Spaces of Uncertainty - Berlin revisited: Potenziale urbaner Nischen 9783035614428, 9783035614381

Neue Agenda für Architektur & Städtebau How has Berlin’s urban landscape changed in its remarkable transformation

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Spaces of Uncertainty - Berlin revisited: Potenziale urbaner Nischen
 9783035614428, 9783035614381

Table of contents :
Inhalt
Einführung
Spaces of Uncertainty
Veränderung verstehen
Eldorado Berlin
Ästhetik des Wiedererscheinens
Vom Terrain Vague zur Tyrannei des Orts
Die temporäre Nutzung in der neoliberalen Stadt neu denken
Die Ungewissheit des Wohnens
Fotografien Kenny Cupers und Markus Miessen (2001) Kenny Cupers und Thomas Schirmer (2016)
Nachwort

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Spaces of Uncertainty Berlin Revisited

Potenziale urbaner Nischen

4 Einführung 

Kenny Cupers

14 Spaces of Uncertainty   

Kenny Cupers und Markus Miessen

20 Veränderung verstehen   

Margaret Crawford

24 Eldorado Berlin   

Florian Hertweck

36 Ästhetik des Wiedererscheinens   

Miriam Paeslack

54 Vom Terrain Vague zur Tyrannei des Orts   

Mariana Mogilevich

66 Die temporäre Nutzung in der neoliberalen Stadt neu denken    

Philipp Misselwitz

78 Die Ungewissheit des Wohnens 

Jesko Fezer

96

Fotografien



Kenny Cupers und Markus Miessen (2001) Kenny Cupers und Thomas Schirmer (2016)

167 Nachwort   

Markus Miessen



Einführung Kenny Cupers Eine zerbrochene Stadt, die genau deshalb so offen ist, eine Ansammlung unbestimmter Räume, bereit, genutzt und verändert zu werden: Das ist das Berlin, das Markus Miessen und ich im Sommer 2001 porträtiert haben. Aus diesen Eindrücken ging das Buch Spaces of Uncertainty (Wuppertal: Müller + Busmann, 2002) hervor. Berlin ist eine Stadt, die Zerstörung, Teilung und Vernachlässigung ebenso geformt haben wie Planung und Bauen. Das Ergebnis sind jede Menge Brachflächen, übrig gebliebener Stadtraum, der, wie wir sahen, zum Rumhängen, zum Anbau von Obst und Gemüse, zum Spielen, Party- oder Geschäftemachen, zum Wohnen, sich Verstecken und für eine Vielzahl anderer Aktivitäten genutzt wurde. Es schien uns, dass Berlins Geschichte nicht nur die Zukunft, sondern auch die Gegenwart offen ließ, denn die Berliner hatten viel häufiger die Gelegenheit, offene Räume unmittelbar temporär mitzugestalten als die Bewohner der meisten anderen Städte. An diesen Orten sahen wir Raum sowohl für freies, individuelles Handeln als auch für kollektive Wünsche und wollten damit den seinerzeit vorherrschenden Themen wie Verlust, Kommerzialisierung oder Militarisierung, die die Debatten über den öffentlichen Raum prägten, etwas entgegenhalten. Die 4 — Spaces of Uncertainty

städtischen Ränder Berlins waren in unseren Augen eine entscheidende Ressource für das öffentliche Leben und die Stadt überhaupt. Eine der zentralen Annahmen, die unser Denken bei diesem Projekt bestimmte, war der Gegensatz zwischen Raum und Ort. Auf der einen Seite ist die Stadt ein Gelände, das Räume produziert, die von einer Vielzahl von Kräften und Ereignissen geformt werden und die deshalb fließend und voller Veränderungspotenzial sind. Auf der anderen Seite ist die Stadt eine Sammlung von Orten, die als stabil und definiert entworfen und für die Geld, Macht und Einsatz erforderlich sind. Die Stabilität des Ortes und seine kontrollierte Entwicklung über die Zeit setzen ein Bild der Stadt voraus, ein Projekt, bei dem Architektur eine zentrale Rolle spielt. Auf eben diese konservative oder zumindest stabilisierende Funktion der Architektur reagierten wir als junge Absolventen. Um sich mit der grundsätzlichen Ungewissheit des städtischen Raumes, und nicht mit der Sicherheit des Orts, auseinandersetzen zu können, so unsere Annahme, musste man sich auf die Gegenwart einlassen. Im Gegensatz zu dem historischen Blick, der Berlins wachsende Tourismusindustrie antreibt und die für die Planung der Zukunft so zentralen Berlin Revisited — 5

Einführung

Diskussionen über die Bewahrung des historischen Erbes bestimmt, erforderten Berlins Ränder in unseren Augen einen intensiven Gegenwartsbezug. Mit dem Fokus auf das Hier und Jetzt würde man die Fallstricke der Planung, ob der rückwärtsgerichteten oder der vorausschauenden, umgehen können. Die Macht der Ränder anzuerkennen, war also ein Mittel, das unvermeidliche „Geschichte werden“ der Stadt zu bekämpfen. Es überrascht nicht, dass wir der Idee, dieselben Orte fünfzehn Jahre später erneut aufzusuchen und zu fotografieren, zunächst skeptisch gegenüberstanden. Bedeutete der erneute Besuch etwa nicht, die Bedeutung von Geschichte anzuerkennen, ebenso wie die Unabwendbarkeit städtischen Wandels und die Macht des Ortes? Und generell: Würde das nicht unsere zentrale Behauptung, dass Berlin nicht historisch ist, gänzlich entkräften? Würden wir damit nicht genau jener ortsgebundenen Nostalgie erliegen, an der wir damals Kritik geübt hatten? Oder könnte sich in der Rückschau gar herausstellen, dass unsere Dokumentation der Räume der Ungewissheit weniger, wie Hilde Heynen es damals nannte, „schmutziger Realismus“ als vielmehr jugendlicher und letztlich unhaltbarer Idealismus war? Am Ende siegte aber doch die Neugier, und als wir diese Orte 6 — Spaces of Uncertainty

Kenny Cupers

aufsuchten, zuerst ohne großen Plan, dann immer systematischer, stellten wir fest, dass manch leerer Raum gefüllt worden und manch anderer unberührt geblieben war. Einige Orte waren zu profitablen Investitionsobjekten geworden, während andere noch immer nicht erschlossen waren und sich damit in einem Zustand anhaltender Ungewissheit befanden. Wie ließen sich diese Veränderungen deuten? Das erneute Aufsuchen dieser Orte setzt Distanz voraus. Distanz erlaubt es einem, in einen Raum zurückzukehren und ihn neu zu erleben. Aber dieses Erleben ist natürlich nie wirklich neu, sondern durchsetzt mit persönlichen Erinnerungen, kulturellen Annahmen, Eindrücken, die vermittelt wurden, sowie überdeterminierten, nicht genauer identifizierten Bildern dieser Stadt. Jeder der Urbanisten, die wir eingeladen haben, einen Beitrag zu diesem Buch zu verfassen, hat ein anderes Verhältnis zu Berlin, sodass jede(r) von ihnen die Veränderungen Berlins unterschiedlich erlebt. Einige wohnen seit vielen Jahren in Berlin und sind Experten, andere haben sie gerade das erste Mal besucht. Doch sie alle stellen auf die eine oder andere Weise in ihren Beiträgen fest, dass Berlin keine Stadt der Lücken und der Ungewissheit mehr ist. Ob das dem Einsetzen globaler neoliberaler Entwicklungen Berlin Revisited — 7

Einführung

geschuldet oder aber auf die verspätete Verwirklichung des nach der Wiedervereinigung viel beschworenen Traums von Berlin als einer „normalen Stadt“ zurückzuführen ist, wie Florian Hertweck in seinem Beitrag vermutet – die Gegenüberstellung der Fotografien von 2001 und 2016 lässt sich als Beweis für den Wandel Berlins lesen. Aber es gibt nicht nur eine Lesart für diese Bilder, die mehr vermitteln als das bloße Füllen städtebaulicher Lücken. Sie zeigen auch, wie die städtischen Ränder im Prozess der Stadtentwicklung kannibalisiert werden, indem genau die Räume und Eigenschaften ästhetisiert werden, die später der Verdrängung zum Opfer fallen. Im Prozess der Nutzung von Brachflächen wird, so führt Miriam Paeslack in ihrem Beitrag aus, die Ästhetik der Brache und der Vernachlässigung übernommen und taucht in der Folge als eine Art „Hyperkultur“ wieder auf. Dieses Phänomen ist, wie Mariana Mogilevich wiederum erläutert, Teil eines globalen politisch-ökonomischen Prozesses, in dem der taktische Urbanismus wie das Selbstbasteln und -bauen und der Straßenhandel nicht länger eine Waffe der Schwachen ist, sondern von allen genutzt wird, insbesondere auch von mächtigen Unternehmen und Regierungsinstitutionen. Es handelt sich also um einen Prozess 8 — Spaces of Uncertainty

Kenny Cupers

der kontrollierten kommerziellen Ausbeutung der marginalen Räume der Stadt. Dieses Buch zeigt die widersprüchlichen Auswirkungen eines globalisierten Hipster-Urbanismus, in dem Maker-Pop-upStores Hand in Hand gehen mit Top-down-Strategien wie Grundstücksspekulation oder großflächiger Erschließung. Doch, wie Margaret Crawford in ihrem Beitrag ausführt und wie der Vergleich der Fotografien von damals und heute beweist, findet die Besiedlung der ungenutzten Räume nicht flächendeckend statt. Auch wenn politisch-ökonomische Prozesse sich weltweit in einer bemerkenswert ähnlichen urbanen Ästhetik manifestieren, finden sie nicht unabhängig von den historischen und zeitgenössischen Besonderheiten der Städte statt. Der Erfolg der Stadtentwicklung hängt zunehmend von ihrer Fähigkeit ab, diese Besonderheiten der Städte zu verwerten und sie als steuerbares Image zu reproduzieren. Doch eine Stadt ist immer tiefgründiger als jedes Bild. In seinem Essay zeigt Philipp Misselwitz am Beispiel des ehemaligen Flughafens Tempelhof, dass in Berlin nicht immer die Regierung und die Stadtentwickler gewinnen. Die ablehnende Haltung der Berliner gegenüber den Plänen, Wohnungen auf dem riesigen Gelände des alten Flugfelds zu Berlin Revisited — 9

Einführung

errichten, das mittlerweile als Park genutzt wird, bedeutet aber noch nicht, dass die Bürger gewonnen hätten. Ihre Ablehnung ließe sich einerseits zwar als Erfolg einer demokratischen Bottom-upEntscheidungsfindung feiern, andererseits kann man darin aber auch einen Ausdruck von NIMBYVerhalten sehen, das Problem wird nicht gelöst, sondern nur verschoben: Letztlich profitiert die Stadt als solche nicht von der Entscheidung der Bürger, weil die Gelegenheit verschenkt wurde, signifikant mehr bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Und das ist entscheidend in einer Stadt mit rapide steigenden Mieten und Grundstückspreisen; es zeigt, wie eng die Existenz der marginalen Räume der Stadt mit dem Recht auf eine Wohnung verknüpft ist. In einer Stadt, deren eine Hälfte eine sozialistische Vergangenheit hat und in der daher große Grundstücksflächen Eigentum von Genossenschaften oder in öffentlicher Hand sind, stellen sowohl ungenutzte Flächen als auch Wohnungen ein bedrohtes Gemeingut dar. Die Räume der Ungewissheit finden sich also, wie Jesko Fezer im letzten Beitrag des Buches vermutet, nicht nur draußen, sondern auch, und vielleicht sogar zunehmend, innerhalb der Häuser und Wohnblocks der Stadt. In diesem Kontext mag Berlins Image – zu dem auch 10 — Spaces of Uncertainty

Kenny Cupers

dieses Buch beiträgt – eine widersprüchliche Rolle spielen. Bilder der marginalen Räume der Stadt tragen zweifellos zum rücksichtslosen Kannibalisierungsprozess des zeitgenössischen Urbanismus bei. Das Bild von Berlin als einer Stadt der Imbissbuden und Stadtstrände hat längst seinen Weg in die Maschinerie der Stadtvermarktung gefunden: Berlin als die „arme, aber sexy“ Hauptstadt Europas. Nicht nur die Denkmäler und Sehenswürdigkeiten – von der Mauer und dem Fernsehturm bis zum gegenwärtig im Bau befindlichen Stadtschloss – stehen da wie wiederbelebte Geister einer vergangenen Gesellschaft. Das Gleiche gilt auch für die mit Graffiti bedeckten Hauswände, die mit Unkraut überwucherten unbebauten Grundstücke und die post-industriellen Brachen. Da aber die Geschichte ihre eigenen Ungewissheiten produziert, kann dieses Buch nicht ausschließen, dass sich die Zukunft Berlins ganz anders gestaltet und lässt uns mit einigen offenen Fragen zurück: Bleiben die marginalen Räume der Stadt bedeutend für den öffentlichen Raum, weil hier Platz ist für das Spontane und Unerwartete? Und ist die Stadt noch immer eine Märchenwelt – jenseits des Funktionalen, des Kontrollierten, des Beabsichtigten und des Geplanten? Berlin Revisited — 11

Author

12 — Spaces of Uncertainty

Name of Contribution

I. TEXTE

Berlin Revisited — 13

„Berlin zeigt, dass die Identität einer Stadt nicht in ihrer Architektur liegt, sondern neben ihr.“

Spaces of Uncertainty Kenny Cupers und Markus Miessen Das Gelände für städtischen Raum Über die Identität einer Stadt nachzudenken, bedeutet, über die Ansammlung von Orten und Räumen nachzudenken, die diese Stadt bilden. Das Gegenteil davon wäre, die Identität einer Stadt über große Geschichten, Architekten, historische Personen oder irgendwelche anderen, klar erkennbaren Einflüsse zu definieren. Die Identität einer Stadt besteht in ihrem Kampf, ihre Alltagsaktivitäten zu regeln. Immer dann, wenn das institutionalisierte Ganze vom Alltag außer Kraft gesetzt wird, entstehen augenblickshafte Identitäten. Im Fall von Berlin muss man über den unbewussten Gegensatz von Raum und Ort, von Standort und Projekt nachdenken. Dieser wird von narrativen Praktiken erzeugt, bei denen Architektur eine wichtige Rolle spielt. Architekten lieben es, Prognosen über die künftige Identität eines Ortes oder einer Stadt abzugeben. Nur selten setzen sie sich mit dem gegenwärtigen Zustand auseinander. Beschäftigt man sich mit Identität, so muss man mit Blick auf die Architektur über Systeme der Repräsentation reden. Das architektonische Projekt ist eine Erzählform, die ein Bild produziert, genauer: das Bild eines Ortes. Das Produzieren von Architektur beruht auf der bewussten Konstruktion bestimmter Orte. Die architektonische Vision verwandelt Land in Grundstücke und Orte in Objekte, indem sie das Vorhandene dekonstruiert. Nur diese Transformation beschreibt das Entstehen von städtischem Grund, die Verschiebung von Raum zu Ort. Alternativ lässt sich Raum mit Michel de Certeau auch als Produkt aus Richtung, Geschwindigkeit und der Variabilität der Zeit, und damit als Konstrukt aus sich bewegenden Elementen, verstehen. Wie die gesprochene Sprache hängt Raum vom Kontext ab. Ort bedeutet in diesem Modell die Ordnung der Elemente, die Kraft, die das Koexistenzverhältnis bestimmt. An einem Ort können nie mehrere Elemente koexistieren: Der Ort ist eine strukturierte Ordnung von Elementen, die stets nebeneinander platziert werden. Während das Konzept des Ortes die Beständigkeit von Lage und Identität vorsieht, zeichnet sich Raum durch eine vektorielle Beschreibung dynamischer Kräfte aus. Diese Konfiguration aus antagonistischen Konzepten wirft die Frage auf, wie städtische Identität im Rahmen der Unmittelbarkeit städtischen Bodens Berlin Revisited — 15

Spaces of Uncertainty

entsteht und nicht durch Architektur und ihre offensichtliche Bildsprache generiert wird. Eine architektonische Zeichnung oder ein Projekt ist generell die Zukunftsvorstellung eines Ortes: die Geschichte eines Raumes, der zu einem Ort wird. Im Gegensatz dazu geht es bei der unmittelbaren Identität um die Wahrnehmung der Räume, die die Stadt bilden, und um all die Zukunftsvorstellungen und Erwartungen, die versuchen, die Identität der Stadt zugunsten einer einzigen Geschichte festzuschreiben. Unmittelbare Identität scheint durch die temporäre Nutzung nicht klar definierter Orte zu entstehen, von unbebauten Orten, für die es auch keine Planung gibt. In diesem Sinne ist Berlins Identität nur in geringem Maße durch Architektur geprägt, trotz aller Versuche, ihre Identität mithilfe von Architektur und ideologischer Stadtplanung zu formen. Berlin zeigt, dass die Identität einer Stadt nicht in ihrer Architektur liegt, sondern neben ihr. Jenseits der Architektur vernehmen wir die flüsternden Stimmen vergangener Gesellschaften, von Erinnerungen und Vorhersagen, die sich voneinander unterscheiden, aber nicht bewertet werden. Sie wohnen der Unbestimmtheit jedes künftigen Augenblicks inne, der keine Fragen ausschließt, sondern eine Vielzahl unmittelbarer Antworten zulässt. Der öffentliche Raum und seine Ränder Der öffentliche Raum – mit seinen Kontrollmechanismen – hat ein anderes, das in der Instabilität und Undefiniertheit mancher Räume und Aktivitäten zu finden ist. Beide Sphären beeinflussen die Art und Weise, wie wir leben, wie wir kommunizieren und wie wir denken. Wie mehrdeutig sind unsere Wünsche, Träume und Zukunftsvorstellungen? Gefallen uns heute nur noch die sterilen Orte mit klar definierten Nutzungen? Sorgen die Designerläden, schicken Cafés und Einkaufspassagen wirklich für Befriedigung? Was ist mit den sozialen öffentlichen Räumen, die wir im Hinterkopf haben? Sind unterschiedliche Begegnungen, auch mit Nichtkonsumenten, die Alternative? Was ist mit den Jungen, den Ruhelosen, den Alten, den Armen und all denen, die aus den heutigen öffentlichen Räumen ausgeschlossen und damit aus der Gesellschaft verdrängt werden? Der öffentliche Raum und Urbanität sind immer mit Unordnung, funktionaler Heterogenität und Vielfalt verbunden. Die wichtigste Eigenschaft der Metropole liegt in dieser Vielfalt jenseits physischer Grenzen. Der öffentliche Raum einer Stadt basiert auf einem Modell aus Konfrontation und Instabilität, denn er zeichnet sich aus durch Begegnungen und Auseinandersetzungen 16 — Spaces of Uncertainty

Kenny Cupers & Markus Miessen

zwischen Menschen. Öffentliche Räume sind Orte, wo der Einzelne und die Gemeinschaft sich, offen und ungeschützt, begegnen können – oder sollten das sein. Die funktionalen Einheiten, die hochgradig strukturierten, festgelegten und kontrollierten Räume der zeitgenössischen Stadt gefährden die wesentliche Eigenschaft der Stadt: ihre Offenheit und Unberechenbarkeit. Der Rand ist ein wesentlicher Aspekt des öffentlichen Raums, der all diese wesentlichen Eigenschaften bewahrt, weil er der bevorzugte Raum der Ungewissheit in der zeitgenössischen Stadt ist. Das flüchtige andere Architekten träumen davon, zu bauen. Die zuversichtlichen Linien auf dem Zeichenbrett zeugen von Plänen für eine glänzende Zukunft. Traditionell stehen Architekten seit jeher an vorderster Front im Krieg der modernen Gesellschaft gegen das Bestehende. Sie weisen den Weg zur Stadt von morgen, die sie entwerfen. Die treibende Kraft dabei ist der aufrichtige Glaube an Fortschritt. Die Wunschvorstellungen der Architekten zeugen aber nicht nur von einer Sensibilität gegenüber gesellschaftlichen Bedürfnissen, sondern auch von einer seltsamen, verborgenen Lust: Das Verlangen, zu bauen, wird getragen von einem Verlangen nach Macht. In dem Versuch, ihre persönlichen Träume als zukunftsträchtige Projekte zu verkaufen, schwelgen die Architekten in der Macht, die ihnen von der Gesellschaft übertragen wird. Um ihre gesellschaftliche Stellung zu wahren, muss diese Lust an der Macht versteckt werden. Das geschieht mithilfe von Ethik und Moral: Die Architekten verstehen ihre Macht als ein positives Werkzeug, mit dem sie die Welt zu einer besseren machen können. Ob bevormundend, ironisch, dogmatisch oder zynisch – die unterschiedlichen Formen der Vermittlung dieser moralischen Botschaft dienen alle dazu, den Architekten und sein Tun zu legitimieren. Der Architekt fasst aber diese Wünsche falsch auf. Im Gegensatz zur Erwartung der Architekten – der Illusion, dass ihr aus Stein gebautes Kind die bewohnte Umwelt verbessern wird – bietet die Realität keine Garantie für eine bessere Zukunft. Das hat teilweise mit dem Spezifischen der architektonischen Produktion zu tun. Weil die Architektur daran gebunden ist, ihre Energie auf einen bestimmten Standort zu konzentrieren, bleiben immer Dinge unberücksichtigt. Diese Überbleibsel bilden einen Rand, eine marginale Lage, die letztlich vorübergehende Haltung, die für Machtlosigkeit steht oder Berlin Revisited — 17

