß, für die Konstituierung des Selbstseins dieses Einzelnen zukommt. Für Spinoza resultiert die Beharrung aus der Tendenz gegen die ständige Gefahr des Zerstörtwerdens; die Tendenz, nicht die Beharrung ist das Primäre. Selbstsein und Absolutes  |  61

quantitative Steigerung innerhalb der Tendenzskala. Sie stellt etwas qualitativ Neues dar, weil sie das, was für jedes Seiende gilt, nach Selbsterhaltung zu streben, zu einer Bestimmung für den Strebenden macht. Damit erst gelangt in dem reflektierenden Seienden, der mens humana, die mit dem Streben nach Selbst­erhaltung verbundene Wesensbestimmung von endlichem Seienden in den Blick, nämlich die Posivität jedes Einzelnen auszudrücken. Wenn diese Positivität nicht für den Einzelnen ist, sondern nur für den unendlichen Verstand, dann wird das Einzelne durch ein ihm Äußeres charakterisiert und damit gerade nicht seine Positivität zum Ausdruck gebracht. Dies, positiver Ausdruck der göttlichen Essenz zu sein, erfüllt sich dann nicht im Einzelnen, sondern in einem universalen Ganzen, das als unendlicher modus unmittelbar aus der Natur Gottes folgt, darin aber je konkretes Einzelnes unvermittelt läßt. Für die Faktizität des Sobestimmtseins von je Einzelnem wäre nichts gewonnen. Erst in der Reflexion kommt der Selbstbezüglichkeit des conatus die Bedeutung zu, das in ihm gelegene Moment, Ausdruck der göttlichen Essenz im Einzelnen zu sein, an einem Einzelnen ausdrücken zu können. Dies gilt es im folgenden darzulegen. III.

Die menschliche Seele, die aus dem genannten Grund eine hervorragende Stellung gegenüber dem übrigen Seienden hat, wird im Ausgang von einem empirischen Faktum bestimmt, das nicht weiter deduzierbar ist. Die Axiome 2 und 4 des zweiten Teils der »Ethik«, der die mens humana zum Gegenstand hat, formulieren die nicht zu beweisenden Fakten: »homo cogitat« und »nos corpus quoddam multis modis affici sentimus«. Denken und Körperlichkeit sind die beiden für den Menschen konstitutiven Elemente, die nicht nur den Bereich der uns zugänglichen göttlichen Attribute (Cogitatio und Extensio, II, prop. 1 und 2) ausgrenzen, sondern die auch die menschliche Seele als idea corporis actu existentis (II, prop. 11 u. 13) fassen lassen. Die mens humana ist idea corporis und zwar eines bestimmten einzelnen Körpers, nicht eines unendlichen, da der Mensch – auch das ist ein empirisches Faktum (II, ax. 1) – nicht notwendig existiert, ein unendliches Ding aber immer exi62  |  I. Ontologie und Subjektivität 

stieren muß, wie Spinoza von den unendlichen modi (I, prop. 21 und 22) gezeigt hat. Die beiden unendlichen modi des Attributes Extensio sind als unmittelbarer die Grundprinzipien motus und quies und als vermittelter die facies totius universi, die Veränderung und Wechsel innerhalb der körperlichen Welt regeln und dabei das Ganze des Universums bei aller Veränderung von gleicher Gestalt sein lassen. Sie sind Ausdruck eines Gleichbleibenden, das zu erhalten nicht erstrebt werden muß (vgl. hierzu Brief 64). Die mens humana als ein endlicher modus muß aber nach Selbsterhaltung allererst streben. Das Objekt der Idee, die die mens humana ist, ist dementsprechend ein endlicher modus des Attributes Ausdehnung, der andere modi desselben Attributes außer sich hat. Das Objekt, der einzelne Körper, ist ein Teil des Ganzen der körperlichen Welt, das der unendliche modus des Attributes Ausdehnung ausdrückt. Korrelativ dazu bestimmt Spinoza auch die Idee, die die menschliche Seele ist, als Teil des unendlichen Intellekts, der als unendlicher modus des Attributes Denken das Ganze der objektivierbaren Welt adäquat erkennt. Diese These, die in II, prop. 11, coroll. entwickelt wird, ist für Spinoza das Fundament der Objektivität jeder Erkenntnis. Er geht davon aus, daß die menschliche Seele, die Idee ist, insofern sie denkt (II, ax. 2), dabei Idee von etwas ist, das nicht selber eine Idee ist, sondern, wie dann II, prop. 13 zeigt, ein modus des Attributes Ausdehnung, nämlich der Körper, von dem wir Ideen haben, sofern wir – und das ist faktisch – ihn empfinden (II, ax. 4). Wie wir uns in unserem Denken auf ein Körperliches in Form einer Erkenntnis beziehen, das zu erklären, dient die Theorie des intellectus infinitus. Von ihm hat Spinoza zuvor, d. h. bevor die menschliche Seele thematisch wird, gezeigt (II, prop. 3), daß es ihn in Gott gibt, sofern Gott das Attribut Denken zukommt, nämlich als unmittelbarer unendlicher modus, den Gott hervorbringt (und nur unter dieser Voraussetzung, daß Gott einen modus hervorbringt, kann gesagt werden, daß ihm ein Intellekt zukommt, der Gegenstände hat). Dieser modus kann kraft seiner Unendlichkeit eine Idee von Gott bilden und zwar von seiner Essenz, d. h. von seinen Attributen (also auch von dem der Extensio), und von dem, was aus dieser Essenz mit Notwendigkeit folgt, d. h. von den modi der verschiedenen Attribute. Allein von dem unendlichen Intellekt, der ein modus Selbstsein und Absolutes  |  63

des Attributes Denken ist, kann gesagt werden, daß er den modus eines anderen Attributes zum Gegenstand zu haben vermag. Nun hat der Mensch aber faktisch Ideen von Körperlichem. Dieses Faktum ist nicht anders erklärbar, als daß vorausgesetzt wird, daß die menschliche Seele ein Teil des unendlichen Verstandes ist. Sie ist nur Teil aufgrund ihrer Beschränktheit, denn sie erkennt die Gegenstände nicht so wie der unendliche Intellekt sie erkennt, nämlich nicht in deren Totalität, sondern nur ausschnittsweise, die Vielfalt der Beziehungen, in denen ein zu erkennendes Ding zu anderen Dingen desselben Attributes steht, im Dunkeln lassend. Daß sie aber überhaupt erkennt und zwar ein von sich Verschiedenes, nämlich Körperliches, das verdankt sie ihrem Status, Teil des unendlichen Verstandes zu sein. Wenn sie also etwas erkennt, dann erkennt der unendliche Verstand, sofern er auf die mensch­ liche Seele eingeschränkt ist. Er erkennt in ihr, aber so, daß er über diese Einschränkung auf die Idee, die die menschliche Seele ist, die Ideen von anderen Dingen hat. Die menschliche Seele, die diese Ideen nicht hat, erkennt deshalb nicht nur diese anderen Dinge nicht, sondern auch den Gegenstand der Idee, die die menschliche Seele ist, also den menschlichen Körper, höchst unzureichend. Die Erkenntnis ist inadäquat, da jede Idee in dem, was sie ist, durch die anderen Ideen mitbestimmt ist und korrelativ dazu auch der Gegenstand der Idee durch die Gegenstände der übrigen Ideen, das Außerachtlassen dieser Beziehungen daher nur eine verstümmelte Vorstellung des Dinges liefert. Die menschliche Seele hat also eine Erkenntnis der Dinge und hat sie andererseits auch wiederum nicht. Sie hat sie, sofern sie ihr zugesprochen werden kann von einem Standpunkt, der erkennt, daß sie Idee ist im Gefüge einer Vielzahl von Ideen, deren Totalität Gegenstand des intellectus infinitus ist, der zugleich Erkenntnis von dem Status der Idee, die die menschliche Seele ist, hat. Sie hat sie nicht, sofern dieser ihr Status von ihr, die die Totalität nicht durchschaut, nicht gewußt wird. Das, was die Seele ist, ist die Seele nicht für sich. Das, was die Seele von sich weiß, kommt nicht mit dem überein, was sie wahrhaft ist. Die Erkenntnis, die sie hat, in dem Sinne, daß sie darum weiß, ist keine wahre Erkenntnis. Gewiß hat der Mensch eine Erkenntnis von sich selbst, Spinoza beweist dies im Rückgang auf die These von der menschlichen Seele 64  |  I. Ontologie und Subjektivität 

als einem Teil des intellectus infinitus. Denn dem unendlichen Intellekt, der alles (Attribute und die daraus resultierenden modi) zum Gegenstand haben kann, sind nicht nur modi des Attributes Ausdehnung, sondern auch solche des Attributes Denken Gegenstand. Denken als idea ist somit nicht nur Repräsentanz eines Körperlichen, sondern Reflexion auf die Idee, idea ideae. Die Seele repräsentiert nicht nur etwas, sondern weiß um ihr Repräsentieren, d. h. um die Ideen, die sie hat. In diesem Wissen um sich weiß die Seele sich aber nur, sofern sie die Idee eines bestimmten Körpers ist, denn nur unter dieser Einschränkung artikuliert sich das Können des intellectus infinitus in ihr. Die Seele erkennt sich also nur über die Ideen, die sie von einem bestimmten Körper und dessen Relationen zu anderen Körpern hat. Diese Ideen sind Ideen von den Affektionen des Körpers. Was die Seele am Körper erkennt, sind Merkmale, die aus dem Affiziertwerden des Körpers von außen resultieren (II, prop. 19). Die Weise, in der ein Körper affiziert wird, ist zufällig, ungeregelt, prinzipienlos, abhängig von der spezifischen Struktur dieses Körpers, seiner Aufnahmefähigkeit, dabei so, daß in die Welt der äußeren Körper die eigene Beschränktheit projiziert wird (II, prop. 16, coroll. 2). Entsprechend der Komplexität des Körpers, seiner inneren Vielfalt, dergemäß er Affektionen von äußeren Körpern zu erleiden vermag, ist die Idee, die die menschliche Seele ist, nicht einfach, sondern zusammengesetzt aus sehr vielen Ideen (II, prop. 15), nämlich den Ideen von den Affektionen des Körpers, wobei das Zusammensein dieser Ideen so ungeregelt ist wie die Abfolge der Affektionen selber. Wie die menschliche Seele als ein konkretes Einzelnes nicht Idee schlechthin ist, sondern Idee eines wirklich existierenden Einzeldinges, weil sie sonst selber nicht wirklich wäre (II, prop. 11), nämlich des menschlichen Körpers, so sind die einzelnen Ideen, die die Seele hat, Ideen von etwas, nämlich von den Affektionen des menschlichen Körpers, losgelöst von denen sie unwirklich wären. Ideen, die die Seele hat, sind ideae corporis actu existentis. Wenn der Mensch sich nur so weiß, daß er um die Ideen von den Affektionen des Körpers weiß (II, prop. 23), dann weiß er sich in der idea ideae höchst inadäquat, als das, dessen Ideen sich in einer Ordnung verknüpfen, die lediglich die Zufälligkeit der Affektionen, die der menschliche Körper erleidet, zum Ausdruck bringt. Die Lehrsätze Selbstsein und Absolutes  |  65

24–29 des 2. Teils, gipfelnd im 29. Lehrsatz, zeigen auf, daß die menschliche Seele weder von sich, noch von ihrem Körper, noch von den äußeren Körpern eine adäquate Erkenntnis hat. Der conatus der menschlichen Seele unterscheidet sich auf diesem Standpunkt prinzipiell nicht von dem Streben des nichtmenschlichen Seienden. Er stellt einen Vollzug dar, der gebunden ist an das Gewahr-werden körperlicher Vorgänge, ohne je darüber hinaus zu sein. Eine solche Bestimmung läßt die Wirklichkeit eines einzelnen Seienden in dessen konkreter Beschaffenheit, wie sie sich im jeweiligen Augenblick zeigt, aufgehen; sie negiert einen Maßstab außerhalb dieser Konkretheit, auf das hin sich das einzelne Seiende entwickelte und von dem her es in seinem Status beurteilt werden könnte. Sie ist Ausdruck einer Positivität des Einzelnen, die jede Form der Verneinung in den Bereich unseres subjektiven Vorstellungsvermögens verweist, die uns Idealbilder von Seiendem konzipieren läßt, die der Wirklichkeit entbehren. Einzelnes wird zwar vernichtet, aber nicht weil ihm etwas fehlt, weil es mangelhaft wäre, sondern weil es Teil eines Ganzen ist und darin eine an Kraft größere Übermacht außerhalb von sich hat. Mangelhaft wäre das Einzelne nur, wenn ihm etwas fehlte, das es im gegenwärtigen Stadium nicht hat. Aber keinem Kleinkind fehlt etwas, wenn es nicht laufen kann. Augenblickliches ist nicht das Noch-nicht eines Zukünftigen. Gleichwohl strebt jedes Seiende, gegen die es bedrängende Umwelt anzugehen. Dieses Streben führt zu Veränderungen. Das Kleinkind wird zum großen Kind, das des Gehens fähig ist und darin eine größere Kraft besitzt, sich dem Andrängen der Umwelt zu erwehren. Es drückt dann in sich mehr Realität und Vollkommenheit aus als zuvor, aber nicht, weil es fortgeschritten ist von einem niederen Status zu einem höheren. Vielmehr enthält der eine Status unbezüglich auf den anderen mehr an Realität in sich. Daß es sich um zwei Status ein und desselben Seienden handelt, läßt sich nicht einmal sagen, weil der Grad der Realität unabhängig ist von dem Bewußtsein eines Seienden, das darum weiß, daß es sich, weil von einem Zustand zum anderen übergehend, fortentwickelt hat. So ist das Wissen, das der Mensch in der idea ideae von dem hat, was er in bezug auf seine Umgebung vorstellt, mag es auch die Erinnerung an einen vorhergehenden Zustand enthalten, kein Wissen, das die Identität der Person im Wechsel verschiedener 66  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Zustände garantieren könnte3. Denn es ist nur in diesem Wechsel, wenn auch mit Rückständen von früher Erfahrenem in der Erinnerung (II, prop. 18 schol.), nicht aber unabhängig davon. Es ist gebunden an eine Abfolge von Erfahrungen, in denen der Mensch seinen Körper erfährt, wie dieser in mannigfacher Weise von anderen Körpern affiziert wird, ohne daß dem Menschen ein Wissen von sich möglich wäre, in dem er sich anders erfahren könnte als in der Augenblicklichkeit eines Bestimmtseins durch äußere Eindrücke. Hat der Mensch überhaupt eine Chance, seinem conatus nicht nur zu folgen und darin einer Übermacht äußerer Einflüsse zu erliegen, sondern auch das zu realisieren, wonach er strebt und was ihm wesentlich ist, nämlich sich selbst zu erhalten? Kann er ein Wissen von sich haben, durch das er sich nicht nur in der Augenblicklichkeit eines Vollzuges und damit in der Unklarheit nicht durchschauter Verweisungszusammenhänge weiß, ein Wissen, das es ihm erlaubte, dem ihn umgebenden Äußeren den Charakter der ihn selbst bedrohenden Äußerlichkeit zu nehmen, dadurch, daß er es aus einem Prinzip begreift, das er aus sich selber nimmt? Dieses Prinzip kann, wenn ihm eine Leistungskraft soll zukommen können und der Mensch im Rückgriff auf es nicht einem eingebildeten Wahn nachhängen will, kein anderes sein als dasjenige, das der Grund des Ganzen der Welt ist, nämlich die göttliche Substanz. Aus ihm könnte der Mensch, der aufgrund seiner Endlichkeit die Totalität dessen, was ist, nicht begreifen kann und deshalb stets mit ihm Äußeren konfrontiert ist, all das, was er erfährt, begreifbar machen und so in sich integrieren. Er kann es, sofern es ihm möglich ist, ein Wissen um dieses Prinzip zu haben. Die Chance hierfür scheint gering zu sein, wenn das Denken des Menschen durch den Bezug auf einen je bestimmten Körper charakterisiert ist, der die Wirklichkeit des menschlichen Denkens ausmacht, und der Mensch unabhängig von dem jeweiligen Körper, den er weiß, kein Wissen von sich hat. Wie soll der Mensch in seinem Denken die Ideen von dem Körper, die er hat, nach einem Prinzip ordnen können, das er in sich selbst findet, einem Selbst, das dann mehr 3 

Vgl. R. L. Saw, Personal Identity in Spinoza, in: S. P. Kashap (Hg.), Studies in Spinoza, Berkeley 1972. Selbstsein und Absolutes  |  67

wäre als ein solches, das sich allein von den Ideen der Affektionen des Körpers her begreift. Da die Körperlichkeit konstitutives Moment der Wirklichkeit der einzelnen Seele ist (als Objekt der Ideen, die die Seele hat), der conatus aber nur einem wirklichen Einzelding zukommt, ist der Weg ausgeschlossen, das Selbstsein, in dem die Erhaltung gegen das Vernichtetwerden von außen gelingt und in dem der einzelne Mensch seinen wahren Ort im Ganzen der von Gott produzierten natura naturata fände, sich in einer Position erfüllen zu lassen, in der vom Bezug des Denkens auf den Körper als unwesentlich abgesehen wird. Wenn es sich aber so verhält, ist auch der Weg ausgeschlossen, daß sich das beschränkte Denken hinsichtlich der Körperwelt so steigert, daß es die Totalität der Bezüge dieser Körperwelt erfaßt und darin die Beschränktheit überwindet, die darin besteht, Körperliches zu perzipieren, von dem unklar bleibt, in welcher Relation es zu anderem Körperlichen steht. Dem Denken gelänge dies nur, wenn es ein intellectus infinitus wäre, der aber unmittelbar aus dem göttlichen Attribut resultiert, was sich von keinem endlichen modus sagen läßt. Spinoza zeigt nun, daß der Mensch in seinem Verstand zwar auf jeweils bestimmtes Körperliches eingeschränkt ist, er aber in seinem Denken die Distanz der Reflexion zu dem haben kann, was er perzipiert. Der Mensch weiß die idea nur als idea von bestimmtem Körperlichem, damit aber nicht notwendigerweise als eine verworrene Idee entsprechend der Affektionskette, in der jedes vorgestellte Körperliche steht. Er kann vielmehr ein Wissen haben, das in der Idee eines bestimmten Körpers zwar nicht alle Körper, die diesen Körper mitbestimmen, weiß, aber doch etwas an diesem Körper, das allen Körpern gemeinsam ist. Dieses Wissen gründet in einer Reflexion, in der der Mensch etwas erfaßt, das er aus seinem Denken gewinnt und das darin nicht das Ergebnis eines Perzipierens von Körperlichem ist, das in einer vom Denken undurchschauten Verknüpfung mit anderem Körperlichem steht. In II, prop. 28 stellt Spinoza heraus: »Ideae affectionum corporis humani, quatenus ad humanam mentem tantum referuntur, non sunt clarae et distinctae, sed confusae«. Die Verworrenheit liegt also im Bezug auf die Seele allein; eine Überwindung der Verworrenheit und damit ein erfolgreiches Angehen gegen das Leiden bedeutet demnach offensichtlich eine Überwindung des begrenzten 68  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Standpunktes, den die menschliche Seele allein einnimmt. Der Beweis dieses Lehrsatzes mißt den menschlichen Verstand am unendlichen und nennt damit den Grund des Defektes. Wie dieser zu beseitigen ist, wird von Spinoza im folgenden entwickelt. Die Isoliertheit der einzelnen Seele wird nicht so überwunden, daß die Seele den Bezug zu den übrigen Ideen, die sie in ihrer Eingeschränktheit nicht hat, herzustellen hätte, um sich von diesen Ideen her zu begreifen – ein aussichtsloses Unterfangen angesichts des Bezuges der Seele auf den menschlichen Körper als den Gegenstand ihrer Ideen –, sondern so, daß sie an sich, an ihrer Partikularität, etwas begreift, das nicht nur ihr zukommt, sondern allen Ideen. In diesem Falle transzendiert die Seele ihren beschränkten Standpunkt, ohne ihren Bezug auf je bestimmtes Körperliches aufzugeben. Im Gegenteil, es ist gerade der Bezug auf die Körperwelt als den Objektbereich der Ideen, der es der Seele erlaubt, ein Gemeinsames zu erfassen, das allen Körperdingen zukommt. In der Erfassung dieses Gemeinsamen ist die Seele eine Idee, kraft deren sie etwas vorstellt, das nicht Ausdruck der Beschränktheit dieser Idee ist, sondern von allen Ideen in gleicher Weise vorgestellt werden kann. Spinoza gewinnt die Bestimmung der Gemeinsamkeit aller Ideen aus deren Charakter, Körper zum Gegenstand zu haben. Körperliches unterliegt allgemeinen Bestimmungen (auf den Hilfssatz 2 der Körpertheorie im Anschluß an II, prop. 13 bezieht sich das corollarium zu II, prop. 38), die als notiones communes vom Menschen adäquat erkannt werden (II, prop. 39). Diese Allgemeinbestimmungen sind im einzelnen Körper gleichermaßen wie im Ganzen aller Körper und daher in der einzelnen Idee gleichermaßen wie im Totalitätszusammenhang aller Ideen. Die Restriktion des intellectus infinitus auf eine einzelne Idee ist hier für die einzelne Idee kein Defekt, weil in bezug auf das Allgemeine der unendliche Intellekt in den Ideen, die er über die, die die einzelne Seele ist, hinaus noch hat, nichts anderes erfaßt als in der jeweils einzelnen Idee. Das Erfassen des Allgemeinen geschieht durch den unend­lichen Intellekt, der sich allein in der endlichen Seele manifestiert, der also dadurch, daß er noch andere Ideen hat, hinsichtlich des zu erkennenden Allgemeinen nichts hinzugewinnt (II, prop. 39). Dieses Allgemeine ist zwar das Allgemeine von Körpern, von denen der Mensch in der Selbstsein und Absolutes  |  69

Weise der imaginativen Erkenntnis weiß, aber seine Erkenntnis geschieht nicht durch die imaginatio, nicht durch deren Verallgemeinerungen, denn diese, gebunden an die Ideen der Affektionen des Körpers, führen nur zu verworrenen Erkenntnissen (II, prop. 40, schol. 1). In der Erkenntnis der notiones communes hat der Mensch Distanz zum unmittelbaren Eingenommensein durch die Ideen der Affektionen des Körpers gewonnen. Die notiones communes, die nicht durch die Verallgemeinerung sinnlicher Erfahrungen gewonnen werden, sind die unendlichen modi des Attributes Ausdehnung und die daraus zu folgernden allgemeinen Bewegungsgesetze. Sie können vom Menschen nur gewußt werden, wenn der Mensch um das weiß, woraus diese folgen, d. h. um die göttliche Substanz. Nur das ist vom Charakter eines wahrhaft Allgemeinen, unter dem jedes Seiende steht, das nicht die Verallgemeinerung einer beschränkten Perspektive ist (die des sinnlich erkennenden Menschen), das vielmehr erkannt ist als eine Folge Gottes, der der Grund alles Seienden ist. Sofern der Mensch dieses Allgemeine erkennt, erkennt er etwas, das er nicht aus seiner beschränkten Perspektive gewonnen hat und das deshalb in der beschränkten Perspektive auch nicht als ein beschränktes erscheint. Der Mensch kann es nur erkennen unter der Voraussetzung, daß die Idee Gottes dem menschlichen Erkennen schon zugrunde liegt und von ihm nur aufgedeckt wird. Dieses Aufdecken ist eine Leistung des Denkens, bei der das Denken (idea) bei sich ist, nicht getrübt durch die Affektionskette, in der ein bestimmter Körper als Gegenstand der idea steht. Im rationalen Denken weiß sich die menschliche Seele dergestalt innerlich bestimmt (vgl. II, prop. 29), denn sie betrachtet die Dinge jetzt unter einem Aspekt, den sie aus sich qua Denken (idea) alleine nimmt. Die Seele als idea ist hier bei sich, nicht bedingt durch andere Ideen von je bestimmten Körpern, die die Seele, weil sie beschränkt ist, nicht hat und die deshalb außerhalb von ihr sind. Nun ist die menschliche Seele idea corporis actu existentis, d. h. in ihrem Denken bezogen auf einen wirklichen Körper, der in jeweils konkreten Bezügen zu den anderen Körpern steht. Im rationalen Erkennen erfaßt die Seele das sie in ihrem jeweiligen konkreten Bestimmtsein konstituierende Körperliche als ein Allgemeines und darin sich selber in einer Allgemeinheit, in der sie mit allen denkenden Individuen darin übereinstimmt, Teil des unendlichen 70  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Verstandes zu sein. Teil des unendlichen Verstandes ist die Seele zwar auch im imaginativen Erkennen, ohne aber darum zu wissen. Dort weiß sie sich nur von den Ideen der Affektionen des Körpers her, hier aber aus einer Relation zum Denken heraus. Darin weiß die Seele sich als Grund der Ideen, die sie hat. Sie ist die adäquate Ursache dessen, was sie hervorbringt, ihrer Ideen, weil die Ideen von Körperlichem nicht (als Ideen der Affektionen des Körpers) mitbedingt sind durch eine Affektionskette, in der ein Körperliches steht, sondern aus der Natur der Seele qua Denken folgen. Darin kann von dem Menschen gesagt werden, daß er handelt (III, def. 2) und nicht Einwirkungen von außen erleidet. Dieses Handeln schließt freilich nicht aus, daß der Mensch auch leidet, daß er inadäquate Ideen hat. Denn als konkret Einzelnes ist er konkreten Weltbezügen ausgesetzt. Diese Weltbezüge kann die ratio, die nicht auf Einzelnes als solches geht, nicht erfassen. Das Konkrete ist nicht bloß der Fall eines Allgemeinen; es ist in sich eine Realität, die nicht privativ zum Allgemeinen steht. Die sinn­ liche Welterfahrung ist zwar nicht wahr, aber wir machen sie nicht deshalb, weil sie nicht wahr ist, sondern weil ihr wirkliche Affektionen unseres Körpers zugrunde liegen (II, prop. 35, schol.). Diese Wirklichkeit ist durch das rational zu erkennende Allgemeine nicht bestimmbar. So liefert die rationale Erkenntnis zwar eine Erkenntnis der Seele von sich, in der die Seele einen Selbstbezug realisiert, kraft dessen sie in der Bildung der notiones communes tätig ist, doch bleibt diese Selbsterkenntnis abstrakt angesichts des konkreten Bestimmtseins der Seele als idea corporis actu existentis. In ihr kann deshalb der conatus als Tendenz zur Selbsterhaltung gegenüber einem Bedrohtsein von außen nicht seine Erfüllung finden. Über der rationalen Erkenntnis steht die intuitive, in der Gott ausdrücklich Gegenstand des Wissens ist, nicht nur implizit wie in der imaginatio und ratio. Imaginatio und ratio haben die Ideen der Affektionen von Körperlichem bzw. die Allgemeinbegriffe von Körperlichem zum Gegenstand, darin freilich auch Gott, ohne den weder die endlichen noch die unendlichen modi sein können. In beiden Erkenntnisformen ist Gott dem Menschen aber nicht so Gegenstand, daß er sich in seiner konkreten Individualität von Gott her begreift. In der imaginatio weiß sich der Mensch von den Ideen Selbstsein und Absolutes  |  71

der Affektionen seines Körpers her und weiß darin nicht, daß sein spezifischer Gegenstand, sein Körper, ursächlich bedingt ist durch die Kausalität des göttlichen Attributes. In der ratio weiß sich der Mensch vom intellectus infinitus her, von dem her er sich in seinem Denken als dessen Teil weiß (was er auch im imaginativen Erkennen ist, ohne es zu wissen), und weiß sich darin immer noch unzureichend. Denn er weiß sich als äußerlich bestimmt, wenn auch nicht durch ein undurchschautes Affektionsgefüge, so doch durch ein abstraktes Allgemeines, als dessen besonderer Fall er sich versteht. Darin begreift er sich gerade nicht in seiner inneren Bestimmtheit, in seinem spezifischen Status, als endlicher modus in Bezügen zu anderen endlichen modi zu stehen und eben deshalb nach Selbsterhaltung zu streben. In der intuitiven Erkenntnis erst erkennt der Mensch sich selbst adäquat, nämlich sich in dem Zusammenhang, aufgrund dessen der conatus eine innere Bestimmung des Erkennenden ist, d. h. sich als ein endliches Seiendes in der Relation zu anderem endlichen Seienden. So erlangt erst in der dritten Erkenntnisgattung der conatus eine Gestalt, die dem endlichen Seienden die Erhaltung seiner selbst erlaubt. Dies gilt es im folgenden zu erörtern. IV.

Vom Wert und Nutzen dieser Erkenntnisgattung handelt Spinoza im fünften Teil der »Ethik«, also im Zusammenhang seiner Theorie der Befreiung von den Affekten. Von Bedeutung ist die scientia intuitiva, obschon sie ein theoretisches Vermögen ist, nicht so sehr für die Erkenntnisleistung des Subjekts, sondern für dessen praktisches Sichverhalten. Denn dort ist das Subjekt Affektionen ausgesetzt, die ihren Grund in den jeweils konkreten Dingen außerhalb des Subjekts haben, auf die das Subjekt in seiner praktischen Tätig­ keit bezogen ist und die nicht einfach als Fälle eines Allgemeinen aufgefaßt werden können. Im theoretischen Erkennen kann ich im Medium der ratio zu einer adäquaten Erkenntnis gelangen, die Einzelnes als Fall eines Allgemeinen, der aus den unendlichen modi des Attributes Ausdehnung resultierenden allgemeinen Bewegungsgesetze, begreift und darin mich in meiner theoretischen Haltung zufriedenstellt. Das Erkennen kann sich auf dieser Ebene 72  |  I. Ontologie und Subjektivität 

der Erkenntnis beruhigen. Im Felde praktischer Bezüge handelt das Subjekt zwar, sofern es adäquate Ideen hat (III, def. 2), doch schließt gerade hier dieses Haben von adäquaten Ideen nicht das Leiden aus (III, prop. 1), weil das praktische Leben als Agieren in konkreten Weltbezügen ein affektives Leben ist. Darin steht das Subjekt in Weltbezügen, die es in dem, was es ist, mitbestimmen und die nicht aufhören es mitzubestimmen, wenn das Subjekt die adäquate Erkenntnis der allgemeinen Gesetzlichkeit des Affekte­ mechanismus hat. Denn es sind konkrete Bezüge, die das Subjekt im Felde der Praxis bestimmen. In diesem Zusammenhang ist das Subjekt trotz der allgemeinen Erkenntnis im Medium der ratio durch Äußeres bedroht, gegen das anzukämpfen die innere Bestimmung jedes Seienden ist. In diesem Ausgesetztsein gegen äußere Bedrohung würde das Subjekt erliegen, vermöchte es nicht das Äußere so auf sich zu beziehen, daß es dieses aus dem Grunde begreift, der göttlichen Substanz, der auch Grund des begreifenden Subjekts ist und der darin zwischen dem einzelnen Subjekt und den Dingen der Welt den Kontext stiftet, der die Erhaltung des Subjekts garantiert. Zwar ist auch die rationale Erkenntnis bei der Bekämpfung der Affekte und damit als Medium des conatus in suo esse perseverandi von Bedeutung; denn das Wissen um das Allgemeine des affektiven Zusammenhanges bringt eine Stabilität in das Subjekt, ohne die es den affektiven Eindrücken völlig erläge und daher nicht jene Distanz zu ihnen erlangen könnte, die die Bedingung jeglichen Angehens gegen die Affekte ist. Die Begierde, in der dritten Erkenntnisgattung zu erkennen, kann nicht aus der ersten entspringen, wohl aber aus der zweiten (V, prop. 28). Aber erst die intuitive Erkenntnis reicht so weit, daß sie gegen das faktische Bedrohtsein des Subjekts angehen kann. Soll die scientia intuitiva eine Bedeutung haben für das nach Selbsterhaltung strebende endliche Seiende, dann muß sie eine Möglichkeit des endlichen, je bestimmtes Körperliches vorstellenden Menschen sein. Das zeigt Spinoza zunächst im 2. Teil der »Ethik«. Die menschliche Seele hat eine adäquate Erkenntnis der Essenz Gottes (II, prop. 47), weil sie (Beweis hierzu) Ideen hat, kraft deren sie sich, ihren Körper und äußere Körper als wirklich existierend wahrnimmt, also weil sie Ideen hat, die sie hat, sofern sie als idea corporis actu existentis in der Zeit existiert. Vorbereitet wird dieser Selbstsein und Absolutes  |  73

Lehrsatz durch die vorhergehenden Lehrsätze 45 und 46, in denen demonstriert wird: Jede Idee eines wirklich existierenden Einzeldinges schließt Gottes Essenz ein, weil die wirkliche Existenz eines Einzeldinges nicht nur bedingt ist durch die Kausalität anderer einzelner Dinge (als in bestimmter Zeit und an bestimmtem Ort existierend), sondern durch das Wesen Gottes selbst, aus dem die Kraft jedes Seienden, in der Existenz zu beharren, als seine innere Bestimmung folgt (II, prop. 45, coroll.). Sofern die Idee auf ein Seiendes geht und dieses Seiende Gottes Essenz zur Ursache hat, schließt die Idee, die Erkenntnis von etwas ist, das Wesen Gottes in sich, da (I, ax. 4) die Erkenntnis einer Wirkung die Erkenntnis der Ursache in sich schließt.4 Nach Lehrsatz 46 ist diese Erkenntnis adäquat, da sie etwas zum Gegenstand hat, was für jede Idee gilt, worauf diese sich auch beziehen mag (ob auf einen Teil oder auf das Ganze). Grundlegend für die in II, prop. 40, schol. 2 eingeführte Erkenntnisgattung der scientia intuitiva, die über die ratio hinausreicht, ist also das Moment der Kausalität Gottes und der Bezug des Erkennenden auf diese Kausalität, sofern Erkennen Erkennen von Wirkungen aus deren Ursache ist. Im Erkennen ist das Subjekt auf ein Wirkliches bezogen und darin auf die Ursache dieses Wirklichen. Dies ist eine Implikation, die dem erkennenden Subjekt zukommt, sofern es idea ist. Das bedeutet freilich nicht, daß es deshalb um die genannte Implikation auch weiß, daß es also das Vorgestellte als verursacht durch die Kausalität des göttlichen Attributes erkennt. Hierfür muß es das, was in der Idee impliziert ist, zum Gegenstand der Erkenntnis machen können. Das Wesen Gottes ist zwar in jeder Idee impliziert, sofern sie Erkenntnis ist; es selber ist aber erst erkannt, sofern das Subjekt der Idee eine Erkenntnis von ihm hat. In Frage steht also, wie das menschliche Subjekt eine adäquate Erkenntnis der Essenz Gottes haben kann. Und deshalb werden im 47. Lehrsatz die Bedingungen genannt, unter denen der Mensch, die mens humana, Ideen hat, unter denen also Ideen, die die Essenz Gottes einschließen, für ihn sind. Dieses Für-ihn-sein steht unter den Bedingungen der Endlichkeit menschlichen Denkens, des konkreten Existierens 4 

Zur fundamentalen Funktion des 4. Axioms von Ethik I vgl. M. Gueroult, Spinoza I (Dieu), Paris 1968, 95 ff. und II (L’âme), Paris 1974, 421 f. und 530 f. 74  |  I. Ontologie und Subjektivität 

im Gefüge anderer endlicher modi. Spinoza hebt also ausdrücklich hervor, daß die intuitive Erkenntnis eine Möglichkeit des in der Zeit existierenden Menschen ist. Diese Möglichkeit hat ihren Grund in dem, was auch die rationale Erkenntnis ermöglicht, daß nämlich der menschliche Verstand Teil des unendlichen Verstandes ist und darin eine adäquate Erkenntnis dessen haben kann, was in einem Teil, worauf der menschliche Verstand eingeschränkt ist, nicht anders ist als im Ganzen. Darin erkennt der menschliche Verstand wie der unendliche. So wie die unendlichen modi Gegenstand des menschlichen Verstandes sein können, so kann es auch die Essenz Gottes sein, die im Einzelnen, das der Mensch erkennt, freilich anders ist als jene, nicht als ein Allgemeines und darin dem Einzelnen äußerlich, sondern als kausierender Grund und darin diesem als innere Bestimmung. Spinoza folgert daraus, daß Gottes unendliche Essenz allen bekannt (notus) ist (II, prop. 47, schol.), d. h. daß sie jedermann, sofern er überhaupt erkennt, prinzipiell zugänglich ist. Diese Bekanntheit ist einerseits der Grund der Möglichkeit der intuitiven Erkenntnis. Andererseits ist es die intuitive Erkenntnis, die das, was allem Erkennen zugrunde liegt und darin jedem Erkennenden bekannt ist, dem Erkennenden erst zu deutlichem Bewußtsein bringt. Das zugrunde Liegende ist uns verdunkelt, zwar an sich bekannt, damit aber noch nicht etwas für uns5. Es ist der unser Erkennen bestimmende Bezug auf äußere Körper, der unsere Erkenntnis der Essenz Gottes verdunkelt (II, prop. 47, schol.). Aufhellung der Verdunkelung verlangt, die Dinge der äußeren Welt, die uns in unserer konkreten Existenz bestimmen, aus dem Wesen Gottes zu erkennen und darin die Erkenntnis Gottes zu realisieren, in der er als der Grund unserer konkreten Existenz erkannt wird, worin er allererst uns bekannt ist. Sofern wir aus der Erkenntnis der Essenz Gottes sehr viele adäquate Erkenntnisse ableiten können, realisieren wir die dritte Erkenntnisgattung (ebd.). Diese Vielzahl von Erkenntnissen ist eine Vielzahl in bezug auf die Vielzahl von Dingen, die es zu erkennen gilt und die prinzipiell aus Gott erkennbar ist, da 5 

Es ist die alte aristotelische Unterscheidung zwischen dem gnorimoteron te physei und dem gnorimoteron hemin (Phys. 184a). Vgl. auch Hobbes, De corpore VI, 2. Selbstsein und Absolutes  |  75

alles, was ist, in Gott ist (I, prop. 15). Die intuitive Erkenntnis schreitet deshalb fort von der adäquaten Idee der formalen Essenz einiger Attribute Gottes zu der adäquaten Erkenntnis der Essenz der Dinge (II. prop. 40, schol. 2). Erst in diesem Fortschreiten erfaßt der Mensch Gott als den Grund seiner selbst in seiner Konkretheit und darin sich, der in einem Gefüge endlicher Weltbezüge existiert, aus Gott. Die bloße Erkenntnis Gottes als des kausierenden Grundes aller modi und damit auch der menschlichen Seele bliebe abstrakt und darin der menschlichen Seele äußerlich, weil in dieser Form der Mensch Gott nicht als Grund seiner konkreten Existenz wüßte und das heißt als Grund der Weltbezüge, denen er ausgesetzt ist. Zu unterscheiden ist also die Erkenntnis Gottes und die intuitive Erkenntnis des Wesens der Dinge aufgrund der Erkenntnis Gottes. Doch greifen diese beiden Weisen der Erkenntnis ineinander. Auch die intuitive Erkenntnis des Wesens der Dinge ist Gotteserkenntnis, denn sie erkennt Gott von dem her, wovon Gott der Grund ist, d. h. ihn in der konkreten Bestimmtheit, Grund endlicher modi zu sein. Nun ist Gott der Grund aller modi, für die endliche Seele ist er jedoch nur Grund der modi, die die Seele im Medium intuitiver Erkenntnis erkennen kann. Für sie gibt es deshalb ein Mehr und Minder der Gotteserkenntnis, je nachdem wieviel der Dinge sie zu erkennen vermag. Andererseits ist die intuitive Erkenntnis der Dinge, durch die Gott erkannt wird, nur aus der Erkenntnis Gottes möglich. Anders kann nicht verständlich gemacht werden, daß der menschliche Verstand in seiner Begrenztheit Dinge als aus dem Wesen Gottes resultierend erkennen kann und darin Gott als den konkreten Grund von je bestimmtem Seienden. Die intuitive Erkenntnis ist eine Möglichkeit des menschlichen Verstandes zwar nur, sofern dieser Teil des unendlichen Verstandes ist, aber deshalb nicht das Verfahren des unendlichen Intellekts selber. Der unendliche Intellekt hat mit der Erkenntnis Gottes die aus dessen Essenz folgenden modi in deren Mannigfaltigkeit zugleich und auf einmal präsent. Er bedarf nicht eines procedere, in dem er von der Erkenntnis der Essenz Gottes, seiner Attribute, zu der Erkenntnis des Wesens der Einzeldinge fortschreitet. Durch dieses procedere ist die intuitive Erkenntnis aber definiert; sie ist darin eine spezifische Möglichkeit des menschlichen Verstandes. Der menschliche Verstand erkennt Gott nur unter den Bedingungen, die für 76  |  I. Ontologie und Subjektivität 

ihn selber konstitutiv sind, nämlich unter den Bedingungen seiner Endlichkeit. Er erkennt ihn nicht nur unter der Einschränkung lediglich zweier Attribute, die, weil ein Attribut, das selber von substantieller Bestimmung ist, das Wesen Gottes ganz zum Ausdruck bringt, die Möglichkeit der menschlichen Gotteserkenntnis noch nicht beschränkt. Er erkennt vielmehr das Attribut selber hinsichtlich dessen, was aus diesem Attribut folgt, nur in eingeschränkter Form, weil nämlich das, was aus dem Attribut folgt, nicht etwas ist, das auch noch zu dem Attribut hinzukommt, dieses also kein Fürsichbestehen hat unabhängig von den modi, die aus ihm resultieren. Zwar ist das unteilbare Attribut in jedem Seienden, sofern es modus dieses Attributes ist, präsent, als dessen Ursache nämlich, und insofern auch in der denkenden Seele. Sofern die denkende Seele das göttliche Attribut als ihren Grund weiß, hat sie eine vollständige Erkenntnis Gottes. Doch ist Gott als causa sui stets causa von etwas, causa der Totalität der modi. Als diese causa weiß die Seele ihn nur, insoweit sie von den modi weiß, deren causa Gott ist. Und die modi erkennt sie nicht in einer Totalität. Das heißt: das Wissen, das die Seele von Gott hat, ist gebunden an das Wissen, das sie von sich hat, nämlich von sich in ihrer konkreten Relation zu anderen endlichen modi. Dieses Wissen ist aber nur insofern adäquates Wissen, als es in einem Wissen von Gott fundiert ist. Diese dialektische Spannung ist konstitutiv für das Wissen, das die scientia intuitiva ist. V.

Die Struktur dieses Wissens entfaltet Spinoza im fünften Teil der »Ethik«. Ein zentraler Lehrsatz lautet: »Tertium cognitionis genus pendet a mente, tanquam a formali causa, quatenus mens ipsa aeterna est.« (V, prop. 31). Er steht im Argumentationsduktus der zweiten Hälfte des fünften Teiles, die mit Lehrsatz 21 beginnt und die erörtern will (V, prop. 20, schol.), was die Dauer der Seele ohne Beziehung auf den Körper betrifft. Diese Dauer, getrennt von der Dauer des wirklich, d. h. in der Zeit existierenden Körpers, ist nicht durch die Zeit bestimmbar, keine zeitliche Dauer. Es kann aber von einer Dauer der Seele gesprochen werden, sofern ihr etwas zukommt, das, so formuliert es der 23. Lehrsatz, mit der Zerstörung Selbstsein und Absolutes  |  77

des Körpers nicht zerstört wird, sondern etwas ist, das zurückbleibt (remanet), ein Bleibendes, der Vergänglichkeit Entzogenes, etwas, das ewig (aeternum) ist. Der Lehrsatz 31 macht nun die dritte Erkenntnisgattung von der Ewigkeit der Seele abhängig, d. h. von einem Moment an ihr, das unabhängig von der Dauer des Körpers ist. Doch bedeutet dies nicht, daß Spinoza sich hiermit in den Gegensatz zu dem im zweiten Teil Exponierten stellt, in dem die Seele als idea corporis actu existentis gefaßt worden ist. Er hebt nur ein Moment heraus, das dort nicht ausdrücklich gemacht worden ist, das aber an die dort exponierten Bedingungen gebunden ist. Denn die Seele ist ewig, weil sie denkt, und sie denkt nur, sofern sie an einen Körper gebunden ist6 . Im Beweis zum Lehrsatz 23 argumentiert Spinoza wie folgt: In Gott gibt es notwendig eine Idee, nämlich den unendlichen Verstand (nach II, prop. 3), die das Wesen des menschlichen Körpers sub specie aeternitatis ausdrückt, d. h. unter der Form, in der Körperliches, die Vielfalt der modi des Attributes Ausdehnung, aus diesem Attribut folgt. Ebendeshalb sei diese Idee etwas, das zum Wesen der menschlichen Seele gehört. Denn (und hierfür beruft sich Spinoza auf den zweiten Teil der »Ethik«, nämlich Lehrsatz 13) Objekt der Idee, die die menschliche Seele ausmacht, ist der menschliche Körper, und ebendeshalb ist das, was diesen Körper ausdrückt, der Seele wesentlich. Die Seele ist also nicht ewig, weil sie nach diesem Leben fortdauert, sondern weil sie erkennt – und wann soll dieses Erkennen geschehen, wenn nicht in diesem Leben, das ein endliches Leben ist? –, daß ihr Körper, der vergeht, ewig ist. Und sie erkennt dies, wenn sie ihn in seinem Wesen erfaßt, d. h. ihn nicht nur in seiner zeitlichen Dauer, sondern als notwendiges Resultat der Kausalität der göttlichen Essenz, also sub specie aeternitatis. In dieser Erkenntnis, d. h. im Denken, weiß sich die Seele als ewig, weil sie einen Zusammenhang, der das Objekt ihres Denkens ist, unter dem Aspekt der Notwendigkeit erkennt. Wenn sie diesen Zusammenhang nicht erkennt, d. h. nicht denkend den Grund aller modi erfaßt, ist sie nicht in einem ausgezeichneten Sinne ewig. 6  Meine

andersartige Interpretation in »Metaphysik als Ethik. Zu einem Buchtitel Spinozas« [in diesem Band, S. 11 – 30] muß ich in diesem Punkt korrigieren. 78  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Als modus des Attributes Denken ist sie so ewig wie jeglicher modus, auch der des Attributes Ausdehnung, ewig ist, nämlich für den unendlichen Verstand, der die Notwendigkeit aller Dinge aus dem Wesen Gottes und darin deren Ewigkeit erkennt. Die Ewigkeit eines so verstandenen modus ist eine Bestimmung, die ihm von außen auferlegt wird, von einem anderen her (dem unendlichen Verstand). Es ist keine Bestimmung, die für ihn ist, d. h. die er weiß. Sie der menschlichen Seele zuzusprechen, die nicht nur Körperliches repräsentiert wie jeder modus des Denkens, sondern Körperliches erkennt und zwar adäquat, nämlich aus dessen letzten Grund, ist aber eine ausgezeichnete Bestimmung, weil hier die Seele im Erkennen sich als ewig weiß. Sie ist nicht nur durch Gott bestimmt, sondern weiß sich durch Gott bestimmt. Dieses Wissen von Gott ist eine Erkenntnis, die der mensch­ lichen Seele gegeben ist, sofern sie denkt und darin ein ewiger modus des Attributes Denken ist. Es ist eine cognitio data (V, prop. 31, dem.), die die Seele nicht zustandebringt, sondern die in ihr qua idea gelegen ist und die sie nur aufdecken, sich bewußt machen muß, die sie erfassen muß als das, was ihrem Denken zugrunde liegt. Es ist die zugrundeliegende Idee Gottes, die auch die rationale Erkenntnis des Allgemeinen ermöglicht. Sie zu erfassen, hat zur Voraussetzung, daß der Mensch der Reflexion fähig ist. Das Wissen von Gott als dem Grund der Ewigkeit der Seele enthält jedoch mehr, als im rationalen Erkennen geleistet wird. Denn in ihm weiß die Seele sich als ewig, sofern sie denkt, und das heißt sich in einer je bestimmten Konkretion, sofern sie als idea corporis actu existentis jeweils Bestimmtes der körperlichen Welt denkt. Diese Erkenntnis ist nicht mehr abstrakt wie im rationalen Erkennen. Denn die Seele hat eine Erkenntnis, die Gott und ein von ihm dependierendes Einzelnes erkennt, nämlich das Einzelne, das die Seele selber ist. Im Erkennen des Wesens ihres Körpers bedient sich die Seele zwar der zweiten Erkenntnisgattung, mit deren Hilfe sie den Körper unter einem gewissen Aspekt der Ewigkeit begreift (II, prop. 44, schol. 2), erkennt darin aber zugleich sich, die diese Erkenntnis hat, als ewig in Gott enthalten, nämlich als ewiger modus des Attributes Denken. Sie erkennt darin sich als Einzelnes in Gott enthalten, weil sie für sich darin nur enthalten ist, sofern sie denkt, sie aber nur denkt, sofern sie ein Einzelnes ist, nämlich Selbstsein und Absolutes  |  79

in der Gestalt, wie die mens humana im zweiten Teil der »Ethik« entwickelt worden ist als ein Seiendes, das idea eines je bestimmten Körpers ist. Die dritte Erkenntnisgattung, die auf das Wesen von Einzelnem geht und nicht nur auf die notiones communes, hat also zur Bedingung, daß die erkennende Seele als Einzelnes sich durch Gott bestimmt weiß. Das will der Rekurs auf die Ewigkeit der Seele als der formalen Ursache der dritten Erkenntnisgattung, den Spinoza in V, prop. 31 vornimmt, zum Ausdruck bringen. Hiermit wird ein Doppeltes erreicht: die Seele ist auf Gott bezogen und sie ist zugleich auf Einzelnes bezogen, auf das nämlich, zu dem sie in Relation steht, sofern sie selber ein Einzelnes ist. Einzelnes ist in seinem Wesen nur erkennbar durch die Vermittlung des einzelnen modus Seele, der allein von sich weiß, daß er als Einzelnes von Gott dependiert und in bezug auf den allein ebendies von anderen Einzelnen gewußt werden kann. Einzelnes wird als von Gott dependierend erkannt, sofern es von der Seele nicht direkt auf Gott bezogen wird, sondern auf sich selber. Die sich wissende Seele ist die Vermittlungsinstanz zwischen Gott und Welt, Welt in der Mannigfaltigkeit des realen Auseinanderseins von je bestimmten Einzelnen verstanden, die als diese nicht aus dem Begriff Gottes deduzierbar ist. Vermittlung zwischen der Faktizität der Welt und Gott als dem letzten Grund dieser Welt ist nur möglich vom Boden dieser Faktizität aus, d. h. von einem endlichen modus aus, der der Reflexion fähigen mens humana. Die Welt ist in ihrer Wahrheit nur dadurch erkennbar, daß die mens humana das, was außerhalb von ihr liegt, auf sich zu beziehen trachtet, also aus dem Selbstbezug der menschlichen Seele. Nun ist die erkennende Seele in ihrer Konkretheit nur im Bezug auf Einzelnes, denn dieser Bezug macht ihre Konkretheit aus. In dem, was sie ist, kann sie sich also nur aus dem Bezug zu Einzelnen heraus erkennen. Aber die Seele muß sich schon erkennen, nämlich sich als ewig, damit sie das Einzelne in dessen Wesen und damit in dessen wesentlichen Bezug zu ihr selber erkennen kann. Denn sie muß sich aus dem Grund wissen, aus dem sie Einzelnes dann erkennt. Dieses Sichwissen ist für das intuitive Erkennen der Einzeldinge, durch das die Seele zugleich sich selbst in ihrer Konkretheit erkennt, vorausgesetzt. Vorausgesetzt ist damit dies, daß ich, damit ich im Erkennen fortschreiten kann (in bezug auf die Dinge 80  |  I. Ontologie und Subjektivität 

der Welt), die Erkenntnis Gottes schon haben muß, sie aber nicht gewinnen kann aus dem Prozeß des Fortschreitens, läge sie diesem Prozeß nicht schon zu Grunde. Der Erkenntnisprozeß bezüglich der Dinge terminiert nicht in der Erkenntnis Gottes. In jedem Stadium der Erkenntnis erkennt der Erkennende Gott, gleichwohl strebt er, mehr zu erkennen, nämlich mehr der Einzeldinge. Darin erkennt er Gott mehr, ihn nämlich in größerer Bestimmtheit hinsichtlich der Dinge, als deren causa er Gott weiß. Und er erkennt darin sich mehr, nämlich sich in dem Verweisungsgeflecht zu den Dingen der Welt, und er entgeht mehr und mehr der Gefahr, durch Äußeres, das er nicht durchschaut, vernichtet zu werden. So gelangt in der intuitiven Erkenntnis Gott zu einer größeren Bestimmtheit; in keiner Phase der Erkenntnis bleibt er jedoch abstrakt, wie es die notiones communes sind, und deshalb dem Erkennenden nicht äußerlich wie jene in der rationalen Erkenntnis. Der Erkennende weiß sich durch Gott innerlich bestimmt, mag er auch Gott nicht in der vollen Bestimmung des Grundseins alles bestimmten Seienden erkennen, sondern nur nach Maßgabe dessen, welche Einzeldinge der Erkennende jeweils erkennt. So strebt er danach, mehr zu erkennen, aber er strebt darin nicht über sich hinaus, sondern danach, einen Grund zu explizieren und das heißt sich zu größerer Deutlichkeit zu bringen, der in jedem Seienden, wie geartet dessen Weltbezug auch sein mag, präsent ist. Diese Bestimmung ist entscheidend für Spinozas Konzept eines nichtteleologischen conatus, eines Strebens, das auf etwas aus ist, was zu erreichen ist, das aber gleichwohl nicht auf ein Ziel gerichtet ist, das außerhalb des Seienden gelegen ist, das da strebt. Hier erfüllt sich der conatus der Selbsterhaltung. Die Seele strebt, auch sofern sie sich als ewig weiß, weil sie sich in diesem Wissen noch nicht in ihrer konkreten Bestimmtheit weiß, d. h. sich nicht als das Seiende, das in je bestimmten Relationen zu anderem Seienden steht. Deshalb betont Spinoza in V, prop. 24 im Anschluß an den Lehrsatz 23, der von der Ewigkeit der Seele handelt, die andere Seite der Theorie der Ewigkeit, nämlich: »Quo magis res singulares intelligimus, eo magis Deum intelligimus.« Er betont, daß die Erkenntnis Gottes, die ja Grund dessen ist, daß die Seele nicht nur ewig ist, sondern sich als ewig weiß, auch in Relation steht zu unserem Erkenntnisprozeß, der quantitativ bestimmbar ist, nämlich Selbstsein und Absolutes  |  81

hinsichtlich des Quantums von Einzeldingen, die wir zu erkennen vermögen. Der Beweis hierfür beruft sich einfach auf I, prop. 25, coroll., demzufolge die Einzeldinge (res singulares), als deren causa efficiens in bezug auf Existenz und Essenz in diesem Lehrsatz Gott ausgegeben wird, Gottes Attribute in gewisser und bestimmter Weise ausdrücken. Aus ihm ist freilich nur zu entnehmen, daß Gottes Wesen durch die von ihm produzierten modi mitbestimmt wird und daß deshalb die Erkenntnis dieses Wesens das aus diesem Wesen Folgende mitzuerkennen hat. Daß unsere Erkenntnis des Wesens Gottes an einen sich steigernden Prozeß (je mehr, um so mehr) gebunden ist, folgt aber nicht aus der Ontologie des ersten Teils der »Ethik«. Es ist Resultat der Erwägungen der Struktur der menschlichen Seele, wie sie im zweiten Teil vorgenommen worden sind, d. h. der endlichen Seele, die idea corporis actu existentis ist. Dies nimmt Spinoza auf, weil die als ewig verstandene Seele allein die erkennende Seele und das heißt die in der Zeit existierende Seele ist. Für sie ist die Erkenntnis Gottes an einen Prozeß des Mehr- und Mehr-Erkennens gebunden. Diese Steigerung bezieht sich nicht auf Gott in dem Sinne, daß sich seine Erkenntnis additiv zusammensetzte mittels quantitativer Steigerung perspektivischer Ausschnitte, die die Seele von ihm hat. Gott ist der erkennenden Seele ganz, d. h. ungeteilt, gegenwärtig, sofern sie ihn als ihren Grund weiß. Sie kann ihn aber nur wissen als konkret einzelne Seele; denn nur eine solche Seele kann überhaupt wissen. Was sie als einzelne ist, weiß sie aber nur aus der Relation zu anderem Einzelnen, und das weiß sie nie auf einmal. Sie erkennt also sich mehr, je mehr sie die Einzeldinge erkennt, und darin erkennt sie Gott mehr, nämlich als Grund dessen, von dem sie mehr weiß, und darin Gott in einer größeren Bestimmtheit hinsichtlich dessen, was er an einzelnen modi produziert. In dieser Form der Gotteserkenntnis, die durch die scientia intuitiva geschieht, realisiert sich der conatus der Seele in seiner höchsten Form, denn in ihr gelingt der Seele die Selbsterhaltung im höchsten Maße, insofern sie Einzelnes, das außerhalb von ihr ist und darin eine potentielle Bedrohung für sie darstellt, aus dem Grunde begreift, dem Wesen Gottes, der auch der Grund ihrer selbst ist. Der anschließende Lehrsatz 25 formuliert es ausdrücklich: »Summus mentis conatus, summaque virtus est res intelligere 82  |  I. Ontologie und Subjektivität 

tertio cognitionis genere.« Er präzisiert darin, was Spinoza schon in IV, prop. 28 herausgestellt hat, daß das höchste Streben der Seele – und Streben ist immer Streben nach Selbsterhaltung – in der Erkenntnis Gottes besteht, insofern (nach I, prop. 15) Gott das Wesen ist, ohne das nichts sein oder begriffen werden kann, und die Erkenntnis dieses Wesens die Dinge so erkennen läßt, daß sie nicht ein der Seele Äußeres sind. Lehrsatz 25 präzisiert dies, indem er die Bedingungen formuliert, unter denen die Erkenntnis Gottes steht, in der Gott als der Grund einzelner Dinge begriffen werden kann. Der daran anschließende Lehrsatz 26 stellt das dynamische Moment der intuitiven Erkenntnis heraus. Er bindet das Begehren der Seele, in der dritten Erkenntnisgattung zu erkennen, an die Fähigkeit der Seele zu dieser Erkenntnis. Das Begehren, d. h. das Streben, intuitiv zu erkennen, ist verschieden groß, je nach der Fähigkeit zu dieser Erkenntnis, die ihrerseits einem Mehr oder Minder unterliegt. Sie unterliegt einem Mehr oder Minder, weil sie nicht identisch ist mit dem Wissen der Seele, in der diese sich als ewig weiß. Sie ist relativ auf die Einzeldinge, je nachdem (V, prop. 24) wieviel Einzeldinge erkannt worden sind. Das Begriffenhaben von Einzelnem versetzt den Menschen in einen Stand vergrößerter Weltbeziehungen und von daher erst in die Lage, ein Mehr an Einzeldingen zu erkennen, was einen sich fortsteigernden Prozeß darstellt. Das Streben, sich zu verwirklichen (im Medium der dritten Erkenntnisgattung) ist gebunden an einen Stand des Menschen in der Welt. Von daher ist ganz klar, daß im intuitiven Erkennen nicht nur etwas aufgedeckt wird, was von Anbeginn in der menschlichen Seele gelegen ist (die wahre gegebene Idee Gottes), daß das intuitive Erkennen vielmehr eine Erkenntnisleistung des in konkreten Weltbezügen stehenden Menschen darstellt und darin ein Prozeß des Wissens ist, den der Mensch gar nicht a priori wissen kann. Das Scholium zum 31. Lehrsatz verknüpft nicht nur die Selbsterkenntnis mit der Gotteserkenntnis, sondern bindet beides an den Fortschritt, den die Seele in der dritten Erkenntnisgattung macht. »Quo igitur unusquisque hoc cognitionis genere plus pollet, eo melius sui et Dei conscius est.« Fortschritt in der intuitiven Erkenntnis bedeutet, mehr Dinge intuitiv zu erkennen. Die intuitive Erkenntnis ist Gotteserkenntnis in der Weise der Explikation der cognitio data Dei durch die Erkenntnis von Einzeldingen. Diese Erkenntnis Selbstsein und Absolutes  |  83

ist mit der gegebenen Erkenntnis Gottes nicht mitgegeben, sie wird von der endlichen Seele eigens zustandegebracht in einem Prozeß, dem sie unterliegt, weil ihr die Totalität der Dinge, durch die sie mitbestimmt ist, nie auf einmal präsent sein kann. Was sie an Einzelnem erfährt, kann nicht aus der gegebenen Erkenntnis Gottes hergeleitet oder gar von daher a priori gewußt werden. Es unterliegt empirischen Bedingungen. Dieses empirische Fortschreiten unterliegt unter einem Aspekt der Ewigkeit zwar einer Notwendigkeit, die aus dem Wesen Gottes folgt, doch stehen die Erfahrungen, die der menschliche Verstand macht, unter den Bedingungen des empirischen Lebens. Er erkennt zwar das, was er erfährt, nicht nur empirisch, sondern intuitiv aus dem Wesen Gottes. Empirie ist aber vorausgesetzt, damit er überhaupt Erfahrungen von Einzelnem machen kann, das er dann intuitiv erfaßt. Einzelnes ist für den Menschen gar nicht anders erfaßbar, als daß er es auf seine konkrete Existenz bezieht, auf sein individuelles Leben, das in konkreten Verweisungszusammenhängen steht zu je bestimmtem Einzelnen. Das Erkennen von Einzelnem ist an Bedingungen geknüpft, denen der Mensch in seinem faktischen Lebensvollzug ausgesetzt ist und die von ihm nicht a priori gewußt werden können. Die Explikation der dem endlichen Erkennen zugrundeliegenden gegebenen Idee Gottes geschieht nicht durch die Analysis dieser Idee, sondern durch eine Erweiterung des Status des erkennenden endlichen Subjektes in dessen Stellung zu der ihn umgebenden Welt. Die intuitive Erkenntnis deckt nicht lediglich ein der Seele schon Gegebenes auf. Sie expliziert es in einer Leistung in bezug auf Einzelnes, dem sich der Mensch gegenüber sieht innerhalb seines konkreten endlichen Lebenszusammenhanges. Diese Leistung ist gekoppelt mit einer Erfahrung von Widerständigkeit, d. h. bei aller Tätigkeit verknüpft mit Leiden. Der wichtige Lehrsatz 27 verknüpft deshalb das Moment der endlichen Weltbezogenheit der strebenden Seele mit der intuitiven Erkenntnis in der Weise, daß er den Status dieser Seele unter einem Aspekt der Affektivität bestimmt. Damit wird er dem Status der Seele als einem je konkreten gerecht. Doch gelingt durch die Explikation der Struktur der intuitiven Erkenntnis eine gegenüber den bisherigen Darlegungen der Affektivität des Menschen neue Bestimmung. Der Strebende ist auf ein Außerhalb bezogen, die Mannigfaltigkeit 84  |  I. Ontologie und Subjektivität 

der Welt, weswegen er potentiell leidet, aber er ist darin zugleich auf sich bezogen. Er ist im Anderen bei sich. Lehrsatz 27 legt dar, daß aus der intuitiven Erkenntnis die höchste Zufriedenheit der Seele (acquiescentia in se ipso) resultiert. In dieser Bestimmung sind die beiden Momente verknüpft, das Bezogensein der Seele auf die Welt und die dadurch bedingte Steigerung des Erkenntnisprozesses einerseits, das Bezogensein der Seele auf Gott in jeder Phase dieses Prozesses andererseits. Begründet wird der Lehrsatz über die Schritte, daß 1. die höchste Tugend der Seele in der Erkenntnis Gottes besteht, diese Erkenntnis aber die der dritten Erkenntnisgattung ist, 2. diese Tugend um so größer ist, je mehr Dinge die Seele intuitiv erkennt, 3. ebendeshalb der dergestalt Erkennende zur höchsten menschlichen Vollkommenheit übergeht und schließlich 4. er darin in die höchste Freude versetzt wird.7 Geklärt werden müssen die Punkte 3 und 4. Von der intuitiv erkennenden Seele heißt es, sie gehe zur höchsten menschlichen Vollkommenheit über. Das hat freilich nicht den Sinn, als ob Vollkommenheit ein Telos wäre, auf das die Seele sich hinbewegte und in bezug auf das sie, solange sie es nicht erreicht hat, ein weniger wäre. Spinoza identifiziert vielmehr Vollkommenheit mit Realität (II, def. 6). Unter Vollkommenheit ist die Essenz eines Dinges zu verstehen, sofern es auf gewisse Weise existiert und wirkt (IV, praef.). Sie ist darin eine innere Bestimmung des Seienden, verknüpft mit dessen conatus. Grade der Vollkommenheit gibt es, sofern die reale Wirkungskraft (potentia agendi), die ja bestimmt ist durch die Relation eines Seienden zu anderem Seienden, das wiederum mit anderen verknüpft ist und dies ins Unendliche, als in Verminderung oder Vermehrung begriffen wird (ebd.). Die graduell bestimmte Vollkommenheit ist ein ens rationis, eine begriffliche Bestimmung unserer Vorstellungskraft, die verschiedenes Seiendes auf seinen Realitätsgrad hin miteinander vergleicht und darin Differenzen feststellt, die als Betrachtungsweise von außen dem Seienden äußerlich bleiben. Gleichwohl ist der conatus als innere Bestimmung des Seienden in seiner Kraft des Sichdurchsetzens relativ auf die 7 

Vgl. A. Matheron, Le Christ et le salut des ignorants chez Spinoza, Paris 1971, 168, auch B. Rousset, La perspective finale de »l’Ethique« et le problème de la cohérence du Spinozisme, Paris 1968, 90 ff. Selbstsein und Absolutes  |  85

das einzelne Seiende umgebende Welt und darin bei den je verschiedenen Seienden von unterschiedlicher Kraft. So besitzt der intuitiv erkennende Mensch, der Einzeldinge der Welt aufgrund dieser Erkenntnis auf sich beziehen und darin in sich integrieren kann, eine größere Existenzkraft als ein Seiendes, dem diese Fähigkeit abgeht. Er steigert diese Existenzkraft, sofern er das intuitive Erkennen steigert, d. h. auf mehr der Einzeldinge auszudehnen vermag. Darin geht er zur höchsten menschlichen Vollkommenheit über. Sofern es sich dabei um ein Übergehen handelt, bestimmt es Spinoza als Freude (laetitia) im Rückgriff auf die Definition der Affekte (def. aff. 2). Er betont damit die Wirklichkeit des Vollzuges, dem die intuitiv erkennende Seele unterliegt, weil diese, obschon sie ewig ist, die Totalität der Beziehungen, in denen sie zu anderem Seienden steht, nicht auf einmal erkennt und deshalb einer Entwicklung unterliegt. Freude als Ausdruck des Übergehens zu größerer Vollkommenheit wird als ein Affekt bestimmt, d. h. trotz des Übergehens und der damit verbundenen Aktivität als eine Leidenschaft, eine passio (III, prop. 11, schol.). Ein Affekt ist (nach III, def. 3) eine passio, wenn die Seele von einer Affektion des Körpers, die dessen Wirkungskraft vermehrt oder vermindert, nicht die adäquate Ursache sein kann. Das ist bei der intuitiven Erkenntnis, die adäquat erkennt, immer noch der Fall. Denn der Mensch erkennt auch intuitiv das, was er erkennt, ein je Bestimmtes, nicht in dem Totalitätszusammenhang, der bestimmend für ihn ist. Weil die menschliche Seele idea corporis actu existentis ist, bleibt ihr Fortschreiten an die Bedingungen der Körperlichkeit gebunden und ist deshalb ein Affekt. Doch zeigt sich hier ein Umschlagspunkt, der dann in der Theorie des amor Dei intellectualis thematisch wird. Denn die These, der Mensch gehe in der intuitiven Erkenntnis zur höchsten menschlichen Vollkommenheit über (summa perfectio humana), enthält, daß im Übergehen die höchste Vollkommenheit gelegen ist und das heißt, daß diese Vollkommenheit nicht aussteht als ein zu Erreichendes, auf das der strebende Mensch aus ist. So verknüpfen sich hier beide Momente miteinander: dies, daß jedem Seienden Vollkommenheit zukommt, sofern ihm innerlich eine Realität zukommt, und dies, daß jedes Seiende relativ auf ein ihm Äußeres ist, in bezug auf das, je nachdem wie wenig es durch es erleidet, es mehr oder 86  |  I. Ontologie und Subjektivität 

minder vollkommen ist. Die Äußerlichkeit der Bestimmung einer graduellen Vollkommenheit als eines bloßen Reflexionsbegriffes wird in der intuitiven Erkenntnis zu einer inneren Bestimmung des dergestalt Erkennenden, worin die Vollkommenheit ihre höchste menschliche, nämlich dem Menschen mögliche, Form erreicht, die nicht mehr steigerungsfähig ist. Vollkommenheit, die graduell ist, sofern sie einem Mehr oder Minder unterliegt, wird zu einer inneren Bestimmung des in seinem conatus einem Mehr oder Minder ausgesetzten Wesens, wenn dieses Wesen in seinem Streben um sich weiß, d. h. wenn es darum weiß, daß es in seinem Bezug auf Anderes, die Mannigfaltigkeit der Welt, bei sich ist, wie geartet hinsichtlich seiner Reichweite dieser Bezug auch sein mag. Spinoza verknüpft deshalb mit der Freude den Selbstbezug des Sich-freuenden, eine Verknüpfung, die keineswegs im Affekt der Freude als solchem impliziert ist. Denn Fortschritt in bezug auf Vollkommenheit (und in bezug darauf wird Freude definiert) bedeutet nicht, daß der, der fortschreitet, um dieses Fortschreiten wissen müßte und darin um sich, der von einem Zustand zum anderen fortgeschritten ist, wenn er den einen mit dem anderen zu vergleichen vermag. Die Allgemeine Definition der Affekte im dritten Teil weist dies ausdrücklich zurück. Das Mehr und Minder an Vollkommenheit bezieht sich auf das Mehr und Minder an Realität, die das Objekt als Gegenstand der Vorstellung (idea) enthält. »Idearum praestantia et actualis cogitandi potentia ex obiecti praestantia aestimatur« (Aff. gen. def., expl.). Die Realität der Vorstellungskraft bemißt sich an der Realität des Objekts, weil die Tätigkeit des Subjekts in dem, was es jeweils vorstellt, einen Wert in sich hat, der nicht relativ ist auf ein Ideal von denkendem Subjekt, in dem sich erst das Höchstmaß an Vollkommenheit erfüllt. Einzelnes Seiendes, das denkt und das sich denkend vervollkommnen kann, ist nicht das Noch-nicht eines idealen Seienden. Ein Seiendes ist zwar vollkommener als das andere, insofern es mehr Realität auszudrücken vermag, d. h. ein komplexeres, beziehungsreicheres Objekt vorzustellen vermag; aber das ist keine Bestimmung, die das einzelne Seiende in seiner konkreten Existenz bestimmen könnte, weil sie ihm von außen auferlegt wird. Vollkommenheit, losgelöst von der Wirklichkeit des konkret Einzelnen, ist ein bloßes ens rationis, das der Wirklichkeit entbehrt. Wäre das Übergehen zu Selbstsein und Absolutes  |  87

größerer Vollkommenheit an die Reflexion des Sichvervollkommnenden in der Weise gebunden, daß die größere Vollkommenheit nur für den ist, der seinen jetzigen Status mit einem vorhergehenden vergleicht, dann wäre die größere Vollkommenheit nicht eine solche in bezug auf das vorgestellte Objekt, sondern lediglich in bezug auf den vorhergehenden Zustand. Zugleich wäre der vorhergehende Zustand relativ auf den darauffolgenden und darin negativ charakterisiert als das Noch-nicht eines anderen Zustandes, womit ihm die Positivität genommen wird, die ihm gerade zukommt. Der Erwachsene ist vollkommener als das Kind, aber deshalb ist das Kind nicht unvollkommen. Freude, die aus der intuitiven Erkenntnis resultiert, ist aber nicht nur Freude an einer größeren Existenzkraft des Subjektes entsprechend dem Realitätsgrad des Objektes, das das Subjekt vorzustellen vermag, sie ist Freude an einer größeren Vollkommenheit des Erkennenden in bezug auf ein als wahr erkanntes Objekt und damit zugleich Freude an dem Grund dieser Weise des Erkennens von Objekten. Deshalb ist diese Freude begleitet von der Idee, die der Sichfreuende von sich hat, nämlich von sich als dem Grund der intuitiven Erkenntnis, aus dem die Freude entspringt. In dieser Idee von sich hat der Sichfreuende ein Wissen um sich als einen ewigen modus des göttlichen Attributes Denken. Daraus kann Spinoza dann folgern, daß aus der intuitiven Erkenntnis die höchste Zufriedenheit (acquiescentia in se ipso) des Menschen resultiert, die es geben kann. Denn es handelt sich um Freude, weil um ein Übergehen zu größerer Vollkommenheit, damit aber um den Akt eines Wesens, das nicht im Besitz der höchsten Vollkommenheit ist, das vielmehr erst danach streben muß. Daß in diesem Prozeß des Übergehens der Sichfreuende einen Selbstbezug herstellen kann, d. h. daß er um sich als den Grund der intuitiven Erkenntnis weiß, weil er sich innerlich durch Gott bestimmt weiß, das erfüllt ihn mit höchster Selbstzufriedenheit, denn er weiß, daß, obschon er strebt (auf etwas hin, das er nicht ist), er in diesem Streben nicht auf ein Anderes tendiert, sondern ganz bei sich ist. Selbstzufriedenheit ist Freude, die daraus resultiert, daß der Mensch sich selbst und seine Leistungskraft betrachtet (def. aff. 25). Selbstzufriedenheit ist Ruhen in sich und darin die höchste Bestimmung des Menschen, weil sie dem conatus in suo perseve88  |  I. Ontologie und Subjektivität 

randi im höchsten Maße gerecht wird, denn (IV, prop. 25) niemand strebt, sein Sein um irgendeines Zweckes willen zu erhalten, ein Tatbestand, den Spinoza in der Selbstzufriedenheit erfüllt sieht (IV, prop. 52, schol.). Mit ihr wird der teleologische Aspekt des Strebens und die darin implizierte Fremdbestimmung zurückgewiesen. Dieser Aspekt drängt sich insofern auf, als das strebende Sichvervollkommnen eine passio ist, ein Erleiden des Strebenden innerhalb eines Gesamtkontextes, den er in der Totalität seiner Beziehungen nicht durchschaut. In der Selbstbezüglichkeit des Strebenden (in der Selbstzufriedenheit, die aus dem intuitiven Erkennen folgt) wird nicht der Weltbezug der strebenden Seele und die damit notwendigerweise verbundene Passivität (Affektivität) negiert, wohl aber dies, daß die strebende Seele in der Annäherung an das Weltganze, d. h. in der Annäherung an etwas, das außerhalb von ihr gelegen ist, ihre Erfüllung fände. Die Seele ist durch das Weltganze bestimmt und damit über sich hinaus, ebendeshalb strebt sie ja auch. Sie ist in ihrem Streben aber nicht durch das Weltganze als Telos dieses ihres Strebens bestimmt. Sofern sie strebt aufgrund der intuitiven Erkenntnis, weiß sie sich als Grund ihres Strebens und zwar sich als bestimmt durch Gott, nämlich dessen Attribut Denken. Dieses Wissen um ihr Bestimmtsein (das Wissen um ihre Ewigkeit) entbindet sie zwar nicht ihres Strebens und damit ihres Bezuges auf ein Außerhalb, doch hat das Streben seinen Grund in der strebenden Seele selber. Wäre der modus Seele als idea corporis nur bezogen auf den unendlichen modus Weltganzes, bliebe er stets Teil dieses Ganzen und darin zur Ohnmacht der Passivität verurteilt, die durch die Tendenz, in diesem Ganzen das Telos des Strebens zu sehen, nur verstärkt wird, da sie Ausdruck der Fremdbestimmung des Strebenden ist. Die menschliche Seele ist aber zugleich auf das Wesen Gottes bezogen und zwar nicht als dessen Teil, sondern als dessen Wirkung, dabei gegenüber anderen modi mit der Auszeichnung, daß sie um diesen ihren Charakter, Wirkung des Wesens Gottes zu sein, weiß, daß sie, anders gewendet, Gott als ihre Ursache weiß. Darin weiß sich der Mensch aus dem Verknüpfungszusammenhang der den unendlichen modus ausmachenden Totalität der endlichen modi herausgelöst. Er weiß sich in jedem Moment seines Strebens bei sich selbst. Erst aufgrund dieses Wissens kann er einen Bezug zu dem Weltganzen herstellen, innerSelbstsein und Absolutes  |  89

halb dessen er wirkt und existiert, in dem er die Chance hat, seinen Selbstbehauptungswillen zu realisieren und nicht einem Affiziertsein von außen zu erliegen. VI.

Hieran knüpft die Lehre vom amor intellectualis Dei an. Der Lehrsatz 32 nimmt die Theorie der aus der intuitiven Erkenntnis entspringenden Freude auf, einer Freude, die von der Idee der Seele selbst begleitet ist und damit von der Idee Gottes als der Ursache (causa) dieser Idee. Der Schritt von der Freude zur Liebe beruft sich freilich auf eine Definition von Liebe, die auf den hier zu erörternden Sachverhalt nicht anzuwenden ist. Liebe ist Freude, begleitet von der Idee einer äußeren Ursache (causa externa), lautet die Definition 6 der Affekte, womit Spinoza als der Liebe wesentlich nicht den Willen oder die Begierde nach dem geliebten Ding ansieht, sondern die Zufriedenheit des Liebenden infolge der Präsenz des geliebten Dinges. Begierde ist eine Eigenschaft der Liebe, daraus resultierend, daß das geliebte Ding dem Liebenden äußerlich ist. Das gilt in bezug auf Gott als die Ursache der Freude der intuitiv erkennenden Seele aber nicht. Gott als Ursache weiß die Seele, die sich als ewig weiß, gerade als eine innere Bestimmung ihrer selbst im Unterschied zu den Ursachen, die die anderen modi in bezug auf die Seele darstellen. Spinoza bestimmt deshalb die Liebe zu Gott als geistige Liebe (amor intellectualis), die sich darin von der als Affekt bestimmten Liebe unterscheidet. Sie ist ewig (V, prop. 34, coroll.) und kann durch nichts aufgehoben werden (V, prop. 37). Geistig nennt Spinoza diese Liebe (V, prop. 32, coroll.), weil wir in der intuitiven Erkenntnis, der diese Liebe entspringt, einsehen, daß Gott ewig ist und ihn deshalb uns nicht als gegenwärtig vorstellen. Die Kritik am Vorstellen (imaginari) Gottes als gegenwärtig (ut praesentem) bezieht sich nicht auf seine Gegenwart in der sich als ewig wissenden Seele, denn hier ist er ihr als ewig präsent. Sie bezieht sich auf die Gegenwart Gottes in dem einzelnen Ding, an dem wir uns erfreuen. Nach Lehrsatz 32 erfreuen wir uns an was auch immer (quicquid) wir intuitiv erkennen, also an einem bestimmten Einzelnen. Wir vermögen uns an diesem zu erfreuen und können darin die Form 90  |  I. Ontologie und Subjektivität 

höchster Selbstzufriedenheit erlangen, d. h. eine Form des Insichruhens und darin der Selbstbehauptung des erkennenden Subjekts, obschon das Einzelne in Relation zu anderem Einzelnen steht und darin in dem Kontext eines Ganzen, den wir nicht erkennen können. Wir können uns an ihm trotzdem erfreuen und darin einen Selbstbezug realisieren, weil wir das Einzelne nicht vom Ganzen als dessen Telos her begreifen, sondern – und das leistet die dritte Erkenntnisgattung – aus dem Wesen Gottes, durch das die Seele sich selbst bestimmt weiß. Wir begreifen darin Gott, nicht sofern er in dem einzelnen Ding, das in räumlicher und zeitlicher Relation zu anderen Dingen steht (V, prop. 29, schol.), gegenwärtig ist, also ihn nicht als zu einem aktual existierenden Ding modifiziert, sondern ihn als den Grund dieses Seienden, als das Wesen, aus dessen Natur das einzelne Seiende mit Notwendigkeit folgt. Die Seele liebt Gott, weil sie sich an einem Erkenntnisfortschritt und darin an einem Prozeß des Sichvervollkommnens erfreut, als dessen Ursache sie Gott erkennt, der ihr dies garantiert, worauf sie im höchsten Maße aus ist, nämlich ihre Selbstbehauptung. Kraft der Erkenntnis Gottes weiß sie, daß sie einen Selbstbezug realisieren kann, obschon sie einem Prozeß unterliegt, in dem sie ständig über sich hinaus ist, weil sie angehen muß gegen solches, das sie nicht ist: andere modi außerhalb ihrer selbst. Ebendeshalb liebt sie Gott. Diese Liebe unterscheidet sich nicht nur von der affektiven Liebe zu einem einzelnen Ding, sondern auch von der Liebe zu Gott (amor erga Deum), mit deren Erörterung Spinoza den Abschnitt über die potentia intellectus ausklingen läßt, bevor er (ab V, prop. 21) die Erörterung der Ewigkeit der Seele, d. h. der intuitiv erkennenden Seele beginnt. Dort gewinnt Spinoza die Liebe zu Gott als Merkmal der Seele aus der allgemeinen Bestimmung des Affekts als Idee einer Affektion des Körpers (V, prop. 4, coroll.), der, weil er Idee ist, prinzipiell einer klaren und deutlichen Erkenntnis zugänglich ist (ebd.) und deshalb den Bezug auf die Idee Gottes impliziert (V, prop. 14). Mit der deutlichen Einsicht der Affekte ist somit Freude, begleitet von der Idee Gottes als dem Grund der Freude, verbunden und damit Liebe zu diesem Grund (V, prop. 15). Diese Liebe nimmt die Seele am meisten ein, d. h. mehr als andere Affekte, ist sie doch mit allen Körperaffektionen verbunden, sofern alle, weil ihnen in der Seele Ideen korrelieren, potenziell auf Gott Selbstsein und Absolutes  |  91

beziehbar sind (V, prop. 16). Gott ist hier auf alle möglichen Affektionen bezogen, nicht aber auf die wirklichen, die die Seele kraft der intuitiven Erkenntnis auf sich bezogen hat 8 . Gott wird darin nicht als der Grund geliebt, durch den sich die Seele in ihrer Konkretion bestimmt weiß. Erst in der geistigen Liebe zu Gott (amor intellectualis Dei) weiß die Seele Gott als ewig von einem Standpunkt aus, in dem sie sich erkennend auf Einzeldinge bezieht und darin sich in ihrer konkreten Individualität begreift. Ihr gelingt so die Vermittlung, in der sich das Streben des einzelnen Seienden nach Selbsterhaltung erfüllt. In dem Status, in dem die Seele strebt, weil sie der Bedrohung von außen ausgesetzt ist, erfährt sie Gottes ewiges Wesen als den Grund ihrer selbst und weiß sich darin in ihrer Individualität als ewig, d. h. als nicht zerstörbar. Dieses Vermitteltsein der endlichen Seele mit dem unendlichen Wesen Gottes in der geistigen Liebe dieser Seele zu Gott erlaubt es Spinoza, das Prädikat der Liebe auf Gott zu übertragen. Der Lehrsatz 35 (»Deus se ipsum amore intellectuali infinito amat«) kann nicht aus der Ontologie des ersten Teils der »Ethik« folgen, sondern allein aus der Analyse der mens humana als eines von Gott dependierenden Einzelnen. Der Beweis dieses 35. Lehrsatzes muß deshalb so gelesen werden, daß der Rückgriff auf V, prop. 32, coroll., in dem die geistige Liebe der endlichen Seele herausgestellt wird, das Argument trägt. Aus der unbedingten Unendlichkeit Gottes (nach I, def. 6) folgt keineswegs, daß sich Gottes Natur unendlicher Vollkommenheit erfreut. Gottes Natur freut sich gar nicht, so wenig wie sie denkt. Gott ist Denken (attributive Bestimmung), aber er denkt nicht: modi denken und modi freuen sich; wer unendlich denkt, ist der unendliche modus intellectus infinitus; wer sich unendlich freut, ist der endliche modus mens humana. Aber Spinoza erliegt in seinem Beweis keiner Kategorienverwechslung, denn die Übertragung des Prädikates der Liebe auf die göttliche Natur ist nur Ausdruck dessen, daß die Gott liebende Seele sich mit Gott vermittelt hat und deshalb Gott durch ein Prädikat dieser Seele bestimmbar ist. Deshalb hat der 35. Lehrsatz im 36. seine unerläßliche Ergänzung, daß nämlich Gottes Liebe, womit er sich selbst liebt, ein Akt 8 

Vgl. Rousset, La perspective finale de »l’Ethique«, a. a. O., 141.

92  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Gottes ist, nicht sofern er unendlich ist, sondern sofern er durch die menschliche Seele erklärt werden kann, sofern Gott sich also zu dieser Seele modifiziert hat. Allein diese Modifikation macht die Rede, daß Gott sich selbst liebt, verständlich. Ohne diese Einschränkung ist sie sinnlos, obgleich nach V, prop. 36 die geistige Liebe der Seele zu Gott als ein Teil der unendlichen Liebe, womit Gott sich selbst liebt, beschrieben wird. Zurückgewiesen wird damit die Deutung, derzufolge Gottes unendliches Wesen von der Beschränktheit der mens humana bestimmbar wäre, so als ob sich die Vielzahl seiner Wesensbestimmungen in die zwei uns bekannten Attribute auflösen ließe. Deshalb wird die Unendlichkeit der göttlichen Handlung hervorgehoben und unsere Handlung auf einen Teil dieser Unendlichkeit restringiert. In bezug auf die Liebe ist diese Unterscheidung aber sinnlos, denn Gott, der sich selbst liebt, sofern er sich zur menschlichen Seele modifiziert, erfährt in dieser Modifikation keine Restriktion. Hier ist der Fall erreicht – und nur hier –, daß Gott in einem modus diesem modus ganz präsent ist und nicht unter einem Aspekt erscheint, der der Ergänzung durch andere Aspekte bedarf. Hier ist im Ausgang von einem einzelnen Seienden der Boden der Ontologie des ersten Teils erreicht, freilich mit dem Gewinn, daß der im ersten Teil der »Ethik« aus der Struktur von Deus entwickelte Anspruch, alles dependiere von Gott, nun von einem konkret Einzelnen her demonstriert wird. Dadurch wird der allgemein gehaltene und darin leere Aufweis des ersten Teils von dem Mangel befreit, Gott nicht als Grund eines konkret Einzelnen aufzeigen zu können, läßt sich doch dieses nicht aus der Struktur Gottes herleiten. Dies ist ein Mangel in Anbetracht des Faktums der in sich differenten Welt, deren reales Auseinandersein nach einer Erklärung verlangt. Der Lehrsatz 36 schließt Gott und Seele so zusammen, daß er, den Ausgang von der Seele nehmend, an einem von Gott differenten Seienden zeigt, daß dieses von Gott abhängt. Im Unterschied zum ersten Teil geschieht dies nicht abstrakt, sondern konkret, nämlich an einem konkreten einzelnen modus, an dem gezeigt wird, wie sich dieses Verhältnis der Abhängigkeit für ihn darstellt. Für ihn stellt sich dieses Verhältnis überhaupt nur dar, sofern er des Denkens und damit der Reflexion fähig ist. Diese Fähigkeit besitzt der modus Seele nur, sofern er idea corporis actu existentis Selbstsein und Absolutes  |  93

ist, d. h. in einer je spezifischen Endlichkeit, die durch den Bezug auf Körperlichkeit und damit durch eine Relation zu anderen Körpern gekennzeichnet ist. Der amor intellectualis Dei schafft daher nicht Identität zwischen Gott und Seele; er beschreibt vielmehr einen Bewußtseinszustand der denkenden Seele, die sich in ihrem Streben nach Selbsterhaltung durch Gott als ihren letzten Grund bestimmt weiß und darin weiß, daß sie etwas erstrebt, das als zu Erreichendes nicht außerhalb von ihr gelegen ist. Sie weiß es nur, sofern sie strebt, denn an dieses Streben qua Sichvervollkommnen ist Freude gekoppelt, die ihrerseits der Grund des Entspringens der geistigen Liebe ist, sofern der Sichfreuende, d. h. der Strebende, um den wahren Grund dessen, worüber er sich freut, nämlich an seinem eigenen Sichvervollkommnen, weiß. Wenn Spinoza die aus der Freude entspringende geistige Liebe nicht mehr als Freude bezeichnet, sondern als Glückseligkeit (beatitudo), in der die Seele nicht zu größerer Vollkommenheit übergeht, sondern im Besitz dieser Vollkommenheit ist (V, prop. 33, schol.), dann kann das nicht bedeuten, daß die Freude qua Bewegung in die Glückseligkeit qua Besitz übergeht in dem Sinne, daß der Gott Liebende des Strebens enthoben wäre, gleichsam in Gott aufgegangen wäre. Das hieße, den Affekt der Freude teleologisch zu bestimmen und ihm die positive Bestimmung zu nehmen. Das hätte die Konsequenz, daß die Entwicklung, die der Mensch im strebenden Sichvervollkommnen durchläuft und die ihn zur geistigen Liebe hinführt, bloß fiktiv und damit die Theorie des amor intellectualis Dei pure Mystik wäre, unverbunden mit der Theorie der Bedingungen, unter denen der endliche Mensch zu erkennen vermag. Besitz der Vollkommenheit besagt lediglich, daß der Mensch sich überhaupt nicht vervollkommnen könnte, wenn er nicht schon vollkommen wäre im Sinne eines ewigen Bestimmtseins durch Gott. Das, was von Ewigkeit in ihm ist, muß er freilich allererst aufdecken, sich bewußt machen; und erst, sofern er darum weiß, liebt er, ist diese Liebe seine Handlung. Dieses Aufdecken ist an ­einen Prozeß gebunden, dessen subjektiver Ausdruck die Freude des Menschen ist, sofern er sich vervollkommnet. Gerade weil er das, was er ist, erst aufdecken muß, sich bewußt machen muß, steht der Mensch in der Differenz zu Gott und ist in seinem Status durch einen Prozeß des Sichvervollkommnens charakterisiert. 94  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Glückselig­keit ist nur in diesem Prozeß, weder in einem Ziel, in das dieser Prozeß hineinmündet, noch in einem Bereich, der neben diesem Prozeß, von ihm gänzlich unberührt, liegt. Mit der erlangten Glückseligkeit in der geistigen Liebe zu Gott ist dieser Prozeß deshalb nicht beendet. Die auf den Lehrsatz 36 folgenden Lehrsätze heben darauf ab. Nach V, prop. 37 kann der geistigen Liebe kein anderer Affekt entgegengesetzt werden, während die Anmerkung dazu als selbstverständlich hinstellt, daß das Axiom des vierten Teils, demzufolge es in der Natur der Dinge kein Einzelding gibt, das nicht durch ein anderes an Kraft und Stärke übertroffen wird, von den Einzeldingen handelt, die in Raum und Zeit existieren und darin einander konkurrieren. Mag die geistige Liebe durch diesen Grundsatz auch nicht tangiert werden, so berühren sich beide Momente doch darin, daß die menschliche Seele, die Gott geistig liebt, ein körperliches Wesen ist. Sie weiß sich in der geistigen Liebe zwar als ewig und sie begreift auch ihren Körper unter einem Aspekt der Ewigkeit. Was der ihr spezifisch zugehörige Körper ist, weiß sie jedoch nur aus der Relation zu den Einzeldingen, in der ihr Körper steht. Das Sichwissen als ewig steht darin in Relation zur intuitiven Erkenntnis der Einzeldinge. Solange die Seele nicht alle Einzeldinge intuitiv erkennt, weiß sie nur einen Teil ihrer selbst als ewig. Der andere Teil entzieht sich der Ewigkeit. Auf diesem Hintergrund entwickelt Spinoza seine Theorie der Teile der Seele, die er im Beweis zu V, prop. 38 ausdrücklich auf V, prop. 37 bezieht, wo von der Gegensatzlosigkeit der geistigen Liebe gehandelt wird. Die geistige Liebe ist gegen­ satzlos, obschon sie aus einer Erkenntnisleistung der Seele ent­ springt, die bestimmte Einzeldinge erkennt, ohne deren Totalität zu erkennen. Denn die Seele erkennt ein Einzelnes, wenn sie es in der dritten Erkenntnisgattung erkennt, nicht aus der Relation zu anderen Einzelnen heraus und deshalb nicht bruchstückhaft, sondern vollkommen adäquat, dadurch daß sie die Ursache des Einzeldinges weiß, nämlich das göttliche Wesen, das als causa in jedem Einzelnen ganz ist. Die dergestalt erkennende Seele weiß sich als ewig und zwar in dem Maße, wieviel der Einzeldinge sie erkennt. Was sie nicht erkennt, tangiert nicht die Ewigkeit der Seele, wohl aber die konkrete, nach Erkenntnis strebende und darin körperliche Seele. Sie strebt danach, auch dies zu erkennen, weil sie Selbstsein und Absolutes  |  95

danach strebt, sich selbst zu erhalten, dasjenige, was nicht adäquat erkannt wird, aber die Bedrohung darstellt, die der Tendenz auf Selbsterhaltung entgegensteht9. Von daher berühren sich der ewige und der vergängliche Teil der Seele, freilich nicht wechselseitig, sondern einseitig. Der vergängliche hat keine Macht über den ewigen, der ewige muß sich aber auszudehnen trachten. Darin steht die Ewigkeit in Relation zur Vergänglichkeit. Die Ausdehnung steht aber unter den Bedingungen, unter denen der menschlichen Seele Einzeldinge überhaupt zugänglich sind und ohne die die Seele die Dinge auch nicht unter einem Aspekt der Ewigkeit begreifen könnte. Deshalb bindet Spinoza in V, prop. 39 die Ewigkeit der Seele an die Komplexität des Körpers und macht die Größe des Seelenteils, der ewig ist, abhängig von dem Grade dieser Komplexität. V, prop. 40 setzt dazu den unerläßlichen Kontrast. Er gibt dem ewigen Teil die Priorität gegenüber dem vergänglichen, unabhängig von der Größe dieses Teils. Denn dieser Teil ist der Verstand, der erkennt. Und nur kraft des Verstandes kann von der Seele gesagt werden, daß sie handelt, denn nur so ist sie die adäquate Ursache dessen, was in ihr oder außerhalb von ihr geschieht. Handeln, das (nach III, def. 2) als das adäquate Ursache-sein von etwas definiert wird, ist gewiß Handeln in bezug auf die Dinge. Wenn der Seele unabhängig davon, d. h. unabhängig von der Größe dessen, wovon die Seele die adääquate Ursache ist, ein unabdingbarer Vorzug eingeräumt wird, dann 9 

S. Zac, L’idée de vie dans la philosophie de Spinoza, Paris 1963, verknüpft das procedere im Erkennen allein mit dem Status des amor erga Deum und leugnet es in bezug auf den amor intellectualis Dei (217). Das widerspricht dem Text der »Ethik« (insbesondere V, prop. 38–40). Nach Zac ist der amor intellectualis Dei ein Begreifen des Einzelnen in seiner essentiellen Bestimmung, die losgelöst ist von dem raum-zeitlichen Geflecht, in dem der Liebende existiert. Der conatus erhält dann die Bedeutung, Ausdruck der göttlichen Vitalität im Einzelnen zu sein, dem gegenüber die Bedeutung, nach Selbsterhaltung zu streben im Angehen gegen Äußeres innerhalb der raum-zeitlichen Ordnung endlicher modi, in der der Einzelne existiert, zu einem Ausdruck noch mangelhafter Selbsterkenntnis verblaßt. Das läuft auf eine strikte Trennung der Sphäre des Essentiellen sub specie aeternitatis und des Existentiellen sub specie temporis hinaus, während das philosophisch Interessante an Spinozas Theorie mir gerade die Verflechtung beider Sphären in der Bestimmung des Status des endlichen in der Zeit existierenden Menschen zu sein scheint. 96  |  I. Ontologie und Subjektivität 

nicht deshalb, weil die Seele nicht danach streben müßte, sich zu erhalten, dadurch daß sie eine adäquate Erkenntnis von ihrem Körper und dessen Beziehungen zu den übrigen Körpern zu erlangen trachtet, sondern weil dieses Streben nach Selbsterhaltung ein Fundament hat, das die angestrebte Selbsterhaltung erst gelingen läßt, sofern es gewußt wird. Dieses Fundament ist das absolute Wesen, in dessen Erfassen sich die Seele als ewig weiß, ohne darin zugleich auch schon zu wissen, was sie als konkretes Seiendes ist. Dieses Wissen von sich ist in einem konkreten Vollzug erst zu erlangen, der aber selber ohne ein vorgängiges Wissen vom Absoluten nicht möglich ist. VII.

So bleibt das Selbstsein des Menschen gebunden an eine Welt, deren Teil dieses Selbst ist und die darin stets mehr darstellt als dieses. Menschliches Seiendes realisiert sein Selbst nur, d. h. erhält sich selbst, wenn ihm die Integration von solchem gelingt, das außerhalb von ihm ist. Darin ist es in seinem Selbstsein auf dieses, auf die Welt, verwiesen und weit davon entfernt, die Welt aus sich heraus – idealistisch – zu produzieren. Gleichwohl ist das realisierte Selbstsein, die gelingende Erhaltung seiner selbst, keine Fiktion, weil der Mensch in der Reflexion den Grund zu erfassen vermag, die göttliche Substanz, durch den er selbst und die Welt ist. Selbstsein ist der Mensch nur als je konkretes Seiendes und das heißt als ein durch die Relation auf die Mannigfaltigkeit der Welt bestimmtes Seiendes. Der Mensch weiß Gott als seinen Grund deshalb nur, insofern er ihn als Grund von Dingen weiß, zu denen der Mensch in Relation steht. Dieses Wissen hat der Mensch nur in einem Prozeß und entsprechend seiner eigenen Finitheit nie vollständig. Er erlangt aber nicht am Ende eines Prozesses das Wissen von Gott oder, sofern dieses unabschließbar ist, ein annäherndes Wissen. Es ist vielmehr vorausgesetzt, damit der Mensch überhaupt einen Prozeß beginnen kann, in dem er eins nach dem anderen aus dem Wesen Gottes erkennt. Wissen von sich ist Explikation einer zugrundeliegenden apriorischen Idee Gottes. Gegenstand dieser Idee ist das Wesen Gottes und damit das aus diesem Wesen mit Notwendigkeit Resultierende, d. h. die Totalität der modi der natura Selbstsein und Absolutes  |  97

naturata. Diese Implikationen der Idee Gottes sind dem Menschen jedoch nicht a priori präsent; für ihn bedarf es einer Explikation, die in der realen Konfrontation mit der Welt zu geschehen hat, in der Begegnung mit den Dingen der Welt, die ihrerseits die Komplexität eines Körpers zur Voraussetzung hat, ohne die der Mensch in bezug auf seine Umwelt beziehungsarm und erfahrungsschwach wäre. Daß die Erfahrungen, die der Mensch macht, Explikationen der zugrundeliegenden Idee Gottes sind, bedeutet zweierlei: daß der Mensch nur solches erkennen kann, das unabhängig von diesem Erkennen aus der Notwendigkeit der göttlichen Kausalität resultiert und darin streng determiniert ist, daß er aber dennoch eine adäquate Erkenntnis der Dinge haben kann. Denn wir können trotz unseres Verwiesenseins auf ein von uns Unabhängiges, von dem wir empirische Erfahrungen (mittels der Ideen der Affektionen unseres Körpers) machen, die, weil wir in ihnen etwas von außen erleiden, höchst inadäquat sind, einen Selbstbezug realisieren, in dem wir uns aus einem letzten Grund begreifen, auf den hin wir die Dinge, die wir erfahren, beziehen können und die wir dann anders begreifen als zuvor, nämlich nicht aufgrund einer äußeren Affektionskette, sondern aus einem Prinzip, das wir in uns selber finden. Mit der Theorie intuitiven Erkennens wird gezeigt, wie dem endlichen Subjekt eine Erkenntnis an sich seiender Dinge, die in einer universellen Verschränkung zueinander stehen, trotz dessen Beschränktsein möglich ist. Der angestrebte Selbstbezug des einzelnen Subjekts in Anbetracht der göttlichen Substanz und der von dieser Substanz produzierten Welt, die unabhängig ist von diesem Subjekt, weil nicht produziert von ihm, erweist sich nicht als ein selbstvermessener Irrweg. Es ist für das endliche Subjekt der einzige Weg, sich in seiner Stellung zur Welt und darin die Welt selber zu begreifen. Denn gerade weil es Teil der Welt ist, steht es in einer universellen Relation zu den übrigen Gliedern dieser Welt, von denen und damit von sich selber es nur eine verworrene Erkenntnis hätte, wenn es auf die Erfahrungen angewiesen wäre, die es, darin zufällig, von einzelnen Dingen macht, zeigen diese Erfahrungen doch nicht die universellen Verknüpfungen auf, in denen ein Ding zu den übrigen steht. Wahre Erkenntnis der Dinge 98  |  I. Ontologie und Subjektivität 

ist nur möglich, wenn das erkennende Subjekt in sich einen Grund findet, von dem her es die Dinge begreift, und wenn es gegen das Erleiden aufgrund des Andringens von Eindrücken von außen diesen Grund zur Geltung bringt und darin sich selbst behauptet. Die Präsenz dieses Grundes, der auch der Grund der übrigen Dinge ist, im einzelnen Subjekt ist die Voraussetzung, unter der allein ein Selbstsein des Subjekts gelingen kann, das nicht partikuläre Isolation meint, sondern Entfaltung der Struktur, die dem Seienden im Ganzen zukommt. Diese Voraussetzung ist vom Standpunkt des einzelnen Subjekts freilich nicht zu beweisen; jeder Beweis im Ausgang von dem Subjekt hat sie schon in Anspruch zu nehmen. Sie wird gemacht, weil nicht anders erklärbar ist, wie das endliche Subjekt eine wahre Erkenntnis der Dinge haben kann. Eine wahre Erkenntnis der Dinge – und das ist eine Erkenntnis aus einem Grund, der nicht der Affektionskette der Dinge unterliegt, der also nicht seinerseits bedingt ist – ist aber erforderlich, soll der Mensch nicht einem undurchschauten Affektionsgefüge erliegen, sondern demgegenüber frei sein können. So dient die Konzeption der göttlichen Substanz im wesentlichen einer Grundlegung der Ethik, des praktischen Verhaltens des Menschen und zwar so, daß die Möglichkeit eines freien Sichverhaltens aufgezeigt wird. Frei ist nach I, def. 7 das Ding, »quae sola suae naturae necessitate existit et a se sola ad agendum determinatur«. Nun gilt der erste Teil der Definition nicht für den Menschen, der nicht durch sich selbst existiert, sondern allein für die göttliche Substanz, wohl aber der zweite Teil, weil der Mensch, obschon nicht selber Substanz, sondern modus, Grund seiner Handlungen sein kann. Er kann es, weil er in sich einen Bezug zu Gott herstellen kann, d. h. einen solchen, in dem er nicht auf Gott als ein Außerhalb seiner selbst bezogen ist, der, wäre er außerhalb seiner, ihn fremdbestimmte. Gott wäre das Telos, auf das der Mensch hinbezogen wäre. Darin könnte der Mensch nicht Grund seiner Handlungen sein. Er kann es nur sein, sofern er sich selbst als Grund weiß. Die »Ethik« zeigt nun, daß dies eine Möglichkeit des endlichen Menschen ist, obwohl er aufgrund seiner Endlichkeit durch anderes Seiendes begrenzt und darin bedingt ist (I, def. 2). Er kann trotz seiner Beschränktheit frei sein im Sinne eines Bestimmenkönnens seiner Handlungen Selbstsein und Absolutes  |  99

durch sich. Seine Finitheit ist allerdings zugleich Ausdruck seines Geschaffenseins und das heißt im Rahmen der »Ethik« Ausdruck dessen, daß seine Handlungen Äußerungsformen der göttlichen Kausalität sind und darin einem strengen Determinismus unterliegen. Handlungen, die dergestalt determiniert sind, sind zugleich Momente des universellen Kontextes der natura naturata und als diese dem endlichen Subjekt nicht frei verfügbar. Menschliche Handlungen sind deshalb zum großen Teil nicht Tätigkeiten, die diesen Namen verdienen, sondern Geschehnisse in uns, die in Wirklichkeit ein Leiden darstellen, ein Eingenommensein von einem Geschehnis, über dessen Grund wir uns im unklaren sind. Sofern wir uns aber über dieses Geschehnis im klaren sind, d. h. seine adäquate Ursache kennen, sagen wir, daß wir handeln. Denn jetzt wissen wir uns als die Ursache dessen, was in uns geschieht. Wir wissen es, sofern wir Gott als den letzten Grund aller Ereignisse als in uns präsent wissen. Von den Ereignissen in uns, die sich auf diesen letzten Grund beziehen lassen, sagen wir, daß sie unsere Handlungen sind. Als Ereignisse gründen sie in der Notwendigkeit der göttlichen Kausalität, resultierend aus der Natur Gottes, nicht aber in einem freien Willen des Menschen. Sofern der Mensch aber diese Ereignisse in ihrer Notwendigkeit erkennt, nämlich aus dem Wesen Gottes, sind sie seine Handlungen, denn sie gründen nunmehr in ihm, nämlich in dem Prinzip, durch das er sich bestimmt weiß. Ereignisse, die in der göttlichen Kausalität gründen, gründen aufgrund eines Seinerselbst-gewiß-werdens im Menschen, sofern er Gott, der als Grund in jedem Seienden präsent ist, als seinen Grund sich bewußt macht. Erkenntnis von Ereignissen aus ihrem Grund macht aus einem unzureichend Erkannten, das deshalb in bezug auf das Subjekt ein Leiden darstellt, ein Handeln, das im Subjekt seinen Grund hat. Gewiß haben nicht alle Ereignisse der natura naturata in einem einzelnen Subjekt ihren Grund, aber doch die Ereignisse, zu denen das Seiende aufgrund seiner besonderen Beschaffenheit, der Struktur des Körpers, überhaupt Beziehungen aufnehmen kann. Daß das, was sich ihm ereignet, nicht ein ihm Äußeres ist, bleibt ihm jedoch verborgen, solange es nicht in sich den Grund dieser Ereignisse erfaßt. Solange es dies nicht tut, ist jenes ihm ein Äußeres. 100  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Demjenigen Seienden, das der Reflexion nicht fähig ist, sind alle Ereignisse äußerlich, also ein Erleiden. Was in der Reflexion und kraft dieser Reflexion geleistet wird, ist deshalb im Wesentlichen eine Veränderung des Bewußtseinszustandes des Menschen10 . Der Mensch begreift nicht nur etwas, das mit Notwendigkeit geschieht, in dessen Notwendigkeit, als ob dieses Begreifen aus einem Leiden ein Handeln machte. Er begreift vielmehr in diesem Begreifen sich, weiß sich anders als zuvor, nämlich als Grund dessen, was er erfährt, bezieht Ereignisse auf sich, weiß diese als die seinen und darin sich als handelnd. Darin ist der Mensch frei, nicht gezwungen durch ihm Äußeres. Diese Freiheit basiert auf einer Konzeption Gottes als eines absoluten Grundes, dessen Idee dem endlichen Seienden gegeben ist, das, sofern es der Reflexion fähig ist, diese sich zu Bewußtsein und darin sich von dem ihm Zugrundeliegenden her begreifen kann. Dieses Konzept stellt Spinoza auf, um verständlich zu machen, wie der begrenzte Mensch in der Welt einen Stand zu finden vermag, von dem her er, nicht einer Übermacht der äußeren Dinge erliegend, zu einer wahren Erkenntnis und einem freien Handeln gelangen kann. Diese Möglichkeiten dem Menschen zu sichern, dient das Konzept Gottes. Das ist allerdings ein Konzept unter einem teleologischen Aspekt: Gott umwillen des Menschen konzipiert, um eine Theorie des Menschen, der keinem Umwillen unterliegt, zu geben. Spinoza gelingt es, mit diesem Konzept eine Theorie des Selbstseins des endlichen Subjekts zu entwerfen, die sowohl der spezifischen Endlichkeit des Subjekts gerecht wird als auch dem mit dem Selbstsein verknüpften Anspruch des Durch-sich-seins und Aussich-seins, aus dem die Wirklichkeit dessen, was ist, begriffen werden kann. Dieser absolute Anspruch basiert auf einem Absoluten, das nicht das endliche Subjekt selber ist, das es jedoch in sich auffindet und sich bewußt machen kann. Dieses Sichbewußtmachen ist an die Bedingungen geknüpft, unter denen das Subjekt überhaupt Wissen von etwas haben kann, und das sind die endlichen Bedingungen seiner Körperlichkeit. Darin ist das Subjekt an ein 10  Vgl.

St. Hampshire, Spinoza and the idea of freedom, in: S. P. Kashap (Hg.), Studies in Spinoza, Berkeley 1972, 321. Selbstsein und Absolutes  |  101

procedere gebunden, an ein empirisches Erfahren von Dingen der Welt, die außerhalb von ihm gelegen sind, von denen her es sich in seiner Konkretheit allein begreifen und in bezug auf die das Subjekt allein das ihm zugrundeliegende Absolute sich bewußt machen kann, nämlich als den Grund dessen, was das Subjekt erfährt. So weiß das endliche Subjekt das Absolute allein in der Konfrontation mit der Welt und weiß darin in bezug auf die Welt sich als Subjekt eines spezifischen Könnens. Es weiß die Welt, soweit es sie erfahren kann, als seine Welt. Es ist nicht nur frei, weil das Absolute ihm zugrunde liegt und es deshalb das, was es erfährt, aus dem absoluten Grund erfahren kann. Es weiß sich vielmehr als frei, macht die Erfahrung der Freiheit in der Erfahrung der Welt und wird darin in die höchste Form der Freude versetzt, die Selbstzufriedenheit ist, weil sie ein Wissen darum ist, daß das, was auch immer das Subjekt erfahren mag, nicht ein ihm Fremdes ist. Diese Gewißheit seiner selbst angesichts der Geschehnisse der Welt versetzt den Menschen in den Stand, so zu leben, daß er in seinen Aktionen, die als Momente einer Welt, die mehr ist als er selber, immer auch bedingt sind durch dem Subjekt Äußeres, gleichwohl in Übereinstimmung bleibt mit sich selber. Diese Übereinstimmung mit sich selbst setzt sich nicht in den Gegensatz zur Welt, mag der Mensch auch um das Ganze der Welt nie wissen können. Denn was er von sich weiß, weiß er von einem absoluten Prinzip her, das aufgrund dieser Absolutheit auch Prinzip des Ganzen der Welt ist. Das Selbst behauptet sich also gegenüber dem anderen Seienden, der Welt, allein aufgrund eines Wissens. Selbstbehauptung impliziert demnach dies, daß die Welt und damit das, was dem einzelnen Seienden die Tendenz zur Selbsterhaltung auferlegt, der Vernunft nicht verschlossen bleibt. Sie ist der Vernunft zugänglich, weil deren letztes Prinzip, die absolute Substanz, so konzipiert wird, daß es der Vernunft zugänglich ist. Nun ist dieses Prinzip, soll es nicht abstrakt bleiben, sondern als Grund der Welt bekannt werden, dem endlichen Subjekt nur insoweit zugänglich, als dieses es als den Grund der modi der natura naturata begreift, zu denen das Subjekt eine Beziehung herstellen kann. Es weiß Gott nicht als Grund des Ganzen der Welt (es sei denn in abstrakter leerer Bestimmung), sondern als Grund dessen, was das endliche begrenzte Subjekt von der natura naturata wissen kann, also als Grund eines Begrenzten. 102  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Es weiß darin nicht Gott als einen begrenzten, zu einem Endlichen modifizierten Grund, ihn also nicht in perspektivischer Verkürzung, sondern ganz. Aber er weiß das, wovon er Grund ist, nur in einer durch die eigene Endlichkeit bedingten Beschränkung. So stellt sich die Alternative: Entweder ist das Selbstsein ein Beharren auf einer beschränkten, von den anderen isolierten Position – das kann aber nicht das Wesensmerkmal eines von Gott dependierenden Seienden sein, der über dieses Seiende hinaus Grund der Welt im Ganzen ist. Oder aber das Selbstsein ist Ausdruck der Selbstgewißheit eines Seienden, das sich in dem, was es tut, weil es dieses aus einem letzten Grund begreift, im Einklang mit der Welt im Ganzen weiß – das kann aber von der Position des einzelnen Selbst aus nicht begründet werden, sondern setzt ein Vertrauen in die vernünftige Struktur auch dessen, was sich der menschlichen Vernunft entzieht, voraus11. Die Philosophie, die dieses Vertrauen nicht teilt, sieht sich gezwungen, die Struktur des Selbstseins von Einzelnem in andersartigen Begründungszusammenhängen zu entfalten. Die These aber, daß dieses Selbstsein nicht ohne das Fundament eines ihm Transzendenten und darin ihm nicht frei Verfügbaren wird auskommen können, hat gute Gründe für sich.

11 

Vgl. M. Walther, Metaphysik als Anti-Theologie, Hamburg 1971, 123. Selbstsein und Absolutes  |  103

Das Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten I.

Wolfgang Cramer hat im Rahmen seines auf 5 Bände angelegten letzten Werkes »Die absolute Reflexion« den ersten Band der Philosophie Spinozas gewidmet. In ihm wird Spinozas Philosophie des Absoluten kritisch auf ihr Potential hin untersucht, das für die Theorie der absoluten Reflexion beizutragen vermag. Orientiert an bestimmten Sachfragen und nicht eine historisch getreue Wiedergabe der Theoreme Spinozas intendierend, ist das Buch, bezogen auf Spinoza, weitgehend destruktiv und lediglich bezogen auf die eigene noch zu entwickelnde Theorie konstruktiv. Dabei wird Spinozas Philosophie in den ihr eigenen Schwächen als Folie benutzt, der gegenüber Cramers eigener Entwurf sich nicht nur schärfer konturieren läßt. Es sind vielmehr die Aporien Spinozas, die es sich zu verdeutlichen gilt und denen die Theorie des Absoluten, will sie in sich konsistent sein, muß entgehen können. Diese Aporien sind nicht zufällige oder gar zeitbedingte Tatbestände der Philosophie Spinozas, die heute ihre Relevanz verloren hätten. Sie sind Konsequenzen immanenter Schwierigkeiten einer Theorie des Absoluten selber, die durch Spinoza eine bestimmte Ausprägung erfahren hat. Spinoza vertritt für Cramer einen bestimmten Typ der Absolutheitsphilosophie, der in dieser Form aporetisch ist; er ist preiszugeben, weil er für bestimmte Sachfragen, um deretwillen eine Philosophie des Absoluten konzipiert wird, keine Lösung anbieten kann. Als Typ einer Philosophie des Absoluten ist diese Philosophie Spinozismus, unbeschadet der konkreten Durchführung des Systems, wie es Spinoza in seiner »Ethica« entwickelt. Der Spinozismus begleitet Cramers Philosophieren als der teils implizite, teils explizite Gegner, seit die Substanzproblematik zunehmend in den Mittelpunkt seiner philosophischen Untersuchungen getreten ist. Mit der Verlagerung der Erörterungen einer transzendentalen Ontologie zu einer »Ontologie der Realität, die 104  |   

nicht Subjektivität ist«1, die aber auch noch letzte Grundlage einer Theorie der Subjektivität zu sein hat, wird das Verhältnis des Vielen in der Welt zu dem Einen, ohne das es nicht ein Vieles wäre, zum zentralen Problem der Cramerschen Philosophie. Der Spinozismus, so die These Cramers, denkt dieses Verhältnis in einer Weise, daß in ihm das Viele als Vieles verschwindet. Er ist darin der Proto­t yp einer Alleinheitsphilosophie, in der Alles letztlich Eines ist, in der es kein selbständiges Singuläres gibt, weil einzelnes nur Moment der absoluten Substanz ist, nämlich zugleich mit ihr und darin nicht ein Anderes ihrer in ihr. Die Alleinheitsphilosophie des Spinozismus ist der ausdrückliche Gegner2 , der das zu lösende Problem, Vieles als Vieles zu denken, nicht löst. Diese Gegnerschaft durchzieht die Schrift »Das Absolute und das Kontingente «. Auch das Spinoza-Buch ist von ihr geleitet. Obgleich es sich auf wesentliche Lehrstücke der »Ethica«, beschränkt auf Teil I und II, detailliert einläßt und alles andere als pauschal interpretiert, geht die Interpretation in erster Linie doch dahin, die Lehrstücke als Konsequenz eines Typs von Substanzphilosophie zu interpretieren, die als Alleinheitsphilosophie Implikationen enthält, die dem Autor Spinoza in ihren Konsequenzen nicht immer bewußt gewesen sein mögen. Die herausragende, Spinoza nach Cramers Deutung verborgen gebliebene Konsequenz läuft auf ein fundamentales Selbstmißverständnis Spinozas hinaus: daß er nämlich in seiner Ethik die Freiheit des Menschen in Anspruch nimmt, sein Substanzbegriff die Freiheit eines Singulären aber nicht zulasse.3 So darf zumindest angenommen werden, daß Spinoza eine Theorie des selbständigen Singulären intendiert hat und daß er um dessentwillen die Theorie der absoluten Substanz konzipiert hat. Das Scheitern der Konzeption läge darin, daß die Bestimmungen der Substanz, die Spinoza gibt, nicht ausreichen, die Intention einzulösen, ja, ihr zuwiderlaufen.

