Soziologisches Denken: Eine kritische Einführung [2. Aufl.] 978-3-8100-0166-5;978-3-322-86239-6

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German Pages X, 214 [220] Year 1975

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Soziologisches Denken: Eine kritische Einführung [2. Aufl.]
 978-3-8100-0166-5;978-3-322-86239-6

Table of contents :
Front Matter ....Pages 1-6
Vorbemerkung (Reinhard Kreckel)....Pages 7-10
Front Matter ....Pages 11-11
Der allgemeine Problemhorizont der Soziologie (Reinhard Kreckel)....Pages 13-31
Eine gesellschaftstheoretische Orientierung für die Soziologie (Reinhard Kreckel)....Pages 33-59
Front Matter ....Pages 61-61
Der „Positivismusstreit“ als wissenschaftstheoretischer Hintergrund (Reinhard Kreckel)....Pages 63-115
Soziologische Grundbegriffe (Reinhard Kreckel)....Pages 117-214
Back Matter ....Pages 215-224

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Reinhard Kreckel

Soziologisches Denken Second Edition

Uni -T aschenbücher

UTB Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Birkhäuser Verlag Basel und Stuttgart Wilhelm Fink Verlag München Gustav Fischer Verlag Stuttgart Francke Verlag München Paul Haupt Verlag Bern und Stuttgart Dr. Alfred Hüthig Verlag Heidelberg Leske Verlag + Budrich GmbH Opladen J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen C. F. Müller Juristischer Verlag - R. v. Decker's Verlag Heidelberg Quelle & Meyer Heidelberg Ernst Reinhardt Verlag München und Basel F. K. Schattauer Verlag Stuttgart-New York Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn Dr. Dietrich SteinkopfT Verlag Darmstadt Eugen Dimer Verlag Stuttgart Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen und Zürich Verlag Dokumentation München

Reinhard Kreckel Soziologisches Denken

Reinhard Kreckel

Soziologisches Denken Eine kritische Einführung

Leske Verlag

+

Budrich GmbH, Opladen 1975

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kleckel, Reinhard Soziologisches Denken: e. krit. Einf. - 2.Aufl.Opladen: Leske und Budrich, 1976. (Uni-Taschenbiicher ; 574) ISBN 978-3-8100-0166-5

Reinhard Kreckel, Soziologisches Denken Eine kritische Einführung 2. Auflage April 1976. 224 Seiten

ISBN 978-3-8100-0166-5 ISBN 978-3-322-86239-6 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-86239-6 © 1975 by Leske Verlag + Budrich GmbH, Opladen

Umschlagentwurf: Hanswerner Klein, Opladen Gesamtherstellung: Anton Hain KG, Meisenheim/Glan

Inhalt

Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . .

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Erster Teil: Zur Standort bestimmung der Soziologie Kapitel I: Der allgemeine Problemhorizont der Soziologie . . . 13 I. Das Erkenntnisinteresse der Naturwissenschaften: Naturbeherrschung . . . . . . . . . . . . 2. Die Doppelfunktion aller Kultur: Entlastung und Zwang. 3. Die historische Hypothek: Kultur als Ausdruck gesellschaftlicher Ungleichheit. . . . . . . . . . . 4. Das Erkenntnisinteresse der Humanwissenschaften: Zwischen Anpassung und Emanzipation. . . . . . . . . . . . 5. Das wissenschaftliche Ziel der Soziologie: Aufdeckung von Bedingungen für Stabilität und Wandel sozio-kultureller Wirklichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14 15 18 21 25

Kapitel II: Eine gesellschaftstheoretische Orientierung für die Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 I. Zur Verknüpfung von empirischer Forschung und Theorie: Das Konzept des soziologischen Strukturmodells . . . . 2. Ein Bindeglied zwischen Theorie und Praxis: Das Konzept der gesellschaftstheoretischen Orientierung . . . . . . . . 3. Geschichtlichkeit oder Universalität: Das Problem des raumzeitlichen Geltungsbereiches . . . . . . . . . . . . 4. Die gesellschaftstheoretische Orientierung: Gesellschaft als sozio-kulturelle Ungleichheitsordnung . . . . . . . .

33 37 43 47

Zweiter Teil: Elemente einer empirisch-kritischen Soziologie Kapitel III: Der "Positivismusstreit" als wissenschaftstheoretischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . 63

5

I. 2. 3. 4.

Gemeinsame Ausgangslage . . Kritischer Rationalismus. . . Dialektisch-kritische Soziologie Konsequenzen. . . . . . .

Kapitel IV: Soziologische Grundbegriffe. I. Begriffliche Ausgangspunkte soziologischen Denkens: Kultur und soziales Handeln 2. Klassische Beiträge a) Max Weber. . b) Emile Durkheim c) Talcott Parsons 3. Ein begriffliches Bindeglied zwischen Kultur und sozialem Handeln: Das Rollenkonzept . . . . . . . . . . . 4. Begriffliche Grundlegung für eine gesellschaftstheoretisch orientierte Strukturanalyse

66 69 84 . 106 .117 . 117 . 130 .131 . 140 . 149 . 162 . 181

Literaturverzeichnis .

. 215

Register

.220

6

. . . . .

Vorbemerkung

Auf dem westdeutschen Buchmarkt ist eine beträchtliche Anzahl allgemeinverständlicher Textbücher zur Einführung in die Soziologie erhältlich. Eine Einführung, die der sogenannten "kritischen Gesellschaftstheorie" oder "Frankfurter Schule" größeres Gewicht beimißt, liegt jedoch nicht vor. Dies mag erstaunlich anmuten - zumal, wenn man bedenkt, daß die kritische Gesellschaftstheorie von vielen internationalen Betrachtern als der weitaus bemerkenswerteste westdeutsche Beitrag zur Entwicklung soziologischen Denkens in den letzten Jahrzehnten angesehen wird. Wer allerdings genauer mit der Argumentationsweise der kritischen Gesellschaftstheorie vertraut ist, muß erkennen, daß sie sich in systematischer Weise gegen Vereinfachung und Allgemeinverständlichkeit sperrt. Denn es ist ein Hauptmerkmal kritischer Gesellschaftstheorie, daß sie nur in Auseinandersetzung mi! den jeweils fortgeschrittensten "konventionellen" Theorien und Methoden eIltfaltet werden kann. Die Folge ist, daß die Bedeutung der kritischen Gesellschaftstheorie für die Soziologie bestenfalls von Eingeweihten zur Kenntnis genommen werden kann, während für den Laien nur soziologische Hausmannskost übrigbleibt. Gegen diese Sachlage wendet sich die vorliegende Schrift. Ihr Verfasser ist in seinem Denken zwar nachhaltig von der kritischen Gesellschaftstheorie beeinflußt; er steht ihr aber in vieler Hinsicht kritisch gegenüber, was vor allem in Teil 11 deutlich werden wird. Er ist der Auffassung, daß die Gegensätze zwischen "traditionellen" und "kritischen" Strömungen im soziologischen Denken nicht vollkommen unüberbrückbar sind; und er ist der Hoffnung, daß sich dies durchaus auch auf verständliche, wenngleich nicht immer ganz einfache Weise darstellen läßt. Aus dem bisher Gesagten geht eines klar hervor: "Die" Soziologie als ein festumrissenes Gefüge von allgemein anerkannten wissenschaftlichen Ergebnissen und Methoden gibt es nicht. Es gibt zwar den Beruf des "Soziologen"; es gibt auch eine allen Soziologen gemeinsame Fachtradition und einen bestimmten Fundus von Forschungsthemen, Grundbegriffen, Hypothesen und Forschungstechniken, mit 7

denen sich Anhänger der unterschiedlichsten soziologischen Lehrmeinungen gleichermaßen auseinandersetzen. Aber eine gemeinsame theoretische Perspektive ist nirgends zu sehen. Soziologie kann deshalb nicht einfach "beschrieben" werden. Jeder Versuch einer solchen Beschreibung müßte unweigerlich auf die Darstellung einer bestimmten Soziologie hinauslaufen, die dann womöglich als "die" Soziologie ausgegeben würde. Immerhin wäre aber eine Vorgehensweise denkbar, die lediglich darauf abzielte, die wichtigsten Erscheinungsformen von Soziologie, wie sie heute im akademischen Bereich und in der Forschungspraxis vorzufinden sind, nebeneinander zu stellen und nachzuzeichnen. Bei näherer Überlegung erweist sich ein derartiges Verfahren aber als unzweckmäßig. Ein "obiektives Abbild" der verschiedenen Erscheinungsformen von Soziologie, das dem Leser als neutrale Entscheidungsgrundlage für seine eigene Meinungsbildung dienen könnte, ist auch auf diesem Wege nicht zu verwirklichen. In der Auswahl und Darbietung des Stoffes müssen sich in jedem Falle die theoretischen Präferenzen des Verfassers widerspiegeln. Nun kann es aber nicht die Aufgabe dieser einführenden Schrift sein, lediglich mit einer bestimmten Lehrmeinung über andere Lehrmeinungen vertraut zu machen. Dem Leser, der sich einer kaum über., schaub'aren Vielfalt von soziologischen Einzelerkenntnissen und Kontroversen gegenüber sieht, soll vielmehr als erstes ein strukturierender "Durchblick" geboten. werden, der ihm ein zusammenhängendes gedankliches Instrumentarium zur wissenschaftlich-kritischen Erfassung und Interpretation sozio-kultureller Wirklichkeit vermittelt. Die begrifflichen Grundlagen soziologischen Denkens sowie deren wissenschafts- und gesellschafts theoretische Zusammenhänge sind deshalb das Thema der vorliegenden Schrift. Soziologische Theorien im engeren Sinne, empirische Befunde und Forschungstechniken werden hingegen nicht systematisch dargestellt und diskutiert werden. Denn es geht darum, dem Leser zunächst ein allgemeines gedankliches Grundgerüst zu vermitteln, auf dem er dann - kritisch und selbstkritisch - sein weiteres soziologisches Denken und Arbeiten aufbauen kann. Wer die Absicht hat, einen klärenden Durchblick durch das Unterholz soziologischer Hypothesen, Lehrmeinungen und Kontroversen zu gewinnen, muß - wie gesagt - einen eindeutigen Standort einnehmen, und zwar einen Standort, der eine möglichst günstige Perspektive hierfür bietet: Der wissenschaftliche Standort, von dem aus die vorliegende Schrift konzipiert ist, beruht auf der Idee, daß es sowohl erfahrungswissenschaftlich wie gesellschaftspolitisch frucht-

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bar sei, hochindustrialisierte Gesellschaften kapitalistischen und sozialistischen Typs als sozio-kulturelle Ungleichheitsordnungen aufzufassen. Die BrauchbarkeIt dIeser Perspektive kann sich nur in der Anwendung erweisen. Sie soll dem Leser jedoch keineswegs stillschweigend aufgedrängt werden, und sie darf ihn auch nicht korsettartig einengen. Sie wird in Teil I schrittweise eingeführt und begründet werden. In Teil 11 soll dann auf dieser Ausgangsbasis eine detailliertere Einführung in Grundfragen soziologischen Denkens gegeben werden. Diese Vorgehensweise birgt eine gewisse Schwierigkeit in sich: In Teil I wird ein allgemeiner gesellschaftstheoretischer Rahmen als generelle "Perspektive" vorgestellt, bevor der Leser mit dem hierfür eigentlich erforderlichen fachwissenschaftlichen Instrumentarium bekannt gemacht werden kann. (Umgekehrt wäre es freilich ebenso schwierig, zuerst mit dem speziellen Teil der Argumentation zu beginnen und dabei stets implizit auf den allgemeinen Teil vorgreifen zu müssen.) Das Dilemma wird angegangen, indem in Teil I versucht wird, den gesellschaftstheoretischen Rahmen auf dem - relativ festen Boden der Alltagssprache zu errichten und plausibel zu machen. Es kann dabei von einer "gehobenen Alltagssprache" ausgegangen werden, denn es wird unterstellt, daß die hauptsächliche Zielgruppe dieser Schrift - Studenten, Lehrer, theoretisch und politisch Interessierte - bereits mit einer intellektualisierten Sprache, jedoch nicht mit speziell soziologischer Terminologie vertraut ist. Der Teil 11 ist im Vergleich dazu in Sprache, Argumentationsweise und äußerer Form stärker fachwissenschaftlieh gehalten, und er ist mit Literaturhinweisen und ausführlichen Anmerkungen versehen. Denn der Leser soll in die Lage versetzt werden, jetzt - nachdem er in Teil I auf die allgemeine Thematik "eingestimmt" worden ist den Vorgang der Entfaltung einer wissenschaftstheoretischen Argumentation sowie die sich daran anschließende Entwicklung von soziologischen Grundbegriffen möglichs't genau mitzuvollziehen und, unter Rückgriff auf die angegebene Literatur, selbständig weiterzudenken. Indem der Verfasser sich bemüht, seine wissenschaftstheoretischen, gesellschaftstheoretischen und begrifflichen Prämissen und Entscheidungen Schritt für Schritt offenzulegen und zu begründen, bietet er dem Leser die Möglichkeit, sich mit seiner Auffassung kritisch auseinanderzusetzen und einen eigenen Standpunkt zu erarbeiten. Der vorliegende Text kann und will kein Handbuch oder Nachschlagewerk sein, sondern eine kritische Einführung in ein kontroverses intellektuelles Terrain. Sein Inhalt ist kein "Lelnstoff", der sich 9

passiv rezipieren und abfragen läßt -- er muß aktiv durchdacht werden. Deshalb stellt dieses Buch einen Anspruch an seinen Leser: Es will im Zusammenhang gelesen und kritisch diskutiert werden.

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Erster Teil Zur Standortbestimmung der Soziologie

Kapitel I: Der allgemeine Problemhorizont der Soziologie

Die Soziologie, von der hier die Rede sein wird, soll als empirische Wissenschaft bzw. als Erfahrungswissenschaft verstanden werden. Erfahrungswissenschaftliche Forschung ist eine Tätigkeit, die darauf abzielt, Menschen mit "Wissen" zu versorgen - und zwar mit nutzbringendem Wissen, das ihnen eine wirklichkeitsbezogene Orientierung in der Welt ermöglichen soll und ihnen Techniken zur Bewältigung ihres Daseins verfiigbar macht. Dieses Wissen wird durch die systematische Auswahl, Beschreibung und Analyse von bestimmten, dem jeweiligen menschlichen Erkenntnisinteresse und Wahrnehmungsvermögen zugänglichen Sachverhalten gewonnen. Das gilt für die Naturwissenschaften, die sich um die Erforschung der naturgegebenen "Umwelt" des Menschen bemühen, ebenso wie für die empirischen Humanwissenschaften, die sich mit dessen sozio-kultureller "Mitwelt" befassen. Den Humanwissenschaften gehört - neben anderen Fachdisziplinen, wie z. B. den Sprach- und Geschichtswissenschaften, der Nationalökonomie oder der Psychologie - auch die Soziologie an. Es läßt sich nun zeigen, daß sowohl die Natur- wie auch die Humanwissenschaften jeweils als Antwort auf eines von zwei grundlegenden Daseinsproblemen angesehen werden können, mit denen sich der Mensch im Verlauf seiner Geschichte auseinandergesetzt hat: Der Mensch mußte immer (also auch schon vor dem Entstehen der empirischen Wissenschaften) in der Lage sein, sich in seiner natürlichen Umwelt und in seiner sozio-kulturellen Mitwelt einigermaßen zuverlässig zu orientieren, um seine Existenz als Gattung zu erhalten. Diesen Grundsachverhalt der Menschheitsgeschichte wollen wir im folgenden zum Ausgangspunkt nehmen, um zu zeigen, welche Bedeutung der Wissenschaft "Soziologie" im Rahmen der menschlichen Bemühungen um Daseinsbewältigung zukommt.

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1. Das Erkenntnisinteresse der Naturwissenschaften: Naturbeherrschung Zu allen Zeiten war es unerläßlich, daß der Mensch sich in irgendeiner Weise in seiner natürlichen Umwelt zurechtfand - und zwar in erster Linie, um sein biologisches Überleben zu sichern, dann aber auch, um dieses Überleben möglichst lebenswert zu gestalten. Mit anderen Worten, der Mensch hatte von jeher ein Interesse daran, die Natur zu "kultivieren", um sie beherrschen zu können. D. h., er mußte die prinzipiell unübersehbare Vielfalt und Bedrohlichkeit der naturgegebenen Umwelt auf sein eigenes Menschenrnaß reduzieren, indem er die Natur für sich "verständlich" machte, um (entsprechend seinem jeweiligen "Naturverständnis") auf sie einwirken zu können. In früheren und weniger differenzierten Gesellschaften wurde das Problem der Naturbewältigung weitgehend mit Hilfe von magischen, religiösen oder anderen, nur begrenzt sachgerechten Naturverständnissen "gelöst". Die daraus resultierenden technischen Erfolge blieben dementsprechend bescheiden. - Diese Sachlage konnte sich erst von dem Augenblick an grundlegend verändern, als der Mensch begann, sein von alters her überkommenes Naturverständnis in systematischer Weise zu korrigieren, so daß es der Realität möglichst gerecht zu werden vermochte. Die in den letzten Jahrhunderten im Rahmen der europäischen Kulturentwicklung entstandenen exakten Naturwissenschaften und die darauf aufbauende moderne Technologie und Medizin sind die Träger dieser neuen und sachgerechteren Einstellung des Menschen gegenüber seiner natürlichen Umweltl. Mit ihrer Hilfe verschafft sich der Mensch die Möglichkeit zur Emanzipation von naturgegebenen Zwängen, indem er sie erkennt und in seine Dienste nimmt. Diese Emanzipation kann freilich nur dann gelingen, wenn Naturwissenschaft und Technik nicht als einseitige Herrschaftsinstrumente mißbraucht werden oder sich soweit verselbständigen, daß sie den Interessen der Mehrheit aller Betroffenen zuwiderlaufen.

Als naturgegebene "Umwelt" des Menschen (und damit als Gegenstand der naturwissenschaftlichen Forschung) betrachten wir nicht nur die Gesamtheit aller nichtmenschlichen, von Naturgesetzlichkeiten bestimmten Sachverhalte, sondern auch die natürlichen Gegebenheiten des menschlichen Organismus selbst; denn diese sind nicht - wie die sozio-kulturelle "Mitwelt" - das Produkt sinnvollen menschlichen Handeins, sondern sie können allenfalls von diesem beieinflußt oder kontrolliert (und damit "sozio-kulturell überformt H ) werden; vgl. dazu unten, Kapitel IV, Abschnitt 1 und 4.