Spaces of Uncertainty

für die Weigerung, in die Welt einzugreifen. Anders als architektonische Konstruktionen und Programme tut dieser Rand nichts für die nahe oder ferne Zukunft. Er ist einfach nur da. Dieser Rand ist der Ort, wo die Architektur die Grenze des bewussten Eingreifens erreicht. Er ist der Raum, in dem Architekten ihre Macht verlieren, an dem wir mit der Tatsache konfrontiert werden, dass es unmöglich ist, die Umgebung zu gestalten. Während die negativen Aspekte des Rands die Grenzen der Architektur aufzeigen, beweisen seine positiven Eigenschaften, dass der Architekt eigentlich überflüssig ist. Wir scheinen keine Architekten zu brauchen, um unsere Märkte, unsere Treffpunkte oder unsere Feste zu gestalten. Spielplätze sollten auch besser nicht von ihnen entworfen werden. Solche Orte entstehen am besten auf natürliche Weise, aus den Aktivitäten heraus, die dort stattfinden. Mit einer solchen demütigen Haltung nähern wir uns Architektur in diesem Buch. Aus professioneller Sicht ließe sich das als sinnlos einstufen, denn nichts daran deutet zwangsläufig darauf hin, dass Theorie auch in die Tat umgesetzt wird. Jedoch kann uns das Skizzieren solcher Räume dabei helfen, zu verstehen, wie die gebaute Umwelt funktioniert. Der Rand entmystifiziert oft verwendete Begriffe wie Entwicklung, Erschließung oder Prozess. Traditionell geht es bei der Architektur darum, leer stehende Räume, brachliegende Flächen zu erschließen, sie in gut definierte, erschlossene Orte zu verwandeln. Das gilt als der kontinuierliche Prozess der Stadtentwicklung. Niemand wird behaupten, dass dieser Prozess einen Endpunkt hat. Es gibt kein Endprodukt, keine perfekte Stadt. Die Stadt ist ein nie endender Zyklus von Wachstum und Verfall. Das architektonische Projekt ist in seiner Entwurfsphase voll entwickelt; wenn es einmal gebaut ist, kann es nicht einfach verändert oder an einen anderen Standort verschoben werden. Daher besteht die Stadt aus erstarrten Augenblicken beständiger, „fester“ Architektur. Die Trägheit der Architektur scheint die Dynamik der Stadt zum Erliegen zu bringen. Der Rand – als Schauplatz der Nebenwirkungen von Architektur – bietet eine weitere Sichtweise auf das spezifische Wesen architektonischer Produktion. Im Gegensatz zur Architektur erlaubt der Rand ein direkteres Konzept von Prozess, ein kontinuierliches. Die physischen Überbleibsel sind der Nährboden ephemerer Spuren und ermöglichen die Koexistenz von Unter18 — Spaces of Uncertainty

Kenny Cupers & Markus Miessen

schieden – Eigenschaften, die den Orten der architektonischen Entwicklung in ihrer Ausschließlichkeit fehlen. Der Rand wirkt also zeitversetzt als Katalysator von Stadtkultur. Der instrumentelle Charakter von Architektur ermöglicht es uns, den Rand als lokales Gedächtnis des anderen, als Zeugnis des taktischen Raumes zu begreifen. Voller alter Geschichten, aber mit nur wenigen Bildern, ist diese Kontinuität in Raum und Zeit eine gewaltige Ressource, vielleicht die letzte Pufferzone in der zeitgenössischen Stadt. Der Rand erweckt ein architektonisches Verständnis, das weit über die Grenzen der Architektur hinausgeht. Die Frage bleibt jedoch, wie mit dem allzeit gegenwärtigen Verlangen nach Umsetzung, nach Verwirklichung umzugehen ist. Die viel praktizierte Strategie der Vernichtung tendiert dazu, das Verlangen, die Zwischenräume zu füllen, sie in ihren Möglichkeiten zu beschränken und Ungewissheit durch Festlegung zu ersetzen, zu fördern und zu befriedigen. Wenn wir eine Schlussbilanz ziehen sollten, so ist das Ziel, das uns in unseren Bemühungen geleitet hat, eine höhere Sensibilität (seitens der Fachleute, die sich mit unserer städtischen Umgebung auseinandersetzen) in Bezug auf die Möglichkeiten, die der Rand und sein Gebrauch bieten. Und obwohl der Schritt von dieser „randbezogenen“ Stadtforschung hin zu einer konsistenten Entwurfspraxis alles andere als selbstverständlich ist, können die zugrunde liegenden Motive dazu anregen, über eine andere städtebauliche Praxis nachzudenken: eine Praxis, die ein realistisches Verständnis des Bestehenden entwickelt, zugunsten einer offeneren und stärkeren Zukunft. Die Existenz dieser Räume der Ungewissheit ist eine Erleichterung, aber auch ein Versprechen. Zwar zeugen sie von dem ewigen menschlichen Wunsch, auf unmenschlichem Terrain zu siedeln, sind aber genauso wenig definiert wie wir selbst. In unserem Versuch, das Chaos zu strukturieren, das der Raum anfänglich ist, werden die Ränder zum letzten Zeugnis dessen, was wir sind. Sie sind die Heimat des anderen, und sie bestimmen die Gegensätze, aus denen sich unsere Scheinwelten zusammensetzen.

Übersetzung eines Auszugs aus der Veröffentlichung Spaces of Uncertainty, hrsg. v. Kenny Cupers und Markus Miessen (Wuppertal: Müller + Busmann, 2002).

Berlin Revisited — 19

„Angesichts des stetigen städtischen Wandels liegt es in der menschlichen Natur, ihn deuten zu wollen. Gleichgültig, wie unvollständig oder widersprüchlich unsere Informationen sind, ist es uns nahezu unmöglich, Veränderung nicht als etwas Gerichtetes zu lesen, etwas, das für Fortschritt oder Verfall und – psychologisch am wichtigsten – für Gut oder Böse steht.“

Veränderung verstehen  Margaret Crawford  Der erneute Besuch der Räume der Ungewissheit macht einen grundlegenden Aspekt von Stadtentwicklung deutlich: die Veränderung. Städte sind niemals statisch, sondern verändern sich ständig. Einige wachsen, andere schrumpfen. Städte wachsen in die Höhe oder breiten sich immer weiter aus oder sie verfallen und verlieren ihre Bewohner. Manchmal finden beide Prozesse gleichzeitig statt, wenn Zentren sich verlagern und Stadtviertel ihre Funktionen verlieren. Neue Bewohner kommen, ziehen um und verlassen die Stadt. Es gibt einen ganzen Wirtschaftszweig, der sich mit der Finanzierung, Entwicklung, Planung, Regulierung und Gestaltung dieser Prozesse beschäftigt, aber selten können sie vollständig kontrolliert und gesteuert werden. Angesichts des stetigen städtischen Wandels liegt es in der menschlichen Natur, ihn deuten zu wollen. Gleichgültig, wie unvollständig oder widersprüchlich unsere Informationen sind, ist es uns nahezu unmöglich, Veränderung nicht als etwas Gerichtetes zu lesen, etwas, das für Fortschritt oder Verfall und – psychologisch am wichtigsten – für Gut oder Böse steht. Wie Marshall Berman bekanntlich aufzeigte, stellt der städtische Wandel für unser Bewusstsein eine mächtige Herausforderung dar – weg von den Widersprüchen, die ihn begleiten, hin zu einer rationalen Erklärung. Für jemanden, der – wie ich – nicht mit Berlin vertraut ist, werfen diese Bilder mehr Fragen auf als sie beantworten. Aber auch ohne Informationen zum Kontext oder Hintergrundinformationen ist man versucht, über die Lesarten und Deutungsansätze zu spekulieren, die sich in diesen Bildpaaren verbergen. Ein naheliegender Deutungsansatz hängt mit politischer Ökonomie zusammen und sieht die Veränderung Berlins als eine Etappe der Globalisierung. Sie folgt dem Muster eines ungezügelten Neoliberalismus, einer vom Immobiliensektor und ausländischen Investitionen getriebenen und auf neue Bilder der Stadt, die mit globalen Modellen städtebaulicher Entwicklung zusammenhängen, gestützten Entwicklung. Neue Einkaufszentren, gut geschnittene moderne Wohnungen und Straßencafés füllen leere Grundstücke und ersetzen vernachlässigte Infrastruktur. Es gibt mehr Autos, mehr Zäune und weniger Graffiti – alles mögliche Hinweise darauf, dass sich die Stadt den Zwängen des Kapitals entsprechend neu strukturiert. Lokale Bedürfnisse und Prioritäten, insbesondere die der weniger Wohlhabenden, werden im Wettbewerb um Investitionen und mit dem Anlocken wohlhabenderer Berlin Revisited — 21

Veränderung verstehen

Einwohner übergangen. Viele Beobachter würden diese Veränderungen als Verlust deuten, in dieser Lesart kämen die Bilder einer Dokumentation des Verschwindens einer ärmeren, leereren, aber auch charakteristischeren Stadt gleich. Doch bei genauerem Hinsehen ist die Geschichte komplizierter. Überraschend viele der leeren Räume, die Gegenstand des ersten Buchs waren, gibt es immer noch. Grün und von Unkraut überwuchert wie sie heute sind, legen diese Räume nahe, dass die Natur in der Stadt über eine eigene Zeitrechnung verfügt. Teilweise zeigt das Fortbestehen dieser Räume die unberechenbare Geschwindigkeit städtischen Wandels auf, die charakterisiert ist durch Lücken und Verzögerungen. Es legt aber auch nahe, dass sogar neoliberale Entwicklungsprozesse lückenhaft und unvollständig sind und nicht alles erfassen, sondern den Schichten der Stadt nur eine weitere hinzufügen. Bei anderen Veränderungen scheint es sich um echte lebensweltliche Verbesserungen zu handeln, so im Falle des einfachen Parks, der die schlammige Brache mit dem Autowrack als Kinderspielplatz ersetzt hat. Eine weitere Überraschung sind die vielen Menschen, die auf den neuen Bildern zu sehen sind. Ist das Zufall oder sind sie Ausdruck eines Bevölkerungszuwachses, sind sie die neuen Bewohner, die in diesen im Bau befindlichen Gebäuden einst leben und arbeiten werden? Wenn diese Bewohner auch weniger Möglichkeiten haben werden, sich ihre eigenen Räume zu schaffen, so haben sie offenbar viel mehr öffentliche Räume, die für sie geschaffen werden. Sie können ihre Zeit angenehm in den eigens dafür geschaffenen, gewissermaßen öffentlichen Räumen der Einkaufszentren, Straßencafés und Biergärten zubringen. Die Anwesenheit der Menschen legt noch eine weitere Lesart nahe – die von Fortschritt und Verbesserung, von Aktion und Bewegung, im Gegensatz zur Stille, die die Räume auf den früheren Bildern noch ausstrahlten. Verfechter des „Placemaking“-Diskurses wie Jan Gehl, die den Erfolg öffentlicher Räume danach bewerten, wie viele Menschen sie anlocken, würden diese Veränderungen als positiv ansehen. Doch sind diese chaotischen funktionalen Flächen noch sehr weit von Gehls Vorstellung einer idealen Fußgängerpiazza entfernt. Eine Grenze derartiger öffentlicher Räume ist ihre Gewissheit. Liegestühle, die ordentlich aufgereiht und zur Sonne hin ausgerichtet dastehen, sind lediglich eine Option unter den unzähligen Möglichkeiten, die die leeren 22 — Spaces of Uncertainty

Margaret Crawford

Räume nahelegen. Aber selbst solche begrenzten Nutzungen sind immer nur temporär. Da offenbar keiner der Stühle besetzt ist, werden sie vielleicht bald verschwinden und durch andere, ansprechendere Alternativen ersetzt. Das Einkaufszentrum mag beständiger und langlebiger erscheinen, aber wie die Amerikaner erkannt haben verfügen selbst monumentale Einkaufszentren über eine begrenzte Lebensdauer. Warum haben wir das Bedürfnis, Veränderungen der Stadt, die alles andere als klar sind, genau zu deuten? Vielleicht deshalb, weil sie der Vergangenheit Sinn geben und in eine gewisse Zukunft weisen. Veränderungen als gerichtet zu bezeichnen, unterstellt ihnen eine Ordnung, die vermutlich nicht existiert. Es ist schwierig, Mehrdeutigkeit und Ungewissheit zu akzeptieren. Als Historiker wünschen wir, dass die Zeit Bedeutung hat. Aber einfach die Gegenwart in die Zukunft zu projizieren, ist ein Fehler. Wie alle wichtigen Städte gab es auch in Berlin zahlreiche Zukunftsvorstellungen und -pläne, die niemals eingetreten sind oder in die Tat umgesetzt wurden. Als Individuen reagieren wir auf städtischen Wandel mit gemischten Gefühlen, wir bedauern den Verlust vertrauter Plätze und Aktivitäten, begrüßen aber jene Veränderungen, die unseren individuellen Vorlieben entsprechen. Nur wer besonders stark ideologisch beeinflusst ist, schafft es, seine eigene ambivalente Haltung zu ignorieren. Jedes der beiden Berlins, die hier im Bild erscheinen, spricht auf unterschiedliche Weise an. Der Biergarten am Fluss scheint ein angenehmerer Ort, um ein paar Stunden dort zu verbringen, als sein sandiger Vorgänger. Im Winter bietet das Einkaufszentrum Schutz vor der Kälte, die die Brache unwirtlich macht. Aber es fällt schwer, das Verschwinden der unbestimmten Räume nicht zu beklagen. Sie spielten eine wichtige Rolle in der Stadt, weil sie offen waren, sowohl räumlich als auch gesellschaftlich. Egal, ob vor ihrer Verwandlung oder danach: Sie entwarfen eine mehrdeutige Zeitlichkeit, ein Nicht-Mehr und ein Noch-Nicht. Ihre Ungewissheit untergrub die Zuversichtlichkeit neuer Entwicklungen. Verlassene grüne Flächen neben schicken Bürogebäuden verfremdeten die Stadt, ihre ungepflegte Leere stellte die Beständigkeit von Glas und Stahl infrage und erinnerte uns an frühere Bilder Berlins. Und am wichtigsten: Das Pferd, das auf einem Bild zwischen den Wolkenkratzern steht, legt nahe, dass ein gewisser Zauber in der Stadt nach wie vor möglich ist.

Berlin Revisited — 23

„Berlin, mit seiner polyzentrischen Ausrichtung der verschiedenen durchmischten Kieze, verwandelt sich gesellschaftlich immer mehr in eine pyramidal strukturierte Stadt mit einer goldenen Mitte für wenige, in der die ursprüngliche Off-Szene nur noch als Werbeaspekt missbraucht wird.“

Eldorado Berlin Florian Hertweck Mitte der Neunzigerjahre besuchte ich erstmals jene Stadt, die so vollkommen anders war als Paris, wo es mich hingezogen hatte. Abgesehen von den repräsentativeren Bereichen, die auf andere Weise auch skurril waren, sahen Berlins zentrale Bezirke damals genauso aus wie auf den Fotos in diesem Buch: schier endlose Flächen, auf denen sich die wilde Natur ausbreitete oder die mit Betonplatten versiegelt waren, zwischen denen Unkraut wucherte, hier und da Lagerhallen, Imbisse und Kioske, während sich im Hintergrund die Brandwände der zerstörten Blockstrukturen oder die seriell gefertigten Wohnkomplexe auftürmten, deren gute Zeiten längst vorüber waren. Alles wirkte im Gegensatz zu Paris, der wohl geplantesten aller geplanten Großstädte, wie eine planlose Vorstadt, ohne den geringsten Ansatz von geschlossenen Stadträumen und fern von städtebaulichen Kompositionsschemata. Ein fließender Stadtraum, der frei zugänglich zu sein schien. Im Gegensatz zum Gang durch die generische Vorstadt waren der Spaziergang oder das Fahrradfahren durch diese unfertigen Räume unglaublich aufregend, was vor allem an deren Aura lag: Die Brandwände und überall sichtbaren Einschusslöcher der alten, halb verfallenen Fassaden, die Fußabdrücke der historischen Platzformen oder die obsoleten Infrastrukturen machten überall spürbar, was für ein Kristallisationspunkt diese Stadt einmal gewesen war. Eine Stadt, in der sich, wie es Paul Virilio formulierte, „ein unbarmherziges Jahrhundert spiegelte“1. Anders als in der „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ war es hier nicht das Gebaute, waren es nicht heroische Monumente oder historische Stadtstrukturen, die Geschichte erfahrbar machten, sondern das, was nicht mehr da war. Berlin war die Stadt, der „etwas fehlte“, so Cees Nooteboom in seinen Berliner Notizen2. Eine Stadt des „Weggebombten“ und des „geheimnisvoll Verbotenen“, in der die „Zusammenhänge der Geschichte selbst aus den Brüchen herausgelesen“ werden mussten, wie Wim Wenders es formulierte, der auch wieder in die Stadt zurückgezogen war, weil sie durch ihr vernarbtes Stadtbild ihre Geschichtlichkeit eindrucksvoller zu erzählen vermochte, „als jedes Geschichtsbuch oder [historische] Dokument“3. Anders als Paris war Berlin damals auch nicht in klassischen ästhetischen Kategorien erfahrbar und behandelbar, sondern evozierte andere Vorstellungen von Stadt und andere Arten der Nutzung. Die Räume dieser Stadt ohne Form4, wie Philipp Oswalt sein Berlin-Buch treffend nannte, waren nicht Berlin Revisited — 25

Eldorado Berlin

unsicher in dem Sinne, dass man sich dort bedroht fühlte, sondern in Bezug auf die Eigentumsverhältnisse. Viele von der DDR enteignete Grundstücke wurden ihren rechtmäßigen Besitzern zurückgegeben, die sie oft weiterverkauften, sodass sie sich in einem Machbarkeits- oder Planungsprozess befanden; gleichzeitig hielt die Stadt (noch) viel mehr Liegenschaften, als sie zu erschließen vermochte. Dadurch waren diese Flächen für Dritte frei nutzbar. Bei schönem Wetter wurden ein paar Schubkarren Sand irgendwo hingebracht und Liegestühle aufgestellt. Auf Brachflächen wurden Partys veranstaltet, die dann nach einiger Zeit weiterwanderten an einen anderen ungenutzten Ort. Leute meines Alters zogen in verfallene Wohnungen ein, die leer standen und von denen keiner wusste, wem sie gehörten. Alles war möglich, und alles konnte bald vorüber sein. Wolkenkuckucksheim Mitte der Neunzigerjahre war auch jene Phase in der Entwicklung von Berlin, in der die Kontroverse um den Wiederaufbau langsam abklang. Die prominentesten Grundstücke waren veräußert, die wichtigsten Wettbewerbe entschieden, und Hans Stimmann hatte sich als Senatsbaudirektor gegen alle Widerstände mit seiner eigenwilligen Auslegung der Kritischen Rekonstruktion durchgesetzt, die keine mehr oder weniger kritische Rekonstruktion des historischen Stadtgrundrisses mit sozialem Wohnungsbau mehr bewirken sollte, wie es die IBA 1984–87 noch vorsah, sondern die neuen, meist tertiären Baumassen in historische (oder wie am Potsdamer Platz historisierende) Straßenkanten und Platzformen der Vorkriegszeit zu gießen beabsichtigte, um die Innenstadt – ein Begriff, der vorher in der Geschichte Berlins keine Rolle spielte – aus ihrem vermeintlich anormalen, entleerten und gedoppelten Dasein zu befreien. Berlin, so die Absicht der selbst ernannten „Rationalisten“ um Hans Stimmann, sollte architektonisch und städtebaulich „normalisiert“, das heißt in eine in diesem Verständnis „normale“ europäische Großstadt verwandelt werden. Die Euphorie der Wiedervereinigung war zwar zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz verflogen, aber nicht mehr so intensiv wie in den Jahren direkt nach dem Mauerfall – als die Stadt einem Eldorado für Investoren glich, die, durch Steuererleichterungen angeheizt, dem Glauben verfallen waren, die neue Hauptstadt würde bald in einer Liga mit Paris und London spielen, als die Betongoldgräber, unter denen auch Wirtschaftsunternehmen wie Daimler26 — Spaces of Uncertainty

Florian Hertweck

Benz waren, deren Kerngeschäft nichts mit Immobilienökonomie zu tun hatte, von Prognosen elektrisiert waren, Berlins Bevölkerung wachse bis zur Jahrtausendwende auf fünf Millionen Einwohner an und Berlin benötige bis 2010 über 800 000 Wohnungen sowie 22,5 Millionen Quadratmeter Nutzfläche für Gewerbe und Industrie. Es galt, wie Hans Stimmann 1991 in der Bauwelt schrieb, „Berlin als modernen Wirtschaftsstandort, gleichzeitig als deutsche Hauptstadt und zusätzlich als Austragungsort für die Olympischen Spiele im Jahr 2000 zu entwickeln“5. „In diesen Jahren nach 1989 lebte man [in Berlin] im Wolkenkuckucksheim“, konstatierte Thilo Sarrazin zwanzig Jahre nach dem Mauerfall in einem bemerkenswerten Interview. „Die ‚Drehscheibe zwischen Ost und West‘ war die große Formel, aber substantiell geschah gar nichts. Die Industrie in Ostberlin ging zugrunde, sie ging in Westberlin zugrunde [...]. Berlin wuchs [ökonomisch] bis 1997 leicht stärker als der Bundesdurchschnitt. Heute wissen wir, dass das durch den Bauboom verursacht war. Irgendwann brach das Berliner Baulöwenkartell zusammen, die Preise normalisierten sich [...]. Heute ist die Berliner Bauwirtschaft zu Recht weitgehend kaputt und muss sich erst wiederaufbauen. [...] Das Sonderphänomen, dass extrem viel öffentliches Geld in kürzester Zeit auf wenigen Quadratkilometern verbaut wurde, hatte man für Normalität gehalten. [...] Irrtümer ohne Ende! Denn dann ging Berlin auf Schrumpfkur.“6 Nachdem Mitte der Neunzigerjahre die Bevölkerungskurve wieder nach unten zeigte und sich die Ansiedelung der führenden Wirtschaftsunternehmen entgegen den Erwartungen der Politik nicht abzeichnen wollte, nachdem 1993 selbst die Bewerbung für die sicher geglaubte Austragung der Olympischen Sommerspiele 2000 kläglich scheiterte, glaubten nur noch wenige dem damaligen regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen, als er seiner Stadt noch 1996 eine führende wirtschaftliche Rolle in Europa versprach.7 Ganz allmählich wurden Zweifel an Berlins Entwicklung zur Metropole laut, an dem überzogenen Projekt Berlin 2000; offensichtlich konnte es nicht mal mehr den Effekt einer self-fulfilling prophecy generieren. Als Zeugnis der Megalomanie dieser Jahre lässt sich noch heute der Hauptbahnhof betrachten, der für eine viel größere Bevölkerungszahl geplant wurde und jahrelang gestrandet wie Holleins Flugzeugträger einsam in der Berliner Steppe nördlich des Kanzleramts lag. Berlin Revisited — 27