1  W.

Cramer, Das Absolute und das Kontingente. Untersuchungen zum Substanzbegriff, Frankfurt 21976, 7. 2  Ebd., 18. 3  W. Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, Frankfurt 1966 (= Die absolute Reflexion, Bd. 1), 35, 53, 77. Das Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten  |  105

Cramer zufolge ist das System des Spinoza Alleinheitsphilosophie, weil sich dessen Grundprinzip, die eine Substanz, mit Notwendigkeit in das Viele entfaltet, weil also nicht nur die eine Substanz als der letzte durch nichts anderes bedingte Grund notwendig ist, sondern auch das ihr eigentümliche Merkmal, tätig zu sein, so daß das, was aus dieser Tätigkeit folgt, das Viele, ebenfalls notwendig ist und darin in seiner Differenz zu der einen Substanz verschwindet.4 In der Tat, indem Spinoza in der Substanz essentia und potentia identifiziert (Eth. I, prop. 34), macht er keine Differenz zwischen der Substanz und ihrer Tätigkeit, deren von ihr verschiedener Grund sie sein könnte. Die Attribute, in denen die Substanz tätig ist, sind die Essenz der Substanz und diese nicht ein von den Attributen verschiedener Grund ihrer Einheit. Dergestalt in ihrer Kausalität aufgehend, ist sie zwar gemäß der essentiellen Verschiedenheit ihrer Attribute, die sie zu einem komplexen und nicht einfachen Wesen macht, Grund einer in sich komplexen Welt, aber nicht Grund einer Welt, die auch anders sein könnte, würde doch ein solches Anderssein die Attribute selber anders sein lassen und damit einer Veränderung aussetzen, die in direktem Widerspruch zur Notwendigkeit des Wesens der Substanz stünde (Eth. I, prop. 33, dem.). Nun bringt die Substanz gewiß nicht ihre Attribute hervor und ist deshalb nicht Potenz zum agere, sondern selber agere, und darin von den Attributen, in denen sie tätig ist, nicht verschieden, aber sie bringt die modi hervor, die deshalb als hervorgebrachte und darin auf eine Ursache außerhalb ihrer verweisend von der Substanz verschieden sind. Cramers These ist demgegenüber, daß eine solche Differenz von Spinoza nur behauptet, nicht aber ausgewiesen werden kann. Denn Spinoza nennt keinen Grund, warum sich die Substanz in ein Vieles auseinanderlegt, warum sie modi hat.5 Sie ist vielmehr als Substanz schon bei dem Vielen, d. h., es besteht eine ursprüngliche Korrelation zwischen dem Einen und dem Vielen. Ein Denken in Korrelationen ist aber Cramer zufolge untauglich, das Verhältnis zwischen dem Einen und dem Vielen angemessen zu denken; es bringt vielmehr das Verhältnis als Verhältnis zum Verschwin4 

5 

Ebd., 46 ff. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, a. a. O., 11.

106  |  I. Ontologie und Subjektivität 

den, weil es die Selbständigkeit der Glieder des Verhältnisses zum Verschwinden bringt, das Eine und Absolute verendlicht und das endlich Viele verabsolutiert, Charakteristikum einer Alleinheitsphilosophie. Die Wechselseitigkeit impliziert, daß nicht nur das Eine Bedingung des Vielen ist, sondern auch umgekehrt das Viele Bedingung des Einen. Das Absolute ist nur in der Relation zu dem Vielen und nicht losgelöst aus dieser Relation ein selbständiges Fürsichseiendes, aus dem erst die Relation zum anderen hergeleitet werden könnte, die dann keine ursprüngliche Korrelation wäre. Ist die Korrelation ursprünglich, dann ist das Absolute Einheit des Vielen als Prinzip der Differenzierung seiner selbst in Momente. Es muß aber zugleich auch Prinzip der Unterscheidung zwischen sich, dem Absoluten, und den Momenten, dem Vielen, sein. Ist das Absolute ursprünglich und notwendig auf das Viele bezogen, dann gehört die Unterscheidung zwischen sich und dem Vielen ursprünglich zu ihm. Das heißt: Die durch die Einheit des Absoluten begründeten vielen modi gehören notwendig zu dieser Einheit; sie sind ein die Einheit, d. h. das Absolute, selbst konstituierendes Moment und darin so ursprünglich und notwendig wie das Absolute selbst. Das bedeutet eine Verabsolutierung des Vielen, so daß die ursprüngliche Intention, mit dem Absoluten ein einigendes Prinzip des von ihm verschiedenen Vielen zu benennen, verlorengeht. 6 Unter der Voraussetzung der ursprünglichen Korrelation ist nicht anzugeben, welches Singuläre denn ein ausgezeichnetes Seiendes ist, das konstitutives Glied der Korrelation wäre. Es ist ganz klar, daß nur gesagt werden kann, daß das für alles Singuläre gelte und daß damit ein einzelnes vom Gesamt der einzelnen her gedacht wird. Korrelatives Glied des Absoluten sind alle modi, deren Totalität zum Absoluten selber wird, demgegenüber kein Singuläres ausgezeichnet ist. Mit der Preisgabe der Selbständigkeit des Absoluten, das funktional nur in der Korrelation ist, ist zugleich und notwendig die Selbständigkeit des Singulären preisgegeben; es ist nur Moment im Absoluten, das selber ohne es nicht ist, aber so, daß dies von allen Singulären gesagt werden muß, daß das Singuläre als Singuläres also kein selbständiges Sein hat.

6 

Ebd., 70. Das Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten  |  107

Ein Viel von Substanzen kann es nicht geben. Was in der Substanz ist, ist modus, der an sich selbst unbestimmt ist. So bleibt Cramer zufolge bei Spinoza die Differenz zwischen der Substanz und den modi bloß behauptet; auf der Basis des Spinozismus kann sie nicht erwiesen werden und nur von einem sich in seinen letzten Grundlagen selbst mißverstehenden Spinozismus behauptet werden. Es ist die dem System des Spinoza mangelnde Analyse der absoluten Substanz in der ihr eigentümlichen Struktur einer Beziehung auf sich als der Bedingung der Möglichkeit einer Beziehung auf Anderes, die die Beziehung zwischen Substanz und modi nur als Korrelation zu denken erlaube, in der, sofern beide Glieder gleich ursprünglich und notwendig sind, die Glieder sich wechselseitig bedingen und darin gerade nicht in ihrer jeweiligen Eigentümlichkeit thematisierbar sind: die eine Substanz in ihrem Fürsichsein, die vielen einzelnen in ihrer Selbständigkeit untereinander und darin auch gegenüber der Substanz. Spinoza habe richtig erkannt, daß Vieles nur ist, wenn ein Absolutes ist, und daß das Sein des Vielen als ein Hervorgehen zu verstehen ist, dergestalt, daß es in ihm ist und nicht außerhalb von ihm. Nur muß es, und darin fehle Spinoza, in ihm nicht als Moment, sondern als Anderes sein, als Kontingentes, das zwar aus der Notwendigkeit des Absoluten folgt, aber nicht mit Notwendigkeit.7 Nun ist Cramers eigene Konzeption einer absoluten Reflexion, in der das Absolute als Selbstbeziehung und damit als Denken zu fassen ist, mit Spinozas Philosophie sicher unverträglich. Deren Begriff der potentia, die das Wesen der Substanz ausmacht, ist nicht Potentialität im Sinne eines Könnens, das sich in seinen Produkten nicht verausgabt; und der Begriff der aeternitas ist ein unaufhebbares proprium der Substanz, das die Produktivität, die die Substanz ist, aller Zeitlichkeit entzieht. Doch ist Cramers Forderung, daß eine Theorie des Absoluten zugleich eine Theorie möglicher Kontingenz des Singulären sein muß, mit Recht an Spinozas Philosophie des Absoluten zu stellen. Und es läßt sich zeigen, daß in Spinozas Philosophie mehr enthalten ist, als Cramer ihr zutraut. Cramers scharfsinnigem Aufweisen der Aporien des Spinozismus ist es zu verdanken, daß der Blick geschärft wird für Elemente in 7 

Ebd., 19 ff.

108  |  I. Ontologie und Subjektivität 

der Philosophie Spinozas, die der Alleinheitsthese entgegenstehen und eine Interpretation veranlassen können, die die Frage verfolgt, inwieweit Spinozas Philosophie des Absoluten gerade der Begründung der Selbständigkeit des Singulären dient.

II.

Es ist das Cramer und auch die spekulative Philosophie des Deutschen Idealismus Faszinierende an Spinoza, daß dessen Philosophie nicht auf das Absolute hinführt von einem von ihm noch getrennten Ausgangspunkt der Endlichkeit, sondern mit ihm beginnt und so Formen einer schlechten Unendlichkeit im Sinne einer ins Unendliche gesteigerten Endlichkeit vermeidet. Dabei ist das Absolute funktional, zwar nicht auf ein außerhalb von ihm Gelegenes, doch auf das durch es zu Begründende, so daß es unter der Bedingung steht, wofür es Grund ist. Das Absolute muß deshalb, da die Relation Prinzip-Prinzipiat unaufhebbar ist, Prinzip von allem sein und darf sich in seiner Funktionalität nicht von einem bestimmten durch es Begründeten her verstehen. Jedes Singuläre ist durch das Absolute bestimmt und kann sich reflexiv nur ins Wissen bringen, wodurch es schon bestimmt ist, so daß jedes Sichhindenken zum Absoluten, das dieses Bestimmtsein außer acht läßt, die Sache verfehlen muß. Das Absolute ist also das erste, wovon der Ausgang zu nehmen ist. Gleichwohl sind die Bestimmungen des Absoluten solche, die das denkende Subjekt, ein modus, gibt; das Absolute selber denkt nicht, als daß sich das Subjekt in einer Unmittelbarkeit in dieses Denken hineinversetzen könnte. Aus der Struktur des Absoluten muß somit verständlich gemacht werden können, daß das endliche Subjekt einen Begriff vom Absoluten haben kann, in dem dessen Essenz erkannt wird. Aus ihr muß aber zugleich deutlich werden, weshalb es diesen Begriff nicht notwendigerweise hat (das ist ein empirischer Tatbestand), obschon es durch das Absolute notwendigerweise bestimmt ist. Die Reflexion auf die Differenz zwischen der Substanz und unserem Begriff von ihr ist, entgegen Cramers Ansicht 8 , 8 

W. Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, a. a. O., 30. Das Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten  |  109

für Spinoza zentral. Menschliches Erkennen ist verzerrt, der imaginatio zuzuordnen, wenn es vom Absoluten keinen Begriff hat und, dieses Begriffs entbehrend, die Dinge, die ohne das Absolute nicht sind, inadäquat erkennt. Die wahren Zusammenhänge nicht kennend, erkennt es nur Scheinhaftes. Aber das scheinhafte Erkennen kann nicht selber Schein sein. Es ist, aus einer bestimmten Verfassung des erkennenden Subjekts resultierend, in höchstem Maße wirklich. In ihm gründet die Affektivität des Menschen, deren mögliche Beherrschung darzulegen eine wesentliche Intention der »Ethica« ist, die den vernünftigen Menschen nicht in einem Scheingefecht beschreibt, sich vielmehr genötigt sieht, der Darlegung der möglichen Herrschaft über die Affekte eine minutiöse Beschreibung der Struktur und Wirksamkeit der Affekte vorangehen zu lassen. Darin ist gelegen, daß unbeschadet aller Notwendigkeit des Absoluten der einzelne modus, sofern er denkt, also die mens humana (und von dem unendlich vielen, das auf unendlich viele Weisen aus dem Absoluten folgt, ist dieser modus von besonderem Interesse) durch ein Können gekennzeichnet ist, sofern ihm eine wenigstens doppelte Verfaßtheit zugesprochen werden muß, nämlich sowohl defizientes Wissen zu haben als auch vollkommenes Wissen, die nicht beziehungslos nebeneinander bestehen, sondern Äußerungsformen eines und desselben modus sind: die eine gefährdet die andere, und diese muß gegen jene eigens gewonnen werden. Ist die defiziente Form wirklich und nicht nur ein Mangel, der nichts ist (vgl. Eth. III, def. aff. 3, expl.), so ist es das Erlangen der vollkommenen Form ebenfalls; und dieser wirkliche Prozeß bewirkt etwas, reinigt die Defekte, verändert den Bewußtseinszustand des denkenden Subjekts und damit dessen Sich-verhalten zu den Dingen der Welt, insbesondere zu anderen denkenden Subjekten (und darum geht es in der Ethik). Ist es die Erkenntnis des Absoluten, die dies bewirkt, dann ist das Absolute Grund einer Erkenntnis, in der das Subjekt nicht nur das Absolute erkennt, sondern auch sich selber in seinem Status in der Welt und zwar als ein solches, das sich jetzt anders weiß als zuvor. Das Subjekt gelangt zu dem Absoluten in einem Prozeß, der wirklich ist, und zu dem es nicht gelangen könnte, wenn das Absolute nicht Grund dieses Prozesses, ihn bestimmend, wäre. Darin ist das Subjekt im Absoluten, aber als 110  |  I. Ontologie und Subjektivität 

ein Anderes des Absoluten, nämlich als ein solches, das sich ver­ändert. Cramer zufolge kann dieser Sachverhalt nicht entwickelt werden, solange Spinoza an der Theorie der Ewigkeit der Substanz festhält, die Substanz nicht als Zeit faßt und darin die mögliche Bewegung in ihr unterschlägt.9 Doch basiert Cramers Einwand auf einer Forderung an Spinozas Theorie, die mit Spinozas Konzeption unverträglich ist und für Spinoza nicht Aufgabe einer Philosophie des Absoluten sein kann: die Deduzierbarkeit des Vielen aus dem Einen. Denn offensichtlich kann aus dem Absoluten, das ewig ist und nicht in einem Nacheinander produziert, nicht ein einzelnes folgen, das einem Prozeß unterliegt. Wenn Spinoza nun voraussetzt, daß der Prozeß wirklich ist, und wenn er zugleich das Absolute als den Grund alles Wirklichen als ewig konzipiert, dann darf daraus gefolgert werden, daß für ihn ein Wirkliches und damit das Viele nicht Folge des Absoluten in dem Sinne ist, daß es aus ihm müßte hergeleitet werden können. Spinoza geht vielmehr von einer unaufhebbaren Differenz zwischen dem Einen und Vielen aus, dadurch daß er dem Vielen ein Element zuspricht, die Prozessualität, das dem Einen nicht zukommt. Der Nachweis, daß ein solches Vieles seinen Grund in dem Einen hat, bedeutet nicht Deduktion des Vielen aus dem Einen, sondern Aufweis der Kausalität des Einen im Vielen in dem Sinne lediglich, daß etwas an jedem einzelnen von dem Absoluten verursacht ist, durch welches Verursachtsein das Viele, das unabhängig vom Absoluten real unterschieden ist, sein Sein hat. Darin hat ein einzelnes seine Ursache im Absoluten, ohne in seiner Bestimmtheit aus ihm zu folgen. Es ist vielmehr in doppelter Weise bestimmt: durch ein aus dem Absoluten Folgendes (das ist ein Ewiges) und ein aus ihm nicht Folgendes (das ist die zeitliche Erstreckung). Beide zusammen konstituieren das einzelne Ding, das als Ding in der Zeit durch ein Ewiges in ihm ist, das ihm sein Sein verleiht. Das zeitlich existierende Ding hat seinen Bestand aufgrund einer ewigen Essenz, die als singuläre konstitutiv für das Ding in zeitlicher Erstreckung ist, eine Form ausmachend, die sich in der Organisation zeitlicher Ereignisse zu der Selbigkeit eines Dinges artikuliert. Die individuelle Essenz, aufgrund derer 9 

Ebd., 75. Das Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten  |  111

das einzelne Ding im Kontext zeitlicher Ereignisse, die nicht aus der singulären Essenz allein folgen, seinen Bestand hat, bestimmt Spinoza als conatus perseverandi, als Tendenz eines jeden Dinges, sich in seinem Sein gegen ein Äußeres, das nicht aus ihm folgt, zu behaupten (Eth. III, prop. 6). Spinoza läßt keinen Zweifel daran, mag es explizit auch gar nicht thematisch sein10 , daß Individuelles essentiell bestimmt ist, und daß die individuellen Essenzen (conatus) eine zeitliche Erstreckung haben, insofern es Essenzen von Dingen sind, die in der Zeit existieren und deren Bestand in der Zeit durch den conatus verbürgt wird. Damit spielt die, wie Cramer zurecht betont11, im System Spinozas eigentümlich ortlose Zeit eine wichtige Rolle, ohne selber je thematisch zu werden. Worauf Spinoza in seiner Unterscheidung zwischen Dauer (duratio) und Zeit (tempus) abhebt (vgl. Ep. XII), ist dies, daß die Dauer nicht von der Zeit her verstanden werden kann, weil Dauer ganz wesentlich Ewigkeit impliziert. Ein Ding dauert in der Zeit aufgrund eines Ewigen in ihm; deshalb kann die Erstreckung in der Zeit nicht aus der Zeit erklärt werden, die nicht ewig ist. Die ewigkeitslose Zeit ist lediglich ein Hilfsmittel unseres Vorstellungsvermögens, das die Sache, die es zu begreifen gilt, nicht trifft, was aber nicht heißt, daß Dinge nicht in der Zeit sind, sondern nur, daß ihr Sein in der Zeit nicht mit Hilfe der Zeit verstanden werden kann. Denn das hieße, die Dinge unabhängig von der Substanz erkennen zu wollen, also ihren Charakter, modus des Absoluten zu sein, zu verkennen. Gleichwohl sind modi in der Zeit und damit in einer Bestimmtheit, die nicht aus dem Absoluten folgt. Ebendeshalb sind endliche modi nicht aus dem Absoluten zu deduzieren. Unmittelbar aus dem Absoluten folgt ein ewiger unendlicher modus, der im jeweiligen Attribut nur einer ist (vgl. Eth. II, prop. 4). Daß überhaupt vieles aus ihm folgt, und das heißt im einzelnen Attribut real Unterschiedenes, hat das Bestehen von Vielem, von corpora und korrelativ dazu von mentes qua ideae, zur Voraussetzung, von denen nicht zu zeigen ist, wie sie aus dem Einen hervorgehen, sondern daß sie, die existieren, vom Charakter des modus sind, ihnen also eine ewige Essenz zukommt. Deshalb 10  11 

A. Matheron, Individu et communauté chez Spinoza, Paris 1969, 9. W. Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, a. a. O., 54.

112  |  I. Ontologie und Subjektivität 

ist nicht nur eine Deduktion der Dinge aus dem Absoluten unmöglich; auch die Vielheit der Essenzen kann nicht deduziert werden, wenn auch aus den Attributen des Absoluten zu folgern ist, daß sich deren Produktivität nicht nur auf endlich Vieles, das empirisch zugänglich ist, erstreckt, sondern auf unendlich Vieles geht. Daß das Absolute sich aber selbst singularisiert, ist aus ihm nicht zu folgern; hierfür ist kein Prinzip in ihm. Eine Selbstbeschränkung des Absoluten ist nicht denkbar; Deus, »a nemine coactus« (Eth. I, prop. 17), hat keinen Hinblick auf von ihm Verschiedenes. Aus dem ewigen unendlichen modus, der unmittelbar aus der ewigen Substanz folgt, folgt nun, das Bestehen eines Vielen in der Zeit angenommen und im Hinblick darauf, so deute ich diese Konsequenz, wiederum ein unendlicher modus, der ebenfalls nur einer ist und sich, im Unterschied zum unmittelbaren, nicht einmal hinsichtlich der unterschiedlichen Attribute differenziert (Ep. LXIV): er ist die facies totius universi, die bei aller Veränderung der Dinge gleichbleibende Gestalt des einen Ganzen aller Dinge. Die facies totius universi ist die Totalität der existierenden Dinge, die, von der göttlichen Produktivität her gesehen, eine ungeschiedene Einheit ist. In ihr ist nicht einzelnes als einzelnes, denn es ist nicht einzusehen, wie das Absolute auf ein einzelnes sich einschränken sollte, ohne zugleich die Totalität dessen, was überhaupt ist, zu produzieren und darin das einzelne als ein durch alles andere bestimmtes einzelnes. Einzelnes, das physisch existiert, ist nur, wenn es durch etwas charakterisiert ist, das nicht aus dem Absoluten folgt, die zeitliche Erstreckung, das aber, so Spinozas These, kein einzelnes sein könnte, wenn ihm nicht eine ewige, der zeitlichen Abfolge enthobene Essenz zukäme, die das Sein des zeitlich existierenden Dinges ausmacht. Die Wirkungen des Dinges in der Zeit sind Äußerungen seiner Essenz. Die das individuelle Ding konstituierende Essenz ist nicht das Absolute, obschon jedes einzelne Ding ohne das Absolute weder sein noch begriffen werden kann. Denn die eine Substanz konstituiert nicht die Form eines Singulären (vgl. Eth. II, prop. 10 u. schol.). Aber die Form, ohne die das einzelne nicht ist, ist ihrerseits nicht ohne das Absolute, vielmehr allein aus ihm. So dient die Theorie des Absoluten dazu, die Selbständigkeit des Singulären zu sichern. Das Singuläre steht aufgrund seiner zeitliDas Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten  |  113

chen Beschaffenheit in einem Feld von Ereignissen, die nicht seine Ereignisse sind, die es vielmehr auf mannigfache Weise von außen bestimmen und darin zum bloßen Moment eines Ereigniszusammenhanges machten, wenn ihm nicht eine bleibende Essenz zukäme. Es ist die Essenz eines zeitlichen Seienden, das, weil seine Ereignisse in einem Kontext stehen, der nicht aus dieser Essenz folgt (die singuläre Essenz ist nicht Grund der Existenz des Singulären), nicht vom Charakter der Substanz ist. Die Verfaßtheit des Endlichen macht es, die Spinoza das Konzept einer individuellen Substanz verwerfen läßt und ihn zu der Theorie der einen Substanz führt. Die Theorie der individuellen Substanz kann nicht das Sein des Individuums in der Zeit verständlich machen, da die Verweisungsstruktur zeitlicher Bezüge, in denen das Individuum existiert, es zu etwas macht, das abhängig ist von solchem, das nicht aus ihm ist, durch das es aber bestimmt wird. Eine Verfaßtheit, die unabhängig vom Absoluten ist, macht es, daß Dinge nicht Substanzen sind. Dinge sind nicht modi, weil sie aus der einen Substanz folgen, sondern sie sind modi, weil sie nicht anders Dinge, die etwas für sich und nicht nur unselbständiges Moment eines Ganzen sind, sein können. Jedes Singuläre hat einen Bezug zu anderen Singulären, in dem jene von sich aus auf dieses wirken, welcher Bezug das Singuläre transzendiert und es in einen es übergreifenden Verweisungs­ zusam­menhang stellt. In ihm bleibt das Individuum auf ihm Äußeres verwiesen, nicht nur weil sein zeitliches Existieren nicht aus der eigenen Essenz folgt, sondern auch weil stets mehr Wirkungen auf das Individuum einwirken, als dieses im zeitlichen Vollzug je wird auf die eigene Essenz beziehen können. Innerhalb dieses Beziehungsgeflechts ist die Selbständigkeit des Singulären gefährdet, nicht weil das Singuläre durch alles andere durchgängig determiniert ist, sondern weil die von ihm ausgehenden Wirkungen in einem Feld ihm äußerer Wirkungen anderer Dinge stehen und darin weitgehend als Anpassungen an das Äußere auftreten. Sie sind dann bloßer Teil eines Wirkungsgeflechts äußerer Dinge, in dem das einzelne lediglich einen Beitrag zu dem Gesamt der Dinge leistet, worin es selber im höchsten Grade leidet und es fraglich scheint, ob ihm überhaupt eine Selbständigkeit zukommt, aus der sich erst ein Zusammenhang des Interagierens ergäbe. 114  |  I. Ontologie und Subjektivität 

So ist es gerade das Individuationsproblem, von dem Cramer meint, daß Spinoza es nicht kenne12 , das zur Theorie des Absoluten führt: die Frage, wie ein Singuläres im Zusammenhang mit anderen Singulären, die von mannigfach es bestimmenden Einfluß auf es sind, einen Stand haben kann, in dem es nicht den äußeren Einflüssen erliegt, sondern von sich aus angesichts der Einflüsse seinen Ort bestimmen kann, bedarf des Rückgangs auf ein solches, das nicht Glied des Zusammenhanges, sondern letzter Grund des einzelnen und des Zusammenhanges ist. Weil das Singuläre nicht durch sich ist, sondern begrenzt durch Anderes, das außerhalb seiner ist, könnte es seine Orientierung in der Welt, in der es sich nicht verliert, sondern bei sich ist, nicht finden, wenn es nicht selber bestimmt wäre durch ein Absolutes, das auch Grund dessen ist, was außerhalb seiner ist. Ein Sein des Singulären ist aufgrund einer ihm zukommenden Essenz möglich, obschon dieses bedingt ist durch solches, das nicht aus seiner Essenz folgt, weil die singuläre Essenz von dem Absoluten abhängt, das über die individuelle Essenz hinaus unbeschränkt vieles produziert und darin alles, das das Singuläre bedingen kann, zu etwas macht, das dem einzelnen nicht äußerlich bleiben muß. Um diesen Grund, ohne den nichts einzelnes ist, erklären zu können, wird die Philosophie des Absoluten nicht von einem modus ihren Ausgang nehmen können. Das Sein eines modus in einem Feld von Beziehungen, das nicht durch diesen modus ist, ist aus einem absoluten Grund zu begründen, der über alles endlich-Begrenzte hinaus ist. Aber die Philosophie des Absoluten hat eine Vorgabe in dem Faktum der zeitlichen Erstreckung der Dinge, in bezug worauf sie eine Theorie des Ewigen im Zeitlichen ist. Daß sie das ist, folgt nicht aus der Struktur des Absoluten, denn es selber hat keinen Bezug zur Zeit. Diese Theorie kann auch nicht aus einem Singulären gegeben werden, wenn dieses nicht schon unter den Bedingungen der Ewigkeit des Absoluten stünde. Sie ist aber im Rückgriff auf ein empirisch zugängliches Zeitliches zu entfalten. Weil das Daß der Wirksamkeit des Absoluten in einem von ihm Verschiedenen nur an diesem Verschiedenen aufgezeigt werden kann, geht Spinoza im Gegenzug zur Strukturanalyse des Absoluten von der Faktizität ei12 

Ebd., 38. Das Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten  |  115

nes solchen Verschiedenen aus: die mens humana hat als zeitliche (das ist ein nicht demonstrierbares Axiom) ein Objekt, das corpus humanum, das in mannigfacher Weise affiziert wird (Eth. II, ax. 4) und wodurch sie, die idea corporis ist, in einem Umfeld von Dingen steht, die sie mannigfach beeinflussen. Die Wirksamkeit des Absoluten ist durch die Erörterung der Weise, wie sie für den modus ist, aufzuzeigen. Darin ist die Theorie des Absoluten eine Theorie seiner Wirksamkeit in einem von ihm Verschiedenen, das in dem Absoluten ist, aber als ein Anderes des Absoluten. Sie gibt nicht nur Raum für ein spezifisches Können des singulären modus Mensch und damit für dessen Freiheit; sie ist auch nur im Hinblick darauf entfaltbar. III.

Das individuelle Ding hat zwar überhaupt nur eine Selbständigkeit, derzufolge es sich zu erhalten vermag, weil ihm eine individuelle Essenz zukommt und damit eine ontologische Bestimmung, die es nicht durch sich hat. Die ewige Essenz ist jedoch als individuelle nur in ihren Äußerungen in der Zeit, die im Kontext der Äußerungen anderer Essenzen stehen. Sie bleibt dem Individuum solange verdeckt, als es seine Wirkungen nicht als Äußerungen seiner Essenz versteht, sondern nur als Momente eines zeitlichen Kontextes, dessen Wirksamkeit es gemäß der Zufälligkeit des Affiziertwerdens unterliegt. Die Essenz, die dem Individuum an sich zukommt, ist damit noch nicht etwas für es. Die Äußerungen der Essenz sind nicht von der Art, daß sich das Ding in ihnen auch selbst erhält. Ein singulärer modus, die mens humana, kann aber eine Erkenntnis der eigenen Essenz haben und darin Wirkungen, die von diesem modus ausgehen, als seine Wirkungen wissen. Dieses Wissen verändert seinen Status im Kontext der Dinge, in dem er steht. Ereignisse, die ihn bestimmt haben, werden nun von ihm bestimmt. Er vergrößert seine Wirksamkeit, hat mehr Macht, entzieht sich, wenigstens partiell, dem Übermächtigtwerden durch ihm äußere Dinge, gestaltet selber das Geschehen. Diese Gestaltung ist keine Illusion, sondern selber eine Wirkung, die von ihm ausgeht. Seine potentia, die eine zum Singulären modifizierte potentia Dei ist, ist, anders als die absolute potentia, ein Können, gerade weil die Folgen 116  |  I. Ontologie und Subjektivität 

der Essenz keine notwendigen Folgen dieser Essenz sind. Aus der Essenz folgt zwar notwendigerweise einiges und zwar, im Unterschied zur absoluten potentia, ein Begrenztes und nicht alles, was überhaupt ist. Aus ihr folgt jedoch nicht ein bestimmtes Begrenztes mit Notwendigkeit, das durch die Folgen aus allen anderen Essenzen determiniert wäre. Insofern das Ding begrenzt ist, erleidet es notwendigerweise etwas von äußeren Einflüssen und muß als Teil eines übergreifenden Ganzen gedacht werden (vgl. Eth. IV, prop. 2–4). Doch ist die Weise des Erleidens nicht notwendig, und deshalb ist das Ding nicht nur Teil eines Ganzen, durch das es schon mit Notwendigkeit bestimmt wäre. Denn die Wirkungen der singulären Essenz sind Wirkungen in der Zeit und stehen somit in einem Zusammenhang, der nicht einer Notwendigkeit unterliegt, die aus dem Absoluten resultierte. Deshalb ist der individuellen mens humana eine Leistung möglich, zeitliche Ereignisse, die von Einfluß auf sie sind, auf sich zu beziehen, worin sie bislang Fremdgebliebenes sich aneignet. Das ist nicht nur ein Begreifen dessen, was ohnehin geschieht, weil das Sichaneignen selber ein Geschehen ist, das nicht geschieht, wenn das Sichbegreifen ausbleibt. Dieses Können ist nicht selbstmächtig, sondern gebunden an das Absolute, das im Singulären ist und durch das es seine potentia hat. Weil das Absolute aber über dieses Singuläre hinaus in unendlich vielen anderen Singulären wirkt, ist es bedeutungsvoll für das Singuläre nur, wenn dieses von sich aus einen Bezug zu ihm herstellen kann. Dieser Bezug ist ein solcher des Wissens, das unter Bedingungen der Zeit steht. Für das Singuläre ist das Absolute somit unter den Bedingungen zeitlichen Existierens, das dem Absoluten gegenüber kontingent ist und nicht dessen Notwendigkeit unterliegt. Die gelingende Selbsterhaltung, in der das Individuum um seine Essenz weiß und darin deren Folgen, die in der Zeit geschehen, der kontingenten Abfolge zeitlicher Ereignisse entzieht, steht selber unter Bedingungen der Kontingenz. Die doppelte Bestimmtheit der endlichen mens humana in deren Verhältnis zum Absoluten, nämlich Erkenntnis des Absoluten, durch das sie und damit auch ihr Erkennen ist, zu haben und auch nicht zu haben, ist Ausdruck eines Könnens, in dem das Subjekt zum Absoluten gelangt, durch das es schon bestimmt ist und zu dem hin es nicht gelangen könnte, wenn es nicht schon von ihm Das Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten  |  117

bestimmt wäre, ohne daß das Hingelangen selber notwendige Konsequenz des Absoluten wäre. Es wird vielmehr vom Subjekt gewonnen gegen solches, das nicht aus dem Absoluten ist, und zeigt darin die Wirksamkeit des Absoluten im Anderen seiner selbst an. Die mens humana hat die Erkenntnis des Absoluten, sofern sie ihre ewige Essenz aus dem Absoluten als deren Ursache erkennt; sie hat sie nicht, sofern die Essenz sich in zeitlicher Erstreckung äußert und ihre Äußerungen in einem Kontext von Äußerungen anderer Essenzen stehen, die so von Einfluß auf die mens humana sein können, daß sie in einem Ereigniszusammenhang steht, an dem sie zwar aufgrund ihrer Essenz, aus der Wirkungen folgen, partizipiert, innerhalb dessen sie aber, von ihr äußerlich Bleibendem eingenommen, nicht um ihre individuelle Essenz weiß und dementsprechend nicht um das Absolute, aus dem ihre Essenz ist. Da nun die mens humana »idea corporis actu existentis« (Ep. LXIV) ist und allein als diese erkennt, ist die Erkenntnis des Absoluten gegen die defiziente Form des Erkennens eigens zu gewinnen, wenn sie auch nicht aus ihr gewonnen werden kann (vgl. Eth. V, prop. 28). Das gegen die aus der Beschränktheit resultierende Defizienz zu gewinnende Wissen um das Absolute ist ein auf der Basis der Beschränktheit zu gewinnendes Wissen. Seine Realisierung ist davon abhängig, daß das Individuum sich in seiner Endlichkeit aus dem Absoluten erkennt, nicht aber davon, daß es die Totalität dessen, was außerhalb seiner ist (das Feld der natura naturata), erkennt. Denn sonst könnte die endliche mens humana nie ein Wissen vom Absoluten haben, weil jener Erkenntnisprozeß unabschließbar ist und mit dem Defekt unvollständigen Wissens behaftet bleibt. Sie kann aber eine Erkenntnis des Absoluten haben, weil sie im Feld äußerer Beziehungen, die nicht durch sie sind, ein Selbständiges ist, dessen sie sich vergewissern kann, dessen sie aber auch, sofern die Vergewisserung ausbleibt, verlustig wird, worin sie zu einem unselbständigen Glied eines Affektionsgefüges wird. Demnach steht der endliche modus, das Singuläre, nicht in einer ursprünglichen Korrelation mit allen anderen Singulären, durch welche Korrelation er bestimmt wäre. Er ist nicht unselbständiges Glied eines Modus-Universums. Von der ewigen Produktivität der göttlichen Substanz her gesehen stehen zwar alle endlichen modi in einem universalen Zusammenhang, durch den jeder einzelne 118  |  I. Ontologie und Subjektivität 

bestimmt ist und in dem eine durchgängige Korrelation aller modi besteht. Aus dieser Perspektive sind jedoch alle modi reine Essenzen, die zugleich sind und sich nicht einander in der Zeit bewirken; jeder verweist auf die causa eines anderen und dies ins Unendliche, weil jeder ohne die anderen nicht erkannt werden kann und Erkenntnis Erkenntnis aus causae ist.13 Singuläre modi, die in der Zeit sind, sind aber nicht einfach Teile des unendlichen modus, der ewig ist und zu dem sich die göttliche Essenz in ihrer Ewigkeit modifiziert. Ihr Status in der Welt ist nicht schon durch die absolute Substanz bestimmt, sondern der singuläre modus gewinnt seinen Status aus der Substanz, indem er sich in bezug auf solches, das nicht aus der Substanz ist, die zeitliche Erstreckung, aus der Substanz begreift. Das individuelle Streben nach Selbsterhaltung ist zwar durch das in ihm wirksame Absolute bestimmt, aber ohne daß darin auch schon die bestimmte Weise des conari bestimmt wäre. Wenn auch das essentielle Bestimmt-sein des Singulären, nach Selbsterhaltung zu streben, unabhängig davon ist, ob das Singuläre um es weiß, so gelingt doch die Erhaltung nicht in einer beliebigen Weise des Strebens, sondern nur in einer solchen, in der es die Wirkungen, die von ihm aufgrund seines conatus ausgehen, als seine Wirkungen weiß und darin zugleich den Kontext, in dem diese Wirkungen in ihrem Bezug zu den Wirkungen anderer Dinge stehen, nicht als einen fremden hinnimmt, dem es erliegt. Aber auch in der gelingenden Selbsterhaltung bleibt der conatus und damit das Aussein auf ein erst zu Realisierendes bestehen, denn das einzelne Ding steht in einem Gefüge zeitlicher Ereignisse, die kontingent sind und das zeitlich existierende Ding in stets neue es affizierende Verhältnisse bringen. Sie können als konkrete a priori nicht gewußt werden. Sie sind von dem Menschen jeweils auf sich zu beziehen in einem Prozeß, der so lange dauert, wie der Mensch dauert. Sofern es die ewige Essenz im Individuum ist, die die Selbsterhaltung in der Zeit ermöglicht, ist die individuelle Existenz ab13 

A. Naess, Is freedom consistent with Spinoza’s determinism? In: Spinoza on Knowing, Being and Freedom. Proceedings of the Spinoza Symposium at the International School of Philosophy in the Netherlands, Leusden, September 1973, ed. G. van der Bend, Assen 1974, 8 f. Das Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten  |  119

hängig von einem Ewigen, das durch sich selbst existiert. Spinozas Nachweis, daß die Dinge der Essenz und der Existenz nach von dem Absoluten abhängen, bedeutet, daß, sofern hier zeitliche Exi­ stenz (Dauer) gemeint ist, die Dauer insofern von dem Absoluten abhängt, als sie von der singulären Essenz abhängt, die als ewige ihrerseits vom Absoluten abhängt. Doch ist mit der individuellen Essenz keine bestimmte Dauer verbunden, ist diese doch auch abhängig von dem Kontext, in dem das einzelne Ding in zeitlicher Erstreckung steht, welcher Kontext nicht Folge einer individuellen Essenz ist. Lediglich sofern ein Ding dauert, ist dies auf dessen Essenz zurückzuführen, nämlich auf den conatus, in dem sich das Ding gegen eine Übermacht dessen erhält, das nicht aus der eigenen Essenz folgt. Aber der essentielle Charakter des conatus verbürgt nicht auch das Gelingen dessen, worauf das Ding, dessen Wesen der conatus ist, aus ist. Das Gelingen ist gegen das stets mögliche Mißlingen eigens zu gewinnen. Folgt die Essenz aus der Notwendigkeit des Absoluten mit Notwendigkeit, so folgt das singuläre Ding, das ohne die Essenz kein Sein hat, ebenfalls aus der Notwendigkeit des Absoluten, aber nicht mit Notwendigkeit, weil das singuläre Ding dadurch bestimmt ist, wie sich seine Essenz, der conatus, in der Zeit artikuliert, d. h. wie es ihm gelingt, gegenüber äußeren Einflüssen, gegen die es anzugehen hat, sich zu behaupten. Zeitliche Ereignisse, denen ein Ding ausgesetzt ist, folgen nicht aus dem Absoluten und ereignen sich deshalb nicht mit Notwendigkeit. Die Erhaltung des Individuums ist zwar ohne das Absolute nicht möglich, sie geschieht aber nicht durch das Absolute. Sie kann gelingen oder mißlingen, je nachdem wie das Individuum die Bezüge, in denen es existiert, zu gestalten vermag. Sie ist eine Leistung des Individuums.

IV.

Nur unter der Voraussetzung, daß solches, das gelingen oder mißlingen kann, nicht aus der Essenz des Absoluten folgt, kann von einer Leistung des modus gesprochen werden, in der dieser nicht nur das vollzieht, was ihn ohnehin bestimmt. Aber die dem einzelnen Ding zuzurechnende Leistung kann ihren Grund auch nicht 120  |  I. Ontologie und Subjektivität 

in der Selbstmächtigkeit des Dinges haben, weil das Gelingen ein Akt in bezug auf solches ist, das nicht aus der Essenz des Singulären folgt. Der zeitliche Kontext muß deshalb von einer Beschaffenheit sein, die unabhängig von der Verfassung eines Singulären einsichtig macht, daß eine individuelle Selbsterhaltung möglich ist, die ihre Basis in einer singulären Essenz hat, der gegenüber die zeit­lichen Ereignisse, in denen ein Ding existiert, kontingent sind. Diese Beschaffenheit leitet sich aus der Struktur des Absoluten her, aber so, daß lediglich die zeitliche Ereignismannigfaltigkeit im Ganzen einheitlich bestimmt ist: das Ganze der Welt bleibt bei aller internen Veränderung gleich; es gibt keine Veränderungen, die sich dem, was aus der ewigen Essenz des Absoluten folgt, entziehen. Die facies totius universi, aus der Ewigkeit der Substanz folgend und deshalb selber ewig, bestimmt nicht zeitliche Ereignisse als zeitliche, sondern verleiht ihnen eine gemeinsame Struktur: alle Ereignisse in der Zeit sind Äußerungen eines Essentiellen und darin prinzipiell begreifbar. Die Theorie der Begreifbarkeit ist aufs engste verknüpft mit der Theorie der Notwendigkeit des Seienden. Und sofern die Theorie der durchgängigen Begreifbarkeit der Welt das wesentliche Anliegen des spinozanischen Rationalismus ist14 , in dessen Zusammenhang die Konzeption der absoluten Substanz steht, ist es verständlich, daß im Mittelpunkt von Spinozas Darlegungen der Aufweis der Notwendigkeit alles Geschehens steht: »in rerum natura nullum datur contingens« (Eth. I, prop. 29). Es ist die These, daß alles, was ist, zurückführbar ist auf die eine Substanz, weil alles, was ist, essentiell bestimmt ist und in den Essenzen sich die Kausalität der Substanz erfüllt, die Essenzen also so notwendig sind, wie es die Substanz, deren Wesen Kausalität ist, selber ist. So ist alles endliche Begreifen Begreifen eines Notwendigen (vgl. Eth. I, prop. 35), das in der Substanz ist und das nur aus der Notwendigkeit der Substanz begriffen werden kann. Doch heißt das natürlich nicht, daß auch das Begreifen ein notwendiges Geschehen ist. Denn es ist ein vorstellender Akt, der, obschon ihm eine Essenz, die der mens humana, zugrunde liegt, nicht notwendigerweise auf Essenzen geht, sondern gemäß dem zeitlichen Bestimmtsein des Vorstellenden auf 14 

M. Gueroult, Spinoza I (Dieu), Paris 1968, 9 ff. Das Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten  |  121

zeitlich Existierendes (idea corporis actu existentis), dessen Essenz, sofern es ein ideatum ist, nicht auch schon begriffen ist. Was dabei vorgestellt wird, sind zwar Äußerungen einer Essenz, sei es eines corpus, sei es einer mens, aber nicht notwendige Äußerungen. Denn aus dem Wesen eines Dinges muß (debet) zwar, sofern es nichts anderes ist als die modifizierte potentia Dei, einiges folgen, aber eben nur irgendeines (aliquis effectus) und nicht ein schon streng bestimmtes, mag auch die einzelne Essenz im Gefüge der Essenzen streng bestimmt (certo et determinato modo) sein (vgl. Eth. I, prop. 36). Wenn die Vielfalt der Essenzen aus dem ewigen Einen nicht deduzierbar ist, sondern dessen Folge ist, sofern eine reale Mannigfaltigkeit zeitlich existierender Dinge ist, kann eine Vielfalt unterschiedlicher Essenzen, wenigstens von physisch Seiendem, gar nicht sein, wenn diese sich nicht in einer Weise äußerten, die von der der einen Substanz verschieden ist, nämlich der einer zeitlichen Erstreckung, in der sie über ihre Äußerungen aufeinander wirken. Diese Wirkungen sind als besondere nicht von der einen Substanz her determiniert; sie haben aber über die Essenzen, deren Wirkungen sie sind, aus dem absoluten Grund dieser Essenzen eine Notwendigkeit, die für das Ganze aller Wirkungen gilt. Sie ist die Voraussetzung für die Begreifbarkeit singulärer Ereignisse und kann in der rationalen Erkenntnis, die auf allgemeine Strukturen geht, auch erkannt werden. Zeitliche Ereignisse, die aus der Essenz eines singulären Dinges resultieren und im Kontext mit Ereignissen stehen, die nicht aus dieser Essenz resultieren, das Ding als zeitliches aber gleichwohl mitbestimmen, bleiben nicht notwendigerweise fremdbestimmte, sondern können, trotz ihres Eingelassenseins in ein das Individuum übergreifendes Zeitgefüge, eigene Ereignisse sein, sofern das sie Mitbestimmende, die anderen Dinge, in deren Wirksamkeit jedes für sich eine essentielle Grundlage hat, die von der eigenen Essenz her aus deren gemeinsamen Grund, der absoluten Substanz, begriffen werden kann. So ist der unendliche modus, der die gleichbleibende Gestalt des Ganzen zum Ausdruck bringt, für den singulären modus, der auf ein auf Gewißheit basierendes Sichorientieren in der Welt aus ist, also für die mens humana, von Bedeutung, insofern er zum Ausdruck bringt, daß sich zeitliche Ereignisse, die von der 122  |  I. Ontologie und Subjektivität 

singulären mens erfahren werden und unabhängig vom Vollzug des singulären conatus nicht erfahren werden können, unter ein Ewiges und das heißt unter das Absolute bringen lassen. Hinsichtlich des konkreten Vollzuges stellt er einen Vorgriff dar, der dem Singulären die Gewißheit gibt, im Begreifen der Dinge, die in der Zeit sind, eine sichere Erkenntnis auch dann zu haben, wenn die Vielfalt der Bezüge, in denen das Ding steht, nicht begriffen ist. Es ist die Gewißheit, daß allen Dingen eine ewige Essenz zukommt und daß damit die Erkenntnis sub specie aeternitatis, die gemäß der zeitlichen Beschaffenheit des erkennenden Subjekts ein unabschließbares procedere ist, sich auf mehr und mehr Dinge, deren Essenzen erkennend, erstreckt, auch in Anbetracht bloß partikularer Weltausschnitte, die erkannt sind, gerechtfertigt ist. Das noch nicht Erkannte steht unter denselben Bedingungen wie das schon Erkannte. Für die Erkenntnis Gottes ist das immerwährende Fortschreiten nicht erforderlich. Die scientia intuitiva ist auch in der Partikularität am Ziel, da Gott in jedem einzelnen ist (Eth. V, prop. 36). Für die Sicherung des singulären Selbst, dem es um seinen Status in der Welt geht, ist, da es als innerweltliches Seiendes stets Bezügen ausgesetzt bleibt, die es fremdbestimmen können, das Fortschreiten jedoch erforderlich (Eth. V, prop. 38 bis 40)15 Denn die Erkenntnis Gottes, die die mens humana hat, sofern sie um die eigene ewige Essenz weiß, schließt die Erkenntnis der Wirkungsweise der Dinge, dem das Subjekt auch im Wissen um seine Ewigkeit ausgesetzt bleibt, nicht ein, weil deren Wirkungen nicht aus der Notwendigkeit Gottes, um die das Subjekt weiß, schon folgen. Als Wirkungen von Singulärem sind sie kontingent. Aus der Erkenntnis des Absoluten sind sie aber von einem Singulären begreifbar, unabhängig davon, ob das Subjekt sie im Kontext alles dessen, was ist, begreift. Da Begreifen für Spinoza Begreifen des Seins der Dinge ist, sind die Dinge nicht in einer ursprünglichen Korrelation zueinander. Weder ist die ursprüngliche Korrelation eine These Spinozas, noch ist sie eine Konsequenz seiner Theorie des Absoluten.

15 

Vgl. W. Bartuschat, Selbstsein und Absolutes [in diesem Band: S. 53 – 103]. Das Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten  |  123

V.

Spinozas Philosophie des Absoluten ist auch Grundlage einer Erkenntnistheorie, in der, die Flucht in das asylum ignorantiae bekämpfend, die Möglichkeit einer sicheren Erkenntnis des Menschen dargetan wird. Sicher leidet diese Erkenntnistheorie an einer unzureichenden Bestimmung dessen, was »Denken« heißt, und man kann auch die Theorie der absoluten Substanz hierfür verantwortlich machen, nämlich die Lehre von der Gleichursprünglichkeit der Attribute Cogitatio und Extensio, die auf der Ebene der modi zu einer Verdinglichung der ideae, parallel zu den corpora, führt.16 Andererseits legt die Erkenntnistheorie dar, daß die ideae mentis humanae nicht nur Repräsentanten von corpora sind und darin inadäquat, sondern auch ideae zum Gegenstand haben können, selbstverständlich ideae corporum, die deshalb als ideae idearum noch nicht adäquat sind, aber adäquat sein können, wenn sie auf eine Ursache zurückgeführt werden, die der Erkennende selber ist, nämlich das Ewige in ihm, das aus dem Absoluten ist und dessen er sich aus dem Attribut Cogitatio vergewissern kann, das in ihm ist als dessen Ursache, sofern er überhaupt denkt und darin corpora repräsentiert. Als Teil des unendlichen Verstandes (unmittelbarer unendlicher modus) erkennt der menschliche Verstand (endlicher modus), weil er nur Teil ist, inadäquat, insofern ihm über das Erkannte hinaus Beziehungen, die der unendliche Verstand erkennt, unerkannt bleiben. Weil er aber nicht nur Teil ist, d. h. nicht nur Glied der Totalität dessen, was überhaupt ist, von der her er sein Sein hätte, sondern ein Selbständiges, kann er in seiner Begrenztheit, die er nie verlieren kann und die der Grund inadäquater Erkenntnis ist, eine adäquate Erkenntnis haben. Er kann in sich selber und nicht nur, sofern er Glied eines Ganzen ist, das Absolute erkennen; er kann es, weil etwas in ihm vom Absoluten verursacht ist, ihm also eine ewige Essenz zukommt. Die Möglichkeit adäquater Erkenntnis wird an dem Status des Menschen, ein innerweltliches Seiendes zu sein, dargetan und damit in bezug auf den Tatbestand, daß der Mensch inadäquate Ideen hat, die er in adäquate überführen kann. Ideen, die in einem 16 

Vgl. W. Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, a. a. O., 90 ff.

124  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Gefüge von Ideen stehen, hat der Mensch nicht nur als Momente dieses Gefüges, das er nicht adäquat erkennt und in dem sie inadäquate Ideen wären; er kann sie als seine wissen. Inadäquates Erkennen ist für Spinoza Ausdruck der Unselbständigkeit des Erkennenden, dem sich die Ideen gemäß der Zufälligkeit der Affektionen seines Körpers verknüpfen und für den sie damit in einem Zusammenhang stehen, an dem er teilhat, ohne um ihn zu wissen. Wahre und falsche Ideen sind nicht primär danach zu unterscheiden, ob sie mit ihrem Gegenstand übereinstimmen, sondern nach der Beschaffenheit des Menschen, der sie hat (vgl. Eth. II, prop. 43, schol.). Denn die Übereinstimmung ist durch den parallelen Charakter der Attribute der Substanz verbürgt und nicht etwas, das dem Erkennenden zugerechnet werden könnte. Das Haben wahrer Ideen, das sie zu adäquaten macht und das des Bezuges auf den Gegenstand nicht bedarf (Eth. II, def. 4 im Unterschied zu Eth. I, ax. 6), ist jedoch eine Leistung des erkennenden Subjekts, die es zwar nicht erbringen könnte, wenn es nicht vom Absoluten bestimmt wäre, die aber eigens zu erbringen ist gegenüber einem Zustand, in dem, obschon auch hierin durch das Absolute bestimmt, es sich verkennt. Im inadäquaten Erkennen hat der Mensch in einem Geflecht von Bezügen seine Selbständigkeit verloren und ist nur Glied eines ihn übergreifenden Komplexes, aber nicht deshalb, weil er notwendigerweise durch einen solchen Zusammenhang ist, sondern weil er sich nur von ihm her versteht, Eindrücken, die von außen auf ihn wirken, folgend. Dieses Sichverstehen ist nicht notwendig, weil der Mensch sich zu dem, was ihn als ihm Äußerliches bedingt, in einer Weise verhalten kann, in der er sich nicht in der Äußerlichkeit verliert, sondern das eigene Wesen erfaßt. Diese Möglichkeit dem Singulären trotz dessen Eingenommensein durch ihm Äußeres zu sichern, dient die Theorie des Absoluten. Sie macht deutlich, daß dem Singulären nicht nur ein Bleibendes zugesprochen wird (eine ewige Essenz), das ein nicht vergängliches Moment eines Beziehungsgeflechts zeitlicher Ereignisse ist, sondern daß aus ihm dieses Beziehungsgeflecht bestimmt werden kann. Weil das dem Singulären wesentlich Zukommende aus einem letzten Grund, dem Absoluten, ist, ist es dem Singulären möglich, das ihm Äußere, die Sphäre anderer modi, nicht als ein ihm Fremdbleibendes hinnehmen zu müssen, ohne es aber, sich selbst betrügend und einer IlluDas Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten  |  125

sion nachhängend, von der eigenen Beschränktheit her verstehen zu müssen. Im Erweis möglichen subjektiven Sichorientierens wird das Sein des Absoluten in einem von ihm verschiedenen Singulären dargetan. Da ein solches Singuläres nicht Folge der ewigen Essenz des Absoluten ist, kann das Sein des Absoluten in ihm nicht aus der Perspektive der Ontologie erwiesen werden, also nicht aus einer Strukturanalyse des Absoluten. Es kann nur aus der Perspektive des Singulären erwiesen werden, das nicht ein modus überhaupt ist, von dem in der Ontologie allein die Rede sein kann, sondern ein je bestimmter modus, der als idea corporis actu existentis durch Denken und je konkrete Körperlichkeit, die gedacht wird, ausgezeichnet ist. Aus dieser Perspektive, in der das Absolute etwas für das Singuläre ist, wird das Absolute unter den endlichen Bedingungen, unter denen etwas für das Singuläre sein kann, betrachtet, ohne daß es durch diese Bedingungen, sofern es sich um eine gewisse Erkenntnis handelt, verzerrt wird. Darin erweist es sich nicht nur als abstrakter Grund von allem, das in sich undifferenziert bleibt, überhaupt, sondern als der konkrete Grund eines je Bestimmten, der das Absolute nur sein kann, wenn dieses der Grund von allem Konkreten ist. Aufgezeigt werden kann der Grund jedoch nicht an einem beliebigen Konkreten. Sofern dies aufzuzeigen ein zentrales Programm der Philosophie des Absoluten ist, es aber nur aus der Perspektive eines endlichen modus gezeigt werden kann, ist der modus, für den etwas sein kann, also die der Reflexion fähige mens humana, auch für die Ontologie des Absoluten von zentraler Bedeutung. Erst recht ist er es für die Ethik, deren Fundament, die Ontologie, ihr aus diesem Grund nicht äußerlich ist. So ist die Theorie des Absoluten (Eth. I) Grundlage sowohl der Erkenntnislehre (Eth. II) wie der Ethik (Eth. III–V) in einer Weise, daß nicht aus einer für sich bestehenden und in sich abgeschlossenen Strukturanalyse des Absoluten auf die menschliche Tätigkeit in den Formen des Erkennens und Handelns deduktiv geschlossen wird, daß vielmehr an der menschlichen Tätigkeit das Sein des Absoluten in ihr aufgezeigt wird und darin das Absolute allererst seinen Charakter, Grund von Anderem seiner selbst zu sein, gewinnt. Insofern gehört die Theorie menschlichen Erkennens und Handelns zur Theorie des Absoluten selber; und sofern das Erkennen 126  |  I. Ontologie und Subjektivität 

im Hinblick auf das zu erlangende menschliche Glück seine Bedeutung hat, kann auch die allgemeine Ontologie als Theorie des Absoluten unter dem Titel »Ethica« traktiert werden. Die Ethik rückt in das Zentrum der Philosophie des Absoluten und damit die Theorie menschlicher Freiheit, die geben zu wollen nicht etwa, wie Cramer meint, mit der Strukturanalyse des Absoluten unvereinbar ist, die zu geben vielmehr umgekehrt unerläßliches Moment der Theorie des Absoluten ist. Denn das Absolute kann etwas für das einzelne nur sein, wenn dieses nicht unselbständiges Glied eines universalen modus-Zusammenhanges ist, das Absolute also in ihm als einem einzelnen ist. Das In-sein des Absoluten im einzelnen, daß diesem also eine individuelle Essenz zukommt, Bedingung der Erkennbarkeit des Absoluten durch das Endliche, ist nur erweisbar, wenn sich die mens humana, die einem Leiden durch Einwirkungen von außen ausgesetzt ist, von diesen Einwirkungen, der Knechtschaft der Affekte, zu befreien vermag. Das gelingt ihr, wenn sie das, was an sich in ihr ist, aus seiner Ursache begreift und zu etwas für sich macht, worin sie die Ereignisse, zu denen sie aufgrund ihres essentiellen Bestimmtseins (conatus) eine Beziehung hat, als ihre Ereignisse weiß, durch die sie nicht leidet. Daß Freiheit des Endlichen trotz seines Begrenztseins gerade in dieser Begrenztheit möglich ist, wenn auch ebendeshalb nicht schon wirklich, vielmehr einen Akt der Befreiung aus der Knechtschaft darstellt, zeigt die Wirksamkeit des Absoluten im Anderen seiner selbst. Sie beweist, was aus dem Absoluten nicht deduzierbar ist, daß ein Singuläres als ein Anderes des Absoluten aus dem Absoluten ist. Von daher ist Spinozas Theorie des Absoluten zugleich eine Theorie des Kontingenten, das, nicht notwendige Folge des Absoluten, sein Sein gleichwohl aus dem Absoluten hat. Erst diese Theorie kann dartun, was für das Absolute in Anspruch genommen wird, daß es als causa sui zugleich causa rerum ist (vgl. Eth. I, prop. 25, schol.), daß es aus sich heraus eine Kausalität hat, die eine reale Mannigfaltigkeit von in sich Verschiedenem bewirkt. Die Vielfalt ist nicht Folge des Absoluten, die sich aus einem Selbstbezug des Absoluten ergeben könnte. Zwar ist das Absolute durch die Attribute strukturiert, also ein komplexes Wesen, doch ist es, für sich betrachtet, inhaltsleer, weil ohne die Fülle endlicher modi. Diese Leere, nach Cramer eine strukturelle Unterbestimmung des AbDas Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten  |  127

soluten, ist verknüpft mit der fundamentalen Eigentümlichkeit der immanenten Kausalität, immer schon bei den Dingen (modi) zu sein, Inhalte also durch die modi zu haben. Weil Inhalte nicht aus dem Absoluten herausgesetzt werden, sondern das Absolute Inhalte hat, weil von ihm verschiedenes Singuläres ohne es kein Sein haben könnte, das es aus der Kausalität des Absoluten hat, ist das Absolute, das wesentlich Kausalität ist, nur, wenn es schon im Singulären ist. Daß die Substanz nur in ihrer Entäußerung im Endlichen ist, »ein außerordentlich spekulativer Gedanke«17, bedeutet aber nicht eine ursprüngliche Korrelation von Absolutem und Vielem. Denn die Substanz erlangt ihre inhaltliche Fülle gerade im Hervorbringen des Anderen ihrer selbst, weil Spinoza das Absolute so bestimmt, daß das Wie des Hervorgehens nicht anzugeben ist, und der philosophischen Theorie die Aufgabe verbleibt, an einem faktisch Existierenden dessen Hervorgebrachtsein darzutun. Hierbei ist nicht eine Vielheit aus dem Einen herzuleiten, sondern an einem modus, der des Denkens fähig ist, zu zeigen, wie er unter Bedingungen seines in der Zeit geschehenden Denkens zu dem Absoluten gelangen kann, worin er, sofern das Hingelangen seinen Grund in der Wirksamkeit des Absoluten hat, die Wirksamkeit an einem konkret Existierenden erweist. Der Beweis ist die Befreiung des Individuums aus kontingenten, der eigenen Essenz äußerlich bleibenden Zusammenhängen, in der das Individuum das eigene Selbst gewinnt. Das könnte ihm nicht gelingen, wenn das Absolute, das es als seinen konkreten Grund weiß, nicht auch Grund von allem anderen wäre. Daß es der konkrete Grund von allem anderen ist, kann es freilich nie wissen. Da nun das Viele nicht aus einer Selbstbeziehung des Absoluten ist, ist es ein unbestimmtes; es ist ein mögliches Vieles. Alles Seiende hat nur ein Sein, sofern das Absolute in ihm ist. Daß dieses Seiende vom Charakter eines Individuellen ist, ist nicht aus dem Absoluten beweisbar. Es ist nur beweisbar, sofern das Absolute auch etwas für das Individuelle ist unter Bedingungen, die nicht aus dem Absoluten folgen. Gehört dieser Beweis zur Philosophie des Absoluten, dann ist sie auch eine Philosophie des Kontingenten. Nun läßt sich Spinozas »Ethica« in dieser Weise lesen. 17 

Ebd., 34.

128  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Wolfgang Cramers aus systematischen Überlegungen erwachsener radikaler Aufweis solcher Momente in Spinozas Philosophie des Absoluten, die einer auf das Sein von Selbständigem rekurrierenden Ethik zuwiderlaufen, kann auch zum Anlaß genommen werden, die »Ethica« unter einer Perspektive zu interpretieren, in der sie den von Cramer aufgezeigten Konsequenzen eines als All­ einheitsphilosophie gedeuteten Spinozismus entgeht. Insofern ist Cramers Spinoza-Buch nicht nur Vorbereitung auf Cramers nicht zur Ausführung gelangte eigene Philosophie einer absoluten Reflexion; es kann auch, unbeschadet der Frage, ob es Spinozas Intention gerecht wird18 , die Spinoza-Forschung in Gang halten.

18 

Vgl. K. Hecker, Spinozas allgemeine Ontologie, Darmstadt 1978, 15. Das Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten  |  129

Subjekt und Metaphysik in Spinozas Ontologie »Metaphysik entfaltet sich nicht ›analytisch‹«, schreibt Konrad Cramer. Es ist der Schlußsatz eines Aufsatzes zu Spinoza mit dem Titel »Kritische Betrachtungen über einige Formen der Spinozainterpretation«,1 wobei das Kritische in Wahrheit der Nachweis der Falschheit bestimmter Spinozainterpretationen ist, all jener nämlich, die behaupten (Hegel ist ein prominenter Vertreter), daß Spinozas Beweise in der Ethica, insbesondere die der Lehrsätze des 1. Teils, bloße Explikationen dessen seien, was eingangs definitorisch festgelegt worden ist, daß es sich hier also um gar keine wirklichen Beweise handle. Es ist das Verdienst Cramers,2 demgegenüber deutlich gemacht zu haben, daß die Definitionen Spinozas den Charakter eines bloßen Kriteriums haben und die Bedingungen formulieren, die erfüllt sein müssen, damit sich von einem Seienden sagen läßt, es sei vom Status des Definierten, sie selbst aber nicht schon enthalten, daß es ein Seiendes gibt, das diese Bedingungen auch erfüllt. An einem prominenten Theorem Spinozas erläutert, nämlich dem, daß es nur eine Substanz gibt, bedeutet dies, daß die behauptete Einzigkeit nicht analytische Folge der Definition von ›Substanz‹ ist. Nicht Folge der Substanzkriterien des In-sich-Seins und des Durch-sich-begriffen-Werdens, müsse die Einzigkeit vielmehr eigens bewiesen werden in einer Entfaltung von Beweisschritten, deren überprüfende Rekonstruktion uns erst den wahren Gehalt des Spinozismus erschließe, der eben nicht so simpel ist, wie ­Hegel es sich vorgestellt hat. Es sei hervorgehoben, daß sich dieses promi­nente Theorem, über das man das, was unter Spinozismus zu verstehen ist, geradezu definiert hat, gar nicht an einem heraus1  K.

Cramer, Kritische Betrachtungen über einige Formen der Spinoza­ interpretation, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 31 (1977), 527–544, hier: 544. 2  Dies scheint mittlerweile wohl Konsens der Spinoza-Forschung zu sein. Vgl. R. Schnepf, Metaphysik im ersten Teil der Ethik Spinozas, Würzburg 1996, 105. 130  |   

gehobenen Ort findet, sondern eher versteckt, in dem 1. Folgesatz zu Lehrsatz 14. Nicht eigens bewiesen (»hinc clarissime sequitur«, heißt es lapidar), ist es die Konsequenz eines komplizierten Beweisganges, in dem die Möglichkeit einer Vielheit von Substanzen, die zunächst zugestanden wird, über den Begriff der unbedingten Unendlichkeit Gottes eigens ausgeschlossen werden muß. Und darin ist das Prädikat der Einzigkeit in der Tat etwas, das nicht analytisch aus der Definition von Substanz folgt. Nun, wenn sich die Metaphysik Spinozas nicht »analytisch« in dem oben beschriebenen Sinn entfaltet, wie entfaltet sie sich dann? Was ist unter einem »synthetischen« Sichentfalten zu verstehen? Was ist es überhaupt, was diese Metaphysik zu beweisen beansprucht und auf das hin das in ihr praktizierte Beweisverfahren synthetisch fortschreiten müsse – synthetisch in dem Sinne, daß es zu beweisfähigen Aussagen gelangt, deren Gehalt nicht schon in der Definition des Prinzips dieser Metaphysik enthalten ist? Cramer hat seine richtige Einsicht in den Status des spinozanischen Beweisverfahrens an Sachverhalten erläutert, die lediglich Eigenschaften (propria) Gottes demonstrieren, nicht jedoch das zum Ausdruck bringen, was Gott seiner Essenz nach ist. Kernstück der Metaphysik Spinozas ist aber eine Theorie der Essenz Gottes, die durch einen Weltbezug, in Spinozas Terminologie: durch einen Bezug auf Modi, ausgezeichnet ist. Ich möchte im folgenden zeigen, weshalb dieser Bezug nicht nur nicht aus einer vorgängigen Definition Gottes gewonnen werden kann, sondern auch nicht aus der Struktur Gottes allein, wie sie in einer Abfolge von Beweisschritten im 1. Teil der Ethica exponiert wird. Ich glaube, daß Konrad Cramer bei aller berechtigten Kritik an landläufigen Spinozainterpretationen einen Mangel solcher Interpretationen teilt, wenigstens implizit, daß nämlich die Ethica mit ihrem ersten Teil (»De Deo«) gleichsam fertig ist (so haben ja die Philosophen des deutschen Idealismus interpretiert, ob Fichte, Hegel oder Schelling) oder daß zumindest dieser Teil grundlegend in dem Sinne ist, daß die weiteren Teile, die von dem endlichen Modus »menschlicher Geist« (mens humana) handeln, ihn unter den Aspekten von Erkennen (Teil II) und Handeln (Teil III–V) thematisierend, Applikationen des in Bezug auf die göttliche Substanz Entwickelten auf einen konkreten Fall seien. Ermuntert durch die Subjekt und Metaphysik in Spinozas Ontologie  |  131

Vorrede des 2. Teils, in der Spinoza in aller Knappheit schreibt, daß er nunmehr dazu übergehe, darzulegen, was aus der Essenz Gottes folgen muß, er sich dabei aber selbstverständlich beschränken müsse, da ja aus ihr unendlich vieles (infinita) in unendlich vielen Weisen (infinitis modis) folge, und deshalb nur von dem menschlichen Geist handeln werde, haben sie Spinozas Philosophie als ein deduktives System interpretiert, das von oben herab, in ihren Augen aus einer dürren und leblosen Axiomatik, sich anheischig macht, Erklärungen der Welt und der Stellung des Menschen in ihr liefern zu können. Schelling, in dieser Sicht nur konsequent, aber eindeutig im Widerspruch zum Geist des Spinozismus, nämlich gegen das in ihm entwickelte Lehrstück individueller Selbsterhaltung (Eth. III, prop. 6–8), hat dann – in den Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus – Spinozas System so interpretiert, daß es am Ende auf eine Selbstvernichtung des Menschen hinauslaufen müsse (10. Brief). In bezug auf den Menschen diene es nur dazu, ihm zu verdeutlichen, daß er sich in ein Einssein mit Gott zu versenken habe, in dem er ja gemäß der eingeführten Axiomatik immer schon ist. Alle Erwägungen zu dessen eigener Endlichkeit sind dann aus einer Perspektive geschrieben, die dem System fremd ist und im Hinblick auf die das System allein die Funktion habe, dem Menschen klar zu machen, daß Erwägungen dieser Art nichtig und eitler Wahn sind. Ich möchte demgegenüber zeigen, die Interpretation Konrad Cramers aufgreifend, aber erheblich erweiternd, daß in Spinozas Ethica nicht nur Definitionen und Lehrsätze in einer nicht-analytischen Relation zueinander stehen, sondern daß dies auch für das Verhältnis des grundlegenden, eine Metaphysik der Substanz enthaltenden ersten Teils zu dem Gefüge der vier weiteren Teile, die vom menschlichen Subjekt handeln, gilt. Erst die angemessene Erörterung dieses Verhältnisses vermag, so behaupte ich, einen sachgerechten Aufschluß über den Status des 1. Teils und der dort entwickelten Metaphysik zu geben.3 Die 1. Definition des 1. Teils der Ethica ist die der causa sui; und diese prominente Stelle hat viele Spinoza-Interpreten, auch Konrad 3  Im

einzelnen von mir dargelegt in: Spinozas Theorie des Menschen, Hamburg 1992. 132  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Cramer, verführt, ihr im System des Spinoza eine besondere Bedeutung zuzusprechen. Ein Blick auf die Ethica im Ganzen zeigt, daß dem nicht so ist. Spinoza macht von diesem Begriff, obwohl er eine wesentliche Eigenschaft Gottes benennt, die keinem Modus, wie beschaffen er auch sein mag, zugesprochen werden kann, im Verlauf seiner Darlegungen wenig Gebrauch, weil ihm eine nur geringe Erklärungskraft zukommt. Was erklärt werden soll und worum es in der Ethica in erster Linie geht, ist die Welt der Modi; und im Hinblick darauf erklärt der Begriff der causa sui wenig. Prinzip dieser Welt ist Gott, und wenn ›causa sui‹ uns wenig Aufklärung gibt über die Struktur der Welt, dann gibt sie uns auch wenig Aufklärung über die Struktur des Prinzips dieser Welt, allemal im Spinozismus, demzufolge das Prinzip der Welt nicht ein welttranszendentes Prinzip ist. Anders formuliert: ›Causa sui‹ ist für Spinoza keine attributive Bestimmung, die die Essenz Gottes ausdrückte; sie ist eine bloße, wenn auch wesentliche Eigenschaft Gottes, ein proprium. Darin steht die Bestimmung, causa sui zu sein, auf einer Ebene mit anderen Proprietäten Gottes, die Spinoza bis hin zu Lehrsatz 15 des 1. Teils entwickelt, mit Unendlichkeit (Lehrsatz 12), mit Unteilbarkeit (Lehrsatz 13), mit Einzigkeit (Lehrsatz 14), selbst auch noch mit der auf die Welt referierenden Bestimmung eines In-Seins der Dinge in Gott (Lehrsatz 15).4 Erklären läßt sich die Welt aber nicht aus Eigenschaften Gottes, sondern allein aus dessen Essenz. Und sie ist, wie Lehrsatz 34 des 1. Teils in aller Klarheit deutlich macht, nichts als Macht (potentia), verstanden als eine in den Dingen sich erfüllende Kausalität, mit deren Erörterung nach Darlegung der Eigenschaften Gottes Lehrsatz 16 beginnt. Gott ist essentiell eine causa efficiens, die sich in ihren Produkten, den Modi, erfüllt, denen gegenüber Gottes Essenz keinen Rest an Potentialität für sich zurückbehält. Diesen als Produktivität zu verstehenden Begriff von Macht gewinnt Spinoza nicht aus dem Begriff von causa sui; umgekehrt macht er aus ihm erst verständlich, daß der Instanz, der eine solche Macht zugesprochen wird, das Merkmal, causa sui zu sein, zukommen muß. Darin ist gelegen, daß Gott nur insofern causa sui ist, als er zugleich causa rerum ist; und daraus folgert Spinoza des weiteren, daß Gott nicht 4 

Vgl. hierzu M. Gueroult: Spinoza I (Dieu), Paris 1968, 205–228. Subjekt und Metaphysik in Spinozas Ontologie  |  133

nur in unbedingter Weise erste Ursache ist, weil er als causa sui selbst nicht verursacht ist, sondern daß er auch, bei Negation des bloß Möglichen in einem schöpferischen Verstand, Ursache all dessen ist, was überhaupt existiert, also Ursache aller Dinge. Kurz gesagt: »eo sensu, quo Deus dicitur causa sui, etiam omnium rerum causa dicendus est« (I, prop. 25, schol.). Ist Gott Ursache seiner selbst allein kraft seiner Essenz, dann ist sie es auch, die ausschließt, daß er durch etwas anderes verursacht werden könnte, weder durch Modi noch durch Substanzen. Modi werden durchgängig als Wirkung der als Ursache konzipierten Essenz Gottes bestimmt, so daß sie nicht ihrerseits Gott verursachen können. Andere Substanzen als Gott, also Entitäten, die dem Kriterium des In-sich-Seins und Durch-sich-begriffen-Werdens genügen, werden unter der Bezeichnung »Attribut« als die Weisen verstanden, in denen die so konzipierte Essenz produktiv ist. Das ist es, was Spinoza in der Vorrede zum 2. Teil der Ethica als Gehalt des 1. Teils rekapituliert: Aus der Essenz Gottes muß unendlich vieles (infinita) folgen – also all das, was überhaupt ist, alle Modi – und dies in unendlich vielen Weisen (infinitis modis) – also unter allen Attributen, die überhaupt denkbar sind. Warum aber vieles, viele Modi, die produziert werden, und viele Weisen, in denen produziert wird, ein Viel im Unterschied zu dem Einen, das produziert? Meine These ist, daß dieser in Teil I der Ethica beanspruchte Sachverhalt sich aus der Struktur Gottes, wie sie in diesem Teil exponiert wird, nicht ergibt, sondern eines Nachweises bedarf, der im Rückgriff auf den dort entwickelten Begriff Gottes allein nicht gegeben werden kann. Auffallend ist, daß der 1. Teil der Ethica in der Exposition der Basisbestimmungen von Substanz, aus denen der Begriff Gottes konstruiert wird, ganz formal bleibt und insofern eine Metaphysik entwickelt, die man Strukturmetaphysik nennen könnte.5 Dieser Teil gibt keine inhaltlichen Bestimmungen von Attribut oder Modus, sondern spricht von Attributen überhaupt und von Modi überhaupt, die er lediglich in der zweifachen Form von unendlichen und endlichen Modi unterscheidet. Das ist nur konsequent, weil der in Teil I der Ethica 5  Vgl.

Heinrich Rombach, Substanz, System, Struktur, 2 Bde., Freiburg/ München 1966, hier: Bd. 2, 9–97. 134  |  I. Ontologie und Subjektivität 

entwickelte Begriff Gottes solche Inhalte gar nicht hergeben kann. Er nimmt in Bezug auf Attribute und Modi eine Vielheits-These in Anspruch, die er selbst nicht begründen kann. Wie Spinoza sie begründet, möchte ich jetzt an beiden Basisbestimmungen, an Attribut und an Modus, aufzeigen. Zunächst zu den Attributen. Es ist leicht zu sehen, daß aus dem bloßen Begriff Gottes, wie er in Teil I der Ethica exponiert wird, die These einer in Gott integrierten Vielheit der Attribute nicht folgt. Lehrsatz 9, der hierfür auf einen nicht weiter ausgewiesenen Begriff von Realität zurückgreift und unklar sein läßt, was ein steigerungsfähiges »Mehr an Realität« wohl bedeuten könnte, enthält sicherlich keinen diesbezüglichen Beweis. Deutlich wird die VielheitsThese, insbesondere die Strategie, die Spinoza mit ihr verfolgt, erst aus dem 2. Teil der Ethica, der zwei Attribute inhaltlich bestimmt, nämlich als Denken (Cogitatio) und als Ausdehnung (Extensio); und das macht Spinoza dort im Rückgriff auf Axiome, die eine Tatsächlichkeit artikulieren, daß nämlich der Mensch denkt und wir einen Körper empfinden (Axiom 2 und 4). Hierbei geht Spinoza davon aus, daß Denken und Körperlichkeit essentiell verschieden sind – das übernimmt er von Descartes, aber auch vom Phänomen her spricht einiges für eine solche Auffassung –, und schließt daraus auf eine Zweiheit differenter Attribute in der inhaltlichen Bestimmtheit, Denken und Ausdehnung zu sein. Nicht etwa sind Geist und Körper essentiell verschieden und damit nicht aufeinander zurückführbar, weil die Essenz Gottes unter anderem aus den Attributen Denken und Ausdehnung besteht. Sondern weil Geist und Körper essentiell verschieden sind, muß dasjenige Prinzip, aus dem die spezifische Verfaßtheit von Geist und Körper angemessen erklärt werden soll, selbst intern gegliedert sein, d. h. attributiv komplex sein. Wäre die Wirklichkeit, in der wir uns vorfinden, von einheitlicher Struktur, reichte es völlig aus, Gottes Essenz über ein einziges Attribut zu beschreiben, das jene Wirklichkeit verständlich machen könnte. Weil nach Spinozas Ansicht dem nicht so ist, mag das nun richtig oder falsch sein, bedarf es der attributiven Gliederung Gottes, womit Spinoza die besondere Pointe verbindet, daß Gott nicht eine den Attributen vorgelagerte Einheit ist, sondern eine Einheit in ihnen. Und dies ist er kraft einer einheitlichen Kausalität, die im Feld des Verursachten jene Isomorphie essentiell Subjekt und Metaphysik in Spinozas Ontologie  |  135

verschiedener Entitäten zur Folge hat, über die Spinoza glaubte, das Verhältnis von Geist und Körper besser bestimmen zu können, als es im Cartesianismus möglich war. Daß es über diese beiden Attribute hinaus noch unendlich viele weitere gibt, ist ein Zugeständnis, das den Verdacht ausräumen soll, hier läge eine anthropomorphe Vorstellung Gottes vor, die das Wesen Gottes von unserer Verfaßtheit her, daß wir denken und einen Körper empfinden, bestimmt. Die in Teil I entwickelte Theorie Gottes kann natürlich nicht zulassen, daß sich Gottes Essenz auf diese beiden Attribute beschränkte; und möglicherweise sind auch wir über Geist und Körper hinaus noch durch andere Elemente bestimmt, von denen wir nichts wissen und die, um verursacht sein zu können, weiterer Attribute Gottes bedürfen. Wie dem auch sei, für uns ist das bedeutungslos und deshalb nicht weiter erörternswert. Denn es ist bedeutungslos für unser Wissen, das durch die Annahme unendlich vieler Attribute in keiner Weise eingeschränkt wird. Weil Gott, dessen Erkenntnis uns sicheres Wissen verbürgt, sich nicht stückweise aus den vielen Attributen zusammensetzt, sondern seiner als Kausalität bestimmten Essenz nach in jedem einzelnen Attribut ungeteilt präsent ist, kann er auch aus einem einzigen vollständig begriffen werden. Konrad Cramer hat offen gelassen, ob denn Spinozas Beweise zu Beginn der Ethica überhaupt ausreichen, eine Vielheit von Substanzen verschiedener Attribute und damit eine Vielheit von causae sui auszuschließen. Mag man da skeptisch sein, ich habe zeigen wollen, daß dies einschlösse, daß es auch eine Vielheit von causae omnium rerum gäbe – und das ist für Spinoza ein unplausibler Gedanke. Es gäbe dann viele wirkliche Welten, die unbezüglich aufeinander wären, weil sie nichts miteinander gemein hätten. Die körperliche Welt wäre von der geistigen Welt nicht nur essentiell verschieden, wie Spinoza behauptet; sie wären auch schlechthin beziehungslos, so daß das menschliche Subjekt, das nun einmal aus einem Geist und einem Körper besteht (Eth. II, prop. 13, coroll.), weil es sowohl denkt wie empfindet – empirischer Tatbestand (Eth. II, ax. 2 und 4) – selbst keine Einheit sein könnte und das heißt, kraft seines Denkens sich nicht in einer Weise orientieren könnte, in der es sich im Ganzen seines Seins begriffe. Eine Pluralität von Substanzen stünde der Rationalität menschlicher 136  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Weltorientierung in einer komplexen, zumindest zweigliedrigen Welt entgegen. Gegen eine solche Pluralität ist Spinozas Konzept gerichtet, das darauf hinausläuft, die Attribute als Weisen einer ursprünglichen Produktivität zu verstehen, die einerseits, der Essenz nach in eine in sich differente Vielheit gegliedert, einen Kausalbezug zwischen den Attributen und damit zwischen den Modi dieser Attribute ausschließt und die andererseits, der Kausalität nach ungeschiedene Einheit, zugleich garantiert, daß ein jedes Ding der Welt als Modus unterschiedlicher Attribute eine Einheit ist. Ein solches Konzept bedarf des Rückgriffs auf eine erste unbedingte Ursache, die einzig ist. Das ist ein Beweis der Einzigkeit der Substanz aus deren Funktionalität, aus dem, wofür sie Substanz ist und im Hinblick auf das ihr eine Erklärungskraft zugesprochen wird. Erklärt sie am Phänomenbestand zu wenig, müßte das Theorem der Einzigkeit wohl aufgegeben werden; für die Entscheidung darüber, ob sie viel oder wenig erklärt, kann dieses Theorem aber nicht schon in Anspruch genommen werden. Ohne Rücksicht auf die zu erklärenden Phänomene, also in Teil I der Ethica allein, d. h. mit einer Theorie Gottes, die solche Phänomene nicht im Blick hat, kann es deshalb auch nicht bewiesen werden. Diese Funktionalität des spinozanischen Gottesbegriffes möchte ich jetzt auch an dem zweiten Punkt aufzeigen, nicht, wie bisher, an der Essenz und damit den Attributen Gottes, sondern an den Wirkungen dieser Essenz, also an den Modi. Auch hier ist, glaube ich, leicht zu zeigen, daß die These einer Vielheit endlicher Modi, die Spinoza in Anspruch nimmt, insofern Gott als Ursache aller Dinge auch Ursache endlicher Dinge ist (Eth. I, prop. 28), aus dem Begriff Gottes allein nicht hergeleitet werden kann, wobei ich zugleich meine, daß eine solche Vielheit aus der Einzigkeit Gottes herzuleiten Spinoza überhaupt nicht beansprucht. Eine Herleitung dieser Art von Spinoza zu verlangen, 6 brächte seine Philosophie unter einen ihr unangemessenen Gesichtspunkt.

6 

Wolfgang Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, Frankfurt a. M. 1966. Vgl. meine Kritik in: Das Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten [in diesem Band, S. 104 – 129]. Subjekt und Metaphysik in Spinozas Ontologie  |  137

Was Spinoza in Teil I der Ethica aus der als Kausalität bestimmten unendlichen und ewigen Essenz Gottes als Folge dieser Kausalität deduziert, sind allein unendliche und ewige Modi, mit deren Erörterung, in Lehrsatz 21, die Theorie der Wirkungen dieser Kausalität beginnt. In zweifacher Form als unmittelbare und vermittelte auftretend, werden diese Modi im Deduktionsgang von Teil I der Ethica inhaltlich nicht näher bestimmt, so daß sie in ihrer Bedeutsamkeit auch arg dunkel bleiben. Die unendlichen unmittelbaren Modi können als Totalität dessen, was aus einem göttlichem Attribut folgt, verstanden werden, aber auch als allgemeine Strukturen eines attributiv bestimmten Feldes, die allen Ereignissen des jeweiligen Feldes zugrundeliegen und von denen wir allgemeine von der Erfahrung unabhängige Begriffe, die notiones communes, bilden können, die die Grundlage unserer rationalen Erkenntnis sind (Lehrsatz 21). Anderenorts (Brief 64) hat Spinoza den unendlichen unmittelbaren Modus im Attribut Denken als unendlichen Verstand, im Attribut Ausdehnung als Bewegung und Ruhe bezeichnet, wobei der cogitative Modus eher den Totalitätsaspekt (der menschliche Verstand ist Teil des unendlichen Verstandes; Eth. II, prop. 11, coroll.), der extensionale eher den Strukturaspekt (einzelne Körper sind durch eine bestimmte Weise von Bewegung und Ruhe ausgezeichnet; Eth. II, Lemma 1 nach prop. 13) beschreibt. Diese aus der Natur Gottes unmittelbar folgenden und insofern unmittelbaren unendlichen Modi, von denen es gemäß der unendlich vielen Attribute unendlich viele gibt, modifizieren sich angesichts der tatsächlichen Ereignisse und der mit ihnen verbundenen Veränderungen zu einem vermittelten unendlichen Modus (Lehrsatz 22). Ihn hat Spinoza in jener Briefstelle als »facies totius universi« bestimmt, als die bei allen internen Veränderungen gleichbleibende Gestalt des ganzen Universums; dieser Modus ist von so formaler Struktur, daß er trotz unterschiedlicher Attribute nur einer ist, egal ob unter dem Attribut Denken oder dem Attribut Ausdehnung, sieht er doch von dem, was sich im Feld der Modi in der Verknüpfung von Ideen oder Körpern an Spezifischem ereignet, gänzlich ab. Weitere Modifikationen der unendlichen Modi kann es nicht geben; ihr Gefüge ist mit diesen beiden abgeschlossen (Lehrsatz 23). 138  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Das bedeutet im Hinblick auf endliche Modi: 1. Es gibt kein Kausalverhältnis zwischen unendlichen und endlichen Modi; unendliche Modi verursachen nicht endliche Modi. Das hat die bedeutsame Konsequenz, daß, da ein Ding aus seinem Verursachtsein zu begreifen ist (Grundtheorem Spinozas), endliche Modi in dem, was sie sind, nicht von den unendlichen Modi her begriffen werden können. Betrachtet man diesen Sachverhalt aus der Perspektive eines endlichen Modus, dann hat das die Konsequenz, daß ein solcher Modus sich nicht von dem Weltganzen, dessen begrenzter Teil er ist, her begreifen muß. Die Ereigniskette des Weltganzen im einzelnen könnte er gemäß seiner eigenen Endlichkeit nie adäquat begreifen; und die Struktur des Weltganzen, die sich adäquat begreifen läßt, erklärt nichts Einzelnes, also nicht singuläre Modi, die nicht von ihr hervorgebracht werden. 2. Weil aus der Natur Gottes unmittelbar nur unendliche Modi folgen, diese aber nicht endliche Dinge hervorbringen, können aus der Natur Gottes endliche Modi überhaupt nicht in einer Weise folgen, die unmittelbar wäre, d. h. die sich aus der bloßen Natur Gottes als eines ewigen und unendlichen Seienden ergäbe. Sie können nur in einer vermittelten Weise folgen, die selbst nicht aus der Unmittelbarkeit Gottes folgt, die vielmehr unter der Bedingung steht, daß die Natur Gottes schon funktional auf endliche Dinge hin als deren Erklärungsprinzip betrachtet wird. Nun unterliegt es keinem Zweifel, daß eine solche Betrachtungsweise voraussetzt, daß es endliche Dinge gibt. Genau diese Voraussetzung macht Spinoza aber. Er geht von der Wirklichkeit individueller endlicher Dinge aus – so selbstverständlich, daß er dies nicht einmal als Axiom formuliert, obschon es eine fundamentale Voraussetzung seines Systems ist,7 die dann im 3. Teil der Ethica mit der Theorie des individuellen conatus eingeholt und entwickelt wird. Deutlich zeigt sich dies in der Abfolge der Lehrsätze des 1. Teils. Nach Abschluß der Theorie unendlicher Modi in Lehrsatz 23 wird in Lehrsatz 24 nicht etwa auf endliche Modi geschlossen. Dort ist vielmehr, und das ist ein Neueinsatz im Argumenta­tions­ gang, nicht von Modi die Rede, sondern von Dingen (res). Von ihnen zeigt Spinoza, daß sie nicht anders sein und begriffen werden 7 

Vgl. A. Matheron: Individu et communauté chez Spinoza, Paris 1969, 9. Subjekt und Metaphysik in Spinozas Ontologie  |  139

können als so, daß sie als Modi und damit von Gott her begriffen werden. Das ist keine Deduktion endlicher Modi aus der Unendlichkeit Gottes, sondern der Anfang eines Nachweises, daß eine angemessene Theorie dessen, was Dinge sind und wie sie begriffen werden können, des Rückgriffs auf ein erstes und ursprüngliches Prinzip bedarf. Daß diese Theorie eine wirkliche Erklärungskraft hat und insofern sachangemessen ist, das zeigt Spinoza in einer Fülle von Schritten, die den Fortgang der Ethica ausmachen. Und erst am Ende einer langen Abfolge von Beweisen meint Spinoza den Nachweis erbracht zu haben. Was er in diesen Schritten tut, ist die Verfassung eines endlichen Modus bis hin zu konkreten Einzelheiten detailliert zu erörtern, weil nur von ihr her, von unten also, und nicht von oben, von Gott her, gezeigt werden kann, daß ein endliches Ding vom Charakter eines Modus ist, und das heißt: tatsächlich von der Unendlichkeit Gottes verursacht worden ist. Nun ist klar, daß für einen solchen Nachweis nicht irgendein Modus in Frage kommt, sondern nur ein ausgezeichneter, nämlich ein solcher, der sich von sich aus in Beziehung zu dem obersten Prinzip bringen kann; und dieses Sich-in-Beziehung-Bringen geschieht über Wissen. Der ausgezeichnete Modus ist die mens humana, ein Modus, der nicht nur Wissen von etwas hat, sondern der auch sich selbst zu wissen vermag, nämlich als Modus und damit von Gott her; es ist ein Modus, von dem sich sagen läßt, daß er ein durch Selbstbewußtsein ausgezeichnetes Subjekt ist. Es ist abwegig, behaupten zu wollen, der Spinozismus depotenziere das mensch­ liche Subjekt und mache es, gegen lieb gewordene Vorstellungen, zu einem Modus unter anderen, denen gegenüber er keinen Vorrang habe. 8 Gewiß, von Gott her, der sich nicht um eines Zweckes willen betätigt und schon gar nicht um menschlicher Zwecke willen, sind alle Dinge gleich. Auch Körper sind Modi, in denen sich die göttliche Kausalität nicht anders als in Geistern artikuliert; nur haben Körper nichts davon, weil sie nicht denken und somit das, was ist, nicht auch für sie sein kann. Ein Körper kann sich nicht von seiner ersten Ursache her verstehen. Jeder Körper ist nicht nur von anderen endlichen Körpern 8  Vgl.

des näheren meinen Aufsatz: Selbstsein und Absolutes [in diesem Band, S. 53 – 103]. 140  |  I. Ontologie und Subjektivität 

bestimmt, wie auch jeder endliche Geist von anderen endlichen Geistern; er bleibt auch von ihnen in einer Weise bestimmt, daß er nichts als Glied eines unendlichen Wirkungszusammenhanges ist, in dem er, blind und von außen bestimmt, hin und her gestoßen wird. Diesem Sachverhalt erliegt auch der menschliche Geist, mustergültig beschrieben von Spinoza in der Entfaltung der Grund­ lagen des imaginativen Erkennens und des affektiven Lebens. Doch ist das etwas, aus dem sich der menschliche Geist befreien kann, weil er sich in anderer Weise selbst verstehen kann, nämlich von dem ersten Prinzip her. Der Geist kann sich von seiner ersten Ursache her verstehen und das, was in allem wirksam ist, so wissen, daß er sich von ihm her auch selbst bestimmt. Wogegen sich Spinoza vehement wendet, ist nicht die ausgezeichnete Bedeutung eines menschlichen Könnens, das in einem Sichselbstverstehen gründet, sondern das falsche Verständnis seiner Grundlage, insbesondere das Verständnis, daß eine Analyse des menschlichen Geistes ihn als selbstmächtig erweisen könnte, als ein Subjekt, das aus eigener Kraft und unbestimmt durch ein Prinzip, das nicht er selbst ist, zu adäquaten Einsichten in sich selbst und in die Welt, zu der er gehört und in der er sich zu orientieren hat, gelangen könnte. Hierfür, das ist die These Spinozas, muß das Subjekt immer schon bestimmt sein durch ein Prinzip, das nicht Subjekt ist und von dem alle Bestimmungen von Subjektivität fernzuhalten sind. Auf es ist deshalb im Gang der Untersuchung auch nicht hinzuführen, als ob es darum ginge, eine Instanz ausfindig zu machen, die menschliche Begrenztheit zu kompensieren hätte; von ihm ist vielmehr, unbezüglich auf alle menschlichen Belange, auszugehen. Aber es ist nicht richtig, diesen Ausgang als den Anfang eines deduktiven Programms zu verstehen, das von einem ersten Prinzip her auf endliche Modi und damit das menschliche Subjekt hinführt: Eher ist das den Untersuchungsgang der Ethica bestimmende methodische Programm als Folge der Einsicht Spinozas zu verstehen, daß das menschliche Erkennen und das an dieses Erkennen gebundene gelingende Leben ontologische Grundlagen hat, die, unabhängig von allem Erkennen, diesem schon zugrunde liegen. Dieser Basis-Ontologie sind zwei Elemente wesentlich, die für den Gang der Untersuchung allerdings von unterschiedlichem Gewicht sind. Das eine Element ist die Attributenlehre, über die Subjekt und Metaphysik in Spinozas Ontologie  |  141

die Theorie des Erkennens von der in Spinozas Augen unsinnigen Frage des Descartes entlastet wird, wie sich das Denken auf eine von ihm verschiedene körperliche Welt hinbeziehen könne, indem sie zeigt, daß das Denken darauf immer schon bezogen ist. Das hat die Konsequenz, daß jede Idee der Sache nach, also auf ontologischer Ebene, auch wahr ist, damit aber nicht schon auf epistemischer Ebene,9 d. h. für den erkennenden Menschen, dessen Körperlichkeit die ihm eigenen Ideen, unbeschadet ihrer Wahrheit, zu solchen macht, die inadäquat sind. Worauf es dann ankommt, ist zu zeigen, wie der Mensch trotz des Bezogenseins seines Denkens auf die Körperlichkeit und des damit verbundenen Tatbestandes inadäquaten Erkennens zu einem adäquaten Erkennen gelangen kann, von dem sich sagen läßt, daß es wahr ist. Die Lösung dieser Aufgabe kann allein darin bestehen, nachzuweisen, wie das, was an sich ist, zu etwas für den Geist gemacht werden kann. Das andere Element ist die Theorie der immanenten Kausalität Gottes, derzufolge Gottes Produktivität sich in ihren Produkten erfüllt, daß also Gott, sofern seine Essenz nichts als seine Kausalität ist, in den Dingen ist. Unter der Voraussetzung, daß es singuläre Dinge gibt, bedeutet dies, daß Gott auch in jedem einzelnen Ding ist. Dieses Element ist gewichtiger, weil es den Panentheismus, demzufolge alles, was ist, in Gott ist (Eth: I, prop. 15), zu einem Pantheismus erweitert, der nicht nur das Daß eines In-Seins von allem in Gott behauptet, sondern dieses In-Sein über die Weise, wie es in Gott ist, auch aus dem, was in Gott ist, zu rechtfertigen vermag. Ist das In-Sein nicht als bloße Inhärenz zu verstehen, sondern als Wirkung einer Kausalität, die als immanente Kausalität in ihren Wirkungen ist, dann ist die Möglichkeit eröffnet, auf deren Realisierung das Programm der Ethica hinausläuft, nämlich daß sich die unbedingte Ursache aus einem einzelnen Modus begreifen läßt und so von ihm her als Ursache von Einzelnem ausgewiesen wird. Der singuläre menschliche Geist vermag seine unbedingte Ursache allein unter der Bedingung adäquat zu begreifen, daß sie ihm nicht transzendent ist, welches In-Sein zugleich die Bedingung 9 

Detaillierten Aufschluß über diese Differenz gibt die Hamburger Dissertation von F. Amann, Ganzes und Teil. Wahrheit und Erkennen bei Spinoza, Würzburg 2000. 142  |  I. Ontologie und Subjektivität 

dafür ist, daß Gott aus dem, was er bewirkt, gewußt und damit von seiner Wirkung her erklärt werden kann. Ein solcher Pantheismus, der, so sieht es aus, nicht nur die Welt vergöttert, sondern auch alles Einzelne in ihr, impliziert natürlich keine Identität, nicht einmal eine Identität von Gott und Welt und schon gar nicht eine solche von Gott und Einzelnem in der Welt. Er enthält nur so viel, daß in jedem Einzelnen ein göttliches Moment ist, also etwas Essentielles, eine Essenz, die Spinoza bekanntlich als eine modifizierte potentia Dei bestimmt, der das Merkmal Gottes, Ursache von Wirkungen zu sein, wesentlich zukommt (Eth. I, prop. 36). Bei einem endlichen Ding, wie es der Mensch ist, ist diese Essenz eingelassen in ein konkretes Existieren, das nicht aus ihr folgt und das die Wirkungen, die der Mensch hervorzubringen vermag, nicht Folgen allein der eigenen Essenz sein läßt (Eth. IV, prop. 4). Darin ist der Mensch wie jedes endliche Ding abhängig von den empirischen Umständen der Welt, innerhalb derer ein Ding in zeitlicher Erstreckung existiert und gegen die es sich selbst zu erhalten strebt, welches Streben (conatus) das Sein eines end­ lichen Modus als eines konkreten Dinges ausmacht (Eth. III, prop. 7). Daß ein solches Ding in der Differenz zu Gott ein Modus ist und damit ein von Gott Hervorgebrachtes, läßt sich folglich von dem Ding selbst her nur dann erweisen, wenn gezeigt wird, wie es unter den konkreten Bedingungen seines Existierens sich als ein Modus begreifen kann. Dem dienen die Teile II–V der Ethica, die den menschlichen Geist zum Thema haben. Der an ihm zu erbringende Nachweis muß unter zwei Erfordernissen stehen: Die Ursache des menschlichen Geistes muß zum einen schon in ihm sein, so daß er sie nur in sich aufzudecken hat, die er zum anderen als Ursache eines Endlichen aber nur aufdecken kann, wenn er sie unter den Bedingungen der eigenen Endlichkeit aufzudecken vermag. Daß diese Überlegung Spinoza leitet, sei kurz aufgezeigt. Der 2.  Teil der Ethica, der eine Theorie des Erkennens entwickelt, handelt von dem konkret existierenden menschlichen Geist, dessen Ideen konkret existierende Dinge zum Gegenstand haben, des näheren den eigenen Körper und über ihn auch äußere Körper (Eth.  II, prop. 11 ff.). Aus diesem Tatbestand leitet Spinoza als erstes die defiziente Erkenntnisform der imaginatio als die dem Menschen von Natur aus zukommende Erkenntnisart ab (Eth. II, Subjekt und Metaphysik in Spinozas Ontologie  |  143

prop. 17–29). Nach den Darlegungen zur inadäquaten Erkenntnis und nach Erwägungen darüber, wie unter diesen Bedingungen adäquate Erkenntnis möglich ist (Eth. II, prop. 30–44), verweist er am Ende auf die scientia intuitiva als die höchste Erkenntnisart (Eth. II, prop. 45–47). In ihr ist das menschliche Erkennen, so wird Spinoza dann im 5. Teil ausführen (Eth. V, prop. 21 ff.), nicht, wie in der imaginatio, ein abbildendes Repräsentieren körperlicher Ereignisse, sondern hat Gott zum Gegenstand und zwar, im Unterschied zur rationalen Erkenntnisart, als Ursache eines Einzelnen, nämlich dessen, der in dieser Weise erkennt, so daß in ihr der Mensch Gottes und seiner selbst in eins gewiß ist (Eth. V, prop. 31, schol.). In Spinozas Augen ist das keine geheimnisvolle und exklusive Erkenntnisart, die irgendetwas mit einer Mystik zu tun hätte, in der sich Gott und Mensch vereinigten. Das wird daraus deutlich, daß er die Möglichkeit intuitiven Erkennens ausdrücklich an die im 2.  Teil entwickelte Erkenntnisart der imaginatio bindet, der alle Menschen in ihrer Zeitlichkeit und Körperlichkeit unterliegen. Ohne viel Aufwand sagt Spinoza in Lehrsatz 45 des 2. Teils: Jede Idee eines beliebigen wirklich existierenden Körpers oder Einzeldinges schließt notwendigerweise Gottes ewige und unendliche Essenz in sich ein (»involvit«), um daraus in Lehrsatz 47 zu schließen, daß der menschliche Geist eine adäquate Erkenntnis von Gottes ewiger und unendlicher Essenz hat (»habet«). Jede Idee, welche auch immer und gerade auch die inadäquate eines existierenden Körpers, schließt die Essenz Gottes in sich und zwar, wie der Beweis zu Lehrsatz 45 ausdrücklich macht, weil Gottes Essenz die Ursache dieser Idee ist und insofern in ihr präsent ist. Deshalb haben wir, sofern wir nur eine Idee haben, welche auch immer, ebendamit die Erkenntnis Gottes in dessen Essentialität und nicht nur auf der Basis irgendwelcher Vorstellungen, die wir uns von ihm machen. Mit jedem Erkennen, wie geartet es auch sein mag, ist sie schon mitgegeben, weil anders wir überhaupt nicht erkennen könnten; denn allein dies, daß wir uns im Erkennen auf von Ideen verschiedene Körper beziehen, hat die Essenz Gottes zur ontologischen Voraussetzung.10 Bei allem Erkennen ist immer schon ein Prinzip in 10 

Vgl. meinen Aufsatz: Unendlicher Verstand und menschliches Erkennen bei Spinoza [in diesem Band, S. 149 – 177]. 144  |  I. Ontologie und Subjektivität 

uns wirksam, das nicht selbst Erkennen ist, um das wir auch nicht wissen müssen, um überhaupt erkennen zu können, das aber zum Gegenstand unserer Erkenntnis gemacht werden kann. Gott, der allem Erkennen zugrunde liegt, zum Gegenstand der Erkenntnis zu machen, bedarf freilich eines besonderen Aktes, der es erst erlaubt zu sagen, daß wir seine Erkenntnis in einem strengen Sinne »haben«. Das notorisch vieldeutige lateinische ›habere‹ ist bei der ersten Einführung des Begriffs der scientia intuitiva in einem schwachen Sinne gebraucht, was auch die Anmerkung zu Lehrsatz 47 verdeutlicht, in der es heißt, daß aus den Erwägungen zur Ontologie ersichtlich sei, daß die unendliche Essenz Gottes allen bekannt ist (notus), daß diese Kenntnis aber noch nicht eigentlich Erkenntnis ist. In unserem Erkennen immer schon enthalten, ist die Essenz Gottes doch nicht schon etwas für uns in dem Sinne, daß wir um sie wüßten. Was Spinoza darlegt, ist allein dies, daß die Möglichkeit eines solchen Wissens nicht abwegig ist, sondern im Gegenteil höchst plausibel, weil sie die Folge des In-Seins Gottes in allen Dingen und damit auch in allen Ideen ist. Die Wirklichkeit der intuitiven Erkenntnis als etwas, das das menschliche Subjekt realisiert und von dem her es sich im Ganzen seiner Weltorientierung zu verstehen vermag, wird erst am Ende der Ethica dargetan. Und dazwischen liegt sehr viel, nämlich eine weit ausgebreitete Affektenlehre, in der Spinoza mehrere Formen menschlichen Sichverstehens entwickelt, die voneinander verschieden und zugleich aufeinander bezogen sind. Warum Spinoza von der Darlegung der ontologischen Basis der intuitiven Erkenntnis am Ende des 2. Teils nicht direkt zur Darstellung dessen, wie sich diese Erkenntnisform in der Perspektive des erkennenden Subjekts zeigt, übergeht, das liegt daran, daß die Gründe zu entwickeln sind, die den Menschen daran hindern, zum Bewußtsein dessen, was ihn immer schon bestimmt, zu gelangen und sich selbst von ihm her zu verstehen. Solche Hinderungsgründe haben nichts, wie Descartes noch wollte, mit subjektiver Disziplinlosigkeit und einem Mangel an Aufmerksamkeit zu tun; sie liegen in der Verfassung des welthaft existierenden Subjekts, das nur als ein solches zur intuitiven Erkenntnis befähigt sein kann und gegen die sich deshalb die Wirklichkeit dieser Erkenntnisart nicht darlegen läßt. Soll an einem endlichen Modus die Wirksamkeit Gottes aufgezeigt Subjekt und Metaphysik in Spinozas Ontologie  |  145

werden, muß diese Endlichkeit auch ernst genommen werden. Und Spinoza nimmt sie außerordentlich ernst. Er entwickelt dabei eine Fülle von Einsichten, welche Konsequenzen die Theorie der einen unbedingten Substanz für das Selbstverständnis eines endlichen Subjekts hat, das sich ohne ein ihm logisch vorangehendes unbedingtes Prinzip nicht adäquat begreifen kann, andererseits aber an die Momente, die das Subjekt in dessen Endlichkeit bestimmen, gebunden bleibt. Es ist unverständlich, wie die deutschen Idealisten, Hegel nicht anders als Fichte und Schelling, von einem leblosen und starren System des Spinoza haben sprechen können, in dem nichts entwickelt werde und letztlich einem Akosmismus das Wort geredet werde. Verständlich wird es vielleicht, wenn man annimmt, daß sie nur den 1. Teil der Ethica gelesen haben. Ohne auf die einzelnen Etappen der Affektenlehre und die Struktur der intuitiven Erkenntnis hier eingegangen zu sein, habe ich demgegenüber wenigstens ansatzweise aufzeigen wollen, daß Spinozas Theorie der mens humana in den weiteren Teilen der Ethica sich als Theorie eines endlichen Modus lesen läßt, der sich fortentwickelt und einen Weg durchläuft, auf dem er zu immer höheren Stufen von Rationalität gelangt. Eine solche Theorie läßt sich gewiß als Beitrag zu einer Theorie von Subjektivität lesen. Zugleich kann man sie aber auch als Beitrag zu einer Theorie des Absoluten lesen, das funktional verstanden wird und seine Bedeutsamkeit aus einem von ihm selbst verschiedenen Endlichen erlangt, das ebenhierfür Subjekt sein muß, das durch Bewußtsein und Selbstbewußtsein gekennzeichnet ist. In dem Aufsatz »Gedanken über Spinozas Lehre von der AllEinheit«11 hat sich Konrad Cramer vehement gegen eine mögliche pantheistische Deutung des Spinozismus gewandt und von dem Theorem, daß Alles in Einem sei, das Theorem, daß das Eine in Allem sei, fernhalten wollen. Mir scheint das nicht nötig zu sein. Der Verdacht, eine solche Position münde in eine mystische Schau der Indifferenz von Einem und Vielem und vernichte die Eigenbedeutsamkeit des Vielen, ist nicht gerechtfertigt. Umgekehrt ver11 K.

Cramer, Gedanken über Spinozas Lehre von der All-Einheit, in: D. Henrich (Hg.), All-Einheit. Wege eines Gedankens in Ost und West, Stuttgart 1985, 151–179, hier: 176–178. 146  |  I. Ontologie und Subjektivität 

langt eine Theorie der Eigenbedeutsamkeit des Vielen und damit des Einzelnen gerade dann, wenn beansprucht wird, deren Sein aus einem unbedingten Prinzip verständlich zu machen, daß dieses Prinzip als ein solches erwiesen wird, das sich an einem Einzelnen von diesem her ausweisen läßt. Hierfür ist zweierlei erforderlich: 1. das Unbedingte muß in dem Einzelnen sein; 2. das Einzelne muß durch Wissen gekennzeichnet sein. Beide Bedingungen sind in dem Sinne unabhängig von einander, daß nicht die eine die andere impliziert. Das In-Sein Gottes in den Dingen ist nicht Folge irgendeines Wissens, das Gott zukäme. Und das Wissen, das dem Menschen zukommt, ist nicht Folge jenes In-Seins Gottes. Menschliches Wissen läßt sich im Ausgang vom Unbedingten, das nicht Geist ist und das nicht selber denkt, nicht gewinnen, auch nicht in der idealistischen Version von Stufen einer Selbstentfaltung des Unbedingten. Es zu thematisieren, verlangt einen Ausgang von dem Bedingten, von dem um einer angemessenen Theorie des Wissens willen zu zeigen ist, wie es als Bedingtes zu dem Unbedingten hingelangen kann. Ein solches Verfahren muß zu vermeiden suchen, der Gefahr zu erliegen, ebendamit das Unbedingte schon vom Bedingten her zu denken und somit als Unbedingtes zu verfehlen. Gleichwohl steht es in Spinozas Ethica unter einer subjekttheoretischen Prämisse, von der man aus einer anderen Perspektive, die meines Erachtens aber nicht die des Spinoza ist, sagen könnte, daß in ihr das, was das Unbedingte ist, verfehlt werde: daß das Reden von einem Unbedingten bewußt nur in der menschlichen Perspektive eines Ausseins auf adäquates Wissen sinnvoll ist. Spinozas Philosophie kann als eine Theorie gedeutet werden, die nachzuweisen versucht, daß für unser Denken, es in einem weiten Sinn gefaßt, ein von ihm verschiedenes Unbedingtes unabdingbar ist, das allem unserem Denken logisch vorangeht und gleichwohl eine funktionale Bedeutung im Hinblick auf es hat. Dieser Hinblick ist es dann, der über den Wahrheitsgehalt eines so konzipierten Unbedingten zu entscheiden hat. In einem Punkt hat Cramer allerdings völlig recht: daß unter der Annahme einer solchen Funktionalität das Programm einer letztbegründeten Rechtfertigung des Vielen aus dem Einen aufgegeben werden müßte.12 Ich glaube 12 

Ebd., 179. Subjekt und Metaphysik in Spinozas Ontologie  |  147

aller­dings nicht, daß die Preisgabe des Gedankens einer zu fordernden Letztbegründung ein philosophischer Verlust ist. Von dieser Überzeugung geleitet, muß es erlaubt sein, Spinoza so zu lesen, daß seine Philosophie einer doppelten Perspektive verpflichtet ist, einer solchen, die von der Unbedingtheit Gottes ausgeht, und einer anderen, die von der Endlichkeit des menschlichen Geistes ausgeht, einer Zweiheit, die zusammenzuschließen das Programm dieser Philosophie ist. Dies gibt die Möglichkeit an die Hand, mit Spinozas Metaphysik des Absoluten auch eine Theorie des Subjektes zu verknüpfen, von der freilich noch zu fragen wäre, wie gehaltvoll sie in dem spezifisch spinozanischen Zusammenschluß ist. Auf jeden Fall sollte es nicht uninteressant sein, im Kontext von »Subjekt und Metaphysik« die Möglichkeit einer solchen Verknüpfung, die uns Spinozas Philosophie, recht interpretiert, bietet, zu verfolgen.