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2. Die Doppelfunktion aller Kultur: Entlastung und Zwang 2 Ebenso alt wie die Geschichte der menschlichen Naturbewältigung ist auch die Geschichte der menschlichen Kultur. Denn indem der Mensch Gedanken, Verfahrensweisen und Geräte entwickelte, mit deren Hilfe er sich (mehr oder weniger sachgerecht) mit der Natur auseinandersetzen konnte, zog er die Natur gleichsam in seinen eigenen Einflußbereich hinein. Er begann, sie zu kultivieren. Die Kultivierung der Natur durch den Menschen - und damit zugleich die Kultivierung des Menschen selbst - wurde aber nur in dem Maße möglich, wie es ihm gelang, sein eigenes Zusammenleben und die Zusammenarbeit mit seinen Mitmenschen zu regeln. Denn die Denkund Verhaltensweisen des Menschen sind keineswegs so weitgehend durch seine biologische Konstitution festgelegt wie bei anderen Lebewesen. Der naturgegebene Spielraum, innerhalb dessen jeder Mensch seine Beziehungen zur natürlichen Umwelt und zu seinesgleichen prinzipiell beliebig ausgestalten könnte, ist vielmehr so beträchtlich, daß die Gattung Mensch in einem "ungebundenen Naturzustand" überhaupt nicht existenzfähig wäre, sondern nur in vergesellschafteter Form: Wäre dem nicht so, so wäre ein kontinuierliches und aufeinander abgestimmtes Zusammenarbeiten, wie es zur Naturbewältigung unerläßlich ist, unmöglich; denn das Verhalten von Menschen "im Naturzustand" müßte unberechenbar und unkoordiniert bleiben, weil ihnen ja eine verhaltenssteuernde Instinktausstattung weitgehend fehlt. Wenn der Mensch aber dennoch in der Lage ist, die in einer bestimmten Situation jeweils denkbaren Handlungsalternativen soweit zu reduzieren und unter Kontrolle zu bringen, daß Verhaltensweisen einigermaßen voraussehbar werden, so deshalb, weil an die Stelle von Instinkten eine andere Steuerungsinstanz tritt: Menschen sind fähig, sich über ihr jeweiliges Handeln im voraus mit den Betroffenen zu verständigen. Allerdings - sie pflegen nicht in jeder Situation ein neues Einverständnis darüber herzustellen, welche Verhaltensweise sie jeweils wählen wollen. Denn ein solches Vorgehen wäre aufwendig und für den einzelnen allzu belastend; außerdem würde es eine längerfristige Voraussehbarkeit und Stabili2

Als Einftihrungslektüre zu der in diesem Abschnitt erörterten Thematik sind besonders zu empfehlen: P. BergerjT. Luckmann. Die gesellschaftliche Kon· struktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 1969, Teil II; N. Luhmann, Soziologische Aufklärung, in: Soziale Welt 18/1967, S. 97-123; H. Popitz, Soziale Normen, in: Archives Europeennes de Sociologie, 2/1961, S. 185-198.

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sierung des menschlichen Zusammenlebens unmöglich machen. Deshalb hat sich der Mensch - schon alleine, um das unerläßliche Mindestmaß an kontinuierlicher Kooperation zu gewährleisten, das für die Aufgabe der Naturbewältigung erforderlich ist - ein Instrumentarium geschaffen, mit dessen Hilfe er den in seiner biologischen Konstitution begründeten Beliebigkeitsspielraum dauerhaft kontrollieren und steuern kann - die "Kultur": In jeder Gesellschaft steht eine Vielzahl von Denk- und Sprachformen, Wertvorstellungen, Verhaltensregeln, Techniken, aber auch von Geräten, Verkehrswegen, Gebäuden usw. zur Verfügung, deren jeweilige Bedeutungen und Anwendungsmöglichkeiten von den beteiligten Individuen erlernt und als "verbindlich" angenommen werden 3 • Man kann deshalb sagen, daß alle Angehörigen einer Gesellschaft (bzw. bestimmter Gruppierungen in einer Gesellschaft) über einen gewissen Fundus an gemeinsamen Kenntnissen und Erfahrungen darüber verfügen, welches Verhalten von ihnen in bestimmten Situationen jeweils erwartet wird und welches Verhalten sie selbst bei anderen erwarten können. Die Kultur wird so zur "vorentscheidenden" Instanz, durch die den menschlichen Aktionen und Interaktionen ein Großteil von ihrer ursprünglichen Unberechenbarkeit genommen wird: die Kultur entlastet den Menschen von der ständigen Aufgabe der Unterscheidung und Entscheidung zwischen einer Unzahl von denkbaren Handlungsmöglichkeiten, indem sie ihm jeweils ein reduziertes Feld von verbindlichen Denk- und Verhaltensalternativen (oder -imperativen) vorgibt. Auf diese Weise ermöglicht sie das Zustandekommen von aufeinander abgestimmten zwischenmenschlichen Beziehungen und sie ist infolgedessen auch die allgemeinste Existenzbedingung aller dauerhaften sozialen Gebilde bzw. von "Gesellschaft schlechthin". Denn die Kultur nimmt eine Schlüsselstellung bei der Bewältigung der beiden grundlegenden Daseinsprobleme des Menschen ein, 3

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Eine präzisere Bestimmung des Kulturbegriffes, den wir hier in Anlehnung an den in der neueren Soziologie und Kulturanthropologie üblichen Sprachgebrauch verwenden, erfolgt unten (Kapitel IV, Abschnitt 1). Schon hier muß aber folgendes betont werden: Der sozialwissenschaftliche Kulturbegriff ist nicht mit dem wertenden Kulturbegriff der Umgangssprache zu verwechseln, der "Kultur" von "Unkultiviertheit", "Primitivität" oder auch von "bloßer Zivilisation" unterscheidet. Der sozialwissenschaftliche Kulturbegriff umfaßt gleichermaßen "Kultur" und "Unkultur", wie sie in der Alltagssprache wertend unterschieden werden. (Vgl. dazu allgemein: A. L. Kroeberj C. Kluckhohn, Culture. A Critical Review of Concepts and Definitions, New York 1963, sowie Z. Bauman, Culture as Praxis, London und Boston 1973).

von denen wir bei unseren Darlegungen ausgegangen sind: Der jeweilige Erfolg des menschlichen Bemühens um Naturbeherrschung ist ebenso kulturbedingt wie die konkreten Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. - Das wissenschaftliche Interesse der Soziologie gilt in erster Linie diesem letztgenannten Aspekt der Kultur. Wenn im folgenden von "Kultur", "sozio-kultureller Ordnung" o. ä. die Rede sein wird, tritt deshalb die naturbezogene Komponente des Kulturbegriffes gegenüber dessen gesellschaftlicher Dimension in den Hintergrund 4 . Aus unseren bisherigen Überlegungen läßt sich nun die allgemeine Feststellung ableiten, daß aller Kultur gleichzeitig zwei gegenläufige Tendenzen innewohnen: Einerseits reduziert sie die in der biologischen Konstitution begründete Freiheit des Menschen, indem sie ihn bestimmten Zwängen unterwirft und ihn dadurch in ein (mehr oder weniger starres) Ordnungsgefüge eingliedert. Andererseits befreit sie ihn aber auch von dem dauerhaften Zwang, voraussetzungslose Entscheidungen treffen zu müssen. Sie bietet dem Menschen damit zumindest die Chance, seine Kräfte für ein selbstbewußtes und zielstrebiges Handeln freizusetzen, um so zu einer wirkungsvollen Auseinandersetzung mit seiner natürlichen Umwelt und zu einer möglichst vernunftgemäßen (bzw. "menschenwürdigen") Konstruktion seiner sozio-kulturellen Mitwelt gelangen zu können. - Es darf freilich nicht übersehen werden, daß diese Chance im Verlauf der Geschichte der menschlichen Gesellschaft nur teilweise genutzt worden ist. Denn der Mensch hat zwar bei der Naturbewältigung große Erfolge erzielt, und er hat dadurch seinen potentiellen Handlungsspielraum ständig erweitert; aber er hat bisher die Möglichkeiten noch keineswegs ausgeschöpft, die in der Tatsache begründet liegen, daß er selbst der Urheber und Produzent aller Kultur ist und daß er infolgedessen auch selbst die gesellschaftliche Ordnung, in der er lebt, vernunftgemäß aufbauen und verändern könnte. Stattdessen hat der überwiegende Teil der Menschheit sich zu allen Zeiten überlieferten und erlernten Verhaltensreglementierungen so unterworfen, als handle es sich dabei um unverrückbare Naturgesetzlichkeiten, die unreflektiert und unkritisch hingenommen werden müssens. Diese fatalistische Haltung mag in vorindustriellen Gesellschaf4 5

Auf den Zusammenhang zwischen dem materiellen und dem symbolischen Aspekt von Kultur wird in Kapitel IV, Abschnitt 4, ausftihrlich eingegangen. Dieser globale menschheitsgeschichtliche Befund bedarf keines speziellen Beleges. Denn es dürfte wohl keinen Historiker, Völkerkundler oder Soziologen geben, der ernsthaft bestreitet, daß die meisten Menschen zu allen Zeiten

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ten nahezu unvermeidlich sein, deren sozio-kulturelle Ordnung die Mehrzahl der Menschen zu dauernder Auseinandersetzung mit undurchschaubaren Naturgewalten zwingt, um das physische Überleben der Gesamtheit zu gewährleisten. In modernen Industriegesellschaften sind hingegen weniger zwanghafte Formen sozio-kulturellen Lebens sehr wohl denkbar, weil dort die einengenden Naturzwänge mit technischen Mitteln immer weiter zurückgedrängt werden können.

3. Die historische Hypothek: Kultur als Ausdruck gesellschaftlicher Ungleichheit Die bisherige Menschheit hat also den von ihrer biologischen Beschaffenheit ermöglichten und durch ihre technischen Errungenschaften erweiterten Spielraum für eine bewußte und reflektierte Selbstbestimmung ihrer sozio-kulturellen Lebenswelt weitgehend ungenutzt gelassen, um statt dessen immer wieder "historisch gewachsene" sozio-kulturelle Problemlösungen ungeprüft zu übernehmen und an die Nachkommenschaft weiterzugeben. Daß dies so ist dafür gibt es freilich Ursachen, die wir zumindest andeutungsweise aufzeigen müssen, wenn wir die allgemeinen Existenzbedingungen und Ziele der empirischen Humanwissenschaften sowie den Standort der Soziologie verständlich machen wollen. Wie wir gesehen haben, ist in jedem Falle die Existenz irgendeines verbindlichen Rahmens von kulturellen Regelungen erforderlich, um ein kontinuierliches Zusammenleben von Menschen zu ermöglichen. Damit aber ein kultureller Rahmen wirkliche Verbindlichkeit innerhalb einer Gesellschaft erlangen kann, müssen zumindest die beiden folgenden allgemeinen Grundvoraussetzungen gegeben sein: Einerseits ist es unerläßlich, daß alle Menschen mit den sie betreffenden Denk- und Verhaltensmustern soweit bekannt gemacht werden, daß sie ihre Aktionen und Interaktionen überhaupt darauf abstimmen können. Andererseits muß aber auch gewährleistet sein, daß die kulturellen Spielregeln von allen Beteiligten wenigstens soweit eingehalten werden, daß das jeweils bestehende System von aufeinander bezogenen und vorhersehbaren Verhaltensweisen nicht in eine völlige Regellosigkeit zurückfällt. Mit den jeweils vorgegebenen sozio-kulturellen Bedingungen zu sehr verhaftet gewesen sind, als daß sie zu einer bewußten und grundlegenden Einwirkung auf ihre gesellschaftlichen Daseinsformen fahig gewesen wären.

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anderen Worten, überall dort, wo Menschen gesellschaftliche Beziehungen unterhalten, die an einer gemeinsamen Kultur orientiert sind, laufen bestimmte gesellschaftliche Prozesse ab, vermittels derer die jeweiligen kulturellen Prinzipien erlernt und in ihrer Einhaltung kontrolliert werden. Es ist selbstverständlich, daß diese beiden kulturerhaltenden Prozesse - die üblicherweise als "Sozialisationsprozeß" und als ,'prozeß der sozialen Kontrolle"6 bezeichnet werden - in Form von verbindlichen Denk- und Verhaltensmustern in der Kultur selbst verankert sein müssen. - Das alles gilt, wie gesagt, für jede Kultur. Wenn wir uns nun aber der Feststellung entsinnen, daß der konkrete Inhalt einer bestimmten, historisch einmaligen kulturellen Ordnung niemals naturgegeben sein kann, sondern daß er immer das Produkt menschlichen Handeins ist, und wenn wir uns weiterhin der These erinnern, daß der überwiegende Teil der Menschheit bisher niemals bewußt an der Gestaltung der grundlegenden Merkmale seiner sozio-kulturellen Mitwelt mitgearbeitet hat - dann müssen wir die Frage stellen, wer auf die konkrete Ausprägung von sozio-kulturellen Systemen Einfluß zu nehmen pflegt und wie dies jeweils vor sich geht. Von Fall zu Fall wird die Frage nach dem "Wer? " und dem "Wie? " eine unterschiedliche empirische Antwort finden. Dennoch läßt sich aber eine allgemeine Orientierungsthese formulieren, die plausibel genug ist, um der humanwissenschaftlichen Einzelforschung bei der Analyse konkreter sozio-kultureller Einzelphänomene als fruchtbare Ausgangsbasis und Richtschnur dienen zu können: Man kann von der Annahme ausgehen, daß die Entstehungsgeschichte und die Struktur empirisch vorfindbarer sozio-kultureller Ordnungen nicht von einer schicksalhaften, dem menschlichen Zugriff völlig entzogenen Mechanik bestimmt werden. Es kann vielmehr stets - bis zum Erweis des Gegenteiles - mit gutem Grunde vermutet werden, daß die in einer Gesellschaft herrschenden Denk- und Verhaltensmuster nicht den zentralen Interessen derer zuwiderlaufen, die in dieser Gesellschaft über die meiste Macht, den größten Reichtum, das beste Wissen und/oder das höchste Ansehen verfügen. Diese "Faustregel" ist notwendigerweise pauschal, und im konkreten Einzelfall dürfte sie sich häufig als ungenau oder korrekturbedürftig erweisen. Denn sie zielt lediglich auf die generelle Abhängigkeitsbeziehung zwischen "den" Herrschenden und "der" Kultur in einer 6

Auf diesen Problemkreis werden wir unten (Kapitel IV, Abschnitt 2) genauer eingehen.

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Gesellschaft ab, während die konkreten sozio-kulturellen Verhältnisse, mit denen sich die empirische Forschung befaßt, in der Regel weitaus komplexer sind. So ist es zweifellos von Fall zu Fall verschieden, in welchem Maße bestimmte, durch die Anhäufung von Macht, Reichtum, Wissen und/oder Ansehen privilegierte Gruppen oder Individuen 7 in einer Gesellschaft jeweils von der überlieferten sozio-kulturellen Ordnung begünstigt werden oder selbst gezielten Einfluß auf diese nehmen - aber man kann doch erwarten, daß ihnen in der Regel genügend politischer Einfluß, wirtschaftliches Potential, strategische Kenntnisse und gesellschaftliche Wertschätzung zur Verfügung stehen, um gegen das Aufkommen von solchen kulturellen Neuerungen Widerstand leisten zu können, die der Erhaltung ihrer Privilegien nach ihrer Ansicht abträglich sind. Das heißt aber auch, daß stets mit gutem Grunde (und bis zum Nachweis des Gegenteiles) vermutet werden kann, daß die beiden für die Erhaltung einer kulturellen Ordnung strategischen Prozesse - nämlich die Prozesse der Vermittlung und der Kontrolle von kulturellen Denk- und Verhaltensmustern - in besonderem Maße von den Interessen der jeweils privilegierten Gruppen in der Gesellschaft beeinflußt sind. Wir sehen damit folgendes: Die Existenz irgendeiner (mehr oder weniger flexiblen) kulturellen Ordnung, die von den Betroffenen erlernt und eingehalten wird, ist für den Menschen lebensnotwendig, weil allein sie ihm zu der unerläßlichen stabilen Orientierung in seiner Umwelt und Mitwelt verhelfen kann, die ihm von seiner biologischen Konstitution versagt wird. In ihrer konkreten Ausprägung sind kulturelle Ordnungen indessen in aller Regel Ungleichheitsordnungen, die dem (inhaltlich nicht näher bestimmten) Bedürfnis nach einer stabilisierten Verhaltensorientierung, das allen in Gesellschaft zusammenarbeitenden und zusammenlebenden Menschen gemein ist, nur um den Preis der Bevorzugung weniger Menschen Genüge tun. Dieser Zustand ist nicht denknotwendig. Er ist aber in der bisherigen Geschichte Wirklichkeit gewesen. Denn zumindest in allen differenzierteren Gesellschaften, die uns bekannt sind, ist die ungleiche Verteilung von Macht, Reichtum, Wissen und Ansehen kulturell 7

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Es versteht sich, daß mit dieser Formulierung die (nur empirisch zu beantwortende) Frage nicht präjudiziert werden soll, ob die genannten Privilegien jeweils in ein und derselben Hand zusammenfallen oder ob in einer Gesellschaft verschiedene, mehr oder weniger voneinander isolierte politische, wirtschaftliche, geistige und Prestige-"Eliten" nebeneinander bestehen. (Zu den vier Dimensionen sozialer Ungleichheit - Macht, Reichtum, Wissen und Ansehen - vgl. unten, Kapitel IV, Abschnitt 4).

verankert und legitimiert. Deshalb sind beispielsweise alle die Daseinserleichterungen, die die europäische Kulturentwicklung mit sich gebracht hat, von der geschichtlichen Hypothek belastet, daß sie immer in Systeme gesellschaftlicher Ungleichheit eingebettet gewesen sind und womöglich direkt zu deren Stabilisierung beigetragen haben.

4. Das Erkenntnisinteresse der Humanwissenschaften: Zwischen Anpassung und Emanzipation 8 Wenn wir nun, auf der Grundlage dieser Vorüberlegungen, erneut die Frage nach dem allgemeinen Erkenntnisziel der Humanwissenschaften aufwerfen, um den speziellen Standort der Soziologie innerhalb dieser lokalisieren zu können, so kann offensichtlich keine ebenso eindeutige Antwort gegeben werden wie im Falle der Naturwissenschaften: Wir sind davon ausgegangen, daß aus der Konfrontation des Menschen mit seiner natürlichen Umwelt dessen generelles Interesse an der Naturbeherrschung erwächst, das schließlich zur Entfaltung der Naturwissenschaften geführt hat. In Analogie dazu können wir jetzt mit der Feststellung beginnen, daß der Mensch bei der Konfrontation mit seiner sozio-kulturellen Mitwelt ein allgemeines Interesse daran hat, die vorhandenen Denk- und Verhaltensmuster "richtig" verstehen und anwenden zu können, weil er sonst (aufgrund seiner biologischen Mängel) orientierungs- und schutzlos wäre. Mit anderen Worten, der Mensch ist daran interessiert, an einer "funktionierenden" kulturellen Ordnung teilhaben zu können, die das Zusammenarbeiten und Zusammenleben mit seinesgleichen möglichst verläßlich regelt. Es liegt demnach auch in seinem Interesse, daß die jeweils geltende kulturelle Ordnung von allen Beteiligten erlernt, eingehalten und womöglich auch anerkannt wird. - In früheren und weniger differenzierten Gesellschaften konnten diese Mindesterfordernisse sozio-kultureller Existenz in der Regel gewährleistet werden, ohne daß es der Zuhilfenahme von spezialisierten Humanwissenschaften bedurft hätte. Denn in einer gewissen Vereinfachung kann man sagen, daß in den sogenannten "Primitivgesellschaften" alle Mitglieder über nahezu den gesamten Fundus des 8

Zur ersten Einftihrung in die Thematik dieses Abschnittes kann empfohlen werden: J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: Ders., Technik und Wissenschaft als "Ideologie", Frankfurt/M. 1968, S. 146-168; H. Klages, Soziologie zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit. Plädoyer ftir eine projektive Soziologie, Köln und Opladen 1968.