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Anti-Ökonomie Das Positive an dieser Katerstimmung der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre war, dass in dieser Situation die oben beschriebene Nutzungsvielfalt aufrechterhalten werden konnte. Das provisorische Bespielen der verfügbaren Flächen hatte so floriert, gerade weil sich daneben die Kräne der Großbaustellen drehten und jeder Protagonist davon ausging, dass sich die unfertige, offene Stadt sehr schnell in eine fertige, geschlossene Stadt verwandeln würde. Da sich diese Verwandlung nun auf absehbare Zeit nicht mehr einzustellen vermochte, konnte die Gegenbewegung das Ganze gelassener angehen. So waren die späten Neunziger-, frühen Nullerjahre laut Diedrich Diederichsen noch dezidiert „anti-ökonomisch“: „Da wollte niemand verwertet werden, und da wurde auch nicht viel verwertet. Es ging darum, möglichst unproduktiv zu sein, möglichst nichts zu schaffen, wenn man diesen Zustand erhalten wollte.“8 In den zwischengenutzten Räumen schien es noch wie in der ersten Nacht des legendären „Cookies“ zuzugehen: „Wir haben den ganzen Tag panisch versucht, alles zusammenzukriegen, was man für eine Bar braucht“, so der Initiator Heinz Gindullis. „Als wir aufgemacht haben und die ersten Gäste kamen, standen noch nicht einmal Drinks auf der Bar.“9 Die mit öffentlichen Geldern geförderte Verwertung des Bodens traf im Berlin der Neunzigerjahre somit auf eine Weigerung, etwas zu verwerten und selbst verwertet zu werden. Diese antagonistischen Haltungen gegenüber der Stadt, die sich beide auf Modelle der Berliner Geschichte berufen können, machten den Reiz von Berlin aus, das national und international immer mehr zum Mythos stilisiert wurde. Paradigmenwechsel Zu Beginn der Nullerjahre schienen die Verwertungsanhänger endgültig am Boden. Der sogenannte Berliner Bankenskandal brachte 2001 nicht nur die Machenschaften des berüchtigten Westberliner Filzes aus Wirtschaft und Politik an die Oberfläche; das undurchschaubare Konstrukt veruntreute öffentliche Gelder in bis dahin schwer vorstellbaren Größenordnungen, was den städtischen Haushalt nachhaltig schädigen sollte. Es ist eine Ironie der ganz speziellen Berliner Geschichte, dass sich, nachdem die Affäre um die Landesbank den regierenden Bürgermeister Diepgen und Finanzsenator Klaus Rüdiger Landowsky den Job gekostet hatte, ein rot-roter Senat aufmachte, die Stadtkasse einer Stadt zu sanieren, deren Arbeitslosen28 — Spaces of Uncertainty

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quote bis zum Jahr 2006 auf satte 18 Prozent ansteigen sollte. „Sparen bis es quietscht“, lautete das Motto des neuen Bürgermeisters Klaus Wowereit, dessen Finanzsenator Thilo Sarrazin sich genötigt sah, einen Speiseplan mit Bratwurst und Sauerkraut für Sozialhilfeempfänger zu entwickeln, mit dem er nachweisen wollte, dass ein Ein-Personen-Haushalt mit knapp vier Euro pro Tag auskommen konnte, um bloß nicht die staatliche Unterstützung erhöhen zu müssen. Sieben Jahre vor der europaweiten „Finanz- und Eurokrise“ galt somit in Berlin das von einer linken Regierung ausgegebene Spardiktat in der deutschen Hauptstadt bis in untere soziale Schichten. Auch auf dem Feld der Stadtentwicklungspolitik machte sich eine apokalyptische Stimmung breit, die zu neuen Denkansätzen führte. Drei Jahre nach dem Bankenskandal wurde der Öffentlichkeit ein auch formal betont nüchtern gehaltenes Stadtentwicklungskonzept für das Jahr 2020 präsentiert, das eine vollkommene Abkehr von der bisherigen Strategie postulierte: „Es ist Realismus gefragt“, so das zentrale Statement des Konzepts. „Strategisches Planen und Handeln für eine nachhaltige Stadtentwicklung wird angesichts leerer Kassen nicht mehr durch die Steuerung und Verteilung des Wachstums bestimmt. Es geht vielmehr darum, die bestehenden Berliner Chancen zu nutzen.“ Berlin, konstatieren die Autoren der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, habe „das Image einer Stadt im Umbruch“. Die Stadt sei unfertig und damit offen für Neues, so die neue Erkenntnis von offizieller Seite, die daraus nun folgende Schlüsse zieht: „[Dieses Image] ist wichtig, um junge und kreative Menschen nach Berlin zu holen. Die Breite des Angebots zwischen traditioneller Kultur und Off-Szene trägt erheblich zur Attraktivität der Stadt bei. Mit dem Kultursektor ist ein Produktionsnetzwerk entstanden, das sich auf Bereiche wie den Tourismus oder die Einzelhandelsentwicklung mittelbar auswirkt. Die wirtschaftlichen Effekte der Kultur zu erschließen und mit einem konzentrierten öffentlichen Mitteleinsatz zu optimieren, wird für die langfristige Stadtentwicklung von erheblicher Bedeutung sein.“10 Offensichtlich hatte die Stadtpolitik in der Not das sozioökonomische Potenzial jener Szene erkannt, die sich ursprünglich nicht verwerten lassen wollte. Plötzlich wurden der heterogene Zustand von Berlin und die gegenkulturelle Szene nicht mehr als Feindbild eines steinernen Städtebaus begriffen, sondern als Magnet, um – am liebsten junge, kreative – Menschen langfristig als neue Bewohner oder als Touristen in die Stadt zu ziehen. Das Berlin Revisited — 29

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vormals bestenfalls belächelte Phänomen einer vielseitigen Zwischennutzung wurde nun als Werbung für die Stadt genutzt. So titelte eine der Kampagnen: „Berlin hat viel durchgemacht. Jedes Wochenende“, während eine andere postulierte: „Woanders explodieren die Preise. In Berlin explodiert die Stimmung.“ Wenn die offizielle Diktion des Berlins der Neunzigerjahre die einer „normalisierten Großstadt“ war, wurde jetzt die sich gegen diese Diktion richtende Haltung wesentlicher Bestandteil des politischen Diskurses. Berlin zu sein, so das Credo der 36,5 Millionen teuren Kampagne Be Berlin, bedeutete nunmehr: „Sei jung, sei forsch, sei berlin – be open, be free, be berlin.“ Keiner hatte diesen Paradigmenwechsel besser ausgedrückt als der damals regierende Bürgermeister Klaus Wowereit mit seinem legendären Ausspruch: „Berlin ist arm, aber sexy.“ Verwertung Tatsächlich hatte der Mythos Berlin seit den Krisenjahren wie ein Eldorado immer mehr Menschen angezogen, die kein Betongold suchten, sondern so kompromisslos wie möglich ihre Selbstverwirklichung – Hedonisten aus anderen europäischen Großstädten und vermehrt aus dem südwestdeutschen Raum, die neuen „Prenzelschwaben“ oder „Mitte-Franken“, die etwas Geld geerbt oder anderweitig zur Verfügung hatten und sich von den überaus niedrigen Lebenshaltungskosten der Stadt anlocken und mit einer ganz besonderen Easyness anstecken ließen. „Früher, als ich Berlin als Touristin besuchte, beobachtete ich immer neidisch die vielen jungen Leute, die mittags mit ihren Laptops im Café saßen und viel Spaß zu haben schienen“, berichtete uns eine Pariserin, als wir das Buch Dialogic City vorbereiteten. „Das lockere Berliner Leben hat mir damals so gefallen, dass ich meinen stressigen Job in Paris aufgab, nach Berlin zog und auch Teil dieser lässigen Leute wurde, die ihren Tag im Café verbrachten. Nach einigen Monaten habe ich mich allerdings träge gefühlt, wurde depressiv und musste wieder nach Paris zurück in meinen alten Job.“ Zur gleichen Zeit professionalisierte sich die Szene, fing an, aus ihren Pioniernutzungen Kapital zu schlagen. Aus dem Sand mit ein paar improvisierten Liegestühlen wurden organisierte Strandbars. Zu den ersten Aktivitäten des „Cookies“ kamen professionelle Restaurants und Clubs hinzu, das stete Wandern der Feier-Locations nahm ein Ende, in gleichem Maße wie sich die Finanzen ihrer Initiatoren stabilisierten. Das Provisorische wurde 30 — Spaces of Uncertainty

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nun von innen wie von außen immer mehr in Szene gesetzt – Improvisieren war „in“. Stadtentwicklung wurde nun – zwangsweise – nicht mehr als klassisches Planen verstanden, sondern als Möglichmachen oder Formalisieren jener Nutzungen, die sich ungesteuert informell ergeben hatten. Für viele Architekten, die beruflich jahrelang darbten, hatte sich damit ein neues Feld erschlossen. Als wir uns 2009 am offenen Ideenwettbewerb für die städtebauliche Erschließung des nördlichen Bereichs des gerade geschlossenen Flughafens Tempelhof beteiligten, fanden wir, die wir in Frankreich immer noch ausschließlich mit dem Dogma der Masterplanung konfrontiert waren, die Aufgabenstellung eines explizit prozessualen Städtebaus hoch spannend. Wie vermochten Architekten mit einer Situation umzugehen, in der das zu entwickelnde, sich in öffentlicher Hand befindende gigantische Areal veräußert werden sollte, weil die Stadt sich nicht mehr in der Lage sah, die Pflege und Beleuchtung der Freiflächen zu gewährleisten, es gleichzeitig jedoch keine potenziellen Käufer oder Entwickler gab, weil der Bedarf damals einfach nicht gegeben war? Jedenfalls nicht mit klassischer städtebaulicher Planung. Architekten mussten nun versuchen, Prozesse und Aktivitäten zu generieren, und dabei die Gratwanderung meistern, diese Prozesse und Aktivitäten nicht durch Formalisierungen einzufrieren. Auch diese relativ neue Beschäftigung der Architekten entwickelte sich allmählich zu einer neuen Ökonomie. Homogenisierung Im Rückblick muss man anerkennen, dass Wowereit Erfolg mit seiner Strategie hatte. Die Inszenierung jener Aktivitäten und Räume, die in den Neunzigerjahren noch offen, frei, dezidiert anti-ökonomisch, manchmal gar subversiv waren, führte zu einem neuen demografischen Wachstum, einem boomenden Massentourismus, dem Entstehen von neuen Wirtschaftszweigen, und schließlich zu einer neuen Welle der Verwertung städtischen Bodens. Mittlerweile ist die dritte und vierte Generation von neuen Einwohnern in der Stadt angekommen, die oftmals erhebliche finanzielle Mittel mitbringt und in die jetzt sogenannte „Innenstadt“ drängt, während der Massentourismus zum großen Teil ein Low-Cost-Tourismus eines EasyjetSets ist, für den vielerorts Jugendherbergen aus dem Märkischen Boden sprießen. Gleichzeitig siedeln sich immer mehr neue Unternehmen in Berlin an, das sich aufmacht, zum Hotspot der Digitalisierung zu werden. Inzwischen Berlin Revisited — 31

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sei sogar „die Hälfte der Dax-Unternehmen in der Stadt, um zu verstehen, wie Digitalisierung aussieht“11. Es scheint, als habe sich Richard Floridas These der kreativen Klasse, der zufolge sich die Unternehmen dort ansiedeln, wo sie qualifizierte Mitarbeiter finden (und nicht mehr umgekehrt), in Berlin bewahrheitet, wo genau diese Leute leben möchten. Schließlich, und das ist die Konsequenz aus dieser neuen Entwicklung, ist der Berliner Boden einer neuen Verwertungswelle mit einer gewaltigen Schubkraft ausgesetzt, die jedoch nicht mehr öffentlich gefördert oder geordnet ist, sondern dem freien Markt überlassen wurde. „Die Bauwirtschaft geht mit unglaublich massiven Dimensionen rein“, konstatiert Dieter Hoffmann-Axthelm. „Man muss sich das nur am Gebiet um den Hauptbahnhof anschauen oder in vielen anderen Bereichen der Stadt. Es werden riesige Brocken abgeladen. Damit kommen wir zu einer zweiten Verklumpung der Stadt, was in den Neunzigerjahren in der Friedrichstraße exerziert worden ist. Das ist das Schädlichste für die Stadt, weil in diesen riesigen Investitionen nicht mal mehr Menschen mit mittleren Gehältern vorgesehen sind.“ Für den Autor der Dritten Stadt war dies möglich, weil der Senat sich aus der Stadtdebatte vollständig verabschiedet habe12 und zudem den städtischen Boden, der nach der Wende noch zur Hälfte in öffentlichem Besitz war, konzeptlos veräußerte, wie Tim Renner sagte: „Die Filetstücke sind von Sarrazin versilbert worden.“13 Durch die massive Immobilienspekulation sind die Kaufpreise in den letzten fünf Jahren in Berlin um knapp 44 Prozent angestiegen, der Nettokaltmietenindex im gleichen Zeitraum um 10 Prozent. In zentralen Lagen erzielen Immobilienentwickler mittlerweile Preise, die mit anderen europäischen Großstädten wie etwa Paris durchaus vergleichbar sind. Insofern hat sich Hans Stimmanns Versprechen einer normalisierten und homogenisierten Hauptstadt eingelöst, allerdings unter anderen Vorzeichen. Wenn die zentralen Bereiche zwar architektonisch nicht besonders homogen geworden sind, so sind sie dies in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht durchaus. Die einzigartige Durchmischung dieser Bezirke hat einer Populationsstruktur Platz gemacht, die mehr oder weniger den gleichen Lebensstil verkörpert. Berlin, mit seiner polyzentrischen Ausrichtung der verschiedenen durchmischten Kieze, verwandelt sich gesellschaftlich immer mehr in eine pyramidal strukturierte Stadt mit einer goldenen Mitte für wenige, in der die ursprüngliche Off-Szene nur noch als Werbeaspekt missbraucht wird. Niklas 32 — Spaces of Uncertainty

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Maak nennt das die Zombiefizierung der Stadt: „Die neuen Edel-Bauprojekte [wie das „Yoo“ oder die „Kronprinzengärten“] verdrängen nicht einfach nach guter alter Gentrifizierung das Einfache und Provisorische durch ein wohlhabenderes bürgerliches Leben. Sie zombiefizieren die Stadt: Sie lassen das, was sie verdrängen – die Ateliers, die kleinen Kunsträume, das Improvisierte, Provisorische – als wertsteigerndes belebendes Bild wiederauferstehen.“ Die neue Stadt, resümiert Maak, baue „als Fiktion nach, was sie soeben verdrängte: Der Künstler soll dem kommerziell durchgestalteten neuen Luxusquartier das Aroma urbaner Widerständigkeit geben, er darf als Darsteller seiner selbst an den Ort seiner Verdrängung zurückkehren, um den Bewohner über die Sterilität hinwegzutäuschen, die mit ihm Einzug hielt“.14 So lässt sich seit dem Fall der Mauer in Berlin ein interessantes Duell beobachten: zwischen der ökonomischen Verwertung der Stadt und der anti-ökonomischen Off-Szene, die zu Beginn des neuen Jahrhunderts auf dem Vormarsch zu sein schien, als Berlin der Ort einer Post-WachstumsGesellschaft schlechthin geworden war – davon zeugen die Fotos in diesem Buch. Aber letztendlich ging auch aus diesem Duell der Kapitalismus als Sieger hervor, der es nicht nur vermag, das Anti-Ökonomische zu verwerten, sondern es gar als Werbefigur zu instrumentalisieren.

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Paul Virilio, L’espace critique, Paris 1984, S. 148. Cees Nooteboom, Berliner Notizen, Frankfurt a. M. 1991, S. 24. Wim Wenders, „The Urban Landscape“, in ders. The act of seeing: Essays, Reden und Gespräche, Frankfurt a. M. 1992, S. 123. Philipp Oswalt, Berlin − Stadt ohne Form. Strategien einer anderen Architektur, München/London/New York 2000. Hans Stimmann, „Berliner Abkommen“, in: Bauwelt, Sonderdruck, 1991, S. 2002. Thilo Sarrazin, „Klasse statt Masse. Von der Hauptstadt der Transferleistungen zur Metropole der Eliten. Thilo Sarrazin im Gespräch“, in: Lettre International, Nr. 86, 2009, S. 197. Eberhard Diepgen, „Vorwort“, in: Berlin en bref, Presse- und Informationsamt des Landes Berlin, Berlin 1996, S. 1. „Du willst doch nicht an einen Ort gehen, der für dich gemacht ist. Diedrich Diederichsen und Tim Renner im Gespräch mit Arno Brandlhuber und Florian Hertweck“, in: dies. (Hg.), Dialogic City. Berlin wird Berlin, Köln 2015, S. 383. Annika Schönstädt, „Das ‚Cookies‘ ist Geschichte“, in: Die Welt vom 21.07.2014.

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Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Stadtentwicklungskonzept 2020. Statusbericht und perspektivische Handlungsansätze, Berlin 2004, S. 3 f. Joachim Fahrun, „Neue Firmen schaffen Tausende Jobs in Berlin. Berlin wird attraktiver: Die Wirtschaftsförderer von Berlin Partner verzeichnen 2015 60 Prozent mehr Ansiedelungen als im Vorjahr“, in Berliner Morgenpost vom 26.12.2015. Dieter Hoffmann-Axthelm, Unveröffentlichte Abschrift eines Vortrags zu einer von Arno Brandlhuber und Florian Hertweck am 14.06.2014 in Krampnitz organisierten Debatte über Berlin. Archiv Florian Hertweck. „Du willst doch nicht an einen Ort gehen, der für dich gemacht ist. Diedrich Diederichsen und Tim Renner im Gespräch mit Arno Brandlhuber und Florian Hertweck“, in: dies./Thomas Mayfried (Hg.), Dialogic City. Berlin wird Berlin, Köln 2015, S. 393 Niklas Maak, „Die Wohnfrage: Aussichten für eine zombiefizierte Stadt“, in: Arno Brandlhuber, Florian Hertweck, Thomas Mayfried (Hg.), Dialogic City. Berlin wird Berlin, Köln 2015, S. 465.