148  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Unendlicher Verstand und menschliches Erkennen bei Spinoza 1. Menschliches Erkennen und Gott

Spinoza handelt von dem Menschen, sofern er erkennt, unter dem Titel »Geist« (mens humana). Die Erkenntnistheorie ist entwickelt in dem Teil der Ethica, der überschrieben ist »De natura et origine mentis«. Von dem menschlichen Geist heißt es in II, prop. 11, coroll., daß er ein Teil des unendlichen Verstandes Gottes ist: »Mentem humanam partem esse infiniti intellectus Dei.« Dies wird als eine Folgerung (»hinc sequitur«) des Lehrsatzes angesehen, der lautet: »Primum quod actuale mentis humanae esse constituit, nihil aliud est, quam idea rei alicuius singularis actu existentis« (II, prop. 11). Es ist wichtig, sich die Implikationen deutlich zu machen, die es Spinoza erlauben, diese Folgerung zu ziehen, die offenbar für Spinozas Theorie des menschlichen Erkennens von fundamentaler Bedeutung ist. Wenn sie das ist, ist sie es für das Programm der Ethica im Ganzen, das auf eine Theorie der Freiheit des Menschen hinausläuft, die ihm nur eigen ist, sofern er erkennt und zwar in einer bestimmten Weise, nämlich adäquat. Nun schließt Spinoza in dem genannten Corollarium aus dem Teil-sein des menschlichen Geistes auf eine Form inadäquaten Perzipierens des Menschen, wobei er das »inadaequate« mit einem »ex parte« gleichsetzt. Zum anderen nimmt er, im Verweis auf jenes Corollarium, aber auch im Scholion von II, prop. 43 das Teil-sein für das adäquate Perzipieren in Anspruch: »Mens nostra, quatenus res vere percipit, pars est infiniti Dei intellectus.«1 Wenn aber sowohl das inadäquate wie das adäquate Erkennen aus dem Status des menschlichen Geistes, Teil des intellectus infinitus zu sein, folgt, dann ist die Ursache dieser unterschiedlichen Formen des Erkennens offensichtlich in jenem Status nicht gelegen. Vielmehr 1  In

dem Lehrsatz hat Spinoza gezeigt, daß das »ideam adaequatam habere« ein »rem vere cognoscere« ist (vgl. den Beweis zu II, prop. 43).   |  149

ist anzunehmen, daß der Mensch überhaupt nur als Teil des unendlichen Verstandes erkennt, in welcher Form auch immer, und daß die unterschiedlichen Formen des Erkennens ihre Ursache in etwas haben, das zu dem puren Tatbestand des Teilseins noch hinzukommt. Anders gewendet: Der Mensch erkennt nicht inadäquat, weil er nur Teil des unendlichen Verstandes ist und darin mit bloßen Partialerkenntnissen immer hinter diesem zurückbleibt; und der Mensch erkennt nicht adäquat, weil er auch Teil des unendlichen Verstandes ist und darin, von dessen Erkenntnisweise nicht total verschieden, sich ihm annähern und letztlich wie er erkennen kann. In beiden Fällen könnte der Mensch gar keine adäquate Erkenntnis haben. Im ersten Fall wäre sie durch seine Endlichkeit verhindert, im zweiten Fall wäre sie nur durch das Aufheben der Endlichkeit möglich. Menschliches Erkennen kann nicht gegen die menschliche Endlichkeit bestimmt werden, die Adäquatheit und Inadäquatheit dieses Erkennens also auch nur im Horizont dessen, was überhaupt Gegenstand eines solchen Erkennens sein kann, also im Hinblick auf einen endlichen Bereich. Auf ihn in seiner Erkenntnis eingeschränkt zu sein, ist nicht deshalb ein Defekt, weil ein anderer Verstand, der unendliche, darüber hinaus die Totalität dessen, was ist, erkennt, die vom menschlichen Erkennen notwendigerweise ausgeblendet ist. Es ist zwar wahr, daß der unendliche Verstand auf die Totalität geht und daß Spinoza den endlichen Verstand, der dies nicht tut, sondern ein Begrenztes zu seinem Gegenstand hat, offensichtlich deshalb als Teil des unendlichen Verstandes bezeichnet. Doch folgt aus diesem Tatbestand allein noch nicht etwas hinsichtlich der Inadäquatheit oder Adäquatheit menschlichen Erkennens. Dies ist an dem, was tatsächlich Gegenstand menschlichen Erkennens ist, zu exponieren und nicht an dem, was ein anderer Verstand erkennt. Diese These impliziert, daß es einen begrenzten Gegenstand gibt, der vom Menschen adäquat erkannt werden kann unter Ausblendung von Bezügen, in denen er zu unendlich vielen anderen Gegenständen steht. Sie scheint mit Spinozas Grundtheorem zu kollidieren, daß alles einzelne in einer universellen Verflechtung mit allem anderen innerhalb des Ganzen der Natur steht, einem Theorem, das sich aus dem Tatbestand ergibt, daß ein einzelnes 150  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Ding ein endlicher Modus der absoluten Substanz ist und darin in dem unendlichen Gefüge dessen steht, was aus der Substanz folgt. In einem Brief an Oldenburg (Ep. 32) hat Spinoza die Formulierung der Ethica, daß der menschliche Geist ein Teil des unendlichen Verstandes sei, genau in dem Zusammenhang gebraucht, der darlegt, daß ein einzelnes als Teil der Natur im Ganzen zu verstehen ist, die unendlich ist und die darin enthält, daß die Teile des Universums »auf unendlich viele Weisen modifiziert werden und unendlich viele Veränderungen zu erleiden gezwungen werden (infinitis modis moderantur et infinitas variationes pati coguntur).« Dieses universelle Beziehungsgeflecht, so heißt es dort, mache es, daß sowohl der menschliche Körper wie der menschliche Geist Teil der Natur sind. Bezüglich des menschlichen Geistes bestimmt Spinoza dieses Teilsein dann als Teilsein des unendlichen Verstandes. In der Begründung hierfür hebt Spinoza zwar darauf ab, daß der menschliche Verstand nur Teil ist, weil er, anders als der unend­liche Verstand, nicht alles perzipiert, sondern nur den menschlichen Körper. Aber er hebt auch darauf ab, daß der menschliche Verstand eine Gemeinsamkeit mit dem unendlichen hat, die unabhängig von dem Umfang dessen, was vergegenständlicht wird, ist: »statuo, dari […] in natura potentiam infinitam cogitandi, quae, quatenus infinita, in se continet totam Naturam objective […] Deinde mentem humanam hanc eandem potentiam statuo, non quatenus infinitam […], sed finitam« (Ep. 32). Unbeschadet der Unendlichkeit und Endlichkeit dieser potentia cogitandi, denen eine Unendlichkeit und Endlichkeit im Bereich dessen, was perzipiert wird, korrespondiert, ist es dieselbe potentia, die eine Gemeinsamkeit von unendlichen und endlichen Verstand herstellt. Sie erlaubt es, das adäquate (und inadäquate) menschliche Erkennen unabhängig von dem Umfang der erkannten Gegenstände zu bestimmen. Deshalb ist eine bloße Partialerkenntnis trotz der universellen Verquickung aller partes nicht schon eine inadäquate Erkenntnis. Genau von dieser in dem Brief in den Blick gebrachten Gemeinsamkeit ist der zweite Teil der Ethica geleitet. Die Gemeinsamkeit von unendlichem und endlichem Verstand hat ihren Grund nicht in einem der beiden, sondern in deren gemeinsamen Charakter, ein Modus zu sein, und damit in dem, was Ursache der Modi ist. Es ist die göttliche Substanz, die wesentlich potentia ist. Von ihr her Unendlicher Verstand und menschliches Erkennen  |  151

ist das, was sie hervorbringt, Konsequenz der Theorie der immanenten Kausalität, selber wesentlich potentia. Auch die These, daß der menschliche Verstand ein Teil des unendlichen Verstandes ist, muß als eine Konsequenz der Struktur Gottes angesehen werden. Erst die Entfaltung dieser Konsequenz kann das Corollarium zu Lehrsatz 11, das die These vom Teilsein formuliert, als eine Folgerung erscheinen lassen. Gewiß, in der Anmerkung zu prop. 11, coroll., verweist Spinoza die Leser, bevor sie mancherlei Bedenken gegen die These vorbringen, auf das, was er in den folgenden Lehrsätzen noch entwickeln wird. Doch beweist das Folgende nicht die These selber; es entfaltet lediglich Implikationen der These, von denen Spinoza meint, daß sie dahingehende Bedenken auszuräumen in der Lage sind, daß die These keine angemessene Theorie mensch­ lichen Erkennens zu geben vermag. Dieser Nachweis steht aber unter einer schon bewiesenen Bedingung, die in das Corollarium zu Lehrsatz 11 eingegangen ist und die von den folgenden Lehrsätzen in Anspruch genommen wird. Ich untersuche deshalb die Implikationen, die in prop. 11, coroll. gelegen sind. Die These, daß der menschliche Verstand Teil des unendlichen Verstandes sei, so habe ich behauptet, ist eine Konsequenz der Struktur Gottes. Sie ergibt sich allerdings aus der in Eth. I entfalteten Struktur allein nicht, und zwar deshalb nicht, weil die Modi, die jetzt in Frage stehen, von einem bestimmten Inhalt sind, der sich aus der Struktur Gottes nicht ergibt. Es sind nicht Modi überhaupt, sondern inhaltlich bestimmte Modi, nämlich Ideen. Spinoza kann natürlich aus der Struktur Gottes nicht zeigen, daß Modi in ihrer inhaltlichen Bestimmtheit vom Charakter der Ideen sind, sondern nur, daß Ideen, wenn es sie gibt, vom Charakter des Modus sind. Daß es sie gibt, ist ein empirischer Sachverhalt, der für Spinoza aus dem Tatbestand menschlichen Denkens folgt. Er wird in einem nicht beweisfähigen, weil nicht deduzierbaren Axiom eingeführt: »Homo cogitat« (II, ax. 2). Dieser empirische Tatbestand erlaubt allererst eine inhaltliche Bestimmung eines der Attribute Gottes, daß es nämlich Cogitatio ist, so wie der ebenfalls empirische Tatbestand, daß wir einen vielfach affizierten Körper empfinden (II, ax. 4), zu der inhaltlichen Bestimmung des Attributes Extensio führt. Eth. I gibt allein eine Strukturanalyse Gottes nach den Momenten Substanz, Attribut und Modus, letztere gegliedert in un152  |  I. Ontologie und Subjektivität 

endliche und endliche, aber keine inhaltliche Bestimmung dieser Terme. Inhalte werden nicht aus Gott deduziert, sondern Gott hat die Funktion, solche Inhalte uns begreifbar zu machen, wofür die Strukturanalyse von Eth. I die Mittel bereitstellt. Nicht zuletzt ist die fundamentale Bestimmung Gottes, attributiv gegliedert zu sein, also der Essenz nach ein komplexes Wesen zu sein, durch den Tatbestand der Dualität von Denken und Körperlichkeit bedingt. Die Nichtzurückführbarkeit des einen auf das andere ist ein phänomenaler Tatbestand, nicht ein aus Gott deduzierter. Nicht sind Denken und Körperlichkeit im Felde der Modi essentiell verschieden, weil sie aus essentiell verschiedenen Attributen Gottes folgen. Sondern sie könnten in dem, was sie sind, nicht angemessen begriffen werden, wenn Gott nicht in sich essentiell differenziert wäre, d. h. wenn ihm nicht gleichursprüngliche Attribute zu­kämen. Eth. I zeigt, daß diese Gleichursprünglichkeit mit dem Begriff Gottes verträglich ist und zwar in Form einer unendlichen Vielheit von Attributen und darin nicht eingeschränkt durch den Hinblick auf den Menschen und dessen Verfassung. Aber Eth. I kann nicht zeigen, von welchem Inhalt diese Attribute sind und damit auch nicht, welchen Sinn die Differenzierung in Attribute hat, der sich erst aus dem, was mit ihrer Hilfe erklärt werden soll, ergibt.2 Erst nach der axiomatischen Einführung menschlichen Denkens und menschlicher Körperlichkeit in Eth. II kommt in die Struktur Gottes eine inhaltliche Bestimmung der Attribute als Cogitatio und Extensio. Erst sie sind Bestimmungen der Essenz Gottes, die nicht nur produktiv überhaupt ist, sondern bestimmte Inhalte produziert, nämlich Gedanken und Körper, die nicht aus Gott deduziert werden können, weil dieser weder denkt noch ausgedehnt ist. Sofern es aber Gedanken und Körper gibt und das ist zweifelsfrei, weil der Mensch denkt und einen Körper empfindet, sind sie vom Charakter des Modus und das heißt verursacht von unbedingten Attributen, die, um diese inhaltlich bestimmten Modi hervorbringen zu können, selber inhaltlich bestimmt sein müssen. Lehrsatz 1 von Eth. II macht das deutlich: »Cogitatio attributum Dei est« wird so bewiesen, daß einzelne Gedanken (singula2  Ich

habe dies näher ausgeführt in »Metaphysik und Ethik in Spinozas Ethica« [in diesem Band, S. 31 – 52]. Unendlicher Verstand und menschliches Erkennen  |  153

res cogitationes) Modi sind, die Gottes Natur in bestimmter Weise ausdrücken, daß deshalb (ergo) die einzelnen Gedanken Gottes Natur in sich schließen (involvunt), durch die sie begriffen werden, und daß schließlich deshalb (igitur) Gottes Natur Cogitatio ist. Nur in dieser Bestimmtheit können aus Gott Gedanken begreifbar gemacht werden, ohne daß Gott in dieser Bestimmtheit aufginge, weil andere Entitäten als Gedanken auch durch etwas anderes begriffen und das heißt für Spinoza verursacht werden müssen. Deshalb ist Cogitatio nur ein Attribut Gottes, in dem sich dessen Essenz nicht erschöpft. Spinoza beweist also nur, daß wenn es einzelne Gedanken gibt, diese Modi sind und darin den Implikationen des Status von Modus unterliegen, er beweist aber nicht, daß es einzelne Gedanken gibt. Der einzige aufzufindende Verweis auf diesen Tatbestand ist das nicht beweisbare Axiom »homo cogitat«. Ist es der Tatbestand menschlichen Denkens, der der Erklärung bedarf und umwillen einer solchen zu gebenden Erklärung zu der inhaltlichen Bestimmung eines Attributes Gottes führt, so ist zugleich klar, daß das göttliche Attribut Cogitatio nicht darin aufgeht, menschliche Gedanken zu produzieren – das hieße, das Sein eines Attributes von einem endlichen Modus her zu denken und die Ontologie von Eth. 1 auf den Kopf zu stellen. Wenn aus der menschlichen Perspektive eine inhaltliche Bestimmung von Attribut erreicht wird, so unterliegen die inhaltlichen Produkte dieses Attributes doch nicht dieser Perspektive. Deshalb untersucht Spinoza als erstes, nachdem er zu der inhaltlichen Bestimmung eines Attributs gelangt ist, was aus dem göttlichen Attribut Cogitatio folgt. Das Attribut Extensio, in seiner Inhaltlichkeit ohne Aufwand strukturanalog erwiesen (II, prop. 2), ist für den Erweis des Status des menschlichen Verstandes als eines Teils des unendlichen Verstandes nicht von Interesse und wird deshalb in den zunächst folgenden Lehrsätzen unberücksichtigt gelassen.

2. Der unendliche Verstand

Lehrsatz 3 folgert aus Gott, er jetzt unter dem Attribut Cogitatio gefaßt, den unendlichen Verstand. Dieser ist die Idee von Gottes Essenz und dessen, was aus dieser Essenz mit Notwendigkeit folgt. 154  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Er ist in Gott, also ein Produkt Gottes, d. h. ein Modus und nicht eine attributive Bestimmung Gottes. In der Formulierung »idea Dei« ist Gott Gegenstand einer Idee, die der intellectus infinitus ist. Er ist genetivus objectivus, nicht subjectivus. Gott denkt nicht und er hat Ideen nur insofern, als er einen Verstand hervorbringt, was er allerdings mit Notwendigkeit tut, sofern er Cogitatio ist und ein Attribut nicht etwas für sich ist, das sich nicht in seinen Produkten erfüllte. Dabei produziert Gott mit Notwendigkeit einen unendlichen Verstand, weil seine Unendlichkeit sich nicht in einem Endlichen erfüllen kann. Und schließlich produziert er nur einen unendlichen Verstand (II, prop. 4), weil er selber einzig ist und als dieser Gegenstand des unendlichen Verstandes ist; die Totalität dessen, was aus Gott folgt, bedarf, um erkannt werden zu können, nur eines Verstandes, der in der Erkenntnis Gottes zugleich die Mannigfaltigkeit dessen erkennt, was aus Gott folgt. Das hat die bedeutsame Konsequenz, daß ein Verstand, der nur aus einem Attribut neben vielen anderen folgt, alle anderen Attribute und zugleich alle daraus folgenden Modi zum Gegenstand hat. Darin bleibt zwar die These von der Gleichursprünglichkeit der Attribute unangetastet, aber es ist eine Überlegenheit im Feld der Modi gesetzt. Der Modus dieses einen Attributes hat gegenüber den Modi aller anderen Attribute die Auszeichnung, als idea unter dem Attribut Denken alles andere zum Gegenstand haben zu können. Er kann von ihm selbst essentiell Verschiedenes wissen und reicht darin über sich hinaus in die Sphäre eines anderen attributiven Feldes, während die Modi, die nicht durch Wissen gekennzeichnet sind und damit keine Kraft der Vergegenständlichung haben, nicht in das Feld anderer Modi hineinreichen. Jedenfalls gilt das, soweit wir wissen, für die Modi des Attributes Ausdehnung, in denen Gott zwar nicht anders ist als in den Modi des Denkens, für die er aber im Unterschied zu denen des Denkens nichts ist und sein kann. Die Deduktion des unendlichen Verstandes als der Idee Gottes dient der Klärung des Status von Idee im allgemeinen, letztlich aber der Idee, die der menschliche Geist ist. Wenn der menschliche Geist ein Modus ist, der ohne das ihn hervorbringende Attribut weder sein noch begriffen werden kann, das göttliche Attribut aber von sich aus einen unendlichen Modus produziert, dann Unendlicher Verstand und menschliches Erkennen  |  155

hat dieses Produkt auch für das Sein des endlichen Modus eine Bedeutung. Sie kann aber nicht darin bestehen, daß der unendliche Modus den endlichen hervorbringt. So wenig wie ein endlicher Modus aus dem Attribut deduziert werden kann, aus dessen Unendlichkeit nur Unendliches hergeleitet werden kann, so wenig kann der unendliche Modus ein taugliches Prinzip der Herleitung eines endlichen Modus sein. Eine genetische Abhängigkeit liegt nicht vor.3 Doch klärt der unendliche Modus in seiner inhaltlichen Bestimmtheit, hier bestimmt als unendlicher Verstand, an einem endlichen Modus, der faktisch ist, dessen bestimmten Status, Idee zu sein. Was für den unendlichen Modus gilt, sofern er Idee ist, gilt auch für den endlichen Modus, sofern er Idee ist. Es gilt unabhängig von der Differenz zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit. Unterscheiden sich unendlicher und endlicher Verstand hinsichtlich des Umfangs, so ist beiden doch gemeinsam, daß sie in ihrem Erkennen Dinge erfassen, die nicht unter dem Attribut Denken stehen. Zwar gibt es auch hier die Differenz, daß der unendliche Verstand das vergegenständlichen kann, was aus allen Attributen folgt, der menschliche aber, wie Spinoza zeigen wird, nur dasjenige, das aus den Attributen folgt, zu denen er aufgrund seiner spezifischen Beschaffenheit überhaupt einen Bezug haben kann. Doch ist diese Differenz für eine Theorie der Bedingungen, unter denen das menschliche Erkennen steht, bedeutungslos. Allein entscheidend ist die Frage, wie unter der essentiellen Verschiedenheit von Denken und Körperlichkeit menschliches Erkennen Körperliches als ein von sich Verschiedenes erkennen kann.4 Und genau der Klärung dieser Frage dient die Theorie des unendlichen Verstandes. Am unendlichen Verstand läßt sich ein Sachverhalt demonstrieren, der auch für den endlichen Verstand gilt, an diesem aber nicht demonstriert werden kann, ein Sachverhalt, der sich daraus ergibt, daß der unendliche Verstand un­ mittelbar aus der Natur Gottes folgt. Weil Gottes Natur wesentEth. I knüpft die Theorie endlicher Modi (prop. 24 ff.) deshalb nicht an die Theorie unendlicher Modi (prop. 21–23) an, sondern stellt einen Neuansatz dar. 4  Ich habe dies früher entwickelt in »Selbstsein und Absolutes [in diesem Band, S. 53 – 103]. 3 In

156  |  I. Ontologie und Subjektivität 

lich potentia ist, d. h. ein hervorbringendes Handeln (agere) unter unendlich vielen Attributen, ist das Denken lediglich eine Form des Handelns, nicht aber etwas, das dem Handeln vorausgeht in dem Sinne, daß Gott aufgrund vorheriger Erkenntnis die Dinge dann auch noch hervorbringt (II, prop. 6, coroll.). Weil Gott unter dem Attribut Denken den unendlichen Verstand gleichzeitig mit all dem, was er überhaupt produziert, hervorbringt, erfaßt der unendliche Verstand die Dinge, so wie sie sind. Ideen haben einen Bezug zu Dingen, der nicht als Konstruktion der Dinge aus den Ideen zu verstehen ist, aber auch nicht als ein Bewirken der Ideen durch die Dinge in deren Ansichsein (II, prop. 5). Gott bewirkt die unendliche Idee, die ihn selber zum Gegenstand hat, allein durch das Attribut Denken und nicht durch die Fülle seines Seins, die Gegenstand dieser Idee ist. Damit ist sichergestellt, daß der Charakter der Idee, Dinge, wie sie an sich sind, vorzustellen, unabhängig ist von der materialen Beschaffenheit dessen, was sie vorstellt. Deshalb läßt sich das Ausgreifen des unendlichen Verstandes auf alle Attribute behaupten, ohne daß etwas über die Beschaffenheit dieser Attribute gesagt werden müßte. Dieser Sachverhalt ist wichtig für die Theorie einer endlichen Idee, wie es die des Menschen ist. Spinoza beweist ihn in Lehrsatz 5 für das formale Sein von Ideen überhaupt und nicht nur für die Idee Gottes, die der unendliche Verstand ist. Auf ihn greift Spinoza lediglich im 1. Teil des Beweises zurück, in dem er zeigt, daß das, was für die Idee Gottes gilt, für jegliche Idee gilt, nämlich allein vom Attribut Cogitatio verursacht zu sein und darin Idee von Dingen zu sein. Der Vorzug des unendlichen Verstandes gegenüber dem endlichen besteht allein darin, alles zu objektivieren; dieser Totalitätsbezug betrifft den Umfang der objektiven Welt, nicht aber den generellen Status einer Idee, die objektiviert. Spinoza hat den Tatbestand, daß der unendliche Verstand die Totalität dessen, was ist, in dem, was sie an sich ist (in scholastischer Terminologie in deren formalen Sein), objektiviert, in unglücklichen Wendungen formuliert, die den Anschein erwecken könnten, als ob zwischen Gott und dem unendlichen Verstand keine Differenz bestünde. So ist es unzutreffend zu sagen, wie es Spinoza im Beweis zu Lehrsatz 3 tut, daß Gott unendlich vieles auf unendlich viele Weisen (»infinita infinitis modis«) denkt. Denn er Unendlicher Verstand und menschliches Erkennen  |  157

denkt es, sofern er sich zu einem unendlichen Verstand modifiziert, nur auf eine Weise, die durch das Attribut Cogitatio vorgegebene, wenn er sich auch denkend auf das bezieht, was auf unendlich viele Weisen, nämlich gemäß der Unendlichkeit der Attribute, aus ihm selber folgt. Wäre es anders, würden in Gott Handeln und Denken zusammenfallen; doch ist das Denken nur eine Form des göttlichen Handelns in Gestalt eines unendlichen Modus, die, von anderen Formen des Handelns verschieden, das Handeln und dessen Produkte erfaßt. Desgleichen ist die Formulierung des Lehrsatzes 4 unzutreffend, die lautet: »Idea Dei, ex qua infinita infinitis modis sequuntur, unica tantum esse potest«. Denn nicht folgt aus der Idee Gottes unendlich vieles auf unendlich viele Weisen, sondern die Idee Gottes erfaßt das unendlich Viele, das auf unendlich viele Weisen aus Gott folgt – »ex quo« muß es heißen und nicht »ex qua«, aus Gott und nicht aus der Idee. Und schließlich ist die Formulierung im Corollarium zu Lehrsatz 6 zumindest zweideutig; dort heißt es: »Eodem modo eademque necessitate res ideatae ex suis Attributis consequuntur et concluduntur, ac ideas ex attributo Cogitationis consequi ostendimus«. Es folgen aber nicht res ideatae, vorgestellte oder objektivierte Gegenstände, aus den Attributen, sondern nur res formales, ansichseiende Dinge, und allein die Ideen erfassen dieses Ansichsein, das ein Objektives (res ideatae) für den Verstand ist, keineswegs aber für das hervorbringende Attribut, das als solches keine res ideatae hervorbringt. Was Spinoza in Wirklichkeit zeigt, ist, daß zwischen der Abfolge der Modi aus einem jeweiligen Attribut, welchem auch immer, und der Abfolge der Ideen, die Modi des Attributes Denken sind, eine Korrespondenz besteht, die durch die zwar attributiv gegliederte, aber doch eine potentia Gottes verbürgt ist und die es erlaubt, Form und Vorgestelltsein eines Dinges als eine ungebrochene Selbigkeit zu verstehen. Diese Selbigkeit bedeutet mitnichten, daß Gottes Macht zu handeln (potentia agendi) mit seiner Macht zu denken (potentia cogitandi) identisch ist. Das ist ausgeschlossen, weil handeln eine attributive Bestimmung Gottes ist (potentia ist agere), denken aber eine modale, die allein einem Modus Gottes zukommt. Deshalb heißt es im Corrolarium zu Lehrsatz 7, daß Gottes Macht zu denken seiner wirklichen Macht zu handeln (actualis potentia) gleich ist (»aequalis est«). Was das bedeutet (»hoc est«), hat 158  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Spinoza in diesem Corollarium entgegen den unklar bleibenden Formulierungen im Vorangehenden klar formuliert, indem er die Differenz zwischen der Natur Gottes und dem unendlichen Verstand betont und Formalität und Objektivität entsprechend dieser Differenz zuordnet. Was aus der unendlichen Natur Gottes formal folgt – das sind die Dinge (res), das folgt in derselben Ordnung und Verknüpfung (eodem ordine eademque connexione), also so, wie Modi aus den Attributen folgen, aus der Idee Gottes objektiv – das sind die vorgestellten Dinge (res ideatae). Die Selbigkeit der Verknüpfung von Ideen und Dingen, Inhalt des Lehrsatzes 7, ist ein bloßer Paralle­lismus in der Modusabfolge unter unterschiedlichen Attributen, der verbürgt ist durch die Einheit der hervorbringenden Kausalität Gottes in seinen unterschiedlichen Attributen. Er stellt noch keine Beziehung zwischen den Modi der unterschied­ lichen Attribute her. Die Theorie der Objektivität, in der eine Beziehung hergestellt wird, die natürlich keine Kausalbeziehung ist, ist erst eine Folge aus dem Lehrsatz, die nur gezogen werden kann in bezug auf einen Modus, für den es ein Gegenüber gibt, von dem er sich unterscheidet. 5 Sie gilt deshalb nur für den unendlichen Verstand. Dessen spezifische Leistung, objektivierend bei der Form der Dinge zu sein, kommt ihm allein als einem Modus zu, der von Gott hervorgebracht ist, in dem die Kausalität Gottes so ist, daß sie mit ihm zugleich alles produziert, was überhaupt Gegenstand des unendlichen Verstandes sein kann.

3. Der menschliche Verstand

Daß Spinoza der Theorie menschlichen Erkennens eine Theorie des unendlichen Verstandes vorangehen läßt, entspricht dem Strukturaufbau der Ontologie von Eth. I, wo die Erörterung unendlicher Modi derjenigen der endlichen Modi vorangeht. In Eth. II wird jedoch die Theorie eines besonderen endlichen Modus gegeben, des Menschen als Geist (mens), d. h. unter dem Aspekt seines Wahrnehmens (percipere) im weitesten Sinne, das unter vorausgesetzten empirischen Annahmen als Wahrnehmen des eigenen Körpers 5 

Grundlegend hierzu M. Gueroult, Spinoza II (L’âme), Paris 1974, 67 ff. Unendlicher Verstand und menschliches Erkennen  |  159

bestimmt wird. Der menschliche Geist ist Idee (II, prop. 11), weil (so der Beweis im Verweis auf ax. 2) der Mensch denkt, und Objekt dieser Idee ist der Körper (II, prop. 13), weil (so der Beweis im Verweis auf ax.4) wir Affektionen des Körpers empfinden, und es ist nur der Körper und nichts anderes (ebenfalls II, prop. 13), weil (so der Beweis im Verweis auf ax. 5) wir keine anderen Einzeldinge empfinden. Der endliche Modus Mensch ist in seiner Eigentümlichkeit empirisch bestimmt, und gleichermaßen ist es der spezifische Gegenstandsbereich seines Wahrnehmens. Diese empirische Bestimmtheit folgt weder aus Gott, noch aus dem, was aus Gott unmittelbar folgt, dem unendlichen Verstand. Insbesondere liegt in ihr ein Moment, das für die Wirklichkeit des Menschen konstitutiv ist und nicht aus Gott folgen kann, das ist die durch das Existieren in zeitlicher Erstreckung bedingte Vergänglichkeit.6 Das wirkliche Sein (esse actuale) des menschlichen Geistes, von dem in Lehrsatz 11 die Rede ist, ist das zeitlich existierende Sein, das die Idee, die der menschliche Geist ist, zu der Idee eines zeitlich existierenden Einzeldinges (idea rei alicuius singularis actu existentis) macht, das vorzustellen die Wirklichkeit dieser Idee ausmacht. Spinoza bestimmt die Wirklichkeit des endlichen Modus Mensch durch etwas, das aus der Ewigkeit Gottes nicht folgt, aus der nur Ewiges und Unendliches folgt. Und insofern beginnt mit Lehrsatz 11 des 2. Teils ein methodischer Neuansatz, der im Aufbau des 1. Teils seine Parallele im Übergang von den unendlichen Modi zu den endlichen hat, der jetzt aber radikalisiert wird, insofern er von einem konkreten Modus ausgeht. Ihn als Modus zu charakterisieren und damit als etwas, das aus Gott folgt, kann dann nur die Bedeutung haben, daß in ihm als endlichem, der zeitlich existiert, ein Ewiges ist, eine ewige Essenz, die aus Gott ist und ohne die und damit ohne Gott er wie jegliches Endliches nicht sein könnte. Doch ist das eine ganz leere, weil inhaltlich unbestimmte Bestimmung, die für jeden endlichen Modus gilt, ihn aber nicht in seiner inhaltlichen Bestimmtheit charakterisiert und damit nicht in seiner besonderen Wirklichkeit. Weil der Mensch aber nicht als Modus überhaupt erkennt, sondern als ein bestimmter Modus von spe6  Vgl.

W. Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, Frankfurt/Main 1966, 73 ff. 160  |  I. Ontologie und Subjektivität 

zifischer Verfassung, charakterisiert ihn Spinoza im Kontext der mit Lehrsatz 11 anhebenden Theorie menschlichen Erkennens von einer axiomatisch eingeführten Kontingenz her, derzufolge er als erkennender »idea corporis actu existentis« ist. Der menschliche Geist hat in diesem Bezug seine Wirklichkeit. Unter dieser Voraussetzung, daß der Mensch nur als zeitlich existierendes Wesen erkennt und sein Erkennen deshalb einen spezifischen Gegenstand hat, den zeitlich existierenden Körper und in eins damit die Ideen dieses Körpers, steht die These, daß ein so verstandenes menschliches Erkennen Teil des unendlichen Verstandes ist. Meine Interpretation schließt aus, daß das, was der Mensch erkennt, Teil dessen ist, was der unendliche Verstand erkennt. Vielmehr reicht das menschliche Erkennen, weil es einem zeitlich existierenden Wesen zukommt, in einen Bereich, der dem unendlichen Verstand verschlossen ist. Denn dieser als eine unmittelbare Folge Gottes erkennt nur das, was unmittelbar aus den göttlichen Attributen folgt, und das heißt Ewiges. Er erkennt nicht Zeitliches, weil er selber nicht zeitlich ist. Wenn er, weil er alles erkennt, auch Endliches erkennt, so erkennt er doch endliches nur als Ewiges und damit nicht ein zeitliches Endliches. Der unendliche Modus modifiziert sich in bezug auf endliche Modi lediglich wiederum zu einem unendlichen Modus, der facies totius universi (Brief 64 an Schuller), der inhaltlich so unbestimmt ist, daß er nicht einmal hinsichtlich der unterschiedlichen Attribute einer Differenzierung bedarf.7 Er negiert von sich aus jede Form von Veränderung am Endlichen selbst und begreift die Essenzen von Endlichem nicht als sich in der Zeit erstreckend, sondern als Teile eines Unendlichen, das ewig ist. Der unendliche Verstand hat dementsprechend nur Unendliches zum Gegenstand. In Lehrsatz 11 sagt Spinoza ausdrücklich, daß das wirkliche Sein des Menschen, sofern er perzipiert, die Idee eines wirklich existierenden Einzeldinges ist und damit, so der Beweis, nicht eines unendlichen Dinges. Anders wäre der erkennende Mensch selber unendlich, was offensichtlich absurd ist (»absurdum«), denn er wäre dann unvergänglich. Wenn also Spinoza aus diesem Lehrsatz 7 

Hervorgehoben auch von B. Rousset, La perspective finale de l’ »Éthique« et le problème de la cohérence du spinozisme, Paris 1968, 88. Unendlicher Verstand und menschliches Erkennen  |  161

folgert, daß der menschliche Geist Teil des unendlichen Verstandes ist, so kann sich das, so meine These, nicht auf das Was des Erkennens beziehen; denn das Was ergibt sich aus einer spezifischen Verfassung des Menschen, der in seiner auch zeitlich bestimmten Endlichkeit nicht Teil der aus Gott folgenden und darin ewigen Unendlichkeit ist. Ergibt sich das Teilsein nicht aus dem Was des Erkennens, so ergibt es sich doch aus einem Daß des Erkennens, daraus nämlich, daß das menschliche Erkennen, als Idee unter dem Attribut Denken stehend, ein Ding, das unter einem anderen Attribut steht, den Körper, zu seinem Gegenstand hat, daß es also objektiviert. Das empirische Faktum, daß der Mensch Körperliches perzipiert, daß er »idea corporis« ist und folglich mit seinen Ideen nicht nur bei Ideen, sondern bei einem davon Verschiedenen ist und dieses als einen Gegenstand (res ideata) hat, bedarf einer Erklärung, die aus dem menschlichen Erkennen allein nicht gegeben werden kann. Hierfür ist eine vorgängige Theorie des unendlichen Verstandes erforderlich, die klärt, was eine Idee ist. Den menschlichen Verstand als Teil des unendlichen Verstandes zu bestimmen, bedeutet, den Bezug unseres Erkennens auf die Dinge als eine Objektivierung auszuweisen, in der das Erkennen tatsächlich bei der Sache ist, diese also erkennt, wie sie ist. Über den unendlichen Verstand wird die dem menschlichen Verstand zugesprochene Vergegenständlichung von Dingen legitimiert. Aus dem menschlichen Erkennen, dieses für sich genommen, kann das nicht geschehen, da es als Idee nur dem Feld des Attributs Denken angehört, wohl aber aus dem unendlichen Verstand, der, von Gott zugleich mit allem was ist produziert, das, was er erkennt, in dem, wie es aus Gott folgt, erkennt, d. h. in dessen Ansichsein. Im Corollarium zu Lehrsatz 7 hat Spinoza die Korrespondenz zwischen Ansichsein (esse formale) und Vorgestelltsein (esse objectivum) entwickelt und zugleich Formalität und Objektivität unterschiedlichen Ursachen zugeordnet. Das formale Sein folgt aus der göttlichen Natur, also den Attributen, das objektive Sein folgt aus der Idee Gottes, also dem unmittelbar unendlichen Modus des Attributs Denken. Hingegen folgen aus der Idee Gottes keine Ideen in deren formalen Sein, also auch nicht die Idee, die der menschliche Geist ist. Sie ist in ihrem formalen Status, Idee zu sein, unabhängig vom unendlichen Verstand, wenn auch, als Modus, natürlich nicht 162  |  I. Ontologie und Subjektivität 

unabhängig von der Natur Gottes. Aus der Idee Gottes folgt aber der Charakter einer singulären Idee, objektivierend in dem Sinne zu sein, daß sie ihren Gegenstand in dem, was er ist, repräsentiert, daß sie also mit ihm übereinstimmt. Insofern das für die menschliche Idee gilt, ist sie Teil des unendlichen Verstandes. In ihr hat ein Bezug der Übereinstimmung statt, der nur sein kann, wenn in der menschlichen Idee etwas enthalten ist, das sich aus ihr als menschlicher nicht ergibt, wenn sie vielmehr als Teil eines Anderen, des unendlichen Verstandes, angesehen wird. Daß die Idee mit der Sache übereinstimmt, folgt zwar aus beider Status, je ein Modus zu sein, und damit aus Gott, dessen einheitliche Produktivität die Parallelität der Modi unterschiedlicher Attribute verbürgt. Aber es folgt aus dieser Produktivität, die parallele Reihen produziert, nicht der korrespondierende Bezug des einen auf das andere, d. h. nicht der spezifische Charakter der Idee, Vorstellung von etwas zu sein und darin bei einem anderen zu sein, das etwas für den Vorstellenden ist und erst darin ein Gegenständliches. Dieser Sachverhalt, ein unbestreitbarer Tatbestand menschlichen Seins, denn wir empfinden einen vielfach affizierten Körper und haben darin Ideen von den Affektionen des Körpers (II, prop. 13, dem. im Verweis auf ax. 4), kann nicht aus dem W ­ esen Gottes verständlich gemacht werden, sondern nur aus einem Produkt dieses Wesens, das objektivierend verfährt, also einem Verstand, dessen Unendlichkeit alles vergegenständlicht, was Gott produziert. Objektivität ist deshalb nicht in Gott selber gegründet, sondern in einem Modus, dem unendlichen Verstand. An einer Idee sind zwei Aspekte zu unterscheiden, zum einen ihr Charakter, Modus zu sein – darin ist sie im Attribut Cogitatio gegründet, parallel zu den Modi anderer Attribute, zum anderen ihr Charakter, ein objektivierender Modus zu sein, der Idee von etwas ist, das vergegenständlicht wird – darin ist sie nicht im Attribut gegründet, sondern im unendlichen Verstand, der, anders als das Attribut, vergegenständlicht. Darüber hinaus sind an der Idee zwei weitere Aspekte zu unterscheiden, nämlich die von ewiger Essenz und zeitlicher Existenz. Die Dinge, die insofern existieren, als sie in Gottes Attributen einbegriffen sind, heißt es im Corollarium zu Lehrsatz 8, haben eine Objektivität nur, insofern die unendliche Idee Gottes existiert Unendlicher Verstand und menschliches Erkennen  |  163

(»quatenus infinita Dei idea existit«), so daß die Ideen dieser Dinge in ihrem objektivierenden Charakter nur existieren, sofern die Idee Gottes existiert. Das bedeutet nicht, daß die Idee Gottes die singulären Ideen hervorbringt, sondern daß das objektive Sein der ewigen Dinge (»earum esse objectivum sive ideae«) nur ist, wenn es einen unendlichen Verstand gibt, der Gegenstände hat. Spinozas These ist nun, daß das für jegliche Form von Objektivität gilt, auch die der zeitlichen Dinge, auf die das menschliche Erkennen gerichtet ist, das deshalb als Teil des unendlichen Verstandes anzusehen ist. Doch folgt aus der Verfassung des unendlichen Verstandes nicht das Spezifische des menschlichen Verstandes, nämlich solches zu objektivieren, das nicht nur in Gottes Attributen einbegriffen ist, weil es in zeitlicher Erstreckung ist. Durch Dauer ist aber der spezifische Gegenstand menschlichen Erkennens gekennzeichnet, der je eigene Körper, den vorzustellen gar nicht anders möglich ist als so, daß der Vorstellende selber in zeitlicher Erstreckung ist, weil anders dieser Gegenstand nicht sein Gegenstand wäre. Das heißt: die Idee, die der menschliche Geist ist, ist von der Idee Gottes nicht nur in dem Sinne unterschieden, daß sie, anders als jene, einen begrenzten Gegenstandsbereich hat, sondern in dem Sinne, daß sie nicht nur existiert, sofern sie in der Idee Gottes einbegriffen ist, sondern auch, sofern sie Idee dieses Körpers ist. Das objektive Sein der Dinge, die in Gottes Attributen enthalten sind, steht allein unter der Bedingung der Existenz des unendlichen Verstandes. Was hingegen nicht nur in den Attributen enthalten ist, und das sind die Dinge, die zeitlich existieren, ist gar nicht Gegenstand des unend­ lichen Verstandes, der nur Ewiges zum Gegenstand hat. Das Corollarium zu Lehrsatz 8 bildet das Scharnier zwischen der Theorie des unendlichen Verstandes und der des endlichen, des näheren des menschlichen. 8 Während Lehrsatz 8 aus dem in Lehrsatz  7 einschließlich Folgesatz entwickelten Theorem der Selbigkeit dessen, was in Gott an sich ist, und dessen, was in der Idee Gottes objektiv ist, die bloß erläuternde und nicht eigens beweisbedürftige (»patet ex praecedentis«, II, prop. 8, dem.) Kon8 

Es bereitet nicht nur die Theorie der Ewigkeit des Erkennens vor, die im 5. Teil der Ethica gegeben wird, sondern auch die der Zeitlichkeit des Erkennens. 164  |  I. Ontologie und Subjektivität 

sequenz zieht, daß das für Dinge, die ewig sind, gilt, schließt das Corollarium aus der Korrespondenz von Idee und Ding im Feld des Ewigen auf eben die Korrespondenz im Feld des Zeitlichen. Spinoza macht in dieser Folgerung von dem doppelten Status einer singulären Idee Gebrauch, ein Modus und damit ein Ding und ein objektivierender Modus anderer Modi zu sein. Wenn auch die erste Bestimmung von Idee nicht aus dem unendlichen Verstand folgt, so folgt doch die zweite aus ihm. Daraus folgert Spinoza, daß, wie auch immer eine Idee beschaffen sein mag, sie, wenn sie Idee ist, sich objektivierend auf einen von ihr verschiedenen Sachverhalt bezieht. Diese Folgerung steht unter der Voraussetzung, daß jede Idee ein Modus ist und daß gleichermaßen die Dinge, von denen sie eine Idee ist, Modi sind. Sie enthält, daß in der Idee, auch wenn sie in der Zeit existiert, und gleichermaßen in den von ihr vorgestellten Dingen ein Ewiges ist, das aus der Natur Gottes folgt. Folglich kann eine singuläre Idee ein Ding nur objektivieren, wenn sie in Gott ist, aber sie tut es als singuläre Idee und nicht als unendliche, die unmittelbar aus Gott folgt. Gerade in Gott, in dem es allein eine Erkenntnis geben kann, weil nur in ihm ein Gegenstandsbezug möglich ist, gibt es die Erkenntnis eines einzelnen Dinges allein unter der Bedingung, daß er ebendieses Ding vergegenständlicht, also sofern er nur die Idee ebendieses Objekts hat (»Quicquid in singulari cuiuscunque ideae obiecto contingit, eius datur in Deo cognitio, quatenus tantum eiusdem obiecti ideam habet«, II, prop. 9, coroll.) und nicht sofern er eine unendliche Idee hat. Denn wenn er diese hat, hat er keinen endlichen Gegenstand. Von der endlichen Idee gilt, weil sie in Gott ist, daß sie mit ihrem Gegenstand übereinstimmt. Lehrsatz 12 legt dar: Was in dem Ding, von dem der menschliche Geist die Idee ist, geschieht, ist auch Gegenstand dieser Idee, d. h. alles, was geschieht, perzipiert der Geist. Er perzipiert nicht nur einiges, sondern alles, natürlich nicht all das, was überhaupt ist, sondern all das, was das spezifische Sein seines Gegenstandes ausmacht. Das ist Konsequenz des Status von Idee, in dem sie Teil des unendlichen Verstandes ist. Der Tatbestand menschlichen inadäquaten Erkennens kann daraus keineswegs gefolgert werden.

Unendlicher Verstand und menschliches Erkennen  |  165

4. Inadäquates Erkennen

Nun scheint Spinoza das inadäquate Erkennen im Corollarium zu Lehrsatz 11 aus der Perspektive Gottes zu erklären, aus dessen Attribut Cogitatio der unendliche Verstand folgt und in Konsequenz dessen eine einzelne Idee nur insofern, als unendlich viele andere ebenfalls aus ihm folgen (Inhalt des Lehrsatzes 9). Kann Gott die Idee, die den menschlichen Geist ausmacht, nur haben, wenn er auch andere Ideen hat, dann ist die göttliche Perspektive weiter als die menschliche. Wenn aber inadäquates Erkennen aus der menschlichen Perspektive verständlich zu machen ist, d. h. in bezug auf das, was überhaupt Gegenstand menschlichen Erkennens sein kann, dann ergibt es keinen Sinn zu sagen, daß menschliches Erkennen inadäquat ist, weil es nicht all das, was Gegenstand eines unendlichen Verstandes ist, erkennt. Denn man hätte damit gar keine Theorie menschlichen Erkennens gegeben, das durch einen bestimmten Objektbereich konstituiert ist, nicht aber durch die Totalität dessen, was überhaupt ist. Spinoza erklärt das inadäquate Erkennen genau aus diesem Objektbereich. Er erklärt es nicht aus dem Tatbestand, daß eine Idee als Modus in einem Gefüge von Ideen steht, sondern aus dem, wovon sie Idee ist, woraus er zugleich das dem Menschen spezifische Gefüge der Ideen erklärt. Gegenstand der menschlichen Ideen ist der menschliche Körper (II, prop.  13), der, Konsequenz des Lehrsatzes 12, so wie wir ihn empfinden, existiert (II, prop. 13, coroll.). Ein auf Lehrsatz 13 folgender Einschub, enthaltend eine Abfolge von Axiomata, beweisbarer Lemmata und nicht beweisfähiger Postulata, gibt den Grundriß einer Physik des Körpers im allgemeinen und des menschlichen Körpers im besonderen, in bezug auf diesen in bloßen Postulaten. Er zeigt eine interne Komplexität des menschlichen Körpers auf, die ihrerseits in einer Relation zu äußeren Körpern steht, die auf den menschlichen Körper einwirken und auf die der menschliche Körper seinerseits einwirkt. Gehört die interne Komplexität und das Stehen in einem äußeren Wirkungsverhältnis zu dem Sein des menschlichen Körpers, dann muß der menschliche Geist, so folgert Spinoza in Lehrsatz 14, diese Komplexität perzipieren. Er perzipiert also sehr vieles, Folge der in Lehrsatz 12 auch für zeitliches Existieren erwiesenen Identität 166  |  I. Ontologie und Subjektivität 

von Ding und Gegenstand. Das führt dann in Lehrsatz 15 zu der These von der Komplexität auch der Idee, die der menschliche Geist ist, gefolgert nicht aus einer Analyse der Idee als Modus des Attributs Denken, sondern zurückgeschlossen aus der Verfassung des menschlichen Körpers9, die, bloß empirisch gewonnen, unter das Korrespondenztheorem gestellt wird, das aus der attributiven Bestimmung Gottes folgt. Die Idee, die der menschliche Geist ist, ist nicht einfach, sondern in sich komplex, d. h. aus sehr vielen Ideen zusammengesetzt (II, prop. 15). Die Verfassung des menschlichen Geistes ist Ausdruck einer empirischen Wirklichkeit, durch die sich die Idee, die er ist, von anderen Ideen unterscheidet. Dieser Unterschied resultiert nicht daraus, daß die endliche Idee in der unendlichen einbegriffen ist, sondern daraus, daß sie gerade einen Gegenstand von besonderer Beschaffenheit hat (vgl. II, prop. 8, schol.). Von der göttlichen Natur her gesehen, dem Attribut Cogitatio, steht jede singuläre Idee im Kontext mit unendlich vielen singulären Ideen (II, prop. 9), sofern sie nämlich aus der Ewigkeit des Attributes folgt und darin selber ewig ist (Einzeldinge, die nur insofern existieren, als sie in Gottes Attributen einbegriffen sind). In ihrer konkreten Wirklichkeit (Einzeldinge, die nicht nur insofern existieren, sondern auch insofern, als sie dauern, die also zeitlich existieren) steht die Idee jedoch nur im Kontext mit endlich vielen Ideen, mit denen nämlich, die für diese Wirklichkeit konstitutiv sind. Daß der unendliche Verstand unendlich viele Ideen hat, ist für das menschliche Erkennen belanglos. Erkennt der Mensch überhaupt nur als ein wirkliches Seiendes, d. h. als ein zeitlich existierendes, dann hat er zum Gegenstand seiner Erkenntnis prinzipiell ein zeitlich Existierendes, das ein je bestimmtes ist und zu je bestimmtem Äußeren in Relation steht, zu dem nämlich, zu dem der menschliche Körper aufgrund seiner Beschaffenheit eine Beziehung haben kann. Der menschliche Körper steht als ein Modus der Ausdehnung in Relation zu allen Modi dieses Attributs nur unter dem Aspekt seiner Essentialität, die aus dem Attribut Extensio folgt, nicht aber unter dem Aspekt 9 

Vgl. H. Rombach, Substanz, System, Struktur, Bd. 2, Freiburg/München 1966, 67 ff. Unendlicher Verstand und menschliches Erkennen  |  167

seiner zeitlichen Existenz, die nicht aus dem Attribut Extensio folgt, in bezug worauf der Mensch als konkret existierendes Seiendes aber allein erkennt. Wenn die menschliche Erkenntnis dadurch definiert ist, bloß Partialerkenntnis zu sein, kann sie auch nur als solche adäquat sein, und ebendeshalb muß auch die Weise inadäquaten Erkennens innerhalb einer solchen Partialerkenntnis ihren Ort haben. Sie kann nicht in dem Tatbestand des Ausblendens von Beziehungen, die über den Teil hinausreichen, gegründet sein. Die inadäquate Erkenntnis gründet vielmehr in einer bestimmten Weise der Verbindung der Ideen, deren Vielzahl relativ auf die Komplexität des menschlichen Körpers ist. Der Mensch erkennt den Teil der Welt, den er zu erkennen vermag, nicht in dem, was er an sich ist, wenn sich seine Ideen so miteinander verbinden, wie sich die Körper in der Kontingenz ihres zeitlichen Aufeinanderwirkens miteinander verbinden. Der Mensch weiß dann von äußeren Körpern aufgrund eines Eindrucks auf den eigenen Körper. Dieser Eindruck, zweifellos Ergebnis der Wirksamkeit eines äußeren Körpers, kann sich im eigenen Körper so verfestigen, daß jener Körper, auch wenn er nicht mehr wirkt, betrachtet wird, als ob er noch wirkte, also eine gegenwärtige Existenz hätte (II, prop. 17, coroll.). Und aufgrund dieser Verfestigung, die sich herausbildet in der Zufälligkeit der je eigenen Lebenserfahrung, werden auch künftig wirkende äußere Körper in einer perspektivischen Verzerrung wahrgenommen (II, prop. 18, schol.), so daß die Ideen, die wir von äußeren Körpern haben, mehr den Zustand unseres Körpers als die Natur äußerer Körper anzeigen (II, prop. 16, coroll. 2). Äußere Körper werden nicht in dem, was sie sind, erkannt, sondern in dem, wie sie zufälligerweise für den erkennenden Menschen sind. Die Idee, die der Form des Gegenstandes korrespondiert, ist dann nicht die Idee, die der in dieser Weise erkennende Mensch von dem Gegenstand hat. An-sich-sein und Für-einen-sein fallen auseinander. Der Erkennende hat bloße Bilder der Dinge (»rerum imagines«). Und von der Erkenntnisart des »imaginari« (II, prop. 17, schol.) sagt Spinoza, daß ihr die Ideen, die inadäquat sind, angehören (II, prop. 41, dem.). Seinen Körper in dessen Existenz, der in zeitlicher Erstreckung ist, erkennt der Mensch allein in der Weise des imaginari, um den als wirklich existierend er nur durch die Ideen der Affektionen 168  |  I. Ontologie und Subjektivität 

weiß, die der Körper durch andere Körper erleidet (II, prop. 19), nicht aber durch die Ideen dieser Körper selbst. Gegenüber den Affektionen, die der Mensch gerade erfährt, ist ein Körper aber etwas an sich selbst, nicht in dem Sinne, daß er nicht in Relation zu anderen Körpern und damit auch dem menschlichen steht, aber in dem Sinne, daß er in der Relation zu dem menschlichen Körper, sofern sie im Affizieren eine jeweils bestimmte ist, nicht aufgeht (»externum corpus individuum est, quod ad corpus humanum non refertur«, II, prop. 25, dem.). Der menschliche Körper kann nicht nur von vielen anderen als gerade diesem äußeren Körper affiziert werden, er kann auch von diesem einen Körper über die bestimmte Weise des Affiziertwerdens (»certo quodam modo affici«, II, prop. 27, dem.) hinaus auf viele andere Weisen (»multis aliis modis«, ebd.) affiziert werden. Diese Weisen bleiben von der Idee der Affektion des Körpers, die der Mensch faktisch hat, ausgeblendet, so daß er nur eine verstümmelte und partielle bzw. inadäquate Vorstellung des Gegenstandes hat. Wenn der Mensch den Körper nur über die Ideen der Affektionen des Körpers erfährt, dann ist demgegenüber die Idee des Körpers selbst in Gott, sofern dieser nicht nur den menschlichen Geist konstituiert. Und ebendeshalb ist diese Idee nichts für den Menschen, er erkennt den Körper nicht durch sie und damit erkennt er ihn nicht, wie er an sich ist. Sie konstituiert nicht den mensch­lichen Geist, weil sie nicht auf ihn in dessen faktischer Existenzweise restringiert ist. Sie hat den äußeren Körper so zum Gegenstand, daß sie die Weisen faktisch nicht erfahrenen, aber möglichen Affizierens mitumfaßt. Gegenüber der menschlichen Erfahrung ist sie ein indefinitum, das der Mensch nicht erfahren kann. Die Idee des Körpers selbst ist dabei die Idee eines Ganzen von Wirksamkeit im Geflecht der einander affizierenden Körper, die die Wirkungen, die der Mensch erfährt, überschreitet. Sie ist dem Menschen in dessen zeitlichen Erfahrungen zwar nicht gänzlich verschlossen, insofern er neuartige, seinen Horizont erweiternde Affektionen erfahren kann, aber gemäß der Unabschließbarkeit des Erfahrungsprozesses ist die Idee des Körpers selbst in Gott immer noch so, wie sie der Mensch nicht hat. In der Erweiterung bisher gemachter Erfahrungen wird der Mensch das Ganze möglicher Affektionen nie erfahren können. Was ihm in der Weise des imaginari möglich ist, ist ein Unendlicher Verstand und menschliches Erkennen  |  169

Mehr an internen Beziehungen der körperlichen Welt, in der der eigene Körper steht, herzustellen und darin Erfahrungen zu machen, die aufgrund dieses Mehr weniger verstümmelt sind.10 Die Ideen des dergestalt Erfahrenen sind dennoch inadäquat und bleiben es, da in ihnen der Mensch die Körper nicht in dem, was sie an ihnen selber sind, erfährt. Ideen der Affektionen des Körpers bleiben immer hinter dem zurück, was der Körper ist. Die Ideen dessen, wie unser Körper und überhaupt wie die Dinge außer uns in der Zeit wirken, sind grundsätzlich inadäquat (II, prop. 30 und 31).

5. Adäquates Erkennen

Die unendliche Idee, die in Gott ist, hat nicht das Ganze zeitlicher Veränderungen zum Gegenstand, sondern einen jeden Körper unabhängig von dessen Affektionen, die sich zeitlich ereignen, nämlich ihn als eine aus Gott folgende Essenz, deren Gefüge zu anderen Essenzen allein durch das Attribut bestimmt ist, von dem her alles einzelne nur Moment der sich gleichbleibenden facies totius universi ist. In dieser Weise kann der Mensch den Körper nicht zum Gegenstand haben, weil er dann selber unendlich wäre. Er ist aber, und das ist die Pointe der Theorie des menschlichen Verstandes als Teil des intellectus infinitus, sofern er Idee ist, auf das, was ihm Gegenstand ist, in einer Weise bezogen, wie auch der unendliche Verstand auf seine Gegenstände bezogen ist. Auch er als begrenzter Modus ist eine Essenz, die aus dem Attribut Denken folgt und als diese auf die aus dem Attribut Ausdehnung folgende Essenz des Körpers bezogen ist. Nur weiß der Mensch das nicht, sofern er sich selbst nur von den Ideen der Affektionen des Körpers her weiß. Der Sache nach ist jede Idee und damit auch die menschliche, unabhängig davon, ob sie inadäquat oder adäquat ist, wahr, weil sie mit ihrem Gegenstand übereinstimmt, was sich aus ihrem Bezug zu Gott ergibt (II, prop. 32). Nur gilt dieser Sachverhalt damit noch nicht für den menschlichen Geist, sofern er Idee ist, weil er um ihn nicht notwendigerweise weiß, und zwar genau dann nicht, wenn er 10 

Vgl. hierzu insbesondere C. De Deugd, The Significance of Spinoza’s First Kind of Knowledge, Assen 1966, 191 ff. 170  |  I. Ontologie und Subjektivität 

in der Weise des imaginari erkennt, bei der das, was an sich ist, so nicht für den Erkennenden ist.11. Ist der Mensch nun in seinem Erkennen immer auf Körperliches bezogen und erkennt er Körperliches nicht anders als über die Ideen der Affektionen des Körpers und ist zugleich diese Erkenntnis inadäquat, dann bleibt für die Möglichkeit der adäquaten Erkenntnis des Menschen nur, daß er den Status von Idee erkennt. Er hat sie nicht in der Faktizität des Repräsentierens zeitlicher Ereignisse zu erkennen, sondern sie in deren Bezug auf die Sache, welcher Bezug unabhängig von der spezifischen Verfassung des Menschen ist und dessen konkretem Erkennen immer schon zugrunde liegt. Diesen Sachverhalt unter die Bedingungen menschlichen Wissens zu bringen und darin ihn etwas für den Menschen sein zu lassen, heißt aber, ihn unter die Bedingungen zu bringen, unter denen der Mensch überhaupt nur erkennt; und er erkennt nur, sofern er die Idee eines wirklich existierenden Körpers ist. Der Status der Idee als eines Modus des Attributes Denken muß deshalb, weil er vom Menschen zu erkennen ist, auch an einer einzelnen Idee erkannt werden können, d. h. auch an der Idee einer Affektion des Körpers, sofern sie Idee ist. Dabei muß das Wissen einer solchen Idee von der Art sein, daß es die Idee nicht in der Relation zu anderen Ideen betrachtet gemäß dem Bezug des Körpers zu den ihn affizierenden Körpern. Denn diese Ideenrelation repräsentiert nur die Zufälligkeit dessen, was den menschlichen Körper affiziert. Ein Wissen um dieses Vorstellen ist (II, prop. 22) gerade nicht schon ein adäquates Wissen, weder von den Ideen noch von dem menschlichen Geist selber, der diese Ideen hat (II, prop. 29). Ist das Wissen um eine einzelne Idee inadäquat, sofern diese im Kontext mit vielen anderen Ideen steht, der vom Menschen nicht adäquat gewußt werden kann, dann ist das Wissen um ebendiese Idee unter der Bedingung adäquat, daß an ihr etwas gewußt wird, das in ihr nicht anders als in allen Ideen ist, etwas, das im Teil gleichermaßen wie im Ganzen ist (»aeque in parte ac in toto«, II, prop. 38). Gemeinsam ist den Ideen nur das, was generell Dingen gemeinsam ist, und das ist genau das, was sie zu Modi macht, d. h. das an den Dingen, was aus der göttlichen Substanz folgt, also ein 11 

Vgl. M. Gueroult, Spinoza II, a. a. O, 239 ff. Unendlicher Verstand und menschliches Erkennen  |  171

Ewiges in ihnen. Adäquate Erkenntnis ist deshalb die Erkenntnis der Dinge sub specie aeternitatis, unter dem Aspekt dessen, was in ihnen aus Gott ist und was darin keinen Bezug zur Zeit hat. Eine solche Erkenntnis ist ohne Frage dem unendlichen Verstand eigentümlich, der die Ideen der Dinge, wie sie an sich sind, hat. Soll diese Erkenntnis aber dem menschlichen Verstand angehören, dann muß er diese Ideen haben, weil anders es nicht seine Erkenntnis wäre, und der menschliche Verstand ist einem Geist, der konkret in der Zeit existiert, zueigen, nicht einem Wesen, das zeitlos wäre. Weil der Mensch nun überhaupt nur Ideen hat, wenn er zugleich weiß, daß er sie hat, weil anders er sie nicht haben würde, kann er auch adäquate Ideen, selbstverständlich, nur haben, wenn er sich weiß, d. h. aber sich als ein konkretes Individuum, das zeitlich existiert. Wäre die adäquate Erkenntnis nur die Erkenntnis dessen, was allen Dingen gemeinsam ist und darin eine solche, die nichts einzelnes begreift – so beschaffen ist sie, sofern sie in der ratio gründet, die auf die notiones communes geht (II, prop. 40, schol. 2) –, würde sie die individuelle Selbsterkenntnis nicht einschließen.12 Dann wäre aber ungeklärt, wie der einzelne Mensch eine adäquate Erkenntnis haben könnte. Die Begriffe der ratio sind solche, »die das erklären, was allen Dingen gemeinsam ist, und die nicht das Wesen irgendeines Einzeldinges erklären und die deswegen ohne die mindeste Beziehung auf die Zeit unter einem bestimmten Aspekt der Ewigkeit begriffen werden müssen« (II, prop. 44, coroll. 2, dem). Sie begreifen nicht die Essenz eines einzelnen und sind deshalb (propterea) ohne jeden Bezug auf die Zeit. Es ist ersichtlich, daß es die unendlichen Modi sind, die aus der Natur Gottes folgen und die darin ein Gemeinsames aller endlichen Modi sind, die in ihrer Einzelheit lediglich Momente der facies totius universi, des vermittelten unendlichen Modus, sind. Diese Form von Gemeinsamkeit wird von Spinoza erläutert an der körperlichen Welt. Körper partizipieren an dem unmittelbaren unendlichen Modus des Attributs Ausdehnung, nämlich Ruhe und Bewegung, und stimmen hinsichtlich dieser Bestimmung miteinander überein. Aus diesem Sachverhalt folgert 12  Vgl.

H. De Dijn, Wisdom and Theoretical Knowledge, in: E. Curley / P.-F. Moreau (Hg.), Spinoza. Issues and Directions, Leiden 1990, 147–156. 172  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Spinoza dann, ganz analog zu seinem Verfahren bei der Erörterung der Ideen wirklich existierender Körper, daß es Ideen gibt, nämlich von diesen gemeinsamen Bestimmungen der körperlichen Welt, die allen Menschen gemeinsam sind (II, prop. 38, coroll.) und die darin nicht nur Ausdruck der je individuellen Erfahrung der Affektionen von Körpern sind. Aber das ist eine bloße Konsequenz des Paralle­ lismus der Modi, die – entgegen Spinozas Folgerung in diesem Corollarium – nicht schon die Folgerung zu ziehen erlaubt, daß der Mensch auch eine adäquate Erkenntnis dieses Gemeinsamen hat, daß die Ideen des Gemeinsamen auch etwas für ihn sind. Daß das, was gleichermaßen im Teil wie im Ganzen ist, sich nur adäquat begreifen läßt (Inhalt des Lehrsatzes 38), enthält noch nicht, inwiefern der Mensch zu dieser Erkenntnis befähigt ist. Zwar ist darin gelegen, worauf der Beweis des Lehrsatzes abhebt, daß die Erkenntnis des Gemeinsamen dem singulären menschlichen Verstand deshalb zukommt, weil es sich nicht um eine Totalitäts­erkenntnis handelt, sondern um die Erkenntnis eines Gemeinsamen in einem bloßen Teil. Doch ist der Teil, unter den Aspekt einer aus dem Attribut folgenden Gemeinsamkeit gebracht, bar jeder Konkretion und damit kein Singuläres, so daß die ihm korrespondierende Idee nicht die Idee eines Singulären ist. Sie ist lediglich ein Allgemeines im menschlichen Geist, von dem ungeklärt bleibt, wie es etwas für den konkret erkennenden Menschen sein kann. Von den strukturellen Bedingungen, unter denen die Korrespondenz von Idee und Ding steht, die sich aus der Essentialität Gottes herleiten, sind die Bedingungen zu unterscheiden, unter denen das zeitlich existierende Wesen Mensch von dieser Korrespondenz wissen kann. Gewiß gilt, daß alles, was für den Menschen ist, ein Ansich ist, weil alles Für-ihn-sein, d. h. alles Wissen, unter Bedingungen eines Ansichseins steht, nämlich dessen, was Gott produziert. Das Konzept des menschlichen Geistes als eines Teils des unendlichen Verstandes bringt dies zum Ausdruck. Doch führen die kontingenten Bedingungen der faktischen Ausstattung des menschlichen Geistes dazu, daß der Mensch das Ansich, wenn er entsprechend dieser Kontingenz erkennt, nur in perspektivischer Trübung erkennt, also partiell bzw. inadäquat. Adäquates Erkennen besteht gewiß nicht in einer Verbesserung dieser Perspektive, sondern in einem andersartigen Bezug auf die Dinge, der deren Ansich Unendlicher Verstand und menschliches Erkennen  |  173

auch erfaßt. Ebendeshalb ist es kein ontologischer Bezug, der jeder Idee aus der Perspektive Gottes eigen ist, sondern ein vom Menschen herzustellender Bezug, in dem er das, was an sich ist, auch weiß. Der Mensch ist in seinem Erkennen auf das Ansich bezogen, dergestalt, daß er es auch als ein solches weiß, wenn er es in dem weiß, woraus es sein Ansich hat, wenn er es also aus seiner Ursache erkennt, die er hierfür selber erkennen muß. Deshalb ist auch die Erkenntnis dessen, was allen Dingen gemeinsam ist und darin gleichermaßen im Teil wie im Ganzen ist, eine Erkenntnis des Menschen erst dann, wenn er das Gemeinsame aus dessen Ursache erkannt hat, also dann, wenn er die Ursache selber erkannt hat. Das heißt, die rationale Erkenntnis der notiones communes hat die Gotteserkenntnis zur Voraussetzung, die Spinoza als intuitive Erkenntnis bestimmt.13 Denn nur unter dieser Voraussetzung ist ein Gemeinsames der Körperwelt auch etwas für den Erkennenden, und das ist etwas anderes als zu sagen, daß dem Gemeinsamen im Feld der Ideen ein Gemeinsames korrespondiert. Dieses Gemeinsame kann dem Korrespondenztheorem zufolge nur der unendliche Modus des Attributs Denken sein, also der unendliche Verstand, der in jeder einzelnen Idee nicht anders als in allen anderen insofern ist, als er sie Dinge eines anderen Attributs objektivieren läßt. Doch wird damit gerade nicht erklärt, wie das Gemeinsame auch für eine einzelne Idee ist, deshalb nämlich nicht, weil ein einzelnes sich als einzelnes nicht von diesem Gemeinsamen her begreifen kann. Wie kein Allgemeines ein einzelnes verursacht, verursacht auch der unendliche Verstand nicht den endlichen. Von ihm nicht verursacht, kann der menschliche Geist sich auch nicht aus ihm adäquat begreifen.

6. Gotteserkenntnis als menschliche Erkenntnis

Hat der menschliche Verstand nur unter der Bedingung, daß er Teil des unendlichen Verstandes ist, überhaupt Erkenntnisse von Gegenständen, so hat er eine adäquate Erkenntnis nur, wenn er die 13 

Vgl. G. Floistad, Spinoza’s Theory of Knowledge, in: S. P. Kashap (Hg.), Studies in Spinoza, Berkeley 1972, 249–275. 174  |  I. Ontologie und Subjektivität 

Ideen der Gegenstände als seine weiß und damit, wenn er sich adäquat weiß. Ein solches Wissen kann allein das intuitive Wissen sein, weil allein es, im Unterschied zur Erkenntnisweise der ratio, auf die Essenz eines Einzeldinges gerichtet ist und darin ein Singuläres aus der Natur Gottes erkennt. Und der Mensch, der erkennt, ist ein singuläres Wesen, das überhaupt nur als dieses erkennen kann. Wenn die Wirklichkeit eines Singulären aber dadurch gekennzeichnet ist, in der Zeit zu existieren und nicht nur eine reine Essenz zu sein, dann kann die Selbsterkenntnis des Menschen nur eine solche sein, die unter den Bedingungen der Zeitlichkeit erfolgt. Die höchste Erkenntnis, die der Mensch hat, ist nicht eine solche, in der der Mensch seine Endlichkeit zurückließe und er sich zu einem unendlichen Verstand gesteigert hätte. Die Theorie der intuitiven Erkenntnis rekurriert überhaupt nicht auf eine Verhältnisbestimmung von endlichem und unendlichem Verstand, sondern darauf, daß in beiden, dem unendlichen wie dem menschlichen endlichen, Gott gleichermaßen ist, oder, wie es Spinoza in dem Brief an Oldenburg formuliert hat, beiden dieselbe potentia cogitandi zukommt, die sie von Gott, der essentiell potentia ist, haben. Deshalb wird die Theorie der scientia intuitiva allein im Rekurs auf den endlichen Verstand entfaltet. Sie macht dabei von einer anthropologischen Voraussetzung Gebrauch, die erst recht ganz unabhängig von der Theorie des intellectus infinitus ist. Darauf ist Spinoza in II, prop. 29, schol. eingegangen, wo die Theorie inadäquaten Erkennens zum Abschluß gebracht wird, in einer Anmerkung, weil er sich hier auf einen nicht deduzierbaren Tatbestand beruft, der den Menschen auszeichnet. Es ist die Fähigkeit des Menschen, zu der Unmittelbarkeit seiner Eindrücke eine Distanz haben zu können, die sich nicht bloß in Form von erfahrungs­ bedingten Assoziationen und Gewöhnungen, die das Wahrnehmen dann leiten, zufälligerweise herausbildet. Es ist eine bestimmte Weise der Reflexion, deren der Mensch fähig ist und die Spinoza als ein Bestimmt-sein von innen (interne determinatur) faßt, an das er das klare und deutliche Erkennen des Menschen bindet und das er gegen das Bestimmtsein von außen (externe determinatur) kehrt, das dem Erkennen via imaginationis eigen ist. Von innen ist der Mensch bestimmt, wenn er mehrere Dinge zugleich betrachtet (»res plures simul comtemplatur«) und zwar auf Gemeinsamkeit Unendlicher Verstand und menschliches Erkennen  |  175

und Unterschied hin, d. h. auf Reflexionsbestimmungen hin, die nicht das Resultat von Ideenassoziationen sind, sondern eine von dieser Ideenverknüpfung unterschiedene Tätigkeit des Menschen voraussetzen. Der Mensch hat nicht nur aufgrund seiner besonderen Beschaffenheit mehr Ideen als andere Wesen, deren Körper weniger komplex ist. Er hat vielmehr, im Unterschied zu allen anderen Wesen, diese Ideen in einer besonderen Weise14 , die es ihm ermöglicht, sie miteinander zu vergleichen. Dieses nicht weiter erklärbare anthropologische Faktum könnte aus sich heraus allerdings nicht schon eine adäquate Erkenntnis ermöglichen, wenn es nicht im einzelnen und damit auch in der einzelnen Idee etwas gäbe, das in ihm gleichermaßen ist wie im Ganzen, auf das hin die Vielfalt der Ideen sich betrachten läßt. Aber auch umgekehrt könnte dieser ontologische Sachverhalt von sich aus nicht schon eine adäquate menschliche Erkenntnis ermöglichen, wenn es nicht eine spezifische Tätigkeit des Menschen gäbe, die die Gemeinsamkeit in den Dingen, die unabhängig von ihm ist, auch erkennt. Bedingt sich beides wechselseitig, dann muß die Möglichkeit adäquaten menschlichen Erkennens zwei Grundvoraussetzungen erfüllen: daß erstens Gott in den Ideen des zeitlich existierenden Menschen ist und daß zweitens der dergestalt existierende Mensch über diese Ideen Gott erkennt. Die Theorie der intuitiven Erkenntnis stützt sich auf diese beiden Momente: daß Gott in jeder einzelnen Idee ist, natürlich nicht nur in denen des Menschen, sondern in allen endlichen, daß aber allein der Mensch diesen Sachverhalt auch erkennen kann. Gott ist in der Idee eines wirklich existierenden Einzeldinges (»unaquaeque cuiuscunque corporis, vel rei singularis actu existentis, idea Dei aeternam et infinitam essentiam necessario involvit«, II, prop. 45), also auch in der Idee, die konstitutiv für den menschlichen Geist ist, dem Gegenstand des 2. Teils der Ethica, in dem das Erkennen des zeitlich existierenden Menschen thematisch ist. Die Lehrsätze 45–47 des 2. Teils der Ethica machen deutlich, daß die intuitive Erkenntnis in diesem Feld ihren Ort hat.15 Weit davon entfernt, 14  Vgl.

E. E. Harris, The Body-Mind Relation, in: J. B. Wilbur (Hg.), Spinoza’s Metaphysics, Assen 1976, 13–28. 15  Vgl. Martial Gueroult, Spinoza II, a. a. O., 416 ff. 176  |  I. Ontologie und Subjektivität 

mit dem Erkennen in der Zeit unverträglich zu sein, wird diese Erkenntnis gerade dem solchermaßen erkennenden Menschen zugesprochen. Der menschliche Geist hat, so heißt es lapidar in Lehrsatz 47, eine adäquate Erkenntnis der ewigen und unendlichen Essenz Gottes, weil, und allein darauf stützt sich der Beweis dieses Lehrsatzes, der Mensch Ideen hat, kraft derer er sich, seinen Körper und äußere Körper als wirklich existierend (ut actu existentia) perzipiert, bewiesen also im ausdrücklichen Verweis auf die Lehrsätze, die inadäquates Perzipieren vorstellig machen. Nun ist sicher die Formulierung des Lehrsatzes 47 problematisch und erläuterungsbedürftig, daß derjenige, der inadäquate Erkenntnisse hat, ebendamit eine adäquate Erkenntnis hat, wenn auch von verschiedenen Gegenständen, inadäquat von den zeitlich existierenden Dingen, adäquat von Gott. Denn wie dasjenige, das auch schon dem inadäquaten Erkennen zugrunde liegt, etwas für den Erkennenden werden kann, dieses also nicht nur im Erkennenden ist, sondern er von ihm eine Erkenntnis hat, ist gerade das schwierig zu lösende Problem. Es wird von Spinoza auch nicht im 2. Teil der Ethica gelöst, sondern erst im 5. Teil, und darauf möchte ich hier nicht mehr eingehen.16 Es ist aber deutlich, daß die intuitive Erkenntnis eine Möglichkeit des zeitlich existierenden Menschen ist und ein Spezifikum endlichen Erkennens darstellt, bei der der Mensch nicht in die Unendlichkeit Gottes versinkt. Gerade umgekehrt darf der Mensch sich hierbei nicht von dem unendlichen Verstand her verstehen, der nichts Singuläres in der Zeit erkennt. Er muß sich von dem göttlichen Attribut Cogitatio her verstehen, das im einzelnen gerade nicht ist, sofern es einen unendlichen Verstand produziert. Die höchste dem Menschen mögliche Erkenntnis, in der er Gott und sich selbst in einem Akt (»actio […] qua mens se ipsam contemplatur concomitante idea Dei tanquam causa«, V, prop. 36, dem.) adäquat weiß, ist eine Erkenntnis des endlichen Verstandes. Es ist die Idee Gottes, die er hat, nicht eine solche, die er ist. Der 5. Teil der Ethica, der von der libertas humana handelt, handelt ebendeshalb von der Macht eines endlichen Verstandes, nicht von der eines unendlichen Verstandes. 16 

Vgl. mittlerweile meine Abhandlung »Spinozas Theorie des Menschen«, Hamburg, 1992, Kap. 7 und 8. Unendlicher Verstand und menschliches Erkennen  |  177

II.  ETHIK UND POLITIK

Theorie und Praxis in Spinozas Ethik und Politik I.

Spinozas Hauptwerk, die Ethica, ist eine eminent theoretische Angelegenheit, und der Titel, unter dem Spinoza es hat veröffentlichen lassen, signalisiert, daß es sich hierbei zugleich um eine eminent praktische Angelegenheit handelt. Die enge Verknüpfung von theoretischer Einsicht und menschlicher Praxis ist ein der Philosophie Spinozas eigentümliches Merkmal: Menschliches Handeln erfüllt sich in einem Akt adäquaten Erkennens, in dem es seine höchste Form erlangt. Bedeutung und Reichweite dieses Zusammenhangs möchte ich zunächst entfalten. Ihn verdeutlicht prägnant die Definition menschlichen Handelns: »Ich sage, daß wir dann handeln, wenn irgendetwas in uns oder außerhalb von uns geschieht, dessen adäquate Ursache wir sind, d. h. […] wenn aus unserer Natur etwas in uns oder außerhalb von uns folgt, das durch sie allein klar und deutlich begriffen werden kann« (E III, def. 2). Dieselbe Definition hat, in der Abhebung davon, auch das menschliche Leiden zum Gegenstand, das dadurch definiert ist, die genannte Bedingung nicht zu erfüllen. Es ist dadurch gekennzeichnet, daß wir in ihm nicht die adäquate Ursache dessen sind, was aus unserer Natur folgt, sondern nur dessen Teilursache (causa partialis). Insofern wir auch hier immer noch Ursache sind, handeln wir auch hier; aber dies ist ein Handeln in einem allgemein gehaltenen Sinn, der Ausdruck dessen ist, daß Handeln (agere) eine universelle ontologische Bestimmung ist, die jedem Seienden zukommt, weil jedes Seiende wesentlich Macht (potentia) ist und darin eine Form von Aktivität. Der letzte Lehrsatz der Ontologie des 1. Teils der Ethica hat diese Konsequenz im Hinblick auf die einzelnen Dinge aus der Strukturanalyse Gottes gezogen. Diese Analyse hat die Essenz Gottes als immanente Kausalität (E I, prop. 18) bestimmt, d. h. als eine potentia, die sich in den Dingen erfüllt und die deshalb jedes Ding selber essentiell potentia sein läßt. Jedes Ding ist potentia, aus   |  181

der zugleich irgendetwas folgt, weil potentia nichts anderes als eine sich äußernde Tätigkeit ist: »Es existiert nichts, aus dessen Natur [d. h. aus dessen Essenz, die potentia ist] nicht irgendeine Wirkung folgt« (E I, prop. 36). Der Lehrsatz nimmt vorweg, was das Sein eines einzelnen Dinges konstituiert, d. h. in welcher Form sich dessen Macht artikuliert. Seine potentia, so wird Spinoza zeigen, ist von der Gestalt eines Strebens (conatus), ausdrücklich gemacht in Lehrsatz 7 des 3. Teils, jenes Teils also, dem die Definition von Handeln und Leiden vorangestellt wird. Als conatus ist ein singuläres Ding immer schon Ursache von Wirkungen und zwar solcher Wirkungen, die im Dienst der eigenen Natur stehen, die ein jedes Ding zu erhalten trachtet (E III, prop. 6). Freilich ist es dabei gegen etwas gerichtet, das ihm äußerlich ist und das in dieser Gegensätzlichkeit dasjenige, das aus der Natur eines Dinges folgt, mitbestimmt. Genau dann ist ein Ding aber bloß Teil­ursache von Ereignissen, die nicht aus der eigenen Natur allein folgen, von denen es vielmehr in einer Weise affiziert wird, daß es weitgehend fremdbestimmt ist. Sein Handeln artikuliert sich dann in Form eines Leidens (pati), dessen spezifische Weise, bezogen auf den Menschen, im Hinblick auf den Handeln und Leiden definiert werden, Spinoza in einer großangelegten Theorie menschlicher Affektivität entfaltet. Basis dieser Theorie ist der conatus des Menschen als conatus des Geistes (mens humana), aus dem Spinoza die unterschiedlichen Formen menschlichen Agierens herleitet. In der Regel tritt der conatus in Gestalt eines conatus imaginandi auf, in der der Mensch nicht nur das erstrebt, was er sich vorstellt, sondern in der er danach strebt, solches sich vorzustellen, das der eigenen Erhaltung dienlich ist: »Mens, quantum potest, ea imaginari conatur, quae corporus agendi potentiam augent, vel juvant« (E III. prop. 12). Ist das Streben dergestalt auf das Vorstellen (imagi­ nari) gerichtet, dann wird der Mensch in ihm dasjenige erstreben, von dem er bloß meint, daß es der Selbsterhaltung dienlich ist. Und in dieser durch das eigene Selbstverständnis geprägten Perspektive nimmt sein Handeln die Form eines Leidens an, in dem die von ihm strebend bewirkten Ereignisse nicht aus seiner eigenen Natur folgen. Sie folgen nicht aus ihr, weil der Mensch, dem bloßen imaginari ausgesetzt, seine eigene Natur nicht begriffen hat. 182  |  II.  Ethik und Politik 

Ist der Mensch wie jedes Seiende wesentlich Handeln, weil er wesentlich potentia ist, was eine aus der Strukturanalyse Gottes resultierende ontologische Bestimmung ist, so folgt aus diesem Tatbestand allein allerdings nicht jene Differenzierung dieses allgemeinen Begriffs von Handeln in die Formen eines Handelns im strengen Sinne und eines von dieser Form abgehobenen Leidens, die Spinoza in E III, def. 2 vornimmt. Dort charakterisiert er den generellen Begriff von Ursache (causa), der die Basis von Handeln ist, durch ein Element, das nicht der Ontologie angehört, sondern der Gnoseologie, nämlich durch das in dem der Gnoseologie gewidmeten 2. Teil der Ethica entwickelte Moment der Adäquatheit bzw. Inadäquatheit. Adäquatheit ist Merkmal einer Idee (vgl. E II, def. 4), und zwar einer Idee, nicht sofern sie ein Ding ist, was sie Spinozas Ontologie zufolge auch ist (nämlich als Produkt des göttlichen Attributs Cogitatio), sondern sofern sie über interne Merkmale verfügt, die erkannt werden, anders gewendet, sofern sie ein Begriff (conceptus) ist. Es ist der Geist, der ihn bildet (format), und deshalb ist er ein Begriff des Geistes (vgl. E II, def. 3). Spinoza bindet also das Handeln im strengen Sinne daran, daß das Subjekt von Ereignissen die adäquate Ursache dieser Ereignisse ist, und das dazu im Gegensatz stehende Leiden daran, daß das Subjekt, das bloße Teilursache ist, deren inadäquate Ursache ist (vgl. E III, def. 1). Adäquat ist diejenige Ursache, deren Wirkung durch diese Ursache klar und deutlich erfaßt werden (percipi) kann, und inadäquat diejenige, für die dies nicht gilt. Der Mensch ist demnach adäquate Ursache von Ereignissen, wenn er sich, d. h. seine eigene Natur, klar und deutlich begreift. Wenn aus seiner Natur auch immer schon etwas folgt, so folgt es damit doch nicht auch schon aus ihr allein, sondern erst dann, so die These Spinozas, wenn der Mensch die eigene Natur adäquat begriffen hat. Das heißt nun für Spinoza mitnichten, daß aus der als conatus imaginandi sich artikulierenden menschlichen Natur, aus der die den Menschen betreffenden Ereignisse allein nicht folgen, diese Ereignisse dann folgen, wenn der Mensch diese Natur adäquat begriffen hätte. Aus der menschlichen Natur allein folgen Ereignisse vielmehr dann, wenn sie als adäquates Erkennen begriffen ist und der Mensch infolgedessen nichts anderes begehrt als adäquat zu erkennen (intelligere; vgl. E IV, prop. 26), wenn der conatus imagi­nandi Theorie und Praxis in Spinozas Ethik und Politik  |  183

sich also in einen conatus intelligendi transformiert hat. Auch die adäquate Erkenntnis des imaginativ geleiteten Begehrens, die zu einer Theorie des affektiven Lebens führt, wie sie Spinoza im 3. Teil der Ethica gibt, hat eine dieses Begehren nicht nur beschreibende, sondern es verändernde Bedeutung nur, wenn derjenige, der die Theorie gibt, also das je einzelne Subjekt, sich selbst von dieser Form des Erkennens her versteht und darin die eigene Natur als eine Tätigkeit begreift, die nichts als adäquates Erkennen ist. In der Formulierung »adäquate Ursache«, die als Kriterium für Handeln im strengen Sinne auftritt, sind Ontologie und Gnoseologie so miteinander verschränkt, daß der Akt menschlicher Einsicht eine ihm selbst innewohnende Kraft der Hervorbringung von Wirkungen genau dann hat, wenn er vom Menschen so verinnerlicht ist, daß er dessen Sein konstituiert. Im Verlauf der Ethica zeigt Spinoza1, inwiefern der Mensch jenes Kriterium zu erfüllen vermag, ausgehend von der Grundverfassung des Menschen, conatus zu sein und darin wie jedes Seiende ein tätiges Wesen zu sein. Er zeigt, wie diese Tätigkeit über die dem Menschen eigenen mentalen Leistungen, die der 2. Teil der Ethica zuvor entwickelt hat, geformt und ausgestaltet wird bis hin zu der Form intuitiven Erkennens (scientia intuitiva), in der der Mensch die göttliche Substanz als die Ursache seines eigenen conatus begreift, in deren Erkenntnis er durch nichts ihm Äußeres bestimmt ist. In der intuitiven Erkenntnis ist das als conatus definierte Agieren eines Individuums zu einem reinen Erkennen geworden und dieses als die höchste Form von Tätigkeit erwiesen, in der der Mensch aus sich heraus agiert und deshalb nur solches bewirkt, das aus der eigenen Natur folgt. Es sind Ereignisse, die zugleich adäquat erkannt sind und die Spinoza ewig nennt, weil sie aus der ewigen Natur Gottes folgen und in dieser Gestalt auch dem menschlichen Geist präsent sind. Mit der intuitiven Erkenntnis ist auch jene Form des adäquaten Wissens überstiegen, das als Erkenntnis von Allgemeinem dem als ratio charakterisierten Erkennen eigen ist. In praktischer Hinsicht besteht die Schwäche dieser Erkenntnisart darin, etwas adäquat zu 1 

Cf. hierzu ausführlich Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, Hamburg 1992. 184  |  II.  Ethik und Politik 

erkennen, das den individuellen Vollzug des conatus nicht hinreichend bestimmt. Gestützt auf sie, bewegt sich der Mensch in einer Perspektive, die von derjenigen, in der er seinem conatus folgt, noch verschieden ist. Das vergleichende Aneinanderhalten dieser beiden Perspektiven ist ein rein theoretischer Akt, der dazu dient, dasjenige, was ein Individuum in seinem conatus befolgt, hinsichtlich dessen, inwieweit ein dergestalt Begehrtes dem Individuum in dessen Sein tatsächlich dienlich ist, zu beurteilen.2 Wird mit diesem Beurteilen ein handlungsanweisendes Moment verbunden, wird es notwendigerweise teleologisch, insofern es dem Individuum vorschreibt, sich an etwas auszurichten, das erlangt werden soll. Weil es darin in Widerstreit zur Grundverfassung des individuellen co­ natus steht, wird es in seiner handlungsbestimmenden Kraft auch schwach sein. Ein individuelles Begehren läßt sich nur durch eine stärkere Form des Begehrens niederhalten oder modifizieren, die dann stärker ist, wenn das Individuum durch das Begehrte stärker betroffen ist. Und das kann nicht der Fall sein, wenn das Begehrte ein Ziel ist, das dem Begehrenden, weil es erst zu erreichen ist, trans­zendent ist. Nicht nur muß dem Begehrenden, soll ein erkanntes Ziel eine Motivationskraft für ihn haben, eine dementsprechende Form des Erkennens selber zugesprochen werden, sondern er muß darüber hinaus durch diese Form des Erkennens in seinem individuellen Begehren auch emotional betroffen sein, weil anders sie eine sein Handeln bestimmende Kraft nicht haben kann. Mit der intuitiven Erkenntnis meint Spinoza, auch diesem zweiten Erfordernis Genüge getan zu haben. Ihr Gegenstand ist, anders als bei der Erkenntnis im Medium der ratio, nicht mehr ein Allgemeines, das, weil es nicht Ursache eines Einzelnen ist, dem Einzelnen auch äußerlich bleiben muß, sondern dasjenige, das Ursache von Einzelnem ist, nämlich die göttliche Substanz, die gemäß der immanenten Kausalität keine dem Einzelnen äußere Ursache ist. Und mit dieser Erkenntnisart ist über den Affekt der Liebe ein emotionales Betroffensein des Menschen verbunden, das stärker ist als alles andere affektive Begehren. Es ist stärker, weil das damit verbundene 2 

Cf. Bartuschat, Die Theorie des Guten im 4. Teil der »Ethica« [in diesem Band, S. 203 – 219]. Theorie und Praxis in Spinozas Ethik und Politik  |  185

Begehren sich auf die wahre Ursache der Steigerung der menschlichen potentia agendi richtet, die auch in der Perspektive des dergestalt Begehrenden tatsächlich eine solche Ursache ist. Denn insofern diese Ursache adäquat erkannt wird, wird sie zugleich als Ursache einer Steigerung der menschlichen potentia agendi erfahren, die der Mensch als eine potentia intelligendi ­erfährt (amor intellectualis Dei). II.

Es ist deutlich, daß diese an eine bestimmte Form des Erkennens gebundene menschliche Praxis etwas ist, das den meisten Menschen verschlossen bleibt. Andererseits ist es eine Konsequenz der Ontologie Spinozas, daß es sich hier nicht um eine privilegierte Position dieses oder jenes Menschen handelt, mag es auch eine Position sein, die »selten« ist, weil sie zu realisieren äußerst schwierig ist (vgl. E V, prop. 42, schol.). Denn Basis dieser Theorie ist der im 1. Teil der Ethica exponierte Begriff der göttlichen Substanz, die, rücksichtslos auf die besondere Verfassung von einzelnem Seienden, eine produktive Kausalität in bezug auf alles, was überhaupt ist, ist und die deshalb als causa immanans gleichermaßen in jedem Einzelnen ist. In E IV, prop. 36, einem Lehrsatz, der im Zusammenhang der Erörterung einer Theorie der Bedingungen intersubjektiver Übereinstimmung der Menschen steht, heißt es: »Das höchste Gut derer, die den Weg der Tugend gehen, ist allen gemeinsam (omnibus commune), und alle können sich seiner gleichermaßen (aeque) erfreuen«. Was tugendhaftes Handeln ist, hat Spinoza zuvor dargetan. Es ist ein so unter der Leitung der Vernunft stehendes Handeln, daß es das, was Vernunft auszeichnet, selber zum Gegenstand hat und deshalb nichts anderes erstrebt als zu erkennen, so daß das höchste Gut im Erkennen selber besteht und nicht in etwas davon noch Verschiedenem, das zu erreichen das Erkennen nur ein taugliches Mittel wäre. In der Anmerkung zu diesem Lehrsatz setzt sich Spinoza mit einem möglichen Einwand auseinander, der in Frage stellen könnte, daß ein so verstandenes höchstes Gut ein den Menschen Gemeinsames ist. Ihm stellt Spinoza zwei Gesichtspunkte gegenüber, die für seine eigene Theorie fundamental sind. 1. Daß das so verstandene höchste Gut allen 186  |  II.  Ethik und Politik 

Menschen gemeinsam ist, sei nicht eine zufällige Angelegenheit, sondern eine essentielle, nämlich eine Konsequenz der Essenz des Menschen, sofern diese durch Vernunft definiert ist (»ex ipsa humana essentia, quatenus ratione definitur, deducitur«). 2. Zur Essenz des menschlichen Geistes gehöre es, eine adäquate Erkenntnis der ewigen und unendlichen Essenz Gottes zu haben (»pertinet … ad mentis humanae essentiam, adaequatam habere cognitionem aeternae et infinitae essentiae Dei«). Gleichwohl, beide Momente stehen unter einer einschränkenden Bedingung, die Spinoza hier zu vernachlässigen scheint. 1. Die Essenz des Menschen ist, wie die jedes Seienden, sein conatus, und dieser ist nicht notwendigerweise Vernunft; bei nichthumanen Seienden ist er es ohnehin nicht, bei Menschen gilt lediglich, daß er es sein kann. 2. Für die These, daß es zur Natur des menschlichen Geistes gehört, die Essenz Gottes zu erkennen, bezieht sich Spinoza auf E II, prop. 47, wo er aus dem Tatbestand, daß jede Idee, welche auch immer, Gottes Essenz einschließt, nämlich als ihre Ursache, geschlossen hat, daß ebendeshalb Gottes Essenz allen bekannt ist (notus, E II, prop. 47, schol.), all denen nämlich, die überhaupt Ideen haben. Doch schließt dies gerade nicht ein, daß ebendeshalb ein jeder Gottes Essenz auch erkennt, sondern nur dies, daß er die Möglichkeit dazu hat. Diese Möglichkeit basiert auf der Wirklichkeit Gottes, für den es nichts Mögliches gibt; für den Menschen erweist sie sich als etwas Wirkliches aber nur, sofern er sie realisiert. Und diese Realisierung steht unter Bedingungen, die durch die Präsenz Gottes in jeder Idee allein nicht schon gegeben sind; sie haben ein Selbstverständnis des Menschen zur Voraussetzung, das sich gegen ein anderes Selbstverständnis, bei dem er sich von der Kontingenz der zeitlichen Affektionen, die er erleidet, leiten läßt, zur Geltung bringen muß, was zu tun äußerst schwierig ist und deshalb nur selten geschieht, also nur wenigen Menschen gelingt, denjenigen, die ihr Leben aus der Kraft der Einsicht gestalten. Zwar können diese, und mit ihnen Spinoza, behaupten, daß sie etwas für sich reklamieren, das prinzipiell keinem Menschen verschlossen ist, aber sie können nur behaupten, daß, wenn ein solches Leben verfolgt wird, dieser Verfolg ein den Menschen Gemeinsames und deshalb sie Verbindendes ist. Denn das Gemeinsame, das sie aus der Natur Gottes schon haben, ist nicht etwas, worin sie übereinTheorie und Praxis in Spinozas Ethik und Politik  |  187

stimmen, weil Übereinstimmung (vgl. E IV, prop. 32, schol.) ein positives Merkmal ist, das sich auf etwas stützen muß, das jedem Individuum selber zukommt.3 Und das ist allein dessen Macht (po­ tentia), deren Ausgestaltung von der je spezifischen Perspektive abhängig ist, die ein Individuum einnimmt, und damit von der je spezifischen Gestalt seines conatus. Auf dieser Basis kommen die Individuen solange zu keiner Gemeinsamkeit, als der Vollzug des conatus nicht durch vernünftige Einsicht bestimmt ist. Erst wenn das der Fall ist, also unter der Bedingung eines tatsächlich auszuübenden Aktes, haben die Menschen ein sie verbindendes Gemeinsames. Spinoza läßt keinen Zweifel daran, daß das Unterworfensein unter die Affekte es ist, das die Menschen nicht übereinstimmen läßt (vgl. E IV, prop. 32). In bezug darauf nennt er die Bedingung, unter der allein (tantum) eine Übereinstimmung der Menschen möglich ist, daß sie nämlich ein Leben aus Vernunft führen (E IV, prop. 35). Aber gerade in bezug darauf ist das Wissen um diese Bedingung nichts als eine theoretische Erwägung, die lediglich die Kriterien für Übereinstimmung nennt und darin falsche Ansprüche und Erwartungen als sachlich irrelevant zurückzuweisen vermag. Sie hat als solche keine eine Gemeinsamkeit der Menschen stiftende praktische Relevanz: in bezug auf diejenigen, deren conatus nicht vernunftbestimmt ist, müßte sie, will sie praktisch bedeutsam sein, als eine Vorschrift auftreten, als ein dictamen rationis. In der Orientierung an ihr erfüllt sich das, was menschliches Handeln im strengen Sinne auszeichnet, aber gerade nicht. Was denen, die sich unter eine solche Vorschrift stellen, verbleibt, ist, Spinoza sagt es am Ende seiner thesenhaften Auflistung der dictamina rationis (E IV, prop. 18, schol.), daß sie nichts Hervorragenderes »wünschen« (optare) können, als daß »alle in allem« (omnes in omnibus) so übereinstimmen, daß die Geister und Körper aller »gleichsam« (quasi) einen Geist und einen Körper bilden (componant). Es ist ein bloßes Wünschen4 im Medium der imaginatio, das auf eine ÜberBartuschat, Metaphysik und Ethik in Spinozas Ethica [in diesem Band, S. 31 – 52] 4  Es ist nicht Spinozas eigene Theorie, wie K. Lorenz, Einführung in die philosophische Anthropologie, Darmstadt 1991, 35 ff. zu meinen scheint. 3  Cf.

188  |  II.  Ethik und Politik 

einstimmung gerichtet ist, die von dem eigenen je individuellen conatus absieht, wenn auf das Zusammen aller Geister (und auch Körper) in einem Geist (bzw. einem Körper) abgehoben wird, der doch nur »gleichsam« eine Einheit ist und als diese nichts als eine Illusion, die sich über das tatsächliche Handeln, das die Individuen bestimmt, hinwegsetzt. Erst wenn die Tatsächlichkeit des Vollzuges von der Vernunft durchdrungen ist, wird es eine Übereinstimmung derer, die von ihrer Vernunft Gebrauch machen, geben, eine Übereinstimmung, die zu erlangen kein Wunsch verhilft, sondern nur eine Form von Tätigkeit, die aus der Natur des agierenden Subjekts selbst erfolgt. Ihr genügt allein die beschriebene Form von Einsicht, die ein wirklicher sich realisierender Akt ist. Sie kann im Status bloßer Möglichkeit verbleiben, insofern sie aufgrund der sie ermöglichenden Bedingungen ontologischer Art zwar prinzipiell keinem Menschen verschlossen ist, sich aber angesichts der nicht schon vernünftigen Gestalt des conatus gegen Formen des imaginativen Begehrens, die jeden Menschen faktisch bestimmen, eigens durchsetzen muß. Wenn dies mißlingt, ist sie nicht wirklich. Für den Akt des Gelingens hat die teleologische Betrachtungsweise als Moment eines Sich­orientierens, in dem der Mensch Distanz zu der Unmittelbarkeit seines imaginativ bedingten faktischen Begehrens erlangt, sicher auch eine positive vorbereitende Bedeutung. 5 Unabhängig davon und damit für diejenigen, die jenen Schritt zur Verinner­ lichung der adäquaten Erkenntnis nicht zu vollziehen vermögen, hat sie aber keine praktische Bedeutung.

III.

Diese Einsicht ist der Grundgedanke von Spinozas später Schrift zur Theorie der Politik, die er im Tractatus Politicus entwickelt. Entsprechend anders ist dort die Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis. Spinoza erörtert dort die Möglichkeit einer politischen Praxis, der die Theorie äußerlich bleibt. Die Theorie ist hier rein deskriptiv, weil sie eine Praxis zu beschreiben hat, deren Ge5 

A. Matheron, Individu et communauté chez Spinoza, Paris 1969. Theorie und Praxis in Spinozas Ethik und Politik  |  189

lingen unabhängig ist von der theoretischen Einsicht in die Natur des Menschen. Auch in der Ethica ist die Theorie zunächst rein deskriptiv. Sie gibt im 1. Teil eine Exposition der Struktur Gottes mit der Kernbestimmung, daß Gottes Natur wesentlich Handeln ist, das alles, was überhaupt ist, aus sich heraus bewirkt hat. Der Perspektive, die der Mensch in seiner Theorie einnehmen kann, ist dieses Handeln prinzipiell verschlossen, weil sie nicht auf alles, was ist, gerichtet sein kann. Die Theorie gibt im 2. Teil eine Typologie der Erkenntnisarten des menschlichen Geistes, die aus den Rahmenbedingungen, unter denen menschliches Erkennen steht, folgt, aber sie entfaltet sie nicht aus der Perspektive der Individuen. Sie entfaltet damit nicht, wie diese Erkenntnisarten den Menschen, der als Modus der göttlichen Substanz wesentlich Handeln ist, in dessen konkreten Handeln bestimmen. Aber auch die Theorie, die im 3. Teil das menschliche Handeln, jetzt als potentia sive conatus gefaßt, eigens zum Thema hat, beschreibt in der Theorie der Affekte Sachverhalte, die denjenigen, die, der imaginatio folgend, Affekten unterliegen, verborgen bleiben. Die beschriebenen Affekte stellen sich deshalb in der Theorie anders dar, als sie sich in der Perspektive derer, die ihnen unterliegen, für diese darstellen. So erweist sich das, was erstrebt wird, in theoretischer Perspektive nicht als gut, obschon es für den Strebenden gut ist und zwar allein deshalb, weil er es erstrebt. Selbst die Theorie des 4. Teils, die angesichts dieser Diskrepanz die mögliche praktische Relevanz eines theoretisch erkannten Allgemeinen erwägt, bleibt darin rein theoretisch. Sie zeigt, daß, wenn die Individuen sich an der Vernunft orientieren, ihnen das gelingt, was sie von Natur aus erstreben. Erst der 5. Teil entwickelt eine Theorie, die zeigt, inwiefern ihnen das tatsächlich gelingt, und läßt darin Theorie und Gelingen zusammenfallen. Bedingung hierfür ist, daß die Perspektive, die der Handelnde seinem Selbstverständnis nach einnimmt, mit der Perspektive, die er in theoretischer Einstellung einzunehmen vermag, zur Deckung gelangt, daß er also seine eigene Natur als adäquates Erkennen begriffen hat und deshalb nichts anderes begehrt, als in dieser Form zu erkennen. Das Erkennen beschreibt dann nicht Sachverhalte, die von dem, was der Erkennende in seiner Perspektive begehrt, verschieden sind, sondern artikuliert sich als ein Vollzug aus der Per190  |  II.  Ethik und Politik 

spektive des Begehrenden, die sich in dieser Form des Erkennens gegenüber Perspektiven, in denen der Mensch von einem anderen Selbstverständnis geleitet ist, erweitert und darin am konkreten Individuum eine Veränderung bewirkt. Die Perspektive des Philosophen ist mit derjenigen des konkreten Individuums im Ganzen seines Lebens zusammengefallen, das, selber Philosoph geworden, auf den Gipfel der Weisheit gelangt ist. Es ist evident, daß dieser Zusammenhang von Philosophie und Leben nicht geeignet ist, auf dasjenige, was in der Politik geschieht, angewendet zu werden. Die Politik ist gerade erforderlich, weil durch den in der Ethica entwickelten Zusammenhang, der von einigen realisiert werden mag, das zwischenmenschliche Zusammenleben in seiner Faktizität nicht bestimmt ist. Und Politik kann auch nicht die Aufgabe haben, auf einen Zusammenhang, ihn vorbereitend, hinzuführen, in dessen Realisierung sie sich als dann entbehrlich selber aufhöbe. Im Tractatus Politicus betont Spinoza die Eigenbedeutsamkeit des politischen Geschäfts in der radikalen Form, daß er an dem Perspektivendualismus radikal festhält und deshalb einer strikten Trennung zwischen dem am Erkennen orientierten theoretischen Geschäft der Philosophie und der politischen Praxis das Wort redet. Spinoza hat sich dazu insbesondere in den methodologischen Erwägungen des 1. Kapitels des Tractatus Politicus geäußert. Dort entwickelt er einen Gegensatz zwischen Philosophen und Politikern auch hinsichtlich der Theorie der Politik, bei dem die Politiker deutlich besser wegkommen. Sie haben weit treffender über die Politik sogar geschrieben, weil sie die Erfahrung zur Lehrmeisterin hatten, so daß sie nichts dargetan haben, »das sich vom praktischen Leben (ab usu) entfernt hätte« (TP I § 2). Ihr Schreiben ist von einer erfahrungsgesättigten Praxis getragen, die dem Philosophen, eben weil er eine solche Praxis nicht hat, verschlossen ist. Hier liegt offensichtlich ein Gegensatz zwischen politischer Praxis und Philosophie, die theoretisch ist (»theoretici seu philosophi«, TP I § 1), schlechthin vor. Von ihm ist dann auch Spinozas Philosophie betroffen und nicht nur jene im ersten Satz des Traktats skizzierte schlechte Philosophie, die das menschliche Leben unter ein Sollen bringt und von daher beurteilt, worin sie sich über den Grundtatbestand des menschlichen Lebens, dessen Affektivität, Theorie und Praxis in Spinozas Ethik und Politik  |  191

hinwegsetzt. Philosophen dieses Schlages sind an einem wirklichkeitsfremden Wünschen orientiert, das sie keine brauchbare (»quae possit ad usum revocari«) Staatslehre konzipieren läßt, sondern eher eine Chimäre, die ihren Platz dort hat, wo es keiner Politik bedarf, in Utopia oder im goldenen Zeitalter der Dichter (ebd.). Unberührt von diesem Gegensatz innerhalb unterschiedlicher Konzepte von Philosophie bleibt der Tatbestand, daß die Politiktheorie in Spinoza Augen zu den Wissenschaften gehört, die durch Anwendung gekennzeichnet sind (»quae usum habent«, ebd.), und sie deshalb von einer Gestalt sein muß, die nur auf den Begriff bringt, was in der politischen Praxis schon geschieht. Und weil sich darin derjenige, der diese Praxis vollzieht, der also Politik betreibt, auskennt, nicht aber der theoretisierende Philosoph, schreibt der Politiker auch besser über Politik als der Theoretiker, formuliert er doch die ihm eigenen Erfahrungen. Ist dieses Schreiben ein nachträgliches Geschäft, das nur beschreibt, was praktiziert worden ist, so kann auch eine philosophische Theorie hinsichtlich dieser Form von Praxis nur eine nachträgliche Angelegenheit sein. Spinoza ist deshalb der Ansicht, daß ein Philosoph in der Politiktheorie nichts Neues sagen könne, nämlich nichts Neues gegenüber dem, was in der Politik selber schon praktiziert worden ist. Aber nicht nur dies; er ist auch der Ansicht, daß alle Formen politischer Praxis schon erprobt sind, weil, so die Begründung in TP I § 3, Menschen außerhalb der Sphäre irgendeines gemeinsamen Rechts gar nicht leben können, also immer schon in politischen Gemeinschaften leben, für deren Ausgestaltung sie das unternommen haben, was sich unternehmen läßt. Weil die Menschen, das steht im Hintergrund dieser Überlegung, natürlicherweise auf ihre Selbsterhaltung aus sind, finden sie auch natürlicherweise zu intersubjektiven Gemeinsamkeiten, die der individuellen Selbsterhaltung dienen; und sie haben, weil sie notwendigerweise mit gemeinsamen Angelegenheiten beschäftigt sind, all das schon bemerkt, das diesen dienlich ist. Sie haben es einfach deshalb bemerkt, weil sie damit beschäftigt sind und zudem geleitet werden von Politikern, die nicht höchst weise sind, sondern äußerst scharfsinnig hinsichtlich dieser Angelegenheiten, und denen deshalb nichts entgangen ist, was für die politische Praxis tauglich ist. Dabei darf angenommen werden, daß Spinoza nicht ausschließt, daß zukünftig unter veränderten Bedin192  |  II.  Ethik und Politik 

gungen, die das menschliche Zusammenleben bestimmen, es neuer Mittel bedarf, die das gemeinsame Kommunizieren befördern, daß diese aber von den Menschen, die mit neuen Konstellationen konfrontiert werden, allein deshalb, weil sie auf die eigene Sicherheit bedacht sind und damit auf ein einträchtiges Zusammensein, auch gefunden werden. Angesichts des in der Ethica beschriebenen Konfligierens der natürlichen individuellen Tendenzen auf Selbsterhaltung muß eine Äußerung, die den natürlichen Tendenzen so viel zumutet, erstaunen: Sie muß wohl so verstanden werden, daß die in der Ethica latente Ansicht zurückgewiesen werden soll, philosophische Erwägungen könnten etwas zu dem politischen Geschäft einer intersubjektiven Konfliktregulierung beitragen. Was verbleibt in diesem Feld dann aber noch der Philosophie, was kann überhaupt die Aufgabe des Philosophen als eines Theoretikers der Politik sein? In TP I § 4 formuliert sie Spinoza. Nichts Neues hinsichtlich der politischen Praxis habe er mitzuteilen; er wolle nur das mit der Praxis am vorzüglichsten Übereinstimmende (»quae cum praxi optime conveniunt«) auf sichere und zweifelsfreie Weise beweisen (»certa et indubitata ratione demonstrare«). Der Philosoph hat demzufolge einen Beweis zu erbringen, der die gelebte politische Praxis, sie in ihrer Eigenständigkeit anerkennend, 6 bekräftigt, der aber nicht Elemente einer allererst hervorzubringenden Praxis enthält. Als ein zweifelsfreier Beweis, der Empirisches beweist, kann er freilich nicht selber empirisch sein. Er habe so zu geschehen, daß das zu Beweisende aus der Verfaßtheit der menschlichen Natur selbst (»ex ipsa humanae naturae conditione«) hergeleitet wird (»deducere«). Die Politiker beziehen sich, im Unterschied dazu, auf das, was aus der genannten Verfaßtheit folgt, nicht aber auf diese selbst. Sie haben insofern nicht das im Blick, was der Philosoph im Blick hat; aber der Philosoph verlangt mitnichten, sie sollten es im Blick haben, um eine bessere Politik machen zu können. Was leistet dann das philosophische Unternehmen, das ein begründungstheoretisches Unternehmen ist, für die Politik? Man muß sagen, überhaupt nichts, wenn es nicht jene gäbe, die Spinoza 6  Über

die Positivität der Erfahrung im Feld der Politik cf. mittlerweile P.-F. Moreau, Spinoza. L’expérience et l’éternité, Paris 1994: partie 2, chap. III. Theorie und Praxis in Spinozas Ethik und Politik  |  193

eingangs attackiert: Spinner und Wirrköpfe, Utopisten und andere Dilettanten, die ein falsches Verständnis von Politik haben. Gegen diese wird die Praxis der Politik verteidigt als ein Sachverhalt, der in Übereinstimmung mit der menschlichen Natur ist. Die Theorie der Politik wendet sich somit gegen andere Theorien, nämlich gegen falsche. Eine solche Kritik, die sich nicht auf die bloße Erfahrung stützt, überschreitet gewiß die Erfahrung. Das heißt aber nicht, daß die Theorie die Erfahrung, die sich in der politischen Praxis manifestiert, gestaltet und darin selber eine praktische Bedeutung hätte, etwa in dem Sinne, daß sie im anerkennenden Bezug auf das, was ist, dieses zu einer höheren Form transformierte. Was erreicht wird, ist allenfalls ein verändertes Verständnis von Politik, gestützt auf eine Perspektive, von der her sich beurteilen läßt, was Politik ist. Das verhält sich analog zu Spinozas Kritik der Religion, die sich nicht gegen die Religion wendet, sondern gegen deren Interpreten, gegen die Theologen, die Religion nicht ausüben, sondern in den Dienst freiheitsunterdrückender Machtausübung nehmen. Allerdings ist mit dieser Kritik ein bestimmtes Verständnis von Religion verbunden, gestützt auf eine Perspektive, die die Religion von außen betrachtet, und dieses Verständnis kommt mit dem Verständnis derer, die Religion praktizieren, also mit dem der Frommen, nicht überein. Vielmehr hat die Theorie dessen, was Religion ist, gerade zur Voraussetzung, daß diejenigen, deren religiöses Leben beschrieben wird, diese Theorie selber sich nicht zu eigen machen. Täten sie es, würde Religion sich eben damit aufheben. Und genauso würden diejenigen, deren politische Praxis beschrieben wird, nicht mehr Agenten einer solchen Praxis sein, wenn sie die Theorie, die eine solche Beschreibung erlaubt, übernähmen. Das so beschriebene Verhältnis von Theorie und Praxis ist ganz im Einklang mit dem, was Spinoza in der Ethica entwickelt hat. Die der Wahrheit verpflichtete Theorie hat eine praktische Bedeutung nur für diejenigen, die sie übernehmen. Die Ethica ist nichts anderes als die Exposition eines solchen Praktischwerdens von Einsicht auf der Basis einer in sich ausgewiesenen Theorie, durch die sich ein Individuum in seinem Agieren bestimmen läßt. Spinoza läßt auch im Tractatus Politicus keinen Zweifel daran, daß in dieser Form von Theorie die menschliche Macht über die 194  |  II.  Ethik und Politik 

Affekte und das mit ihnen verbundene Leiden besteht. In den einleitenden Passagen (TP I § 5) erinnert er daran, wobei er jedoch, in der Abhebung davon, zugleich betont, daß dieser Weg für die Politik untauglich ist, nicht etwa, weil die Vernunft aus sich heraus überhaupt keine praktische Kraft hätte, sondern weil die meisten Menschen sich ihrer nicht bedienen und gerade deshalb der Politik bedürfen. Weil alle Menschen, so betont Spinoza am Ende des einleitenden 1. Kapitels (TP I § 7), sich immer schon zu organisierten Gemeinschaften verbinden, dürften die Ursachen dieser Form des Zusammenlebens nicht dem, was die Vernunft lehrt (»ex rationis documentis«), entnommen werden, sind doch deren Lehrsätze nicht Ursachen faktischer Zusammenschlüsse, aus denen diese verständlich gemacht werden könnten. Gegen die Lehrsätze der Vernunft setzt Spinoza ausdrücklich die gemeinsame (communis) Natur oder Verfaßtheit der Menschen, aus deren Analyse er jenen Beweis erbringen will, der die politische Praxis gegen falsche Theorien rechtfertigt. IV.

Es stellt sich allerdings die Frage, ob ein politisches Agieren sich im Rückgriff auf etwas rechtfertigen läßt, das in dieser Form den Agierenden in deren Perspektive nicht präsent ist, dann nämlich, wenn es den Agierenden wesentlich ist, daß sie Perspektiven haben, d. h. ein je bestimmtes Selbstverständnis. Spinozas methodologisches Programm einer theoretischen Bekräftigung der Praxis der Politik durch die Zurückweisung falscher Theorien sieht sich dem Problem gegenüber, daß eine solche Zurückweisung nicht so einfach ist, weil es nicht zufällig ist, daß sich solche Theorien auch innerhalb der politischen Praxis herausbilden. Denn dieser Tatbestand resultiert daraus, daß ein jeder, der am politischen Prozeß beteiligt ist, eine Theorie, wie rudimentär sie auch ausgebildet sein mag, darüber hat, wie es besser zu machen ist, einfach deshalb, weil Individuen eine Vorstellung von dem für sie Guten haben. Wenn eine rationale Theorie, die diese Theorien zu verbessern beansprucht, in ihrem Beweisverfahren sich auf etwas stützt, das der Perspektive derer, die in ihr beschrieben werden, also der Perspektive der politisch Agierenden, sich entzieht, bleibt sie der Politik äußerlich. Und es ist Theorie und Praxis in Spinozas Ethik und Politik  |  195

fraglich, ob sie dann die Funktion einer Bekräftigung politischer Praxis überhaupt haben kann. Paradigmatisch ist hierfür Spinozas eigene Theorie, wie er sie im Tractatus Theologico-Politicus entwickelt hat. Es geht dort, wie auch im Tractatus Politicus, um die Bedingungen einer gemeinsamen Macht der Individuen, von der her die Struktur des Staates bestimmt wird, der nichts anderes als diese gemeinsame Macht ist. Folglich muß der Staat seiner Natur nach durch etwas konstituiert sein, das den Individuen gemeinsam ist; und Spinoza hat dargelegt, daß dies die Freiheit der Individuen ist, die deshalb konsequent als Ziel des Staates bestimmt wird, die ein dem Staat immanentes Ziel ist, das er um der eigenen Erhaltung willen bedarf.7 Diese Überlegung ist das Resultat einer reinen Theorie, der Theorie dessen, was unter menschlicher Macht (potentia) zu verstehen ist. Macht ist ihrem Wesen nach eine Form sich entfaltender Aktivität, von der gilt, daß sie sich im äußeren Feld je unterschiedlich modifiziert und darin intersubjektiv divergiert, von der Spinoza aber zeigt, daß sie in Form eines freien Sichäußerns der eigenen Gedanken ein den Individuen Gemeinsames ist. Als Beleg dafür, daß ein die individuelle Freiheit garantierender Staat auch in sich stabil ist, weil er in dieser Form die gemeinsame Macht der Bürger ist, hat Spinoza aber lediglich den empirischen Verweis auf eine augenblickliche Situation gegeben, wie sie in der liberalen und gut gedeihenden Stadt Amsterdam zutage tritt. Er hat dabei den empirischen Sachverhalt außer acht gelassen, daß das, was das theoretische Resultat einer Ontologie ist, deshalb noch nicht dem Selbstverständnis der Individuen entspricht, von denen nicht auszuschließen ist, daß sie, geleitet von ihrem Begehren, entsprechend den damit verbundenen Vorstellungen etwas ganz anderes vom Staat erwarten. Er ist vielmehr davon ausgegangen, daß die Individuen, die er in seiner Theorie beschreibt, am Gehalt eben dieser Theorie selber orientiert sind. Er hat ihnen also letztlich jene Vernunft unterstellt, die ihm als Theoretiker eigen ist. Und das ist eine Illusion, auf die Spinoza in der Einleitung zum Tractaus Politicus verweist, von der sich offenbar auch die eigene frühe Politik-Theorie nicht hat befreien können. 7 

Cf. Bartuschat, Freiheit als Ziel des Staates [in diesem Band, S. 246 – 269].