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jeweils vorhandenen kulturellen Wissens verfügen: Sie wissen "alIes" darüber, weIche Denk- und Verhaltensweisen als die richtigen gelten, um beispielsweise Kinder zu erziehen, Feinde zu bekämpfen, Güter zu tauschen, Behausungen zu bauen, Ehen zu schließen, Reisen anzutreten oder die Götter zufriedenzustellen. Erst in dem Maße, wie das angehäufte kulturelle Wissen komplizierter und spezialisierter wird, so daß es das Auffassungsvermögen des einzelnen übersteigt, entsteht das Bedürfnis, Wissen in einer besonderen, "wissenschaftlichen" Form zu sammeln und zu systematisieren, um so die im Verlaufe der Geschichte erprobten Lösungen der menschlichen Daseinsprobleme vor dem Vergessen zu bewahren, jederzeit verfügbar zu halten und womöglich noch zu vervollkommnen. Man könnte sich nun mit der Aussage begnügen, es sei die Funktion von Humanwissenschaften wie etwa der Religions- und Moralwissenschaften, der Rechtswissenschaft, der Erziehungswissenschaft oder auch der Soziologie, dem Menschen Unterstützung für eine möglichst erfolgreiche Anpassung und Einordnung in seiner sich differenzierenden und komplizierenden sozio-kulturellen Mitwelt zu gewähren. Das ist jedoch eine einseitige Bestimmung des leitenden Erkenntnisinteresses der Humanwissenschaften. Denn dem soeben erläuterten allgemeinen Interesse nach möglichst reibungsloser Anpassung an vorgegebene sozio-kulturelle Verhältnisse steht das ebenso grundlegende Interesse aller der Menschen gegenüber, die von der jeweils bestehenden Ungleichheitsordnung benachteiligt werden und die infolgedessen an der Emanzipation 9 von erniedrigenden kulturellen Zwängen interessiert sind. Deshalb haben die Humanwissenschaften seit ihrer Entstehung immer dem Dilemma gegenübergestanden, gleichzeitig zweierlei Interessen zu dienen: Indem sie die im Verlauf der Geschichte angesammeltenund erprobten sozio-kulturellen Errungenschaften so zu erfassen und zu systematisieren suchen, daß sie damit prinzipiell allen Menschen zu einer möglichst wirklichkeitsgerechten Orientierung und Einordnung 9

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Die Zielsetzung von Individuen, Gruppen oder politischen Bewegungen, denen es um die Selbstbefreiung von historisch überlieferten, über lange Zeit als "normal" oder "legitim" hingenommenen politischen, ökonomischen, rechtlichen, geistigen etc. Abhängigkeits. oder Unterdrückungsverhältnissen geht, wollen wir unter dem Oberbegriff "Emanzipation" zusammenfassen. Als Inbegriff aller Emanzipationsbestrebungen kann der Wahlspruch der Französischen Revolution - Liberte, Egalite, Fraternite - gelten, der in zeitgemäßer Form wohl lauten muß: Ein Höchstmaß an Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit flir alle Menschen.

in ihrer komplexen sozio-kulturellen Mitwelt verhelfen können, kommen sie gleichzeitig den speziellen Interessen jener Minderheit von Mächtigen, Reichen, Wissenden und/oder Angesehenen entgegen, auf die alle bisher bekannten kulturellen Ordnungen mehr oder weniger zugeschnitten sind. Das bedeutet aber, daß der Humanwissenschaftler, der die von ihm erforschten sozio-kulturellen Tatbestände als bloße Gegebenheiten hinnimmt, ohne deren einseitigen (von Ungleichheit und Ungerechtigkeit geprägten) Entstehungszusammenhang mitzureflektieren, unweigerlich selbst in den Bann der herrschenden Verhältnisse - und damit in den Bann der "Herrschenden" - gezogen wird. Dieser Gefahr kann der Humanwissenschaftler nur entgegenwirken, wenn er die sozio-kulturellen Sachverhalte niemals als reine Tatsachen gleichsam als des Menschen "zweite Natur" - betrachtet, sondern wenn er sie immer im Hinblick auf ihre problematische Entstehung, ihre Veränderbarkeit und mögliche Humanisierung analysiert. Denn jede sozio-kulturelle Ordnung ist von Menschen gemacht; sie trägt deshalb den Stempel menschlicher Interessen und menschlicher Geschichte - aber sie kann auch von Menschen verändert werden 10• Das ist der Grundsachverhalt, den die Humanwissenschaften immer zu berücksichtigen haben und der sie von den Naturwissenschaften un terscheidet. Aus dieser Feststellung folgt nun freilich nicht, daß die beiden erkenntnisleitenden Interessen der Humanwissenschaften - nämlich "Anpassung an" und "Emanzipation von" vorgegebenen sozio-kulturellen Lebensbedingungen - sich gegenseitig ausschlössen. Nach unserer Auffassung stehen sie vielmehr in einer unauflöslichen Wechselbeziehung zueinander. Sie müssen deshalb stets gemeinsam berücksichtigt werden, wenn die human wissenschaftliche Forschung und Erkenntnis vor Einseitigkeit bewahrt werden soll. - Allerdings, so plausibel diese Forderung auch erscheinen mag, sie entspricht durchaus nicht unbedingt der wissenschaftsgeschichtlichen Realität: Bereits ein kurzer Seitenblick auf die Entstehungsgeschichte verschiedener Humanwissenschaften in Europa läßt erkennen, daß bei ihnen 10 Genau auf diesen Zusammenhang bezieht sich eine der berühmtesten Formulierungen von Karl Marx: ,,Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden." (K. Marx, der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Berlin 1965, S. 15)

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ursprünglich das Erkenntnisinteresse der Anpassung eindeutig im Vordergrund gestanden hat. So hat beispielsweise in den Rechts- und Verwaltungswissenschaften seit alters die Aufgabe der Durchsetzung und "Rationalisierung" von geltender Ordnung den Ton angegeben. Die verschiedenen historischen Wissenschaften haben sich immer wieder damit befaßt, den jeweils herrschenden sozio-kulturellen Verhältnissen einen geschichtlichen "Sinn" zu verleihen und tradierte "Kulturgiiter" am Leben zu erhalten. Sie haben, ebenso wie die Religions· und Moralwissenschaften und die auf diesen basierenden erziehungswissenschaftlichen Versuche, aktiv dazu beigetragen, daß die Menschen ftir sie geltende sozio-kulturelle Ordnung als die "richtige" erkennen und anerkennen lernten.

Nun ist es bestimmt nicht zu bestreiten, daß es in den genannten Humanwissenschaften zu allen Zeiten auch kritische Ansätze gegeben hat. Ihre Wirkungsmöglichkeiten blieben jedoch zunächst recht beschränkt. Denn die Themenschwerpunkte der Humanwissenschaften liegen doch zu eindeutig im Einzugsbereich der beiden oben erwähnten "kulturerhaltenden" Grundprozesse (nämlich der Prozesse der Vermittlung und Kontrolle von kulturkonformen Denk- und Verhaltensmustern), als daß sie sich den Einflüssen emanzipationsfeindlicher Interessen ohne weiteres entziehen könnten. Versuche zu wissenschaftlicher Fundierung und wirkungsvoller Verbreitung emanzipatorischer Ideen müssen deshalb überall dort mit Widerstand rechnen, wo die von ihnen analysierte sozio-kulturelle Ordnung als einseitige Stütze gesellschaftlicher Ungleichheiten und Privilegien fungiert. Es kann infolgedessen nicht Wunder nehmen, daß die Humanwissenschaften in ihrer Frühzeit großenteils als Anpassungsoder gar Herrschaftswissenschaften gewirkt haben. Diese "Frühzeit" dauert stellenweise noch bis heute an - aber man kann dennoch nicht übersehen, daß der langsam anlaufende Prozeß der Liberalisierung in verschiedenen Gesellschaften günstigere Existenzbedingungen für die Humanwissenschaften ermöglicht hat. Es gelang ihnen, eine beschränkte Autonomie zu gewinnen und sich dadurch zumindest teilweise von direkten Einflußnahmen durch Vertreter einseitiger Interessen zu lösen. Genau in dieser Epoche der beginnenden Liberalisierung und Demokratisierung ist nun eine der jüngsten Humanwissenschaften, die Soziologie, entstanden. Sie hat die Erkenntnisziele der "Anpassung" und der "Emanzipation" als zwei einander bekämpfende wissenschaftliche Prinzipien vorgefunden, und ihre bisherige Geschichte hat sich zwischen diesen beiden Polen abgespielt. Wenn wir in den folgenden Abschnitten versuchen werden, die Problemstellung und die Aufgaben der Soziologie genauer zu bestimmen, dürfen wir 24

deshalb den (zwar nicht unaufhebbaren, aber dennoch höchst wirklichen) Gegensatz zwischen "Anpassung" und "Emanzipation" nicht aus den Augen verlieren.

5. Das wissenschaftliche Ziel der Soziologie: Aufdeckung von Bedingungen ftir Stabilität und Wandel sozio-kultureller Wirklichkeit Unsere bisherigen Überlegungen haben deutlich gemacht, daß eine Wissenschaft wie die Soziologie nur dann angemessen dargestellt und beurteilt werden kann, wenn ihr Entstehungszusammenhang und ihre grundlegenden Erkenntnisinteressen miteinbezogen werden. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, daß die Soziologie lediglich als das vergängliche Produkt einer einmaligen historischen Interessenkonstellation anzusehen ist. Wir sind vielmehr der Auffassung, daß die soziologische Denkweise auch dann noch ihre Existenzberechtigung behält, wenn diese ursprüngliche Konstellation nicht mehr gegeben ist. Denn es läßt sich zeigen, daß die besondere Betrachtungsweise der Soziologie - ungeachtet der Tatsache, daß sie sich erst in jüngster Zeit zu entfalten begann - durchaus nicht nur rur eine begrenzte Epoche anwendbar ist. Die Soziologie befaßt sich vielmehr mit einer eigenständigen Problemstellung, die sich auch unabhängig von Raum und Zeit bestimmen (allerdings nicht erforschen) läßt. Man könnte nun einwenden, daß die Soziologie so eigenständig nicht sei, denn ihr allgemeiner Erkenntnisgegenstand sei die "sozio-kulturelle Wirklichkeit", und sie unterscheide sich folglich in nichts von anderen Humanwissenschaften. Das ist insofern zutreffend, als die Soziologie ihr empirisches Forschungsmaterial tatsächlich derselben sozio-kulturellen Mitwelt entnimmt wie die anderen Humanwissenschaften auch; sie ist deshalb - ebenso wie beispielsweise die Geschichtswissenschaft oder die Philologie - bei der praktischen Forschungstätigkeit auf die Methode des "Sinnverstehens"·· angewiesen, die in den Naturwissenschaften nicht anwendbar ist. Aber die allgemeine Fragestellung, die die Soziologie an die (allen Humanwissenschaften gemeinsame) sozio-kulturelle Wirklichkeitsdimension heranträgt, ist eine besondere. Durch sie wird ihre Eigenständigkeit bestimmt. Diese spezifisch "soziologische" Fragestellung ist vermutlich ebenso alt wie die Geschichte der Philosophie - aber erst im 18.

11 Auf das Problem des "Sinnverstehens" werden wir unten (Kapitel IV, Abschnitt 2) noch eingehen.

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und 19. Jahrhundert ist eine gesellschaftliche Situation entstanden, in der sie genügend praktische Bedeutung gewinnen konnte, um zur Grundlage für eine selbständige Wissenschaft zu werden. Immer wieder in der menschlichen Geistesgeschichte ist die Frage aufgeworfen worden, worauf es jeweils zurückzuführen sei, daß das Zusammenleben und Zusammenarbeiten der Menschen sich einerseits in relativ dauerhaften Formen abzuspielen pflegt, daß aber andererseits diese Lebensformen von Ort zu Ort unterschiedlich sind un sich durchaus auch verändern können. Es hat im Laufe der Zeit eine Vielzahl von mehr oder weniger spekulativen Antworten auf diese Frage gegeben. Aber alle diese Antworten mußten für die praktische Lebensführung der Menschen solange ziemlich bedeutungslos bleiben, wie die Frage nach Stabilität und Wandel der sozio-kulturellen Verhältnisse kaum als wirklichkeitsnahes Problem empfunden werden konnte. Das war zweifellos im vorindustriellen Europa der Fall, dessen Gesellschaft und Kultur vielfach als "stabil" bezeichnet wird, weil die meisten sozio-kulturellen Wandlungsprozesse sich dort in einem so langsamen Rhythmus vollzogen, daß sie aus der Perspektive der betroffenen Menschen kaum als für sie bedeutungsvoll erkannt werden konnten. In der damaligen Zeit mochte es wohl für die "Beherrschten" ebenso wie für die "Herrschenden" genügen, wenn die bestehende sozio-kulturelle Ordnung mit dem Hinweis auf unüberprüfbare, metaphysische Ursachen, wie etwa die "Vorsehung", das "göttliche" oder das "natürliche Recht", die "Geschichte" oder auch einfach das "Schicksal", erklärt und gerechtfertigt wurde. Konkrete Ereignisse in der Gesellschaft, wie etwa Kriege und Katastrophen, waren dagegen am besten durch "Personalisierung" zu erklären, indem man entweder einzelne Individuen (Herrscher, Helden, Heilige, Hexen etc.) oder aber personifizierte Gruppen ("die" Barbaren, "die" Ungläubigen, "die" Juden) als Urheber identifizierte. Derartigen vorwissenschaftlichen Erklärungstypen ist die Grundannahme gemeinsam, daß die übergroße Mehrzahl der Menschen den Gegebenheiten des sozio-kulturellen Lebens ohnmächtig ausgeliefert ist. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts begannen sich jedoch die sozio-kulturellen Verhältnisse und der entsprechende Erfahrungshorizont der Menschen in Europa so entscheidend zu verändern, daß die älteren Formen der Gesellschaftsinterpretation nicht mehr ausreichten. In dieser Epoche wurde es offenkundig, daß ein so eindeutig von Menschenhand in Gang gesetzter Vorgang wie die Industrialisierung durchaus unvorhergesehene und schwerwiegende sozio-kulturelle Begleiterscheinungen mit sich brachte; man denke nur an die sog.

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Bevölkerungsexplosion, an die zunehmende Verstädterung und Landflucht und an die damit verbundene "soziale Frage" in Mittel- und Westeuropa. Vor diesem Erfahrungshintergrund konnte sich die Einsicht verbreiten, daß der Mensch zwar durchaus aktiv und wirksam in die Gestaltung seiner sozio-kulturellen Mitwelt einzugreifen vermag, daß er aber die Konsequenzen seines Tuns nicht ohne weiteres unter Kontrolle halten kann - es sei denn, er wäre in der Lage, die grundlegenden Mechanismen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens zu durchschauen. Damit gewann die allgemeine soziologische Fragestellung nach den "Bedingungen von Stabilität und Wandel der sozio-kulturellen Lebensformen" eine aktuelle und praktische Bedeutung. Gleichzeitig fand sie - in Gestalt des aufsteigenden Bürgertums - auch einen Interessenten: Vom Bürgertum gingen in dieser Epoche zunächst die Hauptimpulse zu einer aktiven Umgestaltung der überkommenen sozio-kulturellen Ordnung aus. Die französische Revolu tion wurde geradezu zum Symbol für die Erfahrung, daß durch bürgerliche Aktivität sehr wohl sozio-kulturelle Veränderungen in Gang gesetzt werden können, daß aber ihr Ablauf und ihre Konsequenzen ohne genaue Kenntnis der zugrundeliegenden Mechanismen nicht kontrollierbar sind. Zwei große Vorläufer der Soziologie, Auguste Comte (1798-1857) und Karl Marx (1818-1883), haben diese Erfahrung geteilt. Sie sind - trotz aller sonstiger Gegensätzlichkeiten - von der gemeinsamen Einsicht ausgegangen, daß ein bewußtes und in seinen Konsequenzen überschau bares Eingreifen in die komplexer werdende sozio-kulturelle Entwicklung nur möglich ist, wenn es gelingt, die ihr zugrundeliegenden und von niemandem beabsichtigten Wirkungszusammenhänge aufzuspüren und in die Strategie einzubeziehen. Beide waren sich außerdem darüber einig, daß dieses Ziel nicht mit Hilfe metaphysischer Spekulation erreicht werden kann, sondern daß es dazu der empirischen Erforschung konkreter Gesellschaften und Kulturen bedarf. Dieses Minimalprogramm gilt auch heute noch; es hält die verschiedenen Strömungen der neueren Soziologie zusammen. Denn auch der "moderne" Mensch wird in seinem Alltagsleben mit einer Vielzahl von schicksalsbestimmenden Sachverhalten konfrontiert (z. B. mit Arbeitslosigkeit oder Hochkonjunktur, mit Wohnungsnot oder Bildungsdefizit, mit Antisemitismus oder Weltraumflug, mit Wettrüsten oder "sexueller Revolution"), ohne daß er die ihnen jeweils zugrundeliegenden Wirkungszusammenhänge unmittelbar durchschauen kann. Ihre Aufdeckung ist eines der Ziele der gegenwärtigen Soziologie - ebenso wie schon ihrer Vorläufer Comte und Marx. Freilich bleibt sie dabei auch noch immer jener grundlegenden 27

Kontroverse zwischen "Anpassung" und "Emanzipation" verhaftet, die bereits am Beispiel von Comte und Marx aufgezeigt werden kann: Auguste Comte - der bekanntlich der Soziologie ihren Namen gab und sie gleichzeitig auf das Programm einer "positivistischen" Wissenschaft verpflichtete, wählte die in Theorie und Praxis so erfolgreichen Naturwissenschaften seiner Zeit zum uneingeschränkten Vorbild, dem alle Humanwissenschaften nachstreben sollten_ Der Soziologie stellte er deshalb die Aufgabe, die unwandelbaren Naturgesetze des gesellschaftlichen Lebens aufzudecken, von denen er annahm, daß sie die sozio-kulturelle Wirklichkeit in ihrer Statik und Dynamik eindeutig determinierten. Er betrachtete insbesondere die hierarchische Gliederung der Gesellschaft als eine solche unumstößliche Naturnotwendigkeit, deren Wurzeln er in den "natürlichen" Unterordnungsverhältnissen des Familienlebens, in den Erfordernissen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und letztlich in einem "allgemeinen Instinkt zur Unterwerfung" zu finden glaubte. Comte sah die gesellschaftspolitische Aufgabe der "positivistischen" Soziologie darin, der Einsicht in die (angeblichen) gesellschaftlichen Naturnotwendigkeiten allgemeine Anerkennung zu verschaffen, um auf diese Weise allen Menschen ein Zusammenleben in vollkommener "Harmonie" und "Solidarität" zu ermöglichen. Er mußte infolgedessen zum Fürsprecher der hierarchischen Gesellschaftsordnung seiner Zeit werden, und so nimmt es nicht wunder, wenn er die "positivistischen" Soziologen darauf verpflichtete, "alle gegenwärtige Gewalt bei ihren augenblicklichen Machthabern, wer diese auch sein mögen, zu befestigen und ( ... ) ihnen mehr und mehr mit den wahren Bedürfnissen der Völker übereinstimmende Verpflichtungen aufzuerlegen." 12 Wir sehen also, daß Comte bei seiner Suche nach den grundlegenden Bedingungen, auf die alle Stabilität und aller Wandel der sozio-kulturellen Wirklichkeit zurückzuführen sind, von der Grundannahme ausging, daß es sich dabei um invariante Naturgesetzlichkeiten handle, die dem menschlichen Zugriff völlig entzogen seien. Er hielt es deshalb für ein Gebot praktischer Klugheit, wenn der Mensch diese unveränderbare sozio-kulturelle Grundordnung erkennt und anerkennt, um sich ihr möglichst reibungslos anpassen und unterordnen zu können. Der emanzipationsfeindliche Konservatismus dieser Konzeption ist offenkundig: Comte bediente sich ihrer, um wesentliche Strukturmerkmale seiner eigenen, halb feudalen, halb bürgerlichen Gesellschaft (wie die patriarchalische F amilienordnung, das System der Arbeitsteilung und die gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse) zu Naturkonstanten zu erklären und sie damit jeder möglichen Kritik zu entziehen. Die Antipode Comtes, Karl Marx, hat sich selbst nie als "Soziologen" betrachtet. Ebenso lehnen auch viele heutige Soziologen jede Gemeinsamkeit mit ihm ab und dennoch ist es wohl zutreffend, wenn in einer 1968 erschienenen "Entwicklungsgeschichte des soziologischen Denkens" die neuere westliche Soziologie als