„Der Beschleunigung und dem Absorbiertsein durch Technologie im späten 20. Jahrhundert, die uns ortlos machen, wird durch die Fotografie vorübergehend Einhalt geboten. Berlin nach dem Mauerfall wird einer Ästhetik des Verschwindens und Wiedererscheinens überantwortet, die von der Teilung und Wiedervereinigung der Stadt in Gang gesetzt wird.“

Ästhetik des Wiedererscheinens Miriam Paeslack Realität wird von der Kultur einer Gesellschaft produziert, sie ist keine Gegebenheit. Eine Realität, die von einer Gesellschaft produziert wurde, wird von einer anderen, jüngeren Gesellschaft übernommen und verändert, die eine frische Realität produziert. Das geschieht zunächst durch Nachahmung, dann durch Ersetzung, und die ursprüngliche Realität wird zu der Zeit schon vollständig vergessen sein.1 Zwei Fotos von Stadtlandschaften, die erkennbar von der gleichen Stelle aus aufgenommen wurden, geben uns Rätsel auf. Welches Foto entstand zuerst? Beide zeigen den Berliner Fernsehturm, leicht zu erkennen, der das Bild auf der linken Seite dem Goldenen Schnitt entsprechend teilt. Rechts finden wir auf beiden Bildern den modernen Turm des ehemaligen Hotel Berlin, heute Park Inn Radisson Hotel. Beide Bilder widersetzen sich der zeitlichen Verortung, die jeweils erkennbare Unordnung verweist auf zufällig dokumentierte Stadien von Abriss oder Aufbau. Trotz einer gewissen erkennbaren kompositorischen Sensibilität scheint es sich bei dem Augenzeugen dieser beiden Momente um einen recht unmethodisch agierenden Flaneur zu handeln. Bei diesem und anderen Diptychen in dieser Serie ist die Ausrichtung auf zwei Blickpunkte nur ungefähr. Wir sehen städtische Objekte wie Betonpflaster, eine vernachlässigte Grünfläche, ein Auto, einen Straßenimbiss, einen mittelgroßen Baum in dem einen und einen von Graffiti übersäten Baucontainer, mehrere geparkte Autos, ein von mehreren Personen gesteuertes Bierbike und die hellrosa Fassade des Einkaufszentrums Alexa am Alexanderplatz auf dem anderen Bild (Tafel 4 Seite 106). Das erste Bild ist kleiner als das andere und weiß gerahmt, während das zweite über die ganze Seite reicht. Diese redaktionelle Entscheidung wirft die Frage auf, wie dieses Bildpaar zu lesen ist, ob das größere Bild den Vorrang hat und das kleinere gewissermaßen als eine Ansichtskarte zu verstehen ist, die sich auf das größere Pendant bezieht. Diese Fotos sind Teil einer Serie solcher Bildpaare, die 2001 und 2016 – mit einem Abstand von fünfzehn Jahren – aufgenommen wurden, um temporäre Orte in Berlin nach der Wiedervereinigung zu dokumentieren. Räume von Berlin Revisited — 37

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unbestimmter Nutzung und ungewisser Bestimmung entstanden und blieben erhalten, dank einer sich wandelnden Politik und Kultur in der sich wiedervereinigenden Stadt. Diese Bilder konzentrieren sich auf das Verlassene, Leerstehende und Unstete in Berlins städtischem und architektonischem Gefüge, dadurch halten sie Orte im Bild fest, die einerseits nostalgische Gefühle hervorriefen, andererseits nahelegten, diese Räume für Experimente zu nutzen. Wir sehen, wie im Laufe von fünfzehn Jahren die „Voids [Leerstellen] von Berlin“, wie Andreas Huyssen sie in den Neunzigerjahren nannte,2 verändert, gefüllt, planlos ausgebessert oder abermals vernachlässigt wurden. Die ursprünglichen Räume der Ungewissheit, von denen viele in der Nähe der ehemaligen Berliner Mauer liegen, wurden in einer Stadt, in der die Grundstückspreise aufgrund eines starken Zustroms von jungen Kreativen und von Flüchtlingen steigen, teilweise zu lukrativen Investitionsobjekten. Aber in den meisten Fällen ist die Zukunft dieser Räume noch immer ungeklärt, ihre Planung und Nutzung sind weiterhin unbestimmt und nicht entwickelt. Tatsächlich vollzieht sich der Transformationsprozess bemerkenswert langsam und schleichend, im genauen Gegensatz zum neoliberalen Diskurs einer effizienten, linearen und fortschreitenden Entwicklung. Trotz Visionen von einem privatisierten Berliner Grundstücksmarkt nach 1989 erzählen diese Fotos von Zögern und andauernder Ungewissheit, nicht von zielgerichteter Klarheit und Abschluss. Was sind die Bedingungen für eine solche andauernde Ungewissheit? Wie schaffen Fotografien Bedeutung und konstruieren eine Stadt? Wie gehen Zeitlichkeit, Erinnerung und das Konzept des „Urban Void“ den Diskurs dieser Fotografien ein, und wie lassen sie die Stadt wiedererscheinen? Bei der Erörterung seines Konzepts der „Ästhetik des Verschwindens“ erklärt Paul Virilio, dass in der Zeit vor Erfindung der Fotografie „das Bild gewissermaßen durch das Medium der Leinwand erschien. […] Die Dauer hatte eine materielle Basis.“ Das änderte sich, als die Dauer mit der Fotosequenz und schließlich dem Film zu einem kognitiven statt einem materiellen Phänomen wurde. Die Dinge „sind da, sie erscheinen, sie sind in Bewegung, weil sie danach verschwinden“.3 Die hier präsentierten Fotopaare brechen diesen Vorgang auf, der Virilio zufolge typisch ist für die späte Moderne, welche Technologie als unheilstiftend auffasst.4 Der Beschleunigung und dem Absorbiertsein durch Technologie im späten 20. Jahrhundert, die uns ortlos ma38 — Spaces of Uncertainty

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chen, wird durch die Fotografie vorübergehend Einhalt geboten. Berlin nach dem Mauerfall wird einer Ästhetik des Verschwindens und Wiedererscheinens überantwortet, die von der Teilung und der Wiedervereinigung der Stadt in Gang gesetzt wird. Void In einer klassischen, aber selten dagewesenen Gegenüberstellung von Vorher und Nachher zeigt ein Bildpaar (Tafel 15 Seite 128) ein Gelände im Zentrum Berlins mit geschäftiger Bautätigkeit: Auf dem einen Bild wird die Baustelle vorbereitet. Grasbewachsenes Gelände, auf dem noch ein Imbisswagen steht und das mit Büschen überwuchert ist, wird abgezäunt. Ein Gebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert links im Mittelgrund ist das älteste Bauwerk auf dem Bild. Die Wohnhochhäuser der Fischerinsel im Hintergrund lassen eine Verortung des Bauplatzes an der Grenze zwischen Mitte und Kreuzberg zu. Die wahllos abgestellten Autos und verstreuten Betonbarrieren im Vordergrund bilden einen Kontrast zu den Hinweisen auf unmittelbar bevorstehende Aktivität, den zwei leuchtend roten Baukränen im Mittelgrund. An diesem Ort war viel geschehen, als er 2016 abermals fotografiert wurde: Das historische Gebäude wird jetzt von zwei Komplexen mit Mischnutzung gerahmt. Die Kräne scheinen zu einer Baustelle weiter östlich weitergezogen zu sein, und das grasbewachsene Grundstück, das auf dem anderen Bild eine offene Brache war, ist hier mit einem orange-braunen Holzlattenzaun eingezäunt, wahrscheinlich, um erschlossen und in einen neuen Gebäudeblock verwandelt zu werden. Beide Bilder sind menschenleer, auf beiden Bildern zeigt sich ein leicht bewölkter blauer Himmel. Das Bildpaar besitzt eine Dynamik, die zugleich aufregend ist und beunruhigt. Eine Lücke in der Stadt wirkt sukzessiv gefüllt, geleert und neu gefüllt. Diese Bilder evozieren moderne stadtsoziologische Bewertungen der Stadt als einen Ort des räumlichen und mentalen Wachstums und zugleich gewaltiger Herausforderungen. Siegfried Kracauer, ein Schüler des Soziologen Georg Simmel, hat das in einem Artikel in der Frankfurter Zeitung im Jahr 1930 treffend formuliert: Jeder typische Raum wird durch die typischen gesellschaftlichen Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die störende Dazwischenkunft des Bewußtseins in ihm ausdrücken. Alles Berlin Revisited — 39

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vom Bewußtsein Verleugnete, alles, was sonst geflissentlich übersehen wird, ist an seinem Aufbau beteiligt. Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar.5 Die gesellschaftliche Realität, die diese Bilder enthüllen, ist eine Realität des Versprechens und der Ungewissheit. Solche Raumbilder zu schaffen und sie zu entziffern, ist in Berlin nichts Neues. Tatsächlich gehört diese Art der Vorher-Nachher-Dokumentation seit der Renaissance zum darstellerischen Kanon städtischen Wandels. Im späten 19. Jahrhundert löste die beispiellose Umgestaltung Berlins zur Hauptstadt des Deutschen Reichs enthusiastische fotografische Reaktionen in Form von Dokumentationen der Zerstörung und des Wachstums aus, die teilweise als Auftragsarbeiten und teilweise aus eigenem Antrieb der Fotografen entstanden. Georg Bartels Bildpaar vom Abbruch und vom Neubau an der Ecke Rosenstraße in Berlin-Mitte [1+2] (fotografiert im Jahr 1894 beziehungsweise 1896) ist den [1] zeitgenössischen bemerkenswert ähnlich, weil beide von den städtebaulichen Prozessen des Freiräumens und der Verwertung von Raum fasziniert zu sein scheinen. Die deutlichsten Unterschiede liegen in Bartels Wahl mittelgroßer Kollodium-Nassfotografien, die in ihrer Farbigkeit an heutige Sepiafilter erinnern, und in seiner Wahl eines [2] erhöhten Standpunkts, der damals, wenn möglich, gewählt wurde, um die Veränderung eines Raumes in Gänze darzustellen.6 Bartels Arbeitsweise war aufwendig, denn er musste schwere Ausrüstung aufbauen, montieren und bewegen: ein Stativ, die Glasplatten für die Negative und das hölzerne Kameragehäuse. Der Fotograf der zeitgenössischen Aufnahmen brauchte hingegen nur Sekunden, um sein Motiv zu wählen und es im Bild festzuhalten. Berlins Biografie als Hauptstadt des Deutschen Reichs und des wiedervereinigten Deutschlands, beides geprägt von einer atemberaubenden Abfolge von Zerstörung, Wiederaufbau, Teilung und Vereinigung, eignet sich besonders gut für die Narrative von Fortschritt und Niederlage und zum 40 — Spaces of Uncertainty

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Nachdenken über die historische und die sich entwickelnde Stadt. Derartige Merkmale verorten Berlin auch mitten in den vertrauten Debatten über den Platz der Stadt in der Geschichte der Moderne und dem, was darauf folgte. In seinem 1910 erschienenen Buch Berlin, ein Stadtschicksal charakterisierte der Kritiker Karl Scheffler Berlin als dazu „verdammt, immer zu werden und niemals zu sein“. Im gleichen Jahr muss der Kulturkritiker Max Osborn dieses Gefühl des „Niemals sein“ im Sinn gehabt haben, als er sich in der Tageszeitung Der Tag zum widersprüchlichen und ambivalenten Ruf Berlins äußerte: Man erkennt, daß vor unseren Augen aus dem allzu schnell gewachsenen Gemeinwesen, dem das Parvenutum und die Großmannssucht aus allen Poren schwitzten, eine wirkliche Weltstadt, aus dem Wirrwarr ein modernes Leben von Charakter, aus der Ratlosigkeit nach und nach ein Organismus entsteht.7 Die hier genannte Ratlosigkeit scheint aber der in Berlin gängige Modus Operandi geblieben zu sein. Ein anderes, noch deutlicheres Beispiel für die Veränderung eines Ortes und das Füllen einer städtebaulichen Lücke ist das Bildpaar Nr. 18 (Seite 134), wo eine Brache im Zentrum der Stadt, die 2001 von einer Familie als improvisierter Treffpunkt zum Verweilen und Sonnenbaden genutzt wurde, 2016 mit siebengeschossigen Wohnhäusern bebaut ist. Ein hölzerner Bauzaun, gestapelte Paletten und orangefarbene Baucontainer am Horizont des Bildes von 2001 lieferten bereits unmissverständliche Hinweise auf die unmittelbar bevorstehenden Bauarbeiten. Der Kontrast dieser Gegenstände zu den organischen Formen und Farben des umgebenden Gestrüpps und der schnell wachsenden Bäume trägt zur Dynamik der Bildkomposition bei. Die Familie mit vier oder fünf Personen im Mittelgrund, die sich im lichten Gras niedergelassen und einen Kinderwagen in der Nähe abgestellt haben, scheint von den Gerätschaften im Hintergrund unbeeindruckt. Wir schauen auf eine Art Déjeuner sur l’herbe (Frühstück im [3] Grünen) [3], dessen Kulisse im Vergleich zum Pariser Vorläufer aus dem 19. Jahrhundert stark modifiziert und wesentlich nüchterner ist. Das Foto von 2016 könnte jedoch fast ein vom Projektentwickler in Auftrag gegebenes Bild sein, wären da nicht der fehlende Kontext und der zaghafte Berlin Revisited — 41

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Versuch einer Individualisierung der Neubauten durch ihre Bewohner, die sich an den Balkonen der Wohnungen und an der Fensterdekoration zeigt. Zwei noch eindrücklichere Beispiele für die Entwicklung eines verlassenen Ortes bieten die Bildpaare 22 und 23 (Seite 142/144). Beide zeigen Gebäude und ihr städtisches Umfeld im ersten Bild, und die abstrakten Fassaden der Laden- und Büroflächen, die auf ihrer Stelle errichtet wurden, im zweiten Bild. Das Bild des berühmten Techno-Clubs Tresor an der Leipziger Straße erinnert an einen Jahrmarktsplatz vor den Toren der Stadt und zeigt links der unscheinbaren kubischen Fassade des Tresor im Hintergrund eine Zeltkonstruktion. Der Club, der 1991 eröffnet wurde und 2005 schloss, nutzte die unterirdischen Gewölbe des (von Alfred Messel entworfenen und 1896 eröffneten) ehemaligen Warenhauses Wertheim am Leipziger Platz aus der Kaiserzeit. Die strenge Rechtwinkligkeit der goldenen Fassade und die industriellen Sonnenblenden des neuen Bürogebäudes, das den Club ersetzte, lassen dessen kompakte Geometrie nachklingen, stehen aber gleichzeitig im starken Kontrast zum temporären, spontanen Charakter dieser Institution. Wir bekommen einen Einblick in die Entwicklung Berlins von einer Spielwiese für die spontane Nutzung, das Besetzen und die kreative Inbesitznahme während der Neunziger- und frühen Nullerjahre hin zu einem Ort unternehmensgesteuerter Entwicklung und globalisierter städtischer Vermarktung. Dieser Ort mitten im Zentrum von Berlin, der Leipziger und der Potsdamer Platz, gehörte zu den ersten, die systematisch erschlossen wurden, wie Bildpaar 23 (Seite 144) zeigt. Im Jahr 2001 war die Bebauung dieses Niemandslands, das ehemals Teil der breiten Sicherheitszone zwischen zwei Mauern war, bereits geplant und auf dem Gelände des Potsdamer Platzes zum Teil schon fertiggestellt. Auf dem Bild von 2001 erkennen wir im Hintergrund die zeltartige Silhouette des Sony Centers und einige der ersten Gebäude, die am Leipziger Platz (eines davon das Mosse Center) errichtet wurden, sowie vier der in der Berliner Skyline der Jahrtausendwende allgegenwärtigen Baukräne. Berlin lud in diesen Jahren zum Besuch der „Schaustelle“ (ein Kofferwort aus „Schau“ und „Baustelle“) ein. Diese Art aufgepumpte „kritische Rekonstruktion“, wie Berlins Stadtbaudirektor Hans Stimmann es nannte, entstand im eigentlichen und im übertragenen Sinne am Zeichenbrett, in der Tabula rasa der Mauer, die den Vordergrund und die untere Hälfte des Bildes von 2001 beherrscht. Das Ergebnis war die Mall of Berlin, auf deren Fassade wir im Bild von 2016 blicken. 42 — Spaces of Uncertainty

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Erinnerung Auch wenn Berlins Voids oft tatsächlich physische, räumliche Leerstellen sind, liegt die häufige Charakterisierung als Palimpsest vor allem auch in ihren mentalen, auf die Erinnerung bezogenen Brüchen begründet.8 Berlin ist eine Stadt aus Schichten, die von der Kriegszerstörung, der Teilung, von Phasen des Abrisses und des Aufbaus gebildet wurden, aber auch durch die Abwesenheit der und durch die Erinnerung an die Mauer und die Opfer des Holocausts.9 Künstler wie Christian Boltanski [4]10, Shimon Attie [5]11 oder Micha Ullman12 setzten sich in den Neunziger- und den frühen Nullerjahren mittels temporärer oder dauerhafter Interventionen mit dieser „Erinnerungslücke“ auseinander. Einige der Bildpaare in diesem Buch sind ebenfalls diachrone Auseinandersetzungen mit der Bedeutung bestimmter Orte und den Erinnerungen, die mit ihnen [4] verknüpft sind. Sie zeigen einige der vielen Erinnerungsorte in Berlin. Leicht verkennt man die Bedeutung des unscheinbaren, metallverkleideten Baus mit der Aufschrift „Tränenpalast“, der in Bildpaar Nr. 9 (Seite 116) über die Straße hinweg aufgenommen ist. Der Bildaufbau macht den [5] zufälligen Charakter seiner Entstehung deutlich. Der Fotograf lief die Friedrichstraße in nördlicher Richtung hinauf und brauchte gleich hinter dem S- und U-Bahnhof Friedrichstraße nicht einmal die Straßenseite zu wechseln, um sich mit dem Gebäude auseinanderzusetzen. Seine bescheidenen Dimensionen sprechen der immensen Bedeutung Hohn, die es für Reisende hatte, die den Eisernen Vorhang kaum mehr als ein Jahrzehnt zuvor an dieser Stelle passierten. Das rätselhafte Bild zeigt einen Kontrollpunkt zwischen Ost und West, vor den Blicken der Passanten geschützt und bereits gekennzeichnet mit dem ironischen und sarkastischen Spitznamen , den die Berliner ihm gegeben hatten: „Tränenpalast“. Fünfzehn Jahre später unterbricht der Fotograf seine Tour durch die Stadt (vermutlich mit dem Fahrrad) anscheinend an derselben Stelle. Der inzwischen freigelegte Tränenpalast kontrastiert in seiner Größe mit einem Bürohochhaus, das neben ihm an der Friedrichstraße errichtet wurde und das das gesamte obere rechte Drittel des Bildes beherrscht. Was früher hinter einer Schutzverkleidung verborgen Berlin Revisited — 43

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war, ist nun freigelegt, läuft aber wegen seiner geringen Größe und des fragilen Rahmens Gefahr, übersehen und vergessen zu werden. Die Ironie der Geschichte fügt diesem Ort noch eine weitere Erinnerungsdimension hinzu. Der große, nichtssagende Büroturm, in dessen Schatten das kleine, zurückhaltende Denkmal der deutschen Teilung steht, wurde auf genau dem Grundstück errichtet, für das Mies van der Rohe 1921/22 einen eleganten Wolkenkratzer aus Glas und Stahl 13 [6] entworfen hatte. Jenes Gebäude wurde zwar niemals errichtet, wurde aber zu einer Ikone der Architektur der Moderne, während das nun an dieser Stelle errichtete [6] Gebäude als vertane Chance und missglückter Kompromiss zwischen einer kühnen Vision und einer reaktionären Geisteshaltung im Berlin der Nach-Mauer-Zeit kritisiert wurde.14 Der Gegensatz zwischen zukunftsweisenden Visionen und bürokratischem Stillstand oder stilistischem Historismus war ein vertrautes Phänomen im Berlin der Kaiserzeit. Am aufschlussreichsten zeugen davon die denkmalschützerischen Fotodokumentationen, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts von der Königlich-Preußischen Meßbildanstalt und professionellen Fotografen wie F. Albert Schwartz angefertigt wurden; Letzterer fertigte eine große Anzahl von Fotografien für das Märkische Museum an, das stadtgeschichtliche Museum Berlins. Mit seinem scharfen Auge für Bildkomposition und die Ironie städtischen Wandels muss ihm das kleine, aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammende Wohnhaus am Fuße des Kreuzbergs aufgefallen sein [7]. Das Haus überlebte Berlins Urbanisierung Ende des 19. Jahrhunderts nicht: [7] Es stand dem spektakulären künstlichen Wasserfall im Weg, der der Glanzpunkt des neuen Viktoriaparks werden sollte und der nur ein Jahr, nachdem der Fotograf sein Bild aufgenommen hatte, angelegt wurde. Der Gestus des Festhaltens und die Erinnerungsfunktion des Bildes von Schwartz sind mehr als hundert Jahre später noch in den Fotos vom Tränenpalast präsent. Die beiden Bilder von 2001 und 2016 fügen dem neueren kollektiven Gedächtnis Berlins weitere Deutungsschichten hinzu. Das erste zeigt, wie 44 — Spaces of Uncertainty

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der dem Blick der Öffentlichkeit entzogene „Palast“ mit der Erfahrung des Verschwindens des repressiven ostdeutschen Regimes langsam Teil des kollektiven Bewusstseins wurde. Das zweite steht für einen Gemütszustand, der einsetzte, als das Bewusstsein und die Erinnerung an die DDR weiter in den Hintergrund traten, aber man sich zugleich im akademischen, künstlerischen und öffentlichen Diskurs systematischer damit befasste. Das Gedächtnis und die Erinnerungen, scheint das zweite Bild nahezulegen, sind ein fragiles Konstrukt. Wenn wir uns nicht bewusst durch die Erinnerung arbeiten, besteht die Gefahr, dass diese Erinnerung und Teile der eigenen Identität verzerrt oder unsichtbar werden. Im Deutschen gibt es dafür den Begriff der „Erinnerungsarbeit“, der vor allem im Kontext der kritischen Aufarbeitung des Holocaust und der Rolle des Faschismus bei der Formierung der deutschen Nachkriegsidentität verwendet wird. Auch die Relikte der Berliner Mauer (Tafel 24 und 25 Seite 146/148), ihr Verschwinden, das Versetzen von Teilen an einen anderen als den ursprünglichen Ort, der Verkauf von echten oder gefälschten Mauerresten an Touristen oder aber ihre Monumentalisierung erzählen von den Erinnerungspraktiken Berlins. Die vier Bilder zeigen zwei Abschnitte der mit Graffiti bedeckten Mauer. Auf dem einen blickt man nordwärts Richtung Fernsehturm, auf dem anderen geht der Blick ebenfalls nach Norden, aber von einem Standpunkt etwas weiter südlich an der Spree. Alle vier Bilder zeigen die Mauer in dramatischer Diagonale, beim ersten befindet sie sich in der rechten Bildhälfte (der Standpunkt ist auf der Westseite), beim zweiten in der linken (der Standpunkt ist auf der Ostseite). An der Mauer selbst hat sich nicht viel verändert, wohl aber an den Bildern auf der Mauer. In beiden Fällen wurden die bunten Graffiti durch etwas ersetzt, was wie die fotorealistische Visualisierung einer Stadtlandschaft wirkt, ergänzt mit Texten, die die Bilder didaktisch zu begleiten scheinen. In beiden Bildpaaren sind auf dem Foto von 2016 mehr Menschen zu sehen. Sie lesen und betrachten die Bilder an der Mauer oder haben sich am Ufer der Spree niedergelassen. Der Raum entlang der Mauer hat sich verwandelt von einem Ort, der vormals nur ein paar Touristen anzog, die versuchten, mit dem Hammer ein Stück Mauer als Souvenir zu ergattern, in einen Ort des zwanglosen Edutainments (Kofferwort aus engl. education [Bildung] und engl. entertainment [Unterhaltung]), eine etwas unglückliche Mischung aus Gedenkstätte und Touristenattraktion. Berlin Revisited — 45