196  |  II.  Ethik und Politik 

Entgeht Spinoza im Tractatus Politicus dieser Aporie, indem er an die Stelle der Lehrsätze der Vernunft die gemeinsame Natur der Menschen als das ihnen verborgene Prinzip ihrer Praxis setzt? Was ist diese »gemeinsame« Natur, die offenbar als eine solche zu verstehen ist, die »alle« Menschen umfaßt? Das allen Menschen Gemeinsame ist deren Macht in der Gestalt des conatus, dem sie in ihrem Agieren unterliegen und dem sie folgen, ohne daß sie um ihn wissen müßten. Wird von der unterschiedlichen Gestalt, die der conatus annehmen kann, je nachdem ob die Menschen sich dabei von der Vernunft leiten lassen oder ob sie orientierungslos und somit blind begehren, abgesehen, weil diese Formen nicht notwendigerweise zum Vollzug des conatus gehören, dann bleibt, anders als im 1. Traktat, als Gemeinsames nur noch der nackte Tatbestand, daß ein jeder der ihm eigenen Natur folgt, d. h. seinem je spezifischen conatus, gegen den er nichts vermag (TP II § 5). Das ist aber nicht mehr als eine höchst abstrakte Bestimmung, aus der eine Gemeinsamkeit menschlichen Begehrens folgern zu wollen, wenn nicht eine Illusion, so doch ein grober Fehlschluß wäre, den man Spinoza, der die Ethica geschrieben hat, nicht unterstellen sollte. 8 Wird als gemeinsame Natur der Menschen ein Trieb angegeben, durch den die Menschen zum Handeln bestimmt werden und durch den sie sich selbst zu erhalten suchen (»quo ad agendum determinantur, quoque se conservare conantur«, TP II § 5), mit dem beim Menschen in erster Linie das Merkmal der Affektivität verbunden ist, mit dem der Traktat in seinem ersten Satz auch anhebt, dann bedeutet dies, daß mit dieser »gemeinsamen« Natur gerade keine Gemeinsamkeit der Menschen, die ihrem Trieb folgen, im Blick ist. Spinoza hat dies in der Ethica ausführlich erläutert: im affektgeleiteten Begehren sind die Menschen uneins. Sie sind es, weil sie dabei von der imaginatio geleitet sind, mit der je unterschiedliche subjektive Erwartungen verbunden sind, die auch zu einem konfligierenden Gegeneinander führen können (vgl. E IV, prop. 33 und 34). Für Spinoza ist dies die Konsequenz einer grundlegenden Einsicht, die er in E IV, prop. 32 formuliert hat und die für ihn 8 

Daran ändert auch nichts der Tatbestand, daß Spinoza im Tractatus Politicus den Terminus »conatus« zu vermeiden sucht und ihn häufig, so auch in TP II § 5, durch »Trieb« (appetitus) ersetzt. Theorie und Praxis in Spinozas Ethik und Politik  |  197

selbstevident ist (vgl. die dazugehörende Anmerkung): Menschen, die Passionen unterliegen, stimmen der Natur nach nicht überein, mag ihnen dies, Passionen zu unterliegen, auch gemeinsam sein. Sie tun es nicht, weil Übereinstimmung eine positive Bestimmung ist, die sich auf etwas stützen muß, das denen, die übereinstimmen, selber zukommt; und das können nicht negative Bestimmungen sein, in denen ein Ding von außen charakterisiert wird und damit aus einer Perspektive, die es selber nicht einnimmt. Die gemeinsame Natur der Menschen darin zu setzen, daß alle Menschen Passionen unterworfen sind, durch welche theoretische Einsicht das immer erweisbar sein mag, etwa im Rückgriff darauf, »daß sie nicht infolge der Notwendigkeit ihrer Natur existieren«, oder »daß sie von der Macht der äußeren Ursachen unbegrenzt übertroffen werden« (E IV, prop. 32, schol.): diese Bestimmung enthält, daß hier gerade nichts im Blick ist, worin die Menschen übereinstimmten, worin sie also etwas hätten, das ihnen gemeinsam wäre, ist es doch etwas, das in der Perspektive, die sie selber einnehmen, nicht eingeht und deshalb nichts für sie selber ist. Was bleibt dann, wenn der Rückgriff auf die Vernunft versperrt ist, von der es in der Ethica heißt, daß sie allein Prinzip einer die Menschen verbindenden Gemeinsamkeit ist, weil sie ein als Tätigkeit sich artikulierender Akt des Geistes ist und darin Prinzip der Einheit derer, die diese Tätigkeit vollziehen? In der Zurückweisung dieses Prinzips als Prinzips der politischen Praxis entwickelt Spinoza im Tractatus Politicus eine Theorie, die den affektgeleiteten Menschen eine sie verbindende Einheit zuzusprechen sucht, von welcher Einheit es heißt, daß sie quasi-geistig ist (»una veluti mente ducuntur«, TP II § 16). Spinoza nimmt hier den Geist als Prinzip von Einheit in Anspruch, ohne daß er bei den Individuen die Gestalt einer Vernunft annehmen müßte, die ihre Vernunft ist, der sie folgen. Es ist ein durch die Individuen hindurchwirkender Geist, von dem sie sich leiten lassen (»ducuntur«), der ebendeshalb nur »gleichsam« eine Einheit derer ist, die ihm folgen. Das von Spinoza gebrauchte Kunstwort für ein solches die Menschen zusammenschließendes Gebilde ist das einer multitudo. Er versteht darunter eine in ihren Affekten einheitlich agierende Menge. Aber Spinoza sagt nirgendwo im 2. Traktat, wie eine solche Einheit aus der gemeinsamen Natur der Menschen, auf die als Deduk198  |  II.  Ethik und Politik 

tionsprinzip sich zu stützen er vorgibt, folgt. Statt die Möglichkeit einer solchen Einheit zu erweisen, behauptet er lediglich, daß der Staat dann stabil ist, wenn seine Bürger eine solche Menge bilden. Gewiß kann er plausibel machen, inwiefern allein aus dem affektiven menschlichen Begehren Zusammenschlüsse resultieren. Aber daß Menschen sich immer schon zusammenschließen und darin ihre Macht eine gemeinsame Macht sein lassen, heißt natürlich noch nicht, daß diese Gemeinsamkeit vom Charakter einer Einheit ist. Sie ist das Zusammen vieler conatus, das Zusammen von Individuen, die in ihrem Streben, solange sie von Affekten geleitet sind, von je subjektiven Erwartungen und Einstellungen geleitet sind, die untereinander divergieren. Genau das macht eben ihre Geistigkeit aus, die ihnen spezifische Form eines Sichverstehens, in der sie je unterschiedlich auf sich selbst rückbezogen sind. Sie kann durch kein physikalisches Modell sich arrangierender und zunehmend komplexer werdender Körper angemessen beschrieben werden.9 Eine Übertragung dieses Modells auf die Gesellschaftstheorie wird der Sache, die Spinoza selber entwickelt, nicht gerecht. Sie übersieht, wie entscheidend das Sichverstehen der Individuen für die Ausgestaltung des je eigenen conatus ist, gegen das eine Einheit der Individuen überhaupt nicht zustande kommen kann.10 So macht Spinoza hinreichend deutlich, daß es Formen falschen Sichverstehens gibt, gegen die die rationale Theorie keine Kraft hat. Der Philosoph kann beispielsweise zeigen, was moralische Einstellungen sind; damit ändert er aber an diesen Einstellungen überhaupt nichts, solange wenigstens nicht, als diejenigen, denen diese Einstellungen zu eigen sind, sich jene Theorie nicht auch zu eigen machen und von ihr in ihrem Begehren sich nicht leiten lassen. Der Nachweis, daß der individuelle conatus der Sache nach auf etwas gerichtet ist, das nicht dem Selbstverständnis derjenigen, die ihm folgen, entspricht, bleibt folgenlos, wenn man sich gerade auf der  9 Cf.

die überzeugende, gegen Matheron gerichtete kritische Analyse bei L. Rice, Individual and Community in Spinoza’s Social Psychology, in: E. Curley/P.-F. Moreau (Hg.), Spinoza, Issues and Directions, Leiden 1990, 271–285. 10  Cf. meine Einleitung in: Baruch de Spinoza, Politischer Traktat/Tractatus politicus, Hamburg 1994 [22010]. Theorie und Praxis in Spinozas Ethik und Politik  |  199

Ebene eines solchen Selbstverständnisses zu bewegen hat.11 Und deshalb muß die Philosophie sich der Politik beugen, die auf dieser Ebene ihre Domäne hat und dort eine ihr eigene Kraft entfaltet. Falschen Theorien der Politik wird Spinozas Theorie nicht dann schon überlegen sein, wenn sie die tatsächliche politische Praxis beschreibt, sondern erst dann, wenn sie sie in dieser Tatsächlichkeit angesichts der Ohnmacht der Vernunft hinsichtlich des affektiven Lebens rechtfertigen kann. Deshalb sucht Spinoza sie aus der Natur des Menschen zu rechtfertigen, sofern diese durch das unvernünftige Begehren der Individuen definiert ist. Dabei spricht die Theorie in bezug auf das affektive Leben der politischen Praxis eine Gestaltungskraft zu, die ihr selber mangelt. Sie erkennt, daß die Politik hinsichtlich der Unvernunft etwas leistet, durch das das unvernünftige Begehren nicht in dem für es konstitutiven Defizit verbleibt, nicht das zu realisieren, worauf ein jeder von Natur aus ist, die Erhaltung des eigenen Seins, das essentiell Tätigsein ist. Der Trieb, so heißt es in TP II § 5, der die Menschen zum Handeln (agere) treibt und durch den sie sich zu erhalten suchen, artikuliert sich, sofern er blind ist und damit nicht ein solcher der am adäquaten Erkennen orientierten Vernunft, gerade nicht in menschlichen Handlungen (actiones), sondern in bloßen Passionen, von denen Spinoza in der Ethica gezeigt hat, daß sie selbsterhaltungswidrig sind. Erfolgreiche Politik wird dann dasjenige Unternehmen sein, das auf der Basis der menschlichen Unvernunft den Menschen zu der Form von Selbsterhaltung verhilft, die auf dieser Basis möglich ist. Das kann nicht anders geschehen als durch die Etablierung eines Staates, der durch interne Stabilität gekennzeichnet ist, die ein Gleichgewicht des unterschiedlichen Begehrens herstellt, und der darin das durch Passionen bewirkte menschliche Gegeneinander neutralisiert. Stabilität ist aber erst dann erreicht, wenn das politische Gebilde über eine Macht verfügt, die die gemeinsame Macht der In11  Insofern

gibt es selbst im optimalen Staat ein Persistieren solcher moralischer Einstellungen, die dessen Stabilität gefährden. Matheron, Etat et moralité selon Spinoza, in: E. Giancotti (Hg.), Proceedings of the first Italian international Congress on Spinoza, Napoli 1985, 343–354, nimmt diesen Gesichtspunkt nicht ernst genug. 200  |  II.  Ethik und Politik 

dividuen ist, die als gemeinsame ihnen nicht äußerlich sein darf. Genau das ist die von Spinoza beschriebene potentia multitudinis, deren Begriff paradox ist. Er nimmt eine Gemeinsamkeit der Unvernünftigen in Anspruch, die aus der Unvernunft der Individuen nicht verständlich gemacht werden kann, aber auch nicht gegen deren Selbstverständnis ein Bestehen haben kann, wäre sie dann doch nichts, was diesen Individuen gemeinsam ist. Spinozas Verzicht, die Möglichkeit dieser Gemeinsamkeit theoretisch zu erweisen, ist eine Anerkennung dieser Paradoxie und zugleich die Anerkennung einer politischen Praxis, die sich auf der Ebene der Unvernunft bewegt und daraus das Beste macht. Die Einheit der multitudo kann als Einheit menschlicher Individuen nicht von der Perspektive getrennt werden, die diese Individuen tatsächlich einnehmen. Sie zu beschreiben und auch in ihrer Defizienz aufzuweisen, diese Aufgabe des Theoretikers, ist etwas anderes, als sich auf sie einzulassen, was zu tun Spinoza als die Aufgabe des Politikers ansieht, von dem er sagt, daß er sich hierfür in den Menschen auskennen muß. Nicht zufällig betont Spinoza, daß die Politiker nicht durch Weisheit, sondern durch Schläue und Verschlagenheit ausgezeichnet sind, kraft deren sie gemeinsamen Rechtsgesetze (iura communia) erlassen und öffentlichen Angelegenheiten (negotia publica) verwalten (TP I § 3). Es sind geschickte Taktiker, die gemeinsame Affekte hervorzubringen vermögen, solche der Furcht vor etwas oder der Hoffnung auf etwas beispielsweise, durch die die Individuen in ihrem Agieren gemeinsam verbunden sind, wobei es entscheidend darauf ankommt, und auch das wissen die Politiker, daß das Volk nicht merkt, daß es geleitet wird, sondern daß es sich dabei selbst als tätig erfährt. Eine solche Selbsterfahrung wird freilich die des Meinens sein, in dem die Individuen, ihrer imaginatio verpflichtet, sich lediglich für tätig halten, mögen sie es in Wahrheit auch gar nicht sein. Daß diese affektiv bedingten einheitlichen Zusammenschlüsse nur von vorübergehender Dauer sind und in sich die Tendenz zur Auflösung haben, das weiß der Theoretiker nur zu gut. Aber er weiß auch, daß es neue Zusammenschlüsse geben wird, zu denen die politische Praxis kraft der ihr zur Verfügung stehenden Mittel von sich aus gelangt. Allerdings weiß er darüber hinaus auch, welche Zusammenschlüsse am stabilsten sein werden, diejenigen Theorie und Praxis in Spinozas Ethik und Politik  |  201

nämlich, bei denen alle Individuen eine größtmögliche je eigenständige Aktivität entfalten. Und von dieser Aktivität weiß er, daß sie im Gebrauch der eigenen Vernunft sich im höchsten Maße realisiert. Sie zu realisieren fällt aber nicht mehr in das Geschäft derer, die mit Politik befaßt sind. So verbleibt ihm als Theoretiker immerhin ein Maßstab der Beurteilung politischer Gebilde, der jedoch, gerade weil er den faktisch sich entwickelnden politischen Gebilden äußerlich ist, keine Kraft der Veränderung hat. Daß dem so ist, scheint mir die Verhältnisbestimmung von Theorie und politischer Praxis, die sich im Tractatus Politicus findet, zu belegen. Damit hat Spinoza zugleich Ethik und Politik in einer Weise radikal voneinander geschieden, die zu der Annahme führen könnte, daß die Grundvoraussetzungen, die zu der Scheidung der beiden Bereiche führen, der Sache nicht angemessen sind.

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Die Theorie des Guten im 4. Teil der Ethik 1 1. Das Gute und menschliches Streben

In dem Werk, das Spinoza Ethik nennt, wird die Ethik im engeren Sinne in den Teilen III–V abgehandelt. In den vorangehenden Teilen, der Ontologie des 1. Teils und der Erkenntnistheorie des 2. Teils, hat sie ihre Grundlage. Der Begriff des Guten, das Herzstück einer Ethik, wird in der mittleren Partie der Teile, die der Ethik im engeren Sinne gewidmet sind, abgehandelt, also im 4. Teil. Die 1. Definition dieses Teils ist die Definition dessen, was unter »gut« zu verstehen ist. Die Einführung dieses Begriffs an prominenter Stelle signalisiert, daß der Begriff des Guten für den 4. Teil von zentraler Bedeutung ist. Nun handelt dieser Teil von menschlicher Knechtschaft, so daß die in ihm entwickelte Theorie des Guten ein Moment der Beschreibung der menschlichen Unfreiheit ist. Der 5. Teil, der demgegenüber von menschlicher Freiheit handelt, spricht nicht mehr von dem Guten, offenbar deshalb nicht, weil das Gute keine Bestimmung ist, die ein Ding selbst charakterisiert, sondern ein Begriff, den wir für unsere eigene Orientierung aufgrund eines Vergleichs der Dinge untereinander bilden (vgl. IV, praef.). Er ist ein ens rationis ohne ontologische Validität. Freiheit ist aber eine ontologische Bestimmung, mit der die Natur eines Dinges selbst beschrieben wird (vgl. I, def. 7); menschliche Freiheit muß deshalb im Einklang mit dem, was ist, stehen und darf nicht das Resultat bloß subjektiver Betrachtungsweisen (»modi cogitandi«) sein, zu denen Spinoza auch den Begriff des Guten zählt. Aber auch der 3. Teil enthält keine Theorie des Guten, insofern dort das Gute einfach mit dem Erstrebten identifiziert wird. Diese Identifizierung ist die Konsequenz der in diesem Teil entfalteten Theorie des Strebens (»conatus«) als der essentiellen Bestimmung 1 

Überarbeitete Fassung eines Aufsatzes, der erschienen ist in: A. Domínguez (Hg.), La ética de Spinoza. Fundamentos y Significado, Ciudad Real 1992.   |  203

eines einzelnen Dinges (III, prop. 7). Das anti-teleologische Konzept menschlichen Strebens schließt es aus, daß der Mensch etwas in der Orientierung an einem seinem Streben vorangehenden Guten erstrebte. Das Streben eines Individuums ist seiner Natur nach auf sich selbst gerichtet, nämlich auf die Erhaltung des eigenen Seins (»in suo esse perseverare«, III, prop. 6). Was jemand erstrebt, steht somit grundsätzlich im Dienst der eigenen Selbsterhaltung und ist darin ein für den Strebenden Gutes im Sinne eines für die eigene Selbsterhaltung Nützlichen. Derjenige, der strebt, hält das Erstrebte allein deshalb für gut, weil er es erstrebt (III, prop. 9, schol.). Doch führt das Streben nach Selbsterhaltung nicht schon dazu, daß der Strebende sich auch tatsächlich selbst erhält, ein Sachverhalt, den Spinoza im 3. Teil ausführlich demonstriert. Das Erstrebte ist insofern lediglich das, was der Strebende der eigenen Einschätzung nach für gut hält (»aliquid bonum esse judicare«, III, prop. 9, schol.). Als bloß für gut gehalten, ist es nicht wirklich ein Gutes, denn oft führt das von einem Individuum als gut Erstrebte nicht zu dessen Erhaltung, sondern in vielen Fällen zu dessen Ruin. Gut ist es nur in der Perspektive des Strebenden, der über ein das Streben begleitendes Bewußtsein verfügt, das dasjenige gutheißt, was er faktisch tut, das aber nicht um die Bedingungen weiß, die tatsächlich zur Selbsterhaltung des Einzelnen führen. Führt das Erstrebte nicht zur Selbsterhaltung, dann ist es ein nur scheinbar Gutes und nicht ein wahrhaft Gutes. Was das wahrhaft Gute ist, entwickelt Spinoza, im ausdrücklichen Kontrast zu einem bloßen Meinen, erst im 4. Teil. Die Definition des Guten in diesem Teil (IV, def. 1) weicht deshalb von der im 3. Teil exponierten Identität des Guten mit dem Erstrebten ab. Erst so kann eine Theorie des Guten entwickelt werden, die mehr enthält, als demjenigen, was ohnehin jeder tut, einen weiteren Namen zu geben. Die Definition lautet: »Unter gut werde ich das verstehen, wovon wir mit Sicherheit wissen, daß es uns nützlich ist«. Ihr zufolge steht die Theorie des Guten unter der Bedingung eines sicheren Wissens, das wir selbst haben (»certo scimus«). Das Gute ist nicht das, wovon wir eine Meinung haben, sondern etwas, um das wir wissen. Es ist nicht etwas, das scheinbar nützlich ist, sondern das wahrhaft nützlich ist. Dementsprechend ist nicht dasjenige gut, was wir für unsere Selbsterhaltung erstreben, sondern 204  |  II.  Ethik und Politik 

was sich als tauglich erweist, sie zu erlangen, was also dazu beiträgt, daß wir unser Sein tatsächlich erhalten. Allein dasjenige, wovon wir mit Sicherheit wissen, daß es ein Gutes ist, ist auch ein unbestreitbar Gutes (vgl. IV, prop. 27). Wenn das Erstrebte zu einer Vernichtung oder auch nur Minderung des eigenen Seins führt, ist es, obwohl es erstrebt wird, in Wahrheit schlecht, mag es auch in der Perspektive des Strebenden gut sein. Die im 4. Teil entwickelte Theorie des wahrhaft Guten verläßt deshalb die Perspektive des Strebenden und wird aus einer davon verschiedenen Perspektive entwickelt, derjenigen des Theoretikers, der um die Bedingungen weiß, unter denen das, was ein jeder erstrebt, auch gelingt. So wird es möglich, unterschiedliche Formen des Strebens miteinander zu vergleichen und als gut oder schlecht zu beurteilen, je nachdem ob sie die erstrebte Selbsterhaltung erreichen (dann sind sie gut) oder verfehlen (dann sind sie schlecht). In dieser Beurteilung wird das Gute zu etwas, das dem faktischen Vollzug des Strebens transzendent ist. Alles Transzendente ist für Spinoza aber ein ens rationis, das die Wirklichkeit überfliegt; insbesondere widerstreitet es der Struktur des conatus, der das wirkliche Sein (»actualis essentia«, III, prop. 7) eines einzelnen Dinges ausmacht. Darin signalisiert Spinozas Theorie des Guten eine eigentümliche Spannung innerhalb seines theoretischen Programms einer Begründung der Ethik. Zunächst, wenn Spinoza im 4. Teil eine Theorie des Guten gibt, die an sicheres Wissen gebunden wird, dann kann ihr Gegenstand, das Gute, nicht die Fiktion eines reinen Gedankendinges sein, das die Wirklichkeit mit bloß subjektiven Orientierungshilfen überformt. Denn sicheres Wissen, das ist ein Grundtheorem Spinozas, kann man nur von Wirklichem haben, von Dingen, wie sie in sich sind (»ut in se sunt«, II, prop. 44, dem.). Das Gute, sofern es Gegenstand sicheren Wissens ist, muß also ein Wirkliches sein. In der Tat behält es auch im 4. Teil durch die Bindung an das Nützliche (»utile«) den Bezug auf den conatus perseverandi. Das Gute ist das, was zur Selbsterhaltung verhilft, und Selbsterhaltung ist ein dem conatus immanentes Ziel. Doch gibt es, allemal beim Menschen, Formen des Strebens, die dazu nicht verhelfen, was in der Struktur des Strebens selbst begründet ist. Die es kennzeichnende Immanenz einer Selbstbezüglichkeit ist Die Theorie des Guten im 4. Teil der Ethik   |  205

nämlich durch Äußeres nicht zufälligerweise, sondern der Sache nach gefährdet. Denn Streben, als innere Bestimmung eines Dinges gefaßt, setzt Äußeres voraus, gegen das ein Ding sich zu erhalten strebt. Den Hinblick darauf (III, prop. 4 und 5) stellt Spinoza deshalb der Theorie des conatus (III, prop. 6 ff.) voran, und daraus zieht er zu Beginn des 4. Teils die Konsequenz: Der menschliche conatus ist von einer begrenzten Macht. Das Verharren im eigenen Existieren, also das, worauf jedes Seiende aus ist, wird nicht durch die Macht definiert, mit der jemand darin zu verharren strebt, sondern durch die Macht einer äußeren Ursache im Vergleich mit der je eigenen Macht (»in existendo perseverantia comparata«, IV, prop. 5). Die mißlingenden Formen des conatus sind genau diejenigen, in denen der Mensch in seiner Macht von äußeren Einflüssen überwältigt wird. Dies geschieht jedoch, unbeschadet der Begrenztheit menschlicher Macht, nicht grundsätzlich, sondern nur dann, wenn der Mensch jene Relation zwischen sich und dem Äußeren nicht sachangemessen erkennt, wenn er also inadäquat erkennt und insofern etwas erstrebt, von dem er nicht weiß, inwiefern es ihm tatsächlich nützt. Daraus ergibt sich der Bezug auf sicheres Wissen, der in die Definition des Guten eingeht; er stützt sich auf die Einsicht, daß in der Perspektive des inadäquat Erkennenden, d. h. gemäß dem Selbstverständnis eines in dieser Weise Erkennenden, keine angemessene Theorie des Guten gegeben werden kann. Auf der anderen Seite darf sich die einzunehmende Perspektive adäquaten Erkennens nicht über die Struktur des conatus hinwegsetzen, weil sie sich sonst nicht auf das wirkliche Sein eines Individuums, das dessen conatus ist, bezöge und folglich die Grundbedingung adäquaten Erkennens, einen Bezug auf das wirkliche Sein zu haben, nicht erfüllte. Das adäquate Erkennen kann nicht ein Gutes zu seinem Gegenstand haben, das sich von dem menschlichen Streben trennen ließe oder gar ein ihm vorgegebenes Ziel wäre, auf das es sich zu richten hätte. Das hier sich zeigende Problem, daß Streben, adäquate Erkenntnis und Gutes als zusammengehörig zu denken sind, wird Spinoza so lösen, daß er das adäquate Erkennen selbst als gut bestimmt, worin es nicht ein taugliches Mittel ist, etwas von ihm Verschiedenes zu erreichen. Die Theorie des Guten mündet dann in den 206  |  II.  Ethik und Politik 

Aufweis, daß im höchsten Maße gut die Erkenntnis dessen ist, was die Bedingung allen adäquaten Erkennens ist: »Das höchste Gut des Geistes ist die Erkenntnis Gottes« (IV, prop. 28), und ein Gut im einzelnen ist all das, was dem Einsehen wirklich dient (»quod ad intelligendum revera conducit«, IV, prop. 27), einem Einsehen, das sich in der Erkenntnis Gottes erfüllt. Darin ist das Gute dem conatus nicht transzendent, sondern einer bestimmten Form des conatus immanent, der Form nämlich, die von der Vernunft (»ratio«) so geleitet ist, daß sie ihr allein entspringt. Es ist diejenige, in der wir nach Einsicht und nichts anderem streben (IV, prop. 26). Transzendent ist das so verstandene Gute dann nur denjenigen Formen des conatus, die in der imaginatio als dem Grund inadäquaten Erkennens verankert sind. Genau der Bezug auf diese Formen ist es aber, durch den die im 4. Teil entfaltete Theorie des Guten ihren Sinn erhält. Denn in diesem Teil handelt Spinoza von den Kräften der Affekte (»De affectuum viribus«), im Hinblick worauf die Möglichkeiten erwogen werden, die der Mensch gegenüber einem Eingenommensein durch die Affekte hat. Die Theorie zeigt, was für die individuelle Selbsterhaltung gut ist angesichts des Tatbestandes, daß die erstrebte Selbsterhaltung, nicht zuletzt aufgrund eines Fremdbestimmtseins des Menschen durch Affekte, die ihn leiden lassen (»passiones«), nicht immer schon gelingt. Es ist eine Theorie im Hinblick auf das inadäquate Erkennen und darin eine Theorie des Guten, die gegen das, wogegen sie sich wendet, ein Ideal (vgl. IV, praef.) entwickelt. Orientiert an einem solchen Ideal, formuliert die Vernunft als Prinzip des Guten Gebote (»dictamina rationis«, IV, prop. 18, schol.), die gegenüber dem unvernünftigen Streben eine ihm trans­ zendente Norm sind. Die Vernunft, deren Erkenntnis im Einklang mit dem Sein ist, kann natürlich nichts gegen das Sein fordern (»cum ratio nihil contra naturam postulet«, IV, prop. 18, schol.). Aber sie fordert etwas gegen ein Selbstverständnis des Menschen, von dem Spinoza behaupten muß, daß es nicht im Einklang mit dem Sein ist, weil in ihm der Mensch nicht das realisiert, worauf er von Natur aus gerichtet ist, die Erhaltung des eigenen Seins. Freilich kann er dies nur aus einer Perspektive behaupten, die nicht die Perspektive derer ist, an die eine solche Forderung ergeht, während andererseits in dieser Perspektive befangen zu sein Ausdruck der Die Theorie des Guten im 4. Teil der Ethik   |  207

wirklichen Struktur des menschlichen conatus ist und nicht etwa das Ergebnis bloß subjektiver Disziplinlosigkeit oder gar mangelnder Achtsamkeit auf eine Freiheit des Willens. Genau darin liegt die Schwäche einer Vernunft, die Gebote formuliert, weil Gebote, solange sie dem Streben transzendent sind, dieses in seiner unvernünftigen Form nicht werden aufheben können. Darüber hinaus ist darin aber auch gelegen, daß der Mensch, der das, was seine Vernunft formuliert, als eine ausstehende Idee versteht, an der er sein unvernünftiges Begehren ausrichten soll, in diesem Verständnis gerade dieser Form des Begehrens verhaftet bleibt. Genau das ist der Grund, weshalb die Theorie des Guten in dem Teil der Ethik abgehandelt wird, der von menschlicher Knechtschaft handelt.

2. Das Gute und Forderungen der Vernunft

Dort hat diese Theorie den ihr angemessenen Ort. Denn hätte der Mensch nur adäquate Ideen, würde er keinen Begriff des Guten haben (IV, prop. 68), hat doch dieser Begriff nur in der Korrelation zu dem des Schlechten eine Bedeutung. Den Begriff des Schlechten bilden wir aber, weil wir in unserem Selbsterhaltungsstreben die Erfahrung von Trauer machen, d. h. die Erfahrung einer Einschränkung unserer im conatus sich niederschlagenden potentia agendi. Dies zu erfahren ist unausweichlich, weil der Mensch notwendigerweise ein Teil der Natur ist (IV, prop. 2 und 4) und deshalb nicht nur solches bewirkt, das aus seiner Natur allein folgt. Er weiß sich als von äußeren Dingen abhängig, die ihn selbst einschränken und gegen die er sich zu erhalten sucht. In der Entfaltung des ihm eigenen Strebens gerät er jedoch, wenn er bloß von seinem Trieb geleitet ist, nur noch mehr in die Abhängigkeit undurchschauter äußerer Zusammenhänge, die sein Sich-entfalten hemmen und ihn zwangsläufig eine Trauer erfahren lassen. Einer solchen Abhängigkeit wird er natürlicherweise zu entgehen suchen, wenn auch faktisch ohne viel Erfolg. Dieser Tatbestand wird zunächst im 3. Teil ausführlich beschrieben und im 4. Teil dann beurteilt. Das führt zu der Feststellung, daß alles Einschränken des Sichentfaltens schlecht ist und das Angehen gegen eine solche Einschränkung gut ist, wenn auch nur dann, wenn es das Eingeschränktwerden 208  |  II.  Ethik und Politik 

tatsächlich überwindet. So ist es der Begriff des Schlechten, der den des Guten provoziert. Der Begriff des Schlechten, bestimmt als eine Folge irrationalen Begehrens, hat allerdings selbst schon Rationalität zur Voraussetzung. Denn er wird erst gebildet aufgrund einer Unterscheidung zwischen dem, was ein Individuum in seinem conatus begehrt, und dem, was dieser conatus seiner Natur nach ist. Zu dieser Unterscheidung ist der Mensch aufgrund seiner ratio befähigt, die nicht Einzelnes erkennt, sondern ein Allgemeines und darin Einzelnes in dessen allgemeiner Struktur (II, prop. 38). Der Mensch kann so den Begriff des conatus bilden und darin ihn von seinen einzelnen Äußerungen unterscheiden. So wird Trauer zu einem allgemeinen Begriff; sie ist nicht schlecht, weil sie ein aus dem conatus folgender affektiver Vorgang ist, sie ist schlecht, weil in ihr sich eine Beschränkung von Aktivität artikuliert, über die der conatus als solcher definiert ist. Sie ist schlecht allein für denjenigen, der um den internen Zusammenhang von Streben und Aktivität weiß und von ihm her den affektiven Vorgang, in Trauer zu geraten, beurteilt. Der Theoretiker vergleicht eine einzelne Äußerung des conatus mit dessen allgemeinen Begriff und bestimmt kraft eines solchen Vergleichs diese Äußerung als schlecht, insofern sie eine Minderung der dem conatus überhaupt zugesprochenen Aktivität ist. Eine solche Beurteilung gerät jedoch in Konflikt mit der Wirklichkeit. Denn jede Äußerung des Strebens ist immer die eines je bestimmten conatus, nie die eines conatus überhaupt, und der individuelle conatus erfüllt sich gemäß der ihm eigenen Natur (»quantum in se est«, III, prop. 6) in seinen jeweiligen Äußerungen, die eben dadurch als solche gerechtfertigt sind. Erst der Vergleich von einem anderen Standpunkt aus ist es, der zu einer bewertenden Beurteilung einzelner Vorgänge führt und deren Bezeichnung mit dem Ausdruck »schlecht« zur Folge hat. Von diesem Standpunkt her können darüber hinaus auch einzelne Vorgänge miteinander verglichen werden und als mehr oder minder schlecht beurteilt werden, je nachdem wieweit sie dem allgemeinen Begriff von conatus nahekommen, relativ worauf sie dann auch als mehr oder minder gut bezeichnet werden können. In der zweiten Hälfte des 4. Teils (IV, prop. 41 ff.) hat Spinoza in diesem Sinn eine Katalogisierung der Affekte als »gut«, »teils gut, teils schlecht« und »durchweg Die Theorie des Guten im 4. Teil der Ethik   |  209

schlecht« vorgenommen und sich dabei an den Kardinalaffekten der Freude und Trauer in deren generellen Bestimmung, die potentia agendi des Einzelnen zu fördern bzw. zu mindern, orientiert. Als Formen von Förderung und Minderung haben sie ein Gemeinsames in dem Bezug zu dem, das gefördert und gemindert wird, zu der potentia agendi als der gemeinsamen Basis aller Äußerungen, die überhaupt auftreten können. Diese Gemeinsamkeit als Maßstab für die Bezeichnung von Ereignissen als gut oder schlecht trifft aber nicht die Ereignisse selbst. Denn Freude und Trauer sind als Ereignisse etwas an ihnen selbst und darin nur äußerlich miteinander vergleichbar. Sie sind, so hat es Spinoza in einem Brief an Blyenbergh (Ep. 23) formuliert, nicht allein den Graden, sondern auch der Essenz nach verschieden (»non solum gradibus, sed et essentia ab invicem differunt«). Gleichwohl, Spinoza nimmt natürlich an, daß dieser Vergleich, den wir vornehmen, bei aller Äußerlichkeit nicht falsch ist, weil er auf einem sicheren Wissen basiert. Nur bezieht sich das Wissen nicht auf das, was verglichen wird, sondern auf das, woraufhin es verglichen wird. »Haß kann niemals gut sein« (IV, prop. 45) – das ist eine apodiktische Aussage, die sich allem bloßen Meinen entzieht. Der Mensch kann keine adäquate Erkenntnis des Hasses haben, wohl aber eine adäquate Erkenntnis dessen, daß Haß immer schlecht ist. Sie ist gegründet in einem Wissen darum, was das Wesen des Menschen ist, nämlich eine Macht (»potentia«), die in Gestalt des conatus perseverandi eine Aktivität ist. Aktivität ist die wesentliche Bestimmung des Menschen, weil, das steht im Hintergrund aller Überlegungen Spinozas, der Mensch (wie jedes andere Seiende auch) ein Modus Gottes ist, Gott aber wesentlich Macht ist (I, prop. 34) und der Mensch deshalb die Essenz Gottes, die Macht ist, nur zum Ausdruck bringt, wenn er selbst wesentlich Macht ist und darin als modifizierte potentia Dei wesentlich Aktivität. Der conatus des Menschen ist dabei, im Unterschied zu dem der anderen Dinge, durch die Eigentümlichkeit gekennzeichnet, von einem Bewußtsein begleitet zu sein (III, prop. 9), von dem Spinoza zeigt, daß es den Vollzug des conatus zu spezifischen Formen ausgestaltet und darin zur Artikulation des conatus selbst gehört. In den Formen inadäquaten Wissens, d. h. gestützt auf die imaginatio (III, prop. 12 ff.), führt das dazu, daß dem Strebenden sein eigenes 210  |  II.  Ethik und Politik 

Wesen verdeckt bleibt, mit der Konsequenz, daß er nicht an das intendierte Ziel der Selbsterhaltung, d. h. zu einem Vollzug von Aktivität, gelangt. Der Sache nach ist dies ein dem Strebenden immanentes Ziel, aber gerade nicht dem je eigenen Selbstverständnis nach, solange sich sein Streben bloß mit der imaginatio verbindet. Die Theorie des Guten basiert auf dem Tatbestand, daß beim Streben des Menschen An-sich-Sein und Für-ihn-Sein auseinanderfallen. Sie legt dar, daß das Verharren in diesem Zwiespalt für den Menschen schlecht ist, und kann zugleich das Gute nur innerhalb des Zwiespalts bestimmen, den sie damit zementiert. Das zeigt sich insbesondere daran, daß die Theorie, die das Gute kraft der Vernunft aus einem abstrakten An-sich gewinnt, an dem sie die faktischen Äußerungen des individuellen Strebens vergleichend mißt, mit einer Form von Rationalität verbunden ist, die, sofern sie sich auf Einzelnes bezieht, als eine Forderung auftritt. Sie nimmt die Gestalt von Geboten der Vernunft (»rationis dictamina«) an, mit deren Vorstellung (IV, prop. 18, schol.) Spinoza die Erörterung dessen, was an Affekten gut und was schlecht ist, eröffnet. Die Vernunft fordert etwas, nämlich »daß jedermann streben sollte, sein Sein gemäß der ihm eigenen Natur zu erhalten« (ebd.), also etwas, was jeder ohnehin tut, aber sie fordert es im Hinblick auf etwas, das derjenige, der natürlicherweise sich selbst zu erhalten strebt, nicht im Blick hat. Es ist das eigene Sein (»suum esse«), um das derjenige, der strebt, nicht schon weiß, sofern er nur strebt. Er strebt zwar danach, das eigene Sein zu erhalten, aber unwissend erliegt er einem Äußeren, von dem her er sich selbst versteht. Weil er in diesem Verständnis sich gerade nicht erhält, ist das, was er tut, schlecht. Das eigene Sein verfehlend, verfehlt er zugleich, das ist die Grundthese Spinozas, das, was Tugend (»virtus«) ist, also die Form richtigen Handelns. Deren Struktur erörtert Spinoza im unmittelbaren Anschluß an die Figur einer Forderung der Vernunft, aber so, daß er das, was Tugend ist, von allen bloßen Forderungen gerade befreit. Die Forderung der Vernunft, letztlich die Forderung, sich tugendhaft zu verhalten, stützt sich auf die richtige These, daß Tugend zwar an den menschlichen conatus gebunden ist, aber nicht mit dessen faktischer Artikulationsform zusammenfällt. Das Streben nach Selbsterhaltung ist gewiß die Grundlage aller Tugend Die Theorie des Guten im 4. Teil der Ethik   |  211

(IV, prop. 22), aber das mit Tugend verbundene Glück (»felicitas«) im Sinne eines gelingenden Lebens besteht nicht darin, daß der Mensch sich zu erhalten strebt, sondern darin, daß er imstande ist, sein Sein zu erhalten (»quod homo suum esse conservare potest«, IV, prop. 18, schol.). Alles, worauf der Einzelne aus ist, gründet in dessen Macht (»potentia«), weil es dem conatus entspringt, der die Macht des Einzelnen ist (III, prop. 7). Insofern kann Tugend nicht gegen diese Macht bestimmt werden. In der Definition von Tugend (IV, def. 8) identifiziert sie Spinoza sogar mit der Macht des Menschen, aber doch mit einer wesentlichen Einschränkung, nämlich daß dies beim Menschen nur gilt, »insofern es in seiner Gewalt steht (quatenus potestatem habet), etwas zuwege zu bringen, das durch die Gesetze seiner Natur allein eingesehen werden kann«. Subjektives Streben als Ausdruck der individuellen Macht (»poten­ tia«) und Können (»potestas«) als subjektives Vermögen, diese Macht der eigenen Natur gemäß zu gebrauchen, fallen nicht zusammen. Aus dieser Differenz speist sich das wertende Beurteilen menschlichen Strebens im 4. Teil, das über dessen bloße Beschreibung, welcher der 3. Teil verpflichtet gewesen ist, hinausgeht. Das Streben, obwohl Ausdruck des individuellen conatus und darin als solches gerechtfertigt, kann hinsichtlich von gut und schlecht von einem Standpunkt der Vernunft aus beurteilt werden, die nichts gegen den conatus fordert (das ist unmöglich), die aber, anders als der Unvernünftige es tut, den conatus auf dessen wahres Sein hin betrachtet und ihn darin als eine Aktivität in den Blick bringt. Daraus ergibt sich die generelle Einteilung, daß die Formen schlecht sind, welche die Aktivität mindern, also diejenigen, die an ein inadäquates Erkennen gebunden sind, und gut diejenigen, welche die Aktivität fördern. Darin ist aber zugleich gelegen, und Spinoza entwickelt es im Kontext dessen, was es heißt, unbedingt aus Tugend zu handeln (»ex virtute absolute agere«, IV, prop. 24), daß im höchsten Maße gut dasjenige ist, was Ausdruck reiner Aktivität ist, also das adäquate Erkennen selbst (IV, prop. 26–28). Zwar handelt jedes Ding, weil es potentia ist und potentia gleich agere ist, aber im strikten Sinne handelt nur derjenige, der adäquate Ideen hat (III, prop. 1), weil er darin aus sich heraus tätig ist. Tugend ist demzufolge diejenige Form des Handelns, in welcher der Handelnde nicht mehr an einem ihm fremden Ziel orientiert 212  |  II.  Ethik und Politik 

ist. Dann ist es nur konsequent, wenn Spinoza diese Form nicht mehr als gut bezeichnet. Das adäquate Erkennen wird allein deshalb als gut bezeichnet, weil ein anderes, das inadäquate, schlecht ist, im Hinblick auf das es so genannt wird. Genau deshalb ist der damit verbundene Status einer Forderung der Vernunft, die sich an die Unvernunft richtet, in sich problematisch. Denn die mit der Theorie des Guten verbundene Forderung enthält, daß das vernunftlose Begehren sich an der Vernunft orientieren soll, da­ mit die Selbsterhaltung des Einzelnen erreicht werde, während der Sache nach eine solche Forderung das vernunftlose Begehren nicht bestimmen kann, weil sie aus einer Perspektive erhoben wird, die demjenigen, an den sie sich richtet, fremd ist. Ihm ist die Forderung transzendent, weil sie aus einem Vergleich resultiert, der nicht das vernunftlose Begehren als solches erfaßt. Es ist, wie es ist, und darin nicht relativ auf die Vernunft. Unvernünftig ist das Begehren nur für den Vernünftigen, der, wenn er vergleicht, die Wirklichkeit jenes Begehrens gerade nicht erfaßt. Insofern hat sein Vergleichen keine bestimmende Kraft. Das ist Spinoza gewiß nicht entgangen, denn er betont ausdrücklich die Wirkungslosigkeit einer bloß beurteilenden Vernunft. Nicht sie ist es, sondern ein anderer Affekt, der einen bestehenden Affekt aufzuheben vermag (IV, prop. 7). Gleichwohl, auch wenn der Vernünftige die Wirklichkeit unvernünftigen Begehrens nicht erfaßt, die sich gar nicht adäquat erfassen läßt, so gilt doch, daß er in adäquater Weise erfaßt, daß dieses Begehren schlecht ist, und zwar schlecht für den Begehrenden. Auch wenn der Standpunkt, den er einnimmt, nicht der des Unvernünftigen ist, muß deshalb gelten, daß er etwas erfaßt, das dem Unvernünftigen nicht äußerlich ist. Gelten kann dies freilich nur, wenn Spinoza unterstellt, daß auch ihm Vernunft zukommt, die er zwar faktisch entbehrt, wenn er unvernünftig agiert, die ihm aber zumindest potentiell zukommt, sofern er ein Mensch ist. Unübersehbar ist, daß dies nachzuweisen für Spinoza ein zentrales Anliegen des 4. Teils ist. Die Vernunft ist nicht das Privileg einiger, sondern eine konstitutive Bestimmung des Menschen, die ihn als Gattungswesen charakterisiert. Die adäquate Erkenntnis Gottes, so formuliert es Spinoza in IV, prop. 36, schol. im Rückgriff auf II, prop. 47, gehört zu dem, was die Essenz des menschlichen Geistes ausmacht. In ihr haben die Menschen ein Gemeinsames, das nicht Die Theorie des Guten im 4. Teil der Ethik   |  213

das fiktive Allgemeine eines bloßen Begriffs ist, sondern dasjenige, ohne das, Spinoza sagt es mit Emphase, der Mensch in dem, was er ist, in seiner Essenz also, weder sein noch begriffen werden könnte (IV, prop. 36, schol.). Deshalb kündigt Spinoza in der Vorrede zum 4. Teil an, daß die Theorie des Guten im Zusammenhang einer Idee des Menschen im Sinne eines Musterbildes (»exemplar«) der menschlichen Natur zu entwickeln ist. Im Hinblick darauf wird als gut und schlecht bestimmt, wovon wir mit Sicherheit wissen, daß es tauglich bzw. hinderlich ist, diesem Musterbild näher und näher zu kommen (»ad exemplar humanae naturae […] magis magisque accedamus«, IV, praef.). Dieses Musterbild hat, obwohl es ein die Faktizität transzendierender Entwurf ist, einen Wahrheitsgehalt, der unabhängig davon ist, wieweit es tatsächlich realisiert wird. Denn es enthält ein allen Menschen Gemeinsames, insofern sie von derselben Natur sind (»quatenus ejusdem sunt naturae«, IV, prop. 36, dem.), so daß das, was der Tugendhafte verfolgt, sich einem konkurrierenden Kampf entzieht, weil es etwas ist, an dem sich alle gleichermaßen innerlich erfreuen können (»omnes aeque gaudere possunt«, IV, prop. 36). Unter diesem Aspekt hat die Theorie des Guten gerade in der Bindung an das Theorem der individuellen Selbsterhaltung ihre eigentliche Bedeutung in der intersubjektiven Sphäre, zu der Spinoza deshalb auch ganz konsequent in dem darauf folgenden Lehrsatz 37 überleitet. Die Annäherung an das Musterbild der menschlichen Natur ist eine unabdingbare Voraussetzung gelingender Selbst­ erhaltung, weil die individuelle Selbsterhaltung einer Gemeinsamkeit der Menschen bedarf, ohne die sie nicht gelingen kann. Das Äußere, auf das der Mensch in seiner Begrenztheit angewiesen ist, das macht Spinoza im 4. Teil deutlich, sind in erster Linie die anderen Menschen, mit denen er kommuniziert und deren Affektivität für ihn eine Bedrohung darstellt. Einander nützlich und damit gut sind die Menschen, sofern sie miteinander übereinstimmen; und Bedingung hierfür ist jene Gemeinsamkeit, von der her sich das Menschsein definiert und die in den Gedanken einer Idee der menschlichen Natur eingeht. Aber genau hier zeigt sich die interne Spannung zwischen einem Gemeinsamen, das in bloß theoretischer Perspektive erkannt wird, und einem Gemeinsamen, das in praktischer Perspektive realisiert wird. Eine Übereinstimmung 214  |  II.  Ethik und Politik 

der Menschen untereinander ist nicht schon realisiert, wenn deren Gemeinsamkeit sich auf eine bloße Idee des Menschseins stützt, was sie solange tut, wie sie nicht in der Aktivität der Individuen verankert ist. Aus der Perspektive der Individuen ist sie dann eine bloße Möglichkeit, die, solange sie der Verwirklichung harrt, von leerer Abstraktheit ist, die das tatsächliche Handeln der Individuen unbestimmt sein läßt. Eine abstrakte Gemeinsamkeit den Menschen zuzusprechen bedeutet, ihnen etwas zuzusprechen, das sie faktisch entbehren, was wiederum bedeutet, daß sie faktisch nichts Gemeinsames haben, also gerade nicht miteinander übereinstimmen (vgl. IV, prop. 32, schol.). Nicht dies, daß Menschen potentiell Vernunft zukommt, läßt sie übereinstimmen, sondern allein dies, daß sie die Vernunft gebrauchen und darin auch tatsächlich von ihr geleitet sind (IV, prop. 35). Aber gerade diese Tatsächlichkeit entzieht sich einer Forderung, die formuliert, was der Mensch noch nicht hat und erst erreichen soll. Niemand kann von einem anderen sinnvoll fordern, er solle die Vernunft gebrauchen, weil sie zu gebrauchen ein Akt ist, den jeder aus sich heraus selbst ausüben muß, wofür schon vorausgesetzt ist, was erst gefordert wird.

3. Das Gute und der Vollzug adäquaten Erkennens

Als Theorie eines Ideals der menschlichen Natur erlaubt die Theorie des Guten, menschliche Handlungen daraufhin zu beurteilen, inwieweit sie für das, was in ihnen intendiert wird, die individuelle Selbsterhaltung, mehr oder minder tauglich sind. Die Theorie, die gegeben wird, ist nicht falsch, insoweit sie eine adäquate Beschreibung dessen gibt, was der Fall ist, daß nämlich der Einzelne in bestimmten Ausformungen seines Strebens nach Selbsterhaltung sich nicht erhält, in anderen aber ja, und dies in einer Skala von Abschattierungen dessen, was hierfür mehr oder minder günstig ist. Insofern wäre das Schlechte nur ein weiterer Name für das Selbsterhaltungswidrige und das Gute für dessen Gegenteil. Doch nimmt Spinoza mehr in Anspruch, nämlich menschliches Verhalten unter einer Perspektive zu beschreiben, die zwar faktisch diesem Verhalten fremd ist, aber doch nicht der Möglichkeit nach, weil sie eine Möglichkeit der menschlichen Natur ist, unter der sich zu betrachDie Theorie des Guten im 4. Teil der Ethik   |  215

ten dem Einzelnen in seiner Unvernünftigkeit nur verdeckt bleibt. Unter der Annahme einer solchen Latenz ist Spinozas Theorie nicht nur beschreibend. Ist das Verhalten aus der dem Handelnden eigenen Perspektive durch die Faktizität des Tuns gerechtfertigt und somit wertneutral, so hat die andere Perspektive, die dieses Handeln als schlecht bezeichnet, weil es das Gute verfehlt, etwas im Blick, das derjenige, dessen Verhalten beschrieben wird, nicht im Blick hat. In ihr läge eine Beschreibung gerade dieses Verhaltens nur vor, wenn sich von ihm sagen ließe, daß der andere es im Blick haben sollte, das Sollen also zu dessen Sein gehörte. Die Theorie des Guten wäre unter dieser Voraussetzung in Wahrheit normativ, sie enthält eine Vorschrift, im Hinblick auf die eine Orientierung an ihr als gut für den, der sich so orientiert, bestimmt wird. Doch gerade in einem solchen normativen Anspruch kann die Theorie nicht wahr sein, weil sie einer ontologischen Grundbestimmung widerstreitet, nämlich der Struktur des individuellen conatus. Mit dieser Struktur ist zwar die Orientierung an Vorschriften verträglich, insofern mit ihr das inadäquate Erkennen verträglich ist und damit all das, was aus ihm an Verhaltensmustern einschließlich solcher, die durch eine teleologische Ausrichtung gekennzeichnet sind, folgt. Nicht verträglich ist mit ihr aber, daß der Mensch in der Orientierung an Vorschriften das ihm immanente Ziel der individuellen Selbsterhaltung realisieren könnte. Denn dieses Ziel läßt sich nicht trennen von einer Realisierung, die nichts anderes als der als Aktivität verstandene Vollzug der je eigene potentia ist, die nur dann eine Aktivität ist, wenn sie sich nicht von einem ihr vorgegebenen Ziel leiten läßt. Unbeschadet dessen hat die Theorie des wahrhaft Guten als Korrektiv der je subjektiven Ansicht, das Erstrebte sei als dieses schon das Gute, einen Wahrheitsgehalt, daß sie nämlich das Gute im Sinne dessen, was für die Selbsterhaltung tauglich ist, an eine bestimmte Form bindet, in der sich der conatus artikuliert. Nur das vernunftgeleitete Streben gelangt an das ihm immanente Ziel, ein anders geleitetes tut dies nicht. Da der Mensch nun nicht notwendigerweise von der Vernunft geleitet ist (für die meisten Menschen gilt genau das Gegenteil), muß angesichts dieses Tatbestandes die These, die einen Sachverhalt adäquat beschreibt, lauten: Wenn sein Streben von der Vernunft geleitet ist, gelangt der Mensch an sein 216  |  II.  Ethik und Politik 

Ziel. Nicht aber kann sie lauten: Damit der Mensch an sein Ziel gelangt, an das er nicht immer schon gelangt, sofern er nur handelt, soll er die Vernunft gebrauchen. In der zweiten Formulierung erhält der Satz eine praktische Bedeutung, die der Mensch, wie Spinoza ihn beschreibt, nicht erfüllen kann: in der Orientierung an einem Ideal gegenüber einem von ihm her als schlecht Bestimmten eine Kraft zu haben, die das Schlechte zu überwinden vermag. Die Theorie, die in der Verbindung von Vernunft und Streben eine Präferenz gegenüber allem unvernünftigen Begehren sieht und darin aufzeigt, was das wahrhaft Gute angesichts der Erfahrung des Schlechten ist, erhält eine praktische Bedeutung erst, wenn sie sich nicht als eine Theorie des Guten aus dem Gegensatz zum Schlechten versteht und folglich, da gut und schlecht zwangsläufig korrelierende Begriffe sind, überhaupt nicht mehr als eine Theorie des Guten. Das ist dann der Fall, wenn sie zu einer Theorie wird, die entwickelt, wie das, was hier als Forderung erscheint, vom Individuum selbst realisiert wird und darin nicht mehr eine Forderung ist. Schon in der Beschreibung dessen, was Tugend ist, hat Spinoza im 4. Teil hervorgehoben, daß für den Tugendhaften das Gute nicht das ist, was ihn aus dem Schlechten befreit, sondern allein das, was im Dienst menschlicher Einsicht (»intelligere«) steht (IV, prop. 26 ff.). Aufgenommen und weiterentwickelt wird diese Überlegung im 5. Teil, in dem Spinoza zeigt, was es bedeutet, daß der Mensch seinen conatus als ein reines Erkennen begreift, das nicht mehr auf ein vom Erkennen Verschiedenes bezogen ist, das durch es zu erreichen wäre. Die Theorie des Guten bereitet in ihrer Bindung an Erkenntnis die Theorie der Freiheit im 5. Teil vor, zu der sie übergeht, indem sie den Begriff des Guten zurückläßt. Wenn das höchste Gut des Geistes die Erkenntnis Gottes ist und dementsprechend die höchste Form der Tugend, verstanden als ein Merkmal allein des Geistes, darin besteht, Gott zu erkennen, so hatte Spinoza im 4. Teil formuliert (IV, prop. 28), dann ist das Gute in der Form seiner Erfüllung dem Subjekt, das erkennt, nicht transzendent. In seiner Höchstform ist es vielmehr mit der Tugend identisch, mit einer Tugend, die in nichts anderem als in einem adäquaten Erkennen besteht, in der Tätigkeit also, in der im höchsten Maße zum Ausdruck kommt, was Aktivität des Geistes heißt. Besteht die menschliche Die Theorie des Guten im 4. Teil der Ethik   |  217

Freiheit in ebendieser Aktivität, dann kann sich Spinoza im 5. Teil, der seiner Überschrift nach von menschlicher Freiheit handelt, in Form einer Wiederholung auf das beziehen, was er schon im 4. Teil als höchstes Gut (»summum bonum«) bestimmt hat. In V, prop. 25 formuliert Spinoza, jetzt bezogen nicht mehr auf die ratio, sondern auf die intuitive Erkenntnis (»scientia intuitiva«) genau dasselbe wie in IV, prop. 28: »Das höchste Streben des Geistes und seine höchste Tugend ist, Dinge in der dritten Erkenntnisgattung einzusehen«. Nur spricht er jetzt nicht mehr davon, daß dies das höchste Gut des Geistes sei, sondern ersetzt Gut (»bonum«) durch Streben (»conatus«). Spinoza eliminiert die Bestimmung des Guten, weil er jetzt, im 5. Teil, eine Theorie adäquaten Erkennens entwickelt, die nicht mehr mit anderen Formen des Erkennens verglichen wird. Das adäquate Erkennen ist nicht besser als das inadäquate; es ist etwas anderes. Es gründet in sich selbst, unvergleichbar mit anderem; es gründet in der Ewigkeit (V, prop. 31), die nicht verglichen werden kann mit der Zeitlichkeit, welche die Basis inadäquaten Erkennens ist (V, prop. 21) und damit das Fundament aller Erfahrung des Schlechten. Spinozas Philosophie ist eine Theorie der Ethik sub specie aeternitatis, und deshalb ist sie keine Philosophie des Guten. Aber Spinoza macht doch das Zugeständnis (V, prop. 41), daß, wenn wir um die Ewigkeit in ihrer Bedeutung für das menschliche Handeln nicht wüßten, all das, was er im 4. Teil hinsichtlich der Vorschriften der Vernunft (»rationis praescripta«) entwickelt hat, in Geltung bliebe. Auch dann müßte es von uns für das Wichtigste gehalten werden (»prima haberemus«), weil Basis aller Tugend und damit einer richtigen Lebensführung (»virtutis seu recte vivendi rationis fundamentum«) das Suchen nach dem eigenen Nutzen (»suum utile quaerere«) ist und allein die Vernunft, nicht aber andere Instanzen, dem Einzelnen, der in diesem Feld unsicher ist, vorschreibt (»dictat«), was ihm tatsächlich nützlich ist. So bleibt denjenigen, die hinsichtlich Spinozas Theorie der Ewigkeit des menschlichen Geistes und der darin verankerten Macht unseres Erkennens skeptisch sind (also den meisten von uns), für Fragen der Ethik im engeren Sinne immer noch seine im 4. Teil entwickelte Theorie des Guten. Aber sie sollten wissen, daß Spinozas Skepsis gegenüber der Normativität des Guten ihren Grund nicht in einem Naturalismus hat, sondern in einem Intellektualismus, 218  |  II.  Ethik und Politik 

von dem Spinoza im 5. Teil zeigen will, daß er eine Kraft der Gestaltung des Lebens nur hat, wenn er nicht als Norm, sondern als tatsächlicher Vollzug auftritt.

Die Theorie des Guten im 4. Teil der Ethik   |  219

Moralität bei Spinoza Spinoza gilt als ein scharfer Kritiker der Moral, sofern mit Moralität Normativität verbunden ist, eine Form des Sollens, die aller Faktizität transzendent ist und darin, das ist Spinozas Kritik, ­einer Illusion anhängt, die ohne Kraft in der Gestaltung des zwischenmenschlichen Lebens ist und insofern nicht leistet, was eine Theorie der Moral zu leisten beansprucht. Angesichts dieses Tatbestandes scheint es sonderbar zu sein, über Moralität bei Spinoza zu referieren, auf jeden Fall dann, wenn man nicht nur Spinozas MoralKritik erläutern will, sondern Moralität – das ist mein Vorhaben – als einen positiven Bestand innerhalb der Philosophie Spinozas aufzeigen will. Moralität ist in meinen Augen das treffende deutsche Wort für das lateinische pietas, einen Begriff, dem Spinoza durchgängig eine positive Bedeutung verleiht, sofern er nur in rechter Weise verstanden wird. Ein solches Verständnis berücksichtigend habe ich in meinen Übersetzungen der Ethica und des Tractatus politicus pie­ tas mit Moralität übersetzt, und ich meine, daß man auch im Trac­ tatus theologico-politicus, also in einem weitgehend religiösen Kontext, pietas, wenn nicht durchgängig, so doch über weite Strecken mit Moralität übersetzen kann. Ich möchte dies zunächst anhand des Theologisch-Politischen Traktats aufzeigen und es dann für Spinozas ethisches Programm, das sich in der Ethik findet, darlegen.

Moralität und freies Urteilen

Es ist klar, daß die Theologen unter pietas so etwas wie »Frömmigkeit« verstehen – doch gibt Spinoza diesem Begriff, gegen das Selbstverständnis der Theologen, eine spezifische Bedeutung, die treffend im Wort »Moralität« zum Ausdruck kommt. Dies läßt sich gut an dem Untertitel des TTP aufzeigen, in dem Spinoza sagt, wovon seine Untersuchungen handeln. Beschränkt auf den theologischen Teil handeln sie von Folgendem: 220  |   

»Es wird gezeigt, daß die Freiheit des Philosophierens nicht nur ohne Schaden für die pietas zugestanden werden kann, sondern daß sie aufzuheben zugleich bedeutet, die pietas selbst aufzuheben« (Ostenditur libertatem philosophandi non tantum salva pietate posse concedi, sed eandem nisi cum ipsa pietate tolli non posse). Auffallend an diesem programmatischen Motto ist der enge Zusammenhang von pietas und libertas philosophandi. Ihn entfaltet Spinoza, wie der Untertitel signalisiert, in zweifacher Hinsicht, in zwei Thesen, die voneinander zu unterscheiden sind. Einmal soll gezeigt werden (»non tantum«), daß die libertas philosophandi von den Theologen zugestanden werden kann, ohne daß dies eine Gefahr für die pietas als eine Domäne der Theologie bedeutete. Dieser Nachweis ist das Resultat der These eines Getrenntseins von Theologie und Philosophie. Beide Bereiche, so will Spinoza zeigen, haben ihr eigenes Reich (regnum) und können insofern nicht in Konflikt miteinander geraten: die Philosophie, gestützt auf die Vernunft, das Reich von veritas und sapientia, die Theologie, gestützt auf Glauben und Offenbarung, das Reich von pietas und oboedientia. Wenn akzeptiert wird, daß die Theologie gegen das Organ der Philosophie, die Vernunft, nicht nur nichts kann (nihil potest), sondern auch nichts will (nihil vult), wie es im 15. Kapitel heißt (Abschn. 6), dann ist die genannte These harmlos und nicht weiter problematisch, mag es für Theologen auch schwierig sein, sie zu akzeptieren. Habt keine Angst, ist die Botschaft der Philosophen an die Theologen, wir kommen euch nicht ins Gehege. Was wir betreiben, bedroht die pietas, auf die ihr euch verpflichtet wißt, nicht. Was zum anderen gezeigt werden soll, ist davon ganz verschieden und enthält viel mehr (»sed«) als die Behauptung bloßer Verträglichkeit. In diesem anderen Nachweis wird nicht nur der Religion deutlich gemacht, sie dürfe eine Freiheit des Philosophierens konzedieren, die mit ihr selbst gar nichts zu tun habe. Hier wird die weitergehende Behauptung aufgestellt, daß die libertas philo­ sophandi eine Bedingung von pietas sei, weil deren Beseitigung die pietas selbst aufhöbe. Gegenüber einer Trennung von pietas und freiem Philosophieren in ein Nebeneinander von zwei Reichen wird hier ein enger Bezug zwischen beiden behauptet und zwar mit eindeutiger Dominanz: ohne libertas philosophandi keine pietas. Moralität bei Spinoza  |  221

Soll die zweite These, die eines Bezuges, mit der ersten These, der einer Trennung, verträglich sein, muß, so denke ich, der Begriff von Philosophie unterschiedlich verstanden werden. Die These des Getrenntseins stützt sich auf einen strengen Begriff von Philosophie, wie er in der Ethik entwickelt wird, einen Begriff von Philosophie, der auf Begründungen und auf Wissen aus Gründen setzt und darin ganz der Wahrheit verpflichtet ist. Die These eines Bezuges rekurriert demgegenüber auf einen weitergefaßten und insofern nicht so strengen Begriff von Philosophie. Das philoso­ phari in der zu fordernden libertas philosophandi umfaßt all das, was überhaupt zu einem Urteilen gehört, das aufgrund eigener Überlegung stattfindet. Häufig ist ein solches Urteilen ein bloßes Meinen (und darin nicht Ausdruck von Weisheit), ein Artikulieren von Ansichten, die durchaus irrig sein können, worin sie fern von der Wahrheit eines strengen Philosophierens sind. Freilich läßt sich diese Form des Urteilens auch als eine Voraussetzung dafür verstehen, zu einem Philosophieren im eigentlichen Sinne später einmal zu gelangen, insofern sich in einem eigenständigen Urteilen eine nicht von Auto­ri­täten geleitete Aktivität des Sichselbstbetätigens manifestiert. Deshalb gehört zur libertas philosophandi nicht nur die Freiheit des Meinens, sondern auch die Freiheit, diese Meinungen äußern zu dürfen, damit ein jeder in einem öffentlichen Raum die Chance erhält, über Diskussion und freien Gedankenaustausch seine Meinungen zu berichtigen und zu verbessern. Das ist zugleich die Chance, die Privatheit bloß eigener Gedanken zu überwinden und darin die Gefahr zu vermeiden, in sektiererischen Ansichten zu verharren. Warum hat nun pietas etwas mit freiem Urteilen zu tun und damit mit einem Gebrauch der eigenen Vernunft, wie zureichend er auch immer sein mag? Man hält es für fromm, sagt Spinoza gegen die Partisanen der Auffassung, daß die Philosophie die Magd der Theologie sei, der Vernunft und dem eigenen Urteil nicht zu vertrauen. Doch habe dies nichts mit einer auch theologisch zu verstehenden Frömmigkeit zu tun, sondern sei reine Dummheit (mera stultitia), heißt es im 15. Kapitel (Abschn. 3). Wahre Frömmigkeit enthält, sagt Spinoza demgegenüber, notwendigerweise ein Moment von Vernünftigkeit. Denn um fromm zu sein, komme es darauf an, das, was von Gott geboten wird, auch von sich aus zu 222  |  II.  Ethik und Politik 

übernehmen und nicht blind zu befolgen, nur weil es geboten wird. Nur unter dieser Voraussetzung könne sich der Sinn eines Gebotes überhaupt erschließen. These Spinozas ist bekanntlich, daß Gott weder Gebieter noch Gesetzgeber ist. Wenn er in der Offenbarung als ein solcher erscheint, artikuliert sich folglich dort ein falsches Verständnis von Gott, das aber deshalb noch nicht, so meint Spinoza, unsinnig ist. Denn alles, was in der Bibel steht, dem Dokument der Offenbarung, ist nicht auf Wahrheit oder Falschheit hin zu interpretieren, sondern allein auf seinen Sinn (sensus) hin. Dieser Sinn besteht darin, diejenigen, die eine wahre Erkenntnis Gottes nicht haben, weil sie nicht im strengen Sinne philosophieren, sondern in mannigfachen Vorurteilen lebensweltlicher Art befangen sind, dahin zu bringen, ein Leben zu führen, das, wenn es auch nicht aus Einsicht erfolgt, doch wenigstens der Einsicht gemäß ist und insofern als ein gelingendes Leben bezeichnet werden kann. Was die Offenbarung bezweckt, ist, die Menschen zu einer Form von Praxis zu bringen, die der Gerechtigkeit und Nächstenliebe verpflichtet ist, und damit zu etwas, das derjenige, der die wahre Erkenntnis Gottes hat, auch praktiziert. Dieser tut es, weil er seine Affekte unter Kontrolle gebracht hat und auf den Standpunkt reiner Einsicht gelangt ist. Der andere, an den sich die Offenbarung wendet, hat diesen Standpunkt nicht erreicht und bedarf deshalb noch eines Gebotes, das auf das, was diesem Standpunkt entgegensteht, Rücksicht nimmt, also auf die Affekte und die damit verbundenen vorurteilshaften Erwartungen. Unabdingbar hierfür bleibt aber, daß das Gebot nicht nur den Erwartungen der Menschen entgegenkommt (durch Verheißung von Lohn und Androhung von Strafe beispielsweise), sondern daß es, jenseits aller utilitaristischen Erwägungen, selbst ein Moment der Unbedingtheit enthält. Denn nur so kann die mensch­ liche Orientierung aus dem bald so, bald anders herausgenommen und der Mensch in seinem Handeln zu einer internen Konsequenz der Einstimmigkeit gebracht werden. Dieses unbedingte Moment artikuliert sich in der Religion freilich immer noch in einer Rela­ tion, nämlich im Hinblick auf ein Subjekt, an das eine Forderung ergeht. Es ist die Forderung unbedingten Gehorsams. Gehorsam ist für Spinoza die eine Zentralkategorie der Religion. Über die andere ebenso zentrale Kategorie der pietas zeigt Moralität bei Spinoza  |  223

Spinoza nun, daß der unbedingte Gehorsam einer Wechselseitigkeit zwischen Gebieter und dem, dem etwas geboten wird, bedarf. Spinoza macht deutlich, daß dieser Gehorsam nicht blind sein darf, nichts mit dem Gehorsam von Unmündigen gegenüber dem, der für sie sorgt, zu tun hat, daß er fern von einem Paternalismus ist, demzufolge Gott ein fürsorgender Vater wäre. Denn der Gehorsam zeigt sich nicht in dem Befolgen von etwas, das dem Gehorchenden äußerlich bliebe. Er zeigt sich allein in einem Tun, das Spinoza als Ausüben von Gerechtigkeit und Nächstenliebe bestimmt und das als dieses der Innerlichkeit einer Haltung bedarf, aus der heraus es geschieht. Ein solches Tun ist genau das, worin sich die pietas bezeugt. Deshalb gehören zum offenbarten Gehalt der Heiligen Schrift nicht Gehorsam und gute Taten als zwei sich ergänzende Elemente, sondern die guten Taten sind das Medium, in dem sich der Gehorsam artikuliert. Gott gehorchen heißt, daß man Gerechtigkeit und Nächstenliebe praktiziert – und man praktiziert sie nur dann, wenn man nicht einfach gehorcht, sondern wenn man es in einer bestimmten Weise tut, die konstitutiv für den wahren Sinn von Gehorsam ist, nämlich aus einer bestimmten Haltung heraus, die Spinoza des öfteren mit der Wendung »integro animo« beschreibt, was sich mit »von ganzem Herzen« übersetzen ließe. Gott von ganzem Herzen gehorchen, indem man Gerechtigkeit und Nächstenliebe ausübt (»Deo integro animo oboedire, justitiam et charitatem colendo«), heißt es im Vorwort zum TTP (Abschn. 10). Und diese Wendung ergänzt Spinoza, ebenfalls im Vorwort und zwar bei der Erläuterung von Gehorsam, durch die Wendung »von ganzem Herzen und freien Gemütes (integro et libero animo)« (Abschn.12), wobei das liber keine Addition zum integer ist, sondern dessen Explikation. Denn die Integrität des Gemüts wird über kein äußeres Gebot erreicht, sondern allein über eine Organisation der mannigfachen, affektiv bestimmten Antriebe menschlichen Tuns, die der Einzelne selbst erbringen muß und die ihm kein anderer abnehmen kann. Konsequenz daraus ist, daß menschliche Praxis, die einerseits der Anleitung von außen bedarf, der aber andererseits dennoch nichts von außen geboten werden kann, auch nicht von einer gött­ lichen Instanz, die als Gesetzgeber auftritt, relativ auf den Einzelnen bleibt, nämlich relativ auf dessen Verstandeskräfte und eigene 224  |  II.  Ethik und Politik 

Fähigkeiten, die ein jeder selbst betätigen muß. Für das Praktizieren von Moralität dürfen sie deshalb nicht ausgeschaltet oder unterdrückt werden, sondern bedürfen gerade der Förderung. Ebendies ist Spinoza zufolge durch das göttliche Gesetz garantiert, wie es sich in der Bibel artikuliert, wenn es nur in rechter Weise interpretiert wird, nämlich so, daß es jedem die Freiheit, selbst zu urteilen, beläßt. Zwar tritt es als ein zu befolgendes Gebot auf, das aber gerade in seiner Unbedingtheit nicht ein dem Einzelnen transzendentes Gebot ist, einfach deshalb nicht, weil es dann im Einzelnen keine Motivationskraft hätte, die Stabilität im Sinne von Integrität zu garantieren vermöchte. Dies möchte ich mit Blick auf Spinozas Bibel-Hermeneutik kurz verdeutlichen.1

Moralität und Interpretation

Spinozas Grundthese ist, daß die Bibel, dieses dunkle, sich Bilder und Gleichnisse bedienende Buch, buchstäblich zu lesen ist. Alles, was sie sagt, muß ihr selbst, ihren tatsächlichen Aussagen, entnommen werden. Da diese Aussagen keine Wahrheit enthalten, Folge der Trennungsthese, dürfen sie nicht unter das Kriterium von wahr und falsch gebracht, sondern müssen allein auf ihren Sinn (sensus) hin betrachtet werden. Dieser Sinn läßt sich mit voller Klarheit (clarissime) aus einer historischen Rekonstruktion des kulturellen Milieus erschließen, in dem die Verfasser der einzelnen biblischen Bücher gelebt haben, unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Vorstellungswelt der Adressaten, denen die Verfasser etwas haben sagen wollen und in Bezug auf die sich der Sinn dessen erst vollends ermitteln läßt, was die Verfasser gemeint haben. Hier, im Verhältnis von Verfasser und Adressaten, stellen sich Vermittlungsprobleme, die es unerläßlich machen, daß sich die Verfasser, Propheten und Apostel, der Vorstellungswelt ihrer Adressaten anpassen, weil sie nur so ihrer Lehre Aufmerksamkeit und Eindringlichkeit verschaffen können. Und um einer Lehre, die in Gestalt einer gebietenden Vorschrift auftritt, bei den Adressaten 1 

Vgl. auch meinen Aufsatz »Spinozas philosophische Lektüre der Bibel«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1999, 211–226. Moralität bei Spinoza  |  225

Wirksamkeit zu verschaffen, ist die Forderung nach Gehorsam gegenüber dem Gebot gewiß ein entscheidendes Mittel, dessen sich die Propheten und Apostel bedient haben. Die Notwendigkeit, Gehorsam zu fordern, geht dabei von einem Gefälle aus, das zwischen Propheten und den Empfängern von Prophezeiungen besteht: daß die Propheten einen privilegierten Zugang zum Wort Gottes haben, nicht aufgrund besonderen Wissens, sondern aufgrund ihres Auserwähltseins. Das macht es, daß die Propheten von den anderen als Autoritäten anerkannt werden. Dieses Gefälle deutet Spinoza nun in einer Reflexion auf den wahren Gehalt der Bibel um; es ist nicht das Gefälle zwischen Autori­ tät und Empfänger, sondern ein Gefälle zwischen Allgemeinem und Besonderem. Was die Verfasser der Heiligen Schrift lehren, ist trotz der Beschränktheit ihrer Vorstellungswelt nicht irgend etwas, sondern etwas durchaus Gehaltvolles, das es erlaubt zu sagen, daß die Heilige Schrift das Wort Gottes ist. Das heißt: In den einzelnen Aussagen der verschiedenen Verfasser der biblischen Bücher läßt sich ein substantieller Kern ausmachen, der als die allgemeine Lehre der Bibel bezeichnet werden kann. Er besteht darin, eine auf Gerechtigkeit und Nächstenliebe beruhende Moral zu lehren und den Menschen vorzuschreiben. Um eine solche Form von Praxis den Menschen in deren konkreten Leben und unter gegebenen Umständen zu ermöglichen, haben sich die Verfasser der biblischen Bücher hinreichend einzulassen auf die Vorstellungen der Menschen, die sie von den Gegebenheiten haben, und auch auf die Erwartungen, die sie damit für sich verbinden. Sie haben deshalb im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten die allgemeine Lehre in ein Gewand einkleiden müssen, das diesen Vorstellungen und Erwartungen entgegenkommt. Unter dieser Voraussetzung kommt es bei der Interpretation der Bibel darauf an, den Kern nicht mit dem Gewand, in dem er erscheint, zu verwechseln. Die richtige Interpretation der äußeren Formen, in denen ein substantieller Gehalt dem Volk in Relation auf dessen jeweiliges Vorstellungsvermögen präsentiert wird, hat die Aufgabe, gerade in diesen Formen jenen Kern der Bibel ans Licht zu bringen und im Hinblick darauf aufzuzeigen, welche Bedeutung für ihn die spezifische Einkleidungsform hat. Weil solche Einkleidungen keine überzeitliche Verbindlichkeit haben, muß es 226  |  II.  Ethik und Politik 

dem Leser erlaubt sein, für die eigene Praxis zu ihnen eine Distanz freien Interpretierens einzunehmen. Im Rückgriff auf die eigenen Vorstellungen muß es ihm selbst überlassen bleiben, welcher Mittel, Veranschaulichungen und auch Rituale er sich bedient, um dem, was die Bibel lehrt, für das eigene Leben sowohl Intensität wie auch Motivationskraft zu verleihen. Mit der Unterscheidung zwischen Kern und Gewand und dem Nachweis, daß die auf das Gewand bezogene Auslegung der Schrift die eigentliche Aufgabe der Textinterpretation ist, kann Spinoza zeigen, daß die Interpretation der Schrift Sache eines jeden Einzelnen ist, der sich dafür nicht der Autorität von Theologen beugen muß, die behaupten, wegen der vermeintlichen Heiligkeit der Schrift einen privilegierten Zugang zu ihr zu haben. Freilich muß er sich wegen des fehlenden Wahrheitsgehaltes der Schrift auch nicht der Autorität von Philosophen beugen. Vielmehr kommt es darauf an, die historisch kontingenten Anweisungen, die sich in der Bibel finden, in den Zusammenhang einzuordnen, den der Einzelne für die eigene Lebensführung als richtig erachtet; und das kann ihm keiner abnehmen und deshalb auch nicht vorschreiben. Hierfür bedarf es auch keines großen hermeneutischen Aufwandes; es reicht, wenn der Interpret des substantiellen Kerns inne ist und die persönliche Lebensführung unter den jetzt gegebenen Umständen im Horizont eines gleichbleibenden Allgemeinen betrachtet. Unter diesem Aspekt ist die Methode der Schriftauslegung nicht nur eine Propädeutik, die der Philosophie vorangeht, um ihr einen Raum ungehinderten Sichentfaltens zu schaffen, wie Leo Strauss gedeutet hat.2 Sie ist darüber hinaus ein Medium, das in die philosophische Tätigkeit des Sichklarmachens von weitgehend kontingenten Welt- und Lebenszusammenhängen integriert ist. Spinozas aufklärerische Anweisung zur Lektüre der Bibel wendet sich somit nicht an alle, sondern nur an denjenigen, der eine philosophische Haltung schon eingenommen hat. Für das Volk, sagt Spinoza in der Vorrede, habe er seinen Traktat nicht geschrieben, denn ihm sei der Aberglaube nicht zu nehmen. Wen er anspricht, ist der »philo2 

L. Strauss, How to study Spinoza’s Theological-political treatise, in: ders.: Persecution and the art of writing, New York 1952, 142–201. Moralität bei Spinoza  |  227

sophische Leser« (Abschn. 15), dem allein, so glaubte Spinoza, die Grundthese einer säkularisierten Religion zu vermitteln ist. Übernimmt er sie, würde er nicht nur, wie Spinoza sagt, »freier« (libe­ rius) in dem Sinne philosophieren, daß er sich befreit hat von der tradierten und herrschenden Meinung, die Vernunft, das Organ der Philosophie, müsse die Magd der Theologie sein (erste These des Untertitels). Auf der Basis einer richtigen Interpretation der Heiligen Schrift in deren allgemeinen Grundlagen würde er auch freier in dem Sinne philosophieren, daß er das dort eröffnete Problem eines Bezuges des wahrhaft Allgemeinen auf die konkreten Besonderungen als ein Problem erkennen würde, das einer eigenen Selbstvergewisserung und damit eines freien Urteilens bedarf (zweite These des Untertitels). Darin wird deutlich, daß der in den biblischen Schriften gebotene Gehorsam nicht das blinde Befolgen eines gebotenen Gesetzes verlangt. Zwar setzt die pietas ein Gebot voraus, das als Norm auftritt, eine Norm, die dem, der sie befolgt, noch äußerlich bleibt. Nicht verankert in der eigenen Vernunft, stützt sich das Befolgen nicht auf ein Wissen, dem nichts geboten werden muß, sondern auf eine Vorschrift, die aber gleichwohl eine praktische Bedeutung nur hat, wenn sie von dem, dem sie geboten wird, auch übernommen wird. Darin ist sie keine schlechthin transzendente Norm, die befolgt wird, insofern der nach ihr Handelnde begriffen haben muß, daß sie gemäß den eigenen Vorstellungen von Lebenszusammenhängen zu konkretisieren ist und allein darin ihre Bedeutung hat. Ein Handeln nach einem solchen Gesetz kann als moralisch bezeichnet werden. Es hat für den Handelnden eine unbedingte Verbindlichkeit genau dann, wenn er sie sich unter den konkreten Umständen, in denen er lebt, selbst aneignet und sich darin befreit von einem äußeren Geleitetsein. Was in dieser Aneignung beim Handelnden bewirkt wird, ist in erster Linie eine Haltung, eine Einstellung, man kann auch sagen jene Gesinnung (animus), von der Spinoza mehrfach genau dann redet, wenn er von Gehorsam redet. Eine solche Haltung kann weder geboten noch erzwungen werden, weil ein Mensch sie schon deshalb aus eigenem Antrieb selbst erwerben muß, weil sie sich angesichts der Vielfalt der Umstände, in denen gehandelt wird, stets neu bewähren muß. Dies könnte nicht gelingen, wenn man ihm die Freiheit, selbst zu urtei228  |  II.  Ethik und Politik 

len, nähme. Also: Ohne Freiheit des Philosophierens keine recht verstandene pietas. Es ist offensichtlich, daß eine solche Interpretation von pietas auch intersubjektive Implikationen enthält. In der Herausbildung einer moralischen Haltung, mit der der Mensch das Bewußtsein verbindet, daß er sie selbst erwerben muß, wird der Mensch dessen inne, daß er anderen in Sachen der Moral nichts vorschreiben darf. Insofern er jedoch von seiner moralischen Haltung selbst überzeugt ist, wird er gleichwohl nicht gleichgültig gegenüber der Lebensform eines anderen sein. Er wird sich vielmehr darum bemühen, auch in ihm eine solche Haltung zu befördern, nicht durch Überredung, sondern in Form einer freien Kommunikation, die auf gewaltsame Belehrung und damit jede Form von Dogmatismus verzichtet. Diesen intersubjektiven Gesichtspunkt wird Spinoza in der Ethik hervorheben, wenn er den Begriff von pietas erörtert (E IV, prop. 37, schol. 1). Es sei deshalb jetzt auf den Kontext eingegangen, in dem pietas in der Ethik erscheint.

Moralität und Gebot der Vernunft

Die Formen, in denen sich die pietas in der Ethik artikuliert, sind Selbstvertrauen (animositas) und Edelmut (generositas), so ist dem Ende dieses Werkes zu entnehmen (vgl. E V, prop. 41, schol.), Formen, die Spinoza im 3. Teil unter dem Begriff der Charakterstärke (fortitudo) zusammengefaßt hat (E III, prop. 59, schol.). Selbstvertrauen hat dabei eine auf das einzelne Subjekt bezogene, Edelmut hingegen eine intersubjektive Bedeutung. In der ersten Form zielt der Mensch darauf ab, das eigene Sein zu erhalten, in der zweiten Form darauf, andere Menschen zu unterstützen und mit ihnen ein Band der Freundschaft zu knüpfen, beides freilich in einer bestimmten Weise, nämlich allein nach dem Gebot der Vernunft (»ex sola rationis dictamine«, E III, prop. 59, schol.), d. h. nicht geleitet von anderen Motiven. Wie im Theologisch-Politischen Traktat steht pietas also unter einem Gebot. Ist es dort das göttliche Gebot, wie es in der Bibel überliefert ist, so ist es hier, in der Ethik, ein Gebot der Vernunft, das ganz im Dienst der menschlichen Selbsterhaltung steht und allein im Hinblick darauf eine Bedeutung hat. Es Moralität bei Spinoza  |  229

wird gegen die Weise zur Geltung gebracht, in der der Mensch seine Selbsterhaltung in ungenügender, weil von außen bestimmt bleibender Form zu realisieren trachtet. Auf die eigene Selbsterhaltung aus zu sein, ist das generelle Merkmal eines jeden Seienden, das sich nach den spezifischen Kapazitäten, die einem Seienden zukommen, differenziert. Beim Menschen ist die Weise des Strebens nach Selbsterhaltung, so legt Spinoza in der Entfaltung seiner Affektenlehre dar3 , wesentlich bestimmt durch eine Form des Vorstellens (imaginari), die den Strebenden bloß vorgestellte, nicht aber wahrhaft erkannte Sachverhalte als vorteilhaft oder unvorteilhaft begehren oder verabscheuen läßt. Bloß vorgestellt und nur scheinbar vorteilhaft, sind solche Sachverhalte der erstrebten Selbsterhaltung nicht tatsächlich dienlich. Das Vorstellen, das, wie alle Tätigkeiten eines »Dinges« (res), im Dienst der erstrebten Selbsterhaltung steht, hat eine Affektivität zur Folge, die ihrerseits die Weise, in der der Mensch nach Selbsterhaltung strebt, unausweichlich bestimmt. Und solange der Mensch, das ist Spinozas Grundthese, im Modus des Vorstellens agiert, ist er durch die aus ihm resultierenden Affekte fremd­bestimmt, mit der Folge, daß es ihm nicht gelingt, das eigene Sein tatsächlich zu erhalten. Die Affekte haben dann den Charakter von Leidenschaften (passiones), in denen wir etwas von außen erleiden. Sie sind es, die unser natürliches Aussein auf Steigerung der eigenen Wirkungsmacht (potentia agendi) einschränken und den Affekt der Freude einschließlich der aus ihm sich herleitenden Unterarten, denen der Mensch, weil sie eine Steigerung seiner Wirkungsmacht anzeigen, natürlicherweise zugeneigt ist, in einen solchen der Trauer und dessen Unterarten umschlagen läßt. Und der Mensch bleibt in das Geflecht eines ihn beherrschenden Affektgefüges verstrickt, solange er sein Streben nach Selbsterhaltung von Affekten, die Leidenschaften sind, bestimmen läßt. Im dritten Teil der Ethik entwickelt Spinoza in eindringlicher Weise die Gründe dieses Tatbestandes, indem er mit der Herleitung der Affekte aus dem imaginativ besetzten conatus des Menschen zugleich die interne durch Gegensätzlichkeit gekennzeichnete Spannung zwischen den Affekten der 3  Vgl.

Kap. IV.

W. Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, Hamburg 1992,

230  |  II.  Ethik und Politik 

Freude und der Trauer und das damit verbundene Sichvermischen dieser Affekte aufzeigt. Diese Darlegung des Gefüges der menschlichen Affektivität schließt Spinoza im dritten Teil der Ethik mit Lehrsatz 57 ab, um ihn in einer Anmerkung mit einer rückblickenden und einer vorgreifenden Bemerkung enden zu lassen: »So viel zu den Affekten, die dem Menschen zukommen, insofern er etwas erleidet. Es bleibt noch, einiges über diejenigen hinzuzufügen, die ihm zukommen, insofern er aktiv ist« (E III, prop. 57, schol.). Was Spinoza hinzufügt, sind nun genau jene Momente, die er später unter dem Titel »pietas« zusammenfaßt und die ich moralische Haltungen nennen möchte. Zunächst greift Spinoza auf die Grundunterscheidung zwischen einem dem Menschen zukommenden Handeln (agere) und Erleiden (pati) zurück, mit der er in Lehrsatz I den 3. Teil der Ethik eröffnet hat. Obschon der Mensch, in seiner Essenz als potentia qua conatus bestimmt, wesentlich ein handelndes Wesen ist, kommt ihm Handeln in einem strengen Sinne nur zu, insofern er adäquate Ideen hat, während sich sein Handeln der Sache nach als ein Erleiden erweist, insofern er inadäquate Ideen hat. Insofern das Haben inadäquater Ideen im Vorstellen (imaginatio) gegründet ist, das Vorstellen aber Grund der menschlichen Affektivität ist, ist der Mensch in seiner Affektivität ein Wesen, das etwas erleidet. Genau das hat Spinoza im 3. Teil der Ethik bis zu Lehrsatz 57 gezeigt. In den verbleibenden zwei Lehrsätzen will er demgegenüber auf Affekte verweisen, die in einer Aktivität des Menschen gründen, und es ist deutlich, daß sich dies der vorangegangenen Theorie der Affekte als Passionen nicht bruchlos fügt, daß vielmehr eine andere Perspektive eingenommen wird. Es gäbe auch, so behauptet Spinoza, Affekte, die nur solche der Begierde als der elementarsten Bestimmung von Streben und solche der Freude als Indiz einer Steigerung menschlicher Wirkungsmacht sind, nicht aber solche der die Freude beeinträchtigenden und eine Minderung von Wirkungsmacht anzeigenden Trauer. Solche Affekte seien Ausdruck einer Begierde, die sich ausschließlich als Freude artikuliert, d. h. als eine Freude, die davor bewahrt ist, in Trauer umzuschlagen. Lehrsatz 58 will zeigen, daß es solche Affekte gibt, und beruft sich hierfür darauf, daß der menschliche Geist »einige adäquate Ideen begreift« (E III, prop. 58, Moralität bei Spinoza  |  231

def.); Lehrsatz 59 will zeigen, daß eben solche Affekte jede Form von Trauer ausschließen. Freilich greift Lehrsatz 58 in seinem Beweis auf ein Lehrstück des 2. Teils zurück, das im Rückgriff auf die Ontologie (Theorie der Attribute und der unendlichen Modi) lediglich aufgezeigt hat, daß es dem menschlichen Geist unbeschadet seiner Endlichkeit, die ihn inadäquat erkennen läßt, prinzipiell möglich ist, adäquate Ideen von »einigem« zu haben, nämlich sowohl von den allgemeinen Strukturen der Welt (im Medium der ratio) wie von Gott selbst (im Medium der scientia intuitiva), ohne daß dort schon gezeigt wäre, wie der Mensch auf der Basis, als conatus durch ihm Äußeres bestimmt zu sein, diese Form von Erkenntnis auch realisieren kann. Der 3. Teil wird gerade zur Geltung bringen, daß der menschliche conatus affektiv besetzt und das in ihm gegründete Begehren durch Affekte motiviert ist, die einer solchen Form der Erkenntnis im Wege stehen. Wenn Spinoza am Ende des 3. Teils behauptet, daß das menschliche Begehren auch Ausdruck reiner Aktivität sein kann, in der es nicht die Gestalt eines Erleidens annimmt, dann muß er in Anspruch nehmen, daß das Begehren nicht nur durch als Passionen auftretende Affekte bestimmt ist, sondern daß es auch durch die Vernunft bestimmbar sei, und zwar durch die Vernunft allein. Offensichtlich bedeutet dies, daß nicht nur eine Vernunft einzusetzen ist, die strategisch verfährt und aus den Gegebenheiten, die den Menschen bedrängen, das Beste macht, worin sie ihnen und damit der Passivität menschlichen Erleidens verpflichtet bliebe. Wie eine davon unterschiedene, gleichsam reine Vernunft Bestimmungsgrund unseres Begehrens sein könnte, ist aber von Spinoza bislang nicht gezeigt worden. Er beruft sich deshalb auch gar nicht auf sie in ihrer reiner Form, sondern darauf, daß sie als ein Gebot (dicta­ men rationis) auftritt, worin in der Tat das gründet, was Spinoza später als pietas beschreibt, unter der Voraussetzung, daß sich das menschliche Begehren von einem solchen Gebot allein leiten läßt. Aber auch die Figur eines »Gebotes der Vernunft« wird hier von Spinoza ganz unvermittelt eingeführt – erst im nächsten Teil, dem vierten, wird er entwickeln, was es enthält und inwiefern es erforderlich ist, damit der Mensch überhaupt eine Chance hat, dem Geknechtetsein durch die Affekte zu entkommen. 232  |  II.  Ethik und Politik 

Eine wesentliche Funktion des Gebotes der Vernunft, so zeigt Spinoza dort, besteht darin, daß der Begehrende in der Orientierung an ihm eine Distanz zu der Unmittelbarkeit seines auf jeweilige Objekte gerichteten Begehrens einzunehmen vermag, die es ihm ermöglicht, aufgrund eines Wissens um die Grundlagen allen Begehrens das eigene Begehren besser zu steuern. Das ist ein Vorgriff auf den Nachweis am Ende der Ethik, daß derjenige seinen conatus am besten realisiert, der zugleich begriffen hat, was sein conatus ist, freilich nur dann, wenn dieses Begreifen dem Begehren nicht äußerlich bleibt, sondern wenn das Begehren selbst sich als Begreifen und als nichts anderes artikuliert. In dieser Perspektive braucht die Vernunft nicht mehr als Vorschrift aufzutreten, weil sie der Vollzug des Einzelnen ist, worin sie zur scientia intuitiva wird, die nur noch von einem Affekt begleitet wird, der in sich stabil ist und alle anderen beherrscht, dem Affekt der geistigen Gottesliebe (amor Dei intellectualis). Gegenüber dieser Position am Ende der Ethik kann auf der Basis eines noch nicht voll-entwickelten menschlichen Wissens die Vernunft offenbar nicht anders als in Gestalt eines Gebotes auftreten. Als ein Gebot der Vernunft bringt dieses Gebot einerseits das affektiv bestimmte Begehren unter etwas, an dem es sich orientieren soll und das darin dem tatsäch­ lichen Begehren noch äußerlich bleibt, während es andererseits als Gebot der Vernunft doch »nichts gegen die Natur« fordert, sondern genau das in den Blick bringt, was in der Natur jedes Einzelnen liegt, nämlich in seinem Streben nicht auf ein ihm transzendentes Ziel gerichtet zu sein: »daß jedermann streben sollte, sein Sein gemäß der ihm eigenen Natur zu erhalten« (E IV, prop. 18, schol.). Formuliert als Gebot und damit in einer conatus-widrigen teleologischen Perspektive, will es dem Menschen gegen dessen affektives Selbstverständnis, sein Glück in der Erlangung ihm äußerer Sachverhalte zu erlangen, deutlich machen, daß dieses gerade nicht in einem solchen Telos liegt. Die Gebote der Vernunft haben dementsprechend, so formuliert es Spinoza zusammenfassend (E IV, prop. 18, schol.), Folgendes zum Inhalt: 1. Grundlage von Tugend und damit des rechten Sichverhaltens ist nichts als das Streben, das eigene Sein zu erhalten, so daß das Glück allein darin besteht, imstande zu sein (posse), das eigene Sein zu erhalten. 2. Nach einer so verstandenen Tugend ist um ihrer selbst willen (propter se) Moralität bei Spinoza  |  233

zu verlangen, nicht aber weil man mit ihr etwas anderes erreichen könnte. Und schließlich enthält die Reflexion auf das, was der co­ natus ist, ein Moment, das den mit dem affektiven Begehren verbundenen latenten Egoismus zu destruieren vermag. Sie verdeutlicht, daß das recht verstandene Streben auf kein Gut gerichtet ist, an dem nicht alle Anteil haben könnten, daß sein Ziel vielmehr eine Vervollkommnung ist, die sich als Verbesserung des eigenen Sichverstehens deuten läßt. Es zu verfolgen kann eine die affektiv bedingten Konflikte ausräumende Gemeinsamkeit der Menschen zustande bringen, so daß die Vernunft fordert, daß ein jeder wünschen möge, daß jeder andere ebenfalls auf ein solches Verfolgen aus ist. Orientiert an einem Gebot der Vernunft, werden Menschen deshalb, gerade im Streben nach der eigenen Selbsterhaltung, »für sich selbst nach nichts verlangen, was sie auch nicht für andere Menschen begehren«. Tun sie das, dann können sie, sagt Spinoza, als »gerecht, zuverlässig und anständig« angesehen werden (E IV, prop. 18, schol.). Das heißt: Ihr Verhalten ist unter dieser Bedingung über moralische Prädikate beschreibbar. Denn die anderen Menschen werden in dieser Perspektive nicht als äußere Dinge verstanden, die sich in Gebrauch nehmen lassen, sondern in jener Innerlichkeit, die ein vernunftorientierter Mensch an sich selbst erfährt. Auch sie sucht der Einzelne gewiß unter einer NützlichkeitsPerspektive bei den anderen zu befördern: Er ist darauf aus, daß die anderen ihn selbst nicht als ein äußeres Ding ansehen, mit dem man um äußere Güter konkurrieren müßte. Erreichen kann er dies aber nur, wenn er die anderen in deren eigenen Sein anerkennt. Nicht zufällig weist Spinoza in diesem Zusammenhang darauf hin, daß seinem Rekurs auf Gebote der Vernunft eine aufklärerische Funktion zukommen soll, und zwar in zweierlei Hinsicht: Einmal im Blick auf das natürliche Verlangen jedes Einzelnen, dem gegen sein Befangensein in der Unmittelbarkeit affektiven Strebens verdeutlicht werden soll, was Grundlage und damit auch Ziel seines Strebens ist, zum anderen aber auch, und von Spinoza ausdrücklich gemacht, im Blick auf Theoretiker, die aus Spinozas Lehre eines am eigenen Vorteil orientierten Strebens als Fundament aller Tugend ein moralisch verwerfliches Theorem herauslesen wollen, das einer aller Moralität widerstreitenden impietas das Wort redet. Demgegenüber betont Spinoza, daß das von ihm entwickelte Prin234  |  II.  Ethik und Politik 

zip gerade Grundlage einer Tugend ist, die sich als moralisch zu deutende pietas verstehen läßt, und zwar in Einklang mit Theoretikern, die meinen, Moralität bezeuge sich im Befolgen von Geboten, die dem menschlichen Begehren die Richtung weisen. Auch er läßt das menschliche Streben sich an Geboten der Vernunft orientieren, um die Unmittelbarkeit eines an Objekten orientierten und darin konfliktträchtigen Begehrens durchbrechen zu können. Unter diesem Aspekt tritt die Tugend als moralisch zu verstehende pietas auf, eine Tugend, die erst dort keines Gebotes mehr bedarf, wo sie zu einem Wissen geworden ist, das von einem in sich stabilen Affekt begleitet ist, von der Liebe zu dem, in dessen Erkenntnis sich dieses Wissen erfüllt und das kein innerweltliches Objekt ist, das dem Strebenden als ein zu erreichendes Ziel gegenüber stünde.

Moralität und innere Haltung

Freilich macht Spinoza bei aller hier vorzunehmenden Differenzierung in der Form des Wissens am Ende des 3. Teils der Ethik deutlich genug, daß mit der Orientierung an einem Gebot der Vernunft nur dann Affekte, die keine Leidenschaften sind, verbunden sind, wenn der Mensch auch in dieser Orientierung durch Aktivität gekennzeichnet ist, eine Aktivität, die Spinoza ausdrücklich an das Haben adäquater Ideen bindet, d. h. an eine Form von Einsicht (intelligere). Offensichtlich will Spinoza damit darauf abheben, daß es die eigene Vernunft ist, die dem Begehren etwas gebietet, der Mensch also sein Begehren unter eine Vorschrift stellt, die er sich kraft seiner Vernunft selbst gibt. Er bringt das durch eine Wendung zum Ausdruck, die er häufig gebraucht, daß nämlich der an einem Gebot der Vernunft orientierte Mensch von der Vernunft »geleitet« wird, eine Wendung, die er auch bei der Beschreibung von pietas gebraucht. Moralität ist die Begierde, »die sich dem verdankt, daß wir nach der Leitung der Vernunft (ex ratione ductu) leben« (E IV, prop. 37, schol. 1). Wenn dies auch mehr enthält, als der »Theologisch-Politische Traktat« in Bezug auf das göttliche Gebot in Anspruch nimmt, so ist es doch eine Fortentwicklung dessen, was dort, wie ich habe zeigen wollen, schon angelegt ist: daß nämlich das Gebot nur dann in rechter Weise befolgt wird, wenn es auch Moralität bei Spinoza  |  235

innerlich übernommen und darin von demjenigen, der es befolgt, auch für sich selbst anerkannt wird, was ohne eine vernünftige Aktivität dessen, an den das Gebot sich richtet, nicht möglich wäre. Das vernünftige Gebot, das dem Begehrenden eine Distanz zur Unmittelbarkeit seines Begehrens verschafft, vermag in ihm nur dann wirksam zu werden, wenn er sich von dieser Distanz her auch selbst versteht, d. h. wenn er die durch Distanz ermöglichte innere Haltung in sich zu verfestigen vermag, wofür angesichts der sich darbietenden Objekte eine Eigenaktivität erforderlich ist, die ausschließt, daß er auf sie nur reagiert. Der Mensch darf sein Begehren nicht von den Objekten her, die er begehrt, verstehen, und das kann ihm nur gelingen, wenn er ein angemessenes Selbstverständnis in sich herauszubilden vermag. Die beiden elementaren Affekte Liebe und Haß, die sich aus den Kardinalaffekten Freude und Trauer ergeben, sind ja wesentlich dadurch gekennzeichnet, daß sie auf ein Objekt gerichtet sind, das begehrt oder verabscheut wird, je nachdem es dem Begehrenden als begehrens- oder verabscheuenswert erscheint, also in der Perspektive eines durch die imaginatio bestimmten Begehrens, das nicht schon auf das gerichtet ist, was die eigene potentia agendi tatsächlich fördert bzw. mindert. Das impliziert jenes Umschlagen von Freude in Trauer und dementsprechend von Liebe in Haß, das Spinoza im Verlauf der Exposition der Affektenlehre im 3. Teil beschrieben hat, also eine Instabilität des affektiven Lebens, in dem jedem Affekt ein gegenteiliger korreliert, der ihn selbst tangiert und den Menschen hin und her gerissen sein läßt. Spinoza wird zeigen, daß unter allen begehrten Objekten allein Gott dem menschlichen Begehren eine interne Stabilität zu verleihen vermag, freilich nicht sofern er vorgestellt, sondern nur sofern er erkannt wird, mit welchem Erkennen der Affekt einer geistigen Gottesliebe verbunden ist, die durch keinen Affekt des Hasses tangiert sein kann. Solange diejenige Form der Erkenntnis nicht ergriffen ist, die eine adäquate Einsicht in Gott gewährt und mit deren Ergreifen der Mensch in seinem Begehren allein durch jene geistige Liebe bestimmt ist, bleibt dem Menschen aber immer noch die Möglichkeit, sein Begehren in der Distanz zu allen innerweltlichen Objekten, deren Verfaßtheit er nur inadäquat wahrnehmen kann, in dem Sinne auf sich selbst zu beziehen, daß er eine der Vernunft verpflichtete 236  |  II.  Ethik und Politik 

Haltung annimmt, aus der heraus er sein Begehren in eindeutiger Weise bestimmt. Und genau hier hat die pietas ihren Ort. Sie kann als eine Haltung beschrieben werden, in der ein Mensch mit sich selbst im reinen ist. Der Mensch ist in seinem Inneren mit sich vollkommen einig (»sibi mente maxime constat«, E IV, prop. 37, schol. 1), wenn er nicht aus bloßem Affekt (»ex solo affectu«, ebd.) etwas erstrebt, worin er bloß aus ungestümer Leidenschaft handelte (»solo impetu agit«, ebd.), wenn er vielmehr in einer kontrollierten Weise handelt, die sich einer bestimmten Haltung verdankt. Eine solche Haltung bezeichnet Spinoza als Charakterstärke, die als Oberbegriff für Selbstvertrauen und Edelmut das umfaßt, was zu Religion und Moralität gehört, wie Spinoza rückblickend sagt (E V, prop. 41, schol.). Er wiederholt damit nur das, was der Dar­legung der pietas (und der religio) im Theologisch-Politischen Traktat zu entnehmen ist, daß pietas nämlich in einer subjektiven Haltung gründet, in der der Mensch eine Integrität des Gemütes erreicht hat. Dort ist es noch ein göttliches Gebot, das an ihn ergeht, hier ist es ein Gebot der eigenen Vernunft, aber doch so, daß es sich immer noch um ein Gebot handelt, das dem Vollzug des Begehrens äußerlich bleibt. Im Feld der Religion werden alle angesprochen, also auch die, die aufgrund einer kaum entwickelten Vernunft dem vorurteilshaften Begehren im besonderen Masse ausgesetzt sind und deshalb in einer Form angesprochen werden müssen, die auf diese Vorurteile Rücksicht nimmt, während in der Ethik die angesprochen werden, die von ihrer Vernunft Gebrauch zu machen schon bereit sind, vielleicht weil sie die Religions-Lektüre bereits hinter sich haben. Doch ist beiden Feldern gemeinsam, daß dem Gebot der Charakter bloßer Äußerlichkeit genommen werden muß und daß hierfür ein Selbsturteilen desjenigen erforderlich ist, der über es angesprochen wird. Darin erhält die pietas eine Komponente, die es erlaubt, die Äußerlichkeit, in der das göttliche Gebot noch erscheint, mehr und mehr abzubauen und der Innerlichkeit einer Selbstübernahme immer mehr anzunähern; und das ist eine Tendenz, die in der recht verstandenen Religion schon angelegt ist. Betont man den Aspekt der Innerlichkeit einer herauszuarbeitenden Haltung, dann wird deutlich, daß die mit der pietas verbundenen Einstellungen gar keine Affekte im eigentlichen Sinne sind, mögen sie auch an die Elementarbestimmung von Begierde (cupi­ Moralität bei Spinoza  |  237

ditas) gebunden sein, der alle unsere Handlungen entspringen, eine Bindung, die auch noch für die pietas selbst gilt (vgl. E IV, prop. 37, schol. 1). Zwar führt Spinoza deren Erörterung mit der These ein, daß es neben den Affekten, die Passionen sind, auch Affekte gäbe, die nur der Freude und Begierde, nicht aber der Trauer zuzurechnen sind. Doch gerade dies, daß Affekte der Freude davor gefeit sind, in solche der Trauer umzuschlagen, nimmt ihnen den spezifischen Charakter, Affekte zu sein. Denn ihrer Definition zufolge (vgl. E III, GenDefAff) sind Affekte auf einen Gegenstand bezogen, von dem der Begehrende eine verworrene Idee hat, der gemäß er diesen Gegenstand als etwas erstrebt, das ihn nur vermeintlich, nicht aber tatsächlich fördert. Orientiert an den Gegenständen, bleiben deshalb alle Affekte Leidenschaften, solange nicht die adäquate Erkenntnis eines Gegenstandes in Anspruch genommen werden kann, den zu begehren nicht nur eine momentane, sondern eine dauerhafte Steigerung des eigenen Seins bedeutet. Solange das nicht der Fall ist, sind auch die Affekte der Freude durch das Merkmal gekennzeichnet, gegenteilige Affekte zu haben, die zur Trauer gehören und diejenigen der Freude bedrohen. Deshalb enthält der Katalog der Affekte, die Spinoza im Anhang zum 3. Teil der Ethik definiert, auch gar nicht jene vermeintlichen Affekte, die uns zukommen, sofern wir aktiv sind. Denn sie sind nicht zu verorten in Bezug auf begehrte Objekte, sondern allein in der Verinnerlichung einer Haltung, die die Chance bietet, das Bestimmtsein durch jeweils begehrte Objekte zu durchbrechen und in dieser Weise eine Kontrolle über die gegenstandsbestimmten Affekte zu haben. Die aus einer solchen Haltung resultierenden Einstellungen sind folglich keine Affekte, die sich gegen andere Affekte ausspielen ließen. Sie sind vielmehr Ausdruck einer Macht des Gemütes (animi potentia), die einem Menschen die Kraft verleiht, Affekte zu mäßigen. Von der Mildtätigkeit (clementia) sagt Spinoza dies ausdrücklich (E III, DefAff38), aber es gilt auch für Mäßigkeit (temperantia), Nüchternheit (sobrietas) und Keuschheit (castitas) (E III, DefAff48 expl.). Sie kontrollieren Habgier, Trunksucht und Lüsternheit, sind aber nicht deren Gegenteil, also keine affectus contrarii, als die sie mit ihnen auf einer Ebene stünden. Es sind Haltungen, die, wenn sie zu einer Stabilität gelangt sind, durch das leidenschaftlich bestimmte Begehren nicht ihrerseits gefährdet sind und deshalb 238  |  II.  Ethik und Politik 

ihnen gegenüber auch nicht als stärkere Leidenschaften auftreten müssen, um sie beeinträchtigen zu können. Von der Gefälligkeit (modestia), die eine Menschenfreundlichkeit (humanitas) ist (E III, DefAff43), sagt Spinoza ausdrücklich, daß sie überhaupt nur dann, wenn sie nicht einem Affekt entspringt, als Gefälligkeit bezeichnet werden kann. Als diese gehört sie zur pietas (E IV, caput 25), während sie, ist sie affektiv bestimmt, zu Ehrgeiz (ambitio) wird, von dem geleitet Menschen sich anderen Menschen allein deshalb zuwenden, um über sie, sie selbst mißachtend, etwas für sich selbst zu gewinnen. Und genau dann haben Menschen, wie Spinoza in diesem Zusammenhang sagt, ein falsches Bild von Moralität (falsa pietatis imago), weil sie dann den anderen, kantisch gesprochen, als ein Mittel ansehen, das sich in den eigenen Dienst nehmen läßt. Ungestümer Leidenschaft folgend, d. h. das Begehren durch die sich präsentierenden Objekte bestimmt sein lassend, kann der Mensch gar nicht anders, während er in der Einnahme einer moralischen Haltung ein verändertes Selbstverständnis gewinnt. In ihm wird er dessen inne, zum einen daß er selbst etwas ist und nicht in einer Abfolge begehrender Akte aufgeht, die relativ sind auf gerade sich präsentierende Objekte (Ausdruck dafür ist Selbstvertrauen), zum anderen daß dieses Selbstsein kein Privileg ist, das nur ihm zukommt, sondern etwas, das auch für andere gilt, so daß sein Verhältnis zu ihnen nicht mehr der konfliktträchtige Konkurrenzkampf bloß affektiv bestimmten Begehrens ist, er vielmehr für sie wünschen kann, was er auch für sich wünscht (Ausdruck dafür ist Edelmut). Beide Haltungen stehen insofern unter dem gemeinsamen Begriff einer Charakterstärke, die genau das ist, wodurch Spinoza die pietas charakterisiert (E V, prop. 41, schol.). Deutlich ist dabei, daß die Haltung der Moralität, die die anderen Menschen im Blick hat, von besonderer Bedeutung ist. Moralität ist (neben Religion) erforderlich, um Menschen in Liebe zusammenzubringen, so faßt Spinoza in Hauptsatz 15 des 4. Teils zusammen und verweist dabei auf einen zuvor, in Lehrsatz 46 des 4. Teils, entwickelten Gesichtspunkt, demzufolge Haß und mit ihm verbundene Affekte wie Zorn und Verachtung mit Liebe zu vergelten sind. Diese Liebe hat Spinoza dort auch als Edelmut bezeichnet (»amor sive generositas«), d. h. als eine Haltung, aus der heraus dem anderen, wie auch immer er sich verhalten mag, zu begegnen Moralität bei Spinoza  |  239

ist. Und genau diese Haltung ist es, die bei dem einen wie dem anderen etwas bewirkt. Wer dem anderen mit Edelmut begegnet, der kämpft nicht nur freudig, sondern auch zuversichtlich, d. h. aus einem inneren Überzeugtsein, das nicht mehr des Hinblicks auf die Unterschiede der Menschen bedarf (»gleich leicht hält er vielen wie einem stand«) und das am wenigsten der Hilfe des Schicksals bedarf, d. h. der Gunst äußerer Umstände, die nicht in der Gewalt des Einzelnen sind. Der andere, der durch Edelmut besiegt wird, ist andererseits in seinem Besiegtwerden keineswegs gedemütigt, sondern ebenfalls durch Freude gekennzeichnet, weil er seine schlechten Affekte nicht aus einem Mangel an Kraft, sondern einem Zuwachs seiner Kräfte (»non ex defectu, sed ex incremento virium«) aufgegeben hat. Diese Förderung des anderen in dessen eigenem Sein ist nur möglich, wenn der moralisch Handelnde gemäß seiner inneren Freiheit auch dem, den er von seiner moralischen Einstellung überzeugen möchte, die Freiheit beläßt, von sich aus zu einer moralischen Einstellung zu gelangen. Es ist jene libertas philoso­ phandi des TTP, an die Spinoza die pietas auch im religiösen Kontext gebunden hat und die einem jeden zuzugestehen ist, weil es in Fragen der Moral keine Autoritäten geben kann, denen andere zu gehorchen hätten. Niemand kann zu einer moralischen Einstellung von außen gebracht werden, weil er sie kraft eigener Einsicht selbst übernehmen muß, auch dann, wenn er noch eines Gebotes bedarf, das als Gebot mit der Struktur vollkommener Einsicht nicht verträglich ist. Moralität und Ethik

Es seien abschließende Bemerkungen zum Status der Moralität innerhalb der Ethik gemacht. Man kann Moralität als eine Etappe auf dem Weg deuten, 4 den der Mensch zu durchlaufen hat, um zu dem Standpunkt reiner Einsicht gelangen zu können, auf dem er sich dann allein von dieser Einsicht her selbst bestimmt. Hierfür bedarf es angesichts der Affekte einer Arbeit an sich selbst, die sowohl durch eine Distanzierung von der Unmittelbarkeit affektiven 4 

Insbesondere A. Matheron (vgl. Matheron, Individu et communauté chez Spinoza. Paris 1969) hat so gedeutet. 240  |  II.  Ethik und Politik 

Eingenommenseins wie durch die Herausbildung einer inneren Haltung gekennzeichnet ist. Das sind Voraussetzungen dafür, der höchsten Form von Erkenntnis, die ihrer Struktur nach unabhängig von diesen Bedingungen ist, im Menschen unter dessen lebensweltlichen Bedingungen eine wirksame Kraft und damit praktische Geltung zu verschaffen. Und es sollte nicht übersehen werden, daß Spinoza den moralischen Standpunkt im Knechtschafts-Teil der Ethik erörtert, womit er deutlich macht, daß der Mensch auf diesem Standpunkt die ihm mögliche Freiheit noch nicht realisiert hat und daß deshalb über diesen Standpunkt hinauszugehen ist. Der 5. Teil der Ethik beschreibt dann den höheren Standpunkt, auf dem der Mensch nicht mehr fremdbestimmt ist, weil er nicht mehr gegen die Affekte kämpft, sondern diese kraft einer Einsicht, die sich der Macht des eigenen Verstandes verdankt, in seine Gewalt gebracht hat. Aber Spinoza warnt ausdrücklich davor, diesen Weg so zu verstehen, daß der moralische Standpunkt eine bloße Etappe sein könnte, die man, einmal ans Ziel gelangt, als eine Position zurücklassen könnte, der kein Eigengewicht zukommt, weil sie, vom Ende her gesehen, noch unzureichend ist. Am Ende der Ethik, nachdem über eine Theorie geistiger Gottesliebe der höchste Standpunkt erreicht ist, sagt Spinoza (im Lehrsatz 41 des 5. Teils), daß das, was er im 4. Teil als das Wichtigste (prima) im menschlichen Leben herausgestellt hat – und dazu gehört ganz wesentlich die über die Haltungen von Selbstvertrauen (animositas) und Edelmut (genero­ sitas) näher beschriebene pietas – auch das Wichtigste bleibt, weil seine Wichtigkeit unabhängig von der Theorie der Ewigkeit, deren der rein Wissende inne wird, entwickelt worden ist und insofern durch diese Theorie nicht überholt wird. Moralität ist so verstanden eine Etappe auf dem Weg zum höchsten Glück, aber gleichwohl nicht eine solche, die man einfach zurücklassen könnte, wenn man das Ziel erreicht hat. Hier greift ein Aspekt, auf den Spinoza schon im TTP gerade in der Trennung von Theologie und Philosophie verwiesen hat, dort nämlich, wo er die Wichtigkeit der Religion unbeschadet dessen, daß sie sich nicht auf Beweise stützt, betont. Es sei unsinnig, heißt es im 15. Kapitel des TTP, etwas allein deshalb nicht anzuerkennen, weil es sich nicht streng beweisen lasse: »Als ob wir, um unser Leben weise einzurichten, nur das als wahr gelMoralität bei Spinoza  |  241

ten lassen dürften, was sich durch keine Zweifelsgründe in Zweifel ziehen läßt, und als ob nicht die meisten unserer Handlungen sehr ungewiß wären und eine Beute des Zufalls« (XV, Abschn. 7). Es ist die Komplexität der Welt, in der wir zu handeln haben und deren Erfordernissen wir uns in vernünftiger Weise stellen müssen, ohne daß sich die Weltzusammenhänge in ihrer empirischen Kontingenz sub specie aeternitatis begreifen ließen. Spinoza hebt an dieser Stelle auf eine Differenz zwischen Wissen und Handeln ab. Zwar ist Spinozas Theorie zufolge das Wissen in seiner höchsten Form im höchsten Maße zugleich eine Form des Handelns. Doch sind wir in unsrer alltäglichen Praxis auch dann genötigt zu handeln, wenn wir über kein sicheres Wissen der Umstände verfügen, in denen unser Handeln geschieht. Und Moralität ließe sich als die Haltung beschreiben, die, entsprechend dem im TTP artikulierten Verständnis von pietas, gerade unsere alltägliche Praxis im Blick hat. In Übereinstimmung damit definiert Spinoza in der Ethik pietas als die Begierde, Gutes zu tun (cupiditas bene fa­ ciendi), die sich dem verdanke, »daß wir nach der Leitung der Vernunft leben« (E IV, prop. 37, schol. 1). Religion (religio) hat Spinoza dort, im Unterschied zu ihrer Bedeutung im TTP, ganz unter wissenstheoretischem Aspekt definiert und an die Erkenntnis Gottes gebunden (»quatenus Deum cognoscimus«), während er Moralität (pietas) demgegenüber an eine Form des Lebens bindet (»quod … vivimus«), die eben nicht auf reines Wissen eingeschränkt ist, sondern offensichtlich weiter reicht, wenn sie auch unter der Bedingung von Vernunft steht (»ex rationis ductu vivimus«). Das ist aber eine Vernunft, die sich weder als reines Wissen noch als ein strategisch kalkulierendes Instrument artikuliert, das aus den Gegebenheiten das jeweils Beste macht. Es ist vielmehr eine Vernunft, die auf die Haltung des Menschen im Sinne einer Integrität seines Gemütes zielt und insofern in erster Linie nicht das Was, sondern die Weise unseres Handelns (bene facere) bestimmt. Hauptsatz 32 des 4. Teils der Ethik faßt zusammen, wie wir angesichts der Macht äußerer Dinge, über die wir keine unbedingte Gewalt haben, mit uns selbst ins Reine kommen können, indem wir die Ereignisse der Welt, die sich unserer Macht, d. h. dem, was wir von uns aus vermögen, entziehen, mit Gleichmut (»aequo animo«) ertragen. Dieser Gleichmut setzt voraus, daß wir uns des242  |  II.  Ethik und Politik 

sen bewusst sind, unsere Pflicht getan zu haben (»si conscii simus nos functos nostro officio fuisse«). Das umfaßt mehr als das Bewußtsein, sein Leben auf eine Einsicht sub specie aeternitatis hin verpflichtet zu haben, die alle Zufälligkeiten notwendigerweise ausblendet. Denn es schließt das Bewußtsein ein, im Feld intersubjektiven Wohltuns, dessen Komplexität sich nicht mit letzter Gewißheit erkennen läßt, in einer Weise gehandelt zu haben, die gerade im Hinblick auf die damit verbundenen Unwägbarkeiten die beste ist. Ein solches Handeln gründet in einer Haltung der Aufrichtigkeit, die den anderen anerkennt und respektiert und deshalb auch der Anerkennung und des Respekts durch den anderen sicher sein kann. Das gilt auch dann, wenn dem anderen die Dimension, an Wissen orientiert zu sein, weitgehend fremd ist, auf die sich zu beziehen deshalb bedeutete, ihn gar nicht erreichen zu können. Im Briefwechsel mit Blyenbergh, einem philosophisch interessierten Autodidakten, sieht sich Spinoza wenigstens an einer Stelle genötigt, darauf abzuheben. Blyenbergh, der nach »gut« und »böse« fragt und begrifflich, insbesondere hinsichtlich der Konzeption Gottes, nicht ganz sattelfest ist, kann natürlich von Spinoza zurechtgewiesen werden, aber seine Fragen an Spinoza sind nicht ohne Gehalt und berühren in der Tat eine zentrale Schwierigkeit, vor der Spinoza steht. Es ist insbesondere die Frage, wenn gut und böse nur relative Begriffe äußeren Vergleichens sind und der Einzelne in seinem Tun nur nach dem je eigenen conatus, der dessen singuläre Essenz ausmacht, angemessen begriffen werden kann, woran denn Menschen über eine bloße Beschreibung ihrer Faktizität hinaus überhaupt gemessen und beurteilt werden können, anders gewendet, ob bei Fehlen eines solchen Maßstabes, von dem Blyenbergh meint, es müsse ein moralischer sein, nicht jegliches Tun gleichermaßen gutzuheißen sei. Jemanden totschlagen oder ihm Almosen geben, einen Diebstahl begehen oder rechtschaffen sein, das könne nicht gleichermaßen gut sein, schreibt Blyenbergh mit gesundem Menschenverstand (Ep 22). Spinoza antwortet  (Ep 23), daß Menschen, die das eine oder das andere tun, natürlich nicht gleich gut seien, der eine vielmehr vollkommener und glücklicher sei als der andere, und gibt als Grund dafür an, daß die so sich verhaltenden Menschen von unterschiedlicher Natur sind, aus der die jeweiligen Handlungen fließen. Und diese Natur, so das Moralität bei Spinoza  |  243

Differenzmerkmal, sei beim Rechtschaffenenen, im Unterschied zum Dieb, durch eine klare Erkenntnis Gottes und seiner selbst bestimmt, von der Spinoza sagt, daß sie das »vorzüglichste« sei, »was uns zu Menschen macht«. Diese Antwort kann den Dordrechter Getreidehändler natürlich nicht befriedigen, wohl auch nicht über Spinozas Hinweis auf den hierfür zu erbringenden Beweis in der noch nicht edierten Ethik, weil sie Unterscheidungen über eine Intellektualisierung gewinnt, von der Blyenbergh nicht sehen kann, daß sie die erwartete Differenzierung wirklich plausibel macht. Aber Blyenbergh hätte auf ein Beispiel achten können, das Spinoza in diesem Brief erwähnt und das unabhängig von der beanspruchten Intellektualisierung ist (Ep 23): der Muttermord des Nero und des Orest, zweier Menschen, die gewiß nicht Exemplare des spinozanischen Weisen sind. Bei gleicher äußerer Tat (faci­ nus externus), die sich physikalisch beschreiben läßt und die im Hinblick auf das gleiche Ziel, die Mutter zu töten, geschieht, wird Orest, sagt Spinoza, doch nicht so, zumindest nicht so wie Nero, angeklagt und eines Verbrechens beschuldigt. Denn durch die Tat, die gleich aussieht, erweist sich der eine, Nero, als »undankbar, unbarmherzig und ungehorsam«, deshalb nämlich, weil ihn das Motiv, aus dem heraus die Tat geschehen ist, zu einem moralisch verwerflichen Menschen macht, während Orest offenbar von einem andersartigen Motiv geleitet worden ist, das es erlaubt, ihn und damit seine Tat in einer anderen, von Spinoza hier nicht näher beschriebenen Weise zu qualifizieren. Spinoza muß nur zeigen, wie es möglich ist, daß ein Mensch sich seiner Natur nach über seine Motivation charakterisieren läßt, was offenbar nur der Fall ist, wenn sie einem Individuum auch zugerechnet werden kann; und Spinoza kann zeigen, daß das dann der Fall ist, wenn sie in einer Haltung gegründet ist, die dieses Individuum stabilisiert und darin in der Vielfalt der Umstände in sich konsequent sein läßt, und daß hierfür die Aktivität eines freien Vernunftgebrauchs erforderlich ist. Dann kann er zeigen, daß der moralische Standpunkt mit dem intellektuellen verträglich ist, sowohl unter dem Aspekt, daß der moralische auf den intellektuellen hinführen kann, als auch unter dem Aspekt, daß der moralische, auch wenn die Hinführung nicht gelingt, eine Eigenbedeutung hat, die auch denjenigen zufriedenstellen könnte, der, aus welchen 244  |  II.  Ethik und Politik 

Gründen auch immer, skeptisch ist, ob jene Überführung ein sinnvolles Unterfangen ist. Sowohl im Theologisch-Politischen Traktat wie in der Ethik hat Spinoza versucht, so lassen sich seine Dar­ legungen zur pietas deuten, ebendies zu zeigen.