12 A. Comte, Rede über den Geist des Positivismus, Hamburg 1956, S. 161/3.

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eine "andauernde Debatte mit dem Geiste Marx" dargesteUt wird. 13• Marx sah seine Aufgabe nicht - wie der von den Naturwissenschaften faszinierte Comte primär darin, unwandelbare und unkritisierbare ,lleseUschaftliche Konstanten aufzuspüren. Ihm ging es vielmehr darum, ,,das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen "14, um durch seine Kritik dessen Außerkraftsetzung - und damit die Veränderung der sozio·kultureUen Verhält· nisse - zu beschleunigen. Für Marx ist ein geseUschaftsbestimmtes "Bewe· gungsgesetz" keineswegs eine unabänderliche Gegebenheit, an die es sich fUr aUe Zeiten resigniert anzupassen gilt. Es wird vielmehr von den in einer GeseUschaft zusammenarbeitenden und zusammenlebenden Menschen hervorgebracht, getragen und schließlich auch wieder aufgehoben. Denn ein solches "Gesetz" ist in seiner Wirksamkeit an bestimmte historische Bedingungen gebunden, die von den Menschen selbst geschaffen werden - nämlich an den jeweiligen Stand der technischen Entwicklung und wirtschaftlichen Produktivität in einer GeseUschaft sowie an die sich darauf aufbauenden sozio-kultureUen Lebensverhältnisse. Diese von Marx als "Produktivkräfte" und "Produktionsverhältnisse" bezeichneten historischen Bedingungen müssen sich notwendigerweise verändern, sobald sich die Produktivkräfte soweit entwickelt haben, daß sie "in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen (geraten) ... , innerhalb derer sie sich bisher bewegt hatten" 15. Die treibende Kraft, die zu einem derartigen geseUschaftlichen Umwälzungsprozeß fUhrt, ist der von Marx in aUen differenzierteren GeseUschaften der bisherigen Geschichte vorgefundene Grundwiderspruch zwischen den sozialen Klassen. Dieser ,,Klassengegensatz" ist überaU dort zu finden, wo .,Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und GeseU, kurz. Unterdrücker und Unterdrückte ... in stetem Gegensatz zueinander" stehen l6. Der Klassengegensatz wird von Marx letztlich zurückgefUhrt auf den unüberbrückbaren Interessenkonflikt zwischen den Wenigen, die in einer GeseUschaft jeweils über die materieUen Mi ttel verfUgen, die zur wirksamen Auseinandersetzung mit den Naturgewalten und zur erfolgreichen Güterproduktion erforderlich sind, und den Vielen, die zur Arbeit gezwungen sind, ohne über ihr Erzeugnis voU verfügen zu können. Aus diesen Klassengegensätzen resultieren Klassenkämpfe, die - wie gesagt - immer dann ~u einer völligen Umwälzung der Produktionsverhältnisse und zum Inkrafttreten eines neuen geseUschaftsbestimmenden "Bewegungsgesetzes" fUhren müssen, wenn der jeweils erreichte Stand der technischen Entwicklung und wirtschaftlichen Produktivität dies erforderlich macht. Marx geht nun davon aus, daß der Prozeß der Industrialisierung zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die materieUen Voraussetzungen dafUr geschaffen habe, daß eine hochdifferenzierte GeseUschaft ohne Wider-

13 Irving M. Zeitlin, Ideology and the Development of Sociological Theory, Englewood Cliffs, N. J. 1968, S. VIII. 14 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, Berlin 1960, S. 7 f. (Hervorhebung von Marx). 15 Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1963, S. 15. 16 Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei, Leipzig, o. J., S. 26 (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 7660).

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spruch, ohne Ausbeutung, ohne Klassen - und damit auch ohne kulturbeherrschende Ungleichheitsordnung - geschaffen werden kann_ Marx stellte seine gesellschaftswissenschaftliehe Forschung in den Dienst des ftir ihn - letzten großen Klassenkampfes zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie, der die endgültige Emanzipation der Menschen von gesellschaftlicher Unterdrückung und Ausbeutung einleiten sollte. Die bestehende sozio-kulturelle Ordnung der "bürgerlichen" Gesellschaft interessierte ihn deshalb nur im Hinblick auf ihren baldigen Untergang. Die Frage, welche sozio-kulturell verankerten Denk- und Verhaltensformen aufrechterhalten werden müßten, um den Zusammenhalt der von ihm erstrebten neuen Gesellschaft zu gewährleisten, trat demgegenüber in den Hintergrund.

Diese wenigen und notwendigerweise vereinfachenden Bemerkungen über Comte und Marx illustrieren, daß die Grundfrage der Soziologie nach den Bedingungen für Stabilität und Wandel gesellschaftlicher Strukturen - ebenso wie die prinzipielle Kontroverse zwischen "Anpassung" und "Emanzipation" - bereits in der Frühzeit des soziologischen Denkens gegenwärtig war. Das große Thema, an dem sich die Geister scheiden, ist das Problem der sozialen Ungleichheit, die in einem Falle als naturnotwendig, im anderen Falle als historisch bedingt und prinzipiell aufhebbar angesehen wird. Wir können heute, nach über hundert Jahren, die Gesellschaftsdiagnose von Marx nicht mehr ohne weiteres benutzen_ Noch weniger ist wohl mittlerweile der Ansatz Comtes zu gebrauchen. Auch auf die extreme Polarisierung zwischen "Anpassung" und "Emanzipation" als erkenntnisleitenden Interessen, die wir durch die Namen Comte und Marx symbolisiert haben, wollen wir uns nicht einlassen. Ebenso dürfen wir die Frage, ob die Soziologie dem Vorbild der Naturwissenschaften folgen und sich ausschließlich der Aufdeckung von "Naturgesetzen des Sozialen" verschreiben solle oder ob sie - als historische Wissenschaft - von der prinzipiellen Veränderbarkeit aller sozio-kulturellen Verhältnisse ausgehen müsse, nicht mit einem kategorischen "Entweder-Oder" beantworten_ Damit ist gesagt: Von den "Klassikern" können wir zwar nicht mehr umstandslos die Problemlösungen, aber sehr wohl die großen Themen der Soziologie übernehmen, die sich hinter dem Stichwort "soziale Ungleichheit" und den Begriffspaaren "Anpassung versus Emanzipation" und "Natur versus Geschichte" verbergen. Unser eigener gesellschaftstheoretischer Lösungsvorschlag freilich muß dem Erkenntnisstand und der Problemsituation unserer heutigen Gesellschaft angemessen sein. Zu diesem Zwecke werden wir im folgenden Kapitel versuchen, eine allgemeine "gesellschaftstheoretische Orientierung" für die Soziologie zu skizzieren, deren Aufgabe es sein soll, brauchbare Gesichtspunkte zu 30

liefern, an denen sich der Forscher bei der Analyse der heutigen sozio-kulturellen Wirklichkeit ebenso orientieren kann wie der Leser bei der Interpretation bereits vorliegender soziologischer Einzelbefunde.

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Kapitel 11: Eine gesellschaftstheoretische Orientierung für die Soziologie

1. Zur Verknüpfung von empirischer Forschung und Theorie: Das Konzept des soziologischen Strukturmodells Bevor wir uns an die Entfaltung einer "gesellschaftstheoretischen Orientierung" für die Soziologie heranwagen können, wird es erforderlich sein, einige Hinweise über deren Stellenwert innerhalb des soziologischen Erkenntnisprozesses zu geben. Wir müssen dabei notwendigerweise gewisse Überlegungen vorwegnehmen, die im zweiten Teil dieser Schrift nochmals aufgegriffen werden. Im ersten Kapitel haben wir betont, daß die heutige Soziologie ebenso wie schon ihre Vorläufer Comte und Marx - die Erforschung der sozio-kulturellen Wirklichkeit nicht auf rein spekulativem Wege, sondern mit Hilfe empirischer Methoden anstrebt. Wenn wir demzufolge die Soziologie als eine "Erfahrungswissenschaft" bezeichnen, so meinen wir damit folgendes: Wissenschaftliche Aussagen können in der Soziologie nur insoweit als verbindliche Information über real gegebene Sachverhalte anerkannt werden, wie ihre empirische Gültigkeit und Zuverlässigkeit mit den Mitteln praktischer Sozialforschung - also z. B. durch systematische Befragung, Beobachtung, Dokumentenanalyse o. ä. - bestätigt und intersubjektiv überprüft werden kann. Bei allen anderen empirisch orientierten Aussagen, die beispielsweise wegen ihres Abstraktionsgrades, wegen des begrenzten Wissensstandes der gegenwärtigen Soziologie oder auch wegen der Unzugänglichkeit oder der Komplexität des jeweiligen Forschungsobjektes nicht eindeutig belegt und kontrolliert werden können, soll der hypothetische Charakter und das spekulative Element offen dargelegt werden. - Soziologen der unterschiedlichsten wissenschaftlichen Richtungen akzeptieren für ihre Forschungsarbeit dieses Prinzip der intersubjektiven Überprüfung und Kritik. Es bestehen unter ihnen jedoch u. a. Meinungsverschiedenheiten darüber, ob die Soziologie sich grundsätzlich nur auf die Verwendung von solchem Datenmaterial beschränken solle, das mit Hilfe strenger empirischer Forschungsmethoden gewonnen worden ist, oder ob auch anderen, weniger formalisierten Erkenntnisquellen (z. B. der Primärerfahrung, Reflexion, Intuition) eine

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gleichberechtigte oder gar vorrangige Stellung zugebilligt werden müsse. Wir selbst werden in der vorliegenden Schrift eine vermittelnde Haltung einnehmen. Sie schlägt sich in der Formel nieder, daß die Forschungsmethoden der Soziologie stets so präzise sein sollten, wie es der jeweils geWählte Forschungsgegenstand und die entsprechende Problemstellung zulassen. Es ist allerdings offenkundig, daß selbst die ausgefeiltesten Techniken der empirischen Datengewinnung und -kontrolle allein noch nicht zu einer sinnvollen soziologischen Erkenntnis führen können - sie sind eine notwendige, aber noch keine hinreichende Voraussetzung für das Gelingen wissenschaftlicher Forschung: Ihnen kommt im Rahmen des gesamten Erkenntnisprozesses lediglich eine dienende Rolle zu. Denn sie ermöglichen allenfalls die verläßliche Beschreibung bestimmter Einzelmerkmale der sozio-kulturellen Wirklichkeit; sie können hingegen weder die Auswahl der jeweiligen wissenschaftlichen Fragestellung und des Forschungsobjektes bestimmen, noch können sie dessen Bedeu tung im Rahmen übergreifender struktureller Zusammenhänge lokalisieren. Diese Aufgaben sind nur zu bewältigen, wenn der konkrete empirische Forschungsvorgang auf ein Gerüst von allgemeineren theoretischen Annahmen bezogen werden kann. Eine eigenständige Darstellung und Diskussion von soziologischen "Theorien"l? bzw. theoretischen Ansätzen ist im Rahmen der vorliegenden Schrift nicht vorgesehen. Unser Hauptaugenmerk gilt vielmehr den begrifflichen Grundlagen soziologischen Denkens sowie deren wissenschafts- und gesellschaftstheoretischen Implikationen. Wie bereits oben in der Einleitung kurz begründet, beginnen wir damit, eine "gesellschaftstheoretische Orientierung" zu entfalten, die den allgemeinen Rahmen für die sich daran anschließenden wissenschaftstheoretischen und begrifflichen Erörterungen abgeben soll. Zu diesem Zweck müssen wir zunächst einige grundsätzliche Erwägungen zum Problem der soziologischen Theoriebildung und zum Verhältnis von empirischer Forschung und theoretischer Argumentation in der Soziologie anstellen. Wir sind oben davon ausgegangen, daß es ein allgemeines Ziel der Soziologie sei, Bedingungen für Stabilität und Wandel der sozio-kul-

17 Wir schreiben "Theorien" in Anflihrungszeichen, weil die Soziologie zumindest bis jetzt über keine Theorien im strengen Sinne verfUgt, mit deren Hilfe sich komplexe gesellschaftliche Strukturzusammenhänge auf rein deduktivem Wege erklären lassen. - Wir werden auf diese Thematik im Kapitel III mehrfach zurückkommen.

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turellen Wirklichkeit aufzudecken l8 , wir haben außerdem angedeutet, daß unter den Soziologen keine Einigkeit darüber bestehe, ob es sich bei diesen Bedingungen um zeitlos gültige Gesetzlichkeiten oder um prinzipiell veränderliche Sachverhalte handle. ~ Die meisten Soziologen befassen sich freilich nicht unmittelbar mit dieser generellen Problematik; sie bemühen sich vielmehr um die Erforschung von begrenzten Teilbereichen und Einzelproblemen des sozio-kulturellen Lebens. Sie sind dabei notwendigerweise zu gewissen Vereinfachungen gezwungen. Denn sie bestreiten zwar nicht. daß jedes spezielie Forschungsobjekt der Soziologie in eine Unzahl von Wirkungszusammenhängen und Beziehungen mit anderen Bestandteilen der soziokulturelien Realität verwickelt ist und daß es deshalb nur in Verbindung mit der Gesamtheit alier sozio-kulturelien Verhältnisse, in die es eingebettet ist, erschöpfend analysiert werden könnte; aber dennoch müssen sie auswählen und vereinfachen, um ihren Gegenstand nicht in der Komplexität der sozio-kulturellen Totalität aus den Augen zu verlieren. Mit anderen Worten, sobald der Soziologe sich einmal für die Untersuchung eines speziellen Problems entschieden hat, kann er nicht mehr "über alle Dinge gleichzeitig reden" ~ und das, obwohl er vermuten muß, daß sein Problem von allen diesen (sozio-kulturellen) "Dingen" in mehr oder weniger direkter Weise beeinflußt wird. Um in diesem Zwiespalt einen praktikablen Ausweg zu finden, kann der Soziologe zu dem theoretischen Instrument des Strukturmodelles greifen; d. h., er kann die bereits vorliegenden einschlägigen Forschungsergebnisse, die sein spezielles Thema betreffen, sowie allgemeinere soziologische Erkenntnisse und Überlegungen heranziehen, und er kann mit ihrer Hilfe versuchen, alle die sozio-kulturellen Zusammenhänge und Prozesse zu einem schematisierten Bild ~ zu einem "Modell" ~ zusammenzustellen, von denen vermutet werden darf, daß sie in einem Wirkungszusammenhang mit seinem unmittelbaren Forschungsobjekt stehen. Zu diesem Zweck wird der Forscher solche Merkmale der sozio-kulturellen Wirklichkeit auswählen, die sich erfahrungsgemäß als relativ stabil und wiederholbar erwiesen haben ~ d. h., er wird sich bemühen, bestimmte Strukturmerkmale 19 des sozio-kulturellen Lebens zu skizzieren und so miteinander in Beziehung zu setzen, daß er sein eigenes Forschungsproblem innerhalb dieser vereinfachenden theoretischen Rekonstruktion der

18 Vgl. dazu oben, Kapitel I, Abschnitt 5. 19 Auf den Begriff der "Struktur" werden wir unten (Kapitel IV, Abschnitt 4) genauer eingehen.

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Wirklichkeit eindeutig lokalisieren kann. Bei der konkreten Forschung kann er sich dann an diesem Strukturmodell orientieren: Er kann einigermaßen vorhersehen, welche empirischen Fragestellungen und Forschungsansätze bei der Untersuchung seines Problems vermutlich ergiebig sein werden, und er kann entsprechende Hypothesen formulieren, die dann im eigentlichen Forschungsvorgang überprüft werden. Er kann außerdem seine empirischen Befunde unter Bezugnahme auf das theoretische Strukturmodell plausibel interpretieren. Und er kann schließlich die ursprünglich verwendete Modellkonstruktion aufgrund seiner eigenen Forschungsergebnisse korrigieren und damit wirklichkeitsnäher werden lassen. In einer gewissen Vereinfachung kann man nun sagen, daß das theoretische Instrument des soziologischen "Strukturmodelles" zwei eng miteinander verknüpfte, aber doch unterscheidbare Aufgaben beWältigen muß: 1. Die wichtigsten strukturellen Bedingungen, die unmittelbar Einfluß auf das untersuchte Forschungsobjekt ausüben, sollen in dem Modell möglichst wirklichkeitsgerecht, differenziert und umfassend berücksichtigt sein. Wenn beispielsweise ein Soziologe aus irgendwelchen Gründen die "Autoritätsbeziehungen zwischen Ehepartnern in westdeutschen Arbeiterfamilien" untersucht, so kann er zunächst davon ausgehen, daß diese Autoritätsbeziehungen unter anderem von den Einkommens-, Besitz- und Wohnverhältnissen, von der Kinderzahl, der sozialen Herkunft, dem Ausbildungsniveau und der Arbeitssituation der Ehepartner, von ihren Umweltkontakten, von ihrer Denkweise, von bestimmten Moralvorstellungen, sozialen Normen, rechtlichen Gegebenheiten und vielen ähnlichen Faktoren "irgendwie" beeinflußt werden. Darüber hinaus hat der Forscher aber auch bereits bestimmte theoretische Vorstellungen darüber, auf welche Weise und mit welcher Intensität die verschiedenen Faktoren jeweils auf seinen Forschungsgegenstand einwirken und in welcher Beziehung sie untereinander stehen. M. a. W., er kann sich ein in seiner theoretischen Reichweite begrenztes Strukturmodell zusammenbauen, das die hauptsächlichen sozio-kulturellen Wirkungszusammenhänge wiedergibt, die sein Forschungsobjekt unmittelbar beeinflussen. Einzelne der theoretischen Annahmen, die in sein Modell eingegangen sind, kann er im Rahmen seiner empirischen Forschungsarbeit dann selbst überprüfen und gegebenenfalls korrigieren, die meisten anderen wird er wohl als plausible Hypothesen ungeprüft stehen lassen 20. 2. Würde sich der Forscher nun aber mit einem der,trtigen begrenzten Strukturmodell begnügen, das (wie in unserem Beispiel) lediglich den unmittelbaren Umkreis des Forschungsobjektes erfaßt, so wäre er kaum in der Lage, die von ihm aufgedeckten Detailstrukturen und Beziehungen sinnvoll zu interpretieren. 20 Vgl. dazu den Begriff der "Theorie mittlerer Reichweite" nach R. K. Merton, On Sociological Theories of the Middle Range, in: Ders., On theoretical Sociology, New York-London 1967, S. 39-72.

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Denn er müßte dann beispielsweise die von ihm ermittelten Einkommens-, Besitz- und Wohnverhältnisse der untersuchten Ehepartner, ihr Ausbildungsniveau, ihre Arbeitssituation oder die sie beherrschenden sozialen Normen als bloße Gegebenheiten hinstellen, ohne deren strukturelle Ursachen und Zusammenhänge systematisch miteinbeziehen zu können. Es müßten folglich gerade die grundlegenden Bauprinzipien der Gesellschaft außer Betracht bleiben, denen die untersuchten Arbeiterfamilien ihre (vermutlich wenig glücklichen) Einkommens-, Ausbildungs-, Arbeitsverhältnisse usw. zu verdanken haben. Deshalb muß gefordert werden, daß alle die relativ konkreten Strukturmodelle "mittlerer Reichweite", auf die sich die empirische Einzelforschung bei ihrer Detailarbeit stützt, in ein übergreifendes - und notwendigerweise abstrakteres- Strukturmodell eingebaut werden, wenn der Forschungsprozeß nicht perspektivlos und blind ftir größere Zusammenhänge bleiben soll. Die Aufgabe eines solchen Strukturmodelles ist es, dem Forscher Zugang zu den allgemeinsten Strukturzusammenhängen und Abläufen in der von ihm erforschten Gesellschaft - bzw. zu deren "Organisationsprinzipien,,21 - zu verschaffen. Derartige allgemeine Modelle wollen wir im weiteren auch ,.gesellschafts theoretische Strukturmodelle" nennen.