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Der Soziologe und Philosoph Maurice Halbwachs stellte fest, dass eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis besteht. In der Tat verändern sie sich und werden geformt durch den formlosen Eingang von Eindrücken, Erinnerungen und Geschichten. Die Erinnerung an die Berliner Mauer wird von einer größeren und vielfältigeren Zahl von Menschen gespeist und geformt als die Erinnerung an den Tränenpalast. Bei anderen Orten in Berlin kann es sogar noch schwerer sein, überhaupt irgendeine historische Bedeutung auszumachen. Viele solcher Orte sind in diesem Buch versammelt, aber ihre vermeintliche Banalität und Bedeutungslosigkeit erscheint beim Vergleich der Fotografien von 2001 und 2016 in einem anderen Licht. „Das Baumhaus“ am Bethaniendamm (Tafel 20 Seite 138) ist gewissermaßen ein Denkmal, aber eines, das zufällig entstanden ist. Die auffälligste Veränderung zwischen beiden Bildern besteht darin, dass ein paar Bäume gewachsen sind, um die herum eine zweigeschossige Konstruktion aus Schrott (Sperrholz, Metallreste, Fensterrahmen) errichtet wurde. Die Recherche zu diesem „Garten- oder Baumhaus“ ergibt, dass die ursprüngliche Konstruktion von einem türkischen Gastarbeiter namens Osman Kalin 1983 errichtet wurde, auf einem Stück Land, das zwar vom West-Berliner Bezirk Kreuzberg aus zugänglich, aber de facto Niemandsland war. Der kleine Schrebergarten15 für Kalins große Familie wurde nach der Wiedervereinigung Berlins zu einem geopolitischen Streitfall. Das Gebäude brannte zweimal nieder, 1991 und 2003, gehörte zunächst zum Bezirk Mitte und sollte abgerissen werden, wurde aber durch die Initiative von Freunden und Nachbarn gerettet und schließlich dem Bezirk Kreuzberg zugeordnet. Heute ist der Ort eine Touristenattraktion. Das Foto von 2016 lässt den Brand von 2003 nur vermuten, weil sich die Fassade des Gebäudes deutlich verändert hat. Die bemerkenswerteste Veränderung ist aber die Straße mit brandneuem Kopfsteinpflaster. Ursprünglich war der Straßenbelag aus unterschiedlichen Materialien zusammengezimmert, um die Straße notdürftig zu befestigen, als sie noch Teil des Grenzgebietes war. Nach 1989 befand sich das Gelände im Umbruch. Kopfsteinpflaster war im historischen Berlin der gängige Straßenbelag, nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es oft mit einer Schicht Asphalt bedeckt, um den Lärm zu reduzieren und das Autofahren angenehmer zu machen. Die Wiedereinführung von Kopfsteinpflaster macht diesen Ort gewissermaßen offiziell zu einer Sehenswürdigkeit, einem Touristenziel. 46 — Spaces of Uncertainty

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Dahinter steht derselbe Revitalisierungsgedanke, der zu dem Beschluss führte, das gar nicht weit vom „Baumhaus“ entfernte Berliner Stadtschloss zu rekonstruieren. Hyperkultur Berlin hat sich in den letzten fünfzehn Jahren zu einem Ort entwickelt, den der Soziologe Andreas Reckwitz als eine „Form einer expansiven Ästhetisierung […] der Lebensstile […], einer Ästhetisierung des Berufs und der persönlichen Beziehungen, des Essens, Wohnens, Reisens und des Körpers [beschreibt], die sich vom Ideal eines ‚guten Lebens‘ leiten lässt“. Rackwitz erklärt: „Kultur ist hier gewissermaßen Hyperkultur, in der potenziell alles in höchst variabler Weise kulturell wertvoll werden kann.“16 Unterschiedliche Zeitlichkeiten kommen in den Berlin-Fotografien zusammen: die zwischen 2001 und 2016 verstrichene Zeit, die Geschwindigkeit des digitalen Sofortbildes, die Zeit, in der der Fotograf mit dem Fahrrad durch die Stadt gefahren ist, die Zeit, die man als Betrachter der Bilder mit dem Erinnern und Betrachten dieser Bilder verbringt, die Zeit, in der der Leser die ringförmige Choreografie der Bildfolge in dem Buch nachvollzieht, und die Zeit, die durch die Position der Stadt als Teil der zeitgenössischen Hyperkulturalisierung gegeben ist. Unterschiedliche Formen des Verlaufs von Zeit haben eine zentrale Bedeutung für die Kulturalisierung der Stadt. Reckwitz spricht von einer sich öffnenden Kulturalisierung, die die gesellschaftlichen Strukturen (der Stadt) formt. Sie ist ein wichtiger Faktor bei der Herausbildung und Deutung der Räume der Ungewissheit, da sie von persönlichen und emotionalen Entscheidungen und Handlungen getragen wird. Berlin als Nährboden dieser Kulturalisierung zu verstehen eröffnet einen neuen Blick auf diese Berlin-Fotos und stellt eine Verbindung zur ähnlich gelagerten, hundert Jahre alten Feststellung von Georg Simmel her, die besagt, dass die Stadt Schauplatz einer „qualitativen Individualität“, einer Individualität des Andersseins sei.17 Die Geschwindigkeit des Wandels, von der diese Bildpaare zeugen, trifft auf unsere Erwartungen in Bezug darauf, wie städtischer Wandel aussehen und wie schnell er stattfinden sollte. Der fast instinktive Impuls, zu vergleichen und gegenüberzustellen, ist in diesen Bildern umgesetzt und wird zuweilen durch eine zwangsläufig genauere, vergleichende Lektüre infrage gestellt. In Abbildung Nr. 10 (Seite 118) hat die Stadterneuerung einen vernachlässigten, leblosen Ort für sich beansprucht. Von der Industriebrache an den Berlin Revisited — 47

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Berliner S-Bahn-Gleisen mit ein paar schäbigen Baracken und dem prosaischen grauen Pflaster, das als Abstellplatz für leuchtend blaue Müllsäcke dient, ist auf dem Foto von 2016 nichts mehr zu sehen. Nun sind die erhöhten Bahngleise von einem ordentlich gepflasterten Fußgängerweg gesäumt. Unter den Gewölben der Hochbahn liegen Restaurants und öffentlich zugängliche Gebäude, die von dieser oder der anderen Seite des Wegs betreten werden können. Der Vordergrund des Bildes wird von einer Gruppe junger Männer mit ihren Rädern dominiert, die auf einen Freund zu warten scheinen, der sein Fahrrad bei ihnen zurückgelassen hat, während er etwas erledigt. Das farbenfrohe (mit Tupfen in Gelb, Orange und Rosa verzierte), sonnendurchflutete Bild wirkt gleichzeitig wie ein Schnappschuss und wie ein Werbefoto. Es verbildlicht in der Momentaufnahme den entspannten Lebensstil der Mittelklasse, der sich in den gentrifizierten Bezirken Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain explosionsartig verbreitet hat. Solchen dynamischen und expliziten Darstellungen von Veränderung stehen andere Bildpaare entgegen, die den Betrachter zwingen, seine Geschwindigkeit zu drosseln. Der Vergleich der Bilder wird bei diesen Paaren zu einer lehrreichen Übung im genauen Hinschauen und Entziffern, denn die Veränderungen sind hier subtil. Das Bildpaar, das die Kreuzung Friedrichstraße/Puttkamerstraße in Kreuzberg (Tafel 21 Seite 140) zeigt, oder das letzte Bildpaar des Buchs, das auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof aufgenommen wurde (Tafel 33 Seite 164), dokumentieren Orte, die sich sehr wenig verändert haben. In den beiden Bildern von 2016 erscheint das Motiv [8] jeweils enger gerahmt: der zentrale Straßenimbiss auf einem ausgebombten Eckgrundstück und die Werbetafel am südwestlichen Zugang zur riesigen Rollbahn des ehemaligen Flughafens Tempelhof. Diese Bilder thematisieren weder das Füllen städtebaulicher Lücken noch deren Potenzial als Erinnerungsort, sondern sie lesen sich [9] eher wie Typologien im Stil des deutschen FotografenPaares Bernd und Hilla Becher [8]18 oder wie Studien zum Verstreichen von Zeit in der Tradition der Date Paintings [9] des japanischen Konzeptkünstlers On Kawara. Die Bechers schufen ein Ordnungssystem, indem sie Industrie48 — Spaces of Uncertainty

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bauten wie Fabrikanlagen und Hochöfen, aber auch Wassertürme und Fachwerkhäuser fotografierten und sie in Galerieräumen entsprechend der Gebäudetypologie anordneten. On Kawara malte kleine Tafelbilder, auf denen nur das Datum zu sehen war, an dem sie entstanden waren. Er hielt den Augenblick fest und betonte, dass der Akt des Malens wichtiger sei als das Produkt. Sowohl die zeitliche Dimension als auch der Impuls, zu vergleichen, sind in die Form des Bildpaares eingegangen. Als Paar lösen die Bilder bei Kunsthistorikern den Drang aus, beide Bilder eingehend miteinander zu vergleichen – wie bei der ikonografischen Bestimmung, bei der zwei Bilder direkt nebeneinander gezeigt oder an die Wand geworfen werden. Die Analysestrategie des vergleichenden Sehens wurde von Heinrich Wölfflin (1864–1945) in die Kunstwissenschaft eingeführt, einem der ersten Kunsthistoriker, der Kunstwerke nach formalen (stilistischen) Gesichtspunkten analysierte. Die Fotografien in diesem Buch bieten sich für eine solche vergleichende Analyse an, nicht so sehr in Bezug auf ihren Stil, sondern in Bezug auf die in ihnen versteckten Hinweise auf den städtischen Wandel. Diese Fotografien haben sogar eine noch größere bildliche Ähnlichkeit zu den Doppelbildern der Stereoskopie [10]. Das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beliebte Verfahren schuf die Illusion von Dreidimensiona[10] lität durch eine leichte Verschiebung des Blickpunkts des Fotografen. Die heutigen Stereo-Fotografien dieses Bandes verschaffen dem Betrachter ein fast filmisches Zeitlupen-Erlebnis. Die damaligen stereoskopischen Bilder waren hingegen ein so großer Publikumserfolg, da sie eine überzeugende räumliche Illusion der Reise an ferne Orte erzeugten. Dahingegen fördern die hier betrachteten Doppelbilder die Wahrnehmung und die innere Reflexion. Ästhetik des Wiedererscheinens Virilios aus den Achtzigerjahren stammende pessimistische Vision einer „überexponierten Stadt“, in der „die Transparenz längst die Erscheinungen verdrängt hat“ und die „klassische Tiefe des Felds durch die Tiefe der Zeit der fortgeschrittenen Technologien wiederbelebt wurde“, ist heute die gängige Beschreibung des Augenblicks, in dem Bildschirm und digitale Technologien wichtiger Bestandteil des öffentliBerlin Revisited — 49

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chen Lebens wurden.19 Heute, ein Vierteljahrhundert später, haben wir uns an das, was damals wie ein durch Technologie induziertes Zerrbild erschien, gewöhnt. Von der „Tiefe der Zeit und fortgeschrittenen Technologien“ umgeben zu sein hat unser Gefühl für die Welt betäubt, aber auch unsere Anpassungsmechanismen geschult. Während in Paris, der prototypischen Hauptstadt der Moderne, „die Paraden auf dem Boulevard Haussmann den beschleunigten Bilderfindungen der Brüder Lumière wichen“,20 sind Berlins Straßen und Plätze heute wieder zum Forschungsterrain für das analoge fotografische Bild geworden, wie die Arbeiten zahlreicher zeitgenössischer Künstler belegen.21 Die Verwendung dieses Mediums in diesem Buch und die Bildpaare führen uns zurück zu dem, was Virilio die „Ästhetik des Erscheinens eines festen Bildes“ nannte, dessen „Präsenz ein Aspekt seines statischen Wesens“22 ist. Die Quelle der wiedergewonnenen Stabilität ist heute meistens das digitale Bild mit seinem einzigartigen Verhältnis zu Raum und Zeit. Die Stadt und die Fotografie erfahren jedoch gleichwohl eine Umkehrung dessen, was Virilio die „Transmutation der Repräsentationen“ nennt, die uns einerseits einen Fixpunkt gibt und uns andererseits in der Ungewissheit lässt.23 Durch verschiedene Phasen einer fast psychoanalytischen Aufarbeitung der topografischen Ungewissheiten Berlins und mithilfe von Momentaufnahmen der städtischen Entwicklung lenkt das vorliegende Buch unsere Aufmerksamkeit zurück auf diese Orte, ihre Geschichte und ihre Transformation. Die Bilder laden zu einer vergleichenden Betrachtung und eingehenden Untersuchung ein, die den Betrachter weit über ihre Schnappschuss-Ästhetik hinaus trägt und die Orte im wahrsten Sinne des Wortes „wiedererscheinen“ lässt. Unser bildgesättigtes Unterbewusstsein, das sich nach einer bewussten Verzögerung sehnt, wird durch einen Rückgriff auf die alte Methode des Bildpaares und die Verpflichtung, wieder genau hinzusehen, zufriedengestellt. Die hier vorgestellten Fotografien lassen diese Orte in neuem Licht erscheinen, weil sie Werkzeuge der kritischen Auseinandersetzung sind.

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[Fig. 1] Georg Bartels, Rosenstraße, Ostseite, 2. November 1894. Fotografie, Landesarchiv Berlin, F Rep. 290-01-02 No. 74. [Fig. 2] Georg Bartels, Rosenstraße, mit Blick auf die Marienkirche, 1896. Fotografie. Inv. Nr. IV 68/479 V. Foto: Michael Setzpfandt, Berlin, © Stiftung Stadtmuseum Berlin. [Fig. 3] Edouard Manet, Le Déjeuner sur l’herbe, 1863. Öl auf Leinwand, 208×264,5 cm. Inv. RF1668. Foto: Benoît Touchard / Mathieu Rabeau. Musée d’Orsay, Paris. © RMN-Grand Palais / Art Resource, NY Image Reference: ART481551. [Fig. 4] Christian Boltanski, The Missing House (Große Hamburger Straße, Berlin-Mitte), 1990. [Fig. 5] Shimon Attie, The Writing on the Wall, Projektionen, 1992–93, Linienstraße 137: Dia-Projektion einer Polizei-Razzia auf ehemalige jüdische Bewohner, 1920, Berlin, 1992, Farbfotografie und Installation, © 2018 Artists Rights Society (ARS), New York / VG Bild-Kunst, Bonn; http://shimonattie.net/portfolio/the-writing-onthe-wall/#jp-carousel-1224. [Fig. 6] Ludwig Mies van der Rohe, „Wabe“, Entwurf für einen Wolkenkratzer, Berlin Friedrichstraße, 1922, Bauhaus-Archiv Berlin / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. [Fig. 7] F. Albert Schwartz, Blick von der Großbeerenstraße südwärts zum Kreuzberg, 1887. Fotografie, Landesarchiv Berlin, Rep. 290-01-01-267. [Fig. 8] Bernd und Hilla Becher, © Copyright, Water Towers, 1980. Neun Silbergelatinabzüge, ca. 155,6×125,1 cm insgesamt. Erworben aus Mitteln von Mr. und Mrs. Donald Jonas, 1981. The Solomon R. Guggenheim Museum, New York, NY, USA. © The Solomon R. Guggenheim Foundation / Art Resource, NY, Image Reference: ART457567. [Fig. 9] On Kawara, Date Paintings. The artist’s 13th Street Studio, New York, 1966, http://fnewsmagazine.com/2014/07/on-kawaras-last-days/; © David Zwirner Gallery. [Fig. 10] Stereografie, Kroll’s Garten Berlin, 1903.

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John Armitage, „From Modernism to Hypermodernism and Beyond: An Interview with Paul Virilio“, Theory, Culture & Society 16, Nr. 5–6 (1999), S. 25–55; hier S. 43. 2 Andreas Huyssen, „The Voids of Berlin“, Critical Inquiry 24, Nr. 1 (Herbst 1997), S. 57–81. 3 Armitage, „From Modernism to Hypermodernism“, S. 41 (s. Anm. 1). 4 ebd., S. 26. 5 Siegfried Kracauer, „Über Arbeitsnachweise“, Frankfurter Zeitung, 17. Juni 1930. 6 Tatsächlich stehen andere Teile dieses Projekts in der Tradition eines beeindruckenden Korpus von Stadtfotografien, der während der letzten beiden Jahrzehnte des 19. und im Laufe des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts exponentiell anwächst. Interessante Beispiele sind die Arbeiten von Fotografen wie Bartels, aber auch von F. Albert Schwartz, Hugo Rudolphy, Heinrich Zille, Max Missmann und Waldemar Titzenthaler, die mit jeweils eigenem Stil und eigenen formalen Vorlieben den raschen Wandel der Kaiserstadt dokumentierten. 7 Max Osborn, „Ein Berliner Bilderarchiv von Max Osborn“, Der Tag, 13. Juli 1910. 8 Vgl. z. B. Andreas Huyssen, Present Pasts: Urban Palimpsests and the Politics of Memory (Stanford: Stanford University Press, 2003). 9 Vgl. James E. Young, „Daniel Libeskind’s Jewish Museum in Berlin: The Uncanny Arts of Memorial Architecture“, Jewish Social Studies, n.s., 6, Nr. 2 (Winter 2000), S. 1–23; James E. Young, „Memory and Counter-Memory: The End of the Monument in Germany“, Harvard Design Magazine, Nr. 9 (Herbst 1999), S. 1–10, sowie Anthony Vidler, „Building in Empty Spaces: Daniel Libeskind and the Postspatial Void“, in: Warped Space: Art, Architecture, and Anxiety in Modern Culture (Cambridge, MA: MIT Press, 2000), S. 235–42. 10 Vgl. Abigail Solomon-Godeau, „Mourning or Melancholia: Christian Boltanski’s Missing House“, Oxford Art Journal 21, Nr. 2 (1998), S. 3–20. 52 — Spaces of Uncertainty

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Vgl. Shimon Attie, „The Writing on the Wall, Berlin, 1992–93: Projections in Berlin’s Jewish Quarter“, Art Journal 62, Nr. 3 (Herbst 2003), S. 74–83. Vgl. Jennifer A. Jordan, Structures of Memory: Understanding Urban Change in Berlin and Beyond (Stanford: Stanford University Press, 2006). Der Entwurf wurde wegen seines zellenartigen Inneren als „Wabe“ bezeichnet; vgl. Gideon Haigh, The Office: A Hardworking History (Victoria: The Megunyah Press, 2012), S. 169. Johanna Adorján, „Das Haus, das keiner wollte“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Januar 2011, http://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/architektur-in-berlinmitte-das-haus-das-keiner-wollte1577944.html. Der Schrebergarten ist nach Daniel Gottlieb Moritz Schreber (1808–1861) benannt, einem frühen deutschen Befürworter von Naturheilverfahren. Nach Schrebers Tod entwickelte der Lehrer Heinrich Karl Gesell kleine Gartenparzellen, auf denen ursprünglich Kinder das Gärtnern lernen sollten, die aber schnell von deren Eltern genutzt wurden, um dort Obst und Gemüse anzubauen. Andreas Reckwitz, „Zwischen Hyperkultur und Kulturessenzialismus,“ Soziopolis, 24. Oktober 2016, https://soziopolis.de/ beobachten/kultur/artikel/ zwischen-hyperkultur-undkulturessenzialismus/ (2. Mai 2017) ebd., zitiert nach Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin: Duncker & Humblot, 1908. http://socio.ch/sim/soziologie/ soz_10.htm (29. Juli 2017) Einen Überblick über ihre Arbeiten gibt Blake Stimson, „The Photographic Comportment of Bernd and Hilla Becher“, Tate Papers, Nr. 1 (Frühjahr 2004), http://www.tate.org.uk/ research/publications/tate-papers/ 01/photographic-comportment-ofbernd-and-hilla-becher (9. Mai 2017). Paul Virilio, The Lost Dimension, übers. v. Daniel Moshenberg (New York City: Semiotext(e), 1991), S. 25.

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ebd. Vgl. z. B. die Werke von Wiebke Loeper, Maria Sewcz, Elisabeth Neudörfl, Michael Schmidt, Thomas Florschuetz und Florian Profitlich. Virilio, The Lost Dimension, 25 (s. Fn. 20). This precinematic state was, according to Virilio, surpassed by the “aesthetics of the disappearance of an unstable image— present in its cinematic and cinematographic flight of escape.” ebd.