Moralität bei Spinoza  |  245

Freiheit als Ziel des Staates I.

Daß Freiheit das Ziel des Staates sei, wird von Spinoza im Tractatus theologico-politicus ausdrücklich formuliert: »Finis ergo Reipublicae revera libertas est« (TTP XX, Abschn. 6). Im Tractatus politicus findet sich die Formulierung nicht. Dort ist in der Entwicklung der Staatskonzeption, auf den ersten Blick wenigstens, die Freiheit kein leitender Gesichtspunkt. Im Tractatus theologico-politicus hingegen ist sie der Leitfaden der Organisation des ganzen Buches. Die Schrift dient der Verteidigung der Freiheit zu philosophieren gegen Ansprüche der Theologie und Politik. Daß die Freiheit in Wahrheit (revera) Ziel des Staates ist, ist polemisch gewendet gegen Staatsformen, die andere Ziele haben, insbesondere solche, die die Freiheit ausdrücklich unterdrücken. Das Zitat, das die Freiheit zu dem wahren Ziel des Staates erklärt, steht in einem polemischen Zusammenhang, so wie der Tractatus theologico-politicus im Ganzen eine polemische Schrift ist. Der Traktat wendet sich gegen ein falsches Verständnis von Religion und Politik und ist darin ein Angriff gegen die Amtsinhaber in Kirche und Staat, die die Funktion von Religion und Politik verkennen. Die Bestimmung der wahren Funktion erfolgt dabei von Spinozas Begriff der Philosophie her, von dem her eine Grenzbestimmung von Religion und Politik vorgenommen wird, die zugleich deren Verträglichkeit mit der Philosophie ausweisen soll. Spinoza will zeigen, daß die Religion und die Politik auf dasselbe aus sind wie die Philosophie, auf ein vernünftiges Leben der Menschen, daß sie sich nur anderer Mittel bedienen, um dieses Ziel zu erreichen. Es sind nicht solche der vernünftigen Einsicht, sondern solche, die auf die Unvernunft der Menschen Bezug nehmen. Der Tatbestand menschlicher Unvernunft macht Religion und Politik erforderlich als die Medien, die auch den Unvernünftigen ein vernünftiges Leben ermöglichen. Gegen Machtansprüche der Kirche und der Staatsautorität, die daraus resultieren, daß Kirchenleute und Poli246  |   

tiker in Verkennung der Grenzen ihrer Aufgaben diese Aufgaben mißverstehen, kehrt Spinoza den allein legitimen Anspruch der Philosophie. Zwar kann die Philosophie die Religion und die Politik nicht ersetzen und durch fortschreitende Aufklärung an deren Stelle treten wollen; und sie anerkennt die spezifischen Merkmale von Religion und Politik, den nicht auf vernünftiger Einsicht basierenden Glauben und die Äußerlichkeit eines auf positive Gesetze sich stützenden staatlichen Zwanges. Aber sie nimmt aus sich den Maßstab der Beurteilung dessen, was Aufgabe und Ziel von Religion und Politik sind. So ist es, beschränken wir uns jetzt auf das Feld der Politik, eine bestimmte Perspektive, unter der die Funktion des Staates betrachtet wird, eine Perspektive, die Spinoza aus seiner Philosophie gewinnt und an die Theorie der Politik heranträgt. Weil diese Philosophie eine Philosophie der Freiheit ist, die im freien Gebrauch der das Sein erfassenden Vernunft ihre Basis hat, ist es die Freiheit, die zumindest Maßstab der Beurteilung des Staates ist. Sie erlaubt zu beurteilen, daß ein Staat, der sich gegen die Freiheit des Philosophierens wendet, sich selbst mißversteht. Daraus folgt aber nicht schon, daß der Staat in dem, was seine Aufgabe ist, auch die Freiheit zum Ziel hat. Die Verteidigung der Freiheit gegen den Staat bedeutet nicht, daß die Freiheit Ziel des Staates ist. Wenn seine Aufgabe in der vernünftigen Regulierung des unvernünftigen Begehrens der Individuen besteht, dann heißt das nur, daß er darin nicht in die Domäne der Philosophie eingreift. Und umgekehrt ist darin gelegen, daß der herzustellende und zu sichernde Friede im Zusammenleben der Menschen, die fundamentale Aufgabe des Staates, durch die Freiheit des Philosophierens nicht gefährdet ist. Das ist in der Tat das eine, von Spinoza programmatisch formuliert im Untertitel des 1. Traktats, daß nämlich dessen Abhandlungen zeigen, »daß die Freiheit zu philosophieren […] ohne Schaden […] des Friedens im Staat zugestanden werden kann«. Es ist das Resultat einer Trennung der Aufgabenbereiche von Philosophie und Politik; in ihm wird der Versuch einer Überschreitung der der Politik gesetzten Grenze zurückgewiesen. Das andere aber ist, ebenfalls und an derselben Stelle von Spinoza programmatisch formuliert, daß es nicht nur (non tantum) um ein Zugeständnis gemäß einer unterschiedlichen Aufgabenstellung geht, daß vielmehr (sed) darFreiheit als Ziel des Staates  |  247

über hinaus die Aufhebung der libertas philosophandi durch den Staat nur mit der Aufhebung des Friedens im Staat geschehen kann und das heißt mit der Aufhebung des Staates selber, sofern dieser in der Friedensstiftung und allein darin seine Aufgabe hat. Hier ist das Zugeständnis der Freiheit zu philosophieren Bedingung des Staates selber, sofern er ohne dieses Zugeständnis sich selbst auflöst. Erst dann ist die Freiheit das Ziel des Staates, das er zur Erhaltung seiner selbst bedarf. Und das ist eine These über die Struktur des Staates in dessen besonderem Aufgabenbereich, der von dem, was durch philosophische Überlegung geleistet werden kann, verschieden ist. Unter dieser Voraussetzung kann die Freiheit zu philosophieren nicht in dem engen Sinne verstanden werden, daß es sich um die Freiheit handelt, die den Philosophen zuzugestehen ist. Denn dann hätte der Staat eine Aufgabe im Hinblick auf die Beförderung der Philosophie. Wäre die Freiheit zu philosophieren sein Ziel, hieße das, daß er seine Bürger zu Philosophen zu machen hätte. Anzunehmen, der Staat hätte darauf zu zielen, daß die Menschen sich von der Vernunft, die sie selbst gebrauchen, leiten lassen, ist eine Illusion, der Spinoza gewiß nicht, auch im TTP nicht, nachgehangen ist. Vielmehr versteht Spinoza die Freiheit zu philosophieren, auf die der Staat als ein ihm eigenes Ziel bezogen wird, in einem sehr viel weiteren Sinne. Zu Beginn des 16. Kap. des TTP gibt Spinoza, en passant, eine Erläuterung. Nach dem Rückblick auf die Passagen zur Theologie, der zusammenfassend darlegt, daß die Theologie einem jeden die Freiheit zu philosophieren (libertas phi­ losophandi) gewährt, umreißt Spinoza die nun folgende Aufgabe, die Passagen der Politik betreffend, nämlich zu untersuchen, wieweit diese Freiheit (haec libertas) in dem besten Staat sich erstreckt. Und er charakterisiert sie als eine »libertas sentiendi, et quae unusquisque sentit, dicendi« (TTP XVI, Abschn. 1). Sie ist eine Freiheit der Meinungsäußerung. Die libertas sentiendi ist eine Freiheit des Meinens, das sich vielleicht auf ein persönliches Überzeugtsein stützt, aber weit davon entfernt ist, schon eine vernünftige Einsicht zu sein, die den Anspruch auf Wahrheit erheben könnte. Hier liegt kein Artikulationsmodus des Philosophen vor; es ist ein Modus des bloß Privaten, eine Privatansicht, die für den einzelnen freilich eine Überzeugungskraft hat. Die libertas dicendi quae unusquisque 248  |  II.  Ethik und Politik 

sentit, die den hier vorgestellten Freiheitsbegriff erst komplettiert, beläßt das sentire nicht in der Sphäre des bloß Privaten und des inneren Überzeugtseins; sie bringt es in den Raum der Publizität, in eine Öffentlichkeit, in der es wirksam sein kann und zwar sowohl in der Richtung, daß es andere Menschen zu derselben Ansicht bringen kann, als auch in der Richtung, daß es, einmal geäußert, durch entgegengesetzte Ansichten korrigiert werden kann. Was Spinoza hier verteidigt, ist gewiß eine Voraussetzung des Philosophierens, aber nicht das Philosophieren selber, eine Spontaneität des Geistigen, die auch schon dem Meinen (sentire) zugrunde liegt und die beschnitten wäre, wenn sie sich nicht frei äußern dürfte, weil die Staatsautorität vorschriebe, welche Meinungen geäußert werden dürfen. Allerdings ist von daher noch nicht zu sehen, inwiefern die Freiheit auch Ziel des Staates ist. In den programmatischen Eingangssätzen des 16. Kapitels sagt Spinoza, daß die Reichweite dieser Freiheit zu untersuchen ist, unter welchen Bedingungen sie nämlich den Staat nicht gefährdet. Begrenzt wird die individuelle Freiheit dabei durch die Unterscheidung zwischen der freien Meinungsäußerung und einem dem Meinen entsprechenden Handeln. Die vom Staat zuzugestehende Freiheit darf sich nicht auf das Handeln erstrecken, sofern die Meinung als bloß private irrig sein kann und dann das ihr entsprechende Handeln Ausdruck jener Privatwillkür ist, gegen die der Staat sich etabliert und die er deshalb nicht zugestehen kann, will er sich als Staat nicht auflösen. Spinoza trifft darüber hinaus die weitere Unterscheidung zwischen einem Meinen im Sinne eines bloß theoretischen Erwägens und einem Meinen, das selbst ein Handeln ist und das, wenn es das ist, in die Machtsphäre des Staates fällt. Ein sich äußerndes Meinen vom Charakter des Handelns ist dasjenige, das sich gegen die Grundlagen des Staates selber richtet, insofern es meint, ein dem subjektiven Meinen entsprechendes Handeln, also ein solches der subjektiven Willkür, sei gerechtfertigt. Eine solche Meinung nennt Spinoza aufrührerisch (opiniones seditiosae, TTP XX, Abschn. 9); er versteht sie als ein Handeln, weil sie ein Vertragsbruch sei (»ruptio pacti«, ebd.). Die Meinung, ein jeder könne nach subjektiver Willkür handeln, verstoße gegen den Vertrag, »nach dem jeder sein Recht, nach eigenem Gutdünken zu handeln, aufgegeben hat« (ebd.). Spinoza sieht Freiheit als Ziel des Staates  |  249

darin einen Bruch des Versprechens, das der einzelne der höchsten Gewalt stillschweigend oder ausdrücklich gegeben hat, und folglich einen Akt gegen die eingesetzte Macht, die ihrerseits um der eigenen Erhaltung willen einen solchen Angriff gegen sich nicht dulden kann. Diese Darlegungen zur Reichweite der vom Staat nicht anzu­ tastenden individuellen Freiheit geben keine hinreichende Erläuterung des Satzes, daß die Freiheit Ziel des Staates ist. Denn sie machen nicht deutlich, welche Bedeutung die individuelle Freiheit für den Staat hat, inwiefern sie also nicht nur in bestimmten Grenzen eingeräumt werden kann, sondern darüber hinaus positive Bedingung des optimalen Staates ist. Daß die Freiheit zur Förderung der Künste und Wissenschaften unerläßlich ist (TTP XX, Abschn. 10), ist sicher unbestritten, kann für die Theorie des Staates aber nur eine beiläufige Rolle spielen (»ut jam taceam«, ebd). Eine nähere Verdeutlichung könnte aber dem Hinweis entnommen werden, daß ein Staat, wenn er die Freiheit nicht gewährt und dann auch Wissenschaft und Kunst behindert, selber beschränkt (angustius) ist, wie es Spinoza in bezug auf edle Menschen, deren freie Geisteshaltung durch staatliche Gesetze normiert werden, formuliert (»Respublica in tantam angustiam redigere, ut viros ingenuos sustinere non possit«; TTP XX, Abschn. 13). Diese Wendung läßt sich nicht nur auf die Bereiche, die der Freiheit bedürfen, beziehen, sondern auf die Verfassung des Staates selber, daß er nämlich, wenn er die Freiheit des Geistes knebelt, eingeschränkt ist und zwar nicht nur engstirnig im Sinne des Borniertsein, sondern beschränkt im Sinne einer mangelnden Repräsentation aller. Indem der Staat den freien Geistern keinen Raum gibt, ist er nicht deren Staat, sondern nur der Staat einiger, derer, die an der Unterdrückung Andersdenkender interessiert sind. Individuelle Freiheit ist dann nicht nur ein die urteilsfähigen Individuen auszeichnendes Merkmal, das erhalten werden muß, um die Urteilsfähigkeit zu erhalten, sondern ein Merkmal, dessen der Staat selber bedarf, dann nämlich, wenn er der Individuen bedarf und deshalb ausschließen muß, daß diese gegen ihn opponieren. Ist der Staat auf die Individuen angewiesen, die ihn von sich aus tragen, darf er sie um seiner selbst willen nicht unterdrücken. So finden sich Stellen im Tractatus theologico-politicus, die auf eine 250  |  II.  Ethik und Politik 

Haltung der Individuen abheben. Die Freiheit des Urteils muß gewährt werden, um Kriecherei (assentatio, TTP XX, Abschn. 13), also das bloß außenorientierte Zustimmen zu vermeiden, und die Freiheit der Rede und des Sichäußerns, um Heuchelei (adulatio, TTP XX, Abschn. 11), also ein Sichverstellen zu vermeiden. Freiheit muß um einer Aktivität der Individuen willen gewährt werden, die genau dann erforderlich ist, wenn der Staat nichts ohne seine Bürger ist, er also nicht eine von ihnen abgehobene Instanz darstellt, die die Bürger, ihnen äußerlich bleibend, durch Gesetzesvorschriften verwalten könnte. Freiheit müßte unter dieser Perspektive ein universelles Merkmal sein, das jedem Individuum zukommt und das nicht das Privileg einiger weniger ist, derjenigen, die philosophieren oder zumindest für das eigene Leben daran interessiert sind, frei urteilen und frei sich äußern zu können. In der Tat faßt Spinoza das Urteilen als ein sentire so weit, daß er mit ihm nicht einen Wahrheits­anspruch zu verbinden braucht, es vielmehr auch die irrige Ansicht mitumfaßt. Darin ist das Urteilen Ausdruck einer Subjektivität, der es um sich selber geht und die sich deshalb ein Urteil darüber bildet, was das für das jeweilige Subjekt Gute ist und in welcher Weise es sein Leben zu führen gedenkt. Es ist Ausdruck einer ursprünglichen Selbstbezüglichkeit, die jedem Individuum zukommt aufgrund einer ihm eigenen Aktivität, welche universale Bestimmung Spinoza letztlich aus seiner Ontologie gewinnt, derzufolge jedes Individuum als Modus Gottes selber potentia ist. Es ist ein tätiges Wesen, das einen Bezug auf sich hat. Diese Selbstbezüglichkeit artikuliert sich beim Menschen in einer Form der Geistigkeit, der Meinungsbildung und des Urteilens, die im Unterschied zu den Handlungsäußerungen, die faktisch durch die Äußerungen anderer Individuen eingeschränkt sind, durch andere Individuen nicht eingeschränkt werden kann, mag es auch noch so raffinierte Techniken der Verführbarkeit des Geistes geben. Es ist unmöglich, heißt es zu Beginn des 20. Kap., »daß der Geist (animus) absolut unter dem Recht eines anderen (alterius juris) steht; denn niemand kann sein natürliches Recht (jus suum naturale) oder1 seine Fähigkeit, frei zu schließen und über alle möglichen Dinge zu urteilen, auf 1 

Das »oder« (sive) hat hier eine erläuternde Bedeutung. Freiheit als Ziel des Staates  |  251

einen anderen übertragen, noch kann er dazu gezwungen werden« (TTP XX, Abschn. 1). Wenn ihn niemand dazu zwingen kann, kann es auch der Staat nicht. Deshalb fährt Spinoza wenig später fort: »Mögen also die höchsten Gewalten das Recht zu allem haben […], so werden sie es doch niemals dazu bringen können, daß die Menschen nicht über alle möglichen Dinge nach eigenem Sinn (ex pro­ prio suo ingenio) urteilen« (TTP XX, Abschn. 3). Der Staat darf es nicht nur, wenn er nicht Philosophie, Wissenschaft und Kunst unterdrücken will, sondern er kann es gar nicht. Es zu tun, ist ein Widerspruch in sich; in einem solchen Tun werden nicht nur die Entfaltungsmöglichkeiten von Philosophie, Wissenschaft und Kunst destruiert; in ihm wird der Staat selbst destruiert. Er hat kein Bestehen, er erhält sich nicht selbst. Er ist nichts anderes als eine Gewaltherrschaft (»illud ergo imperium violentissimum erit, ubi unicuique libertas dicendi et docendi, quae sentit, negatur«; TTP XX, Abschn. 4), d. h. eine Verlängerung des Naturzustandes im Gewande staatlicher Autorität, gekennzeichnet durch ein Gegeneinander sich bekämpfender Mächte, von Unterdrückern und Unterdrückten, die einander wechselseitig fürchten müssen und darin den Kriegszustand nicht beenden können. Von daher kann verständlich werden, was es bedeutet, daß die Freiheit das Ziel des Staates ist, daß sie nämlich eine Erhaltungsbedingung des Staates ist, und der Staat sie erstrebt, um Staat sein zu können, um sich also selbst zu erhalten. Denn ein Ziel ist in Spinozas teleologiefreier Konzeption stets ein dem strebenden Ding immanentes Ziel. Allerdings setzt diese Interpretation voraus, daß der Staat als ein durch einen Antagonismus der Kräfte stets gefährdetes Gebilde begriffen wird, der auf seine Selbsterhaltung erst aus ist, und daß das, was der Staat ist, aus einem Vertragsschluß, der das Gegeneinander des Naturzustandes ablöst, nicht verständlich gemacht werden kann. Bedingung der Stabilität des Staates ist nicht die Unverbrüchlichkeit eines Vertrages, zu dem sich die Individuen finden, sondern die spezifische Tendenz eines schon bestehenden und wie auch immer entstandenen Staates auf Anerkennung der individuellen Freiheit als eines unaufgebbaren Naturrechts, das in den Staat nicht zu integrieren die Auflösung des Staates bedeutet. Es ist gewiß richtig, daß diese Perspektive, derzufolge es Spinoza nicht nur um den Nachweis der Verträglichkeit der freien 252  |  II.  Ethik und Politik 

Forschung mit den Autoritätsansprüchen des Staates geht, sondern im Rekurs auf die Freiheit gerade auch um die Bedingungen der Sicherung des Staates selber, nicht im Mittelpunkt der Erwägungen des Tractatus theologico-politicus steht. Doch läßt sich meines Erachtens die Wendung von der Freiheit als dem Ziel des Staates nicht anders interpretieren als so, daß sie unabhängig von der leitenden Strategie des Tractatus theologico-politicus ist, jene Liberalität, die vorurteilsfreies Forschen und damit auch die Philosophie allein möglich macht, gegen herrschende Ansichten über die Funktion des Staates (und der Religion) zur Geltung zu bringen. Andererseits ist es die Frage, ob der Hinblick auf die individuelle Freiheit tatsächlich dies leistet, den Staat hinsichtlich seiner Aufgabe funktionstüchtig zu machen. Daß das Unterdrücken der individuellen Freiheit staatsgefährdend ist, weil es Widerstand gegen die Staatsgewalt bei den Unterdrückten provoziert, ist von Spinoza deutlich hervorgehoben. Daß das Gewähren der individuellen Freiheit aber staatserhaltend ist, dies in dieser Deutlichkeit nicht zum Ausdruck gebracht zu haben, kann auch aus sachlichen Schwierigkeiten erklärt werden. Offensichtlich ist die Erhaltung des Staates von der Treue seiner Bürger abhängig, die ihrerseits nur auf einer Zu­ stimmung zum Staat basieren kann, die als ein freier Akt gedacht werden muß, der ohne Zugeständnis der Urteilsfreiheit gar nicht möglich wäre. Aber das, was Bedingung der Treue ist, führt nicht schon zur Treue. Daß die individuelle Freiheit des Urteilens, die eine Vielfalt unterschiedlicher Meinungen im Gefolge hat, im Staat einen einheitlichen Bezugspunkt hat, gegen dessen Autorität sie nicht opponiert, dies anzunehmen scheint wenig plausibel. So gibt Spinoza zu, daß aus der zuzugestehenden Freiheit »zuweilen gewisse Übelstände (incommoda) entstehen« (TTP XX, Abschn. 10), doch glaubt er, daß sie sich durch die Autorität der höchsten Gewalten vermeiden lassen, also nicht wirklich gefährlich sind für das friedliche Miteinander der Menschen. Doch erweist Spinoza dies nicht aus einer Analyse der Bedingungen von höchster Gewalt. Er bedient sich nur eines Beispiels im Hinweis auf die liberale Stadt Amsterdam, die in ihrem Gedeihen (in suo incremento) die Früchte der Freiheit genießt (TTP XX, Abschn. 15). Dieses Beispiel aber nimmt eine Voraussetzung schon in Anspruch. Der liberale Staat verfügt über Autorität unter der Freiheit als Ziel des Staates  |  253

Voraussetzung, daß das, worauf er aus ist, die Freiheit der Bürger, von den Bürgern auch akzeptiert wird als das für sie Wesentliche. Ist die individuelle Freiheit Basis eines liberalen Staates (und daran zweifelt wohl niemand), dann ist die Freiheit Ziel des libera­ len Staates, der seine Autorität nur bewahren kann, wenn er in der Einschränkung der individuellen Freiheit das rechte Verständnis von der Grenze dieser Einschränkung hat. Daß der liberale Staat, der auf die Freiheit der Bürger aus ist, auch hinsichtlich seiner spezifischen Aufgaben der optimale Staat ist – und das ist die These des Tractatus theologico-politicus –, das folgt nicht schon aus dem Tatbestand seines Bezuges auf individuelle Freiheit. Freiheitlichkeit als Ausdruck der optimalen Staatsform müßte aus einem Bezug erklärt werden, der nicht auf Freiheit geht, aber nur unter der Bedingung von Freiheit möglich ist. Auf den im Tractatus theolo­ gico-politicus vorgestellten liberalen Staat appliziert, heißt das: was seine primäre Aufgabe ist, für den Frieden und die Sicherheit der Bürger zu sorgen, dadurch, daß er die Willkür subjektiven Handelns kraft der Autorität seiner Gesetze einschränkt, ist nur unter der Bedingung des Zugeständnisses individueller Freiheit, die sich im Gegensatz zur Handlungsfreiheit als Meinungsfreiheit artikuliert, möglich. Der Staat hat liberal zu sein und darin individuelle Freiheit zum Ziel zu haben, nicht weil er Meinungsfreiheit zu garantieren hat, sondern weil er anders seine Aufgabe nicht erfüllen kann, friedensstiftend zu sein. Dieser Zusammenhang ist von Spinoza im Tractatus theolo­ gico-politicus nicht hinreichend ausgearbeitet worden. In der Orientierung an einem bestehenden Staat, dem Holland unter der Regentschaft der De Witts, hat er einen empirischen Beleg für die Verträglichkeit von Meinungsfreiheit und Staatsautorität gefunden. Die argumentative Verteidigung dieses Staates hat aber nicht eine Theorie der Stabilität des Staates liefern können, ohne die der Staat seine Aufgabe der Friedenssicherung nicht erfüllen kann. Der empirische Staat, den Spinoza vor Augen hatte, ist zugrunde gegangen und zwar durch internen Aufruhr, durch Aktionen gegen den Staat, von denen man mit Spinoza sagen muß, daß sie unvernünftig waren, deren Faktizität als eine den Staat zerstörende Macht durch die zugestandene Meinungsfreiheit und die damit verbundene Anerkennung von Individualität nicht neutralisiert worden ist. In Spi254  |  II.  Ethik und Politik 

nozas Wendung von der Freiheit als dem Ziel des Staates ist zwar impliziert, daß der Staat für die Erhaltung seiner selbst der Individuen bedarf und zwar aller Individuen, deren gemeinsame Macht er ist, und daß er deshalb auf ein den Individuen Gemeinsames bezogen sein muß, das Spinoza in dem jedes Individuum auszeichnenden Merkmal, frei, nämlich aus sich heraus zu urteilen, gesehen hat. Aber diese Berücksichtigung der Individuen ist rein theoretisch, gestützt auf die philosophische Deskription dessen, was es ist, das dem humanen Seienden nicht genommen werden kann und gegen das ein Staat deshalb nichts vermag. Die Theorie läßt unberücksichtigt, ob der Sachverhalt denn so auch für die Individuen ist, ob er deren Selbstverständnis entspricht. Die Theorie unterstellt vielmehr, daß die Individuen sich in ihren Interessen dann in der Gemeinsamkeit eines Staates wiedererkennen, wenn dieser ihnen die Freiheit des Urteilens gewährt. Offensichtlich unterstellt Spinoza im 1. Traktat, ausgehend von einer vernünftigen Theorie, daß die Menschen, die in dieser Theorie beschrieben werden, auch selber an der Vernunft orientiert sind, und daß diese Orientierung es ist, die sie zusammenhält. Eine solche Annahme liegt auch der Theorie des Vertrages zugrunde, die ein bloß theoretisches Konzept ist, das die Faktizität menschlichen Strebens nicht hinreichend berücksichtigt. Die Vertragstheorie verstrickt sich als Theorie der Genese des Staates in den inneren Widerspruch, für die Individuen eine Vernunft in Anspruch zu nehmen, von der sie auch Gebrauch machen, während die Unvernünftigkeit ihres Handelns es gerade ist, die ein zerstörerisches Gegeneinander der Individuen im Gefolge hat, das zu beseitigen die Zentralgewalt des Staates erforderlich macht. Folgt aus Spinozas Ontologie und der in ihr verankerten Theorie des conatus perseverandi als der wesentlichen Bestimmung individuellen Seins, daß jedes Individuum von Natur aus auf die Erhaltung seiner selbst aus ist und alle seine Aktionen in den Dienst der individuellen Selbsterhaltung stellt, dann steht auch der Akt des Verzichts auf die je subjektive Handlungswillkür, den die Vertragstheorie annimmt, in diesem Dienst. Er ist das Resultat entweder einer vernünftigen Überlegung, die um die Bedingungen weiß, unter denen individuelle Selbsterhaltung allein gelingen kann, oder aber, und das häufiger, wenn man annehmen darf, daß dieses vernünftige Freiheit als Ziel des Staates  |  255

Überlegen unter den Menschen nicht sehr verbreitet ist, einer bloß strategischen Überlegung, die einen vorübergehenden Vorteil oder einen bloß scheinbaren Vorteil für den einzelnen im Blick hat. Im zweiten Fall hat der Verzicht nur temporäre Bedeutung und steht unter dem Vorbehalt der Revision, sollten sich günstiger erscheinende Konstellationen ergeben. Von daher erlaubt die Verfassung des Menschen, die nicht wesentlich durch Vernunft bestimmt ist, es nicht, die Stabilität des Staates und damit dessen Leistungsfähigkeit hinsichtlich der Friedenssicherung von einem Akt der Übereinkunft der Individuen zugunsten des Staates abhängig zu machen. Kann so die Stabilität des Staates nicht von einem Akt der Übereinkunft abhängen, so ist sie gleichwohl ohne eine Übereinstimmung der Individuen nicht denkbar, sofern der Staat nur stabil ist, wenn er eine gemeinsame Macht ist.

II.

Es ist die Frage, wieweit hierfür die Freiheit, im Tractatus theo­ logico-politicus als Ziel des Staates behauptet, eine unerläßliche Bedingung ist. Ich möchte sie erörtern unter Hinzuziehung des Staatskonzeptes im Tractatus politicus. Im TP betont Spinoza, daß die Fundamente des Staates nicht in der Vernunft der Individuen zu suchen sind, sondern in der Natur des Menschen, die nicht wesentlich Vernunft ist, sondern gemäß der Bestimmung der potentia als conatus wesentlich Begehren, das in Gestalt einer Affektivität auftritt. In der Frage nach der Stabilität des Staates tritt die leitende Frage des Tractatus theologico-politicus nach dem Umfang der vom Staat zuzugestehenden Freiheit in den Hintergrund, und daß Freiheit Ziel des Staates im Sinne einer Erhaltungsbedingung seiner selbst ist, wird nicht explizit gemacht. Aber immerhin gehört, wie die Erläuterung des Titels des 2. Traktats zeigt, zu dem, was im Tractatus politicus bewiesen wird, ein Ziel, das die Freiheit (libertas) ausdrücklich nennt. Es geht um die Organisationsform einer Regierung, die so einzurichten ist, daß Friede und Freiheit der Bürger (»Pax libertasque civium«) unangetastet bleiben und die Regierung selbst nicht der Tyrannei (»in tyrannidem«) verfällt. Die Vermeidung der Gewaltherrschaft, die 256  |  II.  Ethik und Politik 

Unterdrückung bedeutet und darin friedens- und freiheitswidrig ist, gelingt in der Respektierung von Frieden und Freiheit der Bürger. Von beiden, Friede und Freiheit, heißt es, daß sie unangetastet (inviolata) bleiben müssen, obschon sie von unterschiedlicher Wertigkeit sind, insofern die Freiheit, etwa die Freiheit des Urteilens, auf die der Tractatus theologico-politicus abgehoben hat, ganz unabhängig vom Staat ist und darin als ein vom Staat nicht anzutastendes naturrechtliches Element verstanden werden kann, der Friede hingegen ganz wesentlich eine intersubjektive Relation betrifft, die im vorstaatlichen Naturzustand vom Charakter des Krieges ist und deshalb vom Staat erst zustandezubringen ist. Ist Friede nur in der Überwindung des Gegeneinanders der Individuen durch eine die Individuen verbindende Gemeinsamkeit in Form einer staatlichen Gemeinschaft, dann ist er davon abhängig, daß der Staat sich als eine wahrhafte Gemeinsamkeit der Individuen erweist. Ist der Staat dies nicht und tritt er gleichwohl mit Ansprüchen gegenüber den Individuen, seinen Bürgern, auf, läuft er Gefahr, in eine Gewaltherrschaft umzuschlagen. Soll dies vermieden werden, weil es seinem Ziel der Friedenssicherung zuwiderläuft, muß er in einer bestimmten Weise organisiert sein, die, so ließe sich interpretieren, jedenfalls die Freiheit der Bürger unangetastet läßt. Friede und Freiheit sind dann aufs engste miteinander verknüpft, wie es die Formulierung in der Erläuterung dessen, was der Tractatus politicus demonstriert, anzeigt. Ist der Friede Ziel des Staates, dann ist es auch die Freiheit. Gleichwohl nimmt Spinoza die Formel in der Abhandlung nicht auf. Offensichtlich hängt das damit zusammen, daß dieses Ziel aus dem natürlichen Fundament des Staates nicht verständlich gemacht werden kann und deshalb als eine ideale Norm dem Staat transzendent bleibt. Spinoza hat im Tractatus politicus hervorgehoben, daß der Staat ein natürliches Ding (res naturalis, TP IV, § 4) ist und darin wie jedes Ding Gesetzen unterworfen ist, nämlich den natürlichen Gesetzen der Selbsterhaltung. Er wendet sich damit kritisch auch gegen die im Tractatus theologico-politicus noch vertretene hobbesische Ansicht, daß der Staat in einem Akt des Vertragsschlusses seinen Ursprung habe. Ein Staat, der als Resultat einer vernünftigen Überlegung der Individuen verstanden wird, ist für Spinoza eine Chimäre (ebd.), die utopischen ChaFreiheit als Ziel des Staates  |  257

rakter hat (TP I, § 1), weil sie die Wirklichkeit überspringt. Wird der Ursprung des Staates in das Begehren der Individuen gesetzt und als natürliches Resultat dieses Begehrens verstanden, dann ist er die Folge dessen, daß die Individuen in ihrem Begehren sich immer schon zu Gemeinschaften zusammenschließen, ohne daß es hierfür eines besonderen Entschlusses bedürfte2 . Von dieser natürlichen Basis her hat Spinoza den Staat selber als ein natürliches Ding verstanden; doch ist der Staat darin noch nicht ein natürliches Ding. Denn er hat keine in der Zeit sich durchhaltende Einheit, die ihn über die Kontingenz des empirischen Sichzusammenfindens der Individuen hinaus erhielte. Gemäß der Zufälligkeit des affektiven Zusammenschlusses ist er von ständiger Auflösung bedroht, insofern sich anders- und neuartige Kräftekonstellationen finden, die gegen das Bestehende faktisch opponieren. Den Staat auf der Basis der Faktizität natürlicher Tendenzen als ein natürliches Ding zu konzipieren, das an sich selbst die Tendenz zur Selbsterhaltung hat, führt jedoch zu unüberwindbaren Schwierigkeiten. Als ein natürliches Ding wird der Staat natürlicherweise darauf aus sein, sich selbst zu erhalten. Dieses Streben ist wie jegliches Streben verankert in der Macht des Dinges und in seinem Gelingen abhängig von dem Umfang der Macht. Wenn dieser Umfang aber nichts anderes ist als das Zusammen der Macht der Individuen, die sich zu einem Staat zusammengeschlossen haben, dann ist die gelingende Selbsterhaltung davon abhängig, daß der Staat tatsächlich eine gemeinsame Macht ist. Ist nun in der Macht der Individuen, die sich im affektiven Begehren artikuliert, nicht schon eine Gemeinsamkeit, die alle Individuen in sich integriert hat, wird der auf dieser Basis zufällig entstandene Staat danach streben, eine Macht, die er noch nicht ist, zu erlangen. Ist er nur darauf aus, die Macht, die er schon hat und die noch nicht eine gemeinsame Macht aller Individuen ist, zu erhalten, wird sein Streben vergebens sein. Keine Gewaltherrschaft hat sich lange gehalten. Die Selbsterhaltung des Staates ist nur auf der Basis einer gemeinsamen Macht der Individuen möglich. Sie zu erstreben wird aber dem Staat zugemutet, der über die gemeinsame Macht nicht schon verfügt. Das scheint eine unlösbare Aufgabe zu sein. 2 

Vgl. A. Matheron, Individu et communauté chez Spinoza, Paris 1969, 295 ff.

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Die These, der Staat sei ein natürliches Ding, weil resultierend aus dem natürlichen Begehren der Individuen, das sich zu Gemeinsamkeiten arrangiert, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das ein individuelles natürliches Ding charakterisierende Moment des Strebens nach Selbsterhaltung nicht einfach auf den Staat übertragbar ist. Das ontologische Merkmal des einzelnen Dinges, der conatus perseverandi, ist das Merkmal eben eines einzelnen, das sich zu erhalten strebt und darin, ganz gewiß, sich mit den conatus anderer Individuen auch zu einem gemeinsamen Streben arrangiert. Aber immer noch ist es das Streben von vielen conatus; nie ist es »ein« conatus, der da im Zusammen verschiedener Individuen strebt und der als organisierendes Prinzip des Zusammenschlusses auftreten könnte. Das heißt: dem Staat kommt kein conatus perse­ verandi zu3 , so wie er einem Individuum zukommt. Was gegenüber dem je individuellen Streben eine sich durchhaltende Einheit ist, die sich selbst erhält und mit sich selbst gleichbleibt, unbeschadet dessen, was das Einzelding erstrebt, ist der unendliche Modus. Den endlichen Modi ontologisch vorgeordnet, ist er nicht das Resultat der je als conatus bestimmten endlichen Modi. Darin ist er strukturell von dem Gebilde des Staates unterschieden4 . Der Staat ist, anders als der unendliche Modus, erst durch die Individuen; er ist ein zustandegebrachtes Gebilde, weil er nicht unabhängig von den conatus der Individuen ist, sondern aus diesen entspringt. Und er ist ein zustandezubringendes Gebilde, weil es jedem Individuum um das eigene Sein geht, im Hinblick auf das es den Staat nur dann akzeptieren wird, wenn er dieses Sein sichert. Daß das Ganze dessen, was ist, sich erhält, mag der einzelne Modus dabei sich erhalten oder vernichtet werden, ist zwar wahr; aber dagegen kann der einzelne auch nicht aufbegehren, weil dieses Ganze nicht durch ihn ist. Er kann es aber gegen den Staat, und er wird es auch tun, weil dieser erst durch ihn ist und gegen ihn nichts kann. Das Individuum geht nicht darin auf, unselbständiger Teil 3  Es

sei denn, man macht mit A. Matheron, La fonction théorique de la démocratie chez Spinoza et Hobbes, in: Studia Spinozana 1 (1985), 270 f., die Fiktion eines quasi-conatus, die Spinoza nicht gemacht hat. 4  Vgl. W. Bartuschat, The Ontological Basis of Spinoza’s Theory of Politics, in: Spinoza’s Political and Theological Thought, ed. by C. De Deugd, Amsterdam, Oxford, New York 1984, 33. Freiheit als Ziel des Staates  |  259

eines Ganzen zu sein, für dessen Erhaltung es seinen Beitrag leistet, gleichgültig, was mit ihm selbst geschieht 5. Daraus folgt, daß der Staat relativ ist auf das individuelle Streben, dem es um sich selber geht und in dessen Dienst er steht. Der einzelne wird sich den Gesetzen des Staates nur unterwerfen, wenn er sie als ein taugliches Mittel für das, worauf er selber aus ist, ansehen kann. Aus der Perspektive des Staates gesehen und ihm ein Streben nach Selbsterhaltung unterstellt, heißt das, daß er nur solche Gesetze erlassen wird, die eben dies zu garantieren vermögen. Anders würde er sich gegen sich selbst wenden, also selbstdestruktiv verfahren. Eine natürliche Selbstbindung des Staates nötigt ihn, nicht solche Gesetze zu erlassen, die den Individuen Anlaß geben, gegen ihn sich aufzulehnen. Nach dem Tractatus theologicopoliticus sind das Gesetze, die sich gegen die Urteilsfreiheit der Individuen richten. Sie zu erlassen resultiert aus einem Selbstmißverständnis der staatlichen Obrigkeit, also aus einer bestimmten Haltung der Regierenden, die letztlich eine solche ist, die nicht jene philosophische Unterscheidung zwischen Denken und Handeln mitgemacht hat, die den Individuen einen Raum unantastbarer Freiheit reserviert. Setzt diese Theorie voraus, daß die Zuschreibung, die der Theoretiker vornimmt, auch von den Individuen vorgenommen wird, diese also für sich selber auf nichts anderes als das Zugeständnis der Denkfreiheit pochen, so setzt der Tractatus politicus dagegen, daß der Staat sein Bestehen nicht in einer Haltung, die der Privatsphäre angehört, hat. Er hat es in der gemeinsamen Macht der Individuen, so daß zu vermeidende Gesetze solche sind, die in der Gefährdung der Gemeinsamkeit eine Schwächung der eigenen Macht bedeuten. Staatliche Gesetze, die der Stabilität des Staates dienen, haben somit eine Gemeinsamkeit der Individuen zum Ziel, aber eben noch nicht zur Basis, sofern der Staat dem faktischen Arrangement der Macht der einzelnen entspringt, das zufällig und darin unstabil ist. Wird der Staat um der eigenen Erhaltung willen darauf aus sein, hinsichtlich seiner Bürger eine Integrationsleistung zu vollbringen, so ist es doch illusorisch, dieses Aus-sein in einem conatus des Staates verankern zu wollen, der hierfür schon Einheit sein müßte, die er doch erst zustandezubringen hat. 5 

Vgl. W. Bartuschat, Selbstsein und Absolutes [in diesem Band, S. 53 – 103].

260  |  II.  Ethik und Politik 

Den natürlichen Kräften der Individuen, die den Staat tragen, selber eine Einheit zuzusprechen, das je individuelle Streben also als ein gemeinsames Streben zu verstehen, ist aber nicht minder illusorisch. Indem Spinoza im Tractatus politicus den Staat als das Resultat des natürlichen Strebens der Individuen bestimmt, hat er die Bedingung nennen wollen, unter der der Staat als ein Gemeinsames aller Individuen begriffen werden kann. Der Staat, verstanden als gemeinsame Macht (potentia), greift auf die Bestimmung der potentia der Individuen zurück, die als ontologische Bestimmung so universell ist, daß sie jedem einzelnen zukommt. Beim Menschen artikuliert sie sich unter Bedingungen der Zeitlichkeit und dem Tatbestand, daß ein endlicher Modus Äußerem ausgesetzt ist, als ein conatus perseverandi, in dem die menschliche Affektivität mit dem Kardinalaffekt des Begehrens (cupiditas) verwurzelt ist. Ursprünglicher als die vernünftige Reflexion auf es, ist das Begehren zwar, anders als die Vernunft, ein universelles Merkmal aller Menschen. Aber das allen Menschen zukommende Begehren stellt keine Gemeinsamkeit der Menschen her; es ist die leere Gemeinsamkeit des bloßen Begriffs, die die konkrete Weise des individuellen Begehrens nicht unter sich begreift. Diese Weise ist es jedoch, die das menschliche Begehren, unbeschadet dessen, daß ein jeder darin auf die Erhaltung des eigenen Selbst aus ist, in sich unterschiedlich sein läßt, je nachdem, wovon denn der einzelne meint, daß es ihm zur Selbsterhaltung zuträglich ist. Die Unvernunft veruneinigt die Menschen (vgl. Eth, III, prop. 32), und die Vernunft allein, die erkennt, was dem einzelnen tatsächlich von Nutzen ist, vereinigt sie (vgl. Eth, III, prop. 35). Weil die Vernunft das aber nur tut, wenn die Menschen auch von ihr Gebrauch machen, vereinigt sie die Menschen tatsächlich nicht; und darauf stützt sich die Theorie des Tractatus politicus. Daraus zieht Spinoza dort die Konsequenz, daß der Staat, wenn er seine Stabilität darin hat, die gemeinsame Macht der Individuen zu sein, als Staat der Vernünftigen gerade nicht stabil wäre. Wie sollte dann aber umgekehrt, wenn die Einheit des Staates nicht das Resultat einer vernünftigen Überlegung, kraft derer die Menschen sich vereinigen, ist, diese Einheit der Faktizität des affektiven Begehrens der Menschen entspringen können, wenn dieses einer eine Gemeinsamkeit stiftenden Einheit doch entbehrt? Das Affektive Freiheit als Ziel des Staates  |  261

müßte als Affektives zugleich vom Charakter des Vernünftigen sein. Spinoza hat dieses Problem bekanntlich mit einer Theorie der Menge (multitudo) zu lösen versucht. Die multitudo »ist« Einheit, sie ist nicht das bloß additive Zusammen einer Vielheit von Individuen, sondern ein die Individuen Verbindendes. Aber statt einer Antwort auf die Frage nach den Bedingungen, unter denen eine multitudo angesichts der Disparatheit affektiven Begehrens möglich ist, findet sich nur der ständige Hinweis auf die quasi-Einheit eines Geistigen, von Spinoza immer dann gebraucht, wenn er von der multitudo spricht. Er ist die bloße Versicherung, daß da eine Einheit in der Affektivität besteht, die, nicht gegründet in der Einheit eines Geistigen, doch die Form eines Zusammenschlusses hat, wie wenn die Menge von einer geistigen Einheit geleitet wäre6 . Die Wendung »omnes una veluti mente ducuntur« ist da, wo sie erstmals eingeführt wird (TP II, § 16), synonym damit, daß die Menschen gemeinsame Rechte haben (»ubi homines iura communia habent«). Es ist eine schlichte Erläuterung von Gemeinsamkeit, ohne daß Spinoza auch nur den Versuch machte, eine Genese von Gemeinsamkeit zu liefern. Im Begriff der Menge ist Gemeinsamkeit beansprucht; nicht jedoch wird die Möglichkeit von Gemeinsamkeit durch ihn erklärt. Scheitert das Vertragsmodell einer vernünftigen Übereinkunft als genetisches Prinzip einer Gemeinsamkeit der Menschen, weil es nicht tief genug verankert ist in dem, was die Menschen zum Handeln veranlaßt, in der vorvernünftigen ­potentia agendi, so muß das multitudo-Modell einer affektiv geleiteten Menge als genetisches Prinzip ebenfalls scheitern, weil es, zwar hinreichend tief verankert in der Natur des Menschen, aus der Affektivität keine Gemeinsamkeit verständlich machen kann. Beide Theorien machen eine nur partielle Gemeinsamkeit verständlich, derer, die einer vernünftigen Überlegung fähig sind, und derer, die faktisch von einem gemeinsamen Affekt geleitet sind, sei es der gemeinsamen Furcht vor etwas, sei es der gemeinsamen Hoffnung auf etwas. Zur internen Spannung im Begriff der multitudo vgl. vor allem E. Balibar, Spinoza: la crainte des masses, in: E. Giancotti (Hg.), Spinoza nel 350° anniversario della nascita, Proceedings of the first italian international congress on Spinoza, Napoli 1985, 293–320. 6 

262  |  II.  Ethik und Politik 

Allerdings unterscheiden sich die beiden Theorien hinsichtlich der Genese des Staates. Während die Vertragstheorie eine ausdrückliche Gründung des Staates annimmt, in der die Individuen einen Verzicht leisten auf ein naturrechtlich verankertes je individuelles Agieren und nur das Naturrecht der Denkfreiheit zurückbehalten, sieht die multitudo-Theorie im naturrechtlichen Agieren der Individuen immer schon ein Interagieren, in dem der einzelne sich ihn übermächtigenden Machtkonstellationen anpaßt und somit in Formen einer gemeinsamen Macht agiert, die Sozietäts­ charakter hat und darin sich auch positivgesetzlicher Regulierungen von Handlungen bedient, wie sie einem Staatsverband eigentümlich sind. Hat die Vertragstheorie so einen individualistischen Ausgangspunkt, von dem Spinoza dann eingesehen hat, daß er nie zu einer wahrhaften Gemeinsamkeit der Individuen wird führen können, so ist die multitudo-Theorie von vornherein eine Theorie der Gemeinschaft, die das Naturrecht des einzelnen als ein nur dem einzelnen zukommendes für Null (nullum, TP II, § 15) erklärt. Wenn die multitudo aber auf einem faktischen Zusammenwirken der Individuen, das immer schon geschieht, sofern ein Individuum nur agiert, basiert, aus welcher Faktizität keine Einheit des Agierens entspringt, dann wäre sie bestenfalls ein einheitlicher Zusammenschluß, der sich jederzeit wieder auflösen kann, je nachdem, was einzelnen Gruppen für begehrenswert erscheint. Wird deshalb von Spinoza in der multitudo eine Einheit in Anspruch genommen, dann kann er sie nicht mit der Faktizität des Strebens zusammenfallen lassen. Führt das faktische Streben immer schon zu irgendeiner staatlichen Gemeinschaft, ohne daß diese dabei eine stabile Einheit wäre, dann ist die staatliche Gemeinschaft in ihrer optimalen Form, die darzulegen der TP sich zur Aufgabe macht, diejenige, die von einer multitudo getragen wird. Die multitudo, untauglich als genetisches Prinzip des Staates, steht selber unter der Bedingung eines optimalen Staates, in dem allein sie ist. Der optimale Staat kann nur, soll er nicht eine Chimäre sein, aus dem empirischen Staat, dem historisch gewachsenen, entspringen. Der empirische Staat, der aus dem Zusammenwirken der Individuen, das nicht schon vom Charakter der multitudo ist, entsteht und deshalb defizient und unstabil ist, kann sich nur fortentwickeln, wenn er die multitudo zu realisieren trachtet. Sein Freiheit als Ziel des Staates  |  263

Ziel ist die multitudo, ihm immanent, aber erst zu realisieren. Ist die multitudo vom Staat zustandezubringen, dann kann das nur so geschehen, daß er sich in seiner Gesetzgebung in bestimmter Weise auf die Individuen bezieht. Es ist naheliegend zu sagen, daß das so zu geschehen hat, daß er sie an der Macht, die ihn auszeichnet, partizipieren läßt und damit sie als diejenigen anerkennt, ohne die er selber nichts ist. Er anerkennt sie darin als solche, die durch ihn nicht genötigt werden. Was sollte das anderes heißen, als daß er sie als freie Wesen anerkennt? Spinoza macht deutlich, daß die multitudo überhaupt nur im Staat ist, gewiß nicht in irgendeinem, sondern nur im optimalen. In TP II, § 21 heißt es vom Geleitetsein der Menge, eher beiläufig, wie man Selbstverständliches formuliert: wie es im Staat erforderlich ist (»sicut in imperio requiritur«). Und in TP III, § 5 heißt es vom Staatskörper, daß er wie von einem Geist geleitet sein muß (»imperii corpus una veluti mente duci debet«). Die Einheit der Menge muß im Staat sein, damit dieser sich erhält. Und hierfür muß er etwas im höchsten Maße intendieren, also sich zum Ziel setzen, das die Bedingung ist, unter der die geistige Einheit möglich ist: »haec animorum unio concipi nulla ratione posset, nisi civitas id ipsum maxime intendat […]« (TP III, § 7). Spinoza sagt gewiß nicht, daß der Staat dabei die Freiheit zum Ziel hat, sondern, wie es im Text heißt, das, was die gesunde Vernunft allen Menschen als nützlich erweist (»quod sana ratio omnibus hominibus utile esse docet«; ebd.). Spinoza hebt hier nicht auf die Freiheit ab, so wenig wie er mit der Vernunft, durch die der Staat gegründet und von der er geleitet ist (»fundatur et dirigitur«), die Vernunft der Individuen meint. Vernunftgegründet und vernunftgeleitet ist der Staat vielmehr aufgrund einer vernünftigen Struktur, die unabhängig vom Vernunftgebrauch der Individuen ist und sich darin zeigt, daß der Staat das intendiert, was für alle Menschen nützlich ist. Auch ist dabei das, was nützlich ist, nicht das Ergebnis der vernünftigen Überlegung der Gesetzgeber, sondern das Aussein auf Nützlichkeit ist vernünftig und zwar dann, wenn es die Nützlichkeit für alle ist. Das Nützliche bedarf keiner näheren inhaltlichen Bestimmung, weil es der Staat selber ist, der nützlich ist, dann nämlich, wenn er der Selbsterhaltung der einzelnen dient. Aber er ist es nur dann, wenn er nützlich für alle ist, wenn er also nicht einige privilegiert, 264  |  II.  Ethik und Politik 

deren Sicherheit durch die, die vom Staat unterdrückt werden, gefährdet bliebe. Erweist er sich als nützlich für alle, dann leistet er nicht nur seinen Beitrag für die Selbsterhaltung der Individuen, sondern zugleich für die Erhaltung seiner selbst. Dieser Bezug auf alle, die Selbsterhaltungsbedingung des Staates, kann nur der Bezug auf jeden einzelnen sein. Daraus folgt, daß die Einschränkung, die das Individuum durch die staatlichen Gesetze erfährt, vom Individuum nicht als eine ihm fremde Einschränkung erfahren werden darf. Die Unterwerfung des Individuums unter die Gesetze des Staates, ausgedrückt im Verzicht einer Opposition gegen sie, darf keine Unterwerfung sein, in der das Individuum sich selbst aufgibt. Eine solche Unterwerfung ist überhaupt nicht möglich, weil das Individuum nichts gegen sich selbst kann. Ein Versuch, sie zu erzwingen, ausgefürt von einem mehr oder minder despotischen Staat, kann nur die Zerstörung des Staates zur Folge haben. Daß der Gehorsam gegenüber den staatlichen Gesetzen, der die ausdrückliche Preisgabe der individuellen Handlungswillkür bedeutet, vernünftig ist, weil er in Einklang mit dem Selbst des Individuums bleibt, wird durch den Aufweis der Reichweite der Macht und damit des Rechts des Staates erwiesen: »quo usque civitatis potentia et consequenter jus se extendit« (TP III, § 6). Die Frage nach der Reichweite der Rechts­befugnis des Staates, leitend auch für die Fragestellung des Tractatus theo­ logico-politicus, wird im Tractatus politicus von der Macht der Menge her bestimmt, die die Macht des Staates und damit dessen Recht bestimmt. Das Recht des Staates hat somit seine Schranke nicht an etwas, das außerhalb der Rechtssphäre des Staates liegt, der Urteilsfreiheit etwa, sondern an sich selbst, an dem, was das Recht zu einem Recht macht, und das ist die aus der Macht der Individuen sich zusammensetzende Macht der Menge, gegen die und damit gegen den einzelnen vorzugehen wegen der dann nicht vorhandenen Macht kein Recht des Staates ist. Wenn so der in der Gesetzgebung sich manifestierende Wille des Staates als der Wille aller zu fassen ist (»Civitatis voluntas pro omnium voluntate habenda est«; TP III, § 5), dann sind seine Entscheidungen als gleichsam von jedem einzelnen getroffene anzusehen (»quod civitas […] decernit, tanquam ab unoquoque decretum esse, censendum est«; ebd.). Freiheit als Ziel des Staates  |  265

Spinoza bestimmt hier die Vernünftigkeit des individuellen ­Gesetzesgehorsams von einer Gesetzgebung her, die die Einheit der Menge als Geber der Gesetze schon in Anspruch nimmt, bei deren Fehlen die Individuen nicht nur nicht gehorsam zu sein brauchen, sondern faktisch nicht gehorsam sein werden. Da diese Einheit der Menge aus dem individuellen Streben, das in sich disparat ist und immer nur zu partiellen Vereinheitlichungen führt, nicht schon resultiert, bleibt nur der Weg, zu zeigen, unter welchen Bedingungen auf der Basis einer solchen partiellen Vereinigung, die ein bestehender empirischer Staat ist, dessen Macht noch nicht die Macht der Menge ist, ein Staat die Macht der Menge verkörpern kann. Es ist klar, daß er hierfür auf ein Gemeinsames aller Individuen bezogen sein muß, das er selber nicht schon ist. Dieses Gemeinsame kann nur die gemeinsame Bestimmung von Individualität sein, von der her der Staat bestimmt wird. Es ist der Begriff von Macht (potentia), den Spinoza bekanntlich in beiden Traktaten der Staatskonzeption vorgängig von der potentia Dei als deren Modifikation bestimmt und das heißt als eine ursprüngliche Aktivität, die durch die empirische Verfassung des jeweiligen Individuums und durch die Verfassung der äußeren Welt, in der es agiert, beschränkt wird. Ist es diese Beschränkung, die die potentia der einzelnen in je unterschiedlicher Weise sich äußern läßt, und sind es die affektiven Äußerungen, die der Gemeinsamkeit entbehren, dann bleibt als Gemeinsames nur eine ursprüngliche Aktivität, die unabhängig von ihrer Äußerungsform im Begehren und dem ihn korrelierenden Handeln ist. Das ist die unaufgebbare potentia jedes einzelnen, die nicht unterdrückt werden kann und gegen die diejenigen, die über eine wie auch immer geartete Macht verfügen, nichts werden ausrichten können. Diese Aktivität der Individuen, die nicht durch andere genötigt werden kann, kann man Freiheit nennen. Entsteht der Staat aus dem Arrangement der sich »äußernden« potentia der Individuen, so ist die potentia als eine ursprüngliche Spontaneität vor allen Äußerungen unabhängig vom Staat. Der Tractatus theologico-politicus hat sie in der individuellen Urteilsfreiheit dokumentiert gesehen. Sie zu befördern kann für den Staat nur bedeuten, sie nicht zu behindern, sie also zuzugestehen und das in den Grenzen, die durch die Trennung von Denken und Han266  |  II.  Ethik und Politik 

deln vorgegeben sind. Urteilsfreiheit fällt dann in einen Bereich, der neben der auf das Handeln sich beziehenden staatlichen Gesetzgebung besteht. Wenn demgegenüber der Tractatus politicus in erster Linie das Fundament dieser Gesetzgebung untersucht, wieweit sie nämlich in einer einheitlichen gemeinsamen Macht verankert ist, und wenn Bedingung dieser Einheitlichkeit die Partizipation aller an der Macht ist, die nur durch die Respektierung einer Ursprünglichkeit jedes einzelnen, seiner Freiheit, gewährleistet ist, dann kann die individuelle Freiheit nicht nur ein Bereich neben der staatlichen Gesetzgebung sein, der von dieser unberührt zu bleiben hat. Sie muß sich auf die Gesetzgebung selber beziehen, sofern diese durch die Macht der Menge bestimmt ist (vgl. TP III, § 2). An ihr muß jeder partizipieren, so daß die Überlegungen zum Fundament des Staates nur auf die demokratische Regierungsform führen können, die nicht nur Voraussetzung dafür ist, daß Urteils- und Meinungsfreiheit gewährt wird (Tractatus theologicopoliticus), sondern Voraussetzung dafür, daß der Staat überhaupt seine handlungsregulierende Aufgabe der Friedenssicherung erfüllen kann. III.

Wird der Tractatus politicus unter dieser Perspektive gelesen, dann ist er in der Analyse der Erhaltungsbedingungen des Staates eine vertiefende Ausarbeitung jener Grundthese des Tractatus theolo­ gico-politicus, daß die Freiheit Ziel des Staates sei. Aber Spinoza hat im Tractatus politicus die entwickelte Konsequenz der Verknüpfung von individueller Freiheit und Selbsterhaltung des Staates nicht ziehen wollen. Sie würde der Freiheit der Individuen zu viel zumuten. Sie würde nämlich voraussetzen, daß nicht nur aus der Perspektive des philosophierenden Staatstheoretikers die Unterscheidung getroffen werden kann zwischen der potentia der Individuen als einem ursprünglichen Merkmal freier Spontaneität und den affektiv bedingten Äußerungen dieser potentia, sondern auch aus der Perspektive der Individuen selber und daß diese sich in ihrem Selbstverständnis davon leiten lassen. Da das nicht der Fall ist, ist ein solches Konzept eine reine Theorie, die gegenüber der Wirklichkeit eine bloße Idee formuliert. Sie hat ihren WahrheitsFreiheit als Ziel des Staates  |  267

gehalt darin, daß sie auf etwas zielt, das dem Menschen möglich ist. Aber gerade deshalb ist sie untauglich ad regendam rempublicam. Das Verständnis, das die meisten Menschen von sich haben, ist nicht von einem Wissen um »ihren« conatus geleitet, sondern von den Vorstellungen der Äußerungen dieses conatus. Es vollzieht sich im Modus der imaginatio, nicht der ratio. Die Individuen, deren Macht das Gemeinwesen konstituiert, sind in ihrer eigenen Macht ganz wesentlich durch das je eigene Selbstverständnis konstituiert. Deshalb ist die Theorie des Staates in bezug darauf und nicht in bezug auf die Freiheit zu entwickeln. Wird die Theorie des Staates, die als dessen Ziel die individuelle Freiheit nennt, aufgegeben, weil sie bloße Theorie ist, die ein Selbstverständnis der Individuen in Anspruch nimmt, das diese selber gar nicht haben, dann muß auch die Theorie des Staates, die dessen Macht als multitudo begreifbar machen will, aufgegeben werden. Denn gerade bei Anerkennung des faktischen Selbstverständnisses der Individuen ist die multitudo mögliche Einheit, nicht aber faktische Einheit. Sie ist ein Ausstehendes, nicht ein Wirkliches. Deren Theorie, entwickelt im Tractatus politicus, bleibt der Sache nach in dieselbe Aporie verstrickt wie die, die der Tractatus theologicopoliticus entwickelt hat. Was dann bleibt, ist die Orientierung der Theorie an einer Praxis, die von denen, die sich im politischen Geschäft auskennen, ausgeübt worden ist. Ihr gegenüber verbleibt der Theorie nur, das mit der Praxis am meisten Übereinstimmende in sicherer und zweifelsfreier Weise zu demonstrieren (vgl. TP I, § 4). Und der genuine Anspruch der Philosophie, etwas aus der Beschaffenheit der menschlichen Natur herzuleiten (deducere, ebd.), reduziert sich im Feld der Politik auf diese Form der Demonstration. Sind es die Praktiker, die mit den Regierungsgeschäften Beauftragten, die alles schon ersonnen haben, was für den Erhalt des Staates von Nutzen ist, und hat sich die Theorie dieser Praxis zu beugen, wie es Spinoza zu Beginn des Tractatus politicus formuliert (TP I, § 3), dann ist die Theorie nur noch eine generalisierende Beschreibung der von den Machthabern eingesetzten Techniken der Machterhaltung. In ihnen sind die Untertanen ein Objekt, das einheitlich geleitet wird (»media quibus multitudo dirigi«; TP I, § 3). Diese Technik der Organisationsform wird nur erfolgreich sein können, wenn sie Aktivitäten der Individuen fördert und darin faktisch die 268  |  II.  Ethik und Politik 

Natur der Menschen, die potentia ist, anerkennt7, aber doch so, daß sie auf einen Zustand von Gemeinsamkeit abzielt, in dem die Individuen sich nicht unterdrückt wähnen, in dem sie sich also für frei halten, gleichgültig ob sie es sind oder nicht. Der Friede, der durch die vielfältigen Meinungen der Individuen über das für sie Gute gefährdet ist 8 , ist nur in bezug auf die Meinungen und in deren geschickten Koordination zu sichern, nicht aber aufgrund von Überlegungen, die auf das gehen, was wahr ist. Genau dann, wenn der Staat sich so versteht, wird er von den Unvernünftigen akzeptiert werden. Aber auch die Vernünftigen werden ihn, sobald sie Einsicht in diese Funktion des Staates haben, akzeptieren, mag er ihnen auch aus der Perspektive, die sie selbst einzunehmen vermögen, als unvernünftig erscheinen. Sie können es umso mehr, als sie wissen, daß allein in dieser Perspektive die Freiheit ihren Ort hat und daß getrennt von der vernünftigen Perspektive, die jeder selber einnehmen muß, die Freiheit ohnehin eine Illusion ist. Spinozas Theorie, die in der Ethik diese vernünftige Perspektive beschreibt, stimmt allerdings nicht mit einer immer schon ausgeübten Praxis überein. Denn sie beschreibt etwas, was selten gefunden wird (raro reperitur, Eth. V, prop. 42, schol.). Ihr Gegenstand kann nicht der der Politik sein.

7 

Vgl. D. J. Den Uyl  / St. D. Warner, Liberalism and Hobbes and Spinoza, in: Studia Spinozana 3 (1987), 309 f. 8  In diesem Punkt stimmen Spinoza und Hobbes überein. Zu Hobbes vgl. W. Bartuschat, Hobbes’ philosophische Grundlegung der Politik, in: Studia Leibnitiana 10 (1978), 178 ff.; ferner, bestätigend, O. Höffe, Politische Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 1987, 310 ff. Freiheit als Ziel des Staates  |  269

Ökonomie und Recht in Spinozas Theorie des Staates Spinoza, der in einem Land lebte, dessen Bürger, wie keine anderen, Handel trieben1, und der in jungen Jahren selber Kaufmann war2 , hat in seinem philosophischen Werk Fragen der Ökonomie nur am Rande erörtert. Er hat sie nicht in der Weise in einen systematischen Zusammenhang gebracht, durch den seine philosophische Behandlung von Sachfragen sonst ausgezeichnet ist. Anders verhält es sich mit dem Begriff des Rechts, den Spinoza systematisch, wenn auch nicht in seinem Hauptwerk, der »Ethik«, entfaltet und in Zusammenhang mit dem er Fragen der Ökonomie zumindest streift. Der Rechtstheorie Spinozas ist freilich kein wirkungsgeschichtlicher Erfolg beschieden gewesen.3 Selbst frühe Spinozisten haben geglaubt, sie auf normative Elemente hin modifizieren zu müssen, um sie überhaupt akzeptabel erscheinen zu lassen. 4 Andererseits hat man Spinoza im Rückgriff auf seine Rechtstheorie zu einem Vater des (auch) ökonomischen Liberalismus zu machen versucht 5 und neuerdings der Ökonomie sogar eine fundamentale Rolle für Spinozas rechtstheoretisches Konzept der Politik zusprechen wollen. 6 So soll im folgenden der Zusammenhang von Ökonomie und Recht in Spinozas Theorie des Staates näher untersucht werden. 1 

So urteilte schon Descartes (Brief an Guy de Balzac vom 5. Mai 1631). G. van Suchtelen, Mercator sapiens Amstelodamensis, in: E. Gian­ cotti (Hg.), Proceedings of the First Italian International Congress on Spinoza, Neapel 1985, 527–537. 3  M. Senn, Spinoza und die deutsche Rechtswissenschaft, Zürich 1991. 4  J. G. Wachter, Origines iuris naturalis (1704). Neudruck in: Freidenker der europäischen Aufklärung, hg. von W. Schröder, Abt. I, Bd. 2, Stuttgart 1995. 5  L.S. Feuer, Spinoza and the Rise of Liberalism, Boston 1958. Gründlicher D.J. Den Uyl/St.D. Warner, Liberalism and Hobbes and Spinoza. In: Studia Spinozana 3 (1987), 261–318. 6  C. Lazzeri, L’économique et le politique chez Hobbes et Spinoza, in: Studia Spinozana 3 (1987), 175–227. 2  Vgl.

270  |   

I.

Als erstes sei etwas zum philosophischen Hintergrund von Spinozas Rechtsbegriff gesagt. Von Spinoza stammt eine Formulierung, die den Anschein höchster Brutalität hat: was Recht ist, ist durch das bestimmt, was Macht ist (TP II, § 3). Verständlich wird die Formulierung freilich erst, wenn man sich hinreichend deutlich gemacht hat, was für Spinoza Macht (»potentia«) ist; und diese Verdeutlichung nimmt der Formulierung ihre Brutalität. Der Begriff der Macht ist bei Spinoza ein ontologischer Begriff, und als ein solcher wird er auch im Zusammenhang der Rechtstheorie eingeführt (TP II, § 2). Er ist ein zentraler Begriff der in der »Ethik« entwickelten Philosophie Spinozas, über den sowohl das Prinzip von allem, das Spinoza »Gott« nennt, charakterisiert wird (E I, prop. 34) wie auch jedes einzelne von Gott abhängende Seiende, das Spinoza einen »Modus« nennt (E III, prop.7, dem.).7 Gott, so ist die Grundthese Spinozas, ist wesentlich Macht (»Die Macht Gottes ist genau dessen Essenz«; E I, prop. 34), worunter Spinoza eine Form von produktiver Tätigkeit versteht, die sich in ihren Produkten, den Dingen der Welt, erfüllt. Gott ist demnach nicht durch ein Vermögen gekennzeichnet, das sich zu einer Tätigkeit eigens entschließen müßte und das in dieser Tätigkeit nicht aufginge. Er ist keine Instanz, die den produzierten Dingen transzendent wäre; er ist ihnen vielmehr kraft seiner Tätigkeit immanent, die Spinoza deshalb als eine »immanente Kausalität« bezeichnet (E I, prop. 18). Die entscheidende Konsequenz dieses Konzepts von Immanenz ist: Weil sich das Wesen Gottes in den Dingen erfüllt, Gott also nicht einen Rest unausgeschöpfter Potenzialität für sich behält, geht sein wesentliches Merkmal in die Dinge ein. Diese sind folglich ihrem Wesen nach ebenfalls tätige Dinge (E I, prop. 36), wenn sie auch als endliche Dinge nur Modifikationen der Macht Gottes sind, die als tätige Modi durch das Tätigsein anderer endlicher Modi bestimmt und darin eingeschränkt werden und bleiben. Mit diesem Begriff von Macht sind bestimmte, dem Spinozismus eigentümliche Merkmale verbunden, auf die hier nicht ein7 

Ausführlich dazu W. Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, Hamburg 1992 (Kap. II: Substanz und endlicher Modus). Ökonomie und Recht  |  271

gegangen zu werden braucht. Hervorzuheben ist jedoch das herausragendste, das sich aus der Konzeption der Macht Gottes als einer in den Dingen sich erfüllenden Produktivität ergibt. So wie diese Macht gegenüber den Dingen keinen Rest an Potenzialität zurückbehält, die Raum ließe für bloß Mögliches und somit für Alternativen gegenüber dem Faktischen, so geht auch die als Tätigkeit bestimmte Macht endlicher Dinge in der Faktizität ihres Sich­ äußerns auf. Spinoza nimmt damit einem Ding jeglichen Bezug auf ein zu erreichendes Ziel und setzt in eins damit alle Normativität von Vorschriften außer Kraft. Ist die Macht nur in ihren faktischen Äußerungen und ist sie in dieser Form die Wesensbestimmung eines endlichen Dinges, dann ist jedes Ding in der Faktizität seines Tuns gerechtfertigt. Denn es kann nicht gemessen werden an einem anderen, sei es an einem anderen Ding, sei es an einem Gattungsbegriff, sei es an irgendeinem Ideal. Spinoza hat dies so zum Ausdruck gebracht, daß er die Macht eines einzelnen Dinges als ein Streben, im eigenen Sein zu verharren (»conatus in suo esse perseverandi«), bestimmt hat (E III, prop. 6). Dieses eigene Sein ist gemäß der Ontologie nichts als Tätigkeit, und das Streben ist nichts als deren Ausgestaltung im Sinne einer Tendenz, die eigene Tätigkeit gegen alle Einschränkungen von außen zu bekräftigen, was nur heißen kann, darauf aus zu sein, sie zu steigern. Das tut ein jeder gemäß der ihm eigenen Macht, d. h. so gut er kann; und weil dieses Tun Ausdruck von Macht ist, wird es auch geschehen, ohne daß es einem Individuum eigens geboten werden müßte.

II.

Nun ist zunächst nicht einzusehen, warum das, was ohnehin geschieht, ein »Recht« genannt werden sollte. In der »Ethik« verbindet Spinoza mit dem ontologischen Begriff von Macht auch nicht den des Rechts. Er hat die Verbindung erst hergestellt in seinen beiden politischen Traktaten, dem »Theologisch-Politischen Traktat« und dem »Politischen Traktat«, die eine Theorie des positiven Rechts exponieren. Spinoza bestimmt also, so läßt sich sagen, nicht die Macht als ein Recht, sondern das Recht als eine Macht, und diese Bestimmung steht im Dienst einer kritischen Theorie des Rechts272  |  II.  Ethik und Politik 

positivismus. 8 Im Hinblick auf gesetztes Recht hat die Theorie der Macht die Bedeutung einer Beurteilung dieses Rechts auf seine Leistungsfähigkeit hin. Und allein im Hinblick auf gesetztes Recht hat es für Spinoza Sinn, von einem Naturrecht des Menschen zu sprechen. Indem Spinoza die Macht, die jedem einzelnen Menschen als eine ontologische und darin von allen Setzungen und menschlichen Übereinkünften unabhängige Bestimmung zukommt, als ein Naturrecht bezeichnet, will er herausstreichen, daß die Macht etwas ist, das in den Begriff von Recht eingehen muß, weil ein gesetztes Recht unbezüglich auf das, was Macht ist, keinen Bestand haben könnte und insofern bedeutungslos wäre. Nur dasjenige positive Recht hat Spinoza zufolge Bestand, das sich in Rechtsgesetzen artikuliert, die den Menschen gemeinsam sind (iura communia, TP II, § 15); und von dieser Art sind Rechtsgesetze nur dann, so Spinozas weitere These, wenn sie Ausdruck einer gemeinsamen Macht der Menschen sind. Darin zeigt sich eine eigentümliche Verschränkung von natürlichem und positivem Recht, insofern das eine nicht ohne das jeweils andere ist. Das natürliche Recht eines Individuums besteht darin, sich gemäß der je eigenen Macht zu betätigen und darin gegen alle Gewalttätigkeit anzugehen, durch die es in seinem Sichäußern von außen genötigt wird. Insofern dieses Recht mit der Macht eines Individuums zusammenfällt, ist es von dem Umfang dieser Macht abhängig und deshalb in dem sogenannten Naturzustand faktisch nichtig, weil in ihm die Reichweite der Macht eines Individuums, das auf sich selbst angewiesen ist, äußerst gering ist. Ohne die rechtsgesetzliche Regelung einer staatlichen Institution, folgert Spinoza, könne der Mensch deshalb seines natürlichen Rechts überhaupt nicht inne werden (ebd.). Und insofern der Mensch nur in dieser Regelung etwas von seinem natürlichen Recht hat, hat das natürliche Recht auch nur in ihr, d. h. als ein gesetztes Recht, eine Wirklichkeit. Andererseits kann das gesetzte Recht seine Funktion der Sicherung des natürlichen Rechts nur erfüllen, wenn es in seiner Positivität das natürliche Recht als etwas, das unabhängig von aller Positivität ist, in sich integriert hat. Darin hat Spinoza den ent8  Vgl.

Staat).

meine in Anm. 7 genannte Abhandlung (Kap. VI: Der Mensch im

Ökonomie und Recht  |  273

scheidenden Unterschied zu Hobbes gesehen, daß er »das Naturrecht immer unangetastet lasse« (Ep. 50). Für Spinoza kann es so etwas wie eine (hobbessche) Übertragung des Naturrechts nicht geben, weil niemand das, was für ihn konstitutiv ist, von sich aus tätig zu sein, aufgeben kann. Unhaltbar ist deshalb der hobbessche Gedanke eines Vertragsschlusses, in dem die vertragsschließenden Individuen einen von ihnen verschiedenen Dritten begünstigen. Der Staat Spinozas ist demgegenüber keine von den Individuen abgehobene Instanz, sondern eine Institution, in die das Naturrecht der Individuen und damit deren Macht eingegangen ist. Das bedeutet: Gemeinsame Rechtsgesetze sind solche, die in einer Macht gründen, die als Macht des Staates und damit des Gesetzgebers nichts anderes sein kann als die gemeinsame Macht der Individuen. Damit erhält die zunächst befremdlich wirkende Ineinssetzung von Recht und Macht den Sinn, das positive Recht als etwas zu erweisen, das gegen die Individuen keine Gültigkeit wird haben können. Wenn das Recht so weit reicht wie die Macht, ist es von geringer Reichweite und folglich wenig wirkungsvoll, sobald die Macht des Gesetzgebers dadurch eingeschränkt ist, daß sie nur wenige Individuen verkörpert und gegen die anderen agiert. Gewiß können von einem Souverän Gesetze erlassen werden, die lediglich dazu dienen, den Großteil seiner Untertanen zu unterdrücken. Spinoza verurteilt eine solche Gesetzgebung nicht aus moralischen Gründen, sondern macht deutlich, daß eine sich so verstehende Souveränität nicht von langer Dauer sein kann. Sie wird zugrunde gehen, weil sie unterdrückend ist, d. h. individuelle Aktivitäten zu hemmen sucht, die sich auf Dauer nicht hemmen lassen. Das Recht wird bedeutungslos, weil es seine Funktion verliert. Es kann das menschliche Gegeneinander des sogenannten Naturzustandes nicht beseitigen, wenn es in seiner Positivität selber Ausdruck eines Gegeneinanders ist. Gesetze, die dem, was für Menschen wesentlich ist, nicht gerecht werden, sind solche, die in ihrer Tatsächlichkeit scheitern, die nämlich keinen Bestand haben werden, weil sie auf zu schmaler Machtbasis erlassen sind. »Gerechte«, wenn man den Ausdruck gebrauchen darf, Gesetze sind demgegenüber solche, die sich tatsächlich als beständig erweisen, was dann der Fall sein wird, wenn sie Ausdruck einer gemeinsamen Macht aller Individuen sind, für die sie gelten. 274  |  II.  Ethik und Politik 

Darin zeigt sich folgende, das Eigentümliche von Spinozas Rechtstheorie zum Ausdruck bringende Figur: Einerseits ist es die fehlende Gemeinsamkeit der Individuen, die Rechtsgesetze erforderlich macht, nämlich zur Regulierung des aus diesem Fehlen resultierenden konfligierenden Gegeneinanders. Andererseits sind die Rechtsgesetze nur unter der Bedingung von Gemeinsamkeit leistungsfähig, unter der sie, so sieht es aus, gar nicht erforderlich wären. Doch sieht es nur so aus, weil die Wirklichkeit jener Gemeinsamkeit bloß fiktiv ist, was Spinoza mit der Formel eines »Als-ob« (veluti) beschreibt (TP II, § 16). Die Gemeinsamkeit der Individuen ist dann für das Recht unter dem Aspekt von zentraler Bedeutung, daß es dessen Aufgabe ist, eine solche Gemeinsamkeit zustandezubringen. Insofern ist die Gemeinsamkeit ein Ziel des Rechts, das sich nur realisieren läßt, wenn die Gesetzgeber sich von dem Hinblick auf es auch leiten lassen. Das durch die Rechtsgesetze zu befördernde Ziel des Staates versteht Spinoza dabei als ein dem Staat immanentes Ziel, sofern dieser das Ziel hat, sich selbst als eine in sich stabile Organisation zu erhalten.9 »Die Rechtsgesetze«, sagt Spinoza, »sind die Seele des Staates« (TP X, § 9), also das Prinzip, das ihn am Leben erhält. Derjenige Staat, so meint Spinoza, werde dauerhaften Bestand haben, dessen Rechtsgesetze unverletzt bleiben (ebd.), wofür sie richtig festgesetzt sein müssen (ebd.). Richtig festgesetzt sind sie aber dann, wenn sie Ausdruck einer gemeinsamen Macht derer sind, die einen Staat ausmachen, also der ganzen Bevölkerung, die Spinoza eine »Menge« (multitudo) nennt. Wenn diese Menge auch nicht selber regiert und insofern auch nicht Gesetze erläßt, so werden Gesetze, erlassen von den Regierenden (sei es von einem Monarchen, sei es von einer Versammlung), nicht richtig festgesetzt sein, wenn sie ge­ gen die Menge erlassen werden. Hierfür muß sich der Gesetzgeber nicht auf ein Begehren der Individuen stützen, das in der Materialität seiner Ziele einheitlich wäre. Selbst wenn, in der Konsequenz der spinozanischen Überlegungen zum Begriff einer gemeinsamen Macht, die angemessene Regierungsform die demokratische ist, hinter der die von Spinoza ausführlich erörterten Regierungsfor9 

Vgl. meine Einleitung in: Spinoza, Politischer Traktat/Tractatus politicus (Phil. Bibl. 95b), Hamburg 1994. Ökonomie und Recht  |  275

men der damaligen Zeit (Monarchie und Aristokratie) notwendigerweise zurückbleiben10 , wird eine optimale Regierung nicht die tatsächliche Einheit einer Menge im Sinne eines einheitlichen ma­ teriellen Begehrens verkörpern können. Denn offensichtlich sind in bezug auf begehrte Gegenstände die Interessen und Präferenzen der vielen Individuen einer Menge zu unterschiedlich, als daß die Regierung eine diesbezügliche Einheit sein könnte. Als Ausdruck gemeinsamer Macht erweist sich eine gesetzgebende Regierung vielmehr dann, wenn sie Gesetze erläßt, die geeignet sind, die Macht der Individuen so zu befördern, daß sie eine gemeinsame wird. Da diese Gemeinsamkeit sich nicht anders zeigen kann als unter dem Aspekt eines Zusammens von je individueller Macht in deren Sichäußern, können Inhalt der Rechts­ gesetze nicht Vorschriften in Form von Anordnungen oder Befehlen sein. Denn individuelle Macht, die es zu berücksichtigen gilt, ist wesentlich Tätigkeit, und niemand kann auf Befehl tätig sein. Rechtsgesetze müssen Individuen befähigen, Tätigkeiten auszuüben, und nur dann, so sieht Spinoza richtig, sind sie Ausdruck von Gemeinsamkeit. Allein unter dieser Bedingung sind sie allgemein zustimmungsfähig, weil sie dem, was konstitutiv für ein Individuum ist, tätig zu sein, entgegenkommen. Und mit einem solchen Entgegenkommen ist jede Form äußeren Zwanges prinzipiell unvereinbar.11 Es bleibt freilich die Frage, was das für Tätigkeiten sind. Zu ihnen, geradezu paradigmatisch für eine Tätigkeit, die sich nicht von außen zwingen läßt, zählt gewiß ganz wesentlich das gei­ stige Sichbetätigen in Form freien Urteilens. Auf sie hat Spinoza in seinem ersten politiktheoretischen Traktat abgehoben, in dem »Theologisch-Politischen Traktat«, wenn er die Freiheit (des Philosophierens) als Ziel des Staates ausgibt (TTP XX).12 Dort hat er sie, formuliert im Motto des Traktates, nicht nur als etwas verstanden, das der Staat ohne Schaden für sich selbst den Individuen zugeste10 

Vgl. A. Matheron, La fonction théorique de la démocratie chez Spinoza, in: Studia Spinozana 1 (1985), 259–273. 11  H. Necking, Das Verhältnis von Macht und Recht bei Spinoza, Diss. iur. München 1967. 12  Zur Begründung im einzelnen W. Bartuschat, Freiheit als Ziel des Staates [in diesem Band, S. 246 – 269]. 276  |  II.  Ethik und Politik 

hen könne, gleichsam als ein für den Staat und dessen Aufgaben ungefährliches individuelles Recht, sondern als etwas, das Voraussetzung dafür ist, daß der Staat seiner Aufgabe einer internen Friedenssicherung überhaupt nachkommen könne. Individuelle Freiheit erscheint als etwas, das dem Staat allererst Bestand gibt, weil sie dasjenige sei, so meinte Spinoza in diesem Traktat, was als ursprünglicher Ausdruck der Spontaneität von Macht allen Individuen gemeinsam ist, so daß in ihr auch die Bürger eines Staates ihre wahre Gemeinsamkeit hätten. In seinem zweiten Traktat, dem »Politischen Traktat«, hat Spinoza dieses Konzept zwar nicht aufgegeben, aber doch in den Hintergrund gedrängt. Denn er hat gesehen, daß die Freiheit des Geistes nicht etwas ist, das menschliche Individuen tatsächlich miteinander verbindet, und daß der Staat nicht etwas gegen die Tatsächlichkeit zum Ziel haben kann, will er sich nicht in Utopien verlieren, die sich nicht an dem orientieren, wie Menschen tatsächlich sind (TP I, § 1). Denn an der Freiheit sich zu orientieren, setzt beim Menschen ein Selbstverständnis voraus, in dem er sich als ein vernünftiges Wesen selber versteht. Dies kann jedoch keineswegs bei allen Menschen, um deren Gemeinsamkeit es geht, vorausgesetzt werden. So wichtig eine Freiheit des Geistes, die sich nicht nur auf eine Abwesenheit äußerer Hindernisse stützt, sondern in einem Gebrauch der eigenen Vernunft gründet, für Spinoza bleibt (TP V, § 5), im 2. Traktat erklärt er sie zu einer Privatangelegenheit (TP I, § 6), die zwar die Stärke (»Tugend«) eines Individuums ausmache, nicht aber die eines wohlorganisierten Gemeinwesens. Machte man sie zur Tugend des Staates, dann hieße das, daß dessen Stabilität von einer Haltung des einzelnen abhinge. Eine solche Haltung, die orientiert ist an vernünftiger Einsicht, würde in der Tat, wie Spinoza in seiner »Ethik« ausgeführt hat, zu einer die Individuen verbindenden Gemeinsamkeit führen (E IV, prop. 35–37), wenn diese sich daran orientierten. Aber eben deshalb tauge, so erklärt Spinoza jetzt, der Rückgriff auf diese Form von Vernünftigkeit nicht für die Theorie von Recht und Staat. Einmal sei es eine Illusion, darauf zu setzen, daß menschliche Individuen in sich eine solche Haltung ausbildeten. Zum anderen könne die Ausbildung einer solchen geistigen Haltung nicht in die Domäne dessen fallen, was sich durch Rechtsgesetze bewirken läßt. Ökonomie und Recht  |  277

Was hingegen durch Rechtsgesetze bewirkt werden kann, ist, die bloß private und darin ein Gegeneinander heraufbeschwörende je subjektive Tätigkeit so zu modifizieren, daß das in der Privatheit gründende Gegeneinander nach Möglichkeit beseitigt wird. Können sich Rechtsgesetze nicht gegen die Privatheit des individuellen Ausseins auf Steigerung der eigenen Macht im Dienst der eigenen Selbsterhaltung wenden – täten sie das, wären sie von vornherein wirkungslos –, so können sie doch solche individuellen Tätigkeiten befördern, deren Sichäußern gar nicht in der Privatheit des bloß Individuellen verharren kann, weil es notwendigerweise verflochten ist mit den Tätigkeiten, die andere Individuen ausüben. Auf diese Weise könne eine Gemeinsamkeit der Individuen über ein Geflecht erreicht werden, in dem sie in den Formen ihrer Betätigung wechselseitig aufeinander angewiesen sind. Tätigkeiten dieser Art sind im vorzüglichen Maße ökonomische. Die Rechtsgesetze sind zwar für Spinoza nicht in erster Linie die Seele des Staates, weil sie den ökonomischen Verkehr regeln, sondern weil sie für die Geschäfte in Regierung und Verwaltung Regelungen erlassen, die bewirken, daß ein jeder, der dort Verantwortung trägt, in ein Geflecht von Entscheidungsmechanismen eingebunden wird, das als Organisationsform des Staates unabhängig davon ist, von welcher Haltung oder Einstellung eine regierende Person sich leiten läßt. »Ein Staat, dessen Wohlergehen von der Redlichkeit irgendeines Menschen abhängt und dessen Geschäfte nur richtig besorgt werden können, wenn die damit Betrauten bereit sind, redlich zu handeln, wird keineswegs stabil sein. Die Geschäfte des Staates müssen vielmehr, damit er Bestand haben kann, so geordnet sein, daß diejenigen, die sie verwalten, seien sie dabei von der Vernunft oder von einem Affekt geleitet, gar nicht dahin gebracht werden können, sich unredlich zu geben oder schlecht zu handeln« (TP I, § 6). Aber Spinoza hat auch keinen Zweifel daran gelassen, daß die Ökonomie ein wesentliches Element ist, das ein solches Organisationsgeflecht am Leben hält. Denn in ihr zeige sich beispielhaft, wie eine affektgeleitete, auf die Selbsterhaltung gerichtete individuelle Bestrebung, nämlich das Streben nach Bereicherung, in ihrem Erfolg davon abhängig ist, daß nicht nur das eigene Wohl, sondern zugleich auch das der anderen befördert wird. Dieser Ge278  |  II.  Ethik und Politik 

sichtspunkt spielt schon auf der Ebene der Regierungsgeschäfte eine wichtige Rolle. Optimal regiert werden könne ein Land, so macht Spinoza gegen die monarchische Herrscher-Figur des Thomas Hobbes geltend, nicht von einer Person, sondern nur von einer genügend großen Versammlung. In der Monarchie habe sie sich aus Räten zusammenzusetzen, von denen Spinoza (und für die Patrizier des aristokratischen Staates gilt nichts anderes) sagt: »Weil die menschliche Natur so verfaßt ist, daß ein jeder seinen privaten Vorteil mit aller Leidenschaft sucht und diejenigen Rechtsgesetze für die billigsten hält, die für die Erhaltung und Vermehrung seines eigenen Besitzes erforderlich sind, und weil ein jeder die Sache eines anderen nur so weit verteidigt, wie er damit seine eigene zu stärken glaubt, ist es unvermeidlich, als Räte Personen zu benennen, deren Privatbesitz und Eigeninteresse von dem gemeinsamen Wohl und dem Frieden aller abhängig sind« (TP VII, § 4). Der politisch Verantwortliche, so ist daraus zu entnehmen, ist an eine Tätigkeit zu binden, die ihn nicht nur in Abhängigkeit von seinem Kollegen bringt, was ihn zu kollektiven Entscheidungen nötigt, sondern auch in Abhängigkeit zu der Bevölkerung seines Landes im Ganzen. Ließe sich dies realisieren, gäbe es keinen Gegensatz zwischen Regierenden und Regierten, so daß die politischen Repräsentanten tatsächlich eine gemeinsame Macht repräsentierten und das erlassene Recht dauerhaft wäre, weil es das Recht der Menge wäre, gegen das zu opponieren die Menge keinen Anlaß hätte. Einige Aspekte dieses Sachverhaltes möchte ich im Folgenden näher beleuchten.

III.

Die Vereinigte Republik der Niederlande, Spinozas Heimat, war die führende Handelsnation der damaligen Zeit. Es war noch nicht lange her, daß das Land nach einem aufopferungsvollen Kampf gegen das vermeintlich übermächtige Spanien seine Souveränität erlangt hatte, die es fortan kraft seiner Wirtschaftsmacht mühelos verteidigen konnte. Ein Parteigänger Jan De Witts, des führenden politischen Kopfes des Landes, Pieter Van den Hove, hatte in mehreren Büchern den Wohlstand Hollands auf eine rigorose Ökonomie und Recht  |  279

Handels- und Gewerbefreiheit zurückgeführt und zugleich eine Theorie entwickelt, derzufolge die individuellen Aktivitäten, die nicht behindert werden dürften, durch ein Geflecht wechselseitigen Abhängens in ein Gleichgewicht der Kräfte zu bringen seien, das die egoistischen Tendenzen neutralisiere. In seinem »Politischen Traktat« ist Spinoza von diesem Autor stark beeinflußt13 , dessen Ausführungen er dort von der eigenen Philosophie her ein theoretisches Fundament zu geben versucht. Doch muß man sehen, daß bei aller Einheitlichkeit der Philosophie Spinozas seine Darlegungen zur Ökonomie kein einheitliches Bild abgeben. Im Hinblick auf internationale Beziehungen ist die Wirtschaftskraft eines Landes für Spinoza die wesentliche Voraussetzung dafür, die eigene Selbständigkeit gegenüber anderen Ländern bewahren zu können. Internationale Beziehungen unterlägen keinen rechtsförmigen Regelungen, sondern der bloßen Stärke des Naturrechts, im Rückgriff auf das, so meint Spinoza, ein Staat, im Unterschied zu einem Individuum, sich kraft seiner Fähigkeit zur Selbstversorgung vor Angreifern selbst schützen könne. »Ein Gemeinwesen steht so weit unter eigenem Recht (sui iuris est), wie es für sich selbst sorgen und sich vor Unterdrückung durch ein anderes Gemeinwesen schützen kann« (TP III, § 12). Zeigt sich, entgegen Spinozas historisch bedingter Annahme, daß die Wirtschaft eines Landes nicht autark ist, sondern verflochten ist mit der Wirtschaft anderer Länder, dann wird es mit Spinoza ein den einzelnen Staat übergreifendes internationales Recht geben müssen. Dessen Gesetze werden aber nicht von einer übergeordneten Institution erlassen werden können, die ihre Stärke darin hätte, daß die einzelnen Staaten das Recht auf Selbsterhaltung und damit auf Souveränität ihr übertragen haben. Vielmehr müßte sie, wie immer sie im einzelnen beschaffen sein mag, Ausdruck einer Gemeinsamkeit aller Staaten sein. Und das könnte sie der Rechtslogik Spinozas zufolge nur sein, wenn sie das Recht eines jeden Staates auf Selbständigkeit befördert und damit auch die Bedingungen, unter denen er allein souverän sein kann: die Möglichkeit einer wirtschaftlichen Prosperität, die einen Staat nicht zum Empfänger von Wohltaten degradiert. 13  Vgl.

H. W. Blom, Spinoza en De La Court; Politieke wetenschap in de zeventiende eeuw, Leiden 1981. 280  |  II.  Ethik und Politik 

Spinoza hat einen dahingehenden Zusammenhang nicht auf internationaler Ebene verfolgt, sondern in beschränktem Rahmen in den Grenzen der Provinz Holland, einer Republik, deren Regierungsgewalt mehrere Städte innehaben und die deshalb, anders als die oberitalienischen Republiken, nicht nach einer Stadt benannt ist. Wegen der Verteilung der Macht auf mehrere Städte hat sie in Spinozas Augen den Vorzug gegenüber einem Staat, in dem die Hauptstadt dominiert (TP IX). Im mehrstädtischen Staat vom Schlage Hollands ist die Macht so auf die einzelnen Städte verteilt, daß diese in einer wechselseitigen Abhängigkeit stehen, in der eine einzelne Stadt einerseits nicht ohne die anderen bestehen kann, anderseits aber so stark ist, daß ohne sie der Verbund der Städte zu einem Staat gefährdet wäre (TP IX, § 2). Van den Hoves Gedanke eines Gleichgewichts von Kräften tritt hier auf, die nur dann Kräfte sind, wenn sie eine Aktivität entfalten, und deren Gleichgewicht deshalb nur in einer solchen Entfaltung, nicht aber durch eine übergeordnete Instanz zustandegebracht werden könne. Im vielstädtischen Staat zeige sich das darin, daß jede Stadt darauf aus ist, Edam nicht anders als Amsterdam, die eigene Macht zu erweitern, um in der gemeinsamen Versammlung, die über die Geschicke der Republik entscheidet, durch mehr Stimmen einen größeren Einfluß zu haben. Da dieses Mehr nach Spinozas Ansicht relativ auf die Einwohnerzahl zu sein hat, werde jede Stadt darauf aus sein, die eigene Bevölkerung zu vergrößern, und folglich dasjenige unternehmen, was zu einer solchen Vergrößerung beiträgt, also einen Zuzug von Menschen ankurbelt. Dazu gehöre nicht zuletzt ein Bemühen um den Wohlstand ihrer Bewohner, was zu einem Wettbewerb der Städte untereinander führe, der das allgemeine Wohl insgesamt steigere. Demgegenüber bedeute der mögliche Zwist unter den Städten, der dadurch entstehe, daß jede, bedacht auf das eigene Wohl, neidisch auf die übrigen ist, wenig (TP IX, § 14). Spinoza war nicht der Ansicht, mag es auch dahingehende Formulierungen geben, daß Subjekt eines solchen Strebens ein Gemeinwesen sein könnte14; Individuen sind es, die in dieser Weise 14 

Vgl. L. Rice, Individual and Community in Spinoza’s Social Psychology, in: E. Curley / P.-F. Moreau (Hg.), Spinoza. Issues and Directions, Leiden 1990, 271–285. Ökonomie und Recht  |  281

streben, nämlich die politisch Verantwortlichen (für Spinoza die Patrizier einer Stadt). Der Wohlstand einer Stadt ist auf deren Streben zurückzuführen und damit auf eine spezifisch menschliche Affektivität, die, wie Spinoza immer wieder betont, alles menschliche Streben nicht nur begleitet, sondern auch gestaltet. So spielt der Ehrgeiz der Patrizier, in der gemeinsamen Versammlung aller Städte als Repräsentanten der eigenen Kommune möglichst zahlreich vertreten zu sein, eine wichtige Rolle. Der Affekt des Ehrgeizes, der sich oft mit dem der Ruhmsucht mischt, richtet sich selbstverständlich allein auf das, was dem persönlichen Vorteil dient, besser gesagt: auf das, von dem der Begehrende meint, daß es ihm dienlich ist. Er komme jedoch, so will Spinoza zeigen, genau dann an sein Ziel, den eigenen Vorteil, wenn er den Vorteil anderer, hier den der Bürger der eigenen Stadt, berücksichtigt. Spinozas Begriff des Vorteils eines Individuums impliziert über die enge Bindung an die je eigene Tätigkeit ein Moment der Wechselseitigkeit. Insofern kann denen, deren Vorteil die Regierenden um des eigenen Vorteils willen im Auge haben, nicht das vorenthalten werden, was die Regierenden als den eigenen Vorteil ansehen: nämlich sich von sich aus zu betätigen, wozu ganz wesentlich die ökonomische Aktivität gehört. Die Untertanen werden nicht in eine Kommune ziehen, also die Bevölkerung einer Gemeinde faktisch nicht vergrößern, wenn ihnen dort nicht eine Form von Eigen­a ktivität garantiert wird. Dazu gehört für Spinoza ganz gewiß, das sollte nicht unterschlagen werden, eine Form geistiger Spontaneität, wie sie sich in der Freiheit des Urteilens und der Meinungsäußerung niederschlägt – und offensichtlich war Spinoza für seine Person mit deren Gewährung auch zufrieden. Aber es gehört auch die ökonomische Aktivität dazu, also dies, Handel zu betreiben und darin in ein Geflecht von Handelsbeziehungen integriert zu sein, das man selber gestaltet. Spinoza hat keinen Zweifel daran gelassen, daß die Regierenden einer Aristokratie, wie er sie vor Augen hatte, Kaufleute sein müssen und zwar erfahrene Kaufleute, die ihre Geschäfte lang genug betrieben haben und die deshalb, erfahrungsgesättigt, in politischen Angelegenheiten die richtigen Entscheidungen treffen werden. Doch hat Spinoza gesehen, daß dies, Handel zu treiben, nicht ein Privileg der Patrizier sein kann. Rechtsgesetze, deren 282  |  II.  Ethik und Politik 

Aufgabe es ist, ökonomische Aktivitäten zu regeln, wären nicht Ausdruck einer gemeinsamen Macht, wenn sie sich nicht auf Aktivitäten bezögen, die allen Individuen gemeinsam sind. Andererseits, um Regierung und damit auch Gesetzgebungsverantwortung übernehmen zu können, genügt es nicht, Kaufmann zu sein. Denn Handel können auch Fremde betreiben, deren Immigration um der Steigerung der Macht eines Gemeinwesens willen zu fördern ist, die jedoch, weil sie Fremde sind, keine Regierungsverantwortung übernehmen können. Hierfür wird mehr verlangt als das Feld der Ökonomie hergibt: als Einheimischer mit seinem Land kulturell und über den Begriff des Vaterlandes auch emotional verbunden zu sein15 , aber auch, was für Spinoza eine unerläßliche Voraussetzung ist (TP VIII, § 9), Militärdienst geleistet zu haben. Hiervon sind die der Nation fremd bleibenden Immigranten ausgeschlossen, beispielsweise Spinozas alte Glaubensbrüder, die sephardischen Juden der iberischen Halbinsel, die zuhauf das liberale Holland bevölkerten und sicherlich eine ökonomische Macht darstellten, aber insoweit rechtlos waren, als sie am Gesetzgebungsverfahren nicht teilnehmen durften.16 Spinoza hat die Immigranten gleichwohl als Bürger des Landes angesehen, insofern er unter »Bürger« nicht nur denjenigen versteht, der am Gesetzgebungsverfahren partizipiert, sondern auch denjenigen, der in den Genuß der Vorteile gelangt, die aus der Gesetzgebung resultieren, und zwar uneingeschränkt in den Genuß aller Vorteile (TP III, § 1). Spinoza sieht deutlich, daß bei aller engen Verknüpfung von Politik und Ökonomie der ökonomische Bereich sich gegenüber dem politischen verselbständigen kann und dann eine Sphäre darstellt, die Hegel später in der Unterscheidung vom Staat »bürgerliche Gesellschaft« genannt hat. Spinoza hat in dem Verfolg bloß ökonomischer Interessen sogar den Keim einer Verfallsgeschichte ursprünglich demokratischer Staaten gesehen und zwar unter dem rein quantitativen Gesichtspunkt der Bevölkerungszusammensetzung. Ursprünglich, so stellt sich das Spinoza vor (TP VIII, § 12), 15 

Vgl. P.-F. Moreau, Spinoza. L’expérience et l’éternité, Paris 1994 (chap. III, 3: L’ingenium du peuple et l’âme de l’Etat). 16  Vgl. H. Méchoulan, Amsterdam au temps de Spinoza. Argent et liberté, Paris 1990. Ökonomie und Recht  |  283

sei ein Land von einer Menschenmenge kultiviert und darin zu einem politischen Gemeinwesen gemacht worden, in dem alle gleiche Rechte haben, weil sie sich verbunden wissen durch die Gemeinsamkeit der Kultivierung eines Staates, »den sie mit so viel Mühe sich verschafft und um den Preis ihres Blutes sich zu eigen gemacht hatten«. Unter diesem stark emotionalen Aspekt würden den eingewanderten Fremden bestimmte politische Rechte vorenthalten, womit diese sich ihrerseits zufrieden gäben, »die ja eingewandert sind, nicht um politisch tätig zu sein, sondern um ihren Privatgeschäften nachzugehen, und die es für ein genügendes Zugeständnis halten, wenn man ihnen nur die Freiheit zugesteht, diesen Geschäften ungefährdet nachzugehen«. Das gemeinsame Leben in demselben Land mache es mit der Zeit, daß sich Einheimische und Fremde in Sitte und Haltung zunehmend vermischen, wobei, das Prosperieren des Landes einmal vorausgesetzt, die Zahl der Fremden gegenüber den Einheimischen immer mehr zunimmt. Die Folge davon sei, daß, wenn wirtschaftliche Potenz Kriterium politischer Macht ist, dieses Kriterium, restringiert auf die Einheimischen, nicht mehr greift, und daß, wenn das Recht auf politische Betätigung dennoch bei den Einheimischen verbleiben soll, es nur noch wenige werden ausüben können, die sich dann nicht mehr auf einen Konsens gemeinsamer Interessen stützen, sondern nur noch durch Tricks und Ranküne an der Macht halten. Wie es aussieht, beschreibt Spinoza hier den Fall, in dem die Eigendynamik der Ökonomie der Idee einer gemeinsamen Macht als Quell der Rechtsprechung zuwiderläuft. Spinoza hat nicht viel gesagt zu dem, was sich dagegen durch staatliche Rechtsprechung machen läßt. Ich möchte zum Abschluß einen Punkt herausgreifen, der die Frage nach dem Eigentum an unbeweglichen Gütern (bona fixa) betrifft.17 Hier gibt Spinoza eine unterschiedliche Antwort, die relativ auf die unterschiedliche Regierungsform eines Staates ist. In der Monarchie dürfe es kein Privateigentum an Grund und Boden geben, in der Aristokratie aber sehr wohl und beides aus demselben Grund, nämlich um der Stabilität des Staates willen. Der leitende Gesichtspunkt für diese 17  Grundlegend

hierzu A. Matheron, Spinoza et la propriété, in: ders., ­ nthropologie et politique au XVIIe siècle, Paris 1986, 155–169. A 284  |  II.  Ethik und Politik 

unterschiedliche Einschätzung ist die Frage, wie diejenigen, die an der Regierung nicht beteiligt sind, aufgrund ihrer wirtschaftlichen Betätigung an den Staat gebunden werden können. Wenn Bürger, so argumentiert Spinoza, kein unbewegliches Eigentum haben, werden alle genötigt, um des Profits willen, auf den alle aus seien, Handel zu treiben (TP VII, § 8). Der Möglichkeit beraubt, aus unbeweglichem Eigentum Gewinn zu erzielen, werden sie Geschäfte betreiben müssen, die entweder untereinander zusammenhängen (direkter Warenverkehr) oder die sich derselben Mittel (Geld, Kredit, Zins) bedienen müssen, um zu einem guten Ende gebracht zu werden (ebd.). Dabei scheint für Spinoza die Orien­tierung am Geld gegenüber der Orientierung am Boden den Vorteil zu haben, den Neid der Individuen abzumildern, der angesichts des je unterschiedlichen sichtbaren Bodenbesitzes entsteht. In der »Ethik« hat Spinoza das Geld als etwas bezeichnet, an dem wir eine gehörige Zusammenfassung (verum compendium) aller Dinge haben (E IV, caput 28).18 Auch von ihm haben, gewiß, die einen mehr als die anderen; doch könne Geld als ein Abstraktum aller Dinge im Unterschied zu einem Stück Boden, das nicht zwei zugleich besitzen können, von allen so erstrebt werden, daß aus dem Neid auf andere ein Wetteifer (aemulatio) mit anderen wird oder auch, wenn man es so formulieren will, ein Wettbewerb, der die Individuen nicht trennt, sondern verbindet. Er verbindet die Individuen, weil sie in ihm aufeinander angewiesen sind. Dieses aufeinander Angewiesensein in der Wechselseitigkeit von Geschäften führe, das ist für Spinoza der entscheidende Gesichtspunkt, zu einer Gleichheit der Bürger, gewiß nicht zu einer Gleichheit im erwirtschafteten Ertrag, sondern zu einer Gleichheit in den politischen Absichten. Es ist die allen Bürgern gemeinsame und darin sie vereinende Absicht, Krieg zu vermeiden, denn dieser, so meint Spinoza, ruiniere die Wirtschaft eines Landes und stelle, wenn alle Bürger in ein Geflecht wirtschaftlicher Beziehungen hineingezogen sind, eine Gefahr dar, die für alle 18  Vgl.

auch M. Senn, Geld – ein bündiger Ausdruck für alle Dinge. Gedanken zu einem profanen Thema der Rechts- und Gesellschaftsphilosophie von Baruch de Spinoza, in: Walder/Jaag/Zobl (Hg.), Aspekte des Wirtschaftsrechts, Zürich 1994, 545–558. Ökonomie und Recht  |  285

gleich groß ist. Insofern werde es in der Ratsversammlung, die sich in der Monarchie aus Repräsentanten aller Bevölkerungskreise zusammensetzt, in den wesentlichen Fragen des Staates einheitliche Entscheidungen geben. Spinoza deutet an (alles, was er zur Ökonomie sagt, sind Andeutungen und nicht Ausführungen), daß, damit das Betreiben von Handelsgeschäften zu einer politischen Stabilität des Landes führe, es einer gesetzlichen Regelung bedürfe, die festlegt, daß Kredite nur Einheimischen (incoli) zu geben sind (ebd.). Denn förderten auch Ausländer als Schuldner das wirtschaftliche Geschäft, dann brächte dies die Geber nicht in die erwartete Abhängigkeit von denen, mit denen allein gemeinsame politische Entscheidungen im Interesse des eigenen Landes zu treffen sind. Daß der Boden in der Monarchie öffentliches Eigentum zu sein habe und an die Bürger nur zu verpachten sei (TP VI, § 12), steht, so Spinozas ausdrückliche Begründung (TP VII, § 8), im Dienst der Erhaltung von Frieden und Eintracht des monarchischen Staates. Politisch gesehen, steht der den privaten Grundbesitz negierende Handelswettbewerb im Dienst einer Vereinigung der Untertanen gegen einen möglichen Herrschaftsanspruch des Monarchen. Ihn könne die Menge nur zurückweisen, wenn sie nicht in sich zersplittert, sondern einheitlich verbunden ist, weil sie sich nur dann im Gremium der den Monarchen beratenden Ratsversammlung als stark und, weil weitgehend eines Sinnes, auch als entscheidungs­ fähig erweise. Der freie Handel aller Bürger untereinander ist also dann zu favorisieren, wenn es darum geht, eine Einheitlichkeit in den politischen Absichten der Bürger zustandezubringen. Es finden sich bei Spinoza keine Hinweise darauf, ob und in welcher Weise der auf Wettbewerb basierende Handel durch staatliche Gesetze gesteuert werden müßte. Der Monarch wird solche Gesetze nicht erlassen können, weil er nicht etwas gegen sich selbst beschließen kann. Von Gesetzen gegen exzessiven privaten Konsum hat Spinoza gesagt, daß sie vergebens seien, weil sich menschliches Begehren nicht zügeln lasse, allemal nicht durch Gesetze, die etwas zu verbieten suchen, in deren Verfolg andere nicht unmittelbar geschädigt werden (TP X, § 5). Aber nicht nur der Konsum, auch der Handel wird im Aussein auf privaten Profit von subjektiven Akten des Eigennutzes geleitet, die durch Gesetze, die ihn einzuschränken suchen, sich nur schwer werden beschränken 286  |  II.  Ethik und Politik 

lassen, die sich jedoch, so meint Spinoza offenbar, durch ein intersubjektives Messen der Kräfte zu einem Nutzen für alle ausgleichen würden. Gelingt dies nicht, was ja nicht auszuschließen ist, dann bleibt noch, stützen wir uns nur auf das, was Spinoza ausdrücklich sagt, eine Regulierung des subjektiven Affekthaushaltes und damit letztlich doch der Blick auf eine individuelle Haltung, über die sich das allgemeine Wohl erreichen läßt: Die Vergrößerung des Reichtums habe auf ehrbare Weise (»sine ignominia«; TP X, § 6) zu geschehen. Dazu könne allerdings durch ein Gesetz angestachelt werden, das festlegt, daß politische Stellen als Ehrenstellen anzusehen sind und daß sie offen sind für jedermann. Das enthielte einen hinreichenden Anreiz, ehrenhaft reich zu werden, Geschäfte also in einer Weise zu tun, die den anderen respektiert. Das Offenhalten von Positionen ist allerdings auch Merkmal der Aristokratie. Hinsichtlich des privaten Bodeneigentums müsse das Gesetz hier jedoch ganz anders sein als in der Monarchie, weil hier der Kreis derer, die politische Verantwortung haben, durch eine bestimmte Bevölkerungsschicht, die Patrizier, festgelegt ist, denen die Menschenmenge der politisch Unterprivilegierten gegen­übersteht. Deshalb müsse, so meint Spinoza, die Menge über unbewegliches Privateigentum an den Staat eigens gebunden werden. Leute des einfachen Volkes seien wegen der fehlenden politischen Beteiligung, Spinoza sagt es ausdrücklich (TP VIII, § 10), im Grunde »Fremde« (perigrini), die sich von den politisch rechtlosen Immigranten gar nicht unterscheiden. Sie würden deshalb in Zeiten der Not das Land verlassen, was natürlich eine Schwächung des Staates bedeutete, da sie ihre bewegliche Habe, also vor allem ihr Geld, mitnähmen. »Untertanen, die nicht an der Regierungsgewalt teilhaben, würden in Zeiten der Not schnell zuhauf die Städte verlassen, wenn sie ihre Besitztümer mitnehmen könnten, wohin sie wollten« (ebd.). So ist es erst der Besitz von Gütern, die sich nicht mitnehmen lassen, der die Untertanen an den Staat bindet. Andererseits schließt der Immobilien-Besitz nicht aus, daß diejenigen, die ihn genießen, auch Handel treiben, was die Immobilien besitzenden Patrizier ja auch tun. Ebendeshalb ist der Kreis der Patrizier, wie abgehoben er von dem übrigen Volk auch sein mag, nicht scharf umgrenzt, sondern durchlässig, wenn auch nur für wirtschaftlich Aktive. Sie können in diesen Kreis gelangen, Ökonomie und Recht  |  287

vorausgesetzt, daß sie reich sind (TP X, § 7), was wiederum voraussetzt, daß ihnen die Chance, reich zu werden, uneingeschränkt zugestanden wird. In dieser Perspektive muß das Eigentum an Grund und Boden als eine Fessel angesehen werden, durch die Individuen in ihrem Sichbetätigen an etwas Äußeres gebunden werden. Eine solche Bindung ist dort nicht erforderlich, wo die Bewohner eines Landes hinreichend an der Macht des Staates beteiligt sind oder wenigstens die faire Chance haben, eine solche Beteiligung zu erreichen. Denn dann können sie den Staat als ihren Staat ansehen. Ein Staat, der kontrolliert, ist in der Tat erfolgreicher, wenn seine Bewohner Immobilien besitzen, die sich ja besser kontrollieren lassen als Mobilien. In Spinozas Augen muß er deshalb auf das Privateigentum an Grund und Boden um so weniger setzen, je weniger er seine Bürger kontrollieren muß. Wenn diese Beschränkung der staatlichen Kontrolle schon in der Monarchie spinozanischen Zuschnitts gilt, in der der eine Herrscher einer aus vielen Bürgern sich zusammensetzenden beratenden Versammlung bedarf, dann müßte sie erst recht für die Demokratie gelten. Doch dazu hat Spinoza nichts mehr sagen können, weil ihn der Tod an der Ausarbeitung der diesbezüglichen Partie des »Politischen Traktats« gehindert hat.