Zusammenfassend läßt sich demnach vorläufig sagen: Wenn die detaillierte empirische Erforschung von sozio-kulturellen Einzelphänomenen nicht zu einer gedankenlosen ,.empiristischen Fliegenbeinzählerei" degradiert werden soll, empfiehlt es sich, sie in ein Gefüge zunehmend allgemeiner werdender theoretischer Annahmen einzubauen. Ein "Strukturmodell mittlerer Reichweite" und ein übergreifendes ,.gesellschaftstheoretisches Strukturmodell" legen sich dann wie zwei konzentrische Kreise um das jeweils zur Debatte stehende konkrete Porschungsproblem und geben ihm erst seinen soziologischen Sinn.

2. Ein Bindeglied zwischen Theorie und Praxis: Das Konzept der gesellschafts theoretischen Orientierung Es wäre nun freilich ein Irrtum, wollte man annehmen, ein gesellschaftstheoretisches Strukturmodell könne jemals in der Lage sein, "die" Gesellschaftsstruktur naturgetreu abzubilden: Reine A bbildun~ gen von sozio-kultureller Realität sind in der Soziologie prinzipiell unmöglich. Denn die Soziologie kann sich ebensowenig wie andere Wissenschaften der Notwendigkeit zur Vereinfachung, zur Abstraktion und zur Auswahl von wissenschaftlichen Fragestellungen, Begrif21 Diesen Ausdruck übernehmen wir von J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1973, S. 30.

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fen, Methoden und Forschungsgegenständen entziehen. Insofern ist soziologische Erkenntnis - wie alle wissenschaftliche Erkenntnis zwangsläufig "einseitig", weil sie lediglich einen begrenzten Aspekt aus der vielfältigen und komplexen Totalität von denkmöglichen Forschungsproblemen herausabstrahiert. Das geschieht freilich nicht in einer völlig willkürlichen und zusammenhanglosen Weise: Wie jeder Wissenschaftler läl~t sich auch der Soziologe bei seiner theoretischen Arbeit bewußt oder unbewußt von einem allgemeinen Vorverständnis vom Gegenstand 22 leiten, das darüber (vor-)entscheidet, welche aus der Vielzahl möglicher wissenschaftlicher Problemstellungen und -lösungen in seinen fachlichen Kompetenzbereich fallen und welche von vorneherein als irrelevant aus seinem wissenschaftlichen Gesichtskreis ausgeblendet werden. Insbesondere enthält ein solches "Vorverständnis" bestimmte al!gemeine Annahmen über die Beschaffenheit (bzw. die "Natur", das "Wesen" o. ä.) des jeweils zu erforschenden Wirklichkeitsausschnittes. Die Frage, welche theoretischen Strukturmodelle der einzelne Wissenschaftler seiner konkreten Forschung zugrundelegt, ist demzufolge von dem allgemeinen (vor-)wissenschaftlichen Vorverständnis seiner Fachdisziplin bzw. der von ihm vertretenen wissenschaftlichen Schule abhängig. 23 Das Vorverständnis, das der Soziologe an seinen allgemeinen Forschungsgegenstand, die "sozio-kulturelle Realität", heranträgt, wollen wir gesellsclzaftstheoretische Orientierung nennen. Gesellschaftstheoretische Orientierungen sind, wie wir unten noch zeigen werden, weitaus enger mit ihrer jeweiligen sozio-kulturellen Umgebung verzahnt als etwa die theoretischen Orientierungen der modernen Naturwissenschaften; denn sie üben nicht nur wissenschaftliche Orientierungsfunktionen aus wie diese, sondern sie sind gleichzeitig auch politisch-praktisch folgenreiche "Gesellschaftsbilder", die stabilisierend oder verändernd auf die von ihnen "abgebildete" soziokulturelle Realität zurückwirken können. Die wissenschaftliche Funktion einer gesellschaftstheoretischen Orientierung ist es also, dem Soziologen, der sich einer prinzipiell unüberschaubaren und hoch komplexen Vielfalt von sozio-kulturellen Gegebenheiten gegenübersieht, bestimmte allgemeine Gesichts22 Vgl. hierzu und zum folgenden insbesondere A. W. Gouldner, The Coming Crisis ofWestern Sociology, London 1971, Kapitel 2. 23 Vgl. hierzu auch T. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 1967, sowie die daran anschließende "Paradigma-Diskussion" in: J. Lakatos/A. Musgrave (Hrsg.), Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge 1970.

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punkte an die Hand zu geben, die es ihm ermöglichen, spezifische Einzelphänomene und Prozesse als "gesellschaftstheoretisch relevant" einzuschätzen, aus der empirischen Vielfalt herauszuheben und zusammenhängend interpretieren zu können. In diesem Selektionsund Evaluationsvorgang fließen unweigerlich bestimmte ..vorwissenschaftliehe" Präferenzen und Gewichtungen ein. Eine gesellschaftstheoretische Orientierung ist deshalb nicht mit einer .. soziologischen Theorie"24 im streng naturwissenschaftlichen Sinne zu verwechseln. (Eine solche gibt es - zumindest bis jetzt - nicht.) Eher könnte man sie als eine .,plausible Projektion" bezeichnen, in der sich allgemeine Annahmen über den sozio-kulturellen Ist-Zustand mit Vorstellungen über einen realisierbaren Soll-Zustand treffen. Die gesellschaftstheoretische Orientierung stellt sich damit als ein Bindeglied zwischen der Soziologie und der von ihr erforschten sozio-kulturellen Umgebung dar, in dem sich gesellschaftswissenschaftliche mit gesellschaftspraktischen Elementen verknüpfen. Eine gesellschaftstheoretische Orientierung kann deshalb nie die logische Form eines streng erfahrungswissenschaftlichen Aussagensystems annehmen, das mit Hilfe empirischer Argumente eindeutig bestätigt oder widerlegt werden könnte. Allenfalls kann sie als "unfruchtbar" für die empirische Forschung und/oder als "uninteressant" und "überholt" im Hinblick auf gesellschaftliche Problemstellungen verworfen werden. Ebenso kann es freilich geschehen, daß sie zum Dogma versteinert und damit den wissenschaftlichen Erkenntnis- und Reflexionsprozeß behindert. Trotz dieser - unseres Erachtens vermeidbaren - Gefahr kann der Soziologe nicht ohne eine gesellschaftstheoretische Orientierung auskommen: Sie lenkt seine konkrete empirische Forschung in eine soziologisch "sinnvolle" Richtung, indem sie die Formulierung gesellschaftstheoretisch relevanter und empirisch fruchtbarer soziologischer Strukturmodelle und Arbeitshypothesen anregt. So wird beispielsweise ein Soziologe, der bei seiner Forschung von der zwar bestreitbaren, aber kaum widerlegbaren Leitvorstellung ausgeht, in der BRD bestehe eine "industrielle Leistungsgesellschaft", deren Stabilität in entscheidendem Maße vom reibungslosen Funktionieren des marktwissenschaftlichen Produktions- und Distributionssystems abhängig sei, bestimmte sozio-kulturelle Phänomene (z. B. das Schulsystem, die öffentliche Sexualmoral, den Parlamentarismus, die Religiosität etc.) mit völlig anderen Augen betrachten als ein Soziologe, der von der ebenso unwiderlegbaren Auffassung ausgeht, in der BRD bestehe eine "Klassengesellschaft", weil der von den Werktätigen erarbeitete Mehrwert abgeschöpft und in den Dienst profitorientierter Sonderinteressen 24 Vgl. dazu unten, Kapitel III, Abschnitt 2.

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gestellt werde. Beide Betrachtungsweisen aber würden sich beträchtlich von der eines dritten Soziologen unterscheiden, der sich überhaupt weigert, den Begriff "Gesellschaft" als ein. wissenschaftlich sinnvolles Konzept anzuerkennen, weil er der Ansicht ist, daß soziale Gegebenheiten prinzipiell auf psychische Prozesse zurückzuftihren seien, usf.

Es wäre jedoch ein ebenso großer Irrtum wie der naive Glaube an den "Abbildcharakter" soziologischer Strukturmodelle, wollte man nun aus dem unbestreitbaren Nebeneinander unterschiedlicher gesellschaftstheoretischer Orientierungen den Schluß ziehen, es sei damit der SUbjektiven Beliebigkeit und Ideologisierung der Soziologie Tür und Tor geöffnet. Denn es besteht durchaus die Möglichkeit, gesellschaftstheoretische Vorentscheidungen vor reinen Willküreinflüssen oder Dogmatisierungen zu schützen: Gesellschaftstheoretische Orientierungen müssen zum einen rational begründet und der offenen Diskussion und Kritik ausgesetzt werden. Zum anderen dürfen sie aber auch nicht "wirklichkeitsfremd" sein; sie müssen sich vielmehr stets als empirisch oder praktisch fruchtbar erweisen, indem sie die Ausformulierung erfahrungswissenschaftlich anwendbarer Strukturmodelle - und damit die realitätsbezogene (und intersubj~ktiv überprüfbare) Erfassung und Interpretation von sozio-kulturellen Wirkungszusammenhängen bzw. deren praktische Beeinflussung - möglich machen. Allerdings, auch wenn diese doppelte Forderung nach rationaler Begründung und empirisch-praktischer Fruchtbarkeit erfüllt wird, ist die Koexistenz unterschiedlicher gesellschaftstheoretischer Orientierungen nicht ausgeschlossen - ja, sie ist unvermeidlich. Denn die Soziologie schwebt nicht frei und unabhängig im gesellschaftlichen Raum. Sie ist vielmehr selbst ein vollgültiger Bestandteil der sie umgebenden Gesellschaft: Im ersten Kapitel haben wir bereits angedeutet, daß ein aufeinander abgestimmtes Zusammenarbeiten und Zusammenleben von Menschen nur möglich sein kann, wenn sie sich dabei auf eine für alle Beteiligten verbindliche und insofern "gemeinsame" Deutung der jeweiligen sozialen Situation beziehen können. Das heißt aber, daß einzelne Menschen mit durchaus unterschiedlichen Verhaltensweisen auf bestimmte "objektive" gesellschaftliche Verhältnisse und Interessenkonstellationen reagieren können - je nachdem, in welcher Weise sie diese "objektive" Situation jeweils "subjektiv" deuten. Daraus folgt, daß diejenige "subjektive" Realitätsdeutung bzw. dasjenige Gesellschaftsbild, das für die in einer bestimmten sozialen Situation handelnden Menschen Verbindlichkeit gewonnen hat, auch einen beträchtlichen Einfluß auf die praktische

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Ausgestaltung dieser "objektiven" Situation selbst gewinnt. Wem immer es also gelingt, eine "subjektive" Realitätsdeutung, die seinen eigenen Interessen und Zielsetzungen entgegenkommt, als verbindlich durchzusetzen oder zu erhalten, erlangt damit zugleich Macht über die "objektiven" sozio-kulturellen Verhältnisse und die in ihnen lebenden Menschen 2s. - Wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, ist es eine allgemeine Aufgabe der Soziologie, den Menschen in ihrer immer komplexer werdenden sozio-kulturellen Mitwelt bestimmte Deutungs- und Orientierungshilfen anzubieten. Das heißt, die Soziologie versucht, mit ihren wissenschaftlichen Mitteln ill den Prozeß der gesellschaftlichen Selbstdeutung einzugreifen, an dem neben Theologen, Philosophen, Pädagogen und anderen "seriösen Weltdeutern" auch politische Propagandisten, Lobbyisten und sonstige Meinungsmacher beteiligt sind. So sehr sich die Soziologie von derartigen Konkurrenten unterscheiden mag - sie kann der Grundtatsache nicht entgehen, daß es in einer (gelegentlich als "pluralistisch" bezeichneten) Gesellschaft eine Mehrzahl von Interessen und Interessengruppen gibt, die sich für die Aufrechterhaltung bzw. die Durchsetzung solcher Gesellschaftsdeutungen einsetzen, die ihre jeweiligen Zielsetzungen begünstigen und womöglich legitimieren. Da es eine über allen Interessen schwebende, wissenschaftlich "reine" Gesellschaftsdeutung nicht geben kann - eine solche müßte notwendigerweise auf jeden konkreten, sozio-kulturellen Inhalt verzichten und damit im wahrsten Sinne des Wortes "uninteressant" werden -, bezieht die Soziologie gleichzeitig mit der {unvermeidlichen} Entscheidung für eine bestimmte gesellschaftstheoretische Orientierung auch Stellung in der Gesellschaft. Damit soll nicht gesagt sein, daß es ebensoviele "Soziologien" geben könne, wie es einflußreiche Interessengruppen in der Gesellschaft gibt - etwa eine katholische Soziologie, eine Landwirte-Soziologie, eine Unternehmer-Soziologie, eine Gewerkschafts-Soziologie usf.: Auch wenn hier nicht bestritten zu werden braucht, daß Soziologen (ebenso wie andere Menschen) nicht selten parteiisch oder käuflich sind, so kann man doch davon ausgehen, daß derlei partielle-Interessen sich nicht unmittelbar in rational begründbare und empirischpraktisch fruchtbare gesellschaftstheoretische Orientierungen ummünzen lassen. Aber innerhalb jener Bandbreite von allgemeinen 25 Damit wird u. a. deutlich, daß es allenfalls zu analytischen Zwecken zulässig sein kann, "objektive" Realität und "subjektive" Deutung voneinander zu unterscheiden: De facto fließen beide zur "sozio-kulturellen Realität" zusammen.

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Erkenntnisinteressen, deren Grenzen wir oben mit den Stichworten "Anpassung" und "Emanzipation" symbolisiert haben, besteht durchaus noch ein Spielraum für die Wahl unterschiedlicher gesellschaftstheoretischer Orientierungen. Mit dieser Feststellung scheint sich nun freilich unsere ursprüngliche Befürchtung doch noch zu bestätigen, daß auf dem Wege über die gesellschaftstheoretischen Orientierungen, ohne die keine wissenschaftliche Soziologie auskommen kann, unkontrollierbare Wertungen und Parteilichkeiten in den soziologischen Forschungsprozeß Eingang finden. Jedoch - mit ihrer .. Parteinahme .. für das Prinzip der rationalen Begründung und Kritik und für das Kriterium der empirisch-praktischen Fruchtbarkeit hat die Soziologie selbst bereits einen Standpunkt bezogen, der ihr zwar keine eindeutig "wahre" gesellschaftstheoretische Orientierung zu liefern vermag, der aber den Spielraum für Beliebigkeit und Willkür beträchtlich einengt: Nicht alle Gesellschaftsbilder - mögen sie auch noch so allgemein anerkannt sein - sind rational begründ bar und realitätsgerecht. Insbesondere die in einer Gesellschaft als selbstverständlich akzeptierten "herrschenden" Vorstellungen von der eigenen Gesellschaftsordnung können schwerlich als wissenschaftlich tragfähige Grundlage für eine gesellschaftstheoretische Orientierung dienen, solange sie im Verdacht stehen, ungleichheitsstabilisierende Verschleierungsfunktionen zu erfüllen. Ihnen hat vielmehr die besondere ideologiekritische Aufmerksamkeit des Soziologen zu gelten 26 . Insofern ist die Soziologie - auch wenn sie keine allgemeinverbindlichen Wahrheiten anzubieten hat - durchaus in der Lage, einen wissenschaftlichen Beitrag zu leisten zur Aufklärung der Menschen über ihre sozio-kulturelle Mitwelt und zur sachlichen Kritik an vernunftfeindlichen Ideologien und den von ihnen gerechtfertigten sozio-kulturellen Verhältnissen. Zu diesem Zweck ist es freilich unerläßlich, mit einer explizit formulierten und gerechtfertigten gesellschaftstheoretischen Orientierung zu operieren, damit der Soziologe nicht gleichsam "kopflos" der Vielfalt sozio-kultureller Phänomene gegenübertritt, um dann womöglich den jeweils "herrschenden" Gesellschaftsinterpretationen unreflektiert anheimzufallen.

26 Vgl. dazu unten, Kapitei III, Abschnitt 3, und Kapitel IV, Abschnitt 4. 42

3. Geschichtlichkeit oder Universalität: Das Problem des raum-zeitlichen Geltungsbereiches Wenn wir nun mit der Skizzierung unserer gesellschafts-theoretischen Orientierung beginnen, so ergibt sich aus dem bisher Gesagten, daj~ wir jeden Schritt und jede Entscheidung so offen wie möglich zu vollziehen und zu begründen haben. Die erste konkrete Vorentscheidung, die gefällt werden muß, nachdem wir die Soziologie auf das (zunächst noch weitgehend inhaltsleere) Programm einer rational argumentierenden und empirisch fundierten gesellschaftlichen Aufklärungswissenschaft festgelegt haben, gilt dem raum-zeitlichen Geltungsbereich unserer gesellschaftstheoretischen Orientierung: Soll sie so konstruiert werden, daß sie sich nur für die Analyse eines speziellen historischen Gesellschaftstypus - z. B. der "Feudalgesellschaft" , der "Industriegesellschaft", der "bürgerlichen Gesellschaft", der "Massengesellschaft" usw. - eignet? Oder soll sie als unh'erseller Bezugsrahmen für die Erforschung aller vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaften - also von "Gesellschaft schlechthin" - dienen? Um hierzu sinnvoll Stellung nehmen zu können, müssen wir zunächst auf die erkenntnistheoretische Kontroverse über das "Wesen" der sozio-kulturellen Realität zurückkommen, die - wie wir oben am Beispiel von Comte und Marx angedeutet haben 27 - auf die formale Alternative zugespitzt werden kann, ob die Soziologie als Naturwissenschaft oder als historische Wissenschaft verstanden werden solle: Soziologen, die sich ftir die naturwissenschaftliche Version entscheiden, gehen davon aus, daß die grundlegenden Strukturprinzipien der sozio-kulturellen Wirklichkeit unwandelbar seien. Alle konkret-historischen Einzelphänomene und Gesellschaftsformen werden von ihnen deshalb als Ausfluß universell gültiger und invarianter Gesetzlichkeiten aufgefaßt. Das bedeutet, daß gleichzeitig mit der Option für die naturwissenschaftliche Denkweise auch die Entscheidung für eine universell anwendbare gesellschaftstheoretische Orientierung gefallen ist. - Wer sich hingegen für eine historisierende Optik entscheidet, geht prinzipiell von der Geschichtlichkeit und Veränderbarkeit soziokultureller Gegebenheiten aus. Bei der Wahl seiner gesellschaftstheoretischen Orientierung kann er sich deshalb nicht auf "Naturgesetze" als unwandelbare Instanzen berufen. Er muß vielmehr selbst darüber nachdenken und bewußt entscheiden, welches Gesellschaftsbild er zur Grundlage seiner theoretischen Orientierung machen will: Er 27 Vgl. dazu oben, Kapitel I, Abschnitt 5.