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„Während sich diese Zeichen der Wiedergeburt, der Urbanität und des Einfallsreichtums häufen, stellt sich mehr und mehr die Frage: Erleben wir gerade ein goldenes Zeitalter der „Rückgewinnung“ der Stadt? Oder, wie der Begriff „Rückgewinnung“ schon nahelegt, einen einmaligen und besonders zynischen Revanchismus?“

Vom Terrain Vague zur Tyrannei des Ortes  Mariana Mogilevich  Der Urbanismus des 21. Jahrhunderts scheint bislang im Füllen von Baulücken zu bestehen. In den wohlhabenderen Städten der Industrieländer wird anscheinend jeder Parkplatz, jede unbebaute Parzelle, jede Abstellfläche, Verkehrskreuzung, verlassene Industrieanlage und jedes Hafengebiet in einen neuen Ort verwandelt. Temporär aufgestellte Cafétische und -stühle, Gemüsegärten und Foodtrucks werden im Handumdrehen zu Zentren zeitgenössischer Kunst, zu Parks und neuen Wohnungen. Während sich diese Zeichen der Wiedergeburt, der Urbanität und des Einfallsreichtums häufen, stellt sich mehr und mehr die Frage: Erleben wir gerade ein goldenes Zeitalter der „Rückgewinnung“ der Stadt? Oder, wie der Begriff „Rückgewinnung“ schon nahelegt, einen einmaligen und besonders zynischen Revanchismus? Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wirkten die Moderne – und der Urbanismus – ausgelaugt und überholt. Während die Deindustrialisierung und die Flucht in die Vorstädte einen Höhepunkt erreichten, zeichneten sich die westlichen Metropolen immer mehr durch das aus, was ihnen fehlte. Die beiden Pole des terrain vague und des Nicht-Orts markierten das Ende der Stadt als eines kompakten Begegnungsraums von Fremden und als kollektive Leistung ihrer Bürger. Auf der einen Seite gab es die ungefüllten und unproduktiven Lücken einer unruhigen großstädtischen Landschaft, auf der anderen Seite die repetitiven globalen Landschaften der Einkaufszentren und Flughäfen, die vollständig bedeutungslos und ohne soziales Leben waren.1 Bevölkert wurden diese im wahrsten Sinne des Wortes „exklusiven“ Landschaften von Obdachlosen und Entfremdeten. Doch noch nicht einmal zwei Jahrzehnte später haben sich die Vorzeichen ins Gegenteil verkehrt. In den wohlhabenden Städten, die sich überlebt und ihren Nutzen eingebüßt zu haben schienen, wo jede Verkehrskreuzung zu einem Platz und jede Autobahnüberführung in einen Park umgewandelt wurde, sind die Ränder, die bereit waren, einbezogen und experimentell genutzt zu werden, inzwischen stark eingeschränkt. Projekte, die damit begannen, dass Bürger (oder denen, die sich als Bürger entrechtet fühlten) sich Raum schufen, indem sie verlassene, übrig gebliebene oder bislang nur vom Verkehr bestimmte Flächen für ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche wieder instand setzten und sich zu eigen machten, sind zur allgemeinen Strategie und zu einer gängigen städtebaulichen Praxis geworden. Die simplen Berlin Revisited — 55

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Vorgehensweisen der Amateure – oder auch „Taktiken“ – werden begeistert von Fachleuten unterschiedlichster Couleur aufgegriffen. In den Augen der Planer gibt es überall Gemeinden, die mehr Macht über ihre Geschicke bekommen müssten. Planer bringen Handbücher zum „taktischen Urbanismus“ heraus, die sie als „eine Anleitung zur Aktivierung von Nachbarschaften mittels kurzfristiger, kostengünstiger und skalierbarer Eingriffe und Maßnahmen“2 beschreiben. Placemaking-Profis weiten ihre Tätigkeit weltweit aus, leiten Workshops für jene, die lernen wollen, wie sich „ein Ort umwandeln“ lässt, und beraten Stadtverwaltungen und internationale Organisationen. Während diese Fachleute an Einfluss gewinnen, werden sie von Kritikern zunehmend als Placetakers kritisiert, die mit ihren kreativen „Wohlfühl“-Maßnahmen in Wahrheit die Entmündigung der Stadtbewohner vorantreiben und bemänteln.3 Es herrscht eine Tyrannei des Ortes. Der Weg vom terrain vague zur Tyrannei des Ortes wird hier in VorherNachher-Bildern festgehalten. Dieses Darstellungsverfahren ist nicht neu: In der Vergangenheit wurde es genutzt, um zu dokumentieren und zur Schau zu stellen, wie heruntergekommene Slums durch schicke Boulevards oder Türme ersetzt wurden. Der Unterschied bei den zeitgenössischen Szenen besteht darin, dass nichts ersetzt, sondern nur durch bestimmte allgemein verbreitete Metaphern der Urbanität aufgewertet wird, in Form von sozialer Interaktion oder zumindest in Form von Kopräsenz im städtischen Raum. Die Luftbilder, die vor und nach der Umwandlung des New Yorker Times Square von einer Verkehrskreuzung in eine Fußgängerplaza aufgenommen wurden, sind ein gutes Beispiel. Die omnipräsenten Vergleichsbilder, die auf der einen Seite eine vom Autoverkehr verstopfte Straße und auf der anderen eine Plaza voller entspannter Touristen zeigen, macht aus einem langwierigen politischen und räumlichen Prozess eine Verwandlung wie von Zauberhand, so wie man das aus den Wohnungs-Renovierungsshows kennt, die in der Hochphase des Reality-TV so beliebt waren. Seit 2008 hat die Verkehrsverwaltung von New York City 73 wenig genutzte Straßenabschnitte mittels Pflanzkübeln, Kies, Tischen und Stühlen in Fußgängerplätze verwandelt. Die Stadt bezahlt den Entwurf, die Materialien und die bauliche Umsetzung; örtliche Sponsoren müssen danach für den Betrieb, die Instandhaltung und Bewirtschaftung des Ortes, für die Versicherungs- und Reinigungskosten aufkommen und koordinieren, wer den Platz wann und wofür nutzt. 56 — Spaces of Uncertainty

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Das Bild von der Umgestaltung des Times Square erinnert in seiner Aussage, dem „Lasst es uns angehen!“, an Bilder von Bürgern, die sich ihren eigenen Zebrastreifen malen oder Parkplätze zu kleinen Parks umgestalten. Solch ein Eingriff wirkt, als sei er von der Gemeinde getragen, insbesondere, wenn man, wie die Vertreter des taktischen Urbanismus, die Taktik von ihrem Potenzial als Waffe der Schwachen löst und erklärt, solche Taktiken seien nicht für jene da, die keine anderen Möglichkeiten haben, sondern für alle, auch für Regierungen, Verwaltungen und Immobilienentwickler, die davon profitieren, wenn der Eindruck entsteht, die Dinge hätten sich bottom-up, also von der Basis her entwickelt – gleichgültig wie es sich in Wirklichkeit verhält.4 Der neue Times Square (und das stadtweite Programm der Schaffung von Plätzen, zu dem er gehört) ist aber nicht von den Anwohnern entwickelt worden, sondern das Ergebnis eines Gutachtens zur Schaffung von „Städten für Menschen“, mit dem zunächst Gehl, vormals Gehl Architects, beauftragt war und an dem gegenwärtig eine internationale Beratungsfirma arbeitet. In solchen Städten spielt sich das Leben der Menschen nicht hinter den Kulissen ab, sondern ihre Rolle ist es, fröhlich auf ihren Stühlen zu sitzen, wie das die Fotos zeigen. Wenn die Menschen zu anderen Formen urbaner Aktivität greifen, etwa um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, geraten Planer und Politiker in Panik. Als 2015, gleichsam als Wiederkehr des Verdrängten, spärlich bekleidete, freche Straßenkünstler auf dem Times Square auftauchten, hätte die Stadt den Platz fast wieder dem Straßenverkehr überlassen. Die Straßenkünstler wurden anschließend auf „ausgewiesene Aktivitätszonen“ verwiesen, die das mit der Verwaltung des Platzes betraute Privatunternehmen einrichtete. In einem nachgeordneten taktischen Eingriff wurden auf dem Platz mit grüner Farbe acht 3 × 15 Meter große Zonen markiert. Die Entwicklung der marginalen Praxis Im Jahr 1963 schrieb der Stadtplaner Kevin Lynch einen Essay, indem er die Chancen pries, die die städtischen Ränder bieten: „The Openness of Open Space“ [Die Offenheit des offenen Raums]. Darin forderte er Stadtplaner dazu auf, ihr Augenmerk neben Parks und formalen Freiflächen auf Brachen und stillgelegte Hafenareale zu richten, als Raum für Handlungsfreiheit und persönliche Entfaltung In einer modernen Metropole, die sich dem Eingriff und der Kontrolle entzog, boten diese übrig gebliebenen Flächen dem Menschen Raum, sich mit seinen Berlin Revisited — 57

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Wünschen und Taten einzubringen. Lynch nahm einige Verheißungen des auf Emanzipation und Partizipation abzielenden Urbanismus vorweg, der Ende der Sechzigerjahre seine Blüte erlebte, als vorübergehende Hausbesetzungen und die Vision, dass unter den Pflastersteinen der Strand liege, Jugendliche in aller Welt begeisterten. In den verfallenden Städten der USA boten Gärten auf unbebauten Parzellen und in verlassenen Hafenanlagen Zuwanderern, gleichgültig ob es sich um spanischsprachige Migranten aus Puerto Rico oder um Schwule und Lesben aus konservativen Kleinstädten handelte, Raum für Gemeinschaft und das Ausleben der eigenen Identität. Aufgegebene, vergessene oder übrig gebliebene Räume konnten sich Menschen mit geringen Mittel zu eigen machen und sie nach ihren Wünschen formen. Der US-amerikanische Amateursoziologe und Planungsguru William H. Whyte sah in den leer stehenden Grundstücken und Straßen der Sechzigerund Siebzigerjahre ebenfalls eine Chance: Sie waren bereit dafür, wieder als öffentlicher Raum genutzt zu werden. Whyte stellte sich eine besonders gesellige Stadt vor, in der sich die Menschen gerne aufhielten und miteinander austauschten. Er setzte sich daher in den folgenden Jahrzehnten für die Schaffung von gemeinschaftlich genutzten Innenhöfen und privat bewirtschafteten Parks in New York und anderen Städten ein. Diese Räume waren sicher, exklusiv und für Firmen und Pendler attraktiv. Auch Büroangestellte waren schließlich Migranten – oder zumindest mobil. Ob sie in das zentrale Geschäftsviertel kamen oder es verließen, konnte die Wirtschaft einer Stadt, die durch den Wegzug in die Vorstädte, die beginnende Globalisierung und reduzierte öffentliche Ausgaben geschwächt war, retten oder sie ins Verderben stürzen. Das soziale Leben, für das sich Whyte in kleinen städtischen Räumen aussprach, öffnete die Stadt nicht in alle Richtungen, sondern machte den Weg frei für die Neugestaltung. Die Aktivierung bestimmter Ränder und Zwischenräume förderte den Austausch und eine gewisse Urbanität, hatte aber wiederum eine verstärkte Marginalisierung zur Folge. Die Geselligkeit wurde von privaten Unternehmen verwaltet und von deren Sicherheitsleuten überwacht, die „Unerwünschte“ fernhalten sollten – unter diese Kategorie fielen zunächst einmal Drogensüchtige, deren Dealer sowie Obdachlose, doch konnte mit zunehmender Privatisierung praktisch jeder darunterfallen, der kein zahlender Kunde war. 58 — Spaces of Uncertainty

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Als Reaktion auf diesen revanchistischen Urbanismus wandten sich in den Neunzigerjahren einige Stadtplaner und Theoretiker mit Begeisterung einem neuen Alltags-Urbanismus zu, dem Urbanismus der Straßenhändler und Landbesetzer, derjenigen, die bastelten, selber etwas zusammenzimmerten und die arts de faire („Kunst des Handelns“ nach Michel de Certeau) praktizierten.5 In den meisten Fällen handelte es sich dabei um Behelfslösungen von Migranten – von philippinischen Hausangestellten, die sich unter einem Wolkenkratzer in Hongkong versammelten, bis hin zu Mittelamerikanern, die auf Brachflächen in Los Angeles Guaven und Papayas anbauten. Indem sie opportunistisch die Lücken füllten, die die Stadtentwicklung zurückgelassen hatte, versprachen sie alternative öffentliche Räume, ja eine Art „Guerilla-Öffentlichkeit“. Weil diese Schaffung städtischer Räume spontan und auf Beteiligung der Stadtbewohner ausgelegt war, betrachteten Theoretiker solche Räume als offener und integrativer als herkömmliche, für nur eine Nutzung bestimmte, konsumorientierte öffentliche Räume. Die Zuwanderung löste in den Städten einen Wandel auf globaler und regionaler Ebene aus. Sie ging um die Jahrtausendwende mit einer anderen Migrationswelle einher, dem Zuzug der sogenannten kreativen Klasse. Laut Richard Florida bilden Berufstätige der Mittelschicht den Kern einer Bewegung, die auf der Suche nach Urbanität und Vielfalt aus den Vorstädten in die Stadt zurückkehrt.6 In vielen Fällen werden die „Kreativen“ – in Wahrheit sind das genau die Büroangestellten, die Whytes Stadt bevölkerten – von genau denselben Orten angezogen wie die Migranten, die einer prekären ökonomischen Lage und politischer oder gesellschaftlicher Unterdrückung entfliehen wollen. Auch sie eignen sich brachliegende Räume auf kreative Art und Weise an, um mehr Versammlungsmöglichkeiten oder eine stärker auf ihre Bedürfnisse eingehende Stadt zu erhalten. Stadtstrände und Food-Festivals auf Parkplätzen sind Formen der adaptiven Umnutzung und Verwertung, die Kreative, Anwohner und Touristen gleichermaßen ansprechen. Diese Praktiken haben sich ausgeweitet und zu einem „Monocle-Urbanismus“ entwickelt, wie es der Architekturkritiker Rowan Moore in Anspielung auf das internationale Lifestyle-Magazin nennt, das für seine hypermobile Leserschaft der urbanen „Lebensqualität“ nachspürt. Das Bild eines hippen Ortes für Makerspaces, Freizeitaktivitäten oder Shopping, zusammengesetzt aus alten Containern auf einem ehemaligen Industriegelände, ist bekannt in Berlin Revisited — 59

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Atlanta wie in Lissabon.7 Diese zunehmend langweiliger werdende Collage wirkt wie ein von der Basis initiiertes Konzept urbaner Geselligkeit, ist es aber nicht. Wenn die Vorreiter der Stadt der Jahrtausendwende damit begannen, die städtebaulichen Lücken dort kreativ zu füllen, wo es eine Chance auf Veränderung gab, folgen sie heute eher einem Musters, das von Projektentwicklern, die bestimmte Wirtschaftsakteure anlocken wollen, auf eine Stadt nach der anderen angewandt wird. Das bekannteste Beispiel für die widersprüchlichen Auswirkungen eines globalisierten Urbanismus der Ränder ist die High Line in New York, ein Projekt, dessen Entwicklung exemplarisch für den Urbanismus des 21. Jahrhunderts steht. Im Jahr 1999 tat sich eine Gruppe von New Yorker Bürgern zusammen, um sich für die Erhaltung und Umnutzung einer brachliegenden Güterzugtrasse am westlichen Rand von Manhattan einzusetzen. Was als ein von Bürgern initiiertes Kleinstprojekt begann, wurde zehn Jahre später, nachdem ein internationaler Architekturwettbewerb stattgefunden hatte, Millionen Dollar an Spendengeldern geflossen waren und eine Public-private-Partnership für die Umsetzung des Projekts ins Leben gerufen worden war, der Öffentlichkeit übergeben. Das Projekt löste einen Spekulations- und Bauboom aus, und in der Umgebung der High Line ließen reiche Anwohner und Besucher ihren Ideen freien Lauf. Gleichzeitig trug es zur Ausgrenzung der Anwohner mit geringerem Einkommen bei, die laut einem Bericht der Stadt „zutiefst verunsichert“ waren und die Veränderungen in ihrem Viertel als einen „Verlust“ erlebten.8 Die berühmten Vorher-Bilder, die die alte Hochbahnstrecke als ein wildes Gelände mit städtischer Natur zeigen, heben sich positiv ab von den späteren Bildern, auf denen der High Line Park von Neubauten umringt und von Touristen überlaufen ist. In seiner kurzen Geschichte wurde das Projekt weltweit tausendfach nachgeahmt, von São Paulo bis nach Chicago. Es hat aber auch die Frage aufgeworfen, wie Industriegebiete für öffentliche Zwecke umgenutzt werden können, ohne jene Verdrängung zu begünstigen, die wir als Gentrifizierung bezeichnen. Laut einem Berater fragen sich die Projektinitiatoren und Verwalter der High Line, die Friends of the High Line, heute, „was ihre Arbeit aus der Perspektive sozialer und finanzieller Gerechtigkeit bedeutet“9.Das ist ein Eingeständnis: Die Nutzung der Ränder als eine Methode, mit der Menschen mit wenig Macht gesellschaftlichen Raum nicht 60 — Spaces of Uncertainty

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nur besetzen, sondern ihn auch gestalten können, wird heute fast immer ein Wunschtraum bleiben. Ort oder Prozess Wie die Nutzung brachliegender Freiflächen in der Stadt ist die Gentrifizierung ein Phänomen, das auf die Sechziger- und Siebzigerjahre zurückgeht und zu einem der wichtigsten Aspekte der Stadtplanung des 21. Jahrhunderts geworden ist, auch wenn die Fantasie hier weit über die Realität hinausgeht. Die Furcht vor Gentrifizierung ist so groß, dass in manchen Vierteln US-amerikanischer Städte praktisch alle Aufwertungsmaßnahmen im öffentlichen Raum auf Ablehnung und Verunsicherung stoßen. Erste Pläne für einen Raum unter einer Autobahnüberführung oder eine Straßenkarte, die die Vorzüge einer Gemeinde herausstellt – das könnten die ersten Hinweise sein auf eine neue Verdrängungswelle mittels Placemaking. Das Generieren von Orten gibt eine Strategie zur Aufwertung von Stadtvierteln vor, bei der es nicht darum geht, dass die Bewohner sich produktiv auf ihre Stadt einlassen, sondern es ist ein Trick, um sie in einen Prozess zu verwickeln, in dem sie keine Handlungsmacht haben – daher entsteht zunehmend der Eindruck, dass selbst die kostengünstigsten und schnellsten Aufwertungen des öffentlichen Raums in einem Viertel nicht den gegenwärtigen Bewohnern dienen, sondern dass sie für künftige Bewohner bestimmt sind, die der Staat und die Immobilienentwickler im Blick haben. Alle städtebaulichen Projekte sind damit Vorboten einer Gentrifizierung. Wenn also das „Ende des Großen“ (die Antwort der taktischen Urbanisten auf den Schlachtruf der Siebzigerjahre „Klein ist schön“, allerdings unter Verzicht auf die Forderung nach einem wirtschaftlichen System, das die Bedürfnisse der Menschen in den Vordergrund stellt) nicht unbedingt ein Grund zum Feiern ist, sollte man eine „Mikropolitik des Ortes“ dann verteidigen oder sollte man sie vermeiden? In der Stadtplanung wie in der Politik hat der Populismus verschiedene Seiten, von denen viele düster sind. Der Argwohn gegenüber einem Bottom-up-Urbanismus ist nicht unbegründet. Das wirft die Frage auf: Für wessen Kreativität ist Raum in der heutigen Stadt? In vielen Fällen werden am Rande der Gesellschaft lebende Stadtbewohner herangezogen, um Zeit, Arbeitskraft und Energie in die Umgestaltung marginaler Räume zu investieren, über die sie doch keine Kontrolle haben. Aber die Schlussfolgerung, dass der Verzicht auf alle Vorteile, Verbesserungen und Berlin Revisited — 61

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Veränderungen einer Zukunft mit ortsbezogenem Wandel vorzuziehen sei, wäre eine düstere Perspektive: Besser meine Brache als ein Park für irgendjemand anderen, scheint dabei die Haltung zu sein. Erscheinen ortsbezogene, kleinmaßstäbliche Maßnahmen wie ein trojanisches Pferd, wie Einfallschneisen eines langfristigen demografischen Wandels und letztlich geringerer Ansprüche der Stadtbewohner auf Raum, so gibt es immer noch Alternativen in Form kleiner Initiativen, die ihren Einfluss über ein Netzwerk entwickeln und sich nicht auf das physische Eingreifen, sondern auf die Prozesse und Maßnahmen konzentrieren, die diese Eingriffe gestalten und verwalten. Das ist eine andere Strategie. Als New York sein Programm zur Schaffung von Plätzen an Verkehrskreuzungen überall in der Stadt einführte, überließ die Stadt den Vierteln die Aufgabe, die Plätze anzulegen und zu verwalten, wobei Vereinigungen von Geschäftsleuten die Führung übernahmen, was die Entstehung neuer Ungleichheiten im öffentlichen Raum erwarten ließ. Seither ist die gemeinnützige Neighborhood Plaza Partnership auf den Plan getreten, um sich für nachhaltige öffentliche Gemeingüter einzusetzen, und zwar auch außerhalb der Viertel, wo sie Geschäftsleuten helfen sollten, mehr Laufkundschaft anzuziehen, um instand zu halten und technisch zu unterstützen und um eine regelmäßige finanzielle Unterstützung durch die Stadt einzufordern. Genauso wichtig wie die Orte und das Publikum sind die Institutionen, die die Beziehungen zwischen ihnen gestalten. In Corona, einem Viertel im New Yorker Stadtbezirk Queens, in dem 64 Prozent der Einwohner im Ausland geboren sind und nur über begrenzte finanzielle Mittel verfügen sowie einen begrenzten Einfluss auf die örtliche Verwaltung haben, initiierte das Queens Museum ein Gemeinschaftsprojekt rund um die Erschließung eines neuen Fußgängerplatzes auf einem Gelände neben den Hochbahngleisen der U-Bahn, auf dem Umzugswagen auf ihren nächsten Einsatz warteten. Das Museum hatte keine konkreten Pläne, die Corona Plaza aufzuwerten; vielmehr entwickelte sich das Projekt aus einer Reihe von Diskussionen mit Anwohnern und Nachbarschaftsorganisationen bezüglich ihrer Bedürfnisse. Das Museum plante und entwarf den Platz dann so, dass er allen genannten Bedürfnisse gerecht wurde – es wurde Platz eingeplant für Gesundheitseinrichtungen, für gemeinnützige Organisationen, Raum für lokal relevante und von Anwohnern bereitgestellte Nutzungen 62 — Spaces of Uncertainty