288  |  II.  Ethik und Politik 

Spinoza über Macht und Recht in der Politik Spinoza entwickelt in beiden politischen Traktaten, dem Tracta­ tus theologico-politicus und dem Tractatus politicus, eine brutale These: Recht ist gleich Macht (T TP XVI, 2; TP II, 3). Diese These enthält zwei Unterthesen, die sich zum einen auf das Feld des Äußeren, zum anderen auf das Feld des Inneren beziehen. Die erste Unterthese lautet: Das Recht des Einzelnen erstreckt sich so weit, wie sich dessen Macht erstreckt – es ist das Recht über etwas, ein Recht über dasjenige zu verfügen, was der Einzelnen sich kraft seiner Macht angeeignet hat. Die zweite Unterthese lautet: Was ein Einzelner tut, tut er auch zu Recht, weil es gerechtfertigt ist durch die Macht, aus der heraus er es tut – auch das Recht auf etwas ist relativ auf das, was der Mensch kraft seiner Macht tatsächlich kann. Das scheint eine rein naturalistische Theorie des Rechts zu sein. Denn sie bindet das Recht an die faktische Ausstattung eines Individuums, das gemäß dieser Ausstattung handelt und gar nicht anders handeln kann. Ein so verstandenes Recht unterliegt keiner Norm. Weder stellt sich die Frage, welchen Gebrauch der Mensch von seiner Macht machen darf oder gar machen soll, noch enthält das an die Macht gebundene Recht irgendein Verbot (TTP XVI, 4; TP II, 18). Wie kann unter dieser machttheoretischen Voraussetzung dann überhaupt noch von einem Recht gesprochen werden? Ist das nicht ein leerer Begriff, der dem Begriff von Macht gar nichts hinzufügt? Um diese Frage zu beantworten, ist Spinozas Begriff der Macht näher zu bestimmen. Macht ist ein ontologischer Begriff, der als dieser keinen Bezug zum Begriff des Rechts hat. Er ist rechtstheoretisch neutral, und deshalb ist dort, wo die Ontologie der Macht entwickelt wird, in der Ethica, vom Recht auch nicht die Rede. Werfen wir also zunächst einen kurzen Blick auf Spinozas Ontologie. Macht ist der Zentralbegriff von Spinozas Ontologie. Macht cha­ rakterisiert den Begriff Gottes, also das grundlegende ontologische Prinzip, aber nicht unter anderem, sondern fundamental: Gottes Macht ist mit seiner Essenz identisch (E I, prop. 34). Diese Form von   |  289

Macht versteht Spinoza als Kausalität, als eine hervorbringende Tätigkeit und zwar in der Weise, daß sich Gottes Produktivität in dem Hervorgebrachten erfüllt und Gott gegenüber den Produkten, die Spinoza Modi nennt, keinen Rest für sich zurückbehält. Gottes Macht ist folglich keine Potentialität; sie ist kein Vermögen, das Alternativen vor Augen hätte, zwischen denen Gott wählen könnte. Gott ist kraft seiner Macht in der Welt ganz präsent; seine Kausalität ist eine immanente Kausalität. Darin ist gelegen: Nicht nur sind alle Dinge in Gott, weil es kein Außerhalb von ihm gibt, im Hinblick worauf er handelt, sondern auch Gott ist in allen Dingen, weil seine Macht sich in ihnen erfüllt1. Zugleich gilt, daß Gott nicht nur in allen Dingen insgesamt ist, sondern auch in jedem einzelnen Ding, dessen Singularität Spinoza annimmt, gleichsam als ein Axiom, das nicht weiter begründet werden kann. Daraus ergibt sich eine weitreichende Folgerung: Weil die essentielle Bestimmung Gottes in jedes besondere Ding eingeht, ist jedes Ding selbst essentiell Macht und damit Ursache von Wirkungen. Der letzte Lehrsatz des ersten Teils der Ethica formuliert es: »Nichts existiert, aus dessen Natur nicht irgendeine Wirkung erfolgt« (E I, prop. 36). Aus der Natur jedes Einzelnen folgt etwas als Wirkung dieser Natur und nicht etwa als Wirkung irgendeines Vermögens, weil jedes Ding seiner Natur nach Macht und damit Kausalität ist. Was folgt, ist freilich nur irgendeine Wirkung (aliquis effectus), die zudem begrenzt ist, weil sie nicht aus der Natur dieses Dinges allein folgt, sondern aus dessen Zusammenwirken mit äuße­ren Dingen, die von Einfluß auf es sind und darin dessen Kausalität beschränken. Diese Relationalität, die ein Merkmal der endlichen Dinge, nicht aber Gottes ist, führt zu einer Modifikation des Begriffs der Macht, nicht nur dem Umfang nach, sondern auch der Modalität nach. Die Kausalität eines endlichen Dinges ist, weil sie keine unbeschränkte Macht ist, zwangsläufig eine Macht, die gegen etwas angeht, gegen das dieses Ding sich durchzusetzen sucht. Seine Macht ist insofern ein Streben (conatus), das Spinoza als die Essenz jedes einzelnen Dinges faßt (E III, prop. 7). In ihm ist das Individuum in seinem 1 

Ausführlich dazu W. Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, Hamburg 1992 (Kap. 2). 290  |  II.  Ethik und Politik 

Bezug auf äußere Dinge prinzipiell auf sich selbst gerichtet: es ist darauf aus, das eigene Sein gegen eine Gefährdung durch andere Dinge zu erhalten (in suo esse perseverare conatur; E III, prop. 6). Dieser grundlegende Bezug auf äußere Dinge enthält, daß die ontologische Bestimmung des einzelnen Dinges, als conatus auf die Erhaltung des eigenen Seins gerichtet zu sein, noch nichts darüber sagt, in welchem Maße und mit welchen Mitteln der Einzelne die erstrebte Selbsterhaltung auch zu realisieren vermag. Es ist zu vermuten, daß in dieser Relationalität der Individuen das Recht eine Rolle spielt, die der bloßen Ontologie etwas hinzufügt, ohne daß es deshalb gegen die Ontologie entwickelt werden könnte, insbesondere nicht gegen zwei wesentliche Bestimmungen dieser Ontolo­gie: 1. Jedes Ding ist essentiell Tätigkeit, gewiß von je unterschiedlichem Umfang hinsichtlich der Reichweite, aber immer noch Tätigkeit und nicht nur leidendes Glied in einer Kette übergreifender Kausalzusammenhänge. 2. Diese Tätigkeit ist kein Vermögen, sondern die Natur des Dinges selbst, und kein Ding kann etwas gegen die eigene Natur, sondern jedes handelt ihr gemäß. Mit dem zweiten Gesichtspunkt beginnt Spinoza im Tractatus politicus die Erörterung der Struktur des Staates. Der Mensch ist als ein Teil der Natur, wie jedes andere Ding auch, ein natürliches Ding (TP II, 2) und seine Macht eine natürliche Macht (potentia naturalis, TP II, 5). Diese These enthält eine Kritik an Positionen, die den Staat als ein künstliches Gebilde, das es eigens einzurichten gilt, verstehen und nicht als das Ergebnis natürlicher Antriebe der Menschen, und zugleich eine Kritik an Positionen, die die Natur des Menschen primär durch die Vernunft bestimmen. Die erste Position setzt voraus, daß der Mensch gegen die eigene Natur handeln könnte, die zweite, daß er nicht gegen die Vernunft handeln kann. Weil beide Positionen unhaltbar sind, faßt Spinoza die Macht, die einen Menschen zum Handeln bestimmt, als Trieb (appetitus, TP II, 5), um so der Natürlichkeit der Macht ausdrücklich Rechnung zu tragen. Es sieht so aus, als ob Spinoza den Begriff des Rechts ganz von dieser natürlichen Macht her bestimmt. Im TP verknüpft er die natürliche Macht umstandslos mit dem Recht: hominum naturalis potentia sive jus, heißt es in II, 5. Zweifellos will Spinoza damit eine Erklärung des traditionellen Begriffs des Naturrechts geben. Im Spinoza über Macht und Recht in der Politik  |  291

TTP hatte Spinoza direkt mit dem Naturrecht begonnen und mit ihm die Ontologie ungetrennt verknüpft (XVI, 2); im TP entwickelt

er das Naturrecht hingegen aus dieser Ontologie, mit der er deshalb seine Erörterung beginnt. Er gibt in TP II, 2 eine gedrängte Beschreibung des Status eines singulären Dinges als eines Modus der göttlichen Substanz. Die Existenz eines solchen Dinges folgt nicht aus dessen Essenz, sondern müsse als eine Folge der ewigen Macht Gottes verstanden werden. Gemäß dem Theorem der immanenten Kausalität Gottes, das Spinoza hier voraussetzt, ohne es eigens zu erwähnen, bedeutet dies, daß natürliche Dinge kraft einer modifizierten Macht Gottes existieren und folglich auch handeln. Damit will Spinoza zeigen, daß endliche Dinge, die nicht durch sich selbst existieren, nicht durch andere Dinge existieren, von denen sie verursacht werden, sondern durch Gott, wenn auch vermittelt über andere Dinge, womit er hervorhebt, daß jedem Ding etwas zukommt, was es nicht erst von anderen Dingen und durch andere Dinge hat, nämlich Macht zu sein. Aus diesen ontologischen Überlegungen sei, so behauptet Spinoza (TP II, 3), leicht ersichtlich (facile intelligimus), was das Naturrecht ist. Auf den ersten Blick ist das aber alles andere als leicht ersichtlich 2 , vielmehr eher erstaunlich, weil er Gott, dem Prinzip individueller Macht, selbst ein Recht zuspricht. Er wiederholt, was er schon im TTP behauptet hat (XVI, 2), daß Gott ein Recht auf alles habe (Deus jus ad omnia habet) und daß dieses Recht nichts anderes als genau seine Macht sei (nihil aliud est quam ipsa Dei potentia). Daraus folgert Spinoza die Gleichsetzung von Recht und Macht, bei Gott in uneingeschränkter Form (potentia absolute li­ bera, TP II, 3), bei besonderen Dingen gemäß ihrer Besonderheit eingeschränkt auf den Umfang ihrer Macht (potentia eo usque se extendit, TP II, 4). Die Gleichsetzung von Macht und Recht in den besonderen Dingen aus dem Begriff Gottes als dem Prinzip dieser Dinge herzuleiten, scheint auf den ersten Blick nicht haltbar zu sein. Zwar läßt sich sagen: wenn Gott ein Recht zukommt, kann es nicht verschieden sein von seiner Macht, denn Gottes Essenz 2 

Vgl. dazu unter einem anderen Aspekt R. Schnepf, Hinc facile intelligimus, quid jus naturae sit. Zur Argumentationsweise Spinozas in TP 2/3, in: Studia Spinozana 9 (1993), 107–130. 292  |  II.  Ethik und Politik 

ist seine Macht und damit ist alles, was ihm zugesprochen werden kann, Ausdruck dieser Macht. Aber warum sollte Gott ein Recht zukommen? In der ganzen Ethica ist davon nicht die Rede, nirgends steht dort, daß Gott ein Recht habe. Gott hat überhaupt nichts, weder einen Verstand noch einen Willen, nicht einmal hat er Macht, sondern er ist Macht. Im Gegenteil, ein Recht Gott zuzusprechen, ist ein Anthropomorphismus (E II, prop. 3, schol.). Das gewöhnliche Volk (vulgus) ist es, sagt Spinoza, das Gott dieses Prädikat zuspricht. Es vergleicht Gottes Macht mit der Macht von Königen und versteht unter Gottes Macht (potentia) die Gewalt (potestas), alle Dinge zu zerstören und auf nichts herunterzubringen. Versteht man unter Recht auf etwas ein Recht über etwas, darauf, über Dinge verfügen zu können, dann ist diese Figur auf Gott nicht applizierbar, der nicht in einem Verhältnis der Distanz zu den Dingen steht und mit ihnen machen könnte, was er wollte. Deshalb ergeht Spinozas Mahnung, man müsse sich sehr davor hüten (magnopere cavere), Gottes Macht und die menschliche Macht von Königen, die ein Recht ist, durcheinander zu bringen (ne Dei potentiam cum humana regum potentia vel jure confundat). So hat es gute Gründe, daß in der Ethica der Rechtsbegriff im Kontext der Macht Gottes nicht auftritt. Daß Spinoza in den politischen Traktaten gleichwohl im Begriff Gottes dessen Macht mit einem Recht verknüpft, hat aber unter dem Aspekt seine Bedeutung, daß es in ihnen um eine Theorie der Politik geht, die einem empirischen Faktum ausgesetzt ist, daß nämlich der Staat mit einem Begriff von Recht operiert, den es kritisch zu beleuchten gilt. Menschen haben sich unter historischkontingenten Bedingungen zu einem Staat zusammengeschlossen, um friedlich miteinander zu leben und ihr Leben frei von äußerer Gewalt zu genießen. Die staatliche Gemeinschaft, zu der sich die Menschen finden, dient der eigenen Lebenssicherung. Auch wenn die Menschen auf eine solche Sicherung natürlicherweise aus sind, bedarf sie über den bloßen Antrieb zur Vereinigung hinaus, um erfolgreich zu sein, bestimmter Regelungen, auf die sich die Menschen ausdrücklich verständigen. Ein wesentliches Element solcher Regulierung ist das Recht und zwar in Form von Rechtsgesetzen, die eigens erlassen und verkündet werden. Für Spinoza sind sie sogar das Herzstück des Staates: »anima imperii jura sunt« (TP X, 9). Spinoza über Macht und Recht in der Politik  |  293

Dieses Recht, das man positives Recht nennt, weil es von Menschen gemacht ist, kann gut oder schlecht sein. Um es hinsichtlich von gut und schlecht beurteilen zu können, bedarf es eines Kriteriums, das nicht das positive Recht selbst sein kann, sondern etwas sein muß, das von ihm verschieden ist. Die Macht, die, anders als das positive Recht, nicht vom Menschen gemacht wird, sondern all seinem Tun voraus liegt, identifiziert Spinoza mit dem Recht unter dem Gesichtspunkt eines Kriteriums, das das positive Recht daraufhin beurteilt, inwieweit es Ansprüche gegenüber denen, die ihm unterworfen werden, zu Recht erhebt. Für sich allein betrachtet, ist die These, Gott habe ein Recht auf alles, weil seine Macht unbeschränkt ist, in der Tat sinnlos. Erst im Hinblick auf einen Staat, der in seinen Gesetzen mit dem Begriff von Recht operiert, ergibt die Verknüpfung von Macht und Recht einen guten Sinn, wenn auch nicht in Bezug auf Gott, so doch in Bezug auf den Menschen als Bürger des Staates. Indem Spinoza den Menschen von Gott her wesentlich als Macht bestimmt und diese Macht mit dem Recht identifiziert, hat er das Recht unter eine Bestimmung gebracht, die nicht nur unabhängig vom positiven Recht des Staates besteht, sondern auch in kritischer Absicht gegen es zur Geltung gebracht werden kann. Traditionell nennt man ein solches Recht ein Naturrecht, ein Recht, das in der Natur des Menschen gelegen ist und nicht erst durch eine politische Institution zustandegebracht wird. Hobbes hatte das Verlangen des Menschen nach Selbsterhaltung als natürlich bestimmt, weil es einer Notwendigkeit der Natur unterliegt, die nicht von der unterschieden ist, mit der ein Stein zu Boden fällt (De Cive I, 7). Doch wäre es irreführend, das Recht in dieser Analogie zu verorten. Denn der Stein hat nicht ein Recht, zur Erde zu fallen, sondern er fällt zur Erde aufgrund eines physikalischen Gesetzes – dies als ein Recht zu bezeichnen, ist Unsinn, es sei denn, jemand bestreitet ihm dies, und wer dies täte, wäre ein Dummkopf. Bei menschlicher Selbsterhaltung ist es jedoch anders. Auch der Mensch hat nicht ein Recht, etwas zu unternehmen, um sich selbst zu erhalten, sondern er wird es tun, wenn das ein Gesetz der Natur ist – dies als ein Recht zu bezeichnen, wäre ebenfalls Unsinn, es sei denn jemand bestreitet ihm dies, und dies zu bestreiten ist, anders als im Hinblick auf den Stein, nicht Unsinn, sondern 294  |  II.  Ethik und Politik 

eine vertretbare These. Deshalb muß die These, daß die Macht das menschliche Handeln notwendigerweise bestimmt, eigens verteidigt werden, nämlich gegen Theoretiker, die diese These verwerfen. Wo es keinen Angriff gibt, gibt es keine Verteidigung. Macht wird von Spinoza deshalb als Recht bestimmt im Hinblick auf falsche Staatskonzeptionen, in die ein falsches Verständnis von Recht eingeht, weil ihre Vertreter nicht angemessen auf die Macht, die jedes Individuum auszeichnet, Bezug nehmen. Indem Spinoza die Natur des Menschen als Macht bestimmt und an diese das Naturrecht bindet, versteht er das Naturrecht als etwas, was Menschen gar nicht aufgeben können und gegen das deshalb der Staat mit seinen Rechtsgesetzen keinen Bestand wird haben können. Gegen Hobbes formuliert Spinoza diese These in der vielzitierten Stelle in Brief 50: Er, Spinoza, lasse im Unterschied zu Hobbes, das Naturrecht immer unangetastet – immer, d. h. auch im Staat, in dem es seine Geltung behält. Für Hobbes stellt der staatliche Zustand eine radikale Ablösung des Naturzustandes dar. Der Staat entsteht nicht aus den natürlichen Antrieben der Menschen im Naturzustand, sondern aus einem Verzicht auf sie, den die kalkulierende Vernunft ihnen auferlegt und den die Menschen in einem Vertrag besiegeln. In Spinozas Augen ist ein solcher Staat eine reine Abstraktion, die es nirgendwo gibt und nirgendwo geben kann. Es ist die Konstruktion eines Staates, der über die Menschen herrscht, und die etwas voraussetzt, was unmöglich ist: daß Menschen auf ihr Naturrecht verzichten und es in einem ausdrück­lichen Akt auf einen von ihnen abgehobenen Dritten übertragen, den sie begünstigen. Im Gegensatz zu dieser Konstruktion des Hobbes hält Spinoza daran fest, daß die Errichtung des Staates nicht gegen das, was dem Menschen von Natur aus zukommt, konstruiert werden kann. Gegen eine abstrakte Theorie der Entstehung des Staates muß zudem festgehalten werden, daß die Natur des Menschen sich in einem Selbsterhaltungsstreben artikuliert, das faktisch unter kontingenten Bedingungen historischer und kultureller Art steht, aber auch unter unterschiedlichen Erwartungen dessen, was sich die Individuen vom Staat versprechen, je nachdem was sie fürchten oder erhoffen. Das heißt: aus menschlichem Streben entsteht nur irgendein Staat, nicht der, den Hobbes gerne hätte, aber auch nicht der, den Spinoza mit seiner Interpretation des Naturrechts im Blick Spinoza über Macht und Recht in der Politik  |  295

hat, weil unter diesen Bedingungen nicht ein Staat entsteht, der das Natur­recht der Individuen tatsächlich unangetastet läßt. Der Vorgang des Zusammenschließens der Menschen im Hinblick auf einen Staat steht unter zwei Aspekten, die zusammengehören und die Spinoza im TP nacheinander anführt (TP II, 13 und 14): Streben nach Vereinigung mit dem Ziel gelingender Selbst­ erhaltung und fehlende Einheit in diesem Streben. II, 13 formuliert: Einer für sich vermag weniger als zwei zusammen. Die Chance der Selbsterhaltung ist für den Einzelnen in der Verbindung mit anderen größer, als wenn er auf sich allein gestellt wäre. Das sieht wie eine Addition aus, aus der ein rein quantitatives Mehr3 entsteht als Resultat einer natürlichen Tendenz sich zusammenzuschließen (convenire, jungere sind die Termini, die Spinoza hier gebraucht). Eine solche Addition ist aber noch nicht eine Vereinigung, die die Macht der Individuen unangetastet läßt; und Spinoza spricht auch nur von einer Vereinigung ihrer Kräfte (vires jungant). II, 14 formuliert, diesen Gesichtspunkt hervorhebend, daß die Individuen in diesem Zusammenschluß divergieren und einander unterdrücken, weil sie, und zwar von Natur aus, Affekten unterworfen sind, mit der Folge, daß sie im Verfolg ihres conatus zerstritten sind (diverse trahuntur) und untereinander Gegner (invicem contrarii). Spinoza nimmt hier nur auf, was er in der Ethica ausdrücklich formuliert hat: die Affekte, Ausdruck der Macht der Individuen, verbinden nicht, sondern trennen, sofern die Menschen durch sie von außen bestimmt sind, etwas fürchtend oder erhoffend, was sie nur undeutlich vorstellen. Die Verbindung, welche die Individuen im Zusammenschluß ihrer Kräfte eingehen, vereinigt sie nicht tatsächlich, solange sie dabei von Passionen bestimmt sind, die die Macht, die Aktivität ist, zur Passivität eines Mitgenommenseins deformieren (E IV, prop. 32–34). Nur die Vernunft ist es, die wahre Gemeinsamkeit stiftet, auch dies sagt Spinoza in der Ethica in aller Deutlichkeit (E IV, prop. 35). Und so ist es naheliegend, den Staat als die Instanz, die das Gegeneinander der Menschen beseitigt, in einem Akt der Vernunft gegründet sein zu lassen, wie in der F ­ igur des Vertrages unterstellt wird. Doch ist die Vernunft ein a­ llen Men3  Zur

Verteidigung der Quantität vgl. C. Ramond, Introduction in: Spinoza, Oeuvres V (Traité Politique), Paris 2005. 296  |  II.  Ethik und Politik 

schen Gemeinsames nur dann, wenn die Menschen sich von ihr auch leiten lassen, was aber keineswegs der Fall ist. Soll der Staat nicht ein Staat der Weisen sein, sondern alle Menschen eines Territoriums umfassen, darf er nicht als etwas angesehen werden, was der Vernunft der Menschen entspringt. Sind es die natürlichen Antriebe, die einen Staat entstehen lassen, dann heißt das, daß eine Theorie der Entstehung des Staates nicht die Ursache eines optimalen Staates beschreiben kann. Wenn Spinoza sagt, er lasse in der Staatstheorie das Naturrecht immer unangetastet, dann sagt er es als Theoretiker des optimalen Staates. Diejenigen, die den Staat dirigieren und verwalten, die Politiker also, lassen das Naturrecht jedoch keineswegs immer unangetastet. Sie sind nur allzu häufig von Erwägungen geleitet, die sich allein an der Macht der Herrschenden orientieren, mit der Tendenz, die Untertanen zu unterdrücken und in den Dienst der eigenen Macht zu nehmen. Das ist unvermeidlich, solange Staaten nicht aus einem Zusammenschluß der Menschen resultieren, in dem sich deren gemeinsame Macht artikuliert. Affektgeleitetes menschliches Streben läßt Staaten entstehen, in denen eine Partei über die andere herrschen will und in denen auch die Zusammenfügung der Macht im Dienst der Herrschaft über andere steht. Die Individuen werden sich der größeren Macht notgedrungen fügen, weil sie selbst, auf sich allein gestellt, zu wenig Macht haben, sich ihr zu widersetzen, die klügeren unter ihnen aber auch, weil sie in staatlicher Macht, wie defizient sie auch sein mag, einen Vorteil für sich sehen. Es ist ein Vorteil, der auch den faktisch entstandenen, d. h. empirischen Staatsgebilden, innewohnt, weil sie sich auf ein vom Staat erlassenes Recht stützen, dessen Bedeutsamkeit Spinoza zweifellos anerkennt, aber mit dem Vorbehalt, es vom Begriff der individuellen Macht her kritisch zu beleuchten. Merkmal des Staates ist es, Anordnungen zu erlassen, die eine rechtsförmige Gestalt haben. Insofern sich seine Herrschaft als eine rechtliche Organisation artikuliert, ist in ihm nicht nur die natürliche Macht des Einzelnen in ihrem Umfang beschränkt, was sie ja immer schon, auch im sogenannten Naturzustand, ist, sondern auch das natürliche Recht des Einzelnen wird ausdrücklich, d. h. kraft der gesetzlichen Anordnungen, beschränkt, das natürliche Recht, nach eigener Sinnesart zu leben, insofern die erlassenen Spinoza über Macht und Recht in der Politik  |  297

Gesetze dem Individuum etwas zugestehen (concedere), aber auch befehlen (imperare), zu dessen Ausführung die Rechtsgesetze ihn zwingen (cogere). Daß der Zwang durch Rechtsgesetze geschieht und nicht durch die Gewalt bloßer Stärke – das ist ein großer Vorteil, der Vorteil des Öffentlichen gegenüber dem bloß Privaten, generell formuliert, des Staates gegenüber dem Naturzustand. Darin ist der Staat auch in unzureichender Form ein Gewinn. Er überwindet den Naturzustand, weil er Gesetze hat, die verbindlich sind für alle und sich der Privateinschätzung entziehen. Sie erlauben nicht, daß ein Individuum gegen sie aufbegehrt, weil es sie der eigenen Einschätzung nach als schlecht für sich selbst beurteilt. Würde der Staat dem Einzelnen dies zugestehen, zerstörte er sich selbst und hörte auf, ein Staat zu sein: alles kehrt dann, sagt Spinoza, in den Naturzustand zurück (»redeunt ad statum naturalem«, TP III, 3). Mit der Wendung des Zurückkehrens signalisiert Spinoza, daß im Staat der Naturzustand verlassen worden ist. Exeundum e statu naturali ist ein Topos der neuzeitlichen Politik-Theorie, der offenbar auch für Spinoza gilt, wenn auch nicht mit der moralischen Implikation eines Sollens (wie später bei Kant), aber doch im Sinne einer Ablösung. Der Staat ist nicht eine einfache Verlängerung des Naturzustandes aufgrund eines faktischen Zusammenschlusses der dort agierenden Individuen mit dem Ziel einer Vergrößerung der Macht. Er ist etwas Neues und Anderes gegenüber dem Naturzustand, ausgezeichnet durch das Faktum der Gesetzgebung, die die Privatheit, Merkmal des Naturzustandes, überwindet. Wer das Subjekt der Gesetzgebung ist, ist aber zufällig; faktisch sind es irgendwelche Individuen, auch sie beherrscht von Affekten, die alle natürlichen Individuen charakterisieren. Und nur natürliche Individuen errichten einen Staat, nicht ideale, die es nirgendwo gibt. Eine genetische Theorie des Staates könnte deshalb nur empirisch bestehende Staaten in den Blick bringen, und eine solche Theorie zu entwickeln ist philosophisch uninteressant. Interessant ist hingegen anzugeben, unter welchen Bedingungen die Gesetzgebung des Staates als ein Recht angesehen werden kann, zu dessen Befolgung die Gesetzgeber die Untertanen zu Recht zwingen können. Und hier ist die Antwort Spinozas klar; sie sieht von aller Genese des Staates ab und stützt sich auf einen Begriff der individuellen Macht, die nicht die ratio fiendi des Staates ist, die aber, so interpre298  |  II.  Ethik und Politik 

tiere ich, als ratio cognoscendi des Staates angesehen werden darf, als Instanz der Beurteilung eines empirischen Staates hinsichtlich des Rechtsanspruchs seiner Gesetze. Die Figur, auf die sich Spinoza hierfür stützt, markiert im TP den Übergang von § 15 zu § 16 des 2. Kapitels, der in Wahrheit gar kein Übergang ist, sondern ein Neueinsatz. Von dem Naturrecht, so formuliert § 15, d. h. von dem Recht, die eigene Macht zu entfalten, haben die Menschen im Naturzustand so gut wie nichts, sondern nur im Staat, in dem sie gemeinsame Rechtsgesetze haben. Gemeinsame Rechtsgesetze können aber nicht einer Macht entspringen, die sich unter Affekten entfaltet (TP II, 14), weil unter ihnen Menschen Unterschiedliches begehren, je nachdem, was sie als für sich wichtig einschätzen. Ist man mit Spinoza skeptisch hinsichtlich einer Formung der individuellen Macht durch die Kraft der Vernunft, dann kann die Möglichkeit gemeinsamer Rechts­ gesetze auch nicht aus der Macht vereinzelt agierender Individuen erklärt werden. Also bleibt nur, vorauszusetzen, daß es gemeinsame Rechtsgesetze gibt, und zu zeigen, was sie, wenn es sie gibt, implizieren. Genau diese Strategie verfolgt Spinoza in § 16. Dort, wo Menschen gemeinsame Rechtsgesetze (jura communia) haben, gilt, was Spinoza entwickeln möchte, daß der Einzelne kein anderes Recht hat, als das gemeinsame Recht ihm zugesteht. Und unvermittelt tritt dann im nächsten Paragraphen (§ 17) das Subjekt auf, über dessen Macht dieses gemeinsame Recht zu definieren sei – die Menge (multitudo), von der Spinoza weder an dieser Stelle noch sonst irgendwo sagt, wie sie aus den vielen vereinzelten Individuen entstehen könnte. Die Menge ist eine reine Fiktion, kein wirkliches Subjekt4 , von Spinoza ausdrücklich gemacht mit der Formel, daß in ihr alle »wie von einem Geist geleitet sind« (una veluti mente ducuntur), also nicht tatsächlich, denn das ist unmöglich, sondern nur gleichsam. Dort, wo es eine einheitliche Menge gibt und die Menschen ihr entsprechend gemeinsame Rechtsgesetze haben, dort hat der 4 

Realistisch, aber m. E. nicht richtig, deuten hingegen A. Negri, L’anomalia selvaggia. Saggio su potere e potenza in Baruch Spinoza, Milano 1981, und F. Del Lucchese, Conflict, Power and Multitude in Machiavelli and Spinoza: Tumult and Indignation, London/New York 2009. Spinoza über Macht und Recht in der Politik  |  299

Einzelne kein anderes Recht auf Dinge als dasjenige, welches das gemeinsame Recht ihm zugesteht – aber dieses Dort ist kein Ort, den es tatsächlich gibt. Es ist ein ou topos, eine Utopie, und Utopien hat Spinoza eingangs seines Traktats (TP I, 1) scharf attackiert als eine Träumerei, als die Chimäre eines goldenen Zeitalters, in dem Menschen keiner Politik bedürfen. In der Tat, existierte eine Menge, wie sie Spinoza beschreibt, dann bedürfte es keiner Politik, zumindest nicht einer solchen, die sich auf Rechtsgesetze stützt. Denn was konstitutiv für das Recht ist, der mit ihm verbundene Zwang gegenüber denen, die dem Recht unterworfen sind, wäre getilgt. Das gesetzte Recht des Staates, das enthält, welches Recht der Bürger in Anspruch nehmen darf, müßte in der Menge als Gesetzgeber seinen Ursprung haben und könnte deshalb kein Recht über die Menge sein. Es wäre dann nicht mehr ein Recht, sondern nur noch ungeteilte Macht, ganz so wie bei Gott, dessen Macht ein Recht zu nennen, wie ich habe zeigen wollen, sinnlos ist. Gleichwohl, Spinozas Theorie des Rechts ist nicht utopisch. Denn sein Begriff der individuellen Macht, an die er das Recht bindet, mit der Folge, daß der Staat so viel Recht hat, wie er Macht hat, ist, was die Macht des Staates angeht, lediglich ein kritisches Prinzip der Beurteilung empirischer Staaten, deren Macht nicht schon die gemeinsame Macht der Individuen ist. In ihnen gibt es Befehlende und Gehorchende, und viele, die gehorchen müssen, werden sich der staatlichen Gewalt fügen, weil die Alternative der Naturzustand ist, der nur das Gesetz der Stärke kennt, nicht aber ein juridisches Gesetz, welches das Tun und Lassen der Menschen regelt. Irgendein Staat ist immer noch besser als gar keiner, auch derjenige, der an einem Gefälle zwischen Regierenden und Regierten festhält und darin ein latentes Gegeneinander in sich trägt. Die Übertragung der Gewalt auf die Untertanen bedeutete das Ende des Staates; es ist ein interner Widerspruch im Begriff des Staates, wenn er dies ausdrücklich zugestände. Eine solche nicht zuzugestehende Übertragung liegt aber, ohne daß sie zugestanden werden müßte, der Sache nach dann vor, wenn die Untertanen die Gesetze faktisch nicht befolgen. Wenn sie es nicht tun, liegt dies nicht an der Schlechtigkeit der Menschen, sondern an der Schlechtigkeit der Gesetze. Sind sie schlecht, dann hat der Staat nicht genügend Macht über die Untertanen, mit der er sie zwingen könnte. Genau 300  |  II.  Ethik und Politik 

hier setzt Spinozas kritische Überlegung an. Sie ist eine Kritik, die sich nicht in Illusionen oder utopischen Entwürfen verliert, weil sie sich auf etwas stützt, was im höchsten Maße wirklich ist, auf die als Macht bestimmt Natur des Menschen. Indem Spinoza in einer der Politik vorangehenden Ontologie zeigt, was Macht ist und nicht wie die Menschen Macht verstehen, hat er ein Kriterium an der Hand, an dem jede Politik gemessen werden muß. Setzt der Staat sich über es hinweg, wird er zwangsläufig scheitern. Ein Staat, der die Individuen unterdrückt, hat weniger Recht über sie, weil er weniger Macht hat, fehlt ihm doch die Macht derer, gegen die er sich wendet. Er wird sich faktisch auflösen, weil er eine Rebellion der Individuen gegen ihn provozieren würde. Er kann Individuen durch Gewalt unterdrücken, aber, so meint Spinoza mit Seneca, den er lapidar im TTP zitiert, nicht auf Dauer: «Eine Gewaltherrschaft hat noch niemand lange behauptet« (TTP XVI, 9). Denn Gewalt bedeutet Einflußnahme von außen, Fremdbestimmung würde man heute sagen; individuelle Macht ist aber essen­ tiell Aktivität, die sich zwar einschränken läßt und faktisch vielfach eingeschränkt ist, aber nie so, daß der Mensch sie von sich aus aufgeben könnte; denn sie ist seine Natur, und gegen seine Natur kann der Mensch nichts. Gegen Versuche, mit dem Kriterium der individuellen Macht als dem Garanten der Stabilität des Staates ein Sollen zu verbinden, hält Spinoza, auch wenn er beschreibt, wie ein Staat zu sein hat, damit er stabil ist, daran fest, daß alle Normativität gegenüber der Faktizität wirkungsschwach ist. So hat er versucht, die Berücksichtigung der Individuen in einem Selbstinteresse der Politiker zu verankern, die, wenn nicht weise, doch schlau genug sind zu wissen, daß sie ihre Macht nicht gegen die Individuen, sondern nur mit ihnen erhalten können. Aber warum sollten Politiker etwas tun, was Individuen im Naturzustand nicht tun? Manche Interpreten5 neigen sogar dazu, dem Staat selbst einen conatus zuzusprechen und damit ein internes Prinzip, das, wie jeder conatus, nur von außen gefährdet ist (durch andere Staaten oder durch Naturkatastrophen), nicht aber intern. Doch muß eine solche Interpretation die 5 

Insbesondere A. Matheron, zuletzt (2003), verteidigt in: Etudes sur Spinoza et les philosophies de l’âge classique, Paris 2011, 417–435. Spinoza über Macht und Recht in der Politik  |  301

Einheit der Menge schon voraussetzen, deren Möglichkeit gerade erst verständlich zu machen ist. Sie ist also eine petitio principii. Auf jeden Fall liegt hier ein schwieriges Problem vor: wie Staaten in ihrer Defizienz dazu gebracht werden können, eine Gestalt anzunehmen, die mit der Ontologie konform ist. Wie das auf individueller Ebene möglich ist, zeigt die Ethica. Der conatus des Menschen, der der Ursprung der Affekte ist, kann von der Vernunft des Menschen begriffen werden und die Vernunft selbst als conatus, d. h. als Macht des Menschen verstanden werden. Diese Lösung ist der Politik verwehrt; wäre sie eine Möglichkeit für sie, wäre Politik am Ende überflüssig. Es bleibt, und das ist Spinozas Lösung, den Staat mit seinen das Verhalten der Menschen regulierenden Gesetzen unter eine Organisationsform zu bringen, die vernünftig ist, ohne hierfür in der Vernunft der Individuen gründen zu müssen. Es ist die Vernünftigkeit einer Struktur, die dann vernünftig ist, wenn sie die Erhaltung des Staates garantiert, der sich selbst erhält, wenn alle, die unter seiner Macht stehen, ihrerseits diese Macht konstituieren6 . Diese Struktur kann aber nicht nach dem Modell eines Organismus gedacht werden, das gegen den einer vernünftigen Bündelung entbehrenden bloßen Mechanismus der Affekte zur Geltung zu bringen wäre: ein Teil, der nur durch das Ganze ist, und ein Ganzes, das nur durch seine Teile ist, nach der Definition Kants in der Kritik der Urteilskraft (§ 65). Spinoza greift nicht auf das Organismus-Modell zurück, weil für ihn der Einzelne die Priorität gegenüber der Gemeinsamkeit eines Ganzen behält. Leitend ist die Frage, wie der Einzelne kraft seiner individuellen Macht ein unaufhebbarer Teil der staatlichen Macht sein kann, an der er selbst beteiligt ist. Beteiligung, so ist Spinozas These, ist aber nur über Aktivität möglich, und Aktivität ist der formale Kern der individuellen Macht, verstanden als modifizierte potentia Dei. Worauf sich diese Aktivität richtet, ist, sofern sie nicht ein reines Erkennen ist, bei den Individuen verschieden; denn was die Individuen als nützlich für die Steigerung der eigenen Macht ansehen, ist bei ihnen unterschiedlich (für den einen ist es Geld, für den anderen Ruhm, für den dritten vielleicht Gesundheit, für den 6 

Dazu neuerdings die grundlegende Untersuchung von M. Saar, Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza, Frankfurt/Main 2012. 302  |  II.  Ethik und Politik 

vierten staatliche Fürsorge). Hier, in den Objekten des Begehrens, eine Gemeinsamkeit der Interessen erreichen zu wollen, ist weder möglich noch erstrebenswert. Der Staat wird auch diese Felder gesetzlich regeln müssen, damit die hier möglichen Konflikte nicht privat entschieden werden. Doch sagt Spinoza ausdrücklich, daß Gesetze dieser Art, um Gültigkeit zu haben, keineswegs von allen beschlossen werden müssen, daß sie vielmehr nur so anzusehen sind, als ob sie von jedem Einzelnen beschlossen wurden (TP III, 5). Das heißt: der Einzelne muß ihnen nicht tatsächlich zugestimmt haben, sondern nur zustimmen können. Und das kann er, welche inhaltliche Regelungen im einzelnen auch vorkommen mögen, dann, wenn sie nicht gegen seine Natur verstoßen, gegen die er nichts kann. Und seine Natur ist essentiell Macht und damit Aktivität, während Geld, Ruhm oder Wohlfahrt nur kontingenterweise mit ihr verbunden sind. Deshalb kann er diesbezüglichen Gesetzen zustimmen, wenn sie ihm die Freiheit des Selbstentfaltens belassen und nach Möglichkeit auch befördern. Im TTP hatte Spinoza dies unter eine allzu intellektualistische Perspektive gebracht. Freiheit sei das interne Ziel des Staates7, also das, worauf er aus sein muß, um sich selbst am Leben zu erhalten, und Spinoza hatte darunter im wesentlichen die Freiheit des Urteilens und der Meinungsäußerung verstanden (TTP XX, 4–6). Das ist ein Punkt, der auch im TP seine Wichtigkeit behält, der aber zu eng gefaßt ist, als daß er das Verständnis umfassen könnte, das die meisten von dem haben, worin ihre Aktivität besteht. In stärkerer Berücksichtigung der Affekte, welche die Menschen tatsächlich beherrschen, betont Spinoza jetzt eine Aktivität, die sich in der Befriedigung von Ehrgeiz, Ruhmsucht und Ansehen artiku­liert und deren Wirksamkeit er in den Feldern von Ökonomie, Verwaltung und Landesverteidigung zur Geltung bringt und dabei insbesondere zeigt, daß diese Aktivität in ein Geflecht rechtlich gestützter wechselseitiger Kontrolle zu bringen ist, damit sie nicht selbstsüchtig ist. Rechtsgesetze, die diesen Kreislauf regulieren, mobilisieren die Aktivität des Einzelnen und werden deshalb, so glaubte Spinoza, 7 

Vgl. W. Bartuschat, Freiheit als Ziel des Staates [in diesem Band, S. 246 – 269]. Spinoza über Macht und Recht in der Politik  |  303

von dem Einzelnen nicht nur akzeptiert, sondern auch am Leben gehalten. Daß das Recht des Einzelnen wie auch des Staates so weit reicht wie dessen Macht, ist dann keine brutale These, sondern eine höchst vernünftige. Denn sie bindet das Recht an Spontaneität und damit an die Freiheit der Individuen, worin sie allen Theorien, die das Recht an eine Autorität binden, sei sie göttlich, sei sie weltlich, eine Absage erteilt.

304  |  II.  Ethik und Politik 

III. BEZÜGE

Spinoza in der Philosophie von Leibniz I.

Betrachtet man die frühe Wirkung von Spinozas Ethik und meint mit »früh« die Zeit bis an die Schwelle des Deutschen Idealismus, ohne diesen einzuschließen, dann ist unter den Rezipienten und produktiven Kritikern Leibniz der einzige, der selber ein bedeutendes philosophisches System entworfen hat. So scheint es mir erforderlich, um die Wirkung Spinozas auf Leibniz angemessen zu untersuchen, sie in dessen System aufzuweisen und sich nicht auf eine Interpretation der Interpretation zu beschränken, die Leibniz von der Ethik gegeben hat, wofür der frühe Kommentar von 1678 die Basis zu sein hätte. Läßt dieser Kommentar sich noch relativ intensiv mit der Ethik ein, wenigstens mit dem 1. Teil, so sind die späteren Äußerungen von Leibniz, es sind insgesamt über 100, zu Spinoza knapp und schlagwortartig, ohne je auch nur den Ansatz einer Analyse des kritisierten Systems zu zeigen. Sie verraten eine Abwehr und verdunkeln eher die Wirkung Spinozas, als daß sie sie aufhellen. Ich will versuchen, hinter dieser Abwehr die Wirksamkeit Spinozas im Werk von Leibniz aufzuzeigen. Ich nehme hierfür den Ausgangspunkt von einer späten Äußerung Leibnizens. In einem Schreiben (III, 545 ff.)1, das wahrscheinlich aus dem Jahre 1707 oder 1708 stammt, greift Leibniz, ungewohnt bei diesem konzilianten Mann, scharf Spinoza an, der aus einer Kombination von Kabbala und Cartesianismus ein monstrosum dogma geformt habe, wovor er sich wohl hätte schützen können, wenn er die Natur der wahren Substanz oder Monade gekannt hätte. Leibniz läßt diesem Angriff eine kurze Charakterisierung der Struktur der Monade folgen, von der her er auf die Absurdität der spinozani1 

G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften, hg. von C. I. Gerhardt, Berlin 1875 ff., Bd. III, 545 ff. Bloße Angaben von Band- und Seitenzahl beziehen sich auf diese Ausgabe.   |  307

schen Doktrin schließt: die Monade ist einfach und hat eine höchste Spontaneität (summa spontaneitas); aus ihren Gesetzen leitet sich, unter dem Beistand Gottes, alles ab; sie ist eine perpetuierende Expression des Universums, wobei allein die intelligenten Substanzen, d. h. die der Reflexion fähigen, nicht nur Spiegelbilder (imagines) des Universums sind, sondern auch Gottes, der die Substanz ist, die nicht nur das wirklich existierende Universum, sondern alle anderen universa kraft ihres Geistes und ihrer Macht in sich schließt (mente potestateque complectens) und das heißt die Dinge (res) nicht mit Notwendigkeit, sondern durch Entschluß (delectu) hervorbringt. Wer dieses System, das leibnizische, das sich auf notwendige Wahrheiten stütze, wohl verstanden haben wird, wird die ruchlose und leere Doktrin des Spinozismus verwerfen, die Gott und die Kreaturen konfundiert. Dieser für Leibniz, wie gesagt, ungewöhnliche Ausfall gegen ein anderes philosophisches System mag psychologisch erklärbar sein, insofern dieses Schreiben an einen Interessenten seiner Philosophie, nämlich Bourguet, gerichtet ist, den Leibniz meint davor warnen zu müssen, sein eigenes System mit dem des Spinoza in eins zu setzen. In der Tat äußert Bourguet in dem späteren Briefwechsel Leibniz gegenüber den Verdacht, dessen Monadenlehre impliziere einen Spinozismus, einen Verdacht, den Leibniz dann mit der Bemerkung zurückweist (Brief vom Dez. 1714), gerade die Monadenlehre vernichte den Spinozismus. Gäbe es keine Monaden, so heißt es dort, hätte Spinoza recht, daß es nämlich nur eine Substanz gibt, außer dieser, Gott, wäre alles flüchtig, als Modifikation bloß akzidentell, ohne substanzielle Basis (III, 575). Dies sind zwei von über 100 Stellen, in denen Leibniz, in der Regel kritisch, zum Werk Spinozas Stellung nimmt. Die umfangreichen Arbeiten von Ludwig Stein 2 und besonders Georges Friedmann 3 , ferner auch der Aufsatz von Detlev v. Uslar4 haben viele dieser Stellen interpretiert und, Friedmann und Uslar insbesondere, Leibniz als den großen Kritiker Spinozas dargestellt. Leibniz 2 

L. Stein, Leibniz und Spinoza, Berlin 1890. G. Friedmann, Leibniz et Spinoza, Paris 1946, 3. Aufl. 1975. 4  D. v. Uslar, Leibniz’ Kritik an Spinoza, in: Studia Leibnitiana Supplementa V, 1971. 3 

308  |  III. Bezüge 

hat bekanntlich Spinozas Philosophie sehr früh kennengelernt und sich bereits 1678 mit dessen Ethik kritisch auseinandergesetzt. Impuls für die Herausbildung seiner Philosophie ist allerdings nicht die Auseinandersetzung mit Spinoza gewesen, sondern die mit Des­ cartes, insbesondere mit dessen Physik. Bedeutende Diskussionspartner, durch deren Korrespondenz Leibniz seine Substanztheorie zu größerer Deutlichkeit gebracht hat, sind Cartesianer gewesen. Ich möchte nun in diesem Beitrag zeigen, daß Leibnizens Theorie der Monade in der impliziten Auseinandersetzung mit Spinoza eine wesentliche Ausgestaltung gefunden hat. Implizit, weil über die ausdrücklichen Verweise auf Spinoza hinaus, Leibniz sich genötigt sah, seinen neuen Substanzbegriff gegen Spinoza abzugrenzen. Darin begleitet Spinoza ständig die leibnizische Gedankenentwicklung. Wäre der Verdacht des Spinozismus so abwegig, wäre sicher auch jene eingangs zitierte Polemik nicht vonnöten. Sie kann als Indiz dafür gewertet werden, daß Leibniz selber eine Nähe zu Spinoza gesehen hat, zumindest in den Konsequenzen seiner Philosophie, eine Nähe, die fatal wäre, geht doch die Intention der leibnizischen Philosophie zweifellos dahin, dem Spinozismus zu entgehen. II.

Weshalb? Betrachten wir näher, was Leibniz Spinoza in dem zuerst zitierten Schreiben vorwirft. Es ist der Zusammenfall Gottes mit den Dingen, was für Leibniz zwei zu vermeidende Konsequenzen impliziert, eine auf dem Gebiet der Physik, die andere auf dem Gebiet der Moral. Die Realität der Dinge, deren Ansichsein, unbezweifelbarer Tatbestand des gesunden Menschenverstandes und der physikalischen Forschung, wäre nicht gesichert, wenn die Dinge bloße Modifikationen der einen Substanz sind 5 . Die moralische Verantwortlichkeit des Menschen wäre zunichte, wenn die Welt und in eins damit der Mensch in ihr bloß eine notwendige Folge des Wesens Gottes wäre und nicht einem willentlichen Entscheid 5 

»II est plus raisonnable et plus conforme à l’usage de la nature de laisser subsister les ames particulières dans les animaux mêmes et non pas au dehors en Dieu… (le contraire) sera refuté par nostre experience« (VI, 536 f.) Spinoza in der Philosophie von Leibniz  |  309

Gottes entspringt, der aus möglichen Welten eine gewählt hat nach dem Prinzip des Besten und darin zum Wohl des Menschen6 . Die Charakterisierung der Doktrin Spinozas durch die Adjektive des Leeren und Ruchlosen weist auf diese beiden Momente. Nun besagt der Vorwurf der Ruchlosigkeit, daß Spinozas Gott kein Schöpfergott ist (und damit kein christlicher), der aufgrund von Einsicht eine bestimmte Welt will, der Vorwurf der Leerheit, daß die eine Substanz untauglich ist, die Mannigfaltigkeit der Welt verständlich zu machen. Das mag akzeptabel sein, doch überrascht die Folgerung, die Leibniz zieht, daß diese Lehre Gott und die Kreaturen miteinander vermenge. Ich verfolge hier nur den Gesichtspunkt in dem Felde der Physik. Ich mache das so, daß ich näher, anders als es Leibniz ausdrücklich tut, auf Spinoza eingehe, um so einmal besser den Sinn der These Leibnizens von der Leerheit des spinozanischen Systems verständlich machen zu können, zum anderen aber auch um zeigen zu können, inwiefern Leibniz als Antwort darauf seinen Monaden die besondere Struktur verliehen hat, die aus ihnen etwas anderes macht als bloße modi substantiae. Betrachtet man Spinozas System aus der Perspektive seines Autors, dann unterliegt es wohl keinem Zweifel, daß in ihm, Spinozas Selbstverständnis nach, eine scharfe Trennung zwischen der einen Substanz und den modi vorgenommen wird. Gegen mögliche Bedenken hat Spinoza dies eigens herausgestellt. »Clare apparet, nos existentiam substantiae toto genere a modorum existentia diversam concipere« (Ep. 12). Diese Trennung läßt sich durch die ganze Ethik hindurch aufzeigen, sowohl in der Theorie Gottes wie in der der Seele, erst recht in der Lehre von den Affekten und selbst in der Theorie menschlicher Freiheit, wo im amor Dei intellectualis Gott und Seele in einem Wechselverhältnis stehen. Genau an der Stelle, an der der Lehrsatz von der nicht-transeunten Kausalität Gottes vorbereitet wird (Eth I, prop. 17, coroll. 2, schol.), also in der Auseinandersetzung mit anderen Positionen und nicht in dem die Sache entfaltenden Deduktionsgang, heißt es: »causatum differt a sua causa preacise in eo quod a causa habet«. Unbeschadet der in der Natur sich manifestierenden Allmacht Gottes ist Gott als hervorbringende causa von den hervorgebrachten Dingen als 6 

»Tolletur ergo moralis philosophia« (I, 124).

310  |  III. Bezüge 

effectus dieser causa unterschieden. Denn ihnen fehlt das als innere Bestimmung, was sie von Gott als ihrer causa erst haben, der selber hingegen dadurch gekennzeichnet ist, daß er keine causa, die ihm äußerlich wäre, außer sich hat. Daß das »in-se-esse« nicht vom »in-alio-esse« unterschieden sei, scheint abwegig zu sein und Leibnizens Vorwurf, Spinoza vermenge Absolutes und Endliches miteinander, nicht ohne weiteres einleuchtend. Das Problem ist freilich, ob Spinozas Konzept der absoluten Substanz auch tauglich ist, die in Anspruch genommene Unterscheidung der Dinge von der absoluten Substanz zu begründen. Leibnizens Kritik setzt sachlich hier ein Spinozas These von der Einzigkeit der Substanz setzt Leibniz bekanntlich seine Theorie einer Vielheit von Substanzen entgegen. Für Spinoza ist die Einzigkeit der göttlichen Substanz eine Folge (Eth I, prop. 14, coroll. 1) der Bestimmung Gottes als einer Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht, die Gottes Essenz konstituieren und deshalb nicht verneint werden können, ohne den Begriff Gottes aufzuheben. Substanzen könnten sich nur durch einen Mangel unterscheiden, was widersprüchlich zum Begriff der Substanz ist. Für Leibniz ist Mangel mit dem Begriff der Substanz verträglich, sofern Mangel als Noch-nicht des Verwirklichthabens eines der Möglichkeit nach Angelegten verstanden wird und diese Möglichkeit eine Totalität impliziert, die, weil sie nichts außerhalb von sich hat, die von einer Substanz zu fordernde Autosuffizienz garantiert. Die unterschiedlichen Grade der Verwirklichung machen die Unterschiede der Substanzen aus und erlauben die Annahme einer Vielheit von Substanzen unter Wahrung der Erfordernis eines selbstgenügsamen Insichseins, das die Substanz von dem nur an einem anderen seienden Akzidenz unterscheidet. Mit dieser Abwandlung des Substanzbegriffs gibt Leibniz freilich eine wesentliche Bestimmung des spinozanischen Substanz­ begriffs auf. Er hält nur die Bestimmung des Insichseins fest, nicht die des Durchsichselbstbegriffenwerdens. Zum Zusammen beider Bestimmungen, die die 3. Definition des 1. Teils der Ethik formuliert (per substantiam intelligo id, quod in se est et per se concipitur), bemerkt Leibniz bereits in seinem frühen Kommentar von 1678 zu Spinozas Ethik kritisch, Spinoza habe den Beweis für die Zusammengehörigkeit nicht erbracht. Es könnte sehr wohl, formuSpinoza in der Philosophie von Leibniz  |  311

liert Leibniz vorsichtig, mancherlei geben, das in sich ist, obschon es nicht durch sich begriffen werde (I, 139). Angedeutet ist hier Leibnizens Begriff der Substanz. Zur Substanz gehört das In-sich-sein, die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit besagt jedoch, daß zum Wesen der Substanz mögliche Beziehungen und zwar auf die Totalität der Dinge des Universums gehören, die aus der einzelnen Substanz nicht begriffen werden können, weil nur die Beziehungen begreifbar sind, die die Substanz verwirklicht hat und die das Unterscheidungsmerkmal der Substanzen ausmachen. Spinoza verbindet mit dem Begriff der Substanz, für den in se esse und per se concipitur konstitutiv sind, die Einzigkeit des Seienden, dem Substantialität legitim zugesprochen werden kann. Leibniz leugnet an späterer Stelle nicht die Bestimmung des per se concipitur im Begriff Gottes. Hinsichtlich eines ursprünglichen Begriffs (conceptus primitivus), der nicht in andere Begriffe aufgelöst werden kann, sondern index sui ist, mag zwar Zweifel angebracht sein, ob die Menschen ihn zu erkennen befähigt sind, gleichwohl »solius rei quae per se concipitur talis esse potest conceptus, nempe Substantiae summae hoc est DEI« (Op. et fragm. inédits, ed. Couturat, S. 513). Diese Annahme muß gemacht werden, weil anders wir keine abgeleiteten Begriffe haben können, was die Konsequenz impliziert, »ut revera nihil sit in rebus nisi per DEI influxum, et nihil cogitetur in mente nisi per DEI ideam« (ebd.). Was Leibniz leugnet, ist die Verbindung der Kriterien von in se esse und per se concipitur für die Struktur von Substantialität überhaupt und damit dies, daß Substantialität nicht auch solchem zugesprochen werden kann, das von Gott dependiert und darin eine Vielheit in seiner Art darstellt. Hierfür ist eine Trennung von in se esse und per se concipitur erforderlich. Erst die Preisgabe des per se concipitur erlaubt, von dependierenden Seienden zu sagen, es seien Substanzen. Das als konstitutiv für Substantialität nicht preiszugebende in se esse ist durch die Totalität des Enthaltenseins aller Prädikate im Begriff des einzelnen Seienden gesichert. Diese Beschaffenheit, daß die Totalität des einen Universums in jedem Seienden qua Substanz (Monade) angelegt ist, ist durch Gott garantiert. Nun ist es naheliegend, die durch die Einschränkung des Grades der Deutlichkeit des von jeder Monade jeweils Perzipierten resultierende Vielheit der Substanzen relativ auf die göttliche 312  |  III. Bezüge 

Substanz zu verstehen, nämlich auf deren unendlichen Verstand, der das, was der einzelnen Monade undeutlich bleibt, in der ihm eigenen vollkommenen Analyse aufdeckt. Leibniz hat wiederholt darauf verwiesen, daß erst die vollkommene Analyse die Totalität zugänglich macht, etwa: »il n’y a point de terme si absolut ou si detaché, qu’il n’enferme des relations et dont la parfaite analyse ne mene à d’ autres choses et même à toutes les autres« (V, 211). Der Anspruch auf Totalität ist allein durch eine vollkommene Analyse ausgewiesen, Totalität muß aber in Anspruch genommen werden, wenn sinnvoll von Substanz gesprochen werden soll. Die Wechselseitigkeit von Totalität und unendlichem Verstand macht die Monaden-Theorie zweideutig. Nimmt man den gött­ lichen Standpunkt ein, dessen Verstand die Totalität dessen, was ist, mit einem Mal überschaut (infinitum uno intuitu complectitur, VII, 309), welche Einsicht der endlichen Monade nicht möglich ist, dann wird notwendigerweise die Differenz der Monaden untereinander getilgt. Denn sie unterscheiden sich gerade durch die ihnen je eigene Distinktheit des perspektivischen Ausschnitts, d. h. anders gewendet, durch die Undeutlichkeit dessen, was ihnen, obschon zu ihnen gehörig, verworren bleibt, weil von ihnen nicht perzipiert und das heißt für sie ungewußt. Der göttliche Verstand, für den das, was für die endlichen Substanzen nicht ist, ist, erkennt jedoch »ex perfecta cognitione omnium partium universi« (Op., ed. Couturat, S. 18) in jeder Monade die Totalität und läßt die je spezifischen Einschränkungen der Monaden, die sich aus dem, was für sie ist, ergeben, zu defizienten modi der einen Substanz werden. Dann ist die Monaden-Theorie aber heimlicher Spinozismus, eine Konsequenz, die Leibniz um jeden Preis vermeiden will. An einem weiteren Punkt der Kritik in dem frühen Kommentar zu Spinozas Ethik läßt sich die genannte Spannung aufzeigen. Leibniz formuliert dort in Bezug auf Eth. II, prop. 12, wo Spinoza zusammen mit prop. 11 und 13 darlegt, daß für das wirkliche Sein der menschlichen Seele die Idee eines wirklich existierenden Einzeldinges konstitutiv ist, nämlich die des Körpers (mens est idea corporis actu existentis), gegen die spinozanische Identifizierung von mens und idea den Satz: Nicht die Ideen, sondern die mens handle. Wenn Spinoza sagt, die mens sei idea von etwas Bestimmten, nämlich ihres Körpers, wird er – das sei eigens herausgehoben – Spinoza in der Philosophie von Leibniz  |  313

gerade der Konkretheit der je bestimmten und darin von anderen mentes sich unterscheidenden mens gerecht. Leibniz dagegen bestimmt die mens so, daß ihr Objekt nicht ein bestimmtes Objekt, sondern die Welt im Ganzen sei (totus mundus revera est obiectum cuisque mentis), die von jeder mens in je bestimmter Weise perzipiert wird. Als Konstituens der je bestimmten Seele setzt Leibniz hier nicht wie Spinoza die Idee eines je bestimmten Körpers, sondern Gott, der auf verschiedene Weise den Mundus anschaut, welche unterschiedliche Betrachtungsweise dann die Pluralität der mentes ausmacht. »Mens igitur fit non per Ideam corporis, sed quia variis modis Deus mundum intuetur, ut ego urbem« (I, 151). Der Generalvorwurf gegenüber Spinoza, dieser unterscheide nicht zwischen Gott und den Dingen, scheint nicht nur angesichts der klaren spinozanischen Bestimmung der Wirklichkeit der menschlichen Seele in der Differenz zu Gott haltlos, sondern gerade auf Leibniz selber zurückzufallen, wenn er die einzelne Seele, sofern sie das ganze Universum zum Gegenstand hat, als einen Blickwinkel Gottes bestimmt. Wenn Leibniz also, und mehr als zwei Jahrzehnte später wiederholt er diesen Gedanken gegenüber de Volder (II, 172), die Seele von den Ideen, die auf je Bestimmtes gehen, unterscheidet und sie als die Einheit dieser Ideenvielfalt faßt, die über jede Idee potenziell hinaus ist und darin unerschöpfbarer Grund je neuer Ideen, dann muß er die Seele, um deren eigen­ tümliche Unverwechselbarkeit fassen zu können, in einer Weise bestimmen, daß sie gerade nicht von dem Ganzen des Universums, das Gott im Blick hat, her gedacht wird. Die Wendung, die sich in der kleinen Studie aus der Zeit des frühen Spinoza-Studiums Quid sit Idea findet, »idea enim nobis non in quodam cogitandi actu, sed facultate consistit« (VII, 263), muß dahingehend ausgearbeitet werden, daß die Fähigkeit als eine der Seele immanente Kraft gefaßt wird und damit nicht als ein bloßes von Gott verliehenes Vermögen, sondern als eine Kraft, die nur in der Bindung an die jeweilige je spezifische Beschaffenheit der Seele wirksam ist. Spinozas Kritik an der cartesischen Substanzenlehre, einander gegenüberstehendes und darin durch Mangel gekennzeichnetes Seiendes (res cogitans und res extensa) als Substanzen zu bezeichnen, hat sicherlich, ohne daß Leibniz Spinozas Theorie, Cogitatio 314  |  III. Bezüge 

und Extensio als attributive Bestimmungen Gottes zu fassen, gefolgt wäre, Leibniz so beeinflußt, daß er mit dem Sinn von Substanz nicht mehr allein die aristotelische Bedeutung der ousia verbinden konnte. Mit dem Fürsichbestehen, also Bedeutung für sich zu haben und nicht nur von einem anderen ausgesagt zu werden, muß, wenn sinnvoll von Substanz gesprochen werden kann, die weitergehende Bestimmung der Universalität verbunden sein, die der Substanz durch Negation aller Äußerlichkeit das unerläßliche Moment der Autarkie verleiht. Leibniz hat das mit der Wendung vom in-esse der Prädikate im Subjektbegriff zum Ausdruck gebracht. Die Universalität, die jeder Substanz eigen ist, erlaubt die Annahme einer Vielheit von Substanzen nur unter der Annahme einer je unterschiedlichen Expression des Universums. Vielheit der Substanzen besteht nur, wenn dieser beschränkten Expression konstitutive Bedeutung zukommt, wenn also, wie Leibniz es an anderer Stelle gegen Spinoza formuliert (in der Abhandlung Considerations sur la doctrine d’un Esprit Universel Unique aus dem Jahre 1702), die Repräsentationsweisen in ihrer Verschiedenheit (und nicht nur in ihrer möglichen Identität aufgrund des immer schon, wenn auch verworren, mitperzipierten Weltganzen) wahr sind (V, 538). Wären sie nur privativ gedacht als das Weniger eines unbeschränkten Verstandes, wäre der Spinozismus unausweichlich. Gewiß haben die Monaden den Grund ihres Beschränktseins in sich selber. »Elles ont leur imperfections de leur nature propre« (VI, 613). Gott ist nicht nur der Ursprung (source) der Existenzen, sondern auch der Essenzen (ebd.), sowohl aller möglichen wie erst recht der wirklichen, also dessen, was in der aus dem Reich des Möglichen verwirklichten Welt ist. Der uns Menschen nicht weiter einsehbaren Weisheit und Güte des Schöpfers darf somit zugemutet werden, eine Vielheit in sich unterschiedener Monaden hervorgebracht zu haben. Vom Standpunkt der philosophischen Beweislast gesehen, heißt es aber, auf einen unbegreifbaren Grund zuviel abzuwälzen, wollte man die in Anspruch genommene These von der Vielheit der Substanzen als ein bloß hinzunehmendes Faktum ansehen. Es muß darauf ankommen, an solchem, das vieles ist, also am endlichen (geschaffenen) Seienden, aufzuzeigen, inwiefern es in seiner Beschränktheit dem Kriterium der Substantialität genügt. Der Substanz-Charakter muß aus der Eigentümlichkeit der Spinoza in der Philosophie von Leibniz  |  315

endlichen Monade verständlich gemacht werden, d. h. daraus, wie er sich für die endliche Monade und nicht für den unendlichen Verstand darstellt. Leibniz muß deshalb eine Theorie der Substanz konzipieren, die den universalen Bezug aus deren konstitutiven Endlichkeit entwickelt. III.

Basis dieser Theorie ist die Theorie der höchsten Spontaneität, auf die sich Leibniz auch in der eingangs erwähnten Polemik gegen Spinoza beruft. Der Begriff der Spontaneität hat bei Leibniz seine erste Ausprägung in der Auseinandersetzung mit der cartesischen Physik und der dort exponierten Theorie der Bewegungsgröße erhalten. Ihr setzt Leibniz seinen Begriff der Kraft entgegen, der von dem der Bewegungsgröße verschieden ist und der erst erlaubt, unter Umgehung der Annahme eines leeren Raumes, eine Theorie der Möglichkeit konkreter Veränderungen in der physikalischen Welt zu geben. Ohne einen mechanisch nicht erklärbaren Begriff der Kraft gäbe es keine Möglichkeit, Veränderungen der natürlichen Welt als Veränderungen zu erklären, weil es sonst nur eine Abfolge äquivalenter Zustände gäbe, bei der ein momentan gegebener Zustand der Dinge in einem bestimmten Zeitpunkt von dem Zustand eines beliebig anderen Momentes nicht zu unterscheiden wäre (IV, 399 f.). Der metaphysische Begriff der Kraft wird letztlich eingeführt, um überhaupt die Verschiedenheit der körperlichen Welt verständlich machen zu können (II, 227). Differenzen setzen ein Gleichbleibendes voraus, aus dem zugleich die Möglichkeit der Verschiedenheit muß erklärt werden können. In der Fortentwicklung seiner Monadenlehre hat Leibniz die Kraft des Näheren als Drang zur Selbstverwirklichung der Monade bestimmt, als tendance, appetition, nisus, conatus. Neben der perception, der einheitlichen Zusammenfassung eines Mannigfaltigen, ist die appetition das Grundcharakteristikum der Monade, der Drang, von einer Perzeption zu einer anderen überzugehen und darin ein Mehr dessen, was in der einzelnen individuellen Substanz angelegt ist, zu verwirklichen. Er macht als nicht weiter verständlich zu machender Drang verständlich, inwiefern die Monade über das von ihr distinkt Perzipierte hinaus einen Bezug auf das, 316  |  III. Bezüge 

was sie nicht vorstellt, hat, der ihr nicht äußerlich ist und der damit dem Kriterium der Substantialität genügt. Die aus dem Inneren erwachsende Spontaneität erklärt den Bezug des einzelnen zu den Dingen der Welt und verbürgt darin die Realität des einzelnen innerhalb der Welt. Sie ist freilich auch bei Spinoza unter dem Namen des conatus bekannt. Spinoza hat in Eth. III, prop. 7 das Streben (conatus), mit dem jedes Ding strebt, in seinem Sein zu beharren, als das wirkliche Wesen eben dieses Dinges bezeichnet. Es erscheint von daher zunächst unverständlich, wie Leibniz hat behaupten können, die Dinge als modi der einen Substanz seien flüchtig und ohne Bestand. Spinoza spricht ihnen mit dem conatus eine innere Bestimmung zu, die ihrem doppelten Charakter gemäß ist. Als modi der einen Substanz drücken sie die Essenz dieser Substanz, deren Attribute, in bestimmter Weise aus und haben darin ein positives Bestimmt-sein, das Spinoza in der Wendung vom Beharren zum Ausdruck bringt. Als endliche modi dieser Substanz stehen sie zugleich in einem Konnex mit unendlich vielen anderen modi desselben Attributs, die, vom Standpunkt der eigenen Beschränktheit aus, ihnen äußerlich sind und darin ihre Wirkungskraft vermindern, wogegen sie sich zu erhalten streben. Das einzelne Ding erleidet etwas, sofern es Glied eines Zusammenhanges einer Vielzahl von Dingen ist, dessen Beziehungen es nicht durchschaut. Das Streben kommt dem Seienden zu, das aufgrund seiner Beschränktheit eine mangelnde Einsicht hat. Die mangelnde Einsicht ist aber nicht Ausdruck einer bloß scheinhaften Position, die in Wahrheit die eine Substanz selber ist, sofern der conatus gerade eine Wesensbestimmung des einzelnen Dinges ist. Diese im conatus sich artikulierende innere Bestimmung – das ist die Pointe von Spinozas Ethik – ist aber solange eine äußere, als sie lediglich eine Bestimmung an sich ist, nicht aber für das einzelne Seiende. Sie ist deshalb konsequenterweise bei Spinoza auch nicht in der Physik des 2. Teils der Ethik thematisch, sondern dort, wo mit der Erörterung der Affektenlehre die Theorie menschlicher Freiheit im Durchgang durch die Knechtschaft vorbereitet wird. Als konstitutiv für jedes endliche Seiende ist das Streben, sich zu behaupten, zunächst indifferent in Anbetracht von adäquaten und inadäquaten Ideen (Eth. II, prop. 9). Das Streben erfüllt sich aber erst, d. h., der einzelne realisiert seine Selbsterhaltung, wenn das, Spinoza in der Philosophie von Leibniz  |  317

was im Streben zum Ausdruck kommt, die ansichseiende Bestimmung, eine Manifestation der göttlichen Substanz zu sein, sich am einzelnen bekundet, d. h. eine Bestimmung für ihn wird, er sich als diese Manifestation erweist7. Dieser Selbstbezug hat Wissen zur Voraussetzung, das Haben einer adäquaten Idee des einzelnen von sich selber in seinem status innerhalb des Zusammenhangs der modi. Das Subjekt wird deshalb adäquate Ideen von den ihm äußeren Dingen zu erlangen und darin diesen deren Äußerlichkeit zu nehmen trachten. Weil dieses Begreifen der äußereren Dinge aber keine Selbstentfaltung eines innerlich Angelegten ist, bei der sich das vermeintlich Äußere als Selbstexplikation einer schon kosmisch bestimmten Monade erweist, ist es wegen der Unendlichkeit der Weltbezüge zum Scheitern verurteilt. »Die Kraft, mit der der Mensch im Existieren beharrt, ist beschränkt und wird von der Kraft der äußeren Ursachen unendlich übertroffen« und »Es ist unmöglich, daß der Mensch kein Teil der Natur ist und daß er bloß solche Veränderungen erleiden kann, die durch seine Natur allein eingesehen werden können und deren adäquate Ursache er ist«, heißen die Lehrsätze 3 und 4 des 4. Teils der Ethik, der von der menschlichen Knechtschaft handelt. Die Chance menschlicher Freiheit und damit der Selbstbestimmung des endlichen Wesens als einer Expression Gottes sieht Spinoza allein in einer Möglichkeit menschlicher Einsicht, in der sich der Mensch aus dem Kontext des unendlichen Zusammenhangs der endlichen modi herausdreht, in der rationalen und intuitiven Erkenntnis. Mit Hilfe der ratio erkennt der Mensch kraft allgemeiner Begriffe allgemeine gesetzliche Zusammenhänge der modalen Welt, von denen her er die einzelnen Dinge als subsumierbare Fälle dieses Allgemeinen begreift, darin aber nicht sich selbst als konkret existierendes und darin strebendes Seiendes. Erst die intuitive Erkenntnis erlaubt dem Menschen die adäquate Erkenntnis seiner selbst, nicht in dessen totalem Zusammenhang mit den übrigen modi, sondern aus dem Grunde der modalen Welt, der absoluten Substanz. Selbsterkenntnis geschieht aus der adäquaten Gottes­ erkenntnis unter Verzicht auf die adäquate Erkenntnis der natura naturata. Ohne hier auf die Schwierigkeiten der Möglichkeit einer 7 

Vgl. Verf., Selbstsein und Absolutes [in diesem Band, S. 53 – 103].

318  |  III. Bezüge 

solchen Erkenntnis, die Spinoza zweifelsfrei dem endlichen modus Mensch zuspricht, einzugehen, kann soviel gesagt werden, daß die gelingende Selbsterhaltung intellektualisiert ist und das Begreifen seiner selbst aus dem es hervorbringenden Grunde und damit die freie Selbständigkeit des einzelnen nur wenigen Menschen möglich ist, der Elite derer, die zu philosophieren vermögen8 . Hier scheint mir Leibnizens Hauptdifferenzpunkt zu Spinoza zu bestehen, und zwar nicht nur in moralischer Hinsicht, sondern auch in physikalischer. In seinen Augen ist es ein Mangel im System des Spinoza, die Innerlichkeit des conatus nicht anders als reflexiv bestimmen und damit als Erklärungsprinzip physischer Vorgänge nicht verwerten zu können. Leibnizens Verlagerung des Grundmomentes des conatus von der Selbstbehauptung gegenüber einem undurchschauten unendlichen Äußeren in die Selbstentfaltung eines in jedem Seienden bis ins Unendliche Angelegten soll einem jeden Seienden ermöglichen, an sich selbst Ausdruck der göttlichen Substanz zu sein. Nur so kann an jedem einzelnen dokumentiert werden, inwiefern in dessen Stellung zu den übrigen Seienden Substantialität herrscht. Bleiben die Beziehungen der natürlichen Welt in ihrer Konkretheit und das heißt am einzelnen dieser Welt in dessen Bezug zu den übrigen Dingen substantiell unbestimmt, dann entbehrt die natürliche Welt einer bleibenden Basis. Das meint Leibniz offenbar mit der Flüchtigkeit der Dinge als bloßer modi. Deren Erhaltung ist nicht an ihnen selber, sondern allein sofern sie im Kontext der Welt im Ganzen stehen, als deren Teil sie selber vergänglich sind. Die im conatus sich artikulierende Substantialität der einzelnen Dinge ist bei Spinoza darin in Wahrheit die Substantialität des Ganzen der Natur, die ihrerseits mit dem nicht-transzendenten Gott identisch ist, was die zitierte Vermengung Gottes mit den Kreaturen impliziert. Führt man die Veränderung eines Einzeldinges auf ein anderes Einzelding zurück und dies ins Unendliche, wie in Spinozas Theorie der körperlichen Welt, läßt sich kein Prinzip der Veränderung finden, man verbliebe in den Bahnen des Cartesianismus. Denn es ist leicht zu sehen, daß der die Erhaltung des einzelnen in des8  Vgl.

M. Gueroult, Leibniz. Dynamique et Métaphysique, 2. Aufl., Paris 1967, 182 ff. Spinoza in der Philosophie von Leibniz  |  319

sen Veränderung garantierende unendliche modus des Attributes Ausdehnung, die stets gleichbleibende facies totius universi, den endlichen modi äußerlich bleibt und wegen seiner Abstraktheit untauglich ist, ein derartiges Prinzip zu sein. Führt man das lediglich veränderbare Einzelding auf einen letzten absoluten Grund zurück, wie in Spinozas Theorie der freien Selbstbestimmung, begreift man das einzelne nicht mehr in dessen Weltkontext und damit nicht als sich veränderndes. Man wird Leibnizens Kritik an Spinoza nicht aus dem Tat­ bestand eines unterschiedlichen Gottesbegriffes verstehen können, sondern allein daraus, was mit Hilfe dieser unterschiedlichen Konzeption erklärt werden soll, sei es in moralischer Hinsicht9, sei es mit Rücksicht auf die physische Welt, deren Ereignisse für Leibniz in ihrer jeweiligen Partikularität wohl zu fundieren sind. Sicher läßt sich sagen, daß sowohl Spinoza wie Leibniz vom Faktum real existierender Dinge ausgehen. »Glauben Sie etwa«, schreibt Leibniz an de Volder auf dessen Einwurf, Leibniz gehe vom empirischen Tatbestand stattfindender Veränderungen aus, »ich könne oder wolle etwas in der Natur beweisen, wenn nicht die Veränderungen zuvor vorausgesetzt wären« (II, 264). Die Zumutung, Spinoza müsse aus der absoluten Substanz als dem ersten Prinzip die Mannigfaltigkeit der Dinge deduzieren, woran sein System dann gescheitert sei, ist meines Erachtens absurd. Ausgehend vom Tatbestand der Mannigfaltigkeit konstruiert Spinoza einen Begriff der göttlichen Substanz, aus dem diese Mannigfaltigkeit begreifbar gemacht werden kann. Diese Konstruktion steht unter dem leitenden Gesichtspunkt der vollkommenen Rationalität. Gott wird so konstruiert, daß ein vollkommenes Begreifen der Dinge aus ihm möglich ist. Ein Ding wird aber begriffen, wenn es in seiner Genese, aus seinem Entstandensein, begriffen wird. Der letzte Grund muß deshalb so konstruiert sein, daß der für ihn konstitutive Akt des Hervorbringens einsichtig ist, also insbesondere das Moment des willkürlich Schöpferischen zugunsten eines Vorgangs des strengen Folgens der Dinge mit mathematischer Notwendigkeit eliminiert ist. Leibnizens Vorwurf der Leerheit des Spinozanischen 9  Vgl.

hierzu Chr. Axelos, Die ontologischen Grundlagen der Freiheitstheorie von Leibniz, Berlin/New York 1973. 320  |  III. Bezüge 

Systems bezieht sich dann sinnvollerweise auf den Punkt, daß in dieser Konstruktion das einzelne nur aus seinem letzten Grund, nicht aber in seiner je spezifischen Verschränkung mit den anderen einzelnen Dingen der modalen Welt wegen der Unendlichkeit der Beziehungen, die dem einzelnen notwendig äußerlich und damit unbegreifbar bleibt, begriffen werden kann. Leer ist das System, weil es ihm an Konkretheit mangelt, die sich allein darin zeigt, daß einzelnes in seiner Relation zu anderem einzelnen gefaßt wird und darin einen bleibenden Bestand hat. Um dieses Programms willen modifiziert Leibniz Spinozas System dahingehend, daß er den Begriff der Substanz vom Moment nachvollziehbarer Rationalität befreit. Die göttliche Substanz ist zwar begreifbar durch sich, sofern sie nicht des Begriffs eines anderen Seienden bedarf, um begriffen werden zu können, aber sie kann nicht von unserem Intellekt begriffen werden. Das ergibt die Möglichkeit einer Theorie des Kontingenten und der Einführung des großen Prinzips des zureichenden Grundes, das den göttlichen Entscheid hinsichtlich der faktischen Welt zuläßt und die Faktizität darin einer rein logischen Dependenz entzieht. Leibniz muß freilich, will er dem Spinozismus entgehen, nicht nur die göttliche Substanz anders konstruieren und von daher aus den modi monades machen, insofern Gottes nicht einsehbare Güte den geschaffenen Dingen eine geheimnisvolle das Universum explizierende Kraft verliehen hat. Er muß vielmehr das In-sich-sein der endlichen Monade in einer der Endlichkeit gemäßen selbständigen Bedeutung fassen, die nicht nur ein Weniger der göttlichen Monade darstellt, und hierfür muß das non-per-se-concipitur als konstitutiv für die endliche Substanz angesehen werden. Leibniz tut dem Genüge, indem er, insbesondere in seinen späten Entwürfen, zeigt, daß der für die endliche Monade konstitutive conatus, der nicht gegen Äußeres angeht, sondern ein Inneres entfaltet, dabei etwas entfaltet, das an den Prozeß des conari gebunden bleibt und überhaupt nur in ihm zugänglich ist. Das, was er entfaltet, kann unabhängig von diesem Prozeß und das heißt in einer dem konkreten Vollzug vorgängigen Analyse nicht gewußt werden10 . 10 

Vgl. Verf., Zum Problem der Auslegung bei Leibniz, in: R. Bubner et. al. (Hg.): Hermeneutik und Dialektik, Band 2, Tübingen 1970, 219–241. Spinoza in der Philosophie von Leibniz  |  321

Als Konsequenz daraus bestimmt Leibniz die Einheit der Monade gegenüber der Mannigfaltigkeit ihrer Zustände als Vollzugseinheit. »Operatio autem animae propria est perceptio, et unitatem percipientis facit perceptionum nexus, secundem quem sequentes ex praecedentibus derivantur«, heißt es im Entwurf eines Schreibens an Des Bosses aus dem Jahre 1709 (II, 372). Die das Substanzsein ausmachende Totalität muß nicht nur in der Monade sein für einen dieser Monade äußeren Intellekt, sondern für die einzelne Monade selber. Als Einheit einer Mannigfaltigkeit nicht für einen, der sie betrachtet, sondern für sich selber ist die Monade nicht primär Reflexionseinheit, weil das Selbst, als das sie sich wissen könnte, selber ein je individuelles ist, das sich nur in der konkreten Ausgestaltung, die nie fixierbar, weil nie abschließbar ist, erfüllt. Die Einheit der Monade nicht vom Sichwissen her zu bestimmen, ist die folgerichtige Konsequenz der schon im Ethik-Kommentar angedeuteten Kritik an Spinozas Substanz-Begriff. In-sichsein und Durch-sich-begriffen-werden müssen auseinanderfallen. Das Auseinanderfallen ist das Resultat einer unterschiedlichen Betrachtungsweise der endlichen Substanz. Daß einem geschaffenen Seienden das Prädikat des In-sich-seins zugesprochen werden kann, erfolgt aus einer Betrachtung dieses Seienden von außen, daß es nämlich Geschöpf Gottes ist, der von vornherein alles in die Monade hineingelegt und ihr darin Autonomie verliehen hat. Dieses In-sich-sein verbliebe der Monade jedoch äußerlich und würde damit gerade nicht deren Substantialität garantieren. Es muß also ergänzt werden durch eine Betrachtungsweise von innen, d. h. aus dem Vollzug der endlichen Monade. Und diese Betrachtung fordert, gegen Spinozas Theorie der Substanz, das Nicht-durch-sichbegriffen-werden, weil aus der Perspektive der sich vollziehenden Monade nur das von ihr jeweils Verwirklichte begriffen werden kann, nicht aber das bloß mögliche noch nicht Verwirklichte, das zu ihrer Substantialität mit gehört. Von außen gesehen kann jeder Monade eine ursprüngliche Kraft zugesprochen werden, die vis primitiva, von innen gesehen ist diese jedoch abstrakt und inhaltsleer. Bedeutung als Kraft hat sie nur in ihrer jeweiligen Modifikation zur derivativen Kraft, als die sie sich jeweils äußert. Desgleichen ist der Begriff der individuellen Substanz untrennbar verknüpft mit dem von jeweils be322  |  III. Bezüge 

stimmten Akzidenzien, ohne die die Substanz für sich nichts ist. »Substantia et accidens sese mutuo indigent« (IV, 364), heißt es gegen Descartes. Und es ist natürlich auch gegen Spinoza gerichtet, der die Substanz den Akzidenzien vorangehen läßt (Eth. I, prop. 1) und sie unabhängig von ihnen, selbst unabhängig von den die Totalität der endlichen modi ausmachenden unendlichen modi, konstruiert, nämlich allein aus den Attributen. Für das Theorem der Einzigkeit der Substanz ist das konsequent, für das Theorem der Vielheit der Substanzen aber nicht haltbar. Die Akzidenzien sind die Äußerungen des monadischen Subjekts, d. h. die von ihm jeweils perzipierte Mannigfaltigkeit. Sie gehört in die phänomenale Welt und entbehrt an ihr selber in ihrer jeweiligen Beschränktheit der Einheit, die nicht selber phänomenal ist, sondern eine substantiale im conatus der Monade gründende Voraussetzung, die der Vielfalt der Phänomene erst ein einheitliches Bestimmtsein verleiht. So ist mit der Trennung der substantialen und phänomenalen Welt zugleich deren unaufhebbare Verbindung im Begriff der individuellen Substanz gesetzt. Die individuelle Substanz ist aus der dem Begriff der Substanz innewohnenden auf das Ganze gehenden Spontaneität nicht bestimmbar, sondern allein aus der je spezifischen Beschränkung dieser Spontaneität in der phänomenalen Welt, also in der Bindung der Aktivität an eine Passivität. »C’est proprement l’Entelechie qui agit, et la matière qui patit, mais l’un sans l’autre n’est pas une substance complète« (III, 458). In dieser Wendung, die im Spätwerk Leibnizens nicht vereinzelt dasteht und die gegenüber dem Discours de Métaphysique von 1686 einen deutlichen Fortschritt darstellt, hat Leibniz die Substanz in einer Weise bestimmt, die erst eine rechte Abhebung gegenüber der spinozanischen Substanz erlaubt. Vollständigkeit ist nicht von einem vollkommenen Begreifen her gedacht, für das die defizienten Dunkelheiten nicht sind, sondern vom Vollzug der endlichen Substanz selber her11. Gerade 11 

Noch in der Frühzeit heißt es: »Substantia seu Ens completum mihi est illud quod solum involvit omnia, seu ad cuius perfectam intelligentiam nullius alterius opus est intellectione« (G.W. Leibniz, Textes inédits, hg. von G. Grua, 266). Erst wenn der vollständige Begriff so auf das vollständige Seiende bezogen wird, daß dieses (und nicht ein unendliches Seiendes) jenen hat, enthält Spinoza in der Philosophie von Leibniz  |  323

umgekehrt wird das, was für Gott und dessen Intellekt konstitutiv ist, nämlich reine Tätigkeit zu sein, die von aller einschränkenden Materialität befreit ist, bezogen auf die individuelle Substanz zum Kriterium der Unvollständigkeit. Auf Bernouillis Frage, welches Sein unvollständig (incompletum) genannt wird, antwortet Leibniz: »passivum sine activo, et activum sine passivo« (Mathem. Schriften, ed. Gerh., III. 542). Die Passivität ist es erst, durch die die Monaden vollständig werden, »per quod compleantur« (VII, 330), nämlich in ihrer Individualität im Unterschied zum abstrakten Begriff der Monade überhaupt. Jede Substanz ist zwar mehr, als sich in ihren Äußerungen jeweils manifestiert, weil in ihr ein conatus herrscht, der tendenziell über jede Äußerung hinweg ist, aber sie ist in dem, was sie als individuelle ist, nur bestimmbar und begreifbar von ihren Äußerungen her. Gerade in dem vom conatus verbürgten In-sich-sein, das ihre Substantialität ausmacht, ist sie von dem her, was an ihr begreifbar ist, nicht begreifbar. Die Einschränkung des Wissens, die aus der Perspektive der jeweiligen Substanz erfolgt, ist die Bedingung der Möglichkeit einer Rede von der Pluralität der Substanzen. In ihr hat sich Leibniz, in seinem Bemühen, eine Theorie der Ereignisse der physischen Welt zu liefern, in der Abwendung von Spinoza einer Theorie der Erfahrung genähert.

IV.

Wir Späteren wissen, daß diese Theorie erst konsistent ist, wenn das Subjekt der Erfahrung entsubstantialisiert ist. Auf dem Weg dorthin bleibt der Spinozismus wirksam. Für Leibniz hat die Theorie ein metaphysisches Fundament, ohne das nicht von Substanzen als an sich Seiendem gesprochen werden kann. Die vires derivatider vollständige Begriff alles, was über die Substanz gesagt wird und nicht, was gesagt werden kann. Vgl.: »Substantia est Ens completum perfectae unitatis … Completum Ens est, quod habet completum conceptum, ex quo scilicet omnia deduci possunt quae de eodem subjecto dicuntur« (Zitiert bei G. Utermöhlen, Leibniz’ Antwort auf Christian Thomasius’ Frage Quid sit substantia?, in: Studia Leibnitiana 9 [1979]). 324  |  III. Bezüge 

vae, die konstitutiv für das physikalische Geschehen sind, setzen eine vis primitiva voraus, und zwar nicht als Hypothese (II, 256), sondern als reale Kraft, nämlich als eine Spontaneität, die den Monaden von dem göttlichen Urheber verliehen worden ist. Der den endlichen Substanzen eigene conatus, sich selbst zu verwirklichen, hat Gott zur Voraussetzung (VII, 289). Ohne ein Konzept der göttlichen Substanz ist die Theorie der Monaden als Substanzen nicht möglich, ganz davon abgesehen, daß die Übereinstimmung der einzelnen Substanzen hinsichtlich der einen perzipierten Welt, die jede Monade für sich und unbeeinflußt von anderen Monaden perzipiert, eines Grundes bedarf, der nicht die endliche Monade selber sein kann. Mit der Preisgabe der Zentralmonade, die die absolute Selbständigkeit der vielen Monaden sicherte, wäre der Substanz-Charakter der Monaden nicht gesichert. In eins damit wäre auch die Bestimmung der Wahrheit als eines Enthaltenseins der Prädikate im Begriff des Subjekts hinfällig. Daß das jeweils Perzipierte wahr sei, ließe sich nicht sagen. Das Wahrsein des Perzipierten ist abhängig von einem göttlichen Seienden, das der Perzipierende selber als der Möglichkeit des Perzipierens immer schon zugrunde liegend nicht zu perzipieren vermag. Dann liegt es nahe zu folgern: »Wenn nichts durch sich begriffen wird, wird überhaupt nichts begriffen werden. Denn was nur durch anderes begriffen wird, wird insoweit begriffen werden, wie jenes andere begriffen wird und dieses wiederum ebenso; und deshalb wird man sagen, daß wir etwas erst dann in Wirklichkeit begreifen, wenn wir auf das treffen, was durch sich selbst begriffen wird« (Op., ed. Couturat, S. 430). Wenn aber die Explikation der Struktur der endlichen Monade gerade darlegt, daß wir darauf gar nicht treffen können12 , dann ist die Monade, die das, was sie ist, nicht durch sich sein kann, lediglich privativ bestimmt. »Fieri potest, ut non nisi unicum sit quod per se concipitur, nimirum DEUS ipse, et praeterea nihilum seu privatio, quod admirabili similitudine declaratur« (ebd.).

12 

Die frühe gegen Spinoza gerichtete Skepsis (»Dubitari vero potest, an Ens necessarium a nobis intelligatur, imo an possit intelligi, etsi possit sciri sive cognosci«, I, 131) hält Leibniz bis ans Ende aufrecht. Spinoza in der Philosophie von Leibniz  |  325

Der offenkundige Zwiespalt13 zwischen der Weise, in der die endliche Substanz ist, und dem Grund, kraft dessen sie so sein kann, muß bei Leibniz den Eindruck hinterlassen haben, daß die Unterscheidung, die er zwischen der göttlichen Substanz und den vielen endlichen Substanzen getroffen hat, nicht von hinreichender Überzeugungskraft gewesen ist. Dann bliebe aber die Lehre von der einen Substanz und dem vielen nur privativ Bestimmbaren zurück. Daß sich Leibniz gegen diesen Eindruck des Spinozismus vehement, nämlich wie im Eingangszitat meines Referates, zur Wehr gesetzt hat, scheint von daher verständlich. Die rüde Polemik ist nicht nur psychologisch motiviert, sondern hat sachliche Gründe. Wenigstens habe ich dies in meinem Beitrag zeigen wollen.

13 

Vgl. das instruktive Buch von K. E. Kaehler, Leibniz – der methodische Zwiespalt der Metaphysik der Substanz, Hamburg 1979. 326  |  III. Bezüge 

Leibniz als Kritiker Spinozas Ich habe seiner Zeit unter dem Titel Spinoza in der Philosophie von Leibniz in einem Beitrag zu Spinozas Ethik und ihre frühe Wirkung1 zu zeigen versucht, daß die Philosophie Spinozas für die Herausbildung der Philosophie von Leibniz von wesentlicher Bedeutung gewesen ist. Leibnizens polemische Kritik habe ich auf dem Hintergrund einer von ihm selbst gesehenen Affinität seiner Philosophie zu der Spinozas gedeutet. Zweifellos ist es Leibnizens Bemühung gewesen, dem Spinozismus zu entgehen, dem zu entgehen für ihn Voraussetzung dafür ist, das zu leisten, was zu leisten auch Spinoza beansprucht hat, in Leibniz’ Augen aber nicht hat leisten können, nämlich eine rationale Erklärung der Verfaßtheit der Welt zu geben. Einen dahingehenden Anspruch erheben beide Philosophen, und die wesentliche Nähe von Leibniz zu Spinoza liegt darin, daß der Spinozismus ein Typ von Philosophie ist, der hierfür durchaus taugliche Mittel bereitgestellt hat, über die eine Theorie des rationalen Erklärens von Weltzusammenhängen nur schwer hinweg­ gehen kann. Die These, Leibniz sei in letzter Konsequenz Spinozist gewesen, wirkungsvoll von Bertrand Russell in dessen Leibniz-Buch 2 erhoben, wird in der gegenwärtigen Leibniz-Forschung in der Regel nicht geteilt, 3 mag sie auch heute noch gelegentlich wiederholt werden.4 Russell hat natürlich nicht behauptet, daß Leibniz dies seinem Selbstverständnis nach gewesen ist, sondern nur, daß der Spinozismus eine interne Konsequenz der leibnizischen Philosophie ist. Was die Wirkungsgeschichte anbelangt, ist Leibniz zunächst 1 

In diesem Band, S. 307 – 326. B. Russell, A Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz, Cambridge 1900. 3  Vgl. E. Yakira, Contrainte, nécessité, choix. La métaphysique de la liberté chez Spinoza et chez Leibniz, Zürich 1989. Dazu meine Rezension in: Studia Spinozana 6 (1990), 363–368. 4  Etwa D. Garrett, Thruth, Method, and Correspondence in Spinoza and Leibniz, in: Studia Spinozana 6 (1990), 13–43. 2 

  |  327

gewiß als Kritiker Spinozas verstanden worden, freilich auf einem Boden, von dem zu bezweifeln ist, daß er eine genuine Rezeption Spinozas ermöglicht hat.5 Ich möchte diesmal, im Unterschied zu meinem früheren Beitrag, nicht so sehr den wirksamen und zugleich bekämpften Spinozismus in der Philosophie von Leibniz hervorheben, sondern stärker den Aspekt verfolgen, der Leibniz als einen Kritiker der Philosophie Spinozas erscheinen läßt. Ich konzentriere mich dabei auf einen Punkt, der mir hierfür wesentlich zu sein scheint, die Frage nach einer rationalen Theorie des Individuellen. Das ist ein Punkt, der Spinozas Philosophie nicht äußerlich ist, insofern sie unter dem Titel Ethik ganz wesentlich die Theorie einer vernünftigen Welt­ orientierung des Menschen enthält. Und diese Orientierung ist die eines menschlichen Individuums, das sich Dingen der Welt einschließlich anderen menschlichen Individuen gegenübersieht, die von ihm selbst real verschieden sind. Die Bedingungen zu entwickeln, unter denen ein Individuum ihnen gegenüber einen Stand zu finden vermag, in dem es nicht von außen fremdbestimmt ist, sondern sich frei entfalten kann, ist ein zentraler Programmpunkt der Philosophie Spinozas. Sie läßt sich deshalb angemessen nicht unter dem Aspekt interpretieren, daß es ihr darauf ankomme, aufzuzeigen, daß die Unterscheidungen zwischen den Dingen, in bezug auf die der Mensch sich zu orientieren sucht, in Wirklichkeit nichtig, weil bloß relativ auf unsere mangelnde Erkenntnis, sind. Der conatus, in dem ein Ding gegen andere Dinge und deren Einwirkungen sich selbst zu erhalten strebt, den Spinoza als Essenz eines singulären Dinges bestimmt, ist keine Bestimmung des Scheins, die es im Selbstverständnis des Menschen abzubauen gälte. Er ist im Gegenteil die ontologische Basis, an die alles menschliche Selbstverständnis, auch das adäquate, gebunden ist. 6 Hat Spinoza mit seiner Theorie des conatus als der Grund­ bestimmung individuellen Seins eine unmittelbare Nähe zu Leibniz, so unterscheidet er sich von ihm grundlegend in der Bestimmung der Weise, in der ein als conatus bestimmtes Individuum 5 

Vgl. W. Schröder, Spinoza in der deutschen Frühaufklärung, Würzburg

1987. 6  W. Bartuschat: Selbstsein und Absolutes. [in diesem Band, S. 53 – 103]. 328  |  III. Bezüge 

von dem obersten Prinzip alles Seienden abhängt. Die spezifische Form dieses Abhängens ist das, was den Spinozismus charakterisiert. So sei zunächst ein kurzer Blick auf den Spinozismus als einen Typ von Philosophie geworfen, den Leibniz wohl auch vor Augen hatte. Ich möchte ihn so charakterisieren: Er ist ein Typ von Metaphysik, der durch das Merkmal des Monismus der Substanz und der damit verbundenen Leugnung jeglicher Welt-Transzendenz gekennzeichnet ist. Beides, Monismus und Immanenz, dient dem einen Ziel einer vollständigen rationalen Erklärung der Welt. Sie sind Merkmale einer Theorie, die man mit M. Gueroult7 einen absoluten Rationalismus nennen kann, weil sie keine Restbestände unerklärbarer Annahmen zuläßt, in die sich zurückzuziehen Spinoza ein asylum ignorantiae (Eth. I, app.) genannt hat. Monismus und Immanenz der Substanz erfüllen ein und dieselbe Aufgabe im Dienst der Rationalität: sie geben ein unbedingtes Prinzip an, das zugleich dem begreifenden Menschen zugänglich ist. Gäbe es auch nur zwei Prinzipien, etwa zwei Substanzen in cartesischer Manier, wäre die Unbedingtheit nicht gesichert und damit nicht die Vollständigkeit rationalen Begreifens; wäre das Prinzip dem Menschen transzendent, etwa im Sinne eines göttlichen Welturhebers, hätte der Mensch in seiner Endlichkeit keine Chance auf vollständiges rationales Begreifen. In der Polarität von unbedingtem Prinzip und endlichem Menschen, in Spinozas Terminologie von Substanz und Modus, muß die Substanz den Modi logisch vorangehen, weil von einem Endlichen aus auf sie nicht hingeführt werden kann, wäre sie doch dann von jenem her gedacht und darin kein Unbedingtes. Deshalb sind diejenigen Prädikate vom Unbedingten auszuschließen, die für Endliches konstitutiv sind, nicht nur Persönlichkeit, sondern auch (das ist ein Frontalangriff gegen die Theologie) sowohl Geist und damit Verstand und Wille wie (das war eher akzeptabel) Körperlichkeit und damit Teilbarkeit. Was die immer noch Gott genannte unbedingte Substanz wesentlich charakterisiert, ist im Unterschied dazu allein deren produktive Macht (potentia qua causa), die sich in den hervorgebrachten Dingen, den Modi, erfüllt (immanente Kausalität), die also gegenüber der produzierten Welt nichts für sich 7 

M. Gueroult, Spinoza. 1: Dieu, Paris 1968. Leibniz als Kritiker Spinozas  |  329

zurückbehält, das erlaubte, diese Macht als ein Können zu bestimmen, das etwas in unterschiedlicher Weise realisieren könnte. Die Welt folgt deshalb nicht nur aus der Notwendigkeit allein der Natur Gottes, sondern aus ihr auch mit Notwendigkeit. Nicht nur gibt es nicht, etwa im Verstand Gottes, eine Vielzahl möglicher Welten, sondern auch die wirkliche Welt ist hinsichtlich aller innerwelt­ lichen Ereignisse streng determiniert. Für Mögliches und Zufälliges ist in ihr ebensowenig Raum wie für die Freiheit eines Willens, die anzunehmen Spinoza zufolge nichts als Ausdruck mangelnder Erkenntnis ist. Weil alles mit Notwendigkeit aus der notwendigen Natur Gottes folgt (»sequitur«), kann es auch vom Menschen mit absoluter Gewißheit gefolgert werden (ebenfalls »sequitur«). Sein (esse) und Begreifbarkeit (concipi) sind untrennbar miteinander verbunden, was Spinoza nicht nur in der Definition von Substanz (Eth. I, def. 3), sondern auch in der von Modus (Eth. I, def. 5) zum Ausdruck bringt. Diese Theorie, so polemisiert Leibniz, sei leer (inanis), weil sie Gott und die Kreaturen vermenge (PS III, 545). 8 Die Theorie führe zu einem Akosmismus, zu einer Leugnung der Welt, insofern sie das, was für Welt konstitutiv ist, eine Mannigfaltigkeit von real sich unterscheidendem Seiendem zu sein, nicht verständlich machen kann. Spinozas Modi werden in dieser Deutung zu unselbständigen Modifikationen der einen Substanz, demgegenüber in Leibniz’ Selbstverständnis die Monadenlehre es ist, die die Welt rettet und, wie es in einem Schreiben an Bourguet vom Dez. 1714 heißt, den Spinozismus »vernichtet«. Er, Spinoza, »hätte recht, wenn es keine Monaden gäbe, wäre doch dann alles, außer Gott, flüchtig und würde sich in einfache Akzidenzien oder Modifikationen verlieren, weil es in den Dingen keine substantielle Grundlage gäbe, die [meiner Theorie zufolge] in der Existenz der Monaden besteht« (PS III, 575). Gegen die Konsequenzen des Spinozismus ist für Leibniz die Theorie individueller Monaden der Garant für eine durch die Vielfalt in sich unterschiedener Dinge ausgezeichnete Welt, von der nur dann gesprochen werden könne, wenn ein Ding sich von anderen Dingen an sich selbst unterscheidet, d. h. kraft einer ihm selbst 8 

PS = Die philosophischen Schriften von Leibniz, ed. Gerhardt.

330  |  III. Bezüge 

zukommenden und darin dessen Individualität konstituierenden internen Bestimmung. Diese interne Bestimmung faßt Leibniz als eine solche des Geistes, der wesentliches Merkmal eines jeden Dinges ist und der aufgrund einer in ihm gründenden Tätigkeit das Prinzip von Einheit ist, das die Selbigkeit eines Dinges in seinen wechselnden Zuständen garantiert. Die Monaden sind geistige Entitäten, die durch das Merkmal des Perzipierens ausgezeichnet sind, das seinerseits in einem einer jeden Monade eigentümlichen Streben (appetition, conatus) gegründet ist, in dem sie ein ihr Inneres, nämlich ein in ihr schon Angelegtes, zu entfalten trachtet, das potentiell die Totalität des Weltganzen ist. In diesem impliziten Bezug auf Totalität ist die Monade von allen Bezügen, die ihr äußerlich sein könnten, befreit, so daß ausgeschlossen ist, daß sie überhaupt etwas von außen erleidet. Mit dieser Konzeption ist eine grundlegende Kritik an derjenigen Position verbunden, die das Sein eines einzelnen Dinges aus der Relation, in der es zu anderen Dingen steht, begreifbar zu machen sucht. Mit der Betonung der Geistigkeit der Monade macht Leibniz deutlich, daß insbesondere die Relationalität des Raumes hierfür untauglich ist. Darin hat seine Kritik an der cartesischen Physik ihre Grundlage, und diese Kritik richtet sich gleichermaßen gegen Spinoza, der Ausdehnung (Extensio) zu einem göttlichen Attribut erhoben und aus ihm auf einen als »Bewegung und Ruhe« gefaßten unmittelbaren unendlichen Modus geschlossen hat, durch den alle endlichen Modi, die unter dieses Attribut fallen, also die Körper, in ihrem Sichäußern bestimmt sind.9 In dem Briefwechsel mit dem niederländischen Cartesianer De Volder, der durchaus auch als ein Anhänger Spinozas anzusehen ist, hat Leibniz nicht nur den später oft wiederholten Einwand gegen Spinoza formuliert, daß aus der einen Substanz keine genetische Theorie einer Vielheit endlicher Modi gegeben werden könne: »Das Entstehen von Verschiedenartigkeit ist nicht ersichtlich, da aus Einem nur Eins sich ergibt […] Nimmt man also an, wie es gewöhnlich geschieht, ein Körper enthalte nichts als die Ausdehnung, und faßt man darüber hinaus 9  Diese

Kritik ist unabhängig von einer bestimmten Theorie des Lebendigen, die Leibniz gegen Spinoza auch entwickelt. Vgl. dazu R. Bouveresse, Spinoza et Leibniz. L’idée d’animisme universel, Paris 1992. Leibniz als Kritiker Spinozas  |  331

die Ausdehnung als ein einfaches und ursprüngliches Attribut auf, dann läßt sich in keiner Weise erklären, wie irgendeine Veränderung in Körpern entsteht oder wie eine Vielheit von Körpern existiert« (PS II, 226f.). Er hat auch deutlich gemacht, wie ungeeignet in seinen Augen die mit den Grundbestimmungen von Ausdehnung, Masse und Bewegungsgröße operierende cartesische Physik ist, ein Kriterium wirklicher Unterscheidungen zwischen sich bewegenden Körpern anzugeben, und demgegenüber betont, daß hierfür ein von diesen Elementen verschiedenes Prinzip erforderlich ist. Schon im Discours de métaphysique (§§ 17 u. 18) hat Leibniz ein solches Prinzip gegen den Cartesianismus zur Geltung gebracht, nämlich eine von der Bewegungsgröße verschiedene Kraft als ein den Körpern selbst innewohnendes geistiges Prinzip, das ihnen allererst wirklichen Bestand verschafft und darin erst erlaubt, einen bestimmten sich bewegenden Körper von anderen sich ebenfalls bewegenden Körpern zu unterscheiden. Über den Begriff der Kraft wird der Körper als ein wesentlich tätiges Ding bestimmt, das er aufgrund eines ihm zukommenden Momentes ist, das nicht körperlich, sondern geistig ist. Als Prinzip eines einzelnen Körpers von je bestimmter materieller Beschaffenheit ist es allerdings nicht rein geistig. Als Prinzip der einheitlichen Organisation von Materiellem, in der sich der jeweilige Körper konstituiert, erfährt die im Geist verankerte reine Spontaneität der Kraftentfaltung eine Einschränkung durch die Beschaffenheit des Materiellen. Leibniz differenziert deshalb den Kraftbegriff in eine vis primitiva als rein geistige Kraft und eine vis derivativa als Materielles organisierende Kraft und macht zugleich deutlich, daß einerseits ein unaufhebbares Bezogensein beider aufeinander besteht und andererseits in diesem Bezug ein Gefälle herrscht, das nicht eine Wechselseitigkeit gleichursprünglicher Glieder ist. An De Volder schreibt er: »Dieses aktiven Prinzips, d. h. des Grundes (fundus) von Aktivität kann nicht entbehrt werden; denn akzidentelle, d. h. veränderliche tätige Kräfte und die wirklichen Bewegungen sind bestimmte Modifikationen irgendeines substantiellen Dinges, Kräfte und Tätigkeiten hingegen können nicht Modifikationen eines bloß passiven Dinges, wie es die Materie ist, sein. Folglich gibt es ein erstes Aktives, d. h. ein Substantielles (activum primum seu substantiale), das durch

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die zufällige Verfaßtheit der Materie, d. h. des Passiven, modifiziert wird« (PS II, 171). Die ursprüngliche Kraft hat gegenüber der abgeleiteten eine logische Priorität, die die Priorität des Aktiven gegenüber dem Passiven ist, dergestalt daß alles Leiden ein Handeln desjenigen, der etwas erleidet, zur Voraussetzung hat. Anders verbliebe nur eine Theorie des von außen Bestimmtseins singulärer Dinge, innerhalb derer nicht von einem wahrhaften Sein dieser Dinge gesprochen werden kann, hätte ein Ding doch seinen Ort nur in einem Geflecht von Beziehungen, in dem es überhaupt nicht an sich selbst bestimmt wäre. Das hat Leibniz mit der These von der Flüchtigkeit der Dinge bei Spinoza im Blick. Dessen Konzeption wäre seiner Meinung nach in der Tat richtig, wenn es nicht Monaden gäbe, d. h. endliche Dinge, die selber von substantiellem Charakter sind, denen also ein internes Prinzip zukommt, das ihre unverwechselbare Selbigkeit konstituiert und darin erst garantiert, daß eine Mannigfaltigkeit von Dingen in der körperlichen Welt existiert. Offensichtlich trifft Leibniz’ Kritik der cartesischen Physik auch Spinozas Theorie des Körperlichen, die sich weitgehend in cartesischen Bahnen bewegt und in der Spinoza nicht den eigenen Neuansatz über die radikal veränderte Konzeption Gottes auswertet. Wenn Ausdehnung (Extensio), das grundlegende Prinzip der körperlichen Welt, ein Attribut Gottes ist, dann müßte sie in Spinozas Konzeption von der essentiellen Bestimmung Gottes her, sich ­äußernde Macht (potentia) zu sein, wesentlich durch eine dynamische Komponente bestimmt sein; und dieses dynamische Element müßte, gemäß der immanenten Kausalität Gottes, für die Modi, die Produkte dieser Kausalität sind, gleichfalls konstitutiv sein.10 In die essentielle Bestimmung eines jeden Dinges (Modus), conatus zu sein, kraft dessen jedes Ding sich selbst zu erhalten strebt, geht das dynamische Moment einer sich entfaltenden Aktivität durchaus ein. Und es müßte auch für Körper gelten, weil die conatus-­ Bestimmung unabhängig davon ist, unter welchem Attribut ein Ding betrachtet wird. Jedoch ordnet es Spinoza in seiner Physik einem Mechanismus unter, der einer Bewegungsgesetzlichkeit ge10  Vgl.