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kann entweder das Problem der gesellschaftlichen Stabilität und kulturellen Kontinuität in den Mittelpunkt seines gesellschaftstheoretischen Interesses rücken und sich damit einer eher konservativen Grundhaltung zuordnen; oder er kann den Zwangscharakter und die Vernunftwidrigkeiten überkommener sozio-kultureller Ordnungen als Hauptproblern wissenschaftlich-kritischer Gesellschaftsanalyse ansehen und sich damit zu einem stärker am Begriff der Emanzipation orientierten Denken bekennen; schließlich kann er auch den Versuch unternehmen, eine Synthese oder einen Komprorniß zwischen diesen beiden alternativen Orientierungen herzustellen. - Von der Entscheidung, ob ein "historisierender" Soziologe mehr dem Problem der "Anpassung" oder dem der "Emanzipation" zuneigt, wird freilich die Frage des Geltungsbereiches der jeweiligen gesellschaftstheoretischen Orientierung noch nicht eindeutig beantwortet: In jedem Falle ist es denkbar, daß sozio-kulturelle Einzelphänomene und Strukturen entweder mit oder ohne Zuhilfenahme eines Bezugsrahmens von allgemeinen und formalen Begriffen beschrieben und analysiert werden. Aus diesen Überlegungen ergibt sich nun für uns: Sofern wir uns für die Übertragung des universell gültigen naturwissenschaftlichen Weltbildes auf die Soziologie entscheiden sollten, wäre die Frage nach dem Anwendungsbereich unserer gesellschaftstheoretischen Orientierung automatisch mitbeantwortet. Im entgegengesetzten Falle bedürfte es zusätzlicher Erwägungen. Damit wird die Frage nach der Existenz und Erkennbarkeit invarianter sozio-kultureller "Natur"Gesetzlichkeiten unabweisbar, und ihr fällt für den weiteren Verlauf unserer Argumentation eine Schlüsselstellung zu. Man könnte nun sagen, daß es einer Erfahrungswissenschaft gut anstünde. wenn sie die Frage, ob es invariante Strukturprinzipien der sozio-kulturellen Wirklichkeit gibt oder nicht, auf empirischem Wege lösen könnte. Denn falls tatsächlich unwandelbare Gesetzmäßigkeiten vorfindbar sein sollten, so käme es einem dogmatischen Erkenntnisverbot gleich, wenn man sie ignorieren wollte. Jedoch - es ist bisher in der Soziologie nicht gelungen. eine streng allgemeine Theorie nach naturWissenschaftlichem Vorbild zu formulieren. die konkrete Informationen über empirisch identifizierbare und allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten des sozio-kulturellen Lebens liefern könnte 28 • Weil dem so ist - und weil wir folglich die Frage nach den sozio-kulturellen Invarianzen zur Zeit auf empirischer Grundlage nicht eindeutig beantworten können, müssen wir erkenntnistheoretisch Stellung beziehen: Wir halten es für sinnvoll, keine einseitige ~8

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Vgl. dazu unten, Kapitel IV, Abschnitt 2.

Vorentscheidung zu fällen, sondern die Frage zum offenen Problem zu erklären. Das kann aber nur bedeuten, daß alle - auch die augenscheinlich stabilsten - Strukturelemente der sozio-kulturellen Wirklichkeit solange für veränderlich gehalten und auf ihre Veränderlichkeit hin untersucht werden müssen, wie ihre Unwandelbarkeit nicht eindeutig erwiesen ist. Denn jede andere Vorgehensweise käme einer vorschnellen und kritiklosen Unterwerfung unter vermeintliche Naturgesetze gleich und würde dami t Freiheitsspielräume , die den Menschen möglicherweise für die bewußte Gestaltung ihrer sozio-kulturellen Lebensbedingungen offenstehen, sozusagen "kampflos" aufgeben. Mit dieser Stellungnahme plädieren wir für eine .. pragmatische Historisierung der Soziologie ", ohne die Existenz und Erkennbarkeit sozio-kultureller Invarianzen prinzipiell auszuschließen. Wir wollen lediglich verhindern, daß die spekulative Hoffnung auf eine zukünftige (und womöglich nie erreichbare) "Naturwissenschaftlichkeit" der Soziologie alle theoretische Aufmerksamkeit auf sich zieht und die gegenwärtige Sozialforschung zu gesellschaftstheoretischer Unreflektiertheit oder Irrelevanz verführt. Damit ist eine erste Vorentscheidung gefallen. Unsere gesellschaftstheoretische Orientierung muß auf geschichtlichen Erfahrungen aufbauen, ohne jedoch die Möglichkeit von theoretischen Verallgemeinerungen auszuschließen, die über bestehende historische Strukturund Wirkungszusammenhänge hinausgreifen. Da die vorliegende Schrift sich an eine Leserschaft wendet. für die die Gesellschaft der Bundesrepublik den konkret-historischen Erfahrungshintergrund abgibt. scheint nichts näher zu liegen, als im weiteren mit einer gesellschaftstheoretischen Orientierung zu arbeiten, die eindeutig auf die soziologische Analyse der bundesdeutschen Gesellschaft zugeschnitten ist. Allerdings - eine gesellschaftstheoretische Orientierung, die der sozio-kulturellen Realität der BRD allzu eng auf den Leib geschneidert wäre, müßte dazu führen, daß die unerläßliche wissenschaftlich-kritische Distanz zum Forschungsgegenstand verloren ginge: Wenn eine soziologische Gesellschaftsanalyse nicht bei einer unreflektierten Beschreibung des jeweils Gegebenen stehen bleiben will, bedarf sie einer gesellschaftstheoretischen Orientierung, deren Geltungsbereich nicht auf einen historischen Einzelfall beschränkt bleibt. Sie muf~ vielmehr als übergreifender Bezugsrahmen dienen können, innerhalb dessen Vergleiche mit ähnlich strukturierten Gesellschaften möglich sind und der auch die Erfassung soziokulturellen Wandels und die theoretische Konstruktion realistischer Alternativen zu den jeweils vorgefundenen empirischen Verhältnissen

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zuläßt. Dies kann nur gelingen, wenn die gesellschaftstheoretische Orientierung einen relativ hohen Abstraktionsgrad aufweist, der es ihr ermöglicht, von sozio-kulturellen Details abzusehen, ohne damit freilich ihre historische Gebundenheit aufzugeben. Im Falle Deutschlands bietet sich an, der doppelten Forderung nach Historizität und "system übergreifender" Abstraktheit mit Hilfe einer gesellschaftstheoretischen Orientierung nachzukommen, die für die wissenschaftlich-kritische Analyse beider deutscher (Teil-)Gesellschaften - der BRD und der DDR - gleichermaßen geeignet ist. Diesem Ziel ist allein mit der schematisl:hen Konfrontation von "kapitalistischer" und ,.sozialistischer" Gesellschaftsform, an der sich insbesondere marxistische Soziologen orientieren, kaum näher zu kommen. Die herkömmliche Soziologie bietet statt dessen als "systemübergreifende" gesellschaftstheoretische Leitvorstellung das Konzept der .. modernen Industriegesellschaft" an, das (zumindest dem Anspruche nach) kapitalistische und sozialistische Industriegesellschaften gleichermaßen umfaßt, während es vor- bzw. nichtindustrielle Gesellschaften eindeutig ausschließt. Eine gesellschaftstheoretische Orientierung. die auf dem Konzept der modernen Industriegesellschaft aufbaut. ist demnach in ihrem historischen Geltungsbereich begrenzt. Wir sind allerdings der Auffassung, daß weder diese historische Begrenzung noch das Konzept der modernen Industriegesellschaft als gesellschaftstheoretischer Leitbegriff sehr glücklich gewählt sind. und zwar aus folgenden Grlinden: In dem Begriff"Industriegesellscha[t" klingt unüberhörbar die "vulgärmaterialistische" These an. daß der Industrialisierungsprozeß der alles übertönende gesellschaftliche Wirkungsfaktor sei. Die Technik wird damit gewissermaßen zur Herrin über Stabilität und Wandel der jeweiligen sozio-kulturellen Verhältnisse in einer Gesellschaft erhoben. Nicht der jeweilige Zustand der politischen. wirtschaftlichen und sonstigen sozialen Strukturen und Institutionen, die der eigentliche Forschungsgegenstand der Soziologie sein sollten, sondern der Industrialisierungsgrad wird zum Hauptindikator für gesellschaftlichen Fortschritt und Modernität. So unbestritten es ist. daß der technologische Entwicklungsstand einer Gesellschaft in jede soziologische Analyse als bedeutsamer Faktor eingehen muß 29• so geHihrlich ist es doch. ihn zum alleinigen Motor des sozio-kulturellen Wandels hochzustilisieren. Denn allzu leicht wird auf diese Weise der fatalistischen Vorstellung von der .. unaufhaltsamen Eigendynamik des Industrialisierungsprozesses" Vorschub geleistet, ohne daß noch über dessen jeweilige sozio-kulturelle Bedingtheit und Beeinflußbarkeit nachgedacht WÜf29 Vgl. dazu unten. Kapitel IV, Abschnitt 4.

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deo Die Sozialstruktur wird damit sozusagen auf den Begriff der "Technostruktur" reduziert. Es liegt auf der Hand, daß mit einer derartigen gesellschaftstheoretischen Vorer.tscheidung den vielfach beklagten Tendenzen zu einer technokratischen Perspektivverengung in der Soziologie Vorschub geleistet wird. Das Konzept der modernen Industriegesellschaft birgt eine weitere Gefahr in sich: Es legt dem Soziologen nahe, nicht-industrielle Gesellschaften entweder als qualitativ andersartig aufzufassen und womöglich den Nachbardisziplinen Kulturanthropologie und Völkerkunde zu überantworten, oder aber, sie lediglich im Hinblick auf ihre mögliche Industrialisierung zu analysieren. Dabei gerät die tiefe politische, wirtschaftliche und soziale Verstricktheit zwischen ,armen' und ,reichen' Gesellschaften allzu leicht aus dem Blickfeld. Das kann aber zu der recht fragwürdigen Konsequenz fUhren, daß der Reichtum der industrialisierten Länder primär ihrem entwickelten Industriesystem zugeschrieben wird, während die Frage, inwieweit sie gleichzeitig von der Armut der sog. Entwicklungsländer profitieren, in den Hintergrund tritt.

Zusammenfassend läßt sich also sagen: Der Begriff der modernen Industriegesellschaft stützt sich auf bestimmte, aus der europäischnordamerikanischen Geschichte erwachsene sozio-kulturelle "Errungenschaften" als gesellschaftstheoretischem Richtmaß, und er macht sich damit einer gewissen "eurozentrischen" Blickverengung schuldig. Gleichzeitig begünstigt er eine allzu vordergründig technizistische Gesellschaftsinterpretation. Wir meinen deshalb, unserer eigenen gesellschaftstheoretischen Orientierung einen anderen Leitbegriff voranstellen zu sollen, der "soziologischer" und universeller ist, aber doch auch an einen bestimmten historischen Erfahrungshorizont anknüpft: den Begriff der sozialen Ungleichheit, an dem sich die gesellschaftstheoretische Diskussion bereits seit den Tagen eines Comte und Marx entzündet hat, wie wir in Kapitel I bereits angedeutet haben. Diese Entscheidung gilt es nun zu erläutern.

4. Die gesellschaftstheoretische Orientierung: Gesellschaft als soziokulturelle Ungleichheitsordnung Im ersten Kapitel haben wir dargelegt, daß ein kontinuierliches Zusammenarbeiten und Zusammenleben von Menschen in Gesellschaft nur auf der Basis einer von ihnen als verbindlich hingenommenen kulturellen Ordnung möglich ist. Wir haben gleichzeitig betont, daß kulturelle Ordnungen in ihrer konkreten Ausprägung den Charakter von Ungleichheitsordnungen zu tragen pflegen, weil zumindest in allen differenzierteren Großgesellschaften, die uns be47

kannt sind, die ungleiche Verteilung von Macht, Reichtum, Wissen und Ansehen kulturell verankert und legitimiert ist. Als eine generelle Erklärung für den Sachverhalt, daß derartige Ungleichheitsordnungen erfahrungsgemäß einen sehr dauerhaften Bestand haben, haben wir in bewußt vorläufiger und indirekter Formulierung - die "Faustregel" angeboten, daß den in einer Gesellschaft durch Macht, Reichtum, Wissen und/oder Ansehen jeweils begünstigten Individuen oder Gruppen in der Regel genügend politischer Einfluß, wirtschaftliches Potential, strategische Kenntnisse und/oder gesellschaftliche Wertschätzung zur Verfügung stünden, um gegen das Aufkommen von solchen sozio-kulturellen Neuerungen Widerstand leisten zu können, die der Erhaltung ihrer Privilegien nach ihrer Ansicht abträglich sind 30. So triftig diese Überlegung auch sein mag - als Fundament für eine gesellschaftstheoretische Orientierung, die eine empirisch fruchtbare Strukturanalyse von differenzierten Großgesellschaften wie etwa der BRD und der DDR ermöglichen soll, ist sie alleine noch nicht ausreichend: Wenn von "den" Mächtigen, Reichen, Wissenden, Angesehenen gesprochen wird, mit deren Widerstand beim Aufkommen egalisierender Neuerungen zu rechnen sei, so ist das zwar sicherlich zutreffend. Aufgabe der Formulierung ist es jedoch in erster Linie zu zeigen, daß es stets konkrete Individuen bzw. genau abgrenz bare Bevölkerungsgruppen sind, die von gesellschaftlicher Ungleichheit besonders profitieren, und daß es sich dabei folglich um ein durchaus "reales" Alltagsproblem und nicht nur um eine theoretisch konstruierte Fragestellung handelt. WoHte man indessen daraus den Schluß ziehen, das Fortbestehen von Ungleichheit sei in erster Linie den durch sie privilegierten Individuen "anzulasten", so daß man nur deren Widerstand gegen Egalisierungstendenzen brechen müsse, um gesellschaftliche Ungleichheit reduzieren oder aufheben zu können, so wäre das eine recht "unsoziologisch" personalisierende Betrachtungsweise, gegen die vor allem die folgenden kritischen Argumente vorgebracht werden müssen: 1. Sofern man die Widerstandsfahigkeit privilegierter Individuen und Gruppen gegen Egalisierungstendenzen flir den einzigen Stabilisierungsfaktor sozio-kultureller Ungleichheitsordnungen hielte, wäre es schwierig, eine überzeugende Erklärung daflir zu finden, daß keine entwickelte' Großgesellschaft bekannt ist, deren Ungleichheitsordnung nicht bereits erhebliche historische Veränderungen erlebt hätte - und zwar durchaus auch Veränderungen gegen das "Interesse" oder den

30 Vgl. dazu S. 19.

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"Widerstand" der jeweils Privilegierten 31 . Die soziologische Hauptfrage nach den jeweiligen Bedingungen, die im einen Fall zum Erfolg, im anderen zum Mißerfolg von Egalisierungstendenzen fUhren, bleibt dabei ungelöst. Denn mit dem bloßen Hinweis auf "die" Herrschenden, "die" Kapitalisten, "die" Privilegierten, "die" Parteibonzen o. ä. ist für die soziologische Erklärung von Stabilität und Wandel sozio-kultureller Ungleichheitsordnungen nur wenig zu gewinnen. 2. Ein zweiter Einwand gegen die voreilige Personalisierung der soziologischen Ungleichheitsproblematik lautet folgendermaßen: Die Annahme ist sicherlich empirisch nicht haltbar, daß die von einer bestehenden Ungleichheitsordnung jeweils Begünstigten stets bewußt, zielstrebig und erfolgversprechend an deren Aufrechterhaltung arbeiten. Meistens wird ihnen dies vielmehr von den in der Gesellschaft seit Generationen überlieferten und relativ stabilen kulturellen Denk- und Verhaltensmustern abgenommen, die für den privilegierten ebenso wie fur den benachteiligten Bevölkerungsteil verbindlich sind und die die herrschende Ungleichheitsordnung gleichsam "in sich eingeschmolzen" tragen: Ungleichheit ist fiir die in einer Gesellschaft lebenden Menschen immer schon da. Wer von ihr begünstigt wird, wird deshalb dazu neigen, sie als "selbstverständlieh", "naturgegeben" o. ä. zu akzeptieren und nur in besonderen Krisensituationen bewußt auf ihre Erhaltung hinzuwirken. In der Regel kann er sich jedoch mit der Anerkennung und Befolgung der jeweils herrschenden kulturellen Ordnung begnügen und sich auf die Wirksamkeit des ihr innewohnenden Selbsterhaltungspotentials verlassen. Mit anderen Worten: Wenn unsere grundlegenden Überlegungen aus dem ersten Kapitel zutreffen, daß 1.) ein dauerhaftes gesellschaftliches Zusammenarbeiten und Zusammenleben nur möglich ist, wenn auch eine relativ stabile und verbindliche kulturelle Ordnung existiert, und wenn man 2.) von der allgemeinen historischen Erfahrung ausgeht, daß die in den bekannten differenzierteren Großgesellschaften geltenden kulturellen Ordnungen regelmäßig Ungleichheitsordnungen sind, so folgt daraus 3.), daß die praktische Veränderung oder Aufhebung einer solchen Ungleichheitsordnung auf jeden Fall nur unter äußerst schwierigen Bedingungen möglich sein kann, weil sie ja mit den ungleichheitsstabilisierenden immer zugleich auch unabdingbare lebenserhaltende und lebenserleichternde Funktionen erfullt.

Wir sehen also: Es sind zwar immer bestimmte Individuen, die aus einer gegebenen Ungleichheitsordnung besondere Vorteile ziehen; aber ihr unmittelbarer Beitrag zu deren Aufrechterhaltung wird meist überschätzt. Denn jede Ungleichheitsordnung ist das Ergebnis eines langen, allerdings nicht immer kontinuierlichen geschichtlichen Prozesses. DIe Spuren der Arbeits- und Lebensformen von Generationen 31 Man denke nur an die im Gefolge der russischen Oktoberrevolution aufgetretenen gesellschaftlichen Strukturwandlungen, oder auch an eher evolutionäre Veränderungen wie etwa den Machtverlust des Adels und den politischen, ökonomischen und sozialen Aufstieg bürgerlicher Gruppen in West- und Mitteleuropa im 18. und 19. Jahrhundert.