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sowie mehr öffentlicher Raum sowohl für Familien als auch für alleinstehende Männer, die andernorts nicht willkommen sind. Letztlich ist der Platz ein Experiment, bei dem es darum geht, einen würdigen öffentlichen Ort für Einwanderer zu schaffen, der von der Kreativität von Ortsansässigen und Migranten getragen wird und so konzipiert und entwickelt wurde, dass diese nicht nur Zuschauer, sondern aktiv an der Entstehung und Bewirtschaftung beteiligt sind (wobei auch auf die Arbeitsteilung bei der Gestaltung und Instandhaltung des Ortes geachtet wurde).10 Die Rolle der Fachleute – Künstler, Architekten, Planer und Gemeindearbeitern – bestand dabei nicht in der Gestaltung des Ortes, sondern darin, ihn zu finden und das zu stärken und sichtbar zu machen, was es im Viertel bereits gab. Das Museum hat inzwischen sein Engagement für die Rechte von Einwanderern auf andere öffentliche Räume ausgedehnt. Und es hat anderen Organisationen sein Vorgehen bei der Corona Plaza als Modell zur Verfügung gestellt, sodass dieser Platz nicht nur ein Fall einer opportunistischen Inbesitznahme ist, sondern zeigt, welche Rolle kulturelle Institutionen auch in einer Gesellschaft spielen können. Selbst in Corona kamen mit dem Beginn der Bauarbeiten Befürchtungen bezüglich dessen auf, was die neue Plaza bringen könnte. Aber, auch wenn die Wiederbeanspruchung städtischer Ränder sich als eine effektive Strategie der alternativen und anderen Produktionsschemata folgenden Stadtentwicklung erwiesen hat, birgt sie doch immer noch das Potenzial, städtischen Raum nach den Vorstellungen seiner Bewohner zu schaffen. Gruppen und Institutionen spielen eine entscheidende Rolle, nicht als Katalysatoren physischer Veränderung, sondern insofern, als sie die Prozesse und Regeln, die die Funktion und Steuerung dieser Räume bestimmen, sicherstellen können. In vielen Städten kämpfen Aktivistengruppen um Zugang zu brachliegendem Land – nicht nur, um es der kollektiven Nutzung zuzuführen, sondern auch, um es als Gemein- oder Staatsbesitz zu erhalten. Auf diese Weise können sie die zukünftige Entwicklung regulieren und die Grundlagen für die Schaffung und den Schutz städtischen Gemeindelands legen. Die marginalen Räume, an denen sie arbeiten, bergen nicht nur die Möglichkeit der kollektiven Nutzung; mit ihrer Hilfe lässt sich Macht aufbauen, um Größeres zu verändern – zunächst einmal die Strukturen und Prozesse, die manche Orte und manche Menschen marginalisieren. Berlin Revisited — 63

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Vgl. Marc Augé, Non-Places: An Introduction to Supermodernity (New York: Verso, 1995); Ignasi de Sola-Morales, „Terrain Vague“, in: Anyplace, hg. v. Cynthia Davidson (Cambridge, MA: MIT Press, 1995); Antoine Picon, „Anxious Landscapes: From the Ruin to Rust“, Grey Room, Nr. 1 (September 2000), S. 64–83. Mike Lydon und Anthony Garcia, Tactical Urbanism: Short-Term Action for Long-Term Change (Washington, DC: Island Press, 2015), S. 24. S. Sean M. Starowitz und Julia Cole, „Thoughts on Creative Placetaking“, Lumpen 125 (Sommer 2015), S. 34–41. Lydon and Garcia, Tactical Urbanism, S. 27–28 (vgl. Anmerkung 2). Vgl. z. B. John Chase, Margaret Crawford und John Kaliski (Hrsg.), Everyday Urbanism (New York: Monacelli Press, 1999); James Holston (Hrsg.), Cities and Citizenship (Durham: Duke University Press, 1998); Jeffrey Hou (Hrsg.),

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Insurgent Public Space: Guerilla Urbanism and the Remaking of Contemporary Cities (New York: Routledge, 2010). Vgl. Richard Florida, The Rise of the Creative Class (New York: Basic Books, 2002). Vgl. Rowan Moore, „How Down-at-heel Lisbon Became the New Capital of Cool“, The Guardian, 16. April 2017. Mireya Navarro, „In Chelsea, a Great Wealth Divide“, New York Times, 23. Oktober 2015. Danya Sherman, „Creating a More Equitable High Line“, High Line Magazine (1. März 2017), http://www. thehighline.org/blog/2017/03/01/ high-line-magazine-creating-a-moreequitable-high-line (10. Juni 2017). Vgl. Valeria Mogilevich, Mariana Mogilevich und Mitglieder der Leitung des Queens Museum, Corona Plaza Es Para Todos: Making a Dignified Public Space for Immigrants (New York: Queens Museum, 2016).

„Für einige bieten diese Räume immer noch Chancen, formalisierte und umstrittene Beratungs- und Beteiligungsmodelle durch direkte Beteiligung und das Experimentieren vor Ort zu überwinden. Für andere führte die Kritik an der Zwischennutzung als Teil von Neoliberalisierungsprozessen, zur Frage nach der Verantwortlichkeit.“

Die temporäre Nutzung in der neoliberalen Stadt neu denken Philipp Misselwitz Top-down und Bottom-up Seit ihrer Entstehung im späten 19. Jahrhundert prägte eine dualistische Perspektive die moderne Stadtplanung, die unterschiedlich beschrieben wird mit den Gegensatzpaaren der Regulierung und des Laissez-faire, des Top-down und des Bottom-up oder der formalen Planung und der informellen Entwicklung. In gewissem Maße ist das Leben in Städten und städtischen Gebieten immer ein Verhandeln zwischen Kontrolle und ihren Grenzen. Aber in ihrem energischen Idealismus betrachteten die modernen Planer das Formale als durch und durch positiv, während sie das Informelle rigoros ablehnten als etwas, das um jeden Preis vermieden werden musste. Diese Sichtweise wurde durch das schnelle und ungebremste Wachstum der Industriezentren bestärkt, das zur Bildung von dicht besiedelten, hygienisch bedenklichen Slums führte. Den Exzessen eines Laissez-faireKapitalismus ließe sich, so dachte man, nur mit einer Tabula-rasa-Strategie begegnen. Das planerische Äquivalent zur Forderung nach staatlicher Regulierung war die am Zeichenbrett entworfene Stadt. In diesem Kontext wurde die traditionelle Rolle des Informellen, die eine nützliche Koexistenz mit dem Formalen vorsah, aufgegeben, und der Top-down-Ansatz wurde zur neuen Orthodoxie. Diese Orthodoxie prägt auch weiterhin unser Geschichtsverständnis. In Berlin und in anderen Städten überall in Europa existierten weiter spontan entstandene Barackensiedlungen am Stadtrand und andere informelle Unterkünfte von Arbeitern und Migranten, trotz aller Ambitionen der modernen Planer. Infolge der Weltwirtschaftskrise Ende der Zwanzigerjahre waren wilde Siedlungen und selbstgezimmerte Behausungen echte Optionen für das Leben in der Stadt. Gleichwohl wurden solche Siedlungen kaum dokumentiert und weitgehend als unbeabsichtigte Schattenseite der Moderne abgetan, die bald beseitigt werden würde. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten die Bewohner in den ausgebombten Städten Europas nur mithilfe von Notbehausungen und einer nicht regulierten Nahrungsmittelproduktion zur Selbstversorgung überleben. Schrebergärten wurden zu überlebensnotwendigen Oasen. Obwohl einige Architekten die Bedeutung der Selbstversorgung und des Eigenbaus für die künftige Entwicklung erkannten, blieb die heroische, Berlin Revisited — 67

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umfassende Planung doch die vorherrschende Überzeugung der Moderne. Die Selbstversorgung wurde kein Bestandteil der richtungsweisenden Diskurse über den Wiederaufbau zerstörter Städte nach dem Ersten und auch nicht nach dem Zweiten Weltkrieg. Erst mit der Krise des Fordismus und Keynesianismus in den liberalen westlichen Demokratien während der Sechzigerjahre wurde der orthodoxe Ansatz der modernen Planung als patriarchalisch und autoritär kritisiert. In West-Berlin wurde das neu gebaute Institut für Architektur der Technischen Universität zum geistigen Zentrum und zu einer Bühne der Kritik und der Revolte, wo ein radikales Umdenken in Bezug auf die architektonische Ausbildung und die Architekturpraxis gefordert und als eine politische und inter- und transdisziplinäre Aufgabe angesehen wurde. Viele der aktiven Studenten waren auch Hausbesetzer in Kreuzberg und nutzten die von den Städteplanern aufgegebenen Ruinen als Testgelände für alternative, systemkritische Wohn- und Lebensformen. Inspiriert von Kritikerinnen wie Jane Jacobs und ihrem wegweisenden Buch Death and Life of Great American Cities (1961) näherten sich die Studierenden dem städtischen Alltagsleben als einem Versuchsraum, aus dem Planer und Architekten unendlich viel Wissen schöpfen konnten.1 In seinem Buch Possible City (1968) beschwor Kevin Lynch das Potenzial bestehender, unfertiger und gescheiterter Städte: „Wir können die Nutzung von Straßen als Spielgelände ausprobieren und Nutzungsmöglichkeiten für Dächer, leerstehende Läden, aufgegebene Gebäude, unbebaute Grundstücke, Restflächen und jene großen Areale erkunden, die gegenwärtig von sterilen Monokulturen wie Parkplätzen, Schnellstraßen, Bahndepots oder Flughäfen besetzt sind.“2 In den folgenden Jahrzehnten flossen die Ideen von Jacobs und Lynch in die Baurichtlinien und Stadtentwicklungsmaßnahmen ein, wenn auch in weniger radikaler Form. Die Planungs-Orthodoxie in West-Berlin – und auch in Westdeutschland – änderte sich entsprechend: Das Paradigma der heterogenen, sich organisch entwickelnden Stadt trat an die Stelle der von oben nach unten durchgeführten Tabula-rasa-Planung. Die Internationale Bauausstellung von 1984 bis 1987 in Berlin war das Schlüsselereignis bei dieser Verschiebung. Hier fand eine Neuausrichtung statt: nicht nur in Bezug auf den Planungsprozess, sondern auch in Bezug auf die architektonische Form. Der Bauboom nach der Wiedervereinigung Berlins im folgenden Jahrzehnt zeigte aber, wie schnell das 68 — Spaces of Uncertainty

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Modell der sich organisch entwickelnden Stadt zu einer langweiligen formalästhetischen Sammlung von Normen und Baurichtlinien werden konnte. Der Gedanke der urbanen Heterogenität, der anfänglich von Aktivisten als Form des Widerstands gegen die moderne Planung postuliert worden war, wurde von Planern übernommen als Teil einer rigiden Gestaltungs-Charta. Das Berliner Modell der „Kritischen Rekonstruktion“ und das Konzept Planwerk Innenstadt liefen letztlich auf die Rückkehr einer Top-down-Kontrolle hinaus, die sich als Versuch ausgab, die europäische Stadt zu retten. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass dieses Experiment nur begrenzten Erfolg hatte. Ende der Neunzigerjahre hätte der Graben zwischen Planungsidealen und städtischer Realität kaum größer sein können. Direkt nach dem Fall der Berliner Mauer gingen die Stadtplaner von einem starken Bevölkerungswachstum aus, und zahlreiche Masterpläne für die Entwicklung innerstädtischer Projekte wurden in Auftrag gegeben. Doch nur wenige dieser Pläne wurden tatsächlich umgesetzt. Nach einem kurzen Bauboom in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre ruhte die Planung, und die Baulücken überall in der Stadt blieben bestehen. Viele Pläne blieben Pläne, obwohl immense Summen an öffentlichen Geldern flossen und Schulden gemacht wurden, während die viel bedeutsameren städtischen Veränderungen und Neuerfindungen, die so großen Einfluss auf meine Generation hatten, sich auf leeren Flächen vollzogen, bei denen die Planung scheinbar gescheitert war. Triumph des Temporären? In Städten wie Berlin oder Leipzig existierte eine Vielzahl städtischer Brachen, die mithilfe traditioneller Neuentwicklungsstrategien nicht gefüllt werden konnten. Was aus der Sicht etablierter Planer wie ein Makel erschien, wurde für eine neue Schar hauptsächlich junger urbaner Akteure zur Chance. Man beanspruchte die Räume, machte sie sich zu eigen und nutzte sie mit einfachsten Mitteln. Was immer bereits vorhanden war, machte man sich auf sehr pragmatische Weise zu eigen und interpretierte es neu. Anders als in den Siebzigerjahren bestand das Ziel nicht in der Schaffung politisierter Gegenwelten; vielmehr entstanden offene, oft dynamisch wachsende Cluster mit einem bunt gemischten Programm. Profit zu machen war selten das Hauptziel, solange die notwendigen Ausgaben durch ein paar Einnahmen gedeckt werden konnten. Berlin Revisited — 69

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Es dauerte nicht lange, bis Berlins Regierung den Erfolg dieser Zwischennutzungen bemerkte. Die Ersten, die Notiz davon nahmen, waren Wirtschaftswissenschaftler und Wiederherstellungsteams; dann kamen die Planer. Der Prozess der schrittweisen Integration und Institutionalisierung der Zwischennutzung in den herkömmlichen Planungsdiskurs wurde kürzlich vom Forschungsprojekt InnoPlan3 nachgezeichnet. Nach anfänglichem Zögern und vorsichtigem Tolerieren öffneten sich viele Stadtverwaltungen, Behörden und sogar Ministerien diesem Phänomen. Die Akteure der Zwischennutzung erlebten eine spektakuläre Metamorphose: In den Augen der Planer wurden sie von den Enfants terribles des Städtebaus zu „Raumpionieren“, die Werte für die Stadt schaffen können.4 Temporäre Nutzungen wurden zu einem Synonym für das kreative Potenzial einer Stadt und zu einem Wettbewerbsvorteil. Die Furcht vor einem Verlust der kreativen Köpfe an andere Städte führte zu von den Städten getragenen Initiativen zur Bereitstellung zusätzlicher Flächen für alternative Entwicklungen, z. B. in München (Dachauer Straße), Hamburg (Oberhafencity) oder Basel (Klybeckquai). Selbst das Baugesetzbuch wurde geändert, um diesen Veränderungen Rechnung zu tragen (siehe die Novellierung des BauGB von 2004 mit der Hinzufügung von § 9, Absatz 2, „für einen bestimmten Zeitraum zulässige Nutzungen“). Viele Städte wie Wuppertal und Bremen schufen Ämter für Zwischennutzungen, die in die Strukturen der Stadtverwaltung eingebunden waren, aber über eine beträchtliche Handlungsfreiheit verfügten, um mit den Nutzern bestimmter Orte Verträge abzuschließen. Generell wurde die Stadtplanung in Deutschland dialogbereiter. Charrette-Verfahren, Runde Tische und kooperative Planungsprozesse werden zu immer beliebteren Modellen, um lokalen planerischen Herausforderungen zu begegnen, für die die bürokratisierten und überregulierten Beteiligungsformen der herkömmlichen Planungsprozesse nicht länger ausreichen. Bei diesem Trend kommt Zwischennutzungen eine Schlüsselrolle zu, weil sie Formen der direkten Beteiligung ermöglichen, im Rahmen der von Experten gesteuerten Planungsprozesse und darüber hinaus. Die Vielzahl an positiven, teilweise euphorischen Reaktionen auf Zwischennutzungen, die in hohem Maße von Stadtverwaltungen oder gemeinnützigen Stiftungen gefördert werden, scheint ein Hinweis auf den Übergang vom vorübergehend auftretenden Phänomen zum planerischen Mainstream.5 70 — Spaces of Uncertainty

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Angesichts dieser offensichtlichen Erfolgsgeschichte könnte man versucht sein, einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel in der Planung festzustellen. Aber ist der Eingang der Zwischennutzung in den Mainstream wirklich ein Indiz für einen fundamentalen Wertewandel hin zu einer Planung, die endgültig den Konflikt zwischen Bottom-up und Top-down schlichten könnte? Sind wir in eine neue Ära eingetreten, wo Bottom-up-Praktiken nicht länger im Gegensatz zu einer Top-down-Planung stehen, wo die unregulierten, alltäglichen Lebensweisen der Bürger mit ihrem Potenzial, sich schrittweise vollziehende, organische Veränderungsprozesse auszulösen, institutionalisiert werden im Rahmen von Akteur-orientierten Ansätzen, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen? Im Jahr 2015 feierte Berlin die Ablehnung des Tempelhof-Referendums mit einem Festival mit dem Namen „Make City“. Doch in all der Euphorie wurden kritische Stimmen laut, die mittlerweile lauter sind als die der Optimisten.6 Es wird Zeit, sich mit ihren Argumenten auseinanderzusetzen. Chancen und Risiken in der neoliberalen Stadt Es ist weithin anerkannt, dass Zwischennutzungen neuen Akteuren ermöglicht haben, sich in Stadtentwicklungsprozesse einzubringen. Das städtebauliche Spektrum ist bunter und vielfältiger geworden. Aber viele Kritiker weisen darauf hin, dass es in Bezug auf die Frage, wer diese Akteure sind und was sie motiviert, immer wieder zu Missverständnissen und Idealisierungen kommt. Für die meisten Städte und Immobilieneigner bleibt das langfristige wirtschaftliche Potenzial von Zwischennutzungen entscheidend. Das Argument der Kreativwirtschaft fand in der zunehmend unternehmerisch geprägten Stadt Anklang.7 Private Grundstückeigentümer lernten schnell, wie sich das Image des Improvisierten und Ephemeren, das die Zwischennutzung bot, als Wettbewerbsvorteil nutzen ließ, um Orte mit einem neuen Image zu versehen und potenzielle Mieter und Käufer anzulocken. Viele Kritiker weisen darauf hin, dass die Haltung der Kreativwirtschaft zur Zwischennutzung die Raumnutzungspraktiken verzerrt, die einst unbeeinflusst waren vom Interesse an Profit: Meist erhalten jene Zwischennutzungen den Vorzug, die sich leicht in einem profitorientierten Entwicklungsprojekt unterbringen lassen. Andere bleiben sich selbst überlassen und werden oft schnell verdrängt. Dieses Argument steht im Einklang mit einer grundsätzlichen Kritik am Neoliberalismus in Berlin Revisited — 71

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den liberalen westlichen Demokratien, die auf die veränderte Rolle des Staates verweist, der nicht länger der einzige (Um-)Verteiler öffentlicher Fürsorge und Ressourcen ist. Tatsächlich werden immer mehr Entscheidungen bei städtischen Veränderungsprozessen nichtstaatlichen Akteuren überlassen. Aus ihrer Sicht sind die Ortsbezogenheit, die Projektbezogenheit und die Dezentralisierung der Planung nicht ein Ausdruck eines Bottom-up-Ansatzes, sondern eine beunruhigende Restrukturierung, die mächtigen nichtstaatlichen Akteuren ohne die erforderlichen Richtlinien die Federführung überlässt, wodurch der Markt alles an sich reißt und mit seiner Finanzorientierung und Kommerzialisierung in alle Bereiche der Stadtverwaltung und des Stadtlebens eindringt. Ist dies also die ultimative Form des Bottom-up und der Zwischennutzung als Planungsstrategie? Im Folgenden möchte ich mich mit zwei Fragen beschäftigen, um der Sache auf den Grund zu gehen. 1. Inwieweit dienen „Raum-Unternehmer“ dem Gemeinwohl? Ich behaupte, dass wir ein weniger idealistisches, weniger selbstverherrlichendes Verständnis davon brauchen, wer „Raum-Unternehmer“ werden und zwischennutzen kann. Viele Kritiker verweisen auf strukturelle Faktoren, die oft übersehen werden, wenn man sich auf das Handeln und die Kreativität von Individuen konzentriert. Der Stadtsoziologe Erik Swyngedouw argwöhnt beispielsweise, dass die meisten Akteure einer relativ kleinen, bereits privilegierten gesellschaftlichen Elite angehören, der „High Bohème“ unserer Gesellschaft, die über die Zeit, die Mittel, die Bildung und die Ressourcen verfügt, um sich an lokalen Projekten zu beteiligen und die Führung zu übernehmen.8 Andere behaupten, dass die „Raum-Unternehmer“ selbst Opfer struktureller Veränderungen der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes sind – Teil eines sich selbst ausbeutenden Prekariats.9 In den Biografien heutiger Zwischennutzer findet sich in der Tat oft ein Werdegang jenseits traditioneller Arbeitsstrukturen. Sie wechseln vielfach zwischen projektbezogener Arbeit, unbezahlter Beschäftigung, Arbeitslosigkeit, Schwarzarbeit, befristeter und Teilzeit-Beschäftigung. Während viele Stadtverwaltungen ihre Präsenz in den Vierteln reduzieren, füllen einige Zwischennutzer diese Lücke. Während die Umleitung öffentlicher Mittel in örtliche Kultur- und Bildungsprojekte helfen kann, lokale gemeinnützige Initiativen am Leben zu erhalten und innovative Aktivitäten zu unterstützen, werden die Personen, 72 — Spaces of Uncertainty

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die sich in diesen Initiativen engagieren, selten ausreichend bezahlt und befinden sich in Bezug auf die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze in einem Schwebezustand. Auf jeden Fall verändern Zwischennutzungsinitiativen die Machtverhältnisse auf lokaler Ebene und lösen damit naturgemäß Konflikte darüber aus, wie sie öffentliches Land in Anspruch nehmen und staatliche Ressourcen, darunter Geldmittel, beschaffen oder abzweigen. Was als gemeinnütziges Projekt gedacht sein mag, kann von anderen als rein von Eigeninteressen motiviert wahrgenommen werden. Kollektive Nutzungsformen erzeugen bewusst oder unbewusst neue Formen der Diskriminierung und können Konflikte zwischen lokalen Bürgergruppen begünstigen. Daher sehen viele in Zwischennutzungsinitiativen erste Anzeichen für einen lokalen Gentrifizierungsprozess. Kreuzberg und Neukölln haben gezeigt, dass Künstlerateliers, Coworking Spaces, die Clubszene, Bars und Cafés das Leben in einem Viertel sehr bereichern, aber zugleich Grundstücksspekulationen und Verdrängungsprozesse auslösen. In den Augen der New Yorker Soziologin Sharon Zukin ist der Glaube an die selbstregulierende Kraft lokaler Nachbarschaften, dem Jane Jacobs 1961 so eloquent Ausdruck verlieh, inzwischen gebrochen. Bei einem Besuch der Viertel im Zentrum von Manhattan, die Jacobs einst vor der völligen Zerstörung gemäß dem Tabula-rasa-Prinzip der Moderne bewahrt hatte, lässt sich heute feststellen, dass diese inzwischen gentrifiziert sind und die lokale Vielfalt zu einer bloßen ästhetischen Staffage verkümmert ist.10 Wir wissen heute von Veränderungsprozessen in Städten wie Berlin oder New York, dass ein reines Laissez-faire, das auf dem naiven Glauben an die Tugenden des Bottom-up basiert, in die Sackgasse führen kann: Alternative räumliche Nutzungsformen führen nicht notwendigerweise zu einer Demokratisierung, sondern können durchaus auch Vielfalt und Heterogenität zerstören. Wir kommen also nicht an der ewigen Frage vorbei: Wie sieht ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Top-down und Bottom-up aus? 2. Wie sehr zielen die neuen lokalen Planungsprozesse auf Beteiligung ab? Während die Planungsprozesse zweifellos prozessorientierter geworden sind, bleibt die Frage, ob der Eingang der Zwischennutzung in die herkömmliche Planung tatsächlich zu einer Machtverschiebung in Richtung Basis geführt hat. Haben die vielen neuen auf Beteiligung und Kommunikation Berlin Revisited — 73