A. Matheron, Physique et ontologie chez Spinoza. L’énigmatique réponse à Tschirnhaus, in: Cahiers Spinoza 6 (1991), 83–109. Leibniz als Kritiker Spinozas  |  333

horcht, über die ein Körper primär durch die äußere Relation zu anderen Körpern bestimmt wird, innerhalb derer er seinen conatus nicht so realisieren kann, daß er sich selbst tatsächlich erhält. Das ist für Spinoza insoweit eine in sich stimmige Konsequenz, als seiner ganzen Theorie zufolge der conatus eines Körpers sich wegen der Übermacht der ihn umgebenden Körper überhaupt nur so realisieren kann, daß der betreffende Körper seinen Bestand nur im Sichanpassen an andere Körper hat, die ihn übermächtigen und in einen Komplex unendlich vieler Körper integrieren, in dem er nichts als ein unselbständiger Teil innerhalb eines stets größeren Ganzen ist. Die cartesische Korpuskular-Physik war für Spinoza offensichtlich ein geeignetes Modell der Beschreibung dieses Sachverhalts. In diesem Zusammenhang immer noch die Theorie eines körperlichen Individuums geben zu wollen, ist ein Unternehmen, das Leibnizens Kritik herausfordern mußte. Es sieht bei Spinoza so aus: Ein aus mehreren Körpern zusammengesetzter Körper sei ein Körper, d. h. ein Individuum, so lautet die Definition im Anschluß an Eth. II, prop. 13, wenn diese Teilkörper derart miteinander vereinigt sind, daß sie nach einer bestimmten Regel (certa quadam ratione) ihre Bewegungen einander mitteilen (communicant). Was Spinoza da unter Zuhilfenahme einer bestimmten gleichbleibenden Regel der Bewegungsgröße mit der vagen Formulierung eines »communicare« als die gleichbleibende Form eines Individuums beschreibt, die dessen Selbigkeit unbeschadet der mannigfachen Veränderungen der Teilkörper ausmache, ist für Leibniz nicht mehr als die Beschreibung der Zusammensetzung eines Haufens, der eines internen Zusammenhanges entbehrt und der sich durch äußere Hinzufügung weiterer körperlicher Elemente beliebig erweitern läßt. Das von Leibniz häufig gebrauchte Modell eines bloßen Haufens, mit dem er das beschreibt, was im Unterschied zu einem sich organisierenden System ein Aggregat ist, das über keine wahre Einheit verfügt, geht tatsächlich in Spinozas Beschreibung der Verfaßtheit der körperlichen Welt ein. Denn die nach einer so verstandenen Form sich konstituierenden körperlichen Individuen lassen sich ihrerseits als Teilkörper eines noch größeren Körperkomplexes verstehen bis hin zu der physischen Natur im Ganzen, von der Spinoza sagt, daß auch sie ein Individuum ausmacht, mö334  |  III. Bezüge 

gen deren Teilkörper sich auch mannigfach verändern und das heißt die ihnen zuvor zugesprochene eigene Form wiederum aufheben (lemma 7). Das ist genau jene Flüchtigkeit der Dinge, von der Leibniz spricht, wenn er Spinoza kritisiert, daß nämlich der einen Substanz (natura naturans) eine Welt (natura naturata) als deren Produkt korreliert, die letztlich nur ein Modus ist, von der als einem unendlichen Modus, von Spinoza als gleichbleibende Gestalt des ganzen Universums (facies totius unversi; Ep. 64) bestimmt, nicht zu sehen ist, wie sie in sich so differenziert sein könnte, daß von einem Bestehen in sich unterschiedlicher endlicher Modi gesprochen werden kann. Mit der von Spinoza in Anspruch genommenen einheitlichen Form der Zusammensetzung von Körpern durch mechanische Verknüpfung wird für Leibniz die bloße Phänomenalität der körperlichen Welt beschrieben, die in seinen Augen ihre Wirklichkeit allein in einem Fundament haben könne, das einem einzelnen Körper so zukommt, daß er nicht nur Teil eines größeren Körpers ist und deshalb seine eigenen Teilkörper einheitlich zu organisieren vermag. Körper, die in dieser Weise als Monaden bestimmt sind, stehen dann nicht auf einer Ebene mit Körpern als bloßen Phänomenen, deren Verknüpfung untereinander sich mechanisch erklären läßt. Die mechanische Erklärungsweise erkennt Leibniz, in Übereinstimmung mit der neuen Naturwissenschaft, durchaus an, doch behauptet er, daß sie das, was das Sein eines Körpers ausmacht, nicht zu erklären vermag, auf das sie sich aber unausgesprochen stützen muß, wenn sie eine Theorie der Veränderungen einzelner Körper geben will. Dieses Gefälle zwischen der Intelligibilität und der Phänomenalität eines Körpers eröffnet freilich ein anderes Problem. Es führt nämlich dazu, daß der Bezug eines monadisch verfaßten Körpers auf andere Körper, sofern diese nicht nur dessen perzipierte Phänomene sind, sondern selber Monaden kraft eines ihnen zukommenden internen Prinzips, nicht aus dem, was einer Monade eigentümlich ist, ihrem je eigentümlichen Streben und den daraus resultierenden derivativen Tätigkeiten, verständlich gemacht werden kann. Leibniz muß sich für die Theorie der Relation der Monaden untereinander auf eine Verfaßtheit ihres Strebens berufen, die so »eingerichtet« ist, daß sie mit dem Streben der anderen Monaden harmoniert. Für diese, wie er sagt »bewundernswerte« Leibniz als Kritiker Spinozas  |  335

Einrichtung muß er die Macht eines welttranszendenten Gottes in Anspruch nehmen, deren Wirksamkeit, weil sie den Dingen trans­ zendent ist, in Spinozas Augen ebendeshalb aus der Perspektive eines endlichen Modus nicht rational nachvollzogen werden kann. So kann Leibniz einerseits zwar eine rationale Bestimmung des Verhältnisses des Geistes zum Körper geben, indem er die spinozanische Gleichursprünglichkeit der beiden Glieder auflöst und den bloßen Körper zu einem Phänomen herabstuft, das seine Realität allein aus dem Geist hat, der den Körper perzipiert und darin zu einer Einheit bringt, die dessen Wirklichkeit ausmacht. Während er eine solche im Vorstellen gegründete Relation aus dem faktischen Perzipieren einer singulären Monade verständlich machen kann, kann er andererseits jedoch nicht das Verhältnis der singulären Geister untereinander, aus der Perspektive einer einzelnen Monade und damit aus dem, was diese faktisch perzipiert, verständlich machen. Das tradierte Problem eines Bezuges in sich abgeschlossener Glieder, zwischen denen keine Kausalrelation besteht, ist nicht mehr ein Problem des Verhältnisses von Geist und Körper, sondern hat sich in die Sphäre bloß des Geistes verlagert, in die Sphäre von monadisch Seiendem, in der die vielen singulären Monaden nicht untereinander agieren, sondern ursprünglich schon miteinander harmonieren. Das Prinzip dieser Harmonie, Gott, ist dann konsequenterweise zugleich das Prinzip der Unvergänglichkeit der Monaden, so daß ihr conatus nicht als Tendenz auf eine erst zu realisierende Selbsterhaltung gefaßt werden muß. Die Unvergänglichkeit kommt den Individuen, anders als bei Spinoza, dann unabhängig davon zu, in welcher Weise sie ihren conatus zu verwirklichen vermögen, und damit unabhängig davon, wie sie sich selbst verstehen. Die Theorie der Bedingungen, unter denen ein Modus sich tatsächlich erhält, ein Zentralstück seiner Philosophie, entwickelt Spinoza allerdings nicht im Rückgriff auf die von Leibniz kritisierte Physik, sondern im Rückgriff auf eine Theorie des menschlichen Geistes und die in ihm verankerte Form des adäquaten Erkennens. Insofern scheint die Kritik der cartesischen Physik Spinoza nicht zentral zu treffen. Weil Spinoza, anders als Leibniz, das Geistige von allem Körperlichen, das seiner Konzeption zufolge allein unter dem Attribut der Ausdehnung steht, fernhält, bestimmt er das Sein 336  |  III. Bezüge 

eines Körpers auch nur aus der Relation zu anderen Körpern und damit über eine dem einzelnen Körper äußere Beziehung. Zwar kommt jedem Körper als ontologische Grundbestimmung das essentielle Merkmal des conatus zu, in dem ein Ding strebend auf sich selbst bezogen ist, doch hat dieses Merkmal für ein Ding bloß körperlichen Charakters keine Bedeutung, weil es ihm gleichsam blind folgt, ohne je die eigene Essenz begreifen zu können. Das ist der Grund, daß es sich faktisch gar nicht erhalten kann, sondern nur in einem Geflecht von Körpern existiert, in dem eine das eigene Sein konstituierende eigene Aktivität nicht zur Geltung kommt. Insofern garantiert das bloße Streben nach Selbsterhaltung, das jedem Individuum eigen ist und darin Ausdruck einer ursprünglichen Aktivität ist, nicht den Bestand dessen, der da strebt, mag es auch eine essentielle Bestimmung sein, die jedem Individuum als Modus der einen Substanz von Ewigkeit her zukommt. Spinoza zeigt, daß nur eine bestimmte Weise des Strebens dies garantiert, nämlich diejenige, die durch Wissen gekennzeichnet ist und zwar so, daß dieses Wissen nicht nur reflexiv auf ein von ihm verschiedenes Streben gerichtet ist, sondern daß in ihm das Individuum sein eigenes Streben selbst als Wissen begreift.11 Die sich selbst erhaltende Individualität ist deshalb an eine bestimmte Vollzugsform nicht des Körpers, sondern des menschlichen Geistes (mens humana) gebunden. Doch unterliegt auch Spinozas Theorie des Geistes der Kritik von Leibniz, weil sie für ihn durch dieselben Mängel belastet ist, die die kritisierte Körper-Theorie kennzeichnen. Sie lassen Spinoza, so meint Leibniz, nicht die Theorie eines individuellen Geistes geben, der so verfaßt ist, daß er sich als Einheit einer Mannigfaltigkeit erweist, die auf der Ebene des Denkens die Mannigfaltigkeit von Gedanken ist. Spinoza, so lautet der Vorwurf, könne nicht zeigen, daß Gedanken, die einem singulärem Geist zugesprochen werden, auch durch diesen Geist bestimmt sind und nicht nur durch Gedanken eines anderen Geistes, zu denen sie in bloß äußerer Beziehung stehen. Wie in Spinozas Theorie der einzelne Körper durch das gött­ liche Attribut Ausdehnung (Extensio) und den aus ihm unmittel11 

Vgl. hierzu meine Abhandlung: Spinozas Theorie des Menschen. Hamburg 1992. Leibniz als Kritiker Spinozas  |  337

bar folgenden unendlichen Modus Bewegung und Ruhe bestimmt ist, so ist der einzelne Geist durch das göttliche Attribut Denken (Cogitatio) und den unmittelbar aus ihm folgenden unendlichen Modus unendlicher Verstand (intellectus infinitus) bestimmt. In ihrem Feld jeweils einen singulären endlichen Modus bestimmend, sind die Attribute doch nicht auf diesen eingeschränkt, sondern erfüllen sich in unendlich vielen anderen endlichen Modi, so daß im Feld des Geistigen, analog zu dem, was im Feld des Körperlichen statthat, ein endlicher Geist zu einem bloßen Teil, hier des unendlichen Verstandes, wird, der als Teil sein Sein darin hat, durch andere Teile eben dieses Verstandes bestimmt zu sein. Kann Leibniz zufolge aus einer solchen Relationalität in der Sphäre der Körper der Bestand eines Körpers nicht verständlich gemacht werden, so kann gleichermaßen aus ihr in der Sphäre des Geistes nicht die Eigentümlichkeit des Geistes, Gedanken als seine Gedanken zu haben, verständlich werden. »Daß ich durch die Ideen eines anderen denke«, ist ein unbegreiflicher Tatbestand, heißt es im Discours de métaphysique (5 29), dort gewendet gegen eine (auch spinozistische) Konzeption, der zufolge unsere Ideen in Gott und überhaupt nicht in uns seien. Wäre dem so, könnte nämlich nicht verständlich werden, daß es unsere Ideen sind, die das nur sind, wenn wir, also dieser und jener Geist, sie tätig bilden. Hierfür muß der Geist etwas aus sich heraus tun (agere), so daß er nicht nur in einem anderen sein kann, auch nicht in Gott in dessen Modifikation zu einem unendlichen Verstand. »Darin besteht die wahre Natur dessen, der spontan ist, daß er selbst ein Prinzip ist, das nicht von außen kommt. In jedem Geist ist deshalb irgendeine Freiheit; und wirkt Gott bei der Tätigkeit des Geistes mit, dann nicht, um die ursprüngliche Tätigkeit des Geistes (primum actum mentis) zu konstituieren, sonst würde nämlich nicht der Geist tätig sein (alioqui non Mens ageret), sondern allein Gott selbst« (Textes inédits, hrsg. v. G. Grua, Paris 1948, 301). Spinoza habe jedoch die Spontaneität Gottes, der wesentlich potentia ist, mit seiner Theorie der immanenten Kausalität so in die Modi eingehen lassen, daß demgegenüber von einer einem endlichen Modus eigenen Spontaneität nicht mehr gesprochen werden kann. Im Feld des Geistes zeige sich das insbesondere darin, daß Spinoza den singulären Geist mit dem, was Gott produziert, identifiziert, nämlich unter 338  |  III. Bezüge 

dem Attribut Denken mit der Idee, die, nicht anders als der Körper, Spinoza zufolge ein Seiendes ist und nicht etwas, das wir bilden. Wird der menschliche Geist als Produkt der göttlichen Substanz unter dem Attribut Denken gefaßt, die in ein und demselben Akt unter dem Attribut Ausdehnung Modi von der Verfaßtheit des Körpers produziert, dann ist der menschliche Geist so konzipiert, daß seine primäre Bestimmung ist, auf seinen Körper im Sinne einer abbildenden Repräsentation bezogen zu sein. Insofern ist der menschliche Geist ursprünglich (primum) die Idee von etwas (Eth. II, prop. 11), als die er die Ereignisse dessen, wovon er Idee ist, abbildet (II, prop. 12). Hierzu notiert Leibniz in seinem frühen Kommentar zu Spinozas Ethik, den Unterschied zwischen Geist und Ideen betonend, kritisch: »Nicht Ideen handeln. Der Geist handelt« (PS I, 150). Das ist zugleich eine Kritik an der weitergehenden Bestimmung, mit der Spinoza mit der als idea bestimmten mens eine Vielfalt von Ideen zu begründen versucht, die offensichtlich ein phänomenaler Tatbestand ist, der der Erklärung bedarf; denn der menschliche Geist denkt dieses und jenes. Eine solche Vielheit vermag Spinoza in der Tat nicht aus einer Theorie des Geistes zu gewinnen; auf sie schließt er vielmehr gemäß seiner Parallelismus-Theorie der Attribute aus einer Physik des menschlichen Körpers, die er, um eine Theorie des Geistes überhaupt in Gang bringen zu können, in Eth.  II hinter Lehrsatz 13 einschiebt. Diese Physik, befangen in einem cartesischen Korpuskularmechanismus, macht in einer Abfolge nicht beweisfähiger Postulate die Komplexität des mensch­ lichen Körpers nach den Momenten vorstellig, daß er erstens sich intern aus sehr vielen in sich verschiedenen Elementen, von Spinoza Individuen genannt, zusammensetzt, daß er zweitens zur eigenen Erhaltung äußerer Körper bedarf, von denen er in vielfacher Weise affiziert wird, und daß er drittens seinerseits diese Körper in vielfacher Weise zu affizieren vermag. Aus dieser Beschaffenheit des menschlichen Körpers schließt Spinoza auf die spezifische Verfassung des menschlichen Geistes: daß er fähig ist, sehr vieles wahrzunehmen und zwar entsprechend der je unterschiedlichen Verfaßtheit seines Körpers (Lehrs. 14), und daß die Idee, die er ist (»quae esse formale humanae mentis constituit«), nicht einfach, sondern komplex (»ex plurimis ideis composita«) ist (Lehrs. 15). Leibniz als Kritiker Spinozas  |  339

Hierzu konstatiert Leibniz in seinem Ethik-Kommentar: »Also ist auch der menschliche Geist ein Aggregat vieler Geister« (PS I, 151). So konzipiert, ist der menschliche Geist, nicht anders als der Körper, ein aus Geistern sich zusammensetzender Haufen, der einer wahren Einheit entbehrt und der deshalb nicht ersichtlich macht, wie der Geist eine Vielheit von Ideen als seine haben kann. Hierfür müßte er Prinzip der Einheit dieser Ideen sein, als das er von ihnen verschieden sein muß und nicht in einer bloßen Ansammlung von Ideen bestehen kann. Nun schließt Spinoza aus der so beschriebenen Verfaßtheit des menschlichen Geistes als eines Komplexes von Ideen, die zu unendlich vielen anderen Ideen in Relation stehen, lediglich auf die Form eines inadäquaten Erkennens, in der der Mensch von außen bestimmt ist und darin wesentlich leidet. Und in ihr ist, wie Spinoza im Anschluß daran zeigen wird, die den Menschen entscheidend bestimmende Affektivität, die ihn unfrei sein läßt, gegründet. Die inadäquate Erkenntnis ist eine Verknüpfung von Ideen gemäß der Kontingenz der individuellen körperlichen Verfassung und der Zufälligkeit der Eindrücke, die der Mensch im Umkreis seiner Lebenswelt erlangt und assoziativ verarbeitet. Zwar sind alle diese Ideen, wie inadäquat und perspektivisch getrübt sie auch sein mögen, an sich wahr, weil sie, verbürgt durch den attributiven Parallelismus der Substanz, mit ihren Gegenständen immer schon übereinstimmen. Und der intellectus infinitus erkennt in jeder Idee deren durchgängige Verflechtung mit allen anderen Ideen, die der Verflechtung im Affektionsgefüge der Körper genau entspricht. Aber für den menschlichen Geist stellt sich der Sachverhalt anders dar, der, den zufälligen Eindrücken seines Körpers folgend, von außen bestimmt bleibt. In Wahrheit sind die Körperliches abbildenden Ideen überhaupt nicht seine Ideen, weil er sie, ganz wie Leibniz interpretiert, nicht selbst bildet. Doch ist das nicht alles, was Spinoza zum Status des menschlichen Geistes sagt. Denn der Mensch hat nicht nur eine inadäquate Erkenntnis, sondern kann auch eine adäquate haben, und in ihr, Spinoza sagt es ausdrücklich, bildet er Ideen dergestalt, daß er dort eine Aktivität des von-sich-aus-Tätigseins entfaltet, in der er, anders als beim inadäquaten Erkennen, nicht von außen bestimmt ist (vgl. Eth. II, prop 29, schol.). Spinoza definiert die Idee, gegenläufig 340  |  III. Bezüge 

zur Beschreibung des menschlichen Geistes als einer einen Ideen­ komplex darstellenden Idee, sogar als einen Begriff (conceptus) des Geistes, den dieser bildet (format), weil er ein Seiendes ist, das denkt (Eth. II, def. 3); und erläuternd fügt Spinoza dieser Definition hinzu, daß er damit, im Unterschied zum Tatbestand eines durch das Objekt bedingten Leidens des Geistes, eine Aktivität des Geistes zum Ausdruck bringen will, die von der körperlichen Welt als dem Objekt der Idee insoweit unabhängig ist, als die Idee nicht nur dasjenige repräsentiert, was sich dort gemäß der physikalischen Gesetze von Bewegung und Ruhe ereignet. Die adäquate Idee wird ausdrücklich über Merkmale definiert, die einer Idee intern sind und nicht den bloß äußeren Bezug der Übereinstimmung von Idee und Gegenstand betreffen (Eth. II, def. 4). Die bloße Übereinstimmung ist ein ontologisches Merkmal, das jede Idee wahr sein läßt; durch die attributive Verfaßtheit der Substanz immer schon gewährleistet, ist sie unabhängig davon, ob der menschliche Geist tätig ist oder leidend, d. h. ob er adäquat oder inadäquat erkennt. Ideen zu bilden, heißt für Spinoza allerdings nicht, daß der Geist sie hervorbringt, sondern daß er sie, die unabhängig von seiner Tätigkeit sind, begreift, was dadurch geschieht, daß er sie auf ihre wahre Ursache zurückführt, die weder eine andere Idee, noch gar der vorgestellte Körper, sondern allein die göttliche Substanz ist. Im adäquaten Erkennen hat der Mensch die Ideen nicht als Repräsentanten von Körperlichem, obschon sie das immer auch sind, und nicht als stehend in einem universellen Gefüge von unendlich vielen Ideen, obschon sie immer auch darin stehen; er hat sie in ihrem spezifischen Status, Modi der einen Substanz zu sein, was dann der Fall ist, wenn er sie aus ihrer Ursache begreift; und in diesem Begreifen hat er Ideen als seine Ideen. Die Möglichkeit einer solchen Erkenntnis gründet in der Ontologie der einen Substanz, nämlich in der Theorie der immanenten Kausalität, derzufolge die produzierende Substanz in ihren Produkten ist und deshalb aus diesen begriffen werden kann. Soll sie vom endlichen menschlichen Geist aus diesem selbst begriffen werden können, müßte er eine Einheit sein, die nicht erst aus der Zusammensetzung seiner Teile resultiert, sondern als deren Prinzip ihr vorausgeht. Für Spinoza ist der menschliche Geist als Prinzip seiner Gedanken dann eine solche Einheit, wenn sich von ihm Leibniz als Kritiker Spinozas  |  341

sagen läßt, daß die Gedanken aus ihm selbst folgen. Und das ist der Fall, wenn sie nicht eine Abbildung der Verknüpfung der Körper in deren zeitlichem Sichäußern sind, sondern Ewiges zu ihrem ausdrücklichen Gegenstand haben, wenn der Geist also, wie die bekannt gewordene Formel lautet, sub specie aeternitatis erkennt. Die Objekte, die er erkennt, sind dann nicht zufällig auftretende zeitliche Ereignisse, sondern Dinge, die aus der Notwendigkeit Gottes folgen und darin etwas Ewiges enthalten. Als ontologische Grundbestimmung ist das Moment des Ewigen unabhängig von Erkenntnisakten des Geistes. Es zu erkennen und darin sich selbst in seinem in die Zeit fallenden conatus von ihm her zu verstehen, hat aber eine spezifische Leistung des menschlichen Geistes zur Voraussetzung. An sie bindet Spinoza die Theorie menschlicher Freiheit (Eth. V: »De potentia intellectus seu de libertate humana«), die nicht nur als eine Affirmation dessen, was ohnehin und von Ewigkeit her ist, zu verstehen ist, sondern auch als eine Befreiung von einem unzureichenden Selbstverständnis, das durch das Befangensein im affektiven Leben getrübt ist. Diese Befreiung durch das Erkennen hat ihrerseits im Affekt der Liebe eine emotionale Komponente, welche die im Erkennen gelegene Veränderung des menschlichen Bewußtseins und des daran gebundenen menschlichen Weltverhaltens zum Ausdruck bringt.12 Mit dem Aufweis einer in allen Erkenntnisformen sich durchhaltenden Verknüpfung von Erkennen und Affektivität vermag Spinoza jedoch keine überzeugende Verknüpfung zwischen der Erkenntnis sub specie aeternitatis und derjenigen sub specie temporis herzustellen, weil er nicht zu zeigen vermag, wie jene aus dieser erwächst. Die zwei Weisen menschlichen Sichverstehens stehen unverbunden nebeneinander, so daß der Wechsel von der einen in die andere, markiert in Eth. V, prop. 20, schol., als ein unerklärbarer Sprung erscheinen muß, in dem der Mensch sich von derjenigen Erkenntnis löst, die er als welthaft existierendes Wesen, als der er ja gerade auf vernünftige Weltorientierung allererst aus ist, zunächst hat. Es liegt nahe anzunehmen, daß Leibniz deshalb den Verdacht hat, der menschliche Geist habe für Spinoza eine adäquate Erkenntnis nur, weil er an einem unendlichen Verstand 12 

Vgl. hierzu meine in Anm. 11 zitierte Abhandlung.

342  |  III. Bezüge 

partizipiert, der nichts als Ewiges erkennt und darin vom menschlichen Geist in dessen Zeitlichkeit gänzlich verschieden ist. Und es ist die Frage, ob er dann überhaupt ein individueller Verstand ist, in dem ein Individuum Gedanken hat, die ihm in seiner Zeitlichkeit eigen sind.13 Wird bei Spinoza der Raum, als Attribut Gottes, substanzialisiert und bleibt die Zeit, die er als bloßes ens rationis auffaßt (Ep. 12), gegenüber der Sphäre ewiger Strukturen eigentümlich unthematisch, so haben für Leibniz Raum und Zeit gleichermaßen nur phänomenalen Charakter. Das in diesen Formen sich Ereignende, das ontologisch nichtig ist, steht gleichwohl im Zentrum der Philosophie von Leibniz, insofern es dieser um eine Begründung des Phänomenalen geht. In diesem Bereich präsentiert sich ein reales Auseinander und Nacheinander von Dingen, das nicht zu leugnen ist, von dem aber zu zeigen ist, daß es seine Realität nicht aus den Formen von Raum und Zeit hat, sondern aus einem davon verschiedenen Fundament substanzieller Art. Dieses Fundament muß für Leibniz in sich mannigfach gegliedert sein, um Fundament eines von der Substanzialität Verschiedenen sein zu können. Leibniz gelangt über diese Form der Begründung zu einer Vielheit substanzieller Monaden, deren realer Unterschied aus dem je unterschiedlichen Bezug auf die Phänomene, die sie einheitlich zusammenfassen, resultiert. Für den Erweis einer so verstandenen Vielheit von Monaden greift Leibniz den Begriff des conatus auf, der auch bei Spinoza die Essenz eines wirklich und das heißt zeitlich existierenden individuellen Dinges ist, und verbindet mit ihm, um den substanziellen Charakter von Individuellem zu erweisen, anders als Spinoza, eine dem strebenden und damit endlichen Ding selbst zukommende Totalität, die kein Außerhalb zuläßt, etwas, dem seit Spinozas Kritik an Descartes (und natürlich auch an Aristoteles) der Begriff von Substanz offensichtlich genügen muß. Eine Vielheit individueller Substanzen ergibt sich daraus, daß jede Monade zwar intern auf die Totalität des Universums bezogen ist, in welchem Merkmal Monaden sich auch gar nicht unterscheiden, daß sie dies aber nur der Möglichkeit nach ist, während ihre Wirklichkeit, durch die Mo13  Vgl.

zu diesem Punkt aber W. Bartuschat: Unendlicher Verstand und menschliches Erkennen bei Spinoza [in diesem Band, S. 149 – 179]. Leibniz als Kritiker Spinozas  |  343

naden sich real unterscheiden, darin besteht, in ihrem Drang, sich zu entfalten, jeweils je bestimmte Bezüge der Welt verwirklicht zu haben. Damit nimmt Leibniz Spinozas Theorie einer universellen Verflechtung der Dinge so auf, daß er sie aus einem einzelnen Ding dieser Verflechtung verständlich zu machen sucht und nicht nur aus der Perspektive eines unendlichen Verstandes, der, selber nicht Teil des Geflechts, das Ganze von außen betrachtet, allerdings mit der Konsequenz, daß der universelle Bezug einer Monade auf die Dinge nur noch ein Bezug auf Erscheinungen ist, die in ihr wohl­ begründet (bene fundata) sind. Damit läßt Leibniz die von einem einzelnen Ding ausgehende Aktivität auf die tatsächlich erfahrbaren Weltbezüge sich erstrecken und schränkt sie nicht auf ewige Strukturen ein, die von einem Individuum nicht hervorgebracht werden. Zugleich kann die Monade als ein rein geistiges Prinzip verstanden werden, weil ihre Tätigkeiten nichts als Perzeptionen sind, denen nicht ein Körperliches als Ansichseiendes gegenübersteht, das von ihnen repräsentiert wird, ist für eine Monade alles Körperliche doch nichts als ein Perzipiertes. Appliziert auf die Geist-Monade (l’esprit), die im Unterschied zu einfachen Monaden Perzeptionen besonderer Art hat, kann so gezeigt werden, wie ein Individuum Gedanken hat, die seine Gedanken sind, weil sie einer Tätigkeit entspringen, die dem Individuum selbst eigen ist. Wie kann Leibniz dann überhaupt noch in einen SpinozismusVerdacht geraten? Offenbar ergibt er sich aus den Rahmenbedingungen seiner Theorie von Individualität, für deren Begründung Leibniz eine grundlegende Unterscheidung trifft, die, wie er meint, sich gegen Spinoza kehren läßt. Er unterscheidet zwischen ewigen Formen und tatsächlichen Ereignissen und weist für diese unterschiedlichen Sachverhalte auch verschiedene rationale Prinzipien aus. Das ist eine Attacke gegen Spinozas Ineinssetzung von ratio und causa, von logischem Grund und tatsächlicher Ursache. Leibnizens in zwei Prinzipien gegliederter Rationalismus unterscheidet demgegenüber zwischen der Notwendigkeit logischer Sätze und der dadurch bestimmten Sachverhalte, die dem Satz des Widerspruchs unterliegen, und der Zufälligkeit von Sätzen, die Tatsachenaussagen beinhalten, weil sie sich auf tatsächlich Existierendes beziehen, dessen Gegenteil anzunehmen nicht logisch widersprüchlich ist. Aber auch das Faktische unterliegt einem unbedingten Prinzip 344  |  III. Bezüge 

und wird darin einer rationalen Theorie zugänglich; Leibniz nennt es das Prinzip des zureichenden Grundes. Im Rückgriff auf es verbindet er, gegen Spinoza, mit dem Begriff Gottes ein Moment des Schöpferischen, demzufolge Gott die Welt nicht aus der bloßen Notwendigkeit seiner Natur hervorbringt, sondern kraft eines Willens, der aus möglichen im Verstand Gottes enthaltenen Welten die wirkliche Welt nach dem Prinzip des Besten auswählt. Diese gegen Spinoza gerichtete Theorie will ich hier nicht weiter verfolgen, weil sie im Zusammenhang einer Theorie von Individualität bestenfalls ein Prinzip nennt, das nur die allgemeine Struktur des Weltganzen betrifft, im Hinblick auf die jedes Einzelne seinen Beitrag leistet, mag es ihm selbst auch reichlich schlecht gehen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang vielmehr, daß Leibniz auch die individuelle Monade in bezug auf deren zeitliche Ereignisse so konzipiert, daß sie der zureichende Grund dieser Ereignisse ist. Diese Ereignisse sind in ihrer Tatsächlichkeit (Cäsars Überschreiten des Rubikon wird als Beispiel genannt) zufällig, weil sie keinem logischen Prinzip unterliegen, demzufolge das Eintreten ihres Gegenteils widersprüchlich wäre. Gleichwohl muß ihr tatsächliches Eintreten einem rationalen Grund unterliegen, soll behauptet werden können, daß diese Ereignisse einer Monade nicht äußerlich sind, und dieser Grund kann nur in der Verfaßtheit der Monade selbst liegen. Zureichender Grund ist die Monade unter der Bedingung, daß ihr konstitutives Element, das die Perzeptionen einheitlich zusammenfassende Streben, die Explikation eines in ihr schon Angelegten ist, das, sofern eine Monade Substanz ist, der Möglichkeit nach das Ganze des Universums sein muß. Diese dann teleologisch verstandene Selbstentfaltung der Monade unterliegt, was ihre Entfaltung anbelangt, einem strengen Determinismus. Denn das, was Leibniz gegen Spinoza einwendet, daß nämlich eine endliche Monade in der Weise tätig ist, daß sie überhaupt nichts von außen erleidet, ist die Konsequenz ihres, wie Leibniz es im Discours de métaphysique formuliert, vollständigen Begriffs (notion complète), in bezug auf den alle Ereignisse dieser Monade dessen Folge (suite) sind, weil er, und genau das macht seine Vollständigkeit aus, »schon sämtliche Prädikate oder Ereignisse enthält (enferme) und das Universum insgesamt ausdrückt« (§ 14; PS IV, 440). Dieses Folgen sämtlicher Ereignisse aus der potentiell die ToLeibniz als Kritiker Spinozas  |  345

talität einschließenden Monade kann hinsichtlich eines einzelnen Ereignisses nur so beschrieben werden, daß ein bestimmtes Ereignis aus einem anderen bestimmten Ereignis folgt, das ihm zeitlich vorausgeht. Das ist analog zu Spinozas These des Folgens einzelner endlicher Modi aus der unbedingten Substanz, aus der sie wegen deren Unendlichkeit nicht unmittelbar folgen können, sondern so, daß ein endlicher Modus aus einem anderen endlichen folgt und das in einer unendlichen Kette, die allein in ihrem Ensemble, als unendlicher Modus, aus der unendlichen Substanz unmittelbar folgt (vgl. Eth. I, prop. 28). »In der Tat«, so folgert Leibniz nach der Einführung des Begriffs eines die individuelle Substanz kennzeichnenden vollständigen Begriffs, »kann sich uns nichts außer Gedanken und Perzeptionen ereignen, und alle unsere künftigen Gedanken und Perzeptionen sind nichts als die – wenn auch zufälligen – Folgen unserer vorhergehenden Gedanken und Perzeptionen«. Impliziert ist darin des weiteren, daß dieser interne Zusammenhang phänomenaler Ereignisse sich nicht aus dem Blickpunkt eines einzelnen Ereignisses erschließt, sondern nur aus einer diesem Ereignis transzendenten Perspektive, »so daß«, so schließt Leibniz unmittelbar an die zitierte Stelle an, »wenn ich fähig wäre, alles, was mir in dieser Stunde widerfährt oder erscheint, deutlich zu betrachten, ich daraus all das ersehen könnte, was mir jemals widerfahren oder erscheinen wird«. Damit wird die Monade in dem, was ihre Substanzialität ausmacht, durch etwas bestimmt, was sie in ihrer Perspektive nicht sein kann. Nicht sie kann den Zusammenhang erkennen, sondern der unendliche Verstand tut es, der alles auf einmal übersieht und damit nicht in der zeitlichen Abfolge, in der die Monade Ereignisse aus sich heraus entfaltet. Beides ist aber Spinozismus: nicht nur der Determinismus in der Ereignisabfolge ist es, sondern auch die Bestimmung der Abfolge aus einer Perspektive, die die Vollständigkeit erfaßt und darin allem zeitlichen Nacheinander enthoben ist, die also Ewiges zum Gegenstand hat. Beides sind Momente eines strengen Rationalismus à la Spinoza. Sein Korrektiv durch die Schöpfungstheologie eines transzendenten Gottes, der zwischen möglichen Welten die wirkliche nach dem Prinzip des Besten auswählt, könnte demgegenüber als ein bloßes Additiv erscheinen, mit dem der Autor bloß vorgibt, den Anschein des Spinozismus ver346  |  III. Bezüge 

meiden zu können, und dies zudem mit Mitteln, die den strengen Rationalismus sprengen, weil jener transzendente Akt, als wie vernünftig er auch ausgegeben werden mag, vom endlichen Menschen nicht rational nachvollzogen werden kann. Was gegen diese Affinität zum Spinozismus bliebe, ist, die Monaden-Theorie so auszugestalten, daß die Theorie des singulären Geistes aus der Perspektive des Individuums und dessen Selbstverständnis entfaltet wird, denn niemand kann mit den Gedanken eines anderen denken. So könnte gezeigt werden, daß die Erfahrungen des endlichen Geistes nicht relativ auf das theoretische Vermögen eines unendlichen Verstandes sind, weil diese in ihrer spezifischen Endlichkeit gar nicht dessen Gegenstand sein können; und auch der Determinismus könnte eine andere Begründung erfahren, die nicht über den Rückgriff auf eine Theorie der Welt im Ganzen laufen müßte. Es ist reizvoll zu untersuchen, inwiefern sich Ansätze dazu bei Leibniz finden.14 Sie können als Versuche gedeutet werden, den Konsequenzen des Spinozismus zu entgehen, dessen Gefahr Leibniz darin gesehen hat, keinen Raum zu lassen für eine Tätigkeit, die einem Individuum selbst zukommt. Erst wenn die Bedingungen einer solchen Tätigkeit rational entwickelt werden, wäre es erlaubt, von einer wirklichen Freiheit des Menschen zu sprechen.

14 

In einem frühen Aufsatz (W. Bartuschat, Zum Problem der Auslegung bei Leibniz, in: R. Bubner et. al. (Hg.): Hermeneutik und Dialektik, Band 2, Tübingen 1970, 219–241) habe ich sie zu verfolgen gesucht. Leibniz als Kritiker Spinozas  |  347

Teleologie bei Spinoza im Hinblick auf Kant I.

»Der Spinozism leistet aber das nicht, was er will«, so urteilt Kant in §73 der »Kritik der Urteilskraft« bei seiner Kritik der mancherlei Systeme einer Zweckmäßigkeit der Natur. Er scheitere Kant zufolge, so wie die anderen Systeme auch, an einer mangelhaften Theorie des menschlichen Erkenntnisvermögens, relativ auf die nach Kant überhaupt nur sinnvoll von einer Zweckmäßigkeit der Natur gesprochen werden kann, die der Begriff einer reflektierenden Urteilskraft ist, die keine Aussagen über die objektive Beschaffenheit der Natur macht. Die Teleologie gehört nach Kant nicht zur Naturlehre, denn sie gehört nicht zur Doktrin, sondern nur zur Kritik (§ 79 und Vorrede zur K.d.U.); sie verschafft dem Menschen keine objektive Erkenntnis der Natur, sondern allein Aufklärung über sich selbst, nämlich über die ihm eigenen Vermögen in deren Verhältnis zueinander1. Dergestalt über sich selbst aufgeklärt, kann der Mensch auch seine natürlichen Kräfte als Mittel zur Erreichung eines vernünftigen Zwecks betrachten, welcher Zweck nicht selber Natur ist, sondern die in der reinen Vernunft gründende sittliche Autonomie (K.d.U., § 84). Durch sie weiß der Mensch sich im Ganzen seiner Anlagen allein dann bestimmt, wenn er auch seine Physis als auf sie zweckmäßig bezogen verstehen kann. Kulturtheorie, Geschichtsphilosophie und moralisch begründete Theologie 1 

Man verkennt den spezifischen Status der dritten Kritik, wenn man den Begriff von Zweck als eine die Erforschung der (lebendigen) Natur leitende regulative Idee versteht, deren Bedeutung für die Naturerkenntnis Kant im Anhang zur transzendentalen Dialektik der »Kritik der reinen Vernunft« (B 670 ff.) entwickelt hat. Vgl. meine Abhandlung: Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1972 und neuerdings J. Peter, Das transzendentale Prinzip der Urteilskraft. Eine Untersuchung zur Funktion und Struktur der reflektierenden Urteilskraft bei Kant, Berlin und New York 1992. Eine extrem doktrinale Lesart des 2. Teils der »Kritik der Urteilskraft« gibt R. Löw, Philosophie des Lebendigen, Frankfurt a.M. 1980. 348  |   

sind die dem theoretischen Wissen entzogenen Felder, in denen die Zweckmäßigkeit der Natur ihren Ort hat.2 Die teleologische Betrachtungsweise der Natur steht im Dienst einer vernünftigen Orien­tierung des Menschen in der Welt 3 , die ihm nicht möglich wäre, wenn er selber nur den Gesetzen eines Kausalmechanismus unterläge, der ihn durch Ursachen bestimmt sein läßt, die ihm ­äußerlich sind und ihn darin fremdbestimmen. Und genau dieser Gesichtspunkt ist es offenbar, der es Kant erlaubt, auch Spinoza in die Reihe derer einzuordnen, die sich um eine Theorie der Zweckmäßigkeit, wenn auch vergebens, bemüht haben4 . Kant formuliert es ausdrücklich, daß der Spinozismus die Zweckverbindung der Dinge der Natur nicht leugnet (in dem Satz, der auf das obige Zitat folgt), daß er jedoch mit seinem System hierfür keinen Erklärungsgrund bereitstellen könne. Das scheint auf den ersten Blick eine merkwürdige Interpretation des Spinoza zu sein, gilt doch dieser als einer der schärfsten Kritiker der Teleologie5. Insbesondere der appendix zu Ethik I enthält diese Kritik, auf die man sich auch zu berufen pflegt, wenn man Spinoza als AntiTeleologen ins Feld führt. »Um zu zeigen«, so heißt es dort lapidar, »daß die Natur sich keinen Zweck vorausgesetzt hat und daß alle Zweckursachen nichts weiter sind als menschliche Einbildungen, bedarf es nur weniger Worte«. Der Satz scheint jegliche Teleo­logie zurückzuweisen, sagt er doch, daß alle Zweckursachen (causae finales) nichts als menschliche Einbildungen sind, also bloße Vorstellungen, denen nichts Wirkliches korrespondiert. Aber es ist zu beachten, daß der Satz in einem polemischen Zusammenhang steht, in dem sich Spinoza nicht mit anderen Theorien kritisch 2 

Vgl. meinen Aufsatz: Kultur als Verbindung von Natur und Sittlichkeit, in: H. Brackert und F. Wefelmeyer (Hg.), Naturplan und Verfallskritik, Frankfurt a.M. 1984, 69–93. 3  Vgl. K. Düsing, Die Teleologie in Kants Weltbegriff, 2. Auflage, Bonn 1986. 4  Unter dem Aspekt der Teleologie hat bislang, soweit ich sehe, allein R. Wiehl, Sackgasse oder Weg? Zur Auseinandersetzung Kants mit Spinoza, in: M. Walther (Hg.): Spinoza und der Deutsche Idealismus, Würzburg 1992, 15–41 Kant und Spinoza systematisch in Beziehung gesetzt. G. De Flaviis, Kant e Spinoza, Florenz 1986 behandelt diesen Aspekt nur am Rande (Kap. IV). 5  Vgl. J. Bennett, A Study of Spinoza’s Ethics, Indianapolis 1984. Teleologie bei Spinoza im Hinblick auf Kant  |  349

auseinandersetzt, sondern mit einem elementaren menschlichen Tatbestand, daß der Mensch nämlich Vorurteilen erliegt. Zu ihnen gehört ganz wesentlich die Vorstellung von Zweckmäßigkeit, und zwar so sehr, daß sich sogar die Vielfalt menschlicher Vorurteile, so heißt es in diesem Zusammenhang, auf das eine zurückführen lasse, »daß nämlich die Menschen gemeiniglich annehmen, alle natürlichen Dinge handelten (»agere«), 6 wie sie selber, um eines Zweckes willen, und sogar als gewiß behaupten, daß Gott selbst alles auf irgendeinen bestimmten Zweck hinleite.« Allein dieses Zitat macht deutlich, daß Kant recht hat mit seiner Behauptung, daß Spinoza die Zweckverknüpfung nicht leugne, sagt Spinoza hier doch ausdrücklich, daß die Menschen um eines Zweckes willen handeln. Was Spinoza als Vorurteil kritisiert, ist ein bestimmtes menschliches Selbstverständnis, das mit diesem Tat­ bestand verbunden ist. Es ist die Übertragung ihres Orientiertseins an einem Zweck auf die Dinge der Natur, wobei Spinozas Kritik ihre Stoßrichtung darin hat, daß in diesem Selbstverständnis die nichthumanen Dinge als auf den Menschen zweckmäßig bezogen vorgestellt werden, insofern sie als solche vorgestellt werden, die in ihm ihren Zweck haben, im Hinblick auf den sie sich äußern. Das mit der Zweckorientierung verbundene falsche Selbstverständnis richtet sich auch, wie Spinoza weiter unten im appendix darlegt, auf die Mitmenschen, deren Sein, nicht anders als das der nichthumanen Dinge, in ihm deformiert wird, sofern Menschen in dem ihnen je eigenen Agieren auf einen Zweck hin betrachtet werden, der diesem Agieren äußerlich ist. Befangen in einem solchen Verständnis von Zweck, beurteile ein Individuum die anderen Menschen in deren Sinnesweise nach der eigenen Sinnesweise, sobald es in deren Äußerungen keine Anhaltspunkte dafür findet, daß sie mit den eigenen Zweckvorstellungen übereinkommen. Darin bezieht ein Mensch die anderen gewaltsam auf sich selbst hin, und genau da, wo ein solcher Gewaltakt scheitert, weil sich die Dinge in ihrem natürlichen Sein, und hier insbesondere die nichthumanen Dinge, von sich aus einem solchen Zweckbezug sperren, setzen die Menschen, geleitet von einem falschen Verständnis dessen, was 6 

»agere« ist bei Spinoza ein weitgefaßter Terminus, der all das umfaßt, was ein Ding kraft seiner Natur an Wirkungen hervorbringt. 350  |  III. Bezüge 

Zweck ist, die transzendente Instanz Gott ein, der sie unterstellen, sie leite alles auf einen bestimmten Zweck hin, als den sie letztlich sich selbst verstehen. So sind es die Übertragung eines Begriffs von Zweck, nach dem die Menschen handeln, auf das Sein der Dinge und die damit verbundenen ontologischen Behauptungen, die der Kritik Spinozas unterliegen. Diese Kritik stützt sich auf zwei Punkte: 1. Die Natur gibt sich keinen Zweck vor; 2. Ein Zweck hat nicht den Charakter einer Ursache. Beide Gesichtspunkte hat Spinoza in Ethik I über eine Analyse der Struktur Gottes entwickelt, aus der er das gewonnen hat, was unter Natur und was unter Ursache zu verstehen ist. Und jener Satz des appendix, daß die Zurückweisung der Teleologie nur weniger Worte bedarf, hat seine Plausibilität darin, daß der Teil der »Ethik«, dem dieser appendix beigefügt ist, ebendies erwiesen hat. Und dieser Teil handelt von Gott und überhaupt nicht vom Menschen. Vom Menschen aber behauptet Spinoza, und zwar gerade im Rahmen einer Kritik der Teleologie, daß er nach Zwecken handelt. Vorurteile haben die Menschen hinsichtlich dessen, was denn der Zweck ist, um dessentwillen sie handeln; aber dies, daß sie um eines Zweckes willen handeln, ist nicht ein Vorurteil, sondern eine Wirklichkeit, die Spinoza keineswegs leugnet. Und insofern enthält der appendix zu Ethik I nicht die Zurückweisung jeglicher Form von Teleologie7. Allerdings stellt sich die Frage, wie dieses menschliche Reservat einer Zweckorientierung mit der allgemeinen Bestimmung der Natur, nicht auf Zwecke bezogen zu sein, verträglich ist, gehört doch der Mensch, Grundthese der Philosophie Spinozas, zu dieser Natur als deren Teil. Nun gilt zunächst, daß die Natur, die sich keine Zwecke setzt, die natura naturans ist, die mit Gott identisch ist. Gott handelt nicht umwillen von etwas, weil seine Natur selber Handeln ist, eine hervorbringende Macht (potentia), die sich in den hervorgebrachten Dingen erfüllt, nicht geleitet von einem schöpferischen Intellekt, der zwischen möglichen Welten wählen könnte und der das göttliche Wesen der tatsächlichen Welt transzendent sein ließe. 7  Curley,

On Bennett’s Spinoza. The Issue of Teleology, in: E. Curley und P.-F. Moreau (Hg.), Spinoza. Issues and Directions, Leiden 1990, 39–52, hat das zu Recht gegen Bennett hervorgehoben. Teleologie bei Spinoza im Hinblick auf Kant  |  351

Doch ist mit diesem Konzept einer immanenten Kausalität Gottes gerade die These verbunden, daß auch die hervorgebrachten Dinge der natura naturata allein durch die Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt sind, so daß es unmöglich zu sein scheint, daß ihnen Prädikate zukommen, die mit dieser Natur unverträglich sind. Und deshalb, so Kant, muß der Spinozismus scheitern, denn er könne mit seinem Prinzip der einen Substanz nicht dasjenige erklären, das er doch zugesteht, den mit menschlichem Handeln verbundenen Begriff einer Zweckorientierung. Dinge können nämlich über den spinozanischen Begriff einer göttlichen Produktivität gerade nicht als Produkte begriffen werden. Sie werden, so Kants konventionelle Deutung (K.d.U., § 73), zu inhärierenden Akzidenzien eines Urwesens, dessen Einheit in bezug auf die Dinge nicht Zweckeinheit sein könne, weil sie der Absichtlichkeit entbehre und damit keinen Grund einer Zufälligkeit hergebe, die Bedingung dafür ist, daß sich ein Ding eigens an etwas orientiert, durch das es nicht immer schon mit Notwendigkeit bestimmt ist. Eine andere Möglichkeit, den Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur zu retten, die Kant in diesem Zusammenhang (also bei der Erörterung des Spinozismus) erwägt, aber als »ein kindisches Spielwerk mit Worten statt Begriffen« verwirft, ist die, diesen Begriff an die Vollkommenheit eines Dinges in Beziehung auf das eigene Wesen zu binden. Das hieße, daß alle Dinge als Zwecke gedacht werden müssen, und das ist für Kant kindische Spielerei, denn wenn »ein Ding sein und Zweck sein einerlei ist, so gibt es im Grunde nichts, was besonders als Zweck vorgestellt zu werden verdiente« (§ 73). Was Kant hier im Blick hat, trifft durchaus Spinoza, wenn auch nicht differenziert genug. Denn Spinoza universalisiert einerseits den Zweckbegriff, indem er ihn zu einer einem jeden Ding immanenten Bestimmung macht, und spezifiziert ihn andererseits in bezug auf bestimmte Dinge, nämlich den Menschen, in bezug worauf er eine besondere Bedeutung hat, die ihn von dem Verdacht befreit, eine ganz leere Bestimmung zu sein. Obwohl Zwecksein nicht das Privileg einiger Dinge ist, etwa der Menschen, thematisiert Spinoza den Begriff des Zwecks nur in dem Zusammenhang menschlichen Handelns, in dem er eine besondere Bedeutung erhält, wenn auch auf dem Hintergrund dessen, daß der Zweck mit dem Wesen eines Dinges zusammenfällt. Diesen Zusammenhang 352  |  III. Bezüge 

möchte ich jetzt darlegen, um zu sehen, inwieweit Kants Kritik auch unter seiner Berücksichtigung Spinoza trifft.

II.

Spinoza definiert, im 4. Teil der »Ethik« (def. 7), den Zweck (finis), unter dem menschliches Handeln steht, als Trieb (appetitus), und Trieb hat Spinoza zuvor, im 3. Teil, als die Essenz des Menschen bestimmt, aus dessen Natur dasjenige mit Notwendigkeit folgt, was im Dienst der eigenen Selbsterhaltung steht (»quae ipsius conservationi inserviunt«, III, prop. 9, schol.). Der Zweck fällt demzufolge mit dem conatus perseverandi zusammen, der eine universelle ontologische Bestimmung ist und jedem Seienden als dessen wesentliches Merkmal zukommt (III, prop. 6 und 7). Inwiefern hat es nun Sinn, dann überhaupt noch von Zweck in einer spezifischen Bedeutung zu sprechen? Ausgeschlossen ist, daß der Zweck irgend etwas sein könnte, das dem conatus, also dem Streben eines Individuums, transzendent ist, ein Ziel, in dem das Streben seine Erfüllung finden könnte; in diesem Falle wäre das Streben ein bloßes Mittel, mit dem ein Seiendes etwas von dem Streben noch Verschiedenes zu erreichen suchte. Ist das Streben die wesentliche Eigenschaft eines Individuums, dann muß es grundsätzlich auf das Individuum rückbezogen sein und zwar auf es in dessen Charakter, wesentlich Streben zu sein. Das, was es da zu erhalten gilt, ist deshalb auch nicht ein Sein, das schon besteht; es ist nicht etwas, das ohnehin ist 8 . Zu erhalten ist vielmehr das das Sein eines Individuums aus8 

R. Spaemanns und R. Löws (Die Frage Wozu?, München 1981) dahingehende Interpretation (108) verkennt die Grundstruktur des conatus perseve­ randi. Der Begriff einer Inversion der Teleologie (vgl. Spae­mann, Reflexion und Spontaneität. Studien zu Fénélon, Stuttgart 1963) kann sich, soll Spinoza damit beschrieben werden, nicht auf diesen Bezug beziehen, wohl aber auf den Tatbestand, daß das Telos des Strebens dem Streben immanent ist. Daß Streben nach Selbsterhaltung nicht bedeutet, dasjenige, das schon ist, zu erhalten, hat Harris, Salvation from Despair. A Reappraisal of Spinoza’s Philosophy, Den Haag 1973, deutlich hervorgehoben (vgl. 254). Harris hat, energischer als irgendein anderer, Spinozas System unter dem Aspekt der Teleologie interpretiert, indem er den dynamischen Charakter der Selbstentfaltung des Teleologie bei Spinoza im Hinblick auf Kant  |  353

machende Streben, das als dieses gerade nicht ein Bestehendes ist, sondern etwas, das sich im Lebensvollzug eines Individuums in der Relation zu dem, gegen das es sich richtet, erst herausbildet. Streben ist, das ist analytisch in seinem Begriff gelegen, Streben gegen etwas, gegen ein Äußeres, gegen das ein Individuum sich zu erhalten trachtet. Streben ist nicht ungehemmte Tätigkeit im Sinne einer Selbstentfaltung des eigenen Seins. Es ist deshalb auch kein Merkmal der göttlichen Substanz, von der Spinoza gezeigt hat, daß sie sich keine Zwecke setzt, weil sie allein aus der Notwendigkeit ihrer Natur heraus handelt. Es ist das Merkmal eines endlich Seienden, in Spinozas Terminologie eines Modus, der nicht durch sich selbst existiert und aus dessen Natur deshalb die ihn betreffenden Ereignisse allein nicht folgen. Der an das Streben gebundene Zweckbegriff hat deshalb seine Bedeutung im Feld der natura na­ turata, innerhalb der Welt also, die keineswegs mit Gott, der natura naturans, identisch ist, die vielmehr durch das reale Auseinandersein von Dingen gekennzeichnet ist, die in zeitlicher Erstreckung existieren und darin in einer Weise aufeinander wirken, in der ein Ding dem anderen äußerlich ist. Der Tatbestand einer solchen Äußer­lichkeit folgt überhaupt nicht aus Gott, er ist ein empirisches Faktum; nicht einmal die Vielheit endlicher Modi, die aufeinander wirken, folgt analytisch aus der bloßen Natur Gottes. Was aus Gott folgt, diese Vielheit vorausgesetzt, ist, daß jedes einzelne, Folge der immanenten Kausalität Gottes, Ausdruck dessen ist, was Gott wesentlich charakterisiert, nämlich Macht (poten­ tia) im Sinne einer Tätigkeit zu sein, durch die jedes einzelne essentiell bestimmt ist. Dieses essentielle Merkmal, die potentia, artikuliert sich bei endlichen Dingen angesichts des Tatbestands von Äußerem als conatus, als das strebende Angehen eines jeden Dinges gegen äußere Einflüsse, die gegen es gerichtet sind und die im Extremfall es zu vernichten drohen. Was dabei bedroht ist, ist die Entfaltung der eigenen Tätigkeit (potentia), so daß ein Ding, das dagegen sich selbst zu erhalten trachtet (»in suo esse perseverare individuellen conatus durch eine in ihr schon wirksame Ordnung des Weltganzen bestimmt sein läßt. Dieses Konzept von Teleologie ist wohl das, was man heute Teleonomie nennt, die mit dem Kausalmechanismus verträgliche Entwicklung auf ein Ziel hin, das für den, der sich entwickelt, nicht ein Ziel ist. 354  |  III. Bezüge 

conatur«), die ihm eigene Tätigkeit zu erhalten trachtet. Darin ist jedes Ding in seinem conatus auf sich selbst bezogen. Und diese Innerlichkeit eines auf sich selbst Gerichtetseins geht der Äußerlichkeit voran; sie kann durch diese nicht erklärt werden und damit auch nicht durch einen die äußeren Relationen bestimmenden Mechanismus kausaler Determinanten. In einem Gefüge kausaler Determination steht ein Ding nur, sofern ihm selber das Merkmal, von sich aus Ursache von etwas zu sein, zukommt; und dieses Merkmal hat es nicht aus jenem Gefüge, wenn es auch hinsichtlich der Reichweite seines conatus und damit hinsichtlich des Gelingens der intendierten Selbsterhaltung durch es bestimmt ist. Die Notwendigkeit, unter der ein einzelnes Ding steht, ist dessen Selbsterhaltungsstreben. Diese Form des Strebens ist notwendig, weil sie eine essentielle Bestimmung ist, die aus der Natur Gottes resultiert. Das hat die Konsequenz, daß alles Handeln eines Individuums der Notwendigkeit dieses Strebens unterliegt, gegen das es nicht zu handeln vermag, was jedoch nicht heißt, daß es das, was es tut, auch mit Notwendigkeit tut9. Insbesondere ist darin nicht gelegen, daß das Streben eines Individuums das, worauf es aus ist, das eigene Sein zu erhalten, auch realisiert. Diese Realisierung geschieht nicht mit Notwendigkeit; sie geschieht vielmehr in einem Raum des Gelingens und Mißlingens, der einem Können des Individuums unterliegt, je nachdem, in welche Bezüge dieses sich zu dem ihm Äußeren bringt10 . Darin ist gelegen, daß das Individuum eigens etwas zu unternehmen hat, damit das, worauf es von Natur aus aus ist, auch gelingt. Weil das Streben das, worauf es aus ist, nicht schon realisiert, sofern es nur strebt, hat es Sinn, von einem Ziel des Strebens zu reden, einem Ziel, das angesichts der Hindernisse, denen das Streben ausgesetzt ist, zu erreichen ist. Ein solches Ziel muß dem Streben allerdings immanent sein; es kann nur als eine Bekräftigung des Strebens verstanden werden angesichts des Tatbestandes, daß das Streben sich im Äußeren,  9 

Vgl. meinen Aufsatz Das Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten [in diesem Band, S. 104 – 129]. 10  Spinoza hat dies insbesondere in bezug auf die Affekte, durch die wir etwas von außen erleiden, dargelegt. Vgl. dazu Wiehl, Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft. Das Problem der Rationalität in Spinozas Affektenlehre, Göttingen 1983, bes. 18 ff. Teleologie bei Spinoza im Hinblick auf Kant  |  355

gegen das es angeht, verlieren kann, worin das Individuum das ihm eigene Sein, von sich aus tätig zu sein, mehr oder minder preisgibt und zu einem fremdbestimmten, d. h. unfreien Wesen wird. Auch diese Form eines gehemmten Agierens ist immer noch ein Streben, eine Artikulationsform des conatus. Ein zielgerichtetes Streben, das das Streben bekräftigt, ist insofern gerade nicht die Affirmation eines faktischen Strebens, sondern die Herausbildung einer höheren Form des Strebens, in der das Individuum von sich aus eine Tätigkeit realisiert, in der es sich von äußeren Zwängen mehr und mehr befreit. Erste Voraussetzung für eine solche Steigerung ist, daß das Individuum eine adäquate Unterscheidung zwischen sich und dem ihm Äußeren zu treffen vermag, und deshalb wird der Zweck­begriff in einer über die allgemeine ontologische Bestimmung hinausgehenden spezifischen Bedeutung nur in bezug auf ein Seiendes thematisch, das dergestalt zu unterscheiden vermag, also in bezug auf den Menschen. Mit dieser Voraussetzung sind nun im Rahmen der Theorie Spinozas besondere Schwierigkeiten verbunden, die Kant wohl veranlaßt haben, ein Scheitern des Spinozismus zu konstatieren. Folgende Schwierigkeit ergibt sich. Das eigene Selbst ist nichts anderes als der je individuelle conatus, der, als ein Streben gegen etwas bestimmt, nicht etwas für sich ist. Der conatus ist nur in seinen Äußerungen, in denen sich seine spezifische Gestalt herausbildet, der gemäß das Individuum jeweils begehrt und handelt. Die Unterscheidung, die zu treffen das Individuum genötigt ist, will es sich tatsächlich erhalten, verlangt nicht nur, daß die äußere Welt unter einer Perspektive erkannt wird, die nicht dem faktischen Vollzug des individuellen conatus unterliegt, sondern auch, daß das eigene Selbst in der Differenz zwischen der Faktizität des Sichvollziehens und einem Sein, das in dieser Faktizität nicht aufgeht, erkannt wird. Dabei sieht sich der Mensch genötigt, in bezug auf das eigene Selbst eine teleologische Perspektive einzunehmen, die mit der Vollzugsform des conatus kollidiert. Die Betrachtung der äußeren Welt bleibt hingegen mit den Gesetzen des Kausalmechanismus verträglich, denn es kommt nur darauf an, die Welt nach allgemeinen Hinsichten zu erkennen, im Hinblick auf solches, das im Teil nicht anders als im Ganzen ist (Eth. II, prop. 38), und das kann eine 356  |  III. Bezüge 

allgemeine Strukturgesetzlichkeit sein, die die eines Mechanismus nach den Prinzipien von Ruhe und Bewegung ist (ebd., coroll. mit Verweis auf lemma 2 der weitgehend cartesianischen Physik). Spinoza hat nie daran gezweifelt, daß diese Betrachtungsweise der körperlichen Welt dem Sein der Körper adäquat ist. Die Betrachtung des eigenen Selbst unter dem Aspekt eines Strebens nach Selbsterhaltung und damit unter dem praktischen Aspekt einer Selbstbefreiung von äußeren Zwängen ist aber notwendigerweise teleologisch, insofern das Individuum seine faktischen Äußerungen auf ein Ziel hin betrachtet, das in ihnen nicht schon erreicht ist, das eigene Sein, das zu erhalten ist. Dieses Sein ist dann mehr als seine Äußerungen, das, wenn es in ihnen nicht realisiert wird, doch realisiert werden soll. Und das bringt den Vollzug des conatus unter eine ihm transzendente Norm. Diese teleologische Betrachtungsweise entwickelt Spinoza im 4. Teil der »Ethik«, in dem sich deshalb auch die Definition von »Zweck« findet. Dies geschieht im Zusammenhang einer Erörterung der Theorie des Guten, dem die 1. Definition des 4. Teils gewidmet ist. Sie lautet: »Unter gut werde ich das verstehen, wovon wir genau wissen, daß es uns nützlich ist«. Mit ihr wendet sich Spinoza ausdrücklich gegen die zuvor, im 3. Teil, entwickelte Identifizierung des Guten mit dem Erstrebten, über die er eine teleologische Ausrichtung des conatus zurückgewiesen hat. Dort hat er in der Anmerkung zu Eth. III, prop. 9 dargelegt: »Aus diesem allen geht hervor, daß wir nach nichts streben …, weil wir es als gut beurteilen, daß wir vielmehr umgekehrt etwas deshalb als gut beurteilen, weil wir danach streben …«. Demgegenüber wird im 4. Teil die Bindung des Guten an das Streben und damit die Identifizierung des Guten mit dem Nützlichen im Sinne des Selbsterhaltungstauglichen zwar nicht aufgehoben; doch wird das Gute hinsichtlich seiner Beurteilung differenziert. Spinoza macht deutlich, daß das, was wir für gut halten, weil wir es erstreben, deshalb noch nicht das wahrhaft Gute ist, das tatsächlich zu dem führt, um dessentwillen wir streben. Das Erstrebte ist lediglich in der Perspektive des Strebenden ein Gutes; gemessen an dem, was der Strebende intendiert, ist es jedoch ein bloß vermeintlich Gutes, wenn der Mensch in undeutlichen Vorstellungen befangen ist, die Spinoza terminologisch der Erkenntnisart des imaginatio zuordnet. Das wahrhaft Gute ist Teleologie bei Spinoza im Hinblick auf Kant  |  357

demgegenüber an ein adäquates Wissen um das gebunden, was tatsächlich zur individuellen Selbsterhaltung führt. Ein solches Wissen gehört zur Erkenntnisart der ratio; es gründet in der Vernunft des Menschen. Spinoza hat im 3. Teil der »Ethik« aber zugleich deutlich gemacht, daß die Erkenntnisart der imaginatio ein konstitutives Element der menschlichen Endlichkeit ist, insofern der Mensch als ein endlicher Modus notwendigerweise in einem Gefüge von ihn bestimmenden Weltzusammenhängen agiert, die ihm nur inadäquat präsent sind. Gewiß ist er äußeren Einflüssen nicht blind ausgesetzt, weil er sie nach Hinsichten ordnen kann, die ihm eine zunehmend bessere Orientierung in der Welt ermöglichen. Und insofern hat er ein Wissen darum, daß in der Orientierung an solchen Hinsichten das, worauf er aus ist, sich besser realisieren läßt, daß also ein bestimmtes Erstrebtes gegenüber einem anderen ein besseres ist und schließlich daß erst das­jenige, das in der Orientierung an wahren Hinsichten erstrebt wird, ein wahrhaft Gutes ist. Mit Bezug auf das, was der Mensch tatsächlich erstrebt, enthält ein solches Wissen den Hinblick auf ein Besseres, der zu einer Vorschrift wird. Den imaginativ befangenen Menschen leitet die Vernunft in der Form, daß sie für die gelingende Selbsterhaltung Vorschriften erläßt (»dictamina rationis«, Eth. IV, prop. 18, schol.). Ist die Vernunft dadurch definiert, die adäquate Erkenntnis dessen, was ist, zu liefern, dann schreibt sie nichts gegen das Sein vor (»ratio nihil contra natura … postulat«, ebd.); aber sie unterscheidet zwischen dem Sein eines Individuums, wie es sich in der Faktizität des Strebens äußert, und dem Sein eben dieses Individuums, das in dessen Streben intendiert wird; und darin setzt sie dem Streben ein Ziel, das dessen Faktizität transzendent ist. Und allein im Hinblick auf dieses Ziel kann erkannt werden, was das wahrhaft Gute ist. Die Vernunft wird also das wahrhaft Gute, d. h. die tauglichen Mittel zur Selbsterhaltung, nicht erkennen können, wenn sie nicht zugleich erkennt, was es da zu erhalten gibt, was also das Sein des Individuums ist, um dessen Erhaltung es geht. Eine solche Erkenntnis, Spinoza betont dies ausdrücklich, kann die Vernunft aber nicht liefern, insofern sie dadurch definiert ist, die Erkenntnis eines Allgemeinen zu sein, das nicht das Wesen eines Einzeldinges ausmacht (Eth. II, prop. 37). Das Individuum ist kein Allgemeines, 358  |  III. Bezüge 

auch nicht in dem Sinne, daß sein conatus durch die Allgemeinheit einer Gattung bestimmt wäre, die das einzelne Ding in seiner Entfaltung bestimmte. Die Vernunft, von der es heißt, daß sie das wahrhaft Gute erkennt, betrachtet das Gute im Hinblick auf einen allgemeinen Begriff des Menschen, den sie selber bildet. Und von diesem Begriff sagt Spinoza, daß er eine bloße Fiktion ist, die keine ontologische Bedeutung hat. Allerdings ist es eine notwendige Fiktion, die dazu dient, dem Menschen angesichts seines imaginativ bestimmten Strebens eine vernünftige Orientierung zu ermöglichen11. Sie dient dem Menschen dazu, im Hinblick auf eine Idee und darin in der Distanz zu jenem Streben zu beurteilen, welche Form des Strebens für die individuelle Selbsterhaltung gut ist und welche es nicht ist. Wir entwerfen, so formuliert es Spinoza in der Vorrede zum 4. Teil, eine Idee des Menschen sozusagen als Musterbild der menschlichen Natur (»tanquam naturae humanae exemplar«), auf das wir hinblicken sollen, um mit Sicherheit beurteilen zu können, welches Handeln gut ist. Gut ist dasjenige, so heißt es an dieser Stelle weiter, von dem wir mit Gewißheit wissen, daß es ein Mittel ist, dem Musterbild der menschlichen Natur, das wir uns vor Augen stellen (»proponimus«), näher und näher zu kommen. Das Musterbild, das als Ziel einer Annäherung, in der wir uns verbessern, auftritt, ist ein bloßes Als-ob, das anzunehmen wir genötigt sind respektiv auf unsere sinnliche Verfassung, an die wir gebunden sind und aus der es doch sich zu befreien gilt.

III.

Nun wird der Entwurf einer solchen Fiktion, soll er hinsichtlich der gestellten Aufgabe eine Leistungskraft haben, nicht beliebig sein können; in ihn muß etwas eingehen, das die Menschen, wenn sie sich von ihm leiten lassen, tatsächlich das realisieren läßt, worauf ein jeder von ihnen aus ist, die Erhaltung des ihnen je eigenen Seins. Genau dann, wenn diese Realisierung erfolgt, würde es sich aber nicht mehr um eine Fiktion handeln. Sie ist es nur im Hin11 Vgl.

hierzu Matheron, Individu et communauté chez Spinoza. 2. Auflage, Paris 1988, 223 ff. Teleologie bei Spinoza im Hinblick auf Kant  |  359

blick auf ein in inadäquaten Vorstellungen befangenes Streben, dem ein Ziel vor Augen gestellt wird, das diesem Streben transzendent ist und darin einen Vorgriff darstellt, der der Wirklichkeit entbehrt. Indem Spinoza die Bedingungen entwickelt, unter denen eine solche Realisierung tatsächlich erfolgt, unterscheidet er sich in der Einschätzung des Als-ob-Charakters eines anzunehmenden Zweckes fundamental von Kant. Für Kant ist die teleologische Betrachtungsweise relativ auf unseren endlichen Verstand und für einen zugleich anschauenden Verstand nicht gültig (§ 76 der K.d.U.); der mit ihr verbundene Begriff einer Zweckmäßigkeit von Dingen hat deshalb keine die Dinge selber charakterisierende objektive Bedeutung. Für Spinoza ist das Als-ob jedoch, anders als für Kant, nicht definitiv, sondern vorläufig; es stellt im Gang menschlicher Weltorientierung ein bloßes Zwischenstadium dar, das der Mensch hinter sich zurücklassen kann. Das ist der Fall, weil das Ziel, auf das das menschliche Streben hinzuleiten ist, von diesem Streben realisiert werden kann. Darin verliert es den Charakter, dem Streben transzendent zu sein, wenigstens für diese Form des Strebens, in eins damit aber auch seinen Charakter, ein Zweck zu sein, um dessentwillen der Mensch handelt. Denn die Realisierung steht unter der Bedingung, daß der Mensch sich nicht von einem Zweck leiten läßt. Das läßt sich schon an den Merkmalen ablesen, die in den von uns zu bildenden allgemeinen Begriff des Menschen eingehen. Der vernünftige Vorgriff auf die Idee des Menschen, auf eine Idee, der wir uns annähern sollen, ist der Vorgriff auf das, was den Menschen gemeinsam ist. Das in der Annäherung zu realisierende Ziel ist dasjenige, das eine Gemeinsamkeit unter den Menschen stiftet, deren Fehlen der größte Hinderungsgrund der gelingenden individuellen Selbsterhaltung ist. Die teleologische Betrachtungsart steht in erster Linie im Dienst einer das menschliche Gegeneinander ausräumenden intersubjektiven Kommunikation. Prinzip der Gemeinsamkeit der Menschen, das vorgriffhaft in die Idee des Menschen eingeht, ist für Spinoza allein dasjenige, das uns die Gewißheit des Guten verbürgt, und das ist dessen adäquate Erkenntnis. In dieser Erkenntnis stimmen die Menschen überein. Sie stimmen nicht darin überein, daß sie in ihrem Handeln auf ein Gutes bezogen sind, das unabhängig von dem, was Menschen erstreben, 360  |  III. Bezüge 

schon besteht, sondern allein darin, daß sie es erkennen. Darin bleibt die ursprüngliche Bestimmung des Guten, nichts anderes als das Erstrebte zu sein (Eth. III, prop. 9, schol.), erhalten, nur mit dem Unterschied, daß unter der jetzt entwickelten Voraussetzung das Gute der subjektiven Beliebigkeit eines durch die imaginatio bestimmten Strebens entzogen ist. Es ist identisch mit der Form des Strebens, das sich als adäquates Erkennen artikuliert, und in der die Menschen im höchsten Maße das ausdrücken, was ihre Essenz ausmacht, als modifizierte potentia Gottes von sich aus tätig zu sein. Dergestalt im adäquaten Erkennen in Übereinstimmung mit ihrer eigenen Natur, stimmen die Menschen auch untereinander überein (Eth. IV, prop. 35), welche Übereinstimmung Bedingung dafür ist, daß jeder einzelne im höchsten Maße sich selbst erhält. Insofern wird die adäquate Erkenntnis von Spinoza mit dem Guten identifiziert. Das adäquate Erkennen hat nicht die Funktion, ein von ihm verschiedenes Gutes zu erkennen; es ist das Gute selber. Ist ein dem adäquaten Erkennen verpflichtetes Leben nicht die Lebensform, der der Mensch ursprünglich von Natur aus folgt, sondern eine solche, die er erst herauszubilden hat, dann erhält das Gute eine zweckdienliche Bedeutung, nämlich dasjenige zu sein, das diese Lebensform zu befördern vermag. »Wir wissen nur von dem mit Gewißheit, daß es gut oder schlecht ist, was wahrhaft zur Einsicht (intelligere) beiträgt oder was unsere Einsicht behindern kann« (Eth. IV, prop. 27). In der Phase der Entwicklung von Einsicht wird das Gute als ein Mittel verstanden im Hinblick auf etwas, das, sofern es vom Menschen erreicht ist, sich seinerseits als das zuhöchst Gute erweist. Das höchste Gut (summum bonum) des Menschen, der darauffolgende Lehrsatz formuliert es, ist dasjenige, worin das menschliche Erkennen seine Höchstform erreicht; es ist die Erkenntnis Gottes (Eth. IV, prop. 28). Es ist nicht Gott, auf den, Folge der immanenten Kausalität Gottes, alle Dinge schon hinbezogen sind, sofern sie dessen Macht ausdrücken. Es ist die Erkenntnis Gottes, d. h. ein Akt, den der Mensch zustandebringt und in dem er, sofern er ihn zustandebringt, im höchsten Maße das ihm eigene Sein, das eine Tätigkeit ist, erhält12 . 12  Daß

das Ziel des Strebens eines menschlichen Individuums die eigene Selbstaufhebung in einer wie auch immer zu verstehenden Identifizierung mit Teleologie bei Spinoza im Hinblick auf Kant  |  361

Weil das adäquate Erkennen allein eine Gemeinsamkeit der Menschen stiftet, ist die Orientierung an dieser Form des Erkennens ein Hinblick, der im Dienst einer tatsächlichen und nicht nur vermeintlichen Förderung der individuellen Selbsterhaltung steht. Er ist ein vernünftiger Hinblick, der in der menschlichen Vernunft selbst gründet, die nicht auf ein ihr Transzendentes blickt, sondern auf dasjenige, das sie selber zu realisieren vermag und das ein Vorgriff nur ist in Anbetracht dessen, daß der Mensch nicht eo ipso durch Vernunft bestimmt ist und deshalb nicht von ihr geleitet ist, sofern er nur handelt. Der Vorgriff auf das Musterbild der menschlichen Natur ist nichts anderes als der Vorgriff auf eine durch den Gebrauch der Vernunft zustandezubringende Gemeinsamkeit. Kann so das, was als Idee auftritt, durch die menschliche Vernunft selbst realisiert werden, so kann diese Realisierung doch nicht durch den Vorgriff auf jene Idee geschehen; denn dieser widerstreitet wegen seiner teleologischen Implikationen der Grundstruktur des menschlichen conatus, derzufolge ein Individuum in seinem Handeln nur durch die eigene Natur bestimmt ist, nicht aber durch eine ausstehende Idee, die, nicht realisiert, ihm transzendent ist. Eine Vernunft, die vorschreibt, daß der Mensch in seinem Begehren sich an einer erst zu realisierenden Idee ausrichten soll, ist, selbst wenn sie ihm eine auch individuelle Vorteile verschaffende friedvolle intersubjektive Kommunikation verheißt, hinsichtlich dieses Begehrens, solange sie nur vorschreibt, wirkungsschwach13. Sie hat keine das Begehren bestimmende Kraft; als dessen Zweck vermag sie nicht dessen Ursache zu sein. Sie hat lediglich eine theoretische Bedeutung der Beurteilung der Formen des Begehrens hinsichtlich ihrer Nützlichkeit bzw. Schädlichkeit für die individuelle Selbst­ erhaltung, die allerdings in dieser Gestalt ein Moment der Wahrder göttlichen Substanz sein könnte, diese erstmals von Schelling (»Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus«, 7. Brief) vertretene und seitdem häufig wiederholte (etwa Spaemann/Löw, Philosophie des Lebendigen, Frankfurt a.M. 1980, 109) Interpretation hat mit Spinozas Theorie von Individualität und Selbsterhaltung wenig zu tun. Vgl. meinen Aufsatz: Selbstsein und Absolutes [in diesem Band, S. 53 – 103]. 13  Spinoza hat die Theorie der Politik, zumindest in ihrer späten Fassung, auf der Basis dieser Einsicht konzipiert (vgl. Tractatus Politicus 1,7: »imperii causae et fundamenta naturalia non ex rationis documentis petenda … sunt«). 362  |  III. Bezüge 

heit enthält, nämlich am menschlichen Begehren aufzuzeigen, daß dieses im Gerichtetsein auf sich selbst auf etwas gerichtet ist, das sich in der Faktizität des Begehrens nicht erfüllt. Die Vernunft muß ihren praeskriptiven Charakter aufgeben, will sie eine praktische Bedeutung haben, d. h. will sie den menschlichen conatus in einer Weise bestimmen können, daß die aus ihm hervorgehenden Handlungen, die im Dienst der individuellen Selbsterhaltung gegen ein Äußeres gerichtet sind, tatsächlich auf das Individuum rückbezogen sind und darin nichts als Äußerungen der eigenen potentia sind, die in ihren Äußerungen sich selbst steigert und darin sich selbst erhält. Die Vernunft darf nicht als Norm für ein unvernünftiges Begehren auftreten, sondern muß sich selber als eine Vollzugsform des conatus erweisen. Der Mensch muß die Vernunft so verinnerlichen, daß er seinen eigenen conatus als einen Vollzug von Einsicht begreift und darin sich selbst als ein rein erkennendes Wesen. Dann ist das, was in anderer Rücksicht, nämlich im Hinblick auf die Unvernunft, ein zu erreichendes Ziel ist, kein Ziel mehr, weil es in den Vollzug eines durch die Kraft der Einsicht allein bestimmenden conatus integriert ist. Spinoza hat im 5. Teil der »Ethik« diesen Vorgang als einen Perspektivenwechsel im menschlichen Selbstverständnis beschrieben (Eth. V, prop. 21 ff.)14 . Der Mensch, der aus Geist und Körper besteht und dessen Ideen deshalb immer Ideen von Körperlichem sind, kann sich selbst in einer Weise verstehen, daß er sich nicht von seinem Körper und den Ereignissen, denen dieser ausgesetzt ist, her versteht, sondern allein von seinem Geist her, worin er sich als ein erkennendes Wesen versteht, das nicht die zeitlichen Ereignisse der Welt begreift, sondern allein deren ewige Strukturen, und worin er sich, sofern er sich in dieser Weise begreift, selber als ewig begreift. Diese Form der Erkenntnis, von Spinoza als scientia intuitiva beschrieben, hat zwar eine Disziplinierung der bloß inadäquaten Erkenntnis zur Voraussetzung, damit der Mensch sie überhaupt haben kann, doch ist sie ihrer Struktur nach aus einem Akt fortschreitender Verbesserung der am Zeitlichen orientierten Erkenntnis nicht zu

14 

Vgl. meine ausführliche Darstellung in: Spinozas Theorie des Menschen, Hamburg 1992, 326 ff. Teleologie bei Spinoza im Hinblick auf Kant  |  363

erklären15. In der Vollkommenheit des Erkennens verschwindet die Teleologie, die andererseits Bedingung dafür ist, daß der Mensch einen Akt der Vervollkommnung auf diese Vollkommenheit hin erfolgreich in Angriff nehmen kann. Ist für Kant die teleologische Betrachtungsweise das Resultat eines definitiv als begrenzt ausgewiesenen menschlichen Erkenntnisvermögens und darin in ihrem Charakter fehlender Objektivität selber definitiv, so ist sie für Spinoza das bloß vorbereitende Mittel für das subjektive Erreichen einer unbedingten Erkenntnis, die dem Menschen möglich ist und die sich in der Erkenntnis der Ewigkeit Gottes erfüllt. So wie mit dessen ewiger Natur ein Begriff von Zweck unverträglich ist16 so weiß der Mensch, der sich von der Ewigkeit Gottes her versteht, daß sein von diesem Verständnis her bestimmtes Handeln keinem Zweck unterliegt. In Kants Augen hat seine eigene Theorie des Erkennens, in der er sich von Spinoza unterscheidet, gegenüber Spinoza gewiß auch den Vorzug, daß sie Sachverhalte erklären kann, die Spinoza nicht erklären kann, in unserem Falle den einer Zweckverknüpfung der Dinge. Wir hatten gesehen, daß bei Spinoza Dinge, denen über die leere Selbigkeit von Zweck und Wesen hinaus eine Zweckverknüpfung zugeschrieben werden kann, allein Menschen sind, die nach Zwecken handeln, weil sie die der Sache nach richtige Vorstellung haben, daß das, worauf sie aus sind, die Erhaltung des eigenen Seins, sich nicht schon einstellt, sofern sie ihrem Selbsterhaltungstrieb nur folgen, daß vielmehr das eigene Sein eigens zum Ziel des Strebens gemacht werden muß (vgl.: »Ratio … postulat …, ut unusquisque suum esse, quantum in se est, conservare conetur«, Eth. IV, prop. 18, schol.). Spinozas Theorie basiert in ihren ontologischen Grundlagen aber darauf, daß das Sein eines Individuums von dessen Streben nicht verschieden ist, und sie zeigt, daß die Identität beider Glieder in einer Form adäquaten Erkennens, die die Natur Gottes erfaßt, vom Menschen realisiert wird und darin nicht nur aus göttlicher, 15  Spinoza

hat gesehen, daß das Programm einer solchen Verbesserung nicht durchführbar ist, und deshalb einen dahingehenden Versuch in seinem frühen »Tractatus de intellectus emendatione« unvollendet abgebrochen. 16  Vgl. P. Macherey, Hegel ou Spinoza, 2. Aufl., Paris 1990, 248 ff. (Abschnitt »La téléologie«). 364  |  III. Bezüge 

sondern auch aus menschlicher Perspektive gilt. Die Theorie dieser Realisierung kann aber nicht mehr eine Theorie von Zweckverknüpfung sein, die lediglich dort ihren Ort hat, wo jene Form der Erkenntnis, in der der Mensch sich in Übereinstimmung mit seinem Sein weiß, noch nicht erreicht ist. Deshalb leistet in Kants Augen der Spinozismus nicht das, was er will, nämlich den Erklärungsgrund einer Zweckverknüpfung, die er nicht leugnet, anzugeben. Aus der Perspektive Gottes, spinozanisch gesprochen sub specie aeternitatis, d. h. vom Standpunkt realisierter vollkommener menschlicher Erkenntnis aus, muß alle Zweckverknüpfung als eine Illusion erscheinen; aber gerade das kann Spinoza aus menschlicher Perspektive nicht zugestehen, denn es hieße, daß auch der Akt des subjektiven Erlangens einer solchen Erkenntnis unter den Bedingungen der Zeitlichkeit und damit angesichts des Tatbestandes, daß der Mensch sie nicht immer schon hat, sondern auch und zunächst in inadäquater Erkenntnis befangen ist, eine Illusion ist. Das Fortschreiten zu einer Vervollkommnung, die vom endlichen Menschen zustandezubringen ist, wäre eine Illusion. Aus diesem Dilemma kommt man nach Kant nicht heraus, wenn man nicht das menschliche Erkenntnisvermögen kritisch begrenzt und aus dieser Begrenzung die Theorie einer Zweckmäßigkeit endlicher Dinge entwickelt, die nicht nur gültig ist, weil unser Verstand begrenzt ist, sondern die auch für einen solchen Verstand allein eine Bedeutung hat17.

17 

Vgl. M. Baum, Kants Begriff der Zweckmäßigkeit und Hegels Realisierung des Begriffs, in: H. F. Fulda und R. P. Horstmann (Hg.), Hegel und die »Kritik der Urteilskraft«, Stuttgart 1990, bes. S.166 f. Das heißt allerdings nicht, daß sich Spinozas Begriff von Teleologie nur unter Bedingungen der Transzendentalphilosophie zurückweisen läßt. Vgl. hierzu R. Wiehl, Sackgasse oder Weg? Zur Auseinandersetzung Kants mit Spinoza, Würzburg 1992. Auch habe ich hier nicht untersucht, inwieweit Spinozas Ontologie möglicherweise überzeugende Argumente enthält, die etwas gegen Kants transzendentalphilosophische Behandlung der Teleologie herzugeben vermögen. Teleologie bei Spinoza im Hinblick auf Kant  |  365

Über Spinozismus und menschliche Freiheit beim frühen Schelling I.

Schelling schreibt am 4. 2. 1795 an Hegel: »Ich bin indessen Spinozist geworden! – Staune nicht. Du wirst bald hören, wie? … Mir ist das höchste Prinzip aller Philosophie das reine, absolute Ich, d. h. das Ich, inwiefern es bloßes Ich, noch gar nicht durch Objekte bedingt, sondern durch Freiheit gesetzt ist. Das A und O aller Philosophie ist Freiheit.«1 Im Jahr dieses Schreibens ist Schellings Schrift »Vom Ich als Prinzip der Philosophie« erschienen, die jene Theorie des absoluten Ich entfaltet und die auch, sprachlich leicht modifiziert, jenen Satz des Briefes enthält: »Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit« (II, 101).2 Schelling behauptet hier einen Bezug zwischen Spinozismus und zu gebender Theorie der Freiheit, der von aller Kritik an Spinoza unberührt bleibt. Dies, das höchste Prinzip der Philosophie als absolutes Ich gefaßt zu haben, bringt Schelling gegen Spinoza zur Geltung; und auch dies, die Freiheit zum A und O der Philosophie erhoben zu haben, ist Schellings Selbstverständnis nach zweifellos gegen Spinoza gerichtet, von dem er meint, daß dessen Prinzip ein die Freiheit ausschließendes Nicht-Ich sei, als das er Spinozas absolute Substanz deutet (II, 94). Gleichwohl ist es die zu gebende Freiheitstheorie, um derentwillen Schelling sich als Spinozist versteht, weil sie es ist, die die Konzeption eines Absoluten verlangt, für die der Name Spinoza steht. Spinoza ist es gewesen, der, anders als jeder andere, insofern eine angemessene Interpretation des Absoluten gegeben hat, als er von dieser Instanz, die traditionell als Gott verstanden worden ist, alle Merkmale der Persönlichkeit aus1 

G. L. Plitt, Aus Schellings Leben in Briefen, Leipzig 1869, Bd. I, 76. wird zitiert nach der historisch-kritischen Ausgabe seiner Werke (Bayerische Akademie der Wissenschaften) unter Angabe der Bandund Seitenzahl. 2 Schelling

366  | 

geschlossen hat. Deshalb leitet Schelling in seinem Brief an Hegel sein Spinozismus-Bekenntnis mit den Sätzen ein: »Für uns sind die orthodoxen Begriffe von Gott nicht mehr. – … wir reichen weiter noch als zum persönlichen Wesen.« Nicht nur kann ein persön­ liches Wesen nicht ein Absolutes sein, weil Persönlichkeit an ein Bewußtsein gebunden ist, das sich gegenüber Objekten erst gewinnt, Gegensätzlichkeit aber mit dem Begriff des Absoluten unverträglich ist. Sondern auch wir reichen über ein durch Selbst­bewußtsein gekennzeichnetes Letztes hinaus auf etwas hin, das durch sich selbst und darin in höchstem Maße frei ist, weil es durch kein anderes bedingt ist. Beides sei die Einsicht Spinozas gewesen. Doch will Schelling damit, daß er den spinozistischen Gott als absolutes Ich versteht (»Gott ist nichts als das absolute Ich«, Plitt I, 77), Spinoza grundlegend verbessern; und zwar ist es, halten wir uns an die zitierte Briefstelle, der Hinblick auf die Freiheit, das A und O der Philosophie, der die Verbesserung verlangt. Der Unterschied in der Bestimmung dessen, was das Absolute ist, ergibt sich demnach für Schelling allein aus einem Hinblick. Er ergibt sich nicht aus dem Absoluten selber, sondern aus dem, was durch das Absolute erklärt werden soll. Der Hinblick, wodurch sich Schelling, wenigstens seinem Selbstverständnis nach, von Spinoza unterscheidet, ist die Freiheit, und das kann nur eine vom Absoluten verschiedene Freiheit sein, nämlich die menschliche. Sie ist es, die Freiheit des empirischen Ich, die es erforderlich macht, das Absolute als ein absolutes Ich zu konzipieren. Daß das Absolute frei ist, bedarf keiner Erörterung, darin weiß sich Schelling mit Spinoza einig. Der Anfang der Philosophie ist, sofern mit dem Absoluten anzufangen ist, Freiheit. Spinozas »Ethica« fängt mit der absoluten Substanz an, deren Strukturbestimmung in dem Begriff einer Macht (potentia) gipfelt, die hervorbringende Kausalität ist. Es ist die Macht, nicht nur durch sich selbst zu sein, sondern durch sich selbst auch zum Handeln bestimmt zu sein; auf sie trifft die Definition von Freiheit (a se determinatur) im Sinne einer Zurückweisung aller Fremd­ bestimmung (ab alio determinatur) im eminenten Maße zu (vgl. Eth. I, def. 7 und prop. 17, coroll. 2). Diese Bestimmung ist Schelling sicher vertraut gewesen. Daß aber auch ein Endliches frei ist und damit die Freiheit nicht nur der Anfang, sondern auch das Ende der Philosophie ist, das bedarf, so lautet Schellings Einwand, einer Über Spinozismus beim frühen Schelling  |  367

spezifischen Konzeption des Absoluten, die Spinoza nicht gegeben habe. Allerdings, Schelling scheint das ganz zu übersehen, endet die »Ethica« bekanntlich mit der menschlichen Freiheit (de libertate humana), so daß die spezifische Perspektive Schellings, gegen dessen Selbstverständnis, durchaus auch die Perspektive Spinozas ist. Mit Spinoza kommt Schelling auf jeden Fall darin überein, daß das Absolute, ohne das kein Endliches sein kann, nicht vom Endlichen her gedacht werden darf, also nicht unter dem anthropomorphen Merkmal der Persönlichkeit, und zwar gerade auch dann nicht, wenn das Absolute als Erklärungsprinzip individueller Freiheit zu denken ist. Konzipiert Schelling nun ein spinozistisches Absolutes mit der Maßgabe, sich hinsichtlich dessen, was durch das Absolute zu erklären ist, von Spinoza zu unterscheiden, so kann nur dann ernsthaft von einem Spinozismus Schellings gesprochen werden, wenn sich auch Spinozas Konzept des Absoluten als Erklärungsprinzip für etwas vom Absoluten Verschiedenes verstehen läßt. In der Tat sieht Schelling in diesem wichtigen Punkt, und sachlich zu Recht, eine fundamentale Gemeinsamkeit mit Spinoza: Die Philosophie bedarf allein deshalb eines absoluten Prinzips, weil sie das Sein von etwas begreiflich machen will, das nicht das Absolute ist. Es ist die formale Bestimmung einer Funktionalität des Absoluten, die die Gemeinsamkeit ausmacht, von der Schelling zugleich meint, daß sie hinsichtlich dessen, wie geartet das vom Absoluten Verschiedene ist, einen Unterschied zuläßt. Für Schelling ist es die individuelle, die menschliche Freiheit, eine mit dem Selbstsein des Individuums verbundene Selbständigkeit, die das Konzept des Absoluten bestimmt und die ihn das Absolute als absolutes Ich konzipieren läßt. Dabei ist deutlich, daß diese Bestimmung, die eines freien individuellen Selbstseins, nicht aus dem Absoluten, dieses für sich genommen, gewonnen werden kann. Sie ist ein schon vorausgesetzter Hinblick, auf den hin das Absolute erst konzipiert wird. Der Spinozismus, so heißt es in der Abhandlung »Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus«, ist theoretisch nicht widerlegbar; für denjenigen ist er akzeptabel, d. h. theoretisch vertretbar, der es erträgt, das eigene Selbst aufzugeben und dieses in der absoluten Substanz versinken zu lassen – eine allerdings höchst merkwürdige Interpretation Spinozas, die den Status des 368  |  III. Bezüge 

individuellen conatus in suo esse perseverandi unterschlägt. Nicht akzeptabel ist der Spinozismus für denjenigen, der »die höchste Würde der Philosophie« darin gelegen sieht, »daß sie alles von der menschlichen Freiheit erwartet« (III, 74), für denjenigen, der ein Freiheitsbewußtsein hat, das zwar theoretisch nicht erweisbar ist, er aber »durch ein Streben nach unveränderlicher Selbstheit, unbedingter Freiheit, uneingeschränkter Tätigkeit« (III, 106) praktisch realisiert. Das Individuum in seinem Tätigsein ist es, das demnach dem Kritizismus allein zum Sieg über den Dogmatismus verhelfen kann. Hätten wir es bloß mit dem Absoluten zu tun, könnte es keinen Streit der Philosophen geben; er entzündet sich allein am »Widerstreit« (III, 60) gegen das Absolute, d. h. auf der Ebene des Endlichen und Bedingten in dessen Bezug zum Absoluten. Entschieden werden kann der Streit nur in Form einer menschlichen Praxis, in der das Bedingte zum Unbedingten übergeht und darin das Absolute in sich realisiert. 3 Die Unbedingtheit ist dann dem Endlichen nicht transzendent, sondern selber nur präsent, sofern das Endliche ist. Folglich gilt es, das Endliche zu erhalten, worin der den Dogmatismus überwindende Kritizismus seine Spitze hat: »Sei! ist die höchste Forderung des Kritizismus« (III, 106). »Aber Spinoza kannte kein Subjekt als solches«, so bringt Schelling seine Differenz zu Spinoza auf den Punkt (III, 84). Daher ist ihm entgangen, »daß wir unsers eignen Ichs nie los werden können« (III, 89), ein Tatbestand, der für Schelling »in der absoluten Freiheit unseres Wesens, kraft welcher das Ich in uns kein Ding, keine Sache sein kann« (ebd.), gegründet ist. Dieser Tatbestand nötigt Schelling zu einer Konzeption des Absoluten, aus der die Unaufgebbarkeit des eigenen Ich, das auf kein Ding zurückgeführt werden kann, zu begründen ist. In der Schrift »Vom Ich« faßt er dabei das Absolute selber als Ich, weil nur so an uns, die wir nicht absolut, sondern endlich sind, der wahre Ich-Charakter aufgezeigt werden kann. Spinoza habe das Endliche als ein Ding verstanden, das nur im Kontext mit anderen Dingen steht und deshalb ein unfreies Seiendes ist, und von daher das Absolute selber als ein Ding (Schelling 3 

A. Pieper, Ethik à la Spinoza. Historisch-systematische Überlegungen zu einem Vorhaben des jungen Schelling, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 31 (1977), 545–564. Über Spinozismus beim frühen Schelling  |  369

sagt, als ein Nicht-Ich) konzipiert. Weil Schelling demgegenüber wenigstens einiges endlich Seiende nicht als Ding, sondern als frei versteht, das humane Seiende, das zu sich »ich« sagt, konzipiert er das Absolute nicht als Ding, sondern als Ich. Nun ist evident, daß eine solche Konzeption mit Spinoza unverträglich ist, aber nicht etwa deshalb, wie Schelling glaubt, weil die Perspektive auf die menschliche Freiheit mit Spinozas Konzeption des Absoluten unverträglich wäre, sondern, wie Spinoza wohl dagegenhalten würde, weil der Mensch um seiner Freiheit willen zu einem herausgehobenen Seienden im Ganzen dessen, was ist, stilisiert wird und das Absolute dementsprechend eine Einengung erfährt, die mit dem Begriff des Absoluten unverträglich ist. Denn dieses ist, konzipiert als absolutes Ich, Prinzip nur für einiges Endliches, nicht aber für alles, nur für solches vom Charakter eines individuellen Ich, so daß, soll die Konzeption des Absoluten nicht in sich widersprüchlich sein, alles Endliche vom Charakter, kein Ich zu sein, also alles bloß Physische, für nichtig erklärt werden müßte. Das ist aber eine unhaltbare Position, die Freiheit um den Preis eines Weltverlustes erkauft, eine akosmistische Position, die man4 Spinoza zu Unrecht unterstellt hat, die mit einer Theorie des absoluten Ich zu verknüpfen aber gute Gründe für sich hat. Schelling selber hat sehr bald um einer zu verbessernden Strukturtheorie 5 des Absoluten willen die Konzeption des Absoluten als eines absoluten Ich preisgegeben und damit die Unterbestimmung des Absoluten in der Schrift »Vom Ich« modifiziert. Aus der soeben entwickelten Perspektive muß die Verbesserung aber ihr Kriterium daran haben, inwiefern sie den Begriff der mensch­ lichen Freiheit auf die am Ende alle Philosophie abzielt, besser zu begründen vermag. Es läßt sich zeigen, daß unter diesem Aspekt dem frühen Schelling bis hin zur Identitätsphilosophie der Würz4 

Chr. Wolff, Theologia Naturalis Pars II, § 696: »Spinosa … naturam proprie sic dictam non ens face. – G. W. F. Hegel, Geschichte der Philosophie (Sämtliche Werke, hrsg. von H. Glockner, Stuttgart-Bad Cannstatt 1927 ff., Bd. XIX, 373): »Die Natur, die Welt ist nach einem Ausdruck des Spinoza nur Affektion, Modus der Substanz, nicht Substantielles. Der Spinozismus ist also Akosmismus.« 5  B. Loer, Das Absolute und die Wirklichkeit in Schellings Philosophie, Berlin, New York 1974. 370  |  III. Bezüge 

burger Vor­lesung »System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere« aus dem Jahre 1804, die unvermindert spinozistisch ist (vgl. u. a. § 305), keine Verbesserung gelingt. Erst die Freiheitsschrift von 1809, in der Spinoza »beurlaubt«6 und eine Personalität des höchsten Wesens entfaltet wird, entwickelt eine Theorie der menschlichen Freiheit aus dem Sein einer Endlichkeit, die nicht bloß die Privation der Unendlichkeit ist. Es ist aber nicht wahr, daß der Spinozismus ein solches Schema der Privation, das End ­liches nicht an ihm selbst begreifen läßt, impliziert, denn die richtig verstandene Philosophie Spinozas impliziert dies nicht. Schellings früher Versuch, eine Theorie menschlicher Freiheit auf der Basis eines Spinozismus zu entwickeln, ist der Versuch, die Theorie des Absoluten für eine Theorie der Individualität und deren Autonomie auszuwerten. Es ist daher zu untersuchen, inwieweit in der inhaltlichen Bestimmung des Absoluten Schellings Konzept eines Spinozismus ohne Spinoza die Kraft hat, das, um dessentwillen es fungiert, die menschliche Freiheit, angemessen zu begründen. II.

»Gäbe es aber nicht etwas, das nur durch sich selbst ist, dessen Identität einzige Bedingung seines Seins ist, so wäre auch überall nichts identisch mit sich selbst; denn nur das, was durch seine Identität ist, kann allem anderen, was ist, Identität verleihen; nur in einem Absoluten, durch sein Sein selbst als identisch Gesetzten, kann alles, was ist, zur Einheit seines Wesens kommen« (II, 102). Diese Sätze können als Programm Schellings verstanden werden: Selbigkeit von irgend etwas, d. h. von einem vom Absoluten Verschiedenen, ist nur aufgrund eines durch sich selbst seienden Absoluten. Nun wird diese Selbigkeit wenigstens von einem bestimmten Seienden, dem humanen, in Anspruch genommen, sofern dieses nämlich auf Wissen aus ist und damit auf ein Letztes, aus dem heraus sich das Wissen gliedert und in dem es seine Einheit hat. Mit dieser Überlegung heben die Untersuchungen der Schrift »Vom Ich« an, die 6 

X. Tilliette, Die Freiheitsschrift, in: H. M. Baumgartner (Hg.), Schelling, Freiburg, München 1975, 101. Über Spinozismus beim frühen Schelling  |  371

auch in deren Untertitel »Über das Unbedingte im menschlichen Wissen« zum Ausdruck gelangt. Deshalb ist das Absolute auch, so versichert Schelling, in einem Regressus zugänglich, d. h. im Ausgang vom Bedingten, dem empirischen Ich, das, was immer es auch wissen mag, auf das Absolute zurückgeführt wird, sobald es sich die Bedingungen verdeutlicht, unter denen das Wissen von etwas möglich ist. »Man mag also in der Reihe der bedingten Sätze heraus nehmen, welchen man will, so muß er im Regressus auf das absolute Ich führen« (II, 92). Der Begriff des endlichen Subjekts, dem ein zu erkennendes Objekt gegenübersteht, selber ist es, der »auf das absolute Ich leiten (muß)« (ebd.), soll das Ich die Erkenntnis des Objekts als seine Leistung begreifen können. Eine Gegensätzlichkeit in der Sphäre der endlichen Bedingtheit ist es, die auf die Theorie des Absoluten führt (»Die Begriffe von Subjekt und Objekt sind selbst Bürgen des absoluten, unbedingbaren Ichs«, II, 93), von dem her dem in einer Gegensätzlichkeit stehenden Subjekt der Selbstand gewährt wird, ohne den das Subjekt nicht wirklich ein Wissen hätte. Für die von Spinoza abweichende Bestimmung des Absoluten nennt Schelling im wesentlichen zwei Gründe, von denen er meint, daß sie seinen Begriff des absoluten Ich dem der absoluten Substanz Spinozas überlegen sein lassen. Sein Absolutes könne 1. die Selbständigkeit von Endlichem rechtfertigen und sei selber 2. zugleich von einem Endlichen her gerechtfertigt, nämlich erwiesen und nicht bloß behauptet. Der erste Punkt ist dabei freilich ohne den zweiten eine bloße Versicherung und hat deshalb Gültigkeit nur für dasjenige Endliche, das von sich her das Absolute zu legitimieren vermag. Soll nun das Absolute die Selbständigkeit eines von ihm selbst Verschiedenen, also eines Endlichen, begründen, dann bedarf es hierfür, das ist Spinozas Lösung, nicht nur des Nachweises, daß alles Singuläre im Absoluten ist, sondern auch daß das Absolute im Singulären ist. Spinoza erbringt diesen Nachweis über den Begriff der Kausalität (causa efficiens) der göttlichen Natur (Eth. I, prop. 16, coroll. 1), der über den Nachweis, daß alles in Gott ist (I, prop. 15), hinausgeht. Schelling will demgegenüber den Nachweis aus einer Leistung des empirischen Subjekts erbringen, in der das Subjekt des Absoluten inne wird und die darin das Absolute als ein dem Empirischen Nicht-Transzendentes erweisen könne. Schelling 372  |  III. Bezüge 

nennt diese Leistung intellektuale Anschauung, die ein subjektives Vermögen ist, welches nicht nur wie die scientia intuitiva des Spinoza das Absolute erkennt (Eth. II, prop. 47), sondern das Absolute allererst konstituiert. Und genau deshalb ist es für Schelling vom Charakter des Ich. Spinoza habe »nirgends bewiesen«, daß das Absolute eine nicht-ichhafte Substanz sei, sondern eine Bestimmung von Substantialität einfach angenommen und dabei »gleichsam« vorausgesetzt, »daß jeder, der ihm nur einmal den Begriff des Unbedingten eingeräumt hätte, ihm darin von selbst folgen würde« (II, 94). Schelling behauptet demgegenüber, daß er in seiner Theorie des Absoluten nichts einräumen müsse, sondern das, was das Absolute ist, aus einem Vollzug des Ich erweise, der reine Spontaneität und damit Freiheit ist. In ihm denkt sich das Ich nicht in der Abhebung von einem Objekt, sondern schaut sich unmittelbar an als ein rein tätiges, worin es sein Sein aus sich selbst hat, indem es sich selbst »aus absoluter Kausalität« (II, 90 f.) hervorbringt. Dieses das Absolute auszeichnende proprium, causa sui zu sein, muß nicht bittweise vorausgesetzt werden, sondern ist am individuellen Ich aufweisbar: »Ich bin, weil Ich bin! das ergreift jeden plötzlich« (ebd.). Freilich ist nicht zu sehen, was Schelling damit gegenüber Spinoza eigentlich gewonnen hat. Denn mit der scharfen Abhebung der intellektualen Anschauung vom Selbstbewußtsein, das unter der Bedingung einer Abgrenzung des Subjekts von einem Objekt steht und deshalb nicht Merkmal des Absoluten sein kann (II, 104 f.), ist das Ich in einer Weise charakterisiert, die nicht verstehen läßt, warum es sich dabei überhaupt noch um ein Ich handelt und nicht nur um ein Absolutes, das im Sinne Spinozas von aller Gegensätzlichkeit frei ist und deshalb als »Inbegriff aller Realität« alles Sein schon in sich enthält, wie denn Schelling auch formuliert (II, 116). Die von Schelling in Anspruch genommene Überlegenheit gegenüber Spinoza, die Struktur des Absoluten, nämlich Ich und nicht Substanz zu sein, auszuweisen, ist dann bloße Behauptung. Zwar unterliegt es wohl keinem Zweifel, daß Schelling die Leistung der intellektualen Anschauung als eine Leistung des empirischen Ich verstanden wissen will. »Diejenigen, die von keinem Ich als dem empirischen wissen …, die sich noch nie zur intellektualen Anschauung ihres Selbst’s erhoben haben«, schreibt Schelling (II, 107 f.), müssen seine Über Spinozismus beim frühen Schelling  |  373

Theorie ungereimt finden. Schelling mutet die intellektuale Anschauung dem einzelnen, d. h. dem empirischen Subjekt, zu, und er versteht sie als einen Akt, der eigens zu erbringen ist gegen ein Befangensein in bloß empirischen Zusammenhängen und der darin unter den Bedingungen der Endlichkeit steht. Doch ist das, was in der intellektualen Anschauung konstituiert wird, ein Absolutes, von Schelling absolutes Ich genannt, das als reine Selbstbezüglichkeit nicht mehr gegen etwas angeht. Die Freiheit, als die das Ich sich weiß, ist nichts anderes als die Freiheit des Absoluten, über die es keinen Streit geben kann, nicht aber die individuelle Freiheit. Das Absolute steht dann aber in gar keinem Bezug zum empirischen Ich, und es ist gerade nicht einzusehen, daß das Absolute deshalb Ich ist, weil es eine Unbedingtheit ist, die das Individuum in einem Akt der Freiheit in sich selbst erfährt. Das als reiner widerstandsfreier Selbstbezug bestimmte absolute Ich wird deshalb von Schelling auch umstandslos durch propria der spinozanischen Substanz charakterisiert:7 das der sich selbst hervorbringenden Kausalität (causa sui, § 3), das der Einheit qua Unteilbarkeit (§ 9), das der Einheit qua Einzigkeit (§ 12), das des Inihm-Seins aller Realität (§ 10), das der Unendlichkeit (§ 11), das der causa immanens (§ 13). Schelling charakterisiert schließlich über diese propria hinaus sein absolutes Ich auch durch die essentielle Bestimmung der spinozanischen Substanz (Eth. I, prop. 34), nämlich als absolute Macht (§ 14). Ist Schelling in der Aufzählung der propria des Absoluten ganz in Einklang mit Spinoza, so weicht er in der Bestimmung der Essenz des Absoluten von dem ihm offenbar dunkel gebliebenen potentia-Begriff Spinozas ab. Es ist aber auch Konsequenz des spezifischen Ausgangspunktes Schellings, aus der zugleich die Schwierigkeiten ersichtlich sind, in die Schelling gerät, wenn er das Absolute vom Ich her als Ich bestimmt. Schelling hält es seiner Strategie entsprechend nicht nur für unnötig, den Begriff der Macht zu differenzieren, anders als Spinoza, der mit der Unteilbarkeit der Substanz eine attributive Komplexität verbindet (Eth. I, def. 6). »Die Attribute des Ichs können nicht voneinander verschie7  H-Chr.

Lucas, Moi absolu et substance unique. Reflexions sur le spino­ zisme du jeune Schelling, in: Spinoza entre Lumière et Romantisme, Fontenayaux-Roses 1985, 87–102. 374  |  III. Bezüge 

den sein« (II, 107), weil die aus dem Absoluten zu erklärende Welt in sich einheitlich ist, nämlich nur vom Charakter des Ichhaften, also des Geistigen. Schelling faßt auch, anders als Spinoza, die absolute Macht primär als »absolute Selbstmacht« (II, 104), d. h. als eine reine Selbstbezüglichkeit, und sieht darin die positive Bestimmung des Absoluten gelegen (ebd.). Diese Positivität ist in Wahrheit die bloß negative Charakterisierung des absoluten Ich, »als gänzliche Unabhängigkeit, ja sogar als gänzliche Unverträglichkeit mit allem Nicht-Ich« (ebd.) verstanden werden zu müssen. Der Ausgang vom endlichen Ich, der das Absolute gewinnen läßt, kann das Absolute, soll dieses nicht subjektiviert und damit zu einem schlechten Absoluten im Sinne der dogmatischen Theologie werden, lediglich als ein solches fassen, das von aller Endlichkeit befreit ist, und muß deshalb diese Negativität zum positiven Merkmal des Absoluten erheben. Die Positivität müßte aber gerade darin bestehen, nicht nur der reine Selbstbezug eines Für-sich-Seins zu sein, sondern Begründungsprinzip eines vom Absoluten Verschiedenen zu sein, Schellings Programm zufolge des endlichen Ich, das dadurch charakterisiert ist, einem Nicht-Ich gegenüberzustehen, so daß das Absolute, das einen derartigen Sachverhalt will durchsichtig machen können, sehr wohl mit dem Nicht-Ich verträglich sein muß, wenn es auch hierfür gerade nicht abhängig von diesem sein darf. Wird das Absolute aber nur als Selbstmacht gefaßt, muß ihm dieser Bezug verschlossen bleiben, so daß es dann letztlich überhaupt nicht mehr Prinzip von etwas ist. Um dieser Konsequenz zu entgehen, hat Spinoza das Absolute nicht primär als causa sui bestimmt, sondern als eine potentia, die hervorbringende und in dem Hervorgebrachten (den Modi) sich erfüllende Kausalität ist. Allein unter dieser Bedingung, im Anderen der Substanz zu sein, kann die Substanz überhaupt nur causa sui sein. 8 Sie ist nur causa sui, sofern sie zugleich causa rerum, und zwar causa omnium rerum ist (Eth. I, prop. 16, coroll. 1; prop. 25, schol.; prop. 34, dem.). Diese Konzeption, derzufolge die Substanz nur ist, wenn sie in den Modi ist, sie also weder ein Für-sich-Bestehen unabhängig von der Totalität der Modi hat, noch gegenüber ihren Produkten, den Modi, 8 

M. Gueroult, Spinoza I, Paris 1968, 243 ff. Über Spinozismus beim frühen Schelling  |  375

einen nicht schon zur Erfüllung gelangten Rest zurückbehält, erlaubt es Spinoza, auch eine Theorie des endlichen Modus zu geben.9 Sie bestimmt das Sein des Endlichen aus der absoluten Substanz in ihm ebenfalls als potentia (I, prop. 36), die sich als ein Streben (conatus) des singulären Seienden artikuliert (III, prop. 7), in dem das Individuum auf sich bezogen ist und darin auf das Absolute in ihm (III, prop. 6). Die absolute Substanz ist so nicht ein dem endlichen Modus transzendent bleibendes Absolutes, in dem er, unter Absehen von den Bedingungen seiner Endlichkeit, seine Erfüllung fände und an dem er für das eigene Streben seinen, letztlich teleo­logischen, Maßstab hätte, der, zum Maßstab der Orientierung genommen, in der Tat, wie Schelling Spinoza umdeutet, nichts anderes als die Vernichtung der Endlichkeit zum Ziel hätte. Schelling hingegen, der das Absolute aus dem Akt einer intellektualen Anschauung gewinnt, der wesentlich als Befreiung von den empirischen Bedingungen, unter denen die endliche Subjektivität steht, zu verstehen ist, konzipiert das absolute Ich als ein solches, das von aller Endlichkeit absieht und das deshalb von sich aus auch nicht mehr zu der Empirie gelangen kann?10 Der Akt des Setzens aller Realität, Merkmal des absoluten Ich, den Schelling in Anpassung an Spinozas Terminologie auch einen Akt der Kausalität nennt (§§ 13 u. 14), wird, negativ charakterisiert, daß er nämlich wie bei Spinoza nicht »als Moralität, Weisheit usw.« (II, 129) zu verstehen ist; er bleibt, positiv, jedoch leer, weil er nicht zu vom absoluten Ich verschiedenen Inhalten gelangt. Der Nachweis, daß die Unbedingtheit der Freiheit nicht aus dem Streben des empirischen Ich, einen Selbstand angesichts der das Ich bedrängenden objektiven Zusammenhänge zu erlangen, gewonnen werden kann, ist nicht auch schon der Nachweis, daß »jenes Streben des empirischen Ichs und das daraus hervorgehende Bewußtsein … selbst ohne Freiheit des absoluten Ichs nicht möglich (wäre)« (II, 105). Denn er kann den Nachweis eines empirischen Strebens überhaupt nicht erbringen. Andererseits nimmt die These, daß ohne ein absolutes Ich »alle Freiheit … geleugnet werden« müßte (II, 133), in Anspruch, daß es   9 

Verf., Selbstsein und Absolutes [in diesem Band, S. 53–103].

10 I. Görland, Die Entwicklung der Frühphilosophie Schellings in der Aus-

einandersetzung mit Fichte, Frankfurt 1973, 19 ff. 376  |  III. Bezüge 

eine von der absoluten Freiheit verschiedene Freiheit gibt, zumindest die des empirischen Subjekts in dessen theoretischen und praktischen Weltverhalten (vgl. § 15), für die die absolute Freiheit als Erklärungsprinzip auftreten soll. Schelling sieht, daß die Untersuchung für die Begründung dieses Anspruchs einen Perspektivenwechsel vornehmen muß. Er kann nicht im Ausgang vom absoluten Ich begründet werden, sondern nur im Ausgang vom empirisch-endlichen Ich, das durch eine Leistung charakterisiert ist, die nicht die des absoluten Ich ist. Diese von der intellektualen Anschauung verschiedene Leistung nennt Schelling Synthesis, die eine Antithesis voraussetzt. Im absoluten Ich, das als selbstmächtige Kausalität reine gegensatzlose Thesis ist, ist keine Synthesis, wie dort keine Antithesis ist. Antithesis ist überhaupt nur unter den Bedingungen der Endlichkeit denkbar, genauer der Zeitlichkeit, in der etwas im Nacheinander gesetzt wird. »Nur dadurch, daß dem Ich ursprünglich etwas entgegengesetzt, daß das Ich selbst als Vielheit (in Zeit) gesetzt wird, ist es möglich, daß das Ich über die Einheit des bloßen Gesetztseins in ihm hinausgehe, und z. B. dasselbe Gesetzte mehrmals setze« (II, 149 f.). Die Antithesis kann sich nicht aus der Thesis ergeben.11 Schelling bindet sie an ein »Naturgesetz der Endlichkeit«, das er dem »Gesetz des absoluten Seins«, das Merkmal der Thesis ist, entgegenstellt (II, 163 f.). Erst der Gegensatz, der nicht für das absolute Ich ist, sondern nur für das endliche, führt zu dem Begriff einer Synthesis. Sie gilt ebendeshalb auch nur für das endliche Ich; Schelling nennt sie »moralisches Gebot« (ebd.). Die Synthesis ist ein Gebot, weil sie eine Verknüpfung des Endlichen mit dem Absoluten ist, die nicht aus dem Absoluten folgt, sondern von dem endlichen Subjekt eigens zu erbringen ist, dann nämlich, wenn es in seinem Eingelassensein in die Welt der es bedingenden Objekte seine eigene Identität gegen ein Bestimmtsein durch Äußeres bewahren will. Die Identität ist nicht schon Folge des Naturgesetzes der Endlichkeit; unter den Bedingungen der Endlichkeit ist sie erst zu erstreben. Für dieses Streben muß Freiheit in Anspruch genommen werden und damit eine Unbedingt11 

A. Schurr, Philosophie als System bei Fichte, Schelling und Hegel, Stuttgart 1974, 121 ff. Über Spinozismus beim frühen Schelling  |  377

heit, die aus der Endlichkeit nicht verständlich gemacht werden kann. Es ist die Wirksamkeit des Absoluten im Endlichen, die das endliche Ich erst dazu bringt, das eigene Selbst zu erhalten zu suchen. Doch ist das Streben nicht eine Wirkung, die aus dem Absoluten mit absoluter Notwendigkeit erfolgte. Schelling bestimmt es vielmehr als ein Sollen und damit als einen moralischen Akt (die Synthesis ist eine moralische Synthesis), der den Charakter einer Forderung hat, die gegen das, was das endliche Ich gemäß seiner Natur tut, eigens zur Geltung gebracht wird. Das kann nur unter der Voraussetzung sinnvoll sein, daß das Endliche nicht immer schon durch das Absolute bestimmt ist, sondern sich eigens in Beziehung zu ihm bringen muß, was einschließt, daß es sich gegen es verhalten kann. Das geschieht immer dann, wenn es keine Synthesis vollbringt und in der gegenständlichen Welt sich verliert. Wer keine Synthesis vollbringt, ist nicht moralisch; derjenige ist es nicht, der um kein Unbedingtes in sich weiß – er ist dann unfrei. Aber auch dasjenige ist es nicht, das nichts als unbedingt ist – es ist absolut frei. Die Freiheit des Endlichen, die an eine Synthesis gebunden ist, ist eine Freiheit in der Spannung von Endlichkeit und Unendlichkeit, also nie jene absolute Freiheit, als die sich das Ich in der intellektualen Anschauung, die alles Endliche negiert, erfährt. Synthesis, als Moralität gefaßt, muß als eine dem Subjekt zurechenbare Leistung verstanden werden, weil in ihr das Subjekt sich als endliches selbst bestimmt, gewiß nicht ohne das Absolute, aber nicht durch es. Wird diese Leistung als ein Akt verstanden, der einer Forderung, ein Selbst zu sein, nachkommt und der deshalb unter der Kategorie des Sollens steht, wäre der Spinozismus verlassen. Ist das Absolute in allem und darin nicht nur bei sich selbst, sondern zugleich bei einem von ihm Verschiedenen, einem Endlichen, dann kann aufgrund dieses Inseins das Endliche so wenig wie das Absolute unter moralischen Kategorien gefaßt werden – diese von Schelling verworfene naturalistische Lösung des Spinoza gibt immerhin die Möglichkeit an die Hand, eine Theorie des Strebens des endlichen Individuums zu entwickeln, bei dem das Individuum auf sich in seiner Endlichkeit bezogen ist, die es nicht auf ein Absolutes hin zu transzendieren hat, die es vielmehr gegenüber anderem Endlichen zu sichern hat. Eine von der Vernunft geleitete Sicherung 378  |  III. Bezüge 

wird dabei die Individualität des anderen berücksichtigen (Eth. IV, prop. 18, schol.), so daß die Chance, sich selbst zu erhalten, beim Vernünftigen größer sein wird als bei demjenigen, der blind seinen Affekten folgt. Sich selbst zu erhalten, kann jedoch keine das Handeln bestimmende Forderung an ein Individuum sein, das immer schon der eigenen individuellen Natur gemäß handelt. Bezogen auf den Begriff individueller Freiheit, hat Schelling diesen Gedanken in seiner »Neuen Deduktion des Naturrechts« aufgenommen und gezeigt, daß der Rekurs auf die Faktizität des individuellen Strebens nach Selbsterhaltung einen bestimmten Begriff des Rechts ergibt. Von ihm sucht Schelling zu zeigen, daß er, auf einer bloßen Behauptung von Individualität gegen äußere Freiheitsbeschränkungen basierend, in den Naturalismus eines Naturrechts mündet, das gegen äußere Gewalt selber nur als Gewalt auftreten kann, also nur noch Raum läßt für eine freiheitswidrige Ausübung von physischer Macht gemäß der faktischen Ausstattung des je einzelnen. Aber Schellings Kritik des Naturalismus, die Spinozas Ineinssetzung von Recht und Macht (Tractatus Politicus II, § 3) als freiheitswidrig zurückweist, ist zugleich die Attacke gegen einen Rechtsanspruch des empirischen Individuums in dessen natürlichen und darin immer beschränkten Grenzen. Sie ist ihrerseits die Konsequenz des Konzepts des Absoluten als eines absoluten Ich, das aufgrund seiner reinen Selbstbezüglichkeit mit dem durch ein Nicht-Ich bestimmten Endlichen unverträglich ist und darin in Opposition zur Endlichkeit überhaupt steht. Das führt dazu, daß Schelling in der Schrift »Vom Ich« das Absolute in Anbetracht der antithetischen Faktizität menschlicher Endlichkeit selber unter die Kategorie der Forderung bringt, die sich gegen eine Behauptung von Individualität richtet. »Das absolute Ich nämlich fordert schlechthin, daß das endliche Ich ihm gleich werde, d. h. daß es alle Vielheit und allen Wechsel in sich schlechthin zernichte« (II, 125). Unter dieser Perspektive hat das moralische Gesetz, das »bloß in Bezug auf Endlichkeit statt findet« (II, 126), eine die Endlichkeit und darin sich selbst aufhebende Bedeutung. Sein Ziel ist die »Umwandlung« (ebd.) des endlichen Ich in das absolute. Indem Schelling das als Moralität bestimmte endliche Ich gegenüber dem absoluten Ich, für das es keine Moralität gibt, als wesentlich defizient versteht, läßt er das moralische Streben auf eine Notwendigkeit gerichtet Über Spinozismus beim frühen Schelling  |  379

sein, in bezug auf die die individuelle Freiheit nur noch für die Preisgabe ihrer selbst in Anspruch genommen werden kann. Das scheint die Konsequenz eines Konzeptes des absoluten Ich zu sein, das, gut spinozanisch, die Modalkategorie des Möglichen tilgt. Was es nur für das endliche Ich gibt, die Unterscheidung des synthetisierend Gesetzten nach Möglichkeit und Wirklichkeit, ist in ein Verhältnis zueinander zu erbringen, so erläutert Schelling das Ziel individuellen Strebens, in dem Möglichkeit und Wirklichkeit identisch sind und in eine Form von Notwendigkeit übergehen, die die des absoluten Ich ist, für das es weder Möglichkeit noch Wirklichkeit gibt. Das Streben des endlichen Ich in bezug auf Möglichkeit und Wirklichkeit muß »so bestimmt werden, wie das Sein des unendlichen Ichs bestimmt wäre, wenn es mit Möglichkeit und Wirklichkeit zu tun hätte« (II, 163). Ziel des Endlichen wäre dann eine Vernichtung des Endlichen, die auch noch dem Endlichen zugemutet wird, jene Paradoxie, die Schelling Spinoza unterstellt. III.

Allerdings, Schellings methodisches Vorgehen in der Schrift »Vom Ich«, das das A und 0 der Philosophie, die Freiheit, in einer doppelten Perspektive des Ich verankert, in ihm, das einer intellektualen Anschauung fähig ist und darin absolutes Ich ist, und in ihm, das einer Naturgesetzlichkeit der Endlichkeit unterliegt, die aus dem absoluten Ich nicht deduzierbar ist, eröffnet auch die Möglichkeit, eine Theorie der menschlichen Freiheit zu exponieren, die diese nicht mit der absoluten Freiheit zusammenfallen läßt. Und nur eine solche Theorie könnte das in den »Briefen über Dogmatismus und Kritizismus« skizzierte Programm eines antidogmatischen Kritizismus einlösen, demzufolge es die zu erhaltende Selbigkeit des endlichen Ich ist, in bezug auf die die Theorie des Absoluten und damit einer absoluten Freiheit ihre Rechtfertigung hat. Indem Schelling das endliche Ich als Synthesis bestimmt und diese als ein Sollen versteht, muß er dem endlichen Ich Freiheit zusprechen. Das Merkmal, das konstitutiv für das absolute Ich ist, muß auch einem Ich zukommen, das nicht absolut ist. Denn nur ein freies Ich kann sollen, und zwar ein freies empirisches Ich, weil 380  |  III. Bezüge 

nur ein empirisches Ich etwas soll, das es nicht immer schon ist. Dies verständlich zu machen, hat Schelling »zu den schwersten Problemen der ganzen Philosophie« (II, 166) gerechnet, eben weil die Theorie des Absoluten nicht am Absoluten selbst entschieden wird. Der eigentliche Streit der Philosophen »konnte also nie absolute … Freiheit … betreffen« (II, 167). Wie aber dem, das nicht durch sich selbst existiert, dem Endlichen, ein Merkmal des Absoluten soll zukommen können, also »wie ein empirisches Ich Freiheit haben solle, nicht wie ein intellektuales Ich intellektual, d. h. absolutfrei sein könne, sondern wie es möglich sei, daß ein empirisches Ich zugleich intellektual sei, d. h. Kausalität durch Freiheit habe« (II, 167 f.), ist das Problem, an dem sich die Theorie des Absoluten zu bewähren hat. Die Freiheit des empirischen Ich kann nicht aus der Empirie begriffen werden, sondern bedarf eines Absoluten, das im empirischen Ich selber sein muß – das ist Schellings Lösung des Problems, die der des Spinoza strukturell verwandt ist. Spinoza, der nicht von einem endlichen Ich spricht, legt dar, so läßt sich im Vorgriff auf die conatus-Theorie wenigstens konsistent interpretieren, daß ein endlicher Modus in dem, was er ist, in seiner Essenz also, nicht durch die Wirksamkeit eines ihm Äußeren, d. h. anderer Modi, begriffen werden kann, sondern nur aufgrund einer ihm selbst zukommenden Wirksamkeit (Eth. I, prop. 36), die er von dem Absoluten hat (I, prop. 26). Nur aufgrund einer ihm eigenen potentia, die eine modifizierte potentia Dei ist, kann er überhaupt erst in einem Wirkzusammenhang mit anderen Modi, die ebenfalls je eine potentia quatenus sind, stehen (I, prop. 28), in dem er freilich durch die potentiae der anderen übermächtigt und auch vernichtet werden kann. An diese Form der Intersubjektivität12 knüpft Spinozas Konzept der Politik an, das den Staat als eine Kumulation der Macht der einzelnen im Sinne einer gemeinsamen Macht versteht, die ohne die Macht jedes einzelnen nichts ist und die deshalb um der eigenen Erhaltung willen den einzelnen als eine Macht, und das heißt als ein von sich aus tätiges Wesen, respektieren muß (Tractatus Politicus II, § 13–17; III, § 2–7; V, § 4 u. 5). Schelling folgt Spinoza ganz gewiß nicht im Felde der Politik, aber er folgt ihm doch in der Entfaltung der Bedingung, unter der von 12 

A. Matheron, Individu et communauté chez Spinoza, Paris 1969, 287 ff. Über Spinozismus beim frühen Schelling  |  381

einer Selbständigkeit des Endlichen gesprochen werden kann. Bestimmte Modi, diejenigen, die Ich-Charakter haben können, sind in dem, was deren Sein ausmacht, nicht aus Objekten, in bezug auf die jedes endliche Ich existiert, zu begreifen, sondern allein aus dem absoluten Ich, dem das empirische Ich sein Ich-Sein, wie Schelling sagt, »verdankt« (II, 169). Die Freiheit, die das empirische Ich der absoluten Kausalität des absoluten Ich verdankt, nennt Schelling »transzendentale Freiheit«, eine Freiheit, »die nur in Bezug auf Objekte, obgleich nicht durch sie, wirklich ist« (II, 167). Im Unterschied zur absoluten Freiheit, die eine immanente Freiheit ist, weil das Absolute durch sich selbst ist und bei sich verbleibt, ist die transzendentale Freiheit eine transzendente Freiheit,13 in der das endliche Ich über sich hinausgeht, nämlich auf Objekte hin, denen es als empirisches Ich ausgesetzt ist und in bezug auf die es seine Freiheit bewahren muß. Die trans­ zendentale Freiheit ist darin Ausdruck eines endlichen Ich, das nicht durch sich selbst ist, sondern bedingt durch ein ihm Äußeres, ohne von diesem her auch schon determiniert zu sein. Als trans­ zendentale Freiheit charakterisiert sie ein vom absoluten Ich und dessen Freiheit verschiedenes Subjekt, das in der Verschiedenheit aber von dem Absoluten nicht getrennt ist, da es nur aufgrund eines Unbedingten in sich zu den Objekten, denen es ausgesetzt ist, sich frei verhalten kann. Da das Unbedingte im Bedingten als eine Forderung auftritt, die an das Bedingte und damit an die transzendentale Freiheit ergeht, wäre es nur konsequent, die Realisierung dessen, was gefordert wird, das Selbstsein (»sei«), an die Bedingungen zu binden, unter denen die Freiheit eine transzendentale ist. Die Perspektive der Immanenz des absoluten Ich wäre zu verlassen und die Perspektive der Transzendenz des menschlichen Ich einzunehmen, das seine Freiheit zwar nicht aus den Objekten hat, aber doch nur im Hinblick auf sie, d. h. unter Bedingungen eines empirischen Eingeschränktseins, denen jede Äußerung des endlichen Ich unterliegt. Freiheit wäre dann nicht gegen die Empirie zu retten, sondern angesichts ihrer zu entfalten.