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von Menschen fließen in ihr zu einem eigenständigen Ganzen zusammen, das seine besondere Logik in sich trägt. Gleichsam anonym prägt die sozio-kulturelle Ungleichheitsordnung das Denken und Handeln der jeweils von ihr Betroffenen - sowohl der Benachteiligten, wie der Bevorzugten. Gegen diese starke Betonung der anonymen Wirkungsweise von sozio-kulturellen Ungleichheitsordnungen könnte man nun einwenden, daß es eine Vielzahl von Gesellschaften gebe oder gegeben habe, in denen das Auftreten von sozialer Ungleichheit sehr augenfällig an persönliche Unterordnungs- und Abhängigkeitsbeziehungen gebunden sei. So waren etwa die vorindustriellen Gesellschaften Europas durchdrungen vom Prinzip der Lehens- und Grundherrschaft, also von der persönlichen Abhängigkeit des Vasallen oder Hörigen von seinem Herrn. Noch in den sich industrialisierenden kapitalistischen Gesellschaften Europas, die Karl Marx analysiert hat, gab es deutliche Elemente "personifizierter" Ungleichheit, insbesondere in der direkten Abhängigkeitsbeziehung zwischen dem Unternehmer als Eigentümer an Produktionsmitteln und dem lediglich über seine Arbeitskraft verfügen Arbeiter; daneben waren freilich auch anonyme "Sachgesetzlichkeiten" - wie etwa das Prinzip der Kapitalakkumulation oder des freien Marktes - am Wirken, die diesen Gesellschaften zumindest ebenso stark ihren Stempel aufdrückten wie die "selbstherrliche" Unternehmerpersönlichkeit. Aufgrund solcher Erwägungen mag es wohl gerechtfertigt sein, auf bestimmte Gesellschaftsstrukturen eher den Begriff der "Herrschaftsordnung" als den der "Ungleichheitsordnung" anzuwenden. Eine Reihe von bekannten Soziologen (z. B. Max Weber, C. Wright Mills, Ralf Dahrendorf, Gerhard Lenski) haben denn auch den Begriff der "Macht" zw. der "Herrschaft" in den Mittelpunkt ihrer gesellschaftstheoretischen Orientierung gestellt 32 . Will man jedoch diese Begriffe nicht völlig ihrer alltagssprachlichen Bedeutung entkleiden, so sollte man sie für solche sozialen Beziehungen reservieren, in denen die jeweiligen Macht- bzw. Herrschaftausübenden noch personell identifizierbar sind 33 • Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß derartige

32 Mit diesen Begriffen werden wir uns unten (Kapitel IV, Abschnitt 4) noch genauer befassen. 33 Diese Überlegung steht im Einklang mit der "k1assischen" soziologischen Bestimmung der Begriffe "Macht" und "Herrschaft", die Max Weber formu· Iiert hat: "Macht bedeute jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf

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direkte AbhängigkeitsverhäItnisse auch in zeitgenössischen Gesellschaften wie der BRD und der DDR in vielfältiger Form auftreten. Es kommt ihnen aber für die soziologische Strukturanalyse nicht mehr dasselbe strategische Gewicht zu wie etwa für die Analyse vorindustrieller Gesellschaften: In solchen weniger differenzierten Gesellschaften pflegt soziale Ungleichheit sich auf dem Wege über personifizierte Macht- bzw. Herrschaftsausübung zu konkretisieren. so daß für den Soziologen eine gute Chance besteht, die sozialen Ungleichheitsverhältnisse auch mit einer vom Begriff der .. Herrschaftsordnung" ausgehenden gesellschaftstheoretischen Orientierung angemessen erfassen zu können. Kapitalistische Gesellschaften des 19. Jahrhunderts, in denen personifizierbare und anonyme Ungleichheitsformen miteinander konkurrieren, kann man dagegen - mit einem Seitenblick auf Marx - wohl am anschaulichsten mit dem Konzept der .. Klassenherrschaft" begreifen, in dem beide Ungleichheitselemente zusammentreffen. In kapitalistischen und sozialistischen Gesellschaften der heutigen Zeit spielt demgegenüber die Ausübung von personell identifizierbarer Macht und Herrschaft keine ähnlich strukturbestimmende Rolle mehr: Feudale Abhängigkeitsverhältnisse sind nahezu verschwunden, politische Mandatsträger sind auswechselbar; ihre Entscheidungen sind weit mehr von überindividuellen Interessenkonstellationen und Bedingungen als von persönlicher Macht geprägt. Auch die Ausübung wirtschaftlicher "Macht" läßt sich zunehmend weniger auf persönliche Macht zurückführen. Auswechselbare Funktionäre oder Manager, anonyme Aktionäre und Pressure Groups haben die allmächtigen kapitalistischen Unternehmer weitgehend ersetzt. Sie berufen sich bei ihren Entscheidungen weniger auf Autorität als auf anonyme "Sachzwänge" und "Systemerfordernisse" o. ä. 34. diese Chance beruht. Herrschaft soll heißen die Chance, ftir einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden." (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe. Erster Halbband, 4. Aufl., Köln-Berlin 1964, S. 16). 34 Vgl. dazu das folgende Zitat von Jürgen Habermas: " ... in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern ... hat Herrschaft, als die Kehrseite der Entfremdung, den unverhüllten Ausdruck eines im Lohnarbeitsvertrag fixierten Gewaltverhältnisses abgestreift. In dem Maße, in dem der ökonomische wie politische Status der ,Diensttuenden' gesichert wird, treten Verhältnisse persönlicher Herrschaft hintel' dem anonymen Zwang indirekter Steuerung zurück - in wachsenden Bereichen des gesellschaftlichen Lebens verlieren Anweisungen ihre Befehlsform und werden auf dem

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Trotz dieser unverkennbaren Veränderungen besteht aber soziale Ungleichheit in westlichen wie östlichen Gesellschaften in beträchtlichem Umfang fort. Sie ist lediglich in ihrer Erscheinungsform und Wirkungsweise weitgehend indirekt, anonym, abstrakt geworden. Deshalb kann sie auch nur mit einem abstrakteren Begriff erfaßt werden als dem der "Herrschaftsordnung": Wir wählen die Bezeichnung sozio-kulturelle Ungleichheitsordnung" zur Benennung unseres gesellschaftstheoretischen Oberbegriffes; seine Aufgabe ist es, der empirisch-kritischen Analyse von zeitgenössischen kapitalistischen und sozialistischen Großgesellschaften als gemeinsamer Bezugspunkt zu dienen. Das Konzept der sozio-kulturellen Ungleichheitsordnung als Grundlage unserer gesellschaftstheoretischen Orientierung ist in seinem raumzeitlichen Geltungsbereich insofern universell, als es prinzipieIl auf Großgesellschaften jeden Typs angewendet werden kann. Gleichzeitig ist es jedoch ein historischer Begriff, weil er in seinem Abstraktionsgrad auf die Gegebenheiten hochdifferenzierter zeitgenössischer Gesellschaften zugeschnitten ist, während beispielsweise vorindustrielle Gesellschaften bereits mit dem weniger abstrakten Begriff der "Herrschaftsordnung" sinnvoll angegangen werden können. Mit anderen Worten: Es kann zwar jede Herrschaftsordnung auch als sozio-kultureIle Ungleichheitsordnung interpretiert werden, aber nicht jede sozio-kultureIle Ungleichheitsordnung läßt sich als Herrschaftsordnung zureichend erfassen. Diese Überlegungen mögen zwar einleuchtend klingen - dennoch müssen wir jetzt noch etwas genauer begründen, warum wir dem Phänomen der sozialen Ungleichheit überhaupt eine solch grundlegende gesellschaftstheoretische Bedeutung beimessen. Denn allein mit der These, daß aIle kultureIlen Ordnungen Ungleichheitsordnungen seien, ist dies noch nicht zu rechtfertigen, und sei es nur, weil formal gesehen - alle kulturellen Ordnungen ja ebensogut auch als "Verwandtschaftsordnungen ", "Produktionsordnungen", "Kommunikationsordnungen" o. ä. aufgefaßt werden könnten, ohne daß damit schon etwas über die gesellschaftstheoretische Fruchtbarkeit dieser Konzepte ausgesagt wäre:

Wege sozialtechnischer Manipulation derart übersetzt, daß die zum Gehorsam Gehaltenen, gut integriert, im Bewußtsein der Freiheit tun können, was sie tun sollen." (I. Habermas, Theorie und Praxis, Sozialphilosophische Studien, 4. Auflage, Frankfurt/M. 1971, S. 228 f.).

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Ganz allgemein läßt sich sagen, daß in jeder nach dem Prinzip des arbeitsteiligen Zusammenlebens aufgebauten Gesellschaft ein bestimmter Gesamtbetrag von {materiellen und immateriellen} sozialen Gütern zur Verfügung steht, die von den in dieser Gesellschaft zusammenarbeitenden und zusammenlebenden Menschen hervorgebracht worden sind 35. Wie wir im Kapitel IV noch genauer begründen werden, sind wir der Auffassung, daß bei der Strukturanalyse von zeitgenössischen kapitalistischen und sozialistischen Industriegesellschaften insbesondere vier unterscheidbare Arten von allgemeinen sozialen Gütern zur Verteilung gelangen, die als erstrebenswert für alle in der Gesellschaft lebenden Individuen gelten können, weil sie (direkt oder indirekt) die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse ermöglichen. Wir nennen diese vier allgemeinen Dimensionen oder "Medien", in denen sich soziale Ungleichheit artikuliert: Macht, Reichtum. Wissellund Ansehen 36 Der Gesamtbetrag dieser allgemein erstrebenswerten Güter ist in aIlen GeseIlschaften, mit denen wir uns zu befassen haben, knapp, und er ist ungleich J'ertei/t. Wir müssen uns an dieser Stelle nicht um die Frage kümmern, warum das so ist; wir können vorläufig auch dahingestellt sein lassen, ob es sich bei der sozialen Ungleichheit um einen unumgänglichen oder um einen aufhebbaren Sachverhalt handelt: Wir gehen lediglich von der allgemeinen Annahme aus, daß aIle Menschen ein Interesse daran haben, daß ihnen der Zugang zu den in ihrer GeseIlschaft verfügbaren und knappen sozialen Gütern nicht verwehrt ist - zumal dann. wenn sie an deren Produktion beteiligt sind. Wenn die Chancen des Zuganges zu und der Verfügung über diese knappen sozialen Güter nun aber de facto höchst ungleich verteilt sind, so ist das für den Soziologen Anlaß genug zur "Verwunderung" - zu einer Verwunderung, die wir in die Form des methodischen Zweifels kleiden woIlen: Wie ist es möglich. daß die in einer Gesellschaft bei der Verteilung knapper sozialer Güter kontinuierlich benachteiligte Mehrheit der Bel'ölkerung diesen Zustand hinnimmt? Abgesehen von der wissenschaftlich unhaltbaren These, daß soziale Ungleichheit lediglich die Konsequenz biologischer Ungleichheit sei, kann es eine Vielzahl von plausiblen empirischen Antworten auf 35 Die Tatsache, daß bestimmte in einer Gesellschaft hervorgebrachten Güterz. B. Waren, Erfindungen, berufliche Qualifikationen - häufig nicht in ihrer Ursprungsgesellschaft zur Verteilung gelangen, kann hier um der Einfachheit unseres formalen Denkmodells willen außer Betracht bleiben. 36 Siehe dazu unten, Kapitel IV, Abschnitt 4.

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diese Frage geben: Durch die Ausübung von physischer Gewalt oder durch die Geltung verfassungsmäßiger Rechte, durch die Manipulation von Ansichten und Bedürfnissen oder durch die rationale Diskussion gesellschaftlicher Erfordernisse ebenso wie durch viele andere gesellschaftliche Prozesse und Institutionen kann eine soziokulturelle Ungleichheitsordnung verbindlich gemacht und aufrechterhalten werden. Mit anderen Worten, solange es soziale Ungleichheit und Benachteiligung in einer Gesellschaft gibt - möge man das nun für unvermeidlich, rur ungerecht oder auch für begrüßenswert halten -, solange ist es undenkbar, daß eine solche Gesellschaft ohne ein Arsenal von sozialen Institutionen und Prozessen auskommen könnte, die darauf hin wirken, daß das allgemeine Interesse der jeweils Benachteiligten an einer grundlegenden Umverteilung der sozialen Güter unwirksam wird. Denn schon allein durch ihre bloße Existenz erbringt jede sozio-kulturelle Ungleichheitsordnung den Beweis, daß es ihr (bis jetzt) gelungen ist, einen" Vulkan" erfolgreich einzudämmen - den Vulkan der Interessen der jeweils pan ihr benachteiligten Bevölkerungsmehr/zeit. In einer solchen Gesellschaft mögen noch so viele sonstige Funktionen erfüllt werden - etwa die Funktion der Produktion von Konsumgütern, der Aufzucht von Kindern, der Befriedigung ästhetischer, religiöser oder sexueller Bedürfnisse, der Durchsetzung politischer Ziele etc. -, wir sind der Auffassung, daß alle diese Funktionen von einer ungleichheitserhaltenden Funktion durchdrungen und geprägt sind. Anders ausgedrückt: In jeder Gesellschaft gibt es eine Unzahl von mehr oder weniger isolierten EinzeIphänomenen und Problemen; als den ihnen allen gemeinsamen Nenner, als die übergreifende Perspektive, ohne die ein gesellschaftstheoretisches Denken nicht auskommen kann, führen wir den Begriff der ungleichheitserhaltenden Funktion ein. Ungleichheit ist gleichsam der "Äther", der alle gesellschaftlichen Teilbereiche durchdringt. So unzulänglich es also auch wäre, irgendein gesellschaftliches Einzelphänomen ausschließlich im Hinblick auf seine ungleichheitserhaltende Funktion zu analysieren - sie ist dennoch die gesellschaftstheoretische Klammer, von der aus unseres Erachtens jede soziologische Detailanalyse ihren Ausgang nehmen sollte. Die vorangegangenen ErWägungen erwecken den Eindruck großer Allgemeingültigkeit. Dennoch haben sie auch eine historische Komponente: Sicherlich ist es zutreffend, daß alle uns bekannten Großgesellschaften als Ungleichheitsordnungen angesprochen werden können. Die erfahrungswissenschaftliche Fruchtbarkeit dieser Betrachtungsweise kann jedoch erst voll zum Tragen kommen, wenn sie auf zeitgenössische Industriegesellschaften angewandt wird: Vorindu-

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strielle Großgesellschaften (meist: Agrargesellschaften) sind wegen ihres technischen Entwicklungsstandes in aller Regel durch eine "Ökonomie der Armut" gekennzeichnet. Die Arbeitsproduktivität ist dort so gering, daß der von den Arbeitenden und ihren Angehörigen nicht selbst zum Leben benötigte Produktionsüberschuß allenfalls ausreicht, einer Minderheit von vielleicht einem Zehntel der Bevölkerung ein privilegiertes Leben zu ermöglichen. Der große "Rest" der Gesellschaftsmitglieder lebt und arbeitet dagegen unter näherungsweise vergleichbaren Bedingungen in der Nähe des Existenzminimums. Das heißt, die Struktur derartiger "armer" Gesellschaften ist so weitgehend von technisch-ökonomischen Imperativen geprägt und in ihren Entfaltungsmöglichkeiten eingeengt, daß es zweckmäßiger erscheint, das Problem des Entwicklungsstandes der Produktivkräfte in den Vordergrund der gesellschaftstheoretischen Argumentation zu stellen 37 . Aber in dem Maße, wie - im Gefolge der sogenannten ,,Industriellen Revolution" - die gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten nicht mehr so ausschließlich vom Primat der Auseinandersetzung mit der natürlichen Umwelt bestimmt werden, ändert sich die Sachlage. Die Möglichkeiten einer bewußten Gestaltung und Steuerung der sozio-kulturellen Mitwelt werden größer. Die Frage nach der sozialen Ungleichheit kann dann nicht mehr zureichend mit dem Hinweis auf den Stand der Produktivkräfte einerseits und die EXIstenz einer Herrschaftsordnung andererseits beantwortet werden. Für die Analyse zeitgenössischer Großgesellschaften kapitalistischen und sozialistischen Typs gelten unseres Erachtens vielmehr die folgenden gesellschaftstheoretischen ürientierungsgesichtspunkte: I. Das jeweilige Maß an sozialer Ungleichheit, wie es in der hierarchischen Verteilung von Macht, Reichtum, Wissen und Ansehen in zeitgenössischen kapitalistischen und sozialistischen Großgesellschaften zum Ausdruck kommt, kann in keinem Falle apriori als naturnotwendig angesehen werden. Es ist vielmehr ein Produkt menschlicher Geschichte, und es kann deshalb prinzipiell unter dem Gesichtspunkt seiner Veränderbarkeit analysiert werden.

37 In einer vorsichtigen Verallgemeinerung könnte man vielleicht sagen, daß die Ungleichheitsstrukturen vorindustrieller Gesellschaften in ihren großen Umrissen vom jeweiligen Stand der Produktivkräfte diktiert werden. Bei der Gestaltung des verbleibenden geringen Variationsspielraumes spielen personifIzierbare Macht- und Herrschaftsprozesse eine beträchtliche Rolle. (Vgl. dazu G. Lenski, Power and Privilege. A Theory ofSociai Stratiflcation, New Y ork 1966, Kapitel 3 und 13).

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2. Von dem in hochindustrialisierten Gesellschaften der heutigen Zeit jeweils empirisch feststellbaren Maß an sozialer Ungleichheit kann bis zum Erweis des Gegenteiles - angenommen werden, daß es zu hoch ist, gemessen an dem Maß der Gleichheit, das im Rahmen der jeweils vorhandenen technischen und ökonomischen Voraussetzungen möglich wäre. 3. Diese Überlegung führt zu unserer gesellschaitstheoretischen Ausgangs frage zurück, die wir jedoch jetzt prägnanter formulieren können: Welche gesellschaftlichen Institutionen und Prozesse sind es, die in hochindustrialisierten Gesellschaften die Allfrech [erhaltung eines Übermaßes an sozialer Ungleichheit ermöglichen, obwohl die Reduzierung dieses Übermaßes im Interesse der durch die Ungleichheitsverhältnisse benachteiligten Bevölkerungsmehrheit liegt und prinzipiell auch möglich sein müßte? Wir sehen jetzt, daß die Frage nach der sozialen Ungleichheit zwar prinzipiell an jede Gesellschaft gerichtet werden kann; aber erst dann, wenn soziale Ungleichheit nicht mehr, wie in früheren Epochen, als eine primär technologisch bedingte und deshalb nahezu unangreifbare Lebensnotwendigkeit angesehen zu werden braucht, weil sich die allgemeine Arbeitsproduktivität und damit der Spielraum für gesellschaftliche Umgestaltungen vergrößert haben, wird sie wirklich zu sozialer Ungleichheit: Weil man davon ausgehen muß, daß das Übermaß an Ungleichheit in hochindustrialisierten Gesellschaften nicht durch festgefügte Schranken (wie den Entwicklungsgrad der Produktivkräfte oder den Nahrungsspielraum) stabilisiert wird, muß es sich um prinzipiell veränderbare soziale Mechanismen handeln, die für die Aufrechterhaltung dieses Übermaßes sorgen. Deshalb wird die Frage der sozialen Ungleichheit erst in diesen Gesellschaften zur soz io logisch en Schlüsselfrage . Diese Schlüsselfrage kommt sowohl bei der erfahrungswissenschaftlichen Erforschung gesamtgesellschaftlicher Strukturzusammenhänge, wie auch bei dem politischen Streben nach gesellschaftlicher Emanzipation und Reduzierung von Ungleichheit eine strategische Bedeutung zu. Denn zum einen ist die Orientierungsthese, daß in hochindustrialisierten Gesellschaften ein im Widerspruch zum Interesse der Bevölkerungsmehrheit stehendes und technologisch nicht (mehr) notwendiges Übermaß an sozialer Ungleichheit herrsche, zweifellos eine erfahrungswissenschaftliche These, deren Fruchtbarkeit bei der empirischen Erforschung sozialer Phänomene unter Beweis gestellt werden kann. Zum anderen ist dieses Übermaß an sozialer Ungleichheit aber auch ein gesellschaftspolitisches Ärgernis. Eine differenzierte erfahrungswissenschaftliche Erforschung dieses "Ärgernisses" in

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seinen verschiedenen Erscheinungsformen und Auswirkungen ist unerläßlich, wenn erfolgversprechende Methoden zu seiner praktischen Verringerung entwickelt werden sollen, die nicht gleichzeitig zu neuen "Ärgernissen" führen. Mit dieser überlegung scheint uns ein Brückenschlag zwischen den beiden soziologischen Hauptaufgaben zu gelingen, die vielfach für unvereinbar gehalten werden - zwischen der Aufgabe der wissenschaftlichen Beschreibung und Erklärung und der Aufgabe wissenschaftlicher Kritik. Der Brückenschlag wird möglich, wenn wir uns entschließen, hochindustrialisierte Großgesellschaften kapitalistischen und sozialistischen Typs unter dem Gesichtspunkt sozialer Ungleichheit, soziale Ungleichheit aber unter dem Gesichtspunkt ihrer Reduzierbarkeit zu analysieren. Mit dieser Vorgehensweise sind wir weder gezwungen, uns in inaktuelle und deshalb wirklichkeitsfremde Utopien von der vollkommen gleichen und repressionsfreien Gesellschaft als gesellschaftspolitischer Idealvorstellung zu verstrikken; noch sind wir genötigt, bei einer perspektivlosen Darstellung gegebener Verhältnisse stehen zu bleiben. Es wird vielmehr die Möglichkeit geschaffen, kapitalistische und sozialistische Gesellschaften anhand der für sie beide empirisch und politisch zentralen Frage nach der sozialen Ungleichheit miteinander zu vergleichen und relevante Unterschiede herauszuarbeiten 38. Wenn wir aufgrund dieser Argumentation nun hochindustrialisierte Gesellschaften als sozio-kulturelle Ungleichheitsordnungen begreifen, so entscheiden wir uns damit für eine Verfahrensweise, die wir als kritischen Funktionalismus bezeichnen möchten: Ebenso wie die Vertreter einer konventionellen strukturell-funktionalen Gesellschaftsanalyse 39 gehen wir davon aus, daß es fruchtbar ist, sozio-kul38 Mit anderen Worten, der vom Ungleichheitsproblem ausgehende gesellschaftstheoretische Ansatz darf keineswegs als eine vorweggenommene Antwort auf die Frage verstanden werden, ob eine "Konvergenz" zwischen kapitalistischen und sozialistischen Industriegesellschaften zu erwarten sei oder ob in der einen Gesellschaftsform die ungleichheitsreduzierenden, in der anderen die ungleichheitsstabilisierenden Kräfte überwögen. Genau diese Fragen sollen vielmehr einer empirisch fundierten Forschung zugänglich gemacht werden. (Vgl. dazu die beiden interessanten Arbeiten vonF. Parkin, Class Inequality and Political Order, London 1971, and A. Giddens, The Class Structure of the Advanced Societies, London 1973). 39 Die beiden "klassischen" Schriften des Struktur-Funktionalismus in der neueren Soziologie sind: T. Parsons, The Social System, Glencoe 1951, und R. K. Merton, Social Theory and Social Structure, 3. Aufl., Glencoe 1968.