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abzielenden Planungswerkzeuge – die fast schon zur neuen Orthodoxie in der Planung gewordenen Charrette-Verfahren, Runden Tische und Austauschprozesse unter den Projektbeteiligten – wirklich etwas an der Machtverteilung geändert? Auch hier scheint eine kritischere, Konflikte zur Kenntnis nehmende Sichtweise hilfreich, um die weitverbreitete Idealisierung aufzubrechen. Man könnte argumentieren, dass die neuen gemeinschaftlichen Prozesse die Geisteshaltung der Planer, Architekten und Fachleute sowie die Logik des Marktes und die Interessen von Bürgergruppen, die sich aus einzelnen Anwohnern zusammensetzen, noch unmittelbarer aufeinanderprallen lassen. Führen neue Instrumente dann zu einer neuen Machtverteilung? Sind Widerstand oder Kooperation schwieriger geworden? Ein kurzer Blick auf die gegenwärtigen Planungskonflikte rund um den ehemaligen Flughafen Berlin-Tempelhof zeigt, dass es schwer ist, eine einfache Antwort auf diese Frage zu finden. Nach der Schließung des Flughafens im Jahr 2008 waren die Planungsverantwortlichen der Stadt anfangs bereit, sich auf ein Experiment einzulassen. Zum ersten Mal in Berlin wurde eine nicht gewinnorientierte Zwischennutzung zu einem bewusst eingesetzten Instrument in der Neuentwicklung eines großen öffentlichen Parks. Im Jahr 2010 wurden die „Pionier-Felder“ für örtliche Initiativen und Individuen geöffnet. Die Startbahn wurde Schauplatz temporärer Installationen. Dieser Ansatz fand lokal und international Zustimmung. Jedoch war die scheinbare Harmonie zwischen dem Berliner Senat und den lokalen Zwischennutzungsinitiativen nur von kurzer Dauer. Schon 2011 begann der Senat, Pläne für eine großflächige Wohnbebauung rund um das Flugfeld herum vorzubereiten, die auf starken Widerstand der Anwohner stießen und zu einem beispiellosen Volksentscheid führten, bei dem die Erschließungspläne, die eine große neue Stadtbibliothek, Wohnungen (darunter auch sozialen Wohnungsbau), Gewerbeflächen und Pläne für eine internationale Gartenschau umfassten, abgelehnt wurden. Es wäre aber falsch und voreilig, in diesem Votum einen Sieg der temporären Nutzung über eine konventionelle Top-down-Planung sehen zu wollen. Aktuelle Planungskonflikte wie bei Berlin-Tempelhof, bei Stuttgart 21 oder bei der Hamburger Bewerbung für die Olympischen Spiele 2024 (die 2015 ebenfalls von der Bevölkerung abgelehnt wurde) scheinen für eine Machtverschiebung zugunsten der Bürger und einer stärker auf Dialog 74 — Spaces of Uncertainty

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setzenden Planung zu sprechen. Die meisten Städte sehen darin jedoch nicht ein neues Modell und Paradigma, sondern eine Krise und eine Bedrohung. Als Folge investieren sie in neue Kommunikationswerkzeuge, um öffentliche Unterstützung zu generieren. Wie, fragen Experten, sollen strategisch wichtige Herausforderungen wie die Wohnungs- oder die Flüchtlingskrise, die Anpassung an die Folgen des Klimawandels oder Schlichtungen gemeistert werden, wenn notwendige und manchmal auch nur schwierige Entscheidungen an den Bürgern scheitern, die keine Probleme vor ihrer Haustür sehen wollen? Bedeuten Verhandlungen mit den Bürgern eine weitere Schwächung des Staates? Führt zu viel Bottom-up letztlich zu Defiziten in Demokratie und Solidarität und gefährdet somit das Allgemeinwohl und missachtet die Interessen der Schwächeren? Eric Swyngedouw legt in seiner Analyse zur Lenkung relevanter Akteure im Kontext von Neoliberalisierungsprozessen in europäischen Städten eine Antwort nahe.11 Sie hat allerdings zwei Seiten: Entscheidungen auf lokaler Ebene können positive und problematische Auswirkungen haben. Tatsächlich wissen wir immer noch zu wenig über die tatsächlichen Perspektiven und Denkweisen der Zwischennutzer und über die mittel- und langfristigen Auswirkungen von Zwischennutzung auf städtische Nachbarschaften. Das sind wichtige Fragen, die für Universitäten interessant sein können, sie können kritische Planungsprozesse und urbane Veränderungsprozesse begleiten: Wie viel Festlegung und Kontrolle, wie viel Offenheit und Unbestimmtheit sind notwendig? Unser Blick auf Berlins offene Räume ist daher heute weniger enthusiastisch, sondern eher etwas belastet, und er polarisiert. Für einige bieten diese Räume immer noch Chancen, formalisierte und umstrittene Beratungs- und Beteiligungsmodelle durch direkte Beteiligung und das Experimentieren vor Ort zu überwinden. Für andere führte die Kritik an der Zwischennutzung als Teil von Neoliberalisierungsprozessen, zur Frage nach der Verantwortlichkeit. In dem Versuch, diese Gegensätze zu überwinden, würde ich mich für eine nuanciertere, jeden Fall für sich betrachtende Bewertung des Potenzials temporärer Nutzungen von leer stehendem Raum aussprechen, um unsere Städte vielfältiger, interessanter und gerechter zu machen. Das Gleichgewicht zwischen Bottom-up und Top-down muss nicht nur von jeder Gesellschaft und jeder Generation, sondern auch in Bezug auf den jeweiligen lokalen Kontext neu verhandelt werden. Berlin Revisited — 75

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Philipp Oswalt, Klaus Overmeyer und Philipp Misselwitz, Urban Catalyst: The Power of Temporary Use (Berlin: DOM, 2013).

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Jane Jacobs, The Death and Life of Great American Cities (New York: Random House, 1961). Kevin Lynch, „The Possible City“, in: City Sense and City Design: Writings and Projects of Kevin Lynch, hg. v. T. Banerjee und M. Southworth (Cambridge, MA: MIT Press, 1995), S. 771–88; hier S. 776. Vgl. Thomas Honeck, „Zwischennutzung als soziale Innovation: Von räumlich alternativen Lebensentwürfen zu Verfahren der räumlichen Planung“, Informationen zur Raumentwicklung 3 (2015), S. 219–31. Vgl. Klaus Overmeyer, Urban Pioneers (Berlin: Jovis Verlag, 2007). Vgl. ebd.; Kristien Ring, AA PROJECTS und Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, Berlin (Hrsg.), Selfmade City (Berlin: Jovis, 2013); und Francesca Ferguson und Urban Drift Projects (Hrsg.), Make_Shift City: Renegotiating the Urban Commons / Die Neuverhandlung des Urbanen (Berlin: Jovis, 2014). Nina Gribat, Hannes Langguth und Mario Schulze, „‚Make City‘ in Times

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of an ‚Absolute Present‘: Exploring Alternative Urban Practices at Ostkreuz, Berlin“, sub\urban 3, Nr. 3 (2015), S. 111–24. Richard Florida, The Rise of the Creative Class (New York: Basic Books, 2002). Erik Swyngedouw, „Governance Innovation and the Citizen: The Janus Face of Governance-beyond-theState“, Urban Studies 42, Nr. 11 (2005), S. 1991–2006. Ulrich Brinkmann, Klaus Dörre, Silke Röbenack, Klaus Kraemer und Fredric Speidel, Prekäre Arbeit: Ursachen, Ausmaß, soziale Folgen und subjektive Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigungsverhältnisse (Bonn: Friedrich-EbertStiftung, 2006). Sharon Zukin, Naked City: The Death and Life of Authentic Urban Places (Oxford: Oxford University Press, 2010). Erik Swyngedouw, „Governance Innovation and the Citizen: The Janus Face of Governance-beyondthe-State“, Urban Studies, 42, 11 (2015), S. 1991–2006.

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„Die neuen Nervenkrankheiten des ästhetischen Kapitalismus sind damit Ausdruck der ökonomischen Notwendigkeiten wie auch des soziokulturellen Wunsches nach Heimarbeit vor dem Hintergrund einer neuen Wohnungsfrage.“

Die Ungewissheit des Wohnens Jesko Fezer Während um die letzten urbanen Nischen noch intensive lokalpolitische Auseinandersetzungen geführt werden, ist die dort einst verortete Ungewissheit längst verschwunden: Städtischer Boden dient der ökonomischen Wertschöpfung. Er soll als bebaute Fläche effektiv verwertet werden. Diese alte Gewissheit produziert die neuen Räume der Ungewissheit. Es sind die Wohnungen. Sie werden aufgrund immobilienwirtschaftlichen Gewinnstrebens oder mangelhafter Wohnungspolitik entweder teurer oder qualitativ schlechter – oder schlicht dem Mietwohnungsmarkt entzogen. Die Berliner Ortskrankenkasse für den Gewerbebetrieb der Kaufleute, Handelsleute und Apotheker führte von 1903 bis 1922 bei ihren Patientinnen und Patienten eine Wohnungsuntersuchung durch. Begleitet von Beamten der Krankenkasse fotografierte die Firma Heinrich Lichte 175 Innenräume Berliner Wohnungen. Als Kupfertiefdrucktafeln und mit Bildunterschriften versehen, wurden sie in loser Folge der Wohnungs-Enquete beigelegt.1 Ziel dieses jährlichen Berichtes war es, den längst erkannten Zusammenhang zwischen Wohnen und Krankheit nachzuweisen. Dass die zu beklagenden Wohnverhältnisse auch Arbeitsverhältnisse waren, geriet dabei eher beiläufig in den Blick. Das in diesen Berichten beschriebene Elend mit dem neuen Wohnungsmangel in der Start-up-City Berlin zu vergleichen, wäre unangemessen. Der polizeilich geschulte Blick der Beamten, die Anfang des letzten Jahrhunderts mit detektivischem und hygienischem Eifer nach Indizien für Krankheitsursachen fahndeten und Beweise sicherten, verortete individuelle Krankheitsbilder innerhalb ihrer sozio-räumlichen Fassung. Doch nun dringen auch die Leiden der Gegenwart aus dem Dunkel des wohnlichen Privaten: Nutzerinnen und Nutzer von bezahlbarem Wohnraum sind verunsichert, nicht mehr nur aufgrund der eingeschränkten Verfügbarkeit desselben und dem angedrohten Entzug dieser Ressource, sondern auch in Hinblick auf seine gesellschaftlich geforderte Ausnutzung. Der bezahlbare Wohnraum wird nicht nur zur Mangelware, sondern gleichzeitig zur produktiven, ökonomisierten Sphäre. Möglichkeiten, mit der neuen Wohnungsfrage, dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum, umzugehen, scheint es viele zu geben. Steigende Mieten könnten durch eine Reduktion der Lebenshaltungskosten kompensiert werden. Ein Umzug in eine billigere, kleinere, ungünstiger gelegene Wohnung Berlin Revisited — 79

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könnte ebenso weiterhelfen wie eine Untervermietung von Teilbereichen oder die temporäre Vermarktung als Ferienwohnung. Sogenannte alternative Wohnformen wie „Cohousing“ oder eben Wohngemeinschaften begegnen dem Problem steigender Kosten mit geplanter Flächenreduzierung. Eine Nutzungsoptimierung kann aber auch durch die Zweitverwertung der eigenen Wohnung als Arbeitsplatz erreicht werden. Ob digitale Plattformen des Produkthandels, vernetzte Dienstleistungen, die Möglichkeit flexibilisierter abhängiger Beschäftigung, Crowdworking oder aber klassische Heimarbeit: Im Häuslichen verortet sich unter erheblichem ökonomischen Druck ein attraktives, gesellschaftlich bereits etabliertes Modell des Lebens und Arbeitens. Am liebsten vom heimischen Bett aus: Es scheint eine Begehrlichkeit nach der Intimität selbstbestimmter Arbeit geweckt worden zu sein. Und während die kreative Stadt das räumliche soziale Gefüge für diese Form der Selbstökonomisierung schafft, bildet die Gestaltung als Disziplin das Leitbild, als Versprechen den Horizont und als Formgeber die Artefakte für dieses Regime selbstbestimmter Arbeit. Die diagnostizierten Reaktionen auf die allgegenwärtigen Anforderungen des Kreativitätsdispositivs sind Erschöpfungszustände, Depressionen und Aufmerksamkeitsdefizitstörungen. Diese in ihrer großen Verbreitung relativ neuen Krankheitsbilder entstammen gleichermaßen der Selbstüberforderung des dauerkreativen Ichs wie auch der dadurch ausgelösten Sucht nach sozialer Anerkennung und einem auf dem Potenzial kreativ-ökonomischen Handelns basierenden Selbstwertgefühl. Ein Scheitern im Beruflichen mangels Flexibilität, Kreativität, Eigeninitiative und Leidenschaft begünstigt das massenhafte Auftreten von Depressionen, innerer Leere, Minderwertigkeitsgefühlen und daraus resultierender Antriebslosigkeit. Die gesellschaftliche Forderung nach steter produktiver Tätigkeit verortet sich im Privatraum auf neue und unerwartete Weise und trifft dort auf die Unsicherheit der ökonomisch-räumlichen Rahmenbedingungen. Die neuen Nervenkrankheiten des ästhetischen Kapitalismus sind damit Ausdruck der ökonomischen Notwendigkeiten wie auch des soziokulturellen Wunsches nach Heimarbeit vor dem Hintergrund einer neuen Wohnungsfrage.

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Vgl.: Gesine Asmus (Hrsg.): Hinterhof, Keller und Mansarde. Einblicke in Berliner Wohnungselend 1901-1920. Rowohlt, Reinbek 1982

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B.—NO Keibelstraße 34 Seitenflügel, 4 Treppen Die Wohnung besteht aus Stube und Küche. Vorderer Teil des Raumes, der als Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer dient. Der Mann arbeitet an Portemonnaies. Die Frau, welche an Nervenschwäche leidet, hilft, sofern sie arbeitsfähig ist.

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B.—NO Heinersdorfer Straße 13 3 Treppen

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Der Patient ist 75 Jahre alt und betreibt die Handweberei in derselben Stube, in der er auch schläft. Raummaße: 5,00 m lang, 5,00 m breit, 2,80 m hoch.

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B.—N Rheinsberger Straße 62 im Keller Wohnung bestehend aus Stube und Küche. Die Frau arbeitet Filzpantoffel, sie muss den Platz am Fenster wählen, da der übrige Teil der Stube dunkel ist. Für 5 Personen waren zwei Betten vorhanden. Der Eingang zur Wohnung ist dunkel, die Treppen schmutzig.

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B.—NW Wilhelmshavener Straße 27 Vorderhaus Parterre Die Wohnung besteht aus Stube und Küche. Diese Stube dient als Werkstatt, Laden und für eine Person zum Schlafen.

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B.—SW Kreuzbergstraße 49 Küche und gleichzeitig Arbeitsraum zur Anfertigung von Cigarren. Auch die Kinder arbeiten mit, die Ehefrau ist augenblicklich krank. Raummaße: 3,70 m lang, 2,60 m breit, 3,00 m hoch.

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B.—SO Manteuffelstraße 64 In dieser Küche fertigt die Mutter Knallbonbons, die beiden schulpflichtigen Kinder müssen helfen. Unsere lungenkranke 16-jährige Patientin schläft in diesem Raum. Raummaße: 4,00 m lang, 2,75 m breit, 2,50 m hoch.

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B.—O Liebigstraße 25 Quergebäude, 3 Treppen Die Frau näht in der Küche selbstgestaltete Turnbeutel, um sie online zu verkaufen. Gelegentlich arbeitet sie für Filmproduktionen. Gemeinsam mit ihrer 14-jährigen Tochter schläft sie im Zimmer nebenan.

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II. FOTOGRAFIEN

Author

01 Alexanderplatz 02 Alexanderplatz 03 Dircksenstraße 04 Dircksenstraße / Voltairestraße 05 Monbijoupark 06 Mauerstreifen Sebastianstraße 07 Mauerstreifen Sebastianstraße 08 Tachelesgelände Oranienburger Straße 09 Bahnhof Friedrichstraße 10 Bahnhof Friedrichstraße 11 Spreeufer Michaelkirchstraße

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12 Mauerstreifen Heinrich-Heine-Straße 13 Spreeufer Michaelkirchstraße 14 Mauerstreifen Heinrich-Heine-Straße

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15 Jerusalemer Straße 16 Markgrafenstraße / Schützenstraße 17 Krausenstraße / Jerusalemer Straße 18 Mauerstreifen Heinrich-Heine-Straße 19 Alfred-Döblin-Platz 20 Bethaniendamm, „Baumhaus an der Mauer“ 21 Friedrichstraße / Puttkamerstraße 22 Leipziger Straße, ehemalige Club Tresor 23

23 Leipziger Straße, „Mall of Berlin“

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24 Mühlenstraße, „East Side Gallery“ 25 Mühlenstraße, „East Side Gallery“ 26 Mauerpark 27 Cuvrystraße / Spreeufer

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28 Gleisdreieck 29 Revaler Straße / Dirschauerstraße 30 Vor dem Schlesischen Tor 31 Lohmühlenstraße / Kiefholzstraße 32 Gleisdreieckpark / Yorckstraße

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33 Tempelhofer Feld / Schillerkiez

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Tafel 16 130 — Spaces of Uncertainty

Tafel 17 132 — Spaces of Uncertainty

Tafel 18 134 — Spaces of Uncertainty

Tafel 19 136 — Spaces of Uncertainty

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Tafel 21 140 — Spaces of Uncertainty

Tafel 22 142 — Spaces of Uncertainty

Tafel 23 144 — Spaces of Uncertainty

Tafel 24 146 — Spaces of Uncertainty

Tafel 25 148 — Spaces of Uncertainty

Tafel 26 150 — Spaces of Uncertainty

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Tafel 28 154 — Spaces of Uncertainty

Tafel 29 156 — Spaces of Uncertainty

Tafel 30 158 — Spaces of Uncertainty

Tafel 31 160 — Spaces of Uncertainty

Tafel 32 162 — Spaces of Uncertainty

Tafel 33 164 — Spaces of Uncertainty

Markus Miessen

Nachwort  Markus Miessen  Ein typisches Rathaus: Das Publikum hat Platz genommen, man plaudert noch miteinander; Geld regiert die Welt. Das Gemurmel verstummt, als ein offiziell aussehender Herr ans Mikrofon tritt. Er ist eine wichtige Persönlichkeit und weiß das, er trägt einen eng anliegenden Anzug und einen vielleicht ein bisschen zu bunten Schlips. Er kommt gleich zum Thema: die nachbarschaftliche Stadt – eine Stadt, die, so sagt er, von ihren Bewohnern mitentworfen wird und die sie sich zu eigen machen. Er wählt seine Worte sorgfältig, spricht von „Mitautoren“. Er zeigt farbenfrohe Visualisierungen von städtischen Plätzen mit üppigem Grün und schicken Aluminiumfassaden, wo Kinder ausgelassen spielen, Hunde frei laufen und junge Familien offenbar genau wissen, was für eine Art von Stadt sie wollen und brauchen. Das Publikum im Rathaussaal ist beeindruckt und beginnt wieder zu murmeln. Es ist fasziniert, nicht nur von den makellosen Bildern einer Zukunft ohne Probleme, sondern auch von der untadeligen Präsenta-  tion mit kleinen humorvollen Bemerkungen genau an den richtigen Stellen. Während ein anderer Mann vor der Bühne darauf wartet, nach oben gebeten zu werden, lässt unser Mann sich über das Potenzial des Miteinbeziehens, offener Strukturen und der Befreiung des Bürgers aus. Dann kommt er zum Schluss seines Vortrags, etwas lauter als nötig: „Dieses Projekt wird nicht nur neue Investitionen in diese Gegend bringen, es wird den Menschen auch die Möglichkeit geben, sich endlich zu Hause zu fühlen und an dem, was ihre Stadt sein wird, teilzuhaben. Und dieser Mann“ – dabei verweist er auf den Neuankömmling, der daraufhin die Bühne betritt – „wird uns helfen, diese Vision Realität werden zu lassen!“ Der Architekt ergreift das Mikrofon.

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Impressum

Konzept: Kenny Cupers und Markus Miessen Texte: Autorenschaft je nach Beitrag Fotografien 2001: Kenny Cupers und Markus Miessen Fotografien 2016: Kenny Cupers und Thomas Schirmer Lektorat: Berit Liedtke-Becksmann Übersetzung vom Englischen ins Deutsche: Dr. Christian Rochow Projektkoordination: Alexander Felix, Regina Herr Herstellung: Heike Strempel Design: Lena Mahr Papier: Munken Print White, 1.5, 100 g/m² und 150 g/m² Druck: Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co. KG, Calbe Lithographie: [bildpunkt] Druckvorstufen GmbH Library of Congress Cataloging-in-Publication data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Dieses Buch ist auch als E-Book (ISBN PDF 978-3-0356-1442-8) sowie in englischer Sprache erschienen (ISBN 978-3-0356-1439-8). © 2018 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel Postfach 44, 4009 Basel, Schweiz Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF ∞ Printed in Germany ISBN 978-3-0356-1438-1

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