13 

M. Gueroult, La philosophie Schellingienne de la liberté, in: Studia philosophica 14 (1954), 146–161. 382  |  III. Bezüge 

Hierfür müßte die synthetisierernde Leistung des immer auch empirisch bestimmten Ich die Spannung zwischen Thesis und Antithesis festhalten und nicht zu eliminieren suchen. Sie müßte die eigenen Akte gemäß der eigenen Endlichkeit immer als bestimmte Synthesis verstehen, die Schelling den Existentialsätzen zuordnet (II, 154). Im Hinblick darauf könnte das, was Schelling als Synthesis überhaupt den Essentialsätzen zuordnet (ebd.), zur Geltung gebracht werden als kritische Instanz der Überprüfung aller wirklichen Äußerungen des Ich auf deren Freiheitsverträglichkeit hin. Das Festhalten an der Unterscheidung zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen würde die als Moralität konzipierte Synthesis nicht auf ein der Synthesis enthobenes Absolutes hin beziehen, sondern intern gliedern können. In einer Anmerkung zum § 16 (II, 164 f.) deutet Schelling an, wie sich aus einer derartigen internen Gliederung die Begriffe von Recht und Pflicht als die Korrelate von praktischer Möglichkeit und praktischer Wirklichkeit ergeben. Schelling läßt sie zwar in einer nicht näher bestimmten Idealform des Staates zur Identität gelangt sein; sie könnten aber auch unbezüglich darauf ihre Bedeutsamkeit gerade in der Differenz haben. Ist Moralität eine Forderung, die zu verwirklichen ist und darin gebunden an Akte, die im Nacheinander geschehen und jeweils auf Bestimmtes gehen, und nennt man diese Akte Pflichten, dann ergibt sich aus dem Prinzip der Forderung, daß nur das als eine Pflicht verstanden werden kann, was dem Recht als einer Synthesis überhaupt entspricht, die nichts anderes als mögliche transzendentale Freiheit ist. Aus subjektiven Akten, in denen ein empirisches Ich sich verwirklicht, ergibt sich aber umgekehrt nicht schon, daß sie der möglichen Freiheit entsprechen. Sie sind nicht schon eine Verwirklichung der Freiheit, weil die Verwirklichung in dem Bereich der objektiven Welt empirischer Gegegenheiten geschieht und damit in einer Relation von Bedingungen, die einer Unbedingtheit entgegensteht. Verwirklichung der Freiheit ist darin immer Einschränkung der Freiheit, gegen die das Recht als eine Instanz nicht erst zu gebietender, sondern dem Individuum ursprünglich zukommender möglicher Freiheit eine unaufhebbare kritische Instanz ist, mit der das, was als Pflicht angegeben wird, nicht kollidieren darf. In der Neuen Deduktion des Naturrechts wird Schelling formulieren: »Recht nämlich ist das, was zwar nicht notwendig praktischÜber Spinozismus beim frühen Schelling  |  383

wirklich ist, aber ebendeswegen auch nicht unter der bestimmten Bedingung eines Gebotes steht« (III, 152). Diese Definition von Recht steht dabei unter der vorangegangenen Modalitätsbestimmung von möglich und wirklich. Von daher gilt: »Was das Mögliche an Existenz verliert, gewinnt es an Unbedingtheit, und was das Wirkliche an Existenz gewinnt, verliert es an Unbedingtheit« (ebd.). So ist es die Unbedingtheit einer möglichen Synthesis, die nicht das Beisichsein eines absoluten Ich charakterisiert, durch die das empirische Ich als ein Rechtssubjekt charakterisiert werden kann. Angesichts des Verlustes an Unbedingtheit in der Verwirklichung ist eine Unbedingtheit im empirischen Ich als eine Möglichkeit festzuhalten, die, wenn sie sich auch nicht realisieren läßt, doch im Hinblick auf alle wirklichen Akte wenigstens eine Instanz der Beurteilung dieser Akte auf deren Freiheitsverträglichkeit wäre. Und das würde gelten, solange überhaupt Forderungen gestellt werden, die erst zu realisieren sind, solange also Moralität ist und nicht absolute Notwendigkeit. Damit wäre ein ursprüngliches Recht thematisch, das Recht auf eine nicht erst zuzugestehende individuelle Freiheit, das das Individuum gegen alle freiheitseinschränkenden empirischen Äußerungen anderer Individuen behaupten darf. Es kann ein Naturrecht des einzelnen genannt werden,14 das sich mit dem Anspruch auf individuelle Freiheit gegen verfehlte Ansprüche anderer, mögen sie auch im Namen eines allgemeinen Willens auftreten, richtet, nicht aber gegen den freiheitlichen Willen anderer, der in seinen empirischen Äußerungsformen nicht aufgeht. In einem solchen Naturrecht ist deshalb nicht jene Verengung des Rechts auf eine mit der Freiheit auch das Recht aufhebende bloß natürliche Macht der Individuen gelegen, als die Schelling in seiner Naturrechts-Abhandlung das Naturrecht deutet (§ 162). Die Differenzierung der transzendentalen Freiheit in eine wirkliche und mögliche Synthesis enthielte vielmehr eine wirkliche Alternative zum Spinozismus, indem sie das Recht des Individuums nicht mit dessen faktischer Macht zusammenfallen ließe, d. h. mit der zu einem je Bestimmten modifizierten Macht der absoluten Substanz, über die hinaus das Individuum nichts für sich ist. 14 

M. Osten, Der Naturrechtsbegriff in den Frühschriften Schellings, Diss. Köln 1969. 384  |  III. Bezüge 

Für Spinoza realisiert sich das Selbstsein des Individuums, dessen conatus in suo esse perseverandi, im Kontext zu anderem Seienden endlicher Art, und das in den natürlichen Grenzen der faktischen Ausstattung der empirischen Individuen, gegenüber welcher Faktizität noch eine Potentialität anzunehmen das Konzept der nicht durch Potentialität ausgezeichneten absoluten Substanz verbietet. Auch Schelling entfaltet nicht den möglichen Gehalt einer Theorie, die im empirischen Ich eine auf Empirie nicht reduzierbare Potentialität aufweist, an die sich ein durch Freiheit begründetes Recht binden ließe. Dies kann letztlich als Konsequenz seiner Theorie verstanden werden, die durch einen Spinozismus belastet ist, den Schelling in dessen interner Struktur nicht einmal hinreichend durchschaut und den er auf die Verträglichkeit mit einer durch Kant geprägten Subjektivitätstheorie auch nicht hinreichend überprüft. Indem Schelling die in der Freiheit gegründete Unbedingtheit des Ich, die nur ein Moment des empirischen Ich ist, zu einem spinozanischen Absoluten erhebt, überspringt er den Moment-Charakter der transzendentalen Freiheit und verengt zugleich den Begriff des Absoluten zu einer weltlosen Einseitigkeit, die es ihm unmöglich macht, überhaupt einen Zusammenhang zu exponieren, in dem der Begriff der Potentialität des endlichen Ich allein entwickelt werden kann. Die das menschliche Subjekt bedingende Welt der Objekte, die dessen Endlichkeit konstituieren, bleibt prinzipientheoretisch unthematisch, herabgesetzt zu einer Ursache von Endlichkeit, die selber nicht vom absoluten Ich verursacht ist. Sie ist bloße Ursache von Schranken der Endlichkeit, die mit dem Absoluten unverträglich sind. Die auf das absolute Ich sich beziehende transzendentale Freiheit wird von Schelling letztlich als Vernichtung der Schranken und damit der objektiven Welt verstanden. Die Kausalität des empirischen Ich, d. h. seine Freiheit, die es der absoluten Freiheit verdankt, muß »in Bezug (nicht auf Objekte, sondern) auf Negation aller Objekte gedacht werden« (II, 170). Transzendentale Freiheit wird als mögliche Identität mit der absoluten verstanden, was mit dem Preis einer Negation dessen, was die Transzendentalität ausmacht, erkauft ist: »Denn Negation der Objekte ist gerade dasjenige, worin beide, absolute und transzendentale Freiheit zusammenstimmen können« (ebd.). Mag das Negieren bei der transzendentalen Freiheit im Unterschied zur Über Spinozismus beim frühen Schelling  |  385

absoluten auch an ein unendliches empirisches Streben gebunden sein, so »treffen (doch) beide in der Negation zusammen« (ebd.). Die Differenz zwischen beiden ist keine prinzipielle, sondern nur eine quantitative, einen Umfang betreffend, der unwesentlich ist. Das Merkmal des Endlichen, transzendent zu sein, nämlich bezogen zu sein auf ein ihm Äußeres von gleichem Status, ein ebenfalls Endliches, das das menschliche Subjekt auf andere Subjekte gleicher Art verweist und darin die unaufhebbare Differenz zum Absoluten markiert, wird in der Angleichung der transzendentalen Freiheit an die absolute zu einem zu beseitigenden Merkmal. Die mögliche interne Differenzierung der transzendentalen Freiheit in den Akten einer empirischen Verwirklichung gerät aus dem Blick, wenn die transzendentale Freiheit in bloß quantitativer Differenz zur absoluten Freiheit steht. Denn dieses Verständnis erlaubt nicht, die transzendentale Freiheit an ihr selbst zu qualifizieren. Der spinozistische Gott, zu einem absoluten Ich transformiert, läßt in Schellings Spinozismus nur die Konsequenz zu, daß »unser höchstes Bestreben« in »die Zerstörung unserer Persönlichkeit« (Plitt I, 77) und damit des individuellen Selbst, in dem ein freiheitsgegründetes Bestreben allein gelegen ist, mündet. Dieses Paradox gründet in einer Doppeldeutigkeit im Begriff des Ich, von dem Schelling meint, er beschreibe sowohl das Absolute als auch ein menschliches Subjekt, die nur quantitativ geschieden sind. Am Ende seiner Schrift »Vom Ich« macht Schelling den hoffnungs­losen Versuch, die transzendentale Freiheit des empirischen Ich auch noch mit der Naturkausalität dieses Ichs mit Hilfe des absoluten Ich in Übereinstimmung zu bringen, also den attributiven Parallellismus der spinozanischen Substanz auf das in sich gar nicht hinreichend strukturierte absolute Ich zu übertragen. Das führt zu der bloßen Versicherung, daß »die Objekte gleichfalls ihre Realität nur durch die absolute Realität des Ich erhalten« (II, 173). Sie suggeriert, daß die menschliche Freiheit, die sich einer Natur im Sinne des Physischen ausgesetzt sieht, in der sie sich äußert, als Annäherung an die Freiheit des Absoluten, die dessen eigene Natur ist, verstanden werden könnte und daß sie sich in der Notwendigkeit eines Absoluten erfüllte, die die Freiheit nicht bewahren muß, weil sie nichts als Freiheit ist.

386  |  III. Bezüge 

Über Anfang und Fortgang von Spinozas »Ethik« (Spinoza versus Fichte) Spinoza und Fichte sollen nicht historisch miteinander verglichen werden, sondern systematisch. Aber selbstverständlich stehen ihre Systeme in einem historischen Kontext, sind Reaktionen auf eine vorangegangene Philosophie, an deren Systematik sie ein Ungenügen konstatiert haben, das es zu beseitigen gilt. Die beiden Bezugspunkte sind, jedermann weiß es, für Spinoza Descartes und für Fichte Kant. Beide Antipoden, Descartes wie Kant, haben mit ihrer Theorie eines endlichen Subjekts einen Prinzipiendualismus verbunden, den Spinoza wie Fichte durch eine Theorie des Unbedingten, das nicht Subjekt ist, überwölbt haben. Und für beide hat sich die Notwendigkeit einer solchen Theorie aus bestimmten Defiziten der von Descartes bzw. Kant erörterten Struktur des end­ lichen Subjekts ergeben. Wenn wir mit den Mitteln, die wir aus unserem endlichen Ich gewinnen können, in unserem Erkennen nicht hinreichend weit genug kommen, müssen wir auf eine andere Instanz zurückgreifen, die mehr kann als wir, weil sie, befreit von unserer endlichen Bedingtheit, unbedingt ist, mag man ihr nun wie Descartes eine konstitutive oder wie Kant eine bloß regulative Bedeutung zusprechen. So zu verfahren führt aber, so wird Spinoza gegen Descartes einwenden, zu einer schlechten Theorie des Unbedingten. Denn sie verfehlt gerade das, was Unbedingtheit ist, wenn sie im Ausgang von einem Bedingten auf das Unbedingte hinführt, weil sie dann diesen Ausgang zwangsläufig in das Unbedingte hineinträgt. Und auch Fichte wird gegen Kant sagen, daß die unterschiedlichen Formen menschlichen Wissens nicht in einen möglichen und erst zu findenden Einheitspunkt zusammenzubringen sind, daß sie vielmehr aus einer vorgängigen Einheit, einem Absoluten, herzuleiten sind. Vor diesem Hintergrund ergibt sich zunächst eine Gemeinsamkeit in den Systemen Spinozas und Fichtes – beide Systeme sind monistisch, und beide beginnen ihr System mit einem Prinzip von   |  387

Einheit, das sie gegen das in ihren Augen verfehlte Programm ihrer jeweiligen Vorgänger wenden, auf das oberste Prinzip von Einheit im Ausgang von einem durch Gegensätzlichkeit gekennzeichneten Endlichen erst hinzuführen. Doch ist hinsichtlich dessen, was denn dieses Prinzip von Einheit ist, der Unterschied zwischen beiden gravierend. Für Spinoza ist es Gott, für Fichte ist es, wenigstens in dessen früher Phase, die ich hier allein im Blick habe, das Ich, und das sind offensichtlich ganz unterschiedliche Instanzen, die den Begriff des Absoluten jeweils füllen. Ich will im Folgenden über Spinoza sprechen und dabei versuchen, seine Position in einen Kontrast zur Position Fichtes zu bringen. Für Spinoza ist das Absolute und damit das oberste Prinzip eines durch es gegliederten Systems Gott bzw. eine Substanz, die unbedingt unendlich ist, was sie nur ist, wenn es nicht nur nicht noch weitere Substanzen gibt, sondern wenn es überhaupt nichts außerhalb von ihr gibt. »Deus […] a nemine coactus agit« (Eth. I, prop. 17). Gott wird weder von einer äußeren (extrinsece) noch einer inneren Ursache (intrinsece) zu einem Handeln angetrieben, weder von Dingen, die hervorzubringen für ihn lohnend wäre, noch von Überlegungen, die dieses Hervorbringen gut sein ließen und ihm zur Ehre gereichten. Vielmehr ist Gott nichts als Handeln, das deshalb mit dessen Natur identisch ist, insofern es aus der bloßen Notwendigkeit der Natur Gottes erfolgt (I, prop. 17, coroll. 1 u. 2). Ein so verstandenes Absolutes kann in Spinozas Augen nicht ein Ich sein; wäre es ein solches, dann könnte es als absolutes zwar auch nur ein einziges sein, also ein überindividuelles Ich, das aber für Spinoza nichts als ein Abstraktion wäre, ein ens rationis, also ein schlechter Begriff, der keine Wirklichkeit beschreibt. Das Ich, Spinoza bevorzugt den Ausdruck mens humana, ist für Spinoza grundsätzlich durch etwas, was es nicht ist, bestimmt, also durch ein aliud, ein Anderes, das ein Außerhalb ist, was ausschließt, das Ich als ein Unbedingtes, in Spinozas Terminologie als eine Substanz, zu fassen. Absolutes Ich ist ein in sich widersprüchlicher Begriff. Weder kann mit dem Ich Absolutheit verbunden werden, noch kann das Absolute durch Merkmale eines Ich bestimmt werden. Denn ein Ich ist untrennbar durch Merkmale des Denkens gekennzeichnet, um dessen Realität als eine ihm eigene Realität es nur wissen kann, 388  |  III. Bezüge 

wenn es sich von dem, was es denkt, unterscheidet, also unter der Voraussetzung, daß das Ich ein Außerhalb seiner selbst hat. Die epistemische Differenz zwischen Subjekt und Objekt als zwei selbständigen Gliedern, deren Einheit erst die Selbigkeit des Ich in der Abfolge seiner Gedanken ausmacht, könne nicht in einer Einheit gründen, die im Ich selbst gelegen ist, sondern allein in einem dem Ich vorgängigen Ursprung. Von diesem Ursprung ist dasjenige Merkmal auszuschließen, das die mens humana auszeichnet, das Merkmal zu denken. »Homo cogitat«, heißt es in einem Axiom, das offenbar einen empirischen Tatbestand aufgreift, lapidar (II, ax. 2) in dem Teil der »Ethik«, in dem Spinoza die Struktur des menschlichen Geistes entwickelt. Impliziert ist in diesem Satz der weitere Satz, der die Eigentümlichkeit der spinozanischen Theorie des Absoluten beschreibt: »Deus non cogitat«. Ihn formuliert Spinoza zwar nicht ausdrücklich, doch vertritt er ihn der Sache nach ausdrücklich (I, prop. 17, coroll. 2, schol.; vgl. auch Ep. 9). Für Spinoza ist dies eine Voraussetzung dafür, daß Gott ein Erklärungsgrund unseres Denkens sein kann. Doch läßt sich hinsichtlich des Ziels der beiden einem Prinzipienmonismus verpflichteten Systeme bei aller hier skizzierten Differenz durchaus eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Spinoza und Fichte ausmachen. Die Theorie des absoluten Ich dient Fichte zweifellos dazu, Operationen des endlichen Ich in einer Weise verständlich und begreifbar zu machen, von der er überzeugt ist, daß sie sich nicht auf eine Analyse bloß des endlichen Ich stützen kann. Meine These ist nun, daß dies auch das Programm Spinozas ist.1 Ich halte es für ausgeschlossen oder zumindest für höchst unwahrscheinlich, daß Spinoza, angestoßen von Descartes und sich bewegend im geistigen Milieu des Cartesianismus, in seiner Philosophie die Rolle des Subjekts hat depotenzieren wollen zugunsten einer Theorie von subjektlosen Weltereignissen, wie manche Interpreten jenseits des Rheins es gerne haben möchten.2 Descartes hat mit dem Ich-Subjekt begonnen und von ihm auf Gott hingeführt. Spi1 

Ich habe diese These ausführlich in meinem Buch »Spinozas Theorie des Menschen«, Hamburg 1992, entwickelt. 2  Beispielhaft P. Macherey, Introduction à l´Ethique de Spinoza, 5 Bde., Paris 1994–1998. Über Anfang und Fortgang von Spinozas »Ethik«  |  389

noza dreht dies um; er beginnt, unmittelbar und einführungslos, mit Gott und schreitet dann zum Subjekt des menschlichen Geistes fort, zu diesem und allein zu diesem, obschon aus der Natur Gottes, wie Spinoza in Lehrsatz 16 des der Ontologie gewidmeten 1. Teils der »Ethik« formuliert, unendlich Vieles und dies auf unendlich viele Weisen folgen muß. Den Anfang mit einem geistlosen Absoluten zu machen, das unbezüglich auf unsere Subjektivität ist, ist ein methodisches Vorgehen Spinozas, weil seines Erachtens nur so eine Theorie des Absoluten konzipiert werden kann, in die nicht Konnotationen der Endlichkeit, nämlich eines endlichen Subjekts, eingehen. Das heißt natürlich nicht, daß auf der Grundlage einer solchen Theorie nicht eine Theorie des endlichen Subjekts entwickelt werden kann; mehr noch, ich möchte Spinoza so lesen, daß sie sogar dazu dient, eine diesbezügliche Theorie zu entwickeln. Ich gehe davon aus, daß der Aufbau des 1. Teils der »Ethik«, der von Gott handelt, in seinen großen Zügen bekannt ist. Nach vorangestellten Definitionen und Axiomen folgt eine Abfolge von Lehrsätzen, die aufeinander aufbauen, insofern sich deren Beweise jeweils auf zuvor schon Bewiesenes stützen. Die Lehrsätze entfalten Strukturmerkmale Gottes bzw. der unbedingten Substanz, Merkmale, die der Autor entfaltet, nicht etwa die Substanz selbst, deren Sichentfalten er nur zusähe. Er ordnet die Abfolge so an, wie er meint, die Merkmale besser beweisen zu können. Es ist das Nacheinander einer beweisstrategischen Abfolge. Neben den Lehrsätzen gibt es noch eine große Zahl von Anmerkungen (scholia), die außerhalb des Deduktionsganges der sachhaltigen Strukturen Gottes stehen und in denen der Autor unter anderem auch darauf reflektiert, was er mit seiner Strukturtheorie beabsichtigt, was er also zeigen will – Hinweise, die für das Verständnis dieses sperrigen Textes außerordentlich hilfreich sind. In Anmerkung 2 zu Lehrsatz 33, der die Notwendigkeit der Produktion der Dinge aus Gott darlegt, daß also die Dinge in keiner anderen Ordnung von Gott hervorgebracht werden können, als sie hervorgebracht worden sind, d. h. daß Gott allein aus der Notwendigkeit seiner Natur heraus handelt, nicht aber aus der Freiheit eines Willens, der seinen Produkten transzendent wäre und der deshalb auch anders könnte, in dieser Anmerkung sagt Spinoza, daß diejenigen, die die Abfolge seiner Beweise gehörig erwägen wollen, jenes traditionelle 390  |  III. Bezüge 

Konzept Gottes, das ihm die Freiheit eines unbedingten Willens zuschreibt, nicht bloß als töricht, sondern auch als »ein großes Hindernis für die Wissenschaft« (magnum scientiae obstaculum) verwerfen würden. Mit seiner Strategie, die auf Wissenschaft und damit Wissen abhebt, verweist Spinoza auf ein Demonstrationsziel, das er aus einer Strukturanalyse bloß Gottes gar nicht gewinnen kann. Denn Gott befördert von sich aus gewiß keine Wissenschaft, die eine menschliche Angelegenheit ist, die ihm, der sich nicht um Menschen kümmert, ganz gleichgültig ist. Gott hat nicht nur keinen Willen, sondern auch keinen Verstand. Er kalkuliert nicht. Aber wir Menschen sind es, die an Wissenschaft interessiert sind, zumindest ist es Spinoza selber, der für eine Theorie unbedingten menschlichen Wissens plädiert und dafür ein unbedingtes Prinzip annimmt, weil allein es eine solche Form des Wissens möglich macht. Nun ist menschliches Wissen ein Wissen von der Welt und von der Stellung, die der Mensch in ihr einnimmt. Soll dieses Wissen wahres Wissen sein und nicht ein perspektivisch verzerrtes, in Spinozas Terminologie nicht ein inadäquates, sondern ein Wissen, das die Dinge der Welt erfaßt, wie sie an sich selbst sind, und das Spinoza adäquat nennt, dann bedarf es dafür eines unbedingten Prinzips, das nicht das endliche Subjekt, das ein Teil der Welt ist, sein kann, das aber von diesem Subjekt in seiner Endlichkeit und damit Partialität muß gewusst werden können. Die elementare Voraussetzung hierfür ist, daß dieses Prinzip sich vollständig in der Welt erfüllt und ebendeshalb von einem Wesen dieser Welt auch vollständig, d. h. unverkürzt, erkannt werden kann. Der Terminus, mit dem Spinoza diesen Sachverhalt beschreibt, ist der einer immanenten Kausalität. »Deus est omnium rerum causa immanens« (I, prop. 18). Gott ist die Ursache aller Dinge, die Welt als die Gesamtheit aller Dinge also seine Wirkung, und wahre Erkenntnis ist für Spinoza die Erkenntnis von etwas aus dessen Ursache. Das Absolute ist demnach ein Seiendes, das existiert, weil nur ein Seiendes Wirkungen hervorrufen kann, so daß Spinoza für den Begriff Gottes den aus der Dingontologie stammenden Begriff der Substanz einsetzen kann. Und er ist immanente, nicht transiente Ursache, weil er in seinen Wirkungen aufgeht und nicht einen Rest an Potentialität für sich zurückbehält, die besagte, daß er auch anÜber Anfang und Fortgang von Spinozas »Ethik«  |  391

ders produzieren könnte. Behielte er etwas für sich zurück, wäre er in dem, was er ist, nicht aus seinen Produkten, die Spinoza Modi nennt, erkennbar und bliebe in seiner Unbedingtheit der menschlichen Rationalität verschlossen. Deshalb hält Spinoza die Prädikate »Verstand« und »Wille« von Gott fern, also eine schöpferische Intelligenz, die mögliche Welten vor Augen hat, aus denen sie dann, nach welchem Gesichtspunkt auch immer, eine Welt, in der Regel die beste, auswählt und darin zur wirklichen Welt macht. Das Sein der Dinge folgt nicht aus der göttlichen Natur, weil Gott die Dinge vorher erkannt hat, heißt es, in Vorbereitung einer Theorie menschlichen Erkennens, im zweiten Teil der »Ethik« (II, prop. 6, coroll.). Eine Begründungsfunktion für unser Erkennen hat das erste Prinzip demnach nur dann, wenn es durch das, was uns auszeichnet, nicht charakterisierbar ist. Hätte das unendliche Prinzip einen unendlichen Verstand, dann hätte unser Verstand ein Maß, hinter dem er stets zurückbleiben müßte, so daß ihm nur eine defizitäre Erkenntnis verbliebe. Ist das unbedingte Prinzip hingegen eine vermögensneutrale Macht (potentia), so wie Spinoza es bestimmt (I, prop. 34), die sich in ihrem Äußerungen restlos erfüllt, dann ist es in seinen Äußerungen prinzipiell begreifbar. Der Monismus dieses Prinzips, demzufolge es nur eine Substanz gibt, stellt dabei sicher, daß die Welt nicht in unverbundene Teilbereiche zerfällt, sondern als Feld der Äußerungen der einen Substanz in ihrer Totalität einheitlich strukturiert ist. Gott ist nicht eine Instanz für sich, die dann auch noch produziert, sondern er ist seiner Essenz nach in den Dingen sich erfüllende Produktivität. Er ist nur causa sui, sofern er zugleich causa omnium rerum ist (I, prop. 25, schol.). Die Produktivität des ersten unbedingten Prinzips umfaßt also alles, was überhaupt ist, nicht als ein mögliches, sondern als wirkliches Seiendes. Dieses existierende Alles ist aber Spinoza zufolge ein Vieles. Seine These ist, daß unendlich viele endliche Modi existieren, ohne daß er irgendwo versuchte, diese Vielheit aus dem Prinzip der Einheit herzuleiten. Was Spinoza aus dem unendlichen Prinzip, der einen Substanz, herleitet, und das konsequent, ist, daß aus ihm nur unendliche Modi folgen können, die, wie das Prinzip selbst, ewig sind (I, prop. 21–23), während demgegenüber alle endlichen Modi durch Vergänglichkeit ausgezeichnet sind, also durch eine verge392  |  III. Bezüge 

hende Dauer in der Zeit. Und aus dem Ewigen, das nicht in der Zeit ist und sich auch nicht in der Zeit entfaltet, kann nichts Zeitliches folgen. Ebenso konsequent macht Spinoza deutlich, daß die unendlichen Modi sich nicht zu endlichen modifizieren können, anders gewendet, daß endliche Modi nicht aus unendlichen hervorgehen können, unendliche Modi also nicht Ursache der endlichen sind. Angesichts dieses Verzichts auf eine Deduktion bleibt mit Spinoza nur zu konstatieren: Daß endliche Modi existieren, d. h. daß es eine Vielheit von individuellem Seienden gibt, ist ein Faktum, das, nicht hergeleitet aus dem unendlichen Prinzip, einfach aufgegriffen wird, im Hinblick worauf dann zu zeigen ist, daß ein solcher­ maßen Existierendes sein Sein darin hat, ein Modus der göttlichen Substanz zu sein. Das scheint mir ein sinnvolles philosophisches Programm zu sein, nicht aber eine Schwäche, wie die deutschen Idealisten meinten, sondern gerade eine Stärke des Spinozismus3: Endliches nicht aus dem Absoluten deduzieren zu wollen, sondern am Endlichen und bezogen auf dessen Besonderheit aufzuzeigen, daß das Endliche sein Sein und ineins damit seine Begreifbarkeit aus dem Absoluten hat. Die unabhängig von aller Endlichkeit konzipierte Theorie des Absoluten enthält hierfür zwei wesentliche Voraussetzungen: 1. Ein endlicher Modus, der nicht von der göttlichen Substanz unmittelbar verursacht sein kann, ist von einem anderen endlichen Modus verursacht und dieser wiederum von einem anderen und dies ins Unendliche, wobei die ganze Kette des hier statthabenden Kausalzusammenhangs von der einen Substanz her bestimmt ist, die diese Kette streng determiniert sein läßt (I, prop. 28 u. 29). 2. Unter der Voraussetzung, daß es Endliches gibt und diesem ein wirkliches Sein zukommt, ist gemäß der Theorie der immanenten Kausalität Gottes auch jedes Einzelne selbst durch das die Essenz Gottes ausmachende Merkmal bestimmt, nämlich Macht (potentia) zu sein und damit Ursache von Wirkungen zu sein. Genau damit endet der erste Teil der »Ethik«: »Nichts existiert, aus dessen Natur nicht irgendeine Wirkung erfolgt« (I, prop. 36). Das Merkmal, Ursache 3 

Andeutungen dazu in meinem Buch »Baruch de Spinoza«, 2. Aufl. München 2006, 183 ff., verfolgt auch in meinem Aufsatz »Nur hinein, nicht heraus. Hegel über Spinoza [in diesem Band, S. 404 – 425]. Über Anfang und Fortgang von Spinozas »Ethik«  |  393

zu sein, geht dem Merkmal, durch anderes Endliches bewirkt zu sein, voraus; alles Bewirktsein ist demzufolge Einschränkung einer ursprünglichen Aktivität. Diese Aktivität macht das aus, was in scholastischer Terminologie, deren sich Spinoza weitgehend bedient, die Essenz eines Einzeldinges heißt. Sie ist, wie die Essenz Gottes, nur in ihren Äußerungen, beim Einzelding allerdings, anders als bei der göttlichen Substanz, im Kontext eines Wirkungszusammenhanges, der dem Einzelding äußerlich ist und der jedes endliche Ding durch externe Relationen bestimmt sein läßt, gegen deren Übermacht es sein eigenes Sein eigens zu sichern hat. Deshalb bestimmt Spinoza die Essenz eines Einzeldinges als conatus perseverandi (III, prop. 6), als ein Streben, das eigene Sein gegen ihm Äußeres zu erhalten, wohlgemerkt das je eigene (in suo esse perseverare). Die Entfaltung dieser Form des Strebens, der Spinoza die letzten drei Teile der »Ethik« widmet, bringt eine Bewegung in das System, die in der Strukturanalyse Gottes nicht schon gelegen ist. Das bloße Streben eines endlichen Modus nach Selbsterhaltung sagt noch nichts darüber, wieweit dieses Streben auch gelingt. Sein Gelingen ist im wesentlichen von der richtigen Erkenntnis des äuße­ren Feldes abhängig, in dem ein Individuum agiert. Spinoza ist dementsprechend auch nur an dem Streben derjenigen Dinge interessiert, die die Fähigkeit zu erkennen haben, d. h. an dem Streben des menschlichen Geistes, dessen Struktur er deshalb im zweiten Teil der »Ethik« erörtert. Dort legt er dar, daß und inwiefern das Erkennen seine Basis in einer ihm vorausgehenden Ontologie hat. Spinozas Monismus der Substanz dient auch dazu, das cartesische Problem, wie das als res cogitans bestimmte Ich von seinem Denken zu einer davon verschiedenen äußeren Welt (res extensa) hingelange, als ein Scheinproblem darzutun. Mit seiner Theorie der essentiell verschiedenen Attribute Denken und Ausdehnung, unter denen die eine Substanz produktiv ist, will Spinoza darlegen, daß unser Denken mit seinen Ideen immer schon auf die davon verschiedene Sphäre der körperlichen Welt bezogen ist (II, prop. 7), so daß alle unsere Ideen der Sache nach auch wahr sind, weil sie mit dem, wovon sie Ideen sind, übereinstimmen (II, prop. 32 u. 33). Das verbleibende Problem ist allein dies, wie das, was an sich ist, auch etwas für das endliche Subjekt sein kann, in Spinozas Worten wie 394  |  III. Bezüge 

wahre Ideen zu adäquaten in der Perspektive auch des endlichen Geistes werden können. Die Theorie des Absoluten nennt hierfür die Bedingungen, aber so, daß die absolute Substanz nicht ein im menschlichen Erkennen wirkender Motor ist, der zur Adäquatheit führt und darin die Selbsterhaltung gelingen ließe. Den Weg zur adäquaten Erkenntnis muß der endliche Modus Mensch schon selbst gehen. Das wirkliche Gelingen muß in seiner Kraft deshalb gegen das Mißlingen aufgezeigt werden – dem Freiheitsteil (Eth. V) muß ein Knechtschaftsteil (Eth. IV) vorangehen, damit der Mensch nicht in Illusionen verfällt und sich in Unkenntnis seiner Ohnmacht eine nur vermeintliche Macht vorgaukelt. Und das Mißlingen hat nichts mit einem übermächtigen Gott zu tun, sondern mit dem Tatbestand, daß unsere Ideen immer Ideen von körperlichen Ereignissen sind, die uns, lebensweltlich bedingt, rein zufällig affizieren und darin uns den wahren Zusammenhang, in dem die Dinge stehen, verdunkeln (II, prop. 13–29). Spinoza zeigt aber, daß der Mensch kraft eigener Aktivität in den Erkenntnishaushalt seiner Endlichkeit einzugreifen vermag und durch das Bilden adäquater Ideen die wahre Einsicht in die Zusammenhänge der Welt gegen das, was ihn am adäquaten Erkennen hindert, mehr und mehr zur Geltung bringen kann. Die darin gelegene Idee einer von uns zu realisierenden Verbesserung unseres Verstandes ist seit dem frühen »Tractatus de intellectus emendatione« ein Grundanliegen Spinozas gewesen, das in der späten »Ethik« unverändert präsent ist und dort in neuer Weise mit der Theorie der absoluten Substanz vermittelt wird.4 So ist es die Endlichkeit des menschlichen Geistes, die in einem fortschreitenden Akt zunehmender Selbstverständigung eine Entwicklung und Bewegung in das System hineinbringt, die Fichte bei Spinoza vermißt und die er gegen dessen System meint einklagen zu müssen. Ein Hauptvorwurf, den Fichte gegen Spinoza vorbringt, ist, daß Spinozas Prinzip starr und in sich ohne Leben sei, also nicht sich entwickelnd, mit der Folge, daß auch alle endlichen Bestimmtheiten leblos und unbeweglich seien, bloße Inhärenzen einer toten Substanz. Grund dafür sei, daß Spinoza als erstes Prinzip ein ob4 

Vgl. dazu meine Einführung in die Ausgabe von Spinozas »Tractatus de intellectus emendatione«, 2. Aufl. Hamburg 2003. Über Anfang und Fortgang von Spinozas »Ethik«  |  395

jektives Sein angenommen habe, das, weil Gott sich seiner selbst nie bewußt wird, jenseits des Bewußtseins liege und genau deshalb als Prinzip nicht hinreichend ausgewiesen werden könne. Insofern bleibe Spinoza einem vorkantischen Dogmatismus verhaftet. »Was berechtigte ihn [Spinoza] denn«, fragt Fichte in der 94er Wissenschaftslehre, »über das im empirischen Bewußtseyn gegebne reine Bewußtseyn hinaus zu gehen?«(I, 2, 263). 5 Fichtes Antwort ist, nichts berechtigte ihn dazu, während er, Fichte, sich auf die Freiheitserfahrung des seiner selbst bewußten Ich stützen könne, das sich selbst in der Abhebung von allen es bestimmenden äußeren Objekten weiß. In diesem Wissen habe das Ich eine Identität, von der Fichte meint, daß es sie nicht über die Unterscheidung von etwas ihm Fremden gewinnt, und die insofern aufzuzeigen vermag, daß das Ich ein selbstgenügsames Unbedingtes ist. Fichte findet demnach im empirischen Bewußtsein ein reines Bewußtsein, im empirischen Ich also, nicht, wie Spinoza, ein vom Ich verschiedenes Absolutes, sondern ein Absolutes, das selbst Ich ist, ein absolutes Ich also. Es sieht so aus, als ob Fichte in der von ihm entwickelten Präsenz des Absoluten in einem als Ich verstandenen empirisch End­ lichen mit einem Begriff von Ich operiert, den er aus dem Endlichen gewinnt und auf das Absolute überträgt, was Spinoza zufolge ein unsauberes Verfahren wäre. Fichtes erster schlechthin unbedingter Grundsatz – ich beziehe mich auf die Wissenschaftslehre von 1794 6 –, daß das Ich ursprünglich schlechthin sein eigenes Sein setzt, dieser Grundsatz ist ja nach Fichtes eigener Einschätzung ganz leer und gibt überhaupt nichts an Inhalten oder Prädikaten her, leerer jedenfalls als Spinozas erstes Prinzip, das als potentia von sich aus immerhin schon auf Wirkungen bezogen ist. Hinein kommt etwas in Fichtes ersten Grundsatz erst unter einer weiteren Annahme, daß nämlich das Sein des Ich auch etwas für das Ich ist. Fichte verbindet mit dem absoluten Ich also Bewußtsein und fol5  Fichte

wird zitiert nach der Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Stuttgart 1962ff. 6  Zum latenten Spinozismus im späten Fichte vgl. meinen Aufsatz »Spinoza et le dernier Fichte«, in: A. Tosel et al. (Hg.), Spinoza au XIXe siècle, Paris 2007, 99–110. 396  |  III. Bezüge 

gert daraus, daß ein so verstandenes Ich nicht nur sich selbst setzt, in Spinozas Worten causa sui ist, sondern auch sich als sich selbst setzt und darin um sich in der Abhebung von etwas anderen auch weiß. Spinozas unbedingte Substanz ist demgegenüber nicht durch ein solches Für-sich-sein gekennzeichnet, das nur für die von der Substanz verschiedenen Modi gilt, sofern sie einen Verstand haben, den nicht zu haben für Spinoza geradezu Bedingung von Substanzialität und damit von Absolutheit ist. Das Gott zugesprochene Attribut »Denken (Cogitatio)« ist ein Prinzip, das erklären soll, wie das auf Objekte bezogene Denken der Modi, seien sie unendlich, seien sie endlich, zu begreifen ist, und als dieses Prinzip ist es nicht durch Merkmale gekennzeichnet, die jene Form des Denkens auszeichnen, so wenig wie das Attribut »Ausdehnung (Extensio)« als Erklärungsprinzip der körperlichen Welt Gott zu einem Ding macht, das ausgedehnt wäre. Und die Einheit dieser essentiell verschiedenen Attribute hat nichts mit einer notwendigen Identität von Subjekt und Objekt zu tun, die Fichte in seiner der Struktur von Bewußtsein verpflichteten Theorie des absoluten Ich im Ich aufzuweisen sucht. Fichtes erster Grundsatz führt, wenn er das Sein des Ich zugleich als ein Sein für das Ich faßt, auf einen zweiten Grundsatz, der das Ich unter die Bedingung bringt, unter der erst ein Wissen von sich selbst möglich ist, nämlich ein Gegenüber, von dem sich das Ich abhebt, und das, vom Ich her gedacht, zu einem Nicht-Ich wird, das es dann macht, daß das absolute Ich zu einem durch Gegensatz gekennzeichneten endlichen Ich wird. Der zweite Grundsatz präsentiert eine mit dem Absoluten unvereinbare Gegensätzlichkeit, die so nicht stehen bleiben kann und die deshalb zu einem dritten Grundsatz treibt. Er verbindet mit dem durch das Nicht-Ich hineingekommenen Inhalt über die negative Bestimmung einer Einschränkung des absoluten Ich hinaus eine Positivität, indem er mit dem Begriff der Teilbarkeit einen Gesichtspunkt der Quantität einführt. Wenn Ich wie Nicht-Ich als teilbar bestimmt werden, dann läßt sich das durch das Nicht-Ich hineingebrachte Material durch Handlungen des Ich formen und zwar nicht beliebig, sondern unter der Maßgabe, daß das endliches Ich wie das ihm entgegengesetzte Nicht-Ich Teile des absoluten Ich sind. Das Formen von Material wird dann zu einer Tendenz des endlichen Ich, durch eigene AkÜber Anfang und Fortgang von Spinozas »Ethik«  |  397

tivität das ihm entgegengesetzte Nicht-Ich als Teil des Absoluten zunehmend kleiner werden zu lassen. Das endliche Ich läßt sich so durch ein Streben charakterisieren, das gegen das Nicht-Ich angeht, um sich dem absoluten Ich immer mehr anzunähern. Mehr als diese drei Grundsätze könne es nicht geben, und alles, so sagt Fichte, »was von nun an im Systeme des menschlichen Geistes vorkommen soll, muß sich [daraus] ableiten laßen« (I, 2, 272). Der zweite Grundsatz liefert das Material, der dritte die Form seiner Bearbeitung und der erste die Richtung, auf die diese Bearbeitung in Form eines Strebens geht. Verbunden damit ist ein (antispinozanisches) Konzept von Teleologie, mag es sich auch um eine immanente Teleologie handeln, in der das Streben des endlichen Ich nicht auf ein ihm fremdes Ziel gerichtet ist, sondern auf die Realisierung eines Unbedingten in ihm, des absoluten Ich. Hierfür ist dessen Wirksamkeit im Endlichen vorausgesetzt, die als eine Wirksamkeit aber nur in der Perspektive des Endlichen erscheinen kann, mit der Folge, daß das, was sich aus den drei Grundsätzen in Form von Lehrsätzen, sei es in theoretischer, sei es in praktischer Hinsicht, ableiten läßt, nicht Vorkommnisse des menschlichen Geistes sind, sondern etwas, das in ihm, so sagt Fichte, vorkommen soll. Was sich deduzieren läßt, ist demnach eine Aufgabe. Nichts dergleichen bei Spinoza, weder Teleologie noch Sollen, und kein Absolutes, das durch ein Merkmal des menschlichen Geistes bestimmt ist, also nicht durch Wissen von sich im Sinne von Selbstbewußtsein. Und so hat Fichte wohl recht, daß Spinozas absolute Substanz leblos ist und eines internen Sichentfaltens entbehrt. Ihr essentielles Merkmal ist zwar Macht (potentia), d. h. Produktivität, aber diese Produktivität ist, wie die Substanz selber, ewig, also immer schon gewesen, so daß sich von der Substanz her nur sagen läßt, daß alles, was ist, vom Charakter eines Modus dieser Substanz ist. Nicht jedoch hat Fichte recht, daß deshalb die endlichen Dinge als die der einen Substanz inhärierenden Modi ebenso leblos seien wie die Substanz. Sie sind im Gegenteil in Spinozas System höchst lebendig, und sie allein sind es, die sich entfalten und entwickeln. Ihr essentielles Merkmal, das sie aus der als Macht (potentia) bestimmten Substanz haben, ist ebenfalls Macht, freilich eine modi398  |  III. Bezüge 

fizierte, die durch Äußeres bestimmt ist und bleibt. Ihm gegenüber artikuliert sich die potentia als conatus, was wohl mit dem Wort zu übersetzen ist, dessen sich auch Fichte bedient. Es ist ein Streben, das Streben eines Individuums, sich selbst gegen das es bedrohende Äußere zu erhalten, aber so, daß es gerade sich selbst in seiner Individualität zu erhalten sucht. Eine solche Form von Selbsterhaltung schließt jede Form der Annäherung an die göttliche Substanz aus und erst recht die Tendenz, sich mit ihr zu vereinigen, und natürlich auch, das Äußere als ein Nicht-Ich zu verstehen, das als die Einschränkung eines absoluten Ich aufzuheben wäre. Im conatus des Einzelnen wirkt nicht Gott, sondern da ist der arme Einzelne auf sich selbst gestellt. Wenn Spinoza die inadäquate Erkenntnis als eine Partialerkenntnis bestimmt, die perspektivisch verzerrt ist und die Dinge nicht so erfaßt, wie sie ein unendlicher Verstand erfaßt, dann entwickelt er einen Kontrast, will aber mitnichten sagen, daß auch in dieser Erkenntnis schon ein unendlicher Verstand am Werk sei, der nur noch nicht an sein Ziel gelangt ist und deshalb noch in der Vorläufigkeit des Inadäquaten verharrt. Gründete adäquate Erkenntnis in dem Einholen des unendlichen Verstandes in den endlichen, dann könnte der Mensch, der nur als endlicher erkennen kann, nie zu einer adäquaten Erkenntnis gelangen.7 Adäquate Erkenntnis ist deshalb nicht Totalitätserkenntnis, die einem unendlichen Verstand vorbehalten ist, sondern Erkenntnis dessen, was ein unendlicher Verstand nicht anders als ein endlicher erkennen kann, also Strukturerkenntnis oder, wie Spinoza es formuliert, Erkenntnis dessen, was im Teil nicht anders als im Ganzen ist (II, prop. 38). Um solche Strukturen aufzuzeigen, also nicht irgendwelche Verallgemeinerungen unserer empirischen Erkenntnis, sondern Elemente, die die Dinge der Welt tatsächlich strukturieren, bedarf es Spinoza zufolge einer Theorie der unbedingten Substanz, aus der allein sich solche elementaren Strukturen, die Spinoza unendliche Modi nennt, herleiten lassen. In Bezug auf sie entwickelt Spinoza die Erkenntnisform der ratio (II, prop. 40, schol. 2), die die Basis einer vernünftigen Weltorientierung des Menschen ist, in der der 7 

Vgl. meinen Aufsatz »Unendlicher Verstand und menschliches Erkennen bei Spinoza« [in diesem Band, S. 149 – 178]. Über Anfang und Fortgang von Spinozas »Ethik«  |  399

Mensch die Dinge, so lautet Spinozas vielzitierte Formulierung, sub specie aeternitatis betrachtet (vgl. II, prop. 44, coroll. 2). Daß diese Betrachtungsweise sich gegen die verkehrte, die sich einem bloßen Vorstellen (imaginatio) verdankt, wenden läßt und darin den Menschen aus seiner Verstrickung in undurchschaute Weltzusammenhänge, in denen er etwas von außen erleidet, zu befreien vermag, wird von Spinoza nicht einfach behauptet, sondern in einer langen Abfolge von Lehrsätzen im 4. und 5. Teil der »Ethik« bewiesen, die das Ziel hat darzutun, unter welchen konkreten Bedingungen der ratio angesichts der imaginatio eine tatsächliche Kraft, das Leiden zu unterdrücken, zukommen kann. Grundthese Spinozas ist dabei, daß der Mensch nicht deshalb etwas erleidet, weil etwas Äußeres auf ihn wirkt, sondern deshalb, weil er diese Wirksamkeit, die entsprechend seiner Endlichkeit gar nicht aufgehoben werden kann, nicht richtig begreift. Unser Erleiden ist die Folge dessen, wie wir uns verhalten, nämlich die Folge unseres inadäquaten Erkennens im Medium der imaginatio, die es macht, daß unser Streben nach Selbsterhaltung nicht gelingt. Das Äußere ist nicht eo ipso eine Einschränkung unserer potentia agendi, die es deshalb strebend zu beseitigen gelte, denn die potentia agendi ist als conatus eines Individuums durch dessen eigene Natur immer schon eingeschränkt. Ein jeder strebt immer nur gemäß der eigenen Natur (»quantum in se est«, sagt Spinoza, III, prop. 6) und nicht als ein Agent des Absoluten, der dieses Absolute in sich realisieren wollte. Das Äußere stellt für den Menschen eine Bedrohung dar, weil er es falsch versteht, es nicht in dem erkennt, inwieweit es ihm tatsächlich zuträglich oder abträglich ist, und dies, weil er sich selbst nicht in rechter Weise versteht, weil er nicht weiß, was denn das eigene Sein ist, das es zu erhalten gilt. Darauf ist Spinozas ganze Affektenlehre aufgebaut, und daraus entwickelt Spinoza, warum wir unter den Affekten etwas erleiden. Im Rückgriff auf den conatus imaginandi (beginnend mit III, prop. 12) entwickelt Spinoza den Grund für die Instabilität menschlicher Affekte, das Umschlagen von Freude in Trauer und dem korrelierend von Liebe in Haß. Dieses interne Gefüge kognitiven und zugleich emotionalen Bestimmtsein des Menschen aufzuzeigen, ist mit Spinozas Theorie der absoluten Substanz vollkommen verträglich, doch um es aufzuzeigen, bedarf es nicht des Rückgriffs auf 400  |  III. Bezüge 

diese Theorie. Es kann mit guter Psychologie aus den lebensweltlich bedingten Präferenzen und den sich dort gewohnheitsmäßig herausbildenden Dispositionen der Menschen geschlossen und mit Zitaten aus Terenz und Ovid bestätigend veranschaulicht werden8 , von Spinoza nur auf die Spitze getrieben und mit aller Brutalität in der Trostlosigkeit beschrieben, die unvernünftigem Agieren entspringt. Gott, wenn er denn schauen könnte, würde dem gelassen zuschauen und sagen: mit all dem habe ich nichts zu tun, denn ich kümmere mich um euch Menschen nicht. Die göttliche Substanz wird in Spinozas System aber genau dann mobilisiert, wenn es zu zeigen gilt, wie der Mensch sich aus der Knechtschaft der Affekte zu befreien vermag und das heißt, wie er ein anderes Verständnis von sich und den Dingen zu erlangen vermag. Dieses Wie beschreibt Spinoza in den Teilen IV und V der »Ethik«, und es ist die Beschreibung eines Weges, den der Mensch durchlaufen muß und auf dem er zunehmend dessen inne wird, was sein wahres Sein ausmacht, nämlich ein Modus der göttlichen Substanz zu sein, der er nicht nur immer schon ist, sondern als den er sich auch selbst verstehen muß. Der Weg gipfelt deshalb in einer Erkenntnis nicht nur der aus dieser Substanz gefolgerten allgemeinen Strukturen, die die Domäne der ratio ist (V, prop. 2–10), sondern in einer von Spinoza scientia intuitiva genannten Erkenntnis, die Gott selbst zu ihrem Gegenstand hat und in der sich das Individuum in seiner Individualität aus Gott begreift (V, prop. 21–36). All dies bleibt an die Bedingungen der Endlichkeit des erkennenden Menschen gebunden, vor allem an den Vollzug des individuellen conatus in der Faktizität seiner Äußerungen, denen das Individuum nie vorweg sein kann und den kein anderer als es selbst vollziehen kann, auch nicht die göttliche Substanz als eine treibende Kraft in ihm. Worauf sich Spinoza allein stützt, ist die »gegebene Natur Gottes« (data Dei natura), so im Beweis des Lehrsatzes 33 des 1. Teils mit ausdrücklichem Verweis auf Lehrsatz 16 dieses Teils, demzufolge aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur unendlich vieles auf unendlich viele Weisen (infinita infinitis modis) folgen muß, 8  Aufschlußreich

zum Erfahrungsgehalt der Philosophie Spinozas P.-F. Moreau, Spinoza. L´expérience et l´éternité, Paris 1994. Über Anfang und Fortgang von Spinozas »Ethik«  |  401

d. h. unendlich viele Modi unter unendlich vielen Attributen. Die Natur Gottes, die als erstes Prinzip auftritt, ist gegeben, und sie ist gemäß dem Theorem der immanenten Kausalität Gottes im Einzelnen gegeben, ein Datum, das in ihm ist, vorausgesetzt daß es Einzelnes gibt. Und diese Voraussetzung macht Spinoza, ohne daß er auch nur versuchte, das in sich differente Viele aus dem Absoluten herzuleiten.9 Fichtes Weg, es aus einem Selbstbewußtsein des Absoluten, das für diese Form des Bewußtseins des Gegensatzes und darin bestimmter Formen der Verendlichung notwendigerweise bedarf, ist für Spinoza kein gangbarer Weg gewesen, denn er wäre nicht mit der Struktur des Absoluten verträglich. Das Absolute ist in jedem Endlichen präsent, und worauf es ankommt, ist, daß der Einzelne es in sich aufdeckt und sich von ihm her auch selbst versteht. Die Natur Gottes im Einzelnen ist, mit Fichte gesprochen, eine Tatsache, nicht eine Tathandlung. Sie ist nicht eine Aktivität im Subjekt, sondern ein Sein als die Bedingung, unter der dem Subjekt selbst im höchsten Maße eine Aktivität möglich ist. Diese Aktivität ist eine solche des Denkens, denn sie kann sich nur dort entfalten, wo das Absolute auch etwas für einen Modus ist. Sind »Denken« und »Ausdehnung« gleichursprüngliche Attribute Gottes und damit ohne Vorzug des einen gegenüber dem anderen, so ist im Feld der Modi doch der Modus, der denkt, also der menschliche Geist, ein ausgezeichneter Modus. Denn allein er kann, im Unterschied zu dem Körper, von der Präsenz Gottes auch etwas für sich selbst haben, nämlich, was keinem Körper gelingen kann, sich selbst von ihr her verstehen und kraft eines solchen Verständnisses ein allein der Vernunft verpflichtetes Leben führen. Für diese Auszeichnung des menschlichen Denkens bedarf es keiner Auszeichnung der Attribute Gottes. Gott selbst muß hierfür nicht in vorzüglichem Maße Geist sein. Es genügt, Gott so zu konzipieren, daß jedes seiner Attribute seine Essenz konstituiert, er also in seiner hervorbringenden Macht unter jedem seiner Attribute unverkürzt wirksam ist. Das garantiert dem Menschen, daß ihm eine adäquate Erkenntnis Gottes möglich ist, nicht aber auch, daß er sie tatsächlich hat. Sie zu haben verlangt eine Aktivität des 9 

Vgl. meinen Aufsatz »Das Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten« [in diesem Band, S. 104 – 129]. 402  |  III. Bezüge 

Erkennens, die, will sie wahre Erkenntnisse hervorbringen, sich zwar nicht gegen das Absolute entfalten kann, die als Aktivität aber nicht von dem Absoluten entfaltet wird.

Über Anfang und Fortgang von Spinozas »Ethik«  |  403

Nur hinein, nicht heraus Hegel über Spinoza I.

»So geht Alles nur hinein, nicht heraus«, sagt Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, als er »die ganze spinozistische Philosophie« charakterisiert (W 19, 384).1 Das ist apodiktisch formuliert. – Alles, d. h. der ganze Inhalt der Philosophie Spinozas, werde nicht aus dem obersten Prinzip entwickelt, sondern definitorisch in es hineingesetzt. Das sieht in der Tat recht simpel aus, so daß Hegel behaupten kann: »Was sein [Spinozas] System anbetrifft, so ist es sehr einfach, und im Ganzen leicht zu fassen« (W 19, 371). Das Werk, in dem Spinoza seine Philosophie dargelegt hat, die Ethica, endet mit dem Satz: »Sed omnia praeclara tam difficilia quam rara sunt« (Eth. V, prop. 42, schol.). Um diesen Satz hat sich Hegel nicht weiter gekümmert, weil er nur an dem Anfang, nicht an dem Ende der Ethica interessiert war; sonst hätte er wohl bemerkt, was Spinozas Philosophie so schwierig macht, daß sie nämlich einen Weg (via) beschreibt, den der Weise (sapiens), also ein Mensch zu gehen hat, um zu seinem Heil (salus) zu gelangen. Nicht nur ihn zu gehen, ist alles andere als leicht, auch ihn zu begreifen ist es, weil Spinoza ihn mit vielen Differenzierungen als in sich komplex und materialreich beschreibt. Das »nur hinein, nicht heraus« steht im Kontext von Hegels vehementer Kritik der geometrischen Darstellungsart, in die Spinoza seine Ethica gekleidet hat. Aus ihr folgert Hegel, daß in den vorausgeschickten Definitionen schon enthalten sei, was Spinoza in den Lehrsätzen mit großem Aufwand und oft auch abschreckender Umständlichkeit zu beweisen sucht. In ein Korsett bloßer Definitionen gepackt, 1 

Hegel wird zitiert unter den Kürzeln W = Sämtliche Werke (hrsg. von H. Glockner, Stuttgart-Bad Cannstatt 1927 ff.); GW = Gesammelte Werke, Hamburg 1968 ff.; V = Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Hamburg 1985/1. 404  |   

könne das das ganze System tragende Prinzip der Einen Substanz sich nicht fortentwickeln, weder zu ihren Attributen und erst recht nicht zu den Modi. Die spinozistische Substanz sei starr und leblos und könne ohne Bewegung zu dem Anderen ihrer selbst dieses in seiner Besonderheit nicht als ein Konkret-Wirkliches begreifen; so bleibe nur, es als unwirklich und nichtig zu fassen, als etwas, dessen angemessene Bestimmung sei, in der absoluten Substanz zu »verschwinden«. Es gehe »beim Spinozismus alles nur in den Abgrund hinein, aber es kommt nichts heraus«, heißt es in einer Vorlesungsnachschrift (V 9, 105). Nicht aus der Substanz entwickelt, würden die einzelnen Bestimmungen nur aufgegriffen und dann in sie hineingelegt, mit der Folge, daß das Viele in Wahrheit Eines ist – die Attribute, die nur für unseren (als Modus unwirklichen) Verstand verschieden seien, und die Modi, die in ihrer Bestimmtheit aller Wirklichkeit entbehrten. So gedeutet läuft Spinozas Philosophie für Hegel auf einen »Akosmismus« hinaus, wie er mehrfach sagt.2 Es wäre erstaunlich, wenn Spinozas Philosophie, interpretiert als ein solch dürres Fabrikat, auf Hegels eigene Philosophie einen wesentlichen Einfluß hätte haben können. Gewiß, Jacobis Spinoza-Buch von 1785 war von großem Einfluß, insofern es Spinozas Philosophie überhaupt erst wieder in den Blick gebracht hatte und, gegen Jacobis Absicht, Spinoza als einen Metaphysiker ersten Ranges erscheinen ließ. Eine Philosophie, die gegen Kants Prinzipienpluralismus aufbegehrte, konnte in Spinozas Monismus der Einen Substanz einen Typ von Philosophie vorfinden, den es als eine Theorie der »Einheit der Gegensätze« (W 19, 372) gegen Kants Ausgang von differenten Prinzipien, deren mögliche Einheit in einem Prozess reflektierender Selbstverständigung des Menschen allererst zu finden ist, zu mobilisieren galt. 3 Unter diesem Aspekt mögen sich Hegels enthusiastische Bemerkungen erklären, die Eingang gefunden haben in Sätzen wie: »entweder Spinozismus 2 

Dieser Vorwurf ist im übrigen nicht originell; schon Chr. Wolff hat ihn vorgebracht (Theologia naturalis, 1736–37, II, § 671 ff.). 3  Schon in seiner Dissertation über die Planetenumläufe verweist Hegel in der These 8 gegen die kritische Philosophie auf das »principium Spinozismi« (GW 5, 227). Ich verdanke den Hinweis darauf Walter Jaeschke, der in seinem Hegel-Handbuch, Stuttgart 2005 auch sonst über Hegels Bezugnahme auf Spinoza gut informiert. Hegel über Spinoza  |  405

oder keine Philosophie« (W 19, 374) und »daß das Denken sich auf den Standpunkt des Spinozismus gestellt haben muß, das ist der wesentliche Anfang alles Philosophierens. […] Die Seele muß sich baden in diesem Aether der einen Substanz, in der Alles, was man für wahr gehalten hat, untergegangen ist« (W 19, 376). Doch sind das eher erbauliche Wendungen ohne konkreten Gehalt, die Spinozas Philosophie in einer Weise stilisieren, daß dabei allenfalls ein den originären Spinoza eigentümlich verfremdender Spinozismus herauskommt. Ich möchte hier nicht erneut darlegen, daß Hegel Spinoza in grundlegenden Theoriestücken falsch interpretiert hat – das ist mittlerweile gezeigt worden und unbestrittener Stand der Forschung.4 Klaus Düsing hat gezeigt, 5 daß sich Hegels Sicht auf Spinoza in den verschiedenen Phasen seiner Philosophie gewandelt hat. Doch hält sich darin meines Erachtens eine Transformation der Philosophie Spinozas durch, die der Sache nach deren Deformierung ist. Düsing hat auch die Forschung zum Verhältnis Hegel – Spinoza dokumentiert, die ich dahingehend zusammenfassen möchte, daß sie in der Regel nicht mehr als Momente in Hegels Philosophie aufzeigt, die bei Spinoza präfiguriert sind. Die neuere Forschung folgt dem weitgehend, wenn auch mit einer stärkeren Tendenz, eher grundlegende Differenzen zwischen den beiden Philosophen zu betonen. Inwieweit Hegel ein Element der Philosophie Spinozas aufgreift, ist neuerdings selbst am amor Dei intellectualis illustriert worden.6

4  Für

die vermeintliche Relativität der Attribute auf den Verstand siehe M. Gueroult, Spinoza I, Paris 1968, 428 und 462–68, und R. Schnepf, Metaphysik im ersten Teil der Ethik Spinozas, Würzburg 1996, 37–54; für das vermeintliche analytische Enthaltensein der Lehrsätze in den Definitionen K. Cramer, Kritische Bemerkungen über einige Formen der Spinozainterpretation, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 31 (1977), 527–544. 5  K. Düsing, Hegel und die Geschichte der Philosophie. Ontologie und Dialektik in Antike und Neuzeit, Darmstadt 1983; ders., Von der Substanz zum Subjekt. Hegels spekulative Spinoza-Deutung, in: M. Walther (Hg.), Spinoza und der Deutsche Idealismus, Würzburg 1992, 163–180. 6  A. Nuzzo, Spinozas Amor intellectualis und Hegels methodologische Umdeutung des Liebesbegriffs, in: A. Engstler / R. Schnepf (Hg.), Affekte und Ethik. Spinozas Lehre im Kontext, Hildesheim 2002, 246–267. 406  |  III. Bezüge 

Die These eines wirklichen Einflusses, die Chiereghin7 ener­gisch vertreten hatte, hat zuletzt noch einmal Harris 8 zu erneuern versucht. Yovel9 hat hingegen zu Recht hervorgehoben, daß sich Hegels weiterführende Kritik auf die systematischen Implikationen der Lehre Spinozas, nicht aber auf diese Lehre selbst bezieht.10 Dieser Sicht folgen vergleichende Untersuchungen, die in der Betonung der Eigenart des jeweiligen Philosophen eher zu Parallelisierungen kommen (Arnow11, Hösle12). Zu beachten sind schließlich Untersuchungen, die zwar nicht so weit wie Macherey13 gehen, der Spinoza zum Kritiker Hegels gemacht hat, aber doch zeigen, daß sich Spinozas Philosophie einer Integration in das hegelsche System geradezu sperrt und deshalb gegen es mobilisiert werden kann. Insbesondere Vaysse14 hat diesen Gesichtspunkt verfolgt, indem er subjectivité als fmitude deutet und darin Hegels These, Substanz sei zugleich als Subjekt zu fassen, aufbricht. Morfino15 hat einen ähnlichen Gesichtspunkt betont, wenn er das mit Spinozas Theorie endlicher Modi verbundene Moment einer aller Teleologie sich sperrenden Zeitlichkeit zur Geltung bringt. Ich möchte zeigen, daß Hegels Interpretation Spinoza äußerlich bleiben muß, weil er ihn von einer am Begriff des Absoluten orientierten Philosophie her gelesen hat, die es ihm nicht erlaubt, sich hinreichend auf eine Philosophie einzulassen, die ein andersartiges Konzept des Absoluten entwickelt hat und sich deshalb nicht in die eigene Philosophie als deren Vorstufe integrieren läßt. In der  7  F.

Chiereghin, L’influenza dello spinozismo nella formazione della filosofia hegeliana, Padova 1961.  8  E. E. Harris, The Substance of Spinoza, New Jersey 1995.  9  Y. Yovel, Spinoza and Other Heretics, Bd. 2, Princeton 1988, Kap. 2. 10  In eine ähnliche Richtung geht auch D. Pätzold, Spinoza – Aufklärung – Idealismus, 2. Aufl. Assen 2002, 146 ff., der in besonderem Maße die Substanzkonzeption in Hegels Wissenschaft der Logik berücksichtigt. 11  L. Arnow, Being and Idea. Spinoza and Hegel, Hildesheim 1997. 12  V. Hösle, Hegel und Spinoza, in: Tijdschrift voor Filosofie 59 (1997), 69–88. 13  P. Macherey, Hegel ou Spinoza, 2. Aufl., Paris 1990. 14  J. M. Vaysse, Totalité et subjectivité. Spinoza dans l’idealisme allemand, Paris 1994, 235–284. 15  V. Morfino, Substantia sive organismus. Immagine e funzione teorica di Spinoza negli scritti ienesi di Hegel, Milano 1997. Hegel über Spinoza  |  407

Wissenschaft der Logik nennt Hegel den Spinozismus »eine mangelhafte Philosophie« (GW 11, 376), weil in ihm das Erkennen »die Bestimmungen als gegebene aufnimmt und sie auf das Absolute zurückführt, nicht aber von diesem ihre Anfänge hernimmt« (376). Zugleich sagt Hegel, zu Beginn der Begriffslogik, aber auch, daß die Widerlegung des spinozanischen Systems nicht äußerlich sein dürfe, weil das wahre System, also das eigene, dem anderen als einem falschen dann nur entgegengesetzt werde. Das andere System müsse vielmehr als ein Standpunkt begriffen werden, dessen Mangel nur darin bestehe, nicht selbst der höchste zu sein, von dem als höchstem Hegel meint, daß er den untergeordneten Standpunkt in sich enthalte, wenn dieser »aus sich selbst auf den höhern gehoben werde« (GW 12, 15). In dieser Sicht ist der untergeordnete Standpunkt »ein nothwendiger Standpunkt, auf welchen das Absolute sich stellt« (14). Doch ist es wohl nicht das Absolute, sondern das Individuum Hegel, das den einen Standpunkt auf den anderen »hebt«. Hegel sagt es auch ganz personbezogen: »wer die Freyheit und Selbstständigkeit des selbstbewußten Subjects nicht für sich als entschieden voraussetze, für den könne keine Widerlegung des Spinozismus Statt finden« (217). Nur sei dies eine Voraussetzung, die nicht »von außen« in Spinozas System hinein getragen werde, weil dieses System, jetzt als ein »reicher Standpunkt« bezeichnet, sie nicht nur nicht »ignoriert«, sondern sogar »enthält«. Denn, das ist Hegels einzige Begründung hier, »eins der Attribute der spinozistischen Substanz ist das Denken« (15). Doch ist evident, daß Hegel gerade mit dem, was »Denken« ist, Voraussetzungen verbindet, die er aus seinem Verständnis von Philosophie »von außen« in Spinoza hineinträgt. Ich möchte im folgenden zunächst zeigen, wie diese Voraussetzungen in Hegels Konzept der Geschichte der Philosophie eingehen, von denen her Spinoza dort verortet wird (II,1), sodann das wesentliche Element in Spinozas Philosophie aufzeigen, das Hegel unbeachtet läßt (II,2), und schließlich auf eine entscheidende Differenz ihrer Philosophien im Konzept des Absoluten abheben (II,3).

408  |  III. Bezüge 

II.

1. In Hegels Logik, wie auch in seiner Enzyklopädie, finden sich Anmerkungen zu Spinoza. Immerhin, dort genannt zu werden, mag Spinoza ehren;16 denn dort, wo eine Sache in ihrem logischen Gang entwickelt wird, haben Ansichten von Philosophen in der Regel nichts zu suchen. Anders ist es in einer Vorlesung zur »Geschichte der Philosophie«, deren Hauptaufgabe ja wohl darin besteht, den Hörern solche Ansichten zu präsentieren und sie kritisch zu beleuchten. In der Erwartung, hier von Hegel wesentlich mehr über Spinozas Philosophie zu erfahren, als in jene beiden anderen Werke anmerkungsweise eingegangen ist, sieht man sich jedoch enttäuscht. Was Hegel über Spinoza sagt, ist in der Sekundärliteratur oft referiert und auch interpretiert worden. So sollte zunächst auch einmal hervorgehoben werden, was er in den Vorle­ sungen über ihn nicht sagt. Außer auf die Ethik, Spinozas Hauptwerk, bezieht sich Hegel dort noch auf einige Briefe und auf die Descartes-Schrift, auf diese mehrfach bei der Interpretation der Philosophie Descartes’. Der Theologisch-Politische Traktat wird erwähnt als ein Werk, das vorweggenommen habe, was gegenwärtige Theologen im Feld historisch-kritischer Bibelexegese wiederholen. Der Politische Traktat scheint für Hegel nicht zu existieren, ebenso nicht die frühe Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes.17 Ein Autor, der Spinozas Philosophie als »die Objektivierung der cartesischen« (W 19, 372) ansieht und darin als deren »konsequente Ausführung« (368), hätte in der Verbesserungsschrift Spinozas tatsächliche Auseinandersetzung mit Descartes finden können, insbesondere sein Verständnis der Methode, in der philosophische Sachverhalte zu traktieren sind. Die Methode, schreibt Spinoza dort, ist ein »Weg« (via, § 30), der nicht das Auffinden eines obersten Prinzips beschreibt, sondern das Fortschreiten unseres Verstandes zur höchsten Erkenntnis »nach Maßgabe seiner Reichweite« und »unter Berücksichtigung der ihm eigenen Kräfte« (§ 105). Das hier verfolgte Programm der Ausarbeitung einer Theo16 

Vgl. H.-C. Lucas, Spinoza in Hegels Logik, Leiden 1982. Texte finden sich in der Spinoza-Ausgabe von Paulus (1802), die Hegel benutzt hat. 17  Beide

Hegel über Spinoza  |  409

rie des endlichen Verstandes hat Spinoza nie aufgegeben. Wer fortschreitet, ist nicht die Substanz, sondern derjenige, der erkennt, indem er auf die Substanz als die ontologische Bedingung, unter der, wie alles Seiende, auch unser Erkennen steht, reflektiert und darin zunehmend dessen inne wird, was wahre Erkenntnis ist. Die Anerkennung der Wirklichkeit des Endlichen ist evidenter noch im Po­ litischen Traktat, der eine Theorie der Organisation stabiler Staaten entwirft, zum einen auf der Basis einer Strukturbestimmung der göttlichen Substanz (II, § 2 und 3) und zum anderen unter Berücksichtigung einer Fülle konkreter Gegebenheiten des menschlichen Zusammenlebens, deren Antriebskräfte in ein Geflecht wechselseitigen Sichausgleichens zu bringen sind, ohne daß sich die Akteure dabei auf ein dem faktischen Arrangement vorangehendes Modell vertraglicher Übereinkunft stützten. Selbst wenn man, mit Hegel, geneigt ist, die beiden Abhandlungen als nicht zentral für Spinozas Verständnis von Philosophie anzusehen, bleibt immer noch, und das ist in der Tat gravierender, daß Hegel in Spinozas Ethik nahezu alles überliest, was auf deren 1. Teil in den anderen Teilen folgt: die Theorie der endlichen mens humana in der Faktizität ihres Erkennens (2. Teil), die daraus folgende Theorie der menschlichen Affekte (3. Teil) und der unterschiedlichen Formen menschlichen Verhaltens im Umgang mit ihnen (4. und 5. Teil), unter der völlig verfehlten Annahme, daß alles dort Entwickelte schon im 1. Teil analytisch enthalten sei und deshalb keiner besonderen Aufmerksamkeit bedürfe.18 Aber selbst die Lehrsätze des 1. Teils werden allenfalls paraphrasierend erwähnt. Daß Hegel in seinen Vorlesungen Spinozas Ethik »une analyse extrèmement détailée« gewidmet habe,19 wird man wirklich nicht sagen können. Eher sieht es so aus, als ob er sich mit seinem bloßen Referieren an Hörer wendet, die sich nicht die Paulus-Ausgabe zum Nachlesen leisten konnten oder aber eine Daß das für die Teile der Ethik zueinander nicht gilt, habe ich in meinem Aufsatz »Subjekt und Metaphysik in Spinozas Ontologie« [in diesem Band, S. 130 – 1 48] zu zeigen versucht im Anschluß an K. Cramers These in: Zeitschrift für philosophische Forschung 31 (1977), 527–544, daß die Definitionen der Ethik nicht die Lehrsätze analytisch in sich schließen. 19  P. Macherey, in: M. Walther (Hg.), Spinoza und der Deutsche Idealismus, Würzburg 1992, S. 196. 18 

410  |  III. Bezüge 

Übersetzung ins Deutsche brauchten, weil sie des Lateinischen nicht recht mächtig waren. Grundsätzlich übergeht Hegel die Beweise Spinozas und damit all das, was für Spinoza eine Folgerung aus zuvor von ihm Entwickelten ist. Die besonderen Sätze, so heißt es in einer Vorlesungsnachschrift, seien »immer die Wiederholung eines und desselben« (V 9, 105). Auf andere Autoren hat sich Hegel in seinen Vorlesungen weit detaillierter eingelassen, als er es bei Spinoza getan hat. Jakob Böhme, dessen barbarische Sprache Hegel mehrfach rügt, erhält für die verschiedenen Aspekte seiner »Philosophie« großen Raum, ebenfalls Giordano Bruno in der Vielfalt seiner Entwürfe. An Böhme lobt er, unbeschadet des Mangels jeder Begrifflichkeit, daß »die absolute Identität der Unterschiede […] durchaus bei ihm vorhanden« sei (W 19, 307), weil »Ein göttliches Leben […] in allen Dingen« sei (306). Brunos System sei sogar »ganz objektiver Spinozismus« (231), weil bei ihm, wie bei Böhme (und selbst bei Lullus), die Lebendigkeit eines Sichentfaltens des ersten Prinzips anzutreffen sei und er zumindest versucht habe, »die sich zum Universum organisirende Eine Substanz zu fassen«, etwas, worauf Spinoza »verzichtet« habe (408). Eingeleitet hat Hegel seine Darstellung der neueren Philosophie mit einem, von Michelet noch in den Mittelalter-Teil als dessen Abschluß gesetzten, Blick auf die Reformation (W 19, 253 ff.). Dort konstruiert Hegel ein nur sehr locker mit Luther verbundenes »protestantisches Prinzip« (300; 328) und bindet an es sein spezifisches Verständnis von Geist: der Geist Gottes müsse im Geist des Menschen seine Stelle haben, sei also »nicht jenseits, sondern das Eigenste des Individuum’s« (267). Die Entwicklung der neueren Philosophie versteht Hegel als das Bemühen, den auftretenden Gegensatz im internen Verhältnis dieser beiden Pole von Geist zu einer Einheit zu bringen und darin zu »versöhnen«: »Alle Philosophien von da an haben das Interesse dieser Einheit« (268). Die Geschichte der neueren Philosophie beschreibt Hegel als die Fortentwicklung einer solchen Versöhnungsstrategie, die solange noch unzureichend bleibe, wie in Reaktion auf als unbefriedigend angesehene vorangegangene Lösungsvorschläge das eine Moment des zu vermittelnden Verhältnisses noch einseitig gefaßt wird. So kann Hegel die Philosophien von Locke und Leibniz gleichermaHegel über Spinoza  |  411

ßen als fortschreitende, aber noch unzureichende Reaktion auf Momente interpretieren, die bei Spinoza unterbestimmt geblieben sind (W 19, 418). Andererseits ist nicht zu übersehen, daß Spinoza aus diesem Schema von Fortentwicklung offenbar herausfällt. Wenn er auch Anlaß für die Versöhner Locke und Leibniz gewesen ist, so war er in Hegels Deutung doch nicht selbst um Versöhnung bemüht, wenn es stimmt, daß er das eine Glied, das Endliche, nicht festgehalten, sondern für nichtig erklärt habe. Hegel vergißt nicht, darauf hinzuweisen, daß Spinoza Jude war, also irgendwie ein Morgenländer und darin ein vorchristlicher Denker, der sich gar, was die Grundidee seiner Philosophie angeht, auf die Inhaltsarmut eleatischer Vorstellungen vom Sein zurückführen lasse (W 19, 376). Fortentwickler Descartes’ und zugleich Eleat, irgendwie paßt das nicht zusammen.20 Richtig sieht Hegel, daß die (angebliche oder tatsächliche) Fortentwicklung Spinozas durch Locke und Leibniz zu einer bloß »jenseitigen« Auflösung der Widersprüche führt, nämlich, gegen Spinoza, mit Hilfe eines welttranszendenten und darin abstrakten Gottes, von dem nicht gezeigt werde, wie er sich in der Welt konkretisiert (483). Die beiden Autoren bleiben aber angesichts einer Theorie der Immanenz der göttlichen Substanz nicht in erster Linie hinter Spinoza zurück, sondern vor allem hinter Hegel, weil sie nicht Gott als Geist in dessen Dreieinigkeit gefaßt haben (ebd.) – damit beschließt Hegel seinen Rückblick auf die Periode der Metaphysik von Descartes bis zu den Wolffianern. Er mobilisiert nicht Spinoza gegen Locke und Leibniz, sondern läßt ihn fallen. 2. Was ist der Grund, daß Hegel Spinoza einerseits in die Entwicklungsgeschichte der neueren Philosophie dem eigenen Deutungsprinzip entsprechend hineinnehmen muß, ihn aber andererseits aus ihr wiederum herausnimmt? Vielleicht hätte er seine Freude an Spinozas frühester Schrift (Kurzer Traktat von Gott, dem Menschen und dessen Glück) gehabt, wo Spinoza unter dem Einfluß protestantischer Sektierer das von Gott unmittelbar Abhängende 20 

Vgl. P. Macherey, Le Spinoza idéaliste de Hegel und Diskussionsbeitrag, in: M. Walther (Hg.), Spinoza und der Deutsche Idealismus, Würzburg 1992, 145–161, 195–196. 412  |  III. Bezüge 

der natura naturata als Sohn Gottes bezeichnet (I, Kap. 9). Beim reifen Spinoza ist von dergleichen nicht die Rede, und das so gerühmte protestantische Prinzip, mit dem die neuere Philosophie angeblich anhebt, ist bei Spinoza wirklich nicht zu finden. Spinoza hält vom Begriff Gottes all das fern, womit Theologen gern operieren, weil sonst dieser Begriff in philosophischer Hinsicht kein leistungsfähiges Prinzip einer der Rationalität des Menschen zugänglichen Erklärung von Weltzusammenhängen wäre. Gott ist nicht Geist, das ist ein Grundtheorem Spinozas, und Denken, von Spinoza verstanden als eine Weise, in der Gott seine produktive Macht entfaltet, ist nur ein Attribut Gottes unter anderen, dessen Verschiedenheit von dem Attribut Ausdehnung darin gründet, daß anders keine befriedigende Erklärung der Verfassung der Welt gegeben werden könnte, in der es essentiell verschiedene Entitäten gibt, nämlich Seiendes vom Charakter des Denkens und Seiendes vom Charakter der Ausdehnung, die nicht aufeinander zurückgeführt werden können (ein Erbe Descartes’, das Spinoza übernimmt). Im Hinblick darauf bestimmt Spinoza Gott seiner Essenz nach durch verschiedene Attribute, unter denen er die Modi dieser Felder hervorbringt. Ihre Einheit in Gott hat nichts mit der Identität von Denken und Sein zu tun, wie Hegel zu interpretieren geneigt ist (W 19, 388), sondern mit der Einheit einer Kausalität im Hinblick auf welthaft Verschiedenes. Eine herausragende Bedeutung hat das Attribut Denken, verstanden als produktive Macht, nicht für Gott, sondern für seine Produkte unter diesem Attribut, d. h. für Modi, die denken. Für sie reserviert Spinoza den Titel »Geist«, den er dann allein in Bezug auf den Modus Mensch erläutert. Der menschliche Geist (mens humana) ist nicht nur durch die göttliche Substanz bestimmt, sondern auch in der Lage, sich selbst von ihr her begreifen zu können, während ein Körper, der, nicht anders als der Geist, durch die göttliche Substanz als seine Ursache bestimmt ist, für sich selbst nichts davon hat, so daß er ein bloßer Modus in einem Geflecht körperlicher Ereignisse ist, die ihn von außen bestimmen und denen er erliegt, ohne ihnen gegenüber ein eigenes Sein behaupten zu können. Der Geist hingegen hat, weil er denkt, die Chance, sich im Geflecht der diesen Ereignissen korrelierenden Ideenabfolge in einer Weise zu orientieren, daß er sich als ein durch sich selbst bestimmtes und darin freies Subjekt erweist, Hegel über Spinoza  |  413

das keinen es fremdbestimmenden, weil unbegriffenen Einflüssen von außen erliegt.21 Aufzuzeigen, wie der Mensch diese Chance realisieren kann, ist das Grundprogramm von Spinozas Ethik.22 Darin ist es einer Theorie der Subjektivität verpflichtet. Zwar spricht Spinoza nicht von einem Subjekt, sondern in der Sprache einer Dingontologie in der Regel auch von der mens humana als einem Ding (res), wohl aber von einem Individuum, dessen ontologisches Merkmal das Streben im eigenen Sein zu verharren ist (conatus in suo esse perseverare; Eth. III, prop. 6), also, gegen Äußeres, auf sich selbst bezogen zu sein. Wie sollte ein Philosoph der frühen Neuzeit, nach Descartes und Hobbes, auch in morgenländische Subjektlosigkeit zurückfallen können. Nicht geht es Spinoza darum, den Standpunkt der Subjektivität preiszugeben, sondern darum, eine angemessene Theorie von Subjektivität zu geben. Sie kann, das ist Spinozas Einsicht, nicht aus der Subjektivität allein erfolgen, sondern auf der Basis eines Fundaments, das als absolutes Prinzip gerade nicht Subjekt ist. Wenn Hegel in seiner immer wieder zitierten und deshalb berühmt gewordenen (und gegen Spinoza gerichteten) Formulierung aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes schreibt, daß es darauf ankomme, »das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subject aufzufassen und auszudrücken« (GW 9, 18), dann hat er gewiß nicht den uns geläufigen Begriff von Subjekt vor Augen, sondern will betonen, daß der Substanz das zukommen müsse, was ein Subjekt auszeichnet, nämlich daß es denkt und darin durch eine Form sich wissender Selbst­ bezüglichkeit ausgezeichnet ist. Diese Bestimmung schließt Spinoza von der göttlichen Substanz ausdrücklich aus, weil sie seiner Ansicht nach darin falsch bestimmt werde. Der absoluten Substanz Geist zuzusprechen ist für Spinoza ein Anthropomorphismus, der, zu Hause in der jüdischen und christlichen Religion, mit einem schlechten Begriff von Unendlichkeit (ins Unendliche gesteigerte Form von Endlichkeit) operiert. 21  Zu

dem Unterschied von Handeln und Erleiden in analytischer, also nicht hegelianisierender Sicht erhellend St. Hampshire, Spinoza and Spinozism, Oxford, 2005, 24 ff. 22  Ich habe dies im Einzelnen entwickelt in meiner Abhandlung »Spinozas Theorie des Menschen«, Hamburg 1992. 414  |  III. Bezüge 

Für Spinoza ist Gott nicht Geist, sondern essentiell Macht (poten­ tia; Eth. I, prop. 34), die in der Tat blind ist, weil in ihr Gott von keiner Hinsicht geleitet ist, durch die sein Handeln auf ein Ziel gerichtet wäre, dessen er noch entbehrte (I, prop. 17). Gottes Macht ist eine in der Notwendigkeit seiner Natur gründende Produktivität, die sich in ihren Produkten erfüllt (I, prop. 16) und die Spinoza deshalb immanente Kausalität nennt (I, prop. 18), so daß man, will man Gott causa sui nennen, ihn zugleich auch »omnium rerum causa« nennen muß (I, prop. 25, schol.). Gott ist demnach immer schon bei der Welt, und man kann nicht fragen, wie er zu ihr hingelangt, aber natürlich auch nicht, wie er über eine wie auch immer zu beschreibende Entäußerung in die Natur wieder zu sich selbst gelangt und darin einen Prozeß durchläuft, in dem das noch Geistlose zu einem Moment des Geistes gemacht wird. Nicht fragen kann man also, wie das Unendliche zum Endlichen »übergehe«, weil es immer schon bei ihm ist. Es liegt auf der Hand, daß Spinoza deshalb kein Programm verfolgt hat, daß eine Deduktion des Endlichen aus dem Unendlichen enthalten könnte. Was unmittelbar aus Gottes Unendlichkeit hergeleitet werden kann, sind allein unendliche Modi (I, prop. 21), die sich als allgemeine Gesetzlichkeiten verstehen lassen, unter denen alle Ereignisse der Welt stehen, und die sich angesichts der nicht mehr zu deduzierenden Vielfalt dieser Ereignisse zu einen vermittelten unendlichen Modus modifizieren (I, prop. 22), über den hinaus es keine weiteren Modifikationen geben kann (I, prop. 23). Ihn nennt Spinoza anderswo (Ep. 64) die »facies totius universi«, die bei aller Veränderung sich durchhaltende gleichbleibende Gestalt. Sie ist nur eine und selbst angesichts der inhaltlichen Differenzierung der Welt in Geistiges und Körperliches ein und dieselbe; sie ist es, die leblos und starr ist, und wären endliche Modi in ihrem Sein von ihr her bestimmt, dann hätte Hegel recht, daß Spinozas Philosophie auf einen Akosmismus hinauslaufe. Aber dem ist nicht so. Weil es keinen Übergang von den unendlichen Modi zu den endlichen gibt, gibt es auch kein Kausalverhältnis zwischen ihnen. Und weil für Spinoza jedes Ding in seinem Sein aus seiner Ursache zu begreifen ist, formulieren die unendlichen Modi nicht mehr als strukturelle Rahmenbedingungen, innerhalb derer endliche Modi agieren, ohne daß sie erlaubten, aus ihnen deren eigenes Sein zu Hegel über Spinoza  |  415

begreifen. Daß ihnen ein eigenes Sein zukommt, in traditioneller Terminologie daß es individuelle Essenzen gibt, ist für Spinoza ein Tatbestand, den er unmittelbar aufnimmt, gewissermaßen ein Axiom 23 , mag er ihn auch nicht als ein solches formulieren. Lehrsatz 24 des 1. Teils der Ethik, der auf die Theorie der unendlichen Modi folgt, geht einfach davon aus, daß Dinge, die Spinoza besondere Dinge (res particulares, I, prop. 25, coroll.) nennen wird, eine Essenz haben, deren bewirkende Ursache Gott ist (I, prop. 25), ohne daß er zeigte, wie sie sich in ihrer Besonderheit aus der Unendlichkeit Gottes ergeben könnten. Im Spinoza-Kapitel seiner Geschichte der Philosophie hat Hegel drei verkehrte Bestimmungen des Verhältnisses von Gott und Endlichem (hier auch »wir« genannt) formuliert (W 19, 373): 1. das Endliche ist und Gott ist nicht; 2. nur Gott ist, das Endliche aber nicht, sondern bloßer Schein; 3. beide sind, Gott und wir auch. Das erste sei Atheismus, das zweite spinozistischer Akosmismus, das dritte offenbar Trivialvorstellung des gesunden Menschenverstandes.24 Das dritte Verhältnis sei ein bloßer Dualismus, der beiden Gliedern Substantialität zuspricht, eine Annahme von Gleichgültigkeit, bei der die Vernunft nicht stehen bleiben könne. Für Spinoza, der kein Atheist war (da hat Hegel recht), aber gewiß auch kein Akosmist (da hat Hegel unrecht) bliebe immer noch das dritte Verhältnis in Hegels Schema, natürlich nicht in dem Sinne, daß er die Substantialität von Endlichem behauptete, aber doch so, daß er, mit Hegels Worten, einen Dualismus von Unendlichem und Endlichem vertritt. Denn er charakterisiert in der Tat das End­ liche gerade in dessen Wirklichkeit durch Merkmale, die sich nicht aus der einen Substanz herleiten lassen. Der endliche Modus, der für Spinoza, in Hegels Schema gesprochen, vornehmlich unter dem Aspekt des »wir« von Interesse ist, also der Modus Mensch, ist durch den Tatbestand gekennzeichnet, daß er denkt und den eigenen Körper empfindet, über den er mit der äußeren Natur verbunden ist. Bekanntlich führt Spinoza den Tatbestand unseres 23 

Vgl. A. Matheron, Individu et communauté chez Spinoza, Paris 1969. Übrigens hat auch Spinoza, in leichter Abwandlung, in Eth. II, prop. 10, coroll., schol. die Dreizahl Hegels formuliert, wobei er das dritte Verhältnis so beschreibt, daß die meisten sich über es nicht recht im klaren seien. 24 

416  |  III. Bezüge 

Denkens und unserer Körperlichkeit in nicht beweisbaren Axiomen ein (II, ax. 2 und 4), und es ist offensichtlich, daß er erst auf dieser Basis eine inhaltliche Bestimmung der Attribute vornehmen kann (II, prop. 1 und 2), die im 1. Teil der Ethik nicht erfolgt und dort auch nicht erfolgen kann, weil der Begriff der Substanz solche Inhalte nicht hergibt. Das heißt natürlich nicht, daß die Attribute eine nur subjektive Bedeutung hätten, wohl aber daß sie eine Funktion haben im Hinblick auf Sachverhalte, die sich aus der Substanz nicht deduzieren lassen. Insofern greift Spinoza etwas empirisch auf, aber man sollte sich davor hüten zu meinen, ein solcher Empirismus sei mit Spinozas durchgängigem Programm einer rationalen Erklärung der Welt unverträglich. Im Gegenteil, er ist der Anlaß, ein solches Programm zu entwerfen: daß wir uns in der Faktizität einer bestimmten Beschaffenheit in der Welt vorfinden und uns nicht damit begnügen, sie bloß auszuleben, sondern sie begreifen wollen, um ein diesem Begreifen verpflichtetes Leben zu führen. Deutlich wird der von Hegel im dritten Verhältnis genannte Dualismus allerdings erst im 2. Teil der Ethik. Um das wirkliche Sein (actuale esse) des menschlichen Geistes bestimmen zu können, startet Spinoza dort mit Lehrsatz 11 einen Neuanfang, was auch Hegel gesehen hat, wenn er, despektierlich, konstatiert, daß Spinoza bei der Betrachtung des Bewußtseins gar nicht von der Erörterung der Substanz fortschreitet: »Er fängt geradezu vom [sic!] mens an« (W 19, 392). In der Tat ist es ein Neuanfang, in dem Spinoza, nicht von oben fortschreitend, sondern gleichsam von unten her, von der wirklichen Verfassung des menschlichen Geistes in dessen Faktizität, die Weise beschreibt, in der der Mensch erkennt. Seine Erkenntnis bewegt sich zwar in dem Rahmen, den Spinoza zuvor über eine Strukturontologie der göttlichen Substanz entwickelt hat: die mens humana ist als idea immer idea corporis, und jeder Körper steht in einem universellen Geflecht von Körpern, die einander bewirken, dem ein Geflecht von Ideen korrespondiert, das in seiner Totalität mit dem Ganzen der körperlichen Ereignisse übereinstimmt. Aber das tatsächliche menschliche Erkennen artikuliert sich in einer Perspektive, die mit diesem Rahmen nicht in Einklang ist: Alle Ideen sind an sich wahr gemäß der Kausalität Gottes in der Gleichursprünglichkeit seines attributiven Bestimmtseins, damit Hegel über Spinoza  |  417

aber noch nicht für den endlichen Geist, der gemäß seines konkreten Standpunktes die Totalität nur in perspektivischer Verzerrung wahrnimmt und darin inadäquat erkennt (Erkenntnisform der imaginatio). Spinozas Programm ist zu zeigen, wie der Mensch angesichts dieses Sachverhalts zu einer adäquaten Erkenntnis gelangen kann, in der das an sich Wahre auch wahr für ihn ist. Hierfür stützt sich Spinoza gewiß auf Voraussetzungen, die er aus seiner der Faktizität menschlichen Erkennens vorausliegenden Ontologie der Substanz gewinnt. Aber diese Voraussetzungen, und darin unterscheidet sich Spinoza grundlegend von Hegel, sind nicht im Erkenntnisakt des Individuums selbst wirksam. Daß Bewußtseinsformen Erscheinungsformen des Absoluten im Sinne einer Phänomenologie des Geistes sein könnten, setzt eine Teleologie voraus, bei der die absolute Substanz als Geist ein verborgener Akteur in diesen Formen ist, bei Hegel sogar in der Form, daß die Bewußtseinsformen gemäß der Subjektivität der Substanz selbst zu Subjekten werden, die angeblich etwas selbst tun, nämlich von sich aus in höhere Formen übergehen und in diesem Übergang ihre Rechtfertigung haben. Hegels Versuch, philosophisches Wissen über eine Bildungsgeschichte zu stabilisieren, in der das, was diesem Wissen widerstreitet, angefangen vom natürlichen Bewußtsein im Sinne des gesunden Menschenverstandes, integriert wird 25 , stützt sich darauf, daß ein diesen Formen zugrunde liegender Geist sie über sich hinaustreibt. Diese Theorie muß hierfür mit einem Begriff von Subjekt operieren, der dem natürlichen Bewußtsein wohl völlig fremd ist und das heißt, gegen Hegels Anspruch, dem zu Integrierenden gerade äußerlich ist. Spinozas demgegenüber bescheidener Versuch im Theologisch-Politischen Traktat, das religiöse Bewußtsein, das für ihn nicht ganz oben, sondern weit unten steht, nämlich eine Artikulationsform der imaginatio ist, auf einen vernunftverträglichen Gehalt hin zu interpretieren, dürfte dem religiösen Bewußtsein ebenfalls äußerlich sein. Spinoza wußte deshalb, daß ein solches Unternehmen nur demjenigen etwas bringen kann, der eine philosophische Haltung schon eingenommen hat und von ihr her den Status des religiösen Bewußt25 

Vgl. H. F. Fulda, G. W. F. Hegel, Stuttgart 1999.

418  |  III. Bezüge 

seins in seiner Bedeutung für die eigene Lebensführung beurteilen kann26 . Für Spinoza ist allein die konkrete mens humana ein Subjekt, mit dem sich Geist verbinden läßt. Ihre Erkenntnisformen gehen nicht ineinander über, schon gar nicht von sich aus kraft eines in ihnen wirkenden absoluten Geistes. Der in der imaginatio befangene Mensch führt ein elendes Leben, das ist so und daß das so ist, dafür können Gründe angegeben werden, aber zu rechtfertigen ist hier gar nichts, wenn unter Rechtfertigung eine Deduktion aus dem Absoluten zu verstehen ist, wie Hegel fordert (vgl. W 19, 377). Ein solcher Mensch ist fern vom Absoluten, weil er sich nicht von ihm her versteht, und das liegt allein an ihm, nicht an einem noch Vorläufiges durchlaufenden Absoluten. Daß der Mensch in seiner Endlichkeit das kann, dafür liefert die Substanztheorie einen Grund, den der letzte Lehrsatz des Teils, in dem Spinoza sie ausarbeitet, formuliert: »Nichts existiert, aus dessen Natur nicht irgendeine Wirkung folgt« (I, prop. 36). Hegel, der einige Lehrsätze des 1. Teils der Ethik zitiert, wenn auch nicht interpretiert, übergeht diesen Lehrsatz stillschweigend. Dies muß er auch tun, weil er dezidiert gegen seine Interpretation Spinozas spricht. Noch im Kontext der Strukturanalyse Gottes entwickelt, formuliert der letzte Lehrsatz die Quintessenz der Theorie der immanenten Kausalität Gottes in Bezug auf das, was Gott produziert. Seine Essenz, Macht zu sein, geht in alle Produkte, d. h. in jedes Ding der Welt, ein, das folglich selbst essentiell durch Macht gekennzeichnet ist. Im Kontext des Weltzusammenhanges, in dem ein einzelnes Ding agiert, d. h. in Bezug auf äußere Dinge, wird Spinoza diese Macht als conatus bestimmen (»cuiuscunque rei potentia sive conatus«, III, prop. 7, dem.), als ein Streben, gegen äußere Einflüsse das eigene Sein zu erhalten. Der letzte Lehrsatz des 1. Teils formuliert zugleich zwei wesentliche Momente, unter denen der individuelle conatus zu denken ist. 1. Aus der Macht eines Individuums folgt nur irgendeine Wirkung (»aliquis effectus«), die mitbestimmt ist von Wirkungen, die von äußeren Dingen ausgehen, relativ auf die die eigene Aktivität von je unterschiedlichem Ausmaß ist. 2. Die Wir26 

Vgl. W. Bartuschat, Spinozas philosophische Lektüre der Bibel, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1999, 211–226. Hegel über Spinoza  |  419

kung in ihrer besonderen Bestimmtheit erfolgt grundsätzlich aus der Natur des Individuums in dessen Relation zu anderen Dingen, also nicht aus der Natur Gottes, sondern aus dessen modifizierter Macht (»potentia quatenus«) in je spezifischer Ausgestaltung, welche die Natur gerade dieses Individuums ausmacht. Ein endliches Individuum ist ein Modus, und ein Modus, Grundtheorem Spinozas, kann ohne die göttliche Substanz weder sein noch begriffen werden (I, prop. 15), während er Hegels Deutung zufolge mit der göttlichen Substanz weder sein noch begriffen werden könne. Spinoza will damit sagen, daß ein Modus nicht durch sich selbst existiert, sondern seine Ursache in der Substanz hat, und da etwas begreifen heißt, es aus seiner wahren Ursache begreifen, kann ein Modus nur aus Gott begriffen werden. Dies kann aber, da Gott nicht begreift, nur der Modus selbst tun. Die Strukturanalyse der göttlichen Substanz im ersten Teil entwickelt die Bedingungen, gegen die ein solches Begreifen nicht möglich ist (Abwehr falscher Vorstellungen), und zugleich eine Bedingung, unter der es möglich ist. Es ist die ontologische Bedingung, daß Gott kraft seiner immanenten Kausalität nicht nur den Dingen der Welt, sondern auch deren Ideen nicht transzendent ist (II, prop. 45), so daß der Mensch alle Ideen, die er hat, wie geartet sie auch sein mögen, auf die Idee Gottes beziehen und darin zu adäquaten Ideen machen kann (V, prop. 14). Daß der Mensch dies auch realisieren kann, ist durch die bloße Präsenz Gottes im Besonderen nicht schon garantiert. Gezeigt werden muß es an der Tatsächlichkeit menschlichen Erkennens. Sie beschreibt Spinoza über einen Prozeß zunehmender Erkenntnisgewißheit, den der Mensch durchläuft und in dem das menschliche Subjekt ein anderes Verständnis von sich selbst erlangt, das ihm zunehmend erlaubt, sich selbst von einer höheren Form des Erkennens, von der ratio und schließlich von der scientia intuitiva, zu verstehen. Spinoza beschreibt dies als eine Form der Verinnerlichung der Erkenntnis, was der Grund dafür ist, daß er so ausführlich auf die Struktur der den Menschen bestimmenden Affekte eingeht, um am Ende die höchste Erkenntnisform mit einer alle anderen Affekte dominierenden Emotion (amor Dei intellectualis; V, prop. 32, coroll.) zu verknüpfen, ein Sachverhalt, den Hegel nicht weiter beachtet. Was Gott dem Individuum hierfür verleiht, ist allein dessen Status eine modifizierte potentia Dei zu sein und 420  |  III. Bezüge 

darin ein Modus, der essentiell tätig ist und sich entfalten kann, immer gemäß der ihm eigenen Natur (»quantum in se est«, III, prop. 6), die sich im tatsächlichen Vollzug des conatus herausbildet. Der conatus ist als innere Bestimmung eines Individuums dessen Affirmation, die es in dem, was das Individuum ist, charakterisiert und nicht in dem, was es nicht ist. Von daher läßt sich eine weitere und oft zitierte Umbiegung Hegels zurechtrücken. Von Spinoza stamme der »große Satz: Alle Bestimmung ist eine Negation« (W 19, 374), zitiert meist, mit Hegel, als »omnis determinatio est negatio« (376). Bezugspunkt ist ein Brief Spinozas (Ep. 50), in dem sich die Wendung »determinatio est negatio« findet, richtig wiedergegeben von Jacobi, der die Stelle zitiert (Werke I,1; 100), wenn er sie auch falsch interpretiert und darin die hegelsche Wendung suggeriert,27 und richtig wiedergegeben auch von Paulus in seiner Edition (Bd. I, 634), auf die sich Hegel zu beziehen pflegt. Hegel universalisiert den Satz durch ein vorgesetztes »omnis«, als der er dann bei Hegelianern als ein vermeintliches Spinoza-Zitat in der Regel auftaucht. Spinoza erläutert die Sache in dem Brief an der Gestalt (figura), von der er sagt, daß sie nicht etwas Positives (aliquid positivum) ist, weil sie ein Ding über die Abgrenzung von anderem bestimmt und darin von dem her beschreibt, was das Ding nicht ist. Das liegt offensichtlich schon im Begriff der Gestalt als der äußeren Form eines Dinges. In dieser Äußerlichkeit bestimmt sie ein Ding über eine Verneinung und darin nicht hinsichtlich seines Seins. »Ad rem juxta suum esse non pertinet«, heißt es bei Spinoza, der zudem ausdrücklich sagt, daß dies für diese Bestimmung gilt (»haec determinatio«), also für eine äußere, nicht aber für eine innere und damit, gegen Hegel, nicht für jede Form von Bestimmung. Die Briefstelle ist nicht weiter aufregend. Deutlicher wird Spinoza in der Ethik im Kontext menschlicher Praxis bei der Untersuchung der Frage, worin denn Menschen übereinstimmen und damit wie sich ihr durch die imaginatio bedingtes Gegeneinander überwinden lasse, eine Stelle (Eth. IV, prop. 32), die Hegel wie Hegel in Glauben und Wissen Spinoza noch gegen Falschdeutungen Jacobis (GW 4, 352 ff.), so zollt er Jacobi in seiner späteren Jacobi-­ Rezension in Sachen Spinoza durchaus Anerkennung und formuliert hier seinen »omnis determinatio«-Satz (GW 15, 8). 27  Verteidigt

Hegel über Spinoza  |  421

generell alle Stellen, die mit Spinozas Ethik im engeren Sinn zu tun haben, überliest.28 Dort bindet Spinoza Übereinstimmung an die Natur derer, die übereinstimmen, und kehrt diese Natur unter der positiven Bestimmung von Macht gegen die Verneinung, die in dieser Perspektive nichts als Ohnmacht ist: »Unter Dingen, von denen es heißt, daß sie ihrer Natur nach übereinstimmen, werden Dinge verstanden, die in ihrer Macht übereinstimmen […], nicht aber in einer Ohnmacht oder Verneinung und folglich […] auch nicht in einem Erleiden« (IV, prop. 32, dem.). In der Anmerkung erläutert Spinoza dies durch ein »per se patet« – der Konstrukteur more geometrico hat durchaus Evidenzen für sich: »Wenn jemand sagt, daß [Dinge] allein darin übereinstimmen, daß beide endlich sind, ohnmächtig sind, nicht aus der Notwendigkeit ihrer Natur heraus existieren, oder schließlich daß sie von der Macht äußerer Ursachen unbestimmt übertroffen werden, dann versichert er in jeder Hinsicht, daß [sie] in nichts übereinstimmen; Dinge nämlich, die allein in einer Verneinung übereinstimmen, stimmen in Wahrheit in nichts überein.« Hier ist Spinoza radikal. Dinge als bloße Modi zu bezeichnen und darin über Merkmale zu charakterisieren, die sich daraus ergeben, daß sie nicht Substanzen sind, ist keine positive Bestimmung dieser Dinge, nicht weil sie die Substanz einschränken, sondern weil sie darin von dem her gedacht sind, was sie selbst nicht sind. Es geht also Spinoza nicht darum, Modi in ihrer bestimmten Besonderheit als eine Verneinung zu fassen, sondern darum, sie in ihrer Besonderheit angemessen zu bestimmen. Und das geschieht nicht über eine Verneinung der Verneinung, die von dem ausgeht, was das Besondere nicht ist, sondern durch den Rückgriff auf das, was in dem Besonderen positiv ist, d. h. was Ausdruck seiner eigenen Natur ist. 3. Ein Modus ist erst dann gehaltvoll bestimmt, wenn er nicht, abstrakt, von der Substanz her gedacht wird als das, was er nicht ist, obschon er ohne sie weder sein noch begriffen werden kann, wenn vielmehr ein Ding an sich selbst erweist, daß es ein Modus 28  Sein

Hinweis auf die Erhabenheit der Moral Spinozas (W 19, 403) läßt sich nicht wirklich auf Spinozas Theorie ein und ist eher angehängt als aus dem Vorhergehenden entwickelt (»wir haben nun noch [davon] zu sprechen«, 402). 422  |  III. Bezüge 

der göttlichen Substanz ist, daß es sich nämlich in seinem Sein nicht angemessen begreifen kann, wenn es sich nicht von ihr her versteht. Ein solches Begreifen setzt Aktivität voraus und damit eine Form von Innerlichkeit, die dem Individuum selbst zukommt und die Spinoza als das bezeichnet, was positiv in ihm ist. Spinoza zeigt, daß das menschliche Subjekt für dieses Begreifen nicht auf Elemente zurückgreifen kann, die es aus seinen eigenen Leistungen allein gewinnt. Es ist angewiesen auf ein unbedingtes Prinzip, das aber nicht selbst ein Subjekt ist, das erkennt, weil unter dieser Annahme dem menschlichen Subjekt selbst eine unbedingte Erkenntnis nicht möglich wäre. Dinge als Gegenstand unserer Ideen folgen nicht deshalb aus der göttlichen Natur, »weil Gott die Dinge vorher erkannt hat« (Eth. II, prop. 6, coroll.). Denn gründeten sie in seinem Verstand, dann könnten wir niemals vollständige Einsicht in sie haben, weil wir in Gottes Verstand keine Einsicht haben können. Gründen sie in seiner Macht, die sich in den Dingen erfüllt, sind sie hingegen von uns uneingeschränkt erkennbar. Nicht selbst erkennend, ist Gott deshalb auch nicht heimlicher Motor unseres Begreifens. Als Prinzip begründeten Begreifens kann er deshalb nur auftreten, wenn es sich im Akt des Erkennens für das Subjekt erschließt, also am Ende der Ethik, nicht an deren Anfang. Hegels »nur hinein, nicht heraus« ist schief. In Spinozas Immanenzphilosophie geht weder etwas hinein, noch kommt etwas heraus, weil alles schon im obersten Prinzip dieser Philosophie ist (Eth. I, prop. 15). In den Dingen, die in ihm sind, ist jedoch Bewegung, von unterschiedlicher Art, je nachdem wie die Natur eines einzelnen Dinges beschaffen ist. Thematisiert hat Spinoza eine solche Bewegung am menschlichen Geist, über dessen conatus, der ein conatus percipiendi ist, die absolute Substanz als Prinzip dieses conatus erwiesen wird. Spinoza hat diesen Zusammenhang in zwei Schritten entwickelt, in einer Analyse der Struktur der göttlichen Substanz, die abstrakt und, wenn man mit Hegel will, auch leer ist, und in einer davon zu unterscheidenden Analyse menschlicher Weltorientierung, in deren Beschreibung Spinoza nicht der Methode einer bloßen Applikation der Strukturontologie auf das Feld menschlichen Erkennens und Handelns folgt. Im Ausgang von der faktischen Verfassung des menschlichen Subjekts entwickelt Spinoza die Bedingungen, unter denen es dem Subjekt gelingen kann, Hegel über Spinoza  |  423

die konkreten Weltereignisse, die es erfährt, also das Besondere, in einen Zusammenhang zu bringen, in dem es sie so erfährt, daß es darin nicht von außen bestimmt ist. Nicht zuletzt weil dies ein allumfassender Zusammenhang ist, bedarf es hierfür eines unbedingten Prinzips, das nicht das menschliche Subjekt selbst sein kann. Die absolute Substanz verbürgt als dieses Prinzip durch das, was sie ihrer Essenz nach ist, zwar die allgemeinen Strukturen (unendliche Modi) eines solchen Zusammenhangs, nicht aber im Feld endlicher Modi auch diejenige Form menschlicher Weltorientierung, die diesem Zusammenhang entspricht. Ethik bleibt an ein Handeln gebunden, das dem Menschen kein Gott abnehmen kann, das sich aber auch gewiß nicht darin erfüllt, daß der Mensch zu Gott flüchtet und darin sich selbst vernichtet. Es erfüllt sich auch nicht darin, daß ein Gott angenommen wird, der es kraft seiner Güte schon richten wird, wenn wir nur unsere begrenzten Geschäfte ordentlich verrichten werden. Es erfüllt sich allein darin, daß Gott begriffen wird als die Ursache der Essenz des Handelnden und daß darin der Mensch das wahre Verständnis von dem, was er selbst ist, hat. So entwickelt Spinoza eine Theorie des Absoluten, deren Grundstrukturen nicht im Ausgang von einem endlichen Subjekt gefunden werden können, das aber doch seine Konkretion erst von einem solchen Ausgang her erlangt, über den gezeigt wird, unter welchen Bedingungen menschlicher Endlichkeit es auch etwas für das endliche Subjekt ist. Darin erteilt Spinozas Philosophie dem Programm einer Deduktion aus dem Absoluten eine deutliche Absage. Sie läuft aber auch nicht auf das Programm Kants hinaus, der den Einheitspunkt eines Absoluten als einen von dem Subjekt in den unterschiedlichen Formen seiner Weltorientierung bloß zu findenden Abschluß angesehen hat, ohne daß ihm eine tatsächliche Einheit in konstitutiver Hinsicht zugesprochen werden könnte. Daß Spinoza das Absolute nicht als eine zu findende Idee angesehen hat, sondern als Ursache alles Seins und in eins damit der Begreifbarkeit dieses Seins und gleichwohl das Sein und das Begriffenwerden der Dinge nicht aus dem Absoluten herleitet, ist eine Alternative zu Hegels Programm, die sich nicht als dessen Vorstufe ansehen läßt. Hegel muß deshalb in Spinoza all das ausblenden, was sich nicht als eine solche Vorstufe interpretieren läßt, mit der 424  |  III. Bezüge 

Folge, daß für Spinoza nur das magere Ergebnis übrigbleibt, überhaupt eine Theorie des Absoluten und dies in aller Radikalität entwickelt zu haben, die deutlich macht, daß alles Besondere ohne ein Absolutes nicht wahrhaft begriffen werden kann. Aber Hegel wußte wohl, daß es Spinoza gar nicht um die Vernichtung des Besonderen geht, wenn er sagt, daß in der Substanz »Alles, was man für wahr gehalten hat, untergegangen ist« (W 19, 374). Worum es Spinoza, richtig interpretiert, geht, ist die Vernichtung falscher Ansichten über das Besondere, also um die Vernichtung allein von Unkenntnissen (»sublata ignorantia«, Eth. I, app.). Für Spinoza ist dies am Ende der Ethik realisiert, wenn der Mensch mit der Gotteserkenntnis zugleich eine Selbsterkenntnis hat. »Sui et Dei conscius«, erläutert Spinoza und zwar in dieser Reihenfolge (Eth. V., prop. 31, schol.). Indem Hegel diesen Aspekt ausblendet, entgeht ihm, dem an Fortentwicklung so Interessierten, die Fortentwicklung der cartesischen Philosophie durch Spinoza, die eben nicht nur in substanztheoretischer, sondern auch, untrennbar damit verbunden, in subjekttheoretischer Hinsicht erfolgt. Er muß die diesbezügliche Fortentwicklung in die Philosophie von Locke und Leibniz als Reaktion auf die Einseitigkeit des Spinozismus verlegen, die schließlich in der Plattheit des humeschen Empirismus (W 19, 497) und dem »zur letzten Mattheit herabgesunkenen« (GW 15, 7) wolffschen Rationalismus endet, um erst in der Philosophie Kants einen wahren Neuanfang zu erfahren, gegen den an die (für sich unzureichende) Substanztheorie Spinozas immerhin zu erinnern ist. Aber vielleicht wußte Hegel mehr über die Philosophie Spinozas, als er in der von seiner eigenen Philosophie geleiteten Perspektive hat sagen wollen, und hat das Verschwinden alles Besonderen gar nicht als deren Spezifikum angesehen. Der peinliche Psychologismus in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, der ihn jenes Verschwinden mit der Schwindsucht Spinozas in Verbindung bringen läßt, gleich dreimal vorgebracht (W 19, 370, 378, 402) und wahrscheinlich authentisch, denn so etwas pflegen Studenten sich zu notieren, mag als, wenn auch nur psychologischer, Beleg dafür angesehen werden.

Hegel über Spinoza  |  425

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Erstveröffentlichungsnachweise I. Ontologie und Subjektivität

Metaphysik als Ethik. Zu einem Buchtitel Spinozas. In: Zeitschrift für philosoph. Forschung 28 (1974), S. 132–145. Metaphysik und Ethik in Spinozas »Ethica«. In: Studia Spinozana 7 (1991), S. 15–37. Selbstsein und Absolutes. In: Neue Hefte für Philosophie 12 (1977), S. 21–63. Das Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten. In: Radermacher et al. (Hg.), Rationale Metaphysik. Die Philosophie von Wolfgang Cramer, Bd. II, Stuttgart 1990, S. 99–121. Subjekt und Metaphysik in Spinozas Ontologie. In: Stolzenberg (Hg.), Subjekt und Metaphysik, Göttingen 2001, S. 15–27. Unendlicher Verstand und menschliches Erkennen bei Spinoza. In: Tijdschrift voor Filosofie 54 (1992), S. 492–521.

II. Ethik und Politik

Theorie und Praxis in Spinozas Ethik und Politik. In: Studia Spinozana 9 (1993), S. 59–78. Die Theorie des Guten im 4. Teil der »Ethik«. In: Hampe/Schnepf (Hg.), Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, Berlin 2006, S. 237–250. Moralität bei Spinoza. In: Senn/Walther (Hg.), Ethik, Recht und Politik bei Spinoza, Zürich 2001, S. 23–45. Freiheit als Ziel des Staates. In: Bostrenghi (Hg.), Hobbes and Spinoza. Science and Politics, Napoli 1993, S. 115–142. Ökonomie und Recht in Spinozas Theorie des Staates. In: Immenga et al. (Hg.), Festschrift für Ernst-Joachim Mestmäcker, BadenBaden 1996, S. 63–76. Spinoza über Macht und Recht in der Politik. In: Teoria. Rivista di filosofia 32, (2012), S. 153–167. 434  |

III. Bezüge

Spinoza in der Philosophie von Leibniz. In: Cramer et al. (Hg.), Spinozas Ethik und ihre frühe Wirkung, Wolfenbüttel 1981, S. 51–66. Leibniz als Kritiker Spinozas. In: Schürmann et al. (Hg.), Spinoza im Deutschland des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 87–108. Teleologie bei Spinoza im Hinblick auf Kant. In: Pleines (Hg.), Teleologie, Würzburg 1994, S. 98–112. Über Spinozismus und menschliche Freiheit beim frühen Schelling. In: Pawlowski et al. (Hg.), Die praktische Philosophie Schellings, Stuttgart 1989, S. 153–175. Über Anfang und Fortgang von Spinozas »Ethik« (Spinoza versus Fichte). Unveröffentlichter Vortrag auf einer Tagung zu Spinoza und Fichte in Schloß Rammenau 2006. Nur hinein, nicht heraus. Hegel über Spinoza. In: Heidemann/Krijnen (Hg.), Hegel und die Geschichte der Philosophie, Darmstadt 2007, S. 101–115.

Erstveröffentlichungsnachweise  |  435