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turelle Einzelphänomene im Hinblick auf ihre Bedeutung (Funktion) im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang zu untersuchen. Konventionelle Funktionalisten pflegen sich freilich damit zu begnügen, nach der funktionalen Bedeutung empirischer Teilstrukturen oder -prozesse für die Erhaltung bzw. für die Veränderung der übergreifenden sozio-kulturellen Ordnung (bzw. der "Gesellschaftsstruktur" oder des "Sozialen Systems") zu fragen, ohne daß deren gesellschaftstheoretische Merkmale bewußt mit in die Analyse einbezogen würden. Genau dagegen wendet sich unser "kritischer Funktionalismus": Die soziokulturelle Ordnung in entwickelten kapitalistischen und sozialistischen Großgesellschaften wird nicht kommentarlos als gegeben unterstellt - wir begreifen sie vielmehr als sozio-kulturelle Ungleichheitsordnung; nicht einfach der Frage nach Ordnung, sondern nach dem spannungsträchtigen Zusammenspiel von Ungleichheit und Ordnung40 gilt unsere gesellschaftstheoretische Aufmerksamkeit. Damit soll nun freilich nicht gesagt sein, daß jedes sozio-kulturelle Teilphänomen innerhalb einer Gesellschaft notwendigerweise ungleichheitserhaltende Funktionen ausüben müsse. Hinter unserem "kritischen Funktionalismus" steht vielmehr die heuristische Absicht. die nur empirisch zu beantwortende Frage nach den jeweiligen ungleichheitsstabiliSierenden und -reproduzierenden bzw. den ungleichheitsreduzierenden Funktionen und Potenzen einzelner soziokultureller Teilphänomene ins Zentrum des soziologischen Forschungsinteresses rücken zu können. Denn gerade aus dem Zusammenspiel zwischen ungleichheitshemmenden und ungleichheitsfördernden Elementen ergibt sich das prekäre Gleichgewicht zeitgenössischer sozio-kultureller Ungleichheitsordnungen, die dem Teufelskreis der vorindustriellen "Ökonomie der Armut" entwachsen sind. Wenn wir hier von "Gleichgewicht" sprechen, so wollen wir damit keineswegs die Vorstellung von gesellschaftlicher Harmonie erwekken. Denn eine sozio-kulturelle Ungleichheitsordnung kann sich nicht in einem "harmonischen", sondern nur in einem repressiven Gleichgewichtszustand befinden, der immer dann ins Wanken gerät, wenn die auf größere Gleichheit ausgerichteten Interessen der jeweils benachteiligten Bevölkerungsgruppen sich nicht mehr eindämmen Eine brauchbare kritische Darstellung und Diskussion findet sich inB. Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffes in der positiven Soziologie und in der kritischen Theorie der Gesellschaft, in: Soziale Welt 15/1964, S.97-129. 40 Vgl. dazu unsere Überlegung zur "Doppelfunktion aller Kultur: Entlastung und Zwang" in Kapitel I, Abschnitt 2.

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lassen. Wir können demnach auch nicht davon ausgehen, daß die in einer von Ungleichheit geprägten Gesellschaft ablaufenden Prozesse "normalerweise" wie ein perfektes Räderwerk zusammenspielen, das der Aufrechterhaltung gegebener Ungleichheitsverhältnisse in optimaler Weise dient. Wir sind der Auffassung, daß dieser Modellfall einer perfekt funktionierenden sozio-kulturellen Ungleichheitsordnung in keiner hochindustrialisierten Gesellschaft realisiert ist. Die Aufgabe unserer gesellschaftstheoretischen Orientierung und des ihr beigeordneten "kritischen Funktionalismus" ist es demnach, darauf hinzuweisen, daß der Soziologe in jedem Falle der empirischen Frage nachgehen muß, in welchem Grade eine bestimmte Gesellschaft wie eine "vollkommene" Ungleichheitsordnung funktioniert und welche gegenläufigen Tendenzen in ihr am Wirken sind. Auf dieser Grundlage kann es dann auch möglich werden, verschiedene Gesellschaften miteinander zu vergleichen - unter anderem, um herauszufinden, inwieweit kapitalistische und sozialistische Gesellschaften sich in dieser Hinsicht unterscheiden. Es dürfte jetzt erkennbar sein, unter welchen Voraussetzungen das Konzept der sozio-kulturellen Ungleichheitsordnung der Soziologie eine nützliche Perspektive bieten kann: Er soll nicht als eine dogmatische, immer und überall gültige Setzung angesehen werden, sondern als eine rational begründ bare ,,gesellscha/tstheoretische Provokation", die ihre erfahrungswissenschaftliehe Fruchtbarkeit unter Beweis stellen kann, indem sie der soziologischen Einzelforschung bei der Aufdeckung gesellschaftlicher Wirkungszusammenhänge eine übergreifende Orientierung an die Hand gibt. Mit diesen Überlegungen kommen wir zum Abschluß des ersten Teiles unserer Schrift. Seine Aufgabe war es, sozusagen "in erster Lesung" über allgemeine Erkenntnisprobleme der Soziologie zu informieren und zugleich eine spezifische gesellschaftstheoretische Orientierung vorzustellen. Diese wird den Hintergrund für die nun folgende "zweite Lesung" abgeben, die stärker ins Detail gehen muß: Im nächsten Kapitel werden wir zunächst einige wissenschaftstheoretische Grundlagen soziologischen Denkens erörtern. Sie werden zusammen mit der soeben skizzierten gesellschaftstheoretischen Orientierung - den Hintergrund für unser abschließendes Hauptkapitel bilden, das sich mit der Entfaltung eines begrifflichen Rahmens für die Soziologie befaßt.

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Zweiter Teil Elemente einer empirisch-kritischen Soziologie

Kapitel 111: Der "Positivismusstreit" als wissenschaftstheoretischer Hintergrund

In den meisten vorliegenden Texten zur Einführung in die Soziologie steht ein Kapitel über soziologische Grundbegriffe am Anfang; der Leser soll zunächst mit dem sprachlichen Handwerkszeug vertraut gemacht werden, um dann mit dessen Hilfe über Theorien, Methoden, Ergebnisse und sonstige Probleme der Soziologie informiert werden zu können. Eine solche Vorgehensweise erscheint einleuchtend - freilich nur unter der Voraussetzung, daß soziologische Grundbegriffe als so unproblematisch gelten können, daß sie bedenkenlos als wissenschaftliche "Bausteine" verwendet werden dürfen. Nun ist aber, wie im vorangegangenen Kapitel bereits angedeutet wurde, die soziologische Begriffsbildung eine schwierige und folgenreiche Aufgabe, in die unweigerlich gesellschaftstheoretische Vorentscheidungen einfließen. Wollte man also von vorneherein einen begrifflichen Rahmen festlegen, ohne diese Vorentscheidungen kenntlich zu machen und ausreichend zu begründen liefe man Gefahr, bei der späteren Anwendung dieser Begriffe in dem einmal vorgegebenen Rahmen gefangen zu bleiben, ohne sich dessen noch bewußt werden zu können. Im ersten Teil der vorliegenden Schrift wurde deshalb ein anderes Verfahren angewandt: Es wurde versucht, den Leser mit Hilfe einer "gehobenen Alltagssprache" schrittweise an die soziologische Erkenntnisproblematik und Denkweise heranzuführen. Da es dabei weniger darauf ankam, einen enzyklopädischen Überblick über "die" Soziologie zu geben, sondern eher darauf, einen gesellschaftstheoretisch orientierten Durchblick anzubieten, war es noch nicht erforderlich, mit allzu streng ausgearbeiteten Begriffen zu operieren. Auch auf einen komplizierten Apparat von Literaturhinweisen und Belegstellen wurde verzichtet, um den Leser anzuregen, sich zunächst nur mit dem vorgetragenen Gedankengang selbst auseinanderzusetzen, ohne durch ständige Hinweise auf wissenschaftliche Autoritäten irritiert zu werden. Aber nun, da ein gewisses Vorverständnis über die allgemeine Erkenntnissituation der Soziologie erzielt sein dürfte, wird der Leser wohl erwarten, daß ihm jetzt "endlich" in herkömmlicher

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Weise eine Einführung in die soziologische Fachsprache gegeben wird. Indes, wie bereits im zweiten Kapitel andeutungsweise zu erkennen war, ist die Frage, welche Bedeutung den Begriffen im Rahmen des soziologischen Erkenntnisprozesses zukommt, ein Gegenstand grundsätzlicher wissenschaftstheoretischer Kontroversen. Schon allein deshalb, weil wir dem Leser unsere eigene wissenschaftstheoretische Auffassung nicht einfach als die richtige aufzwingen können, müssen wir uns eingehender auf diese Kontroversen einlassen; darüber hinaus ist es aber auch kein Geheimnis, daß das Interesse an wissenschaftstheoretischer Information und Reflexion in allen Humanwissenschaften, speziell auch in der westdeutschen Soziologie, in den letzten Jahren beträchtlich zugenommen hat. Wissenschaftstheorie gehört heute zum Basiswissen jedes Soziologen und ist infolgedessen auch für Lehrer und andere "Benutzer" soziologischer Begriffe, Denkweisen und Ergebnisse unentbehrlich. 41 Das zunehmende wissenschaftstheoretische Problembewußtsein ist zweifellos mit dem sog. "Positivismusstreit in der deutschen Soziologie"42, der in den frühen 60er Jahren entbrannt ist, eng verknüpft. Vor dem Dilemma stehend, einerseits im Rahmen einer einführenden Schrift keine umfassende wissenschaftstheoretische Abhandlung bieten zu können, andererseits aber auf zentrale wissenschaftstheoretische Argumente nicht verzichten zu dürfen, haben wir uns deshalb entschlossen, den "Positivismusstreit" zur Grundlage unserer Überlegungen zu machen. In dieser Kontroverse steht eine wissenschaftstheoretische Richtung, die sich selbst "kritischer Rationalismus" 41 Anstelle des hier bevorzugten Wortes "Wissenschaftstheorie" wird häufig synonym gebraucht: Epistemologie, Wissenschaftslehre, Wissenschaftslogik, Forschungslogik o. ä. Mit diesen Termini wird jener Zweig der Philosophie bezeichnet, der sich mit der Frage nach Möglichkeit und Grenzen wissenschaftlichen Erkennens beschäftigt. - Der Begriff "Erkenntnistheorie" ist demgegei:über weiter gefaßt: Erkenntnistheorie zielt auf die Erforschung der Bedingungen und Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis im allgemeinen ab - also wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Erkenntnis. - Enger gefaßt sind dagegen Begriffe wie Methodologie, Methodenlehre, Logik der Sozialforschung o. ä.: Hier handelt es sich um die Anwendung wissenschaftstheoretischen Denkens auf spezielle Forschungsbereiche, z. B. die soziokulturelle Realität. - Die in allen diesen Begriffen auftretenden Suffixe ,,-theorie", ,,-logik", ,,-lehre", sind dabei relativ lose gebraucht - etwa im Sinne von "wissenschaftliches Nachdenken über ... ". 42 Dies ist der Titel der 1969 im Luchterhand-Verlag veröffentlichten Dokumentation der "klassischen" Texte der Kontroverse: T. W. Adorno u. a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied und Berlin 1969.

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oder "neuer Kritizismus" nennt und die von ihren Gegnern meist dem ,,(Neo-)positivismus" oder "Szientismus" zugerechnet wird, einer anderen Richtung gegenüber, die als "kritische Theorie", "dialektische Soziologie" oder auch ganz einfach als "Frankfurter Schule" bekannt geworden ist. Der Positivismusstreit, der vor allem mit den Namen Karl R. Popper und Hans Albert auf der einen, Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas auf der anderen Seite verknüpft ist, soll hier nicht nur wegen seiner großen Aktualität in der westdeutschen Soziologenschaft aufgegriffen werden; er ist auch deshalb besonders geeignet, weil er als der wissenschaftstheoretisch fortgeschrittenste Ausdruck eben jenes grundlegenden Dilemmas aller Soziologie gelten kann, das im ersten Kapitel mit Hilfe der Worte "Anpassung" und "Emanzipation" und der Namen Auguste Comte und Karl Marx bereits angesprochen worden ist. Das nun folgende Kapitel hat demgemäß zwei Aufgaben: Zum einen soll es die notwendigsten wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen für die sich daran anschließende Entfaltung soziologischer Begriffe schaffen; zum andern soll es über den "Positivismusstreit" selbst informieren. Diese Information kann selbstverständlich nicht perspektivlos sein ~ "reine" wissenschaftliche Abbildungen oder Beschreibungen sind unseres Erachtens unmöglich 43 . Immerhin befinden wir uns aber jetzt in der vorteilhaften Lage, bei der Darstellung des "Positivismusstreites" nicht von ungeklärten Prämissen ausgehen zu müssen, sondern auf die im ersten Teil dieser Schrift offen dargelegte gesellschaftstheoretische Orientierung verweisen zu können, die der weiteren Argumentation ihre Perspektive gibt. Da wir der Meinung sind, daß es dem Leser weniger darum gehen kann, über den historischen Verlauf einer "klassischen" Kontroverse mit allen ihren polemischen Attacken, Spitzfindigkeiten und Volten unterrichtet zu werden, als vielmehr über deren systematischen Ertrag, soll im folgenden auf die unmittelbar vom "Schlagabtausch" zwischen kritischen Rationalisten und Verfechtern kritischer Theorie geprägte Stellungnahmen weitgehend verzichtet werden. Stattdessen wird hauptsächlich auf Texte zurückgegriffen, in denen die jeweiligen Auffassungen mit größerer Gelassenheit vorgetragen werden.

43 Vgl. dazu S. 37 f.

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1. Gemeinsame Ausgangslage Bevor wir auf die für das Problem der Begriffsbildung wichtigen Gegensätze im "Positivismusstreit" eingehen, soll versucht werden, die gemeinsame Ausgangslage der Diskussion zu bestimmen. Unseres Erachtens besteht über die folgenden drei wissenschaftstheoretischen Grundeinsichten Einigkeit zwischen Anhängern des kritischen Rationalismus und der dialektischen Soziologie 44 : 1. Jede wissenschaftliche Erkenntnis ist begriffliche Erkenntnis. Das heißt, wissenschaftliche Erkenntnis kann niemals ein direktes Abbild der Realität bieten; immer treten Begriffe abstrahierend und auswählend dazwischen: Begriffe sind das geistige Instrumentarium der Wissenschaften, das benötigt wird, um das jeweils "Wichtige" aus der prinzipiell unbegrenzten Vielfalt "unwichtiger" Gesichtspunkte und Sachverhalte herauszuheben und "angemessen" zu untergliedern. Was nicht begrifflich erfaßt, unterschieden und beschrieben wird, ist folglich nicht Bestandteil wissenschaftlichen Erkennens. Deshalb besteht immer die Gefahr, daß durch eine "unangemessene" Begriffsbildung der Blick auf "wichtige" Gegebenheiten und Zusammenhänge verstellt wird. Begriffe sollten darum möglichst "angemessen" sein (Freilich, welche Gesichtspunkte jeweils für die Beurteilung der "Wichtigkeit" und "Angemessenheit" von Begriffen heranzuziehen sind, darüber herrscht zwischen kritischen Rationalisten und Dialektikern beträchtliche Uneinigkeit). 2. Entgegen einer weitverbreiteten vorwissenschaftli~hen Ansicht ist es logisch unmöglich, wissenschaftliche Grundbegriffe allein mit Hilfe von Definitionen zu gewinnen: Die logische Operation des Definierens dient dazu, neue Fachtermini (Wörter) in eine wissenschaftliche Fachsprache explizit einzuführen, indem man sie mit einem anderen Terminus bzw. einer Kombination anderer Termini gleichsetzt, über deren wissenschaftliche Bedeutung bereits Klarheit besteht. Zusätz44 Wenn WIr un folgenden so etwas wie einen formalen Minimalkonsensus postulieren, der die beiden streitenden Parteien verbindet, so wirft das ein Problem auf: Wir können uns weder der Sprache der einen, noch der anderen Seite bedienen, um diese gemeinsame Ausgangsbasis zu formulieren, wenn wir nicht vorschnell Partei ergreifen wollen. Unseres Erachtens geht aber aus der Argumentation der im Literaturverzeichnis genannten Schriften von Popper, Albert, Adorno und Habermas eindeutig hervor, daß keiner der Autoren gegen die im Text genannten drei "Grundeinsichten" entscheidende Einwände haben dürfte: Es handelt sich für sie um erkenntnistheoretische Gemeinplätze, die fiir unsere Gedankenfiihrung aber bedeutsam sind.

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lich Information wird dadurch nicht hinzugewonnen. Definitionen sind demnach immer tau tologisch; sie können bestenfalls zu Sprachvereinfachungen, aber niemals zu unmittelbarem Erkenntnisgewinn führen. Es ist deshalb unmöglich, sog. "erste" Definitionen zu erstellen, deren Aufgabe es wäre, Wortbedeutungen zu bestimmen, ohne dabei auf andere Termini zurückzugreifen, deren Bedeutung bereits bekannt ist. 45 Die Grundbegriffe einer Wissenschaft können folglich niemals allein mit Hilfe logischer Ableitungen definiert werden; sie können immer nur unter Zuhilfenahme vorwissenschaftlicher Kommunikationsformen (Alltagssprache und/oder bloßes Hinweisen auf sinnlich Wahrnehmbares, "Evidentes" etc.) eingeführt werden. 3. Sofern man sich entschließen sollte, ein in sich geschlossenes System von Grundbegriffen als feststehenden begrifflichen Bezugsrahmen einer Wissenschaft zugrunde zu legen, muß dies zu Dogmatisierung und wissenschaftlicher Sterilität führen. Nur wenn die verwendeten Begriffe stets flexibel und revidierbar bleiben, können neue theoretische und empirische Einsichten und neue Problemstellungen in das wissenschaftliche Denken Eingang finden. Aus diesen drei Grundgedanken ergibt sich nun die folgende gemeinsame Ausgangssituation: Wenn einerseits wissenschaftliches Erkennen ohne "angemessene" Begriffe nicht möglich ist, wenn aber andererseits die Bestimmung dieser Begriffe weder mit Hilfe rein logischer Operationen noch mit Hilfe dogmatischer Setzung gelingen kann, so bleibt offen: Wie ist es möglich, "angemessene" wissenschaftliche Begriffe für die SOZiologie zu gewinnen? Die beiden Parteien im Positivismusstreit gehen diese Schlüsselfrage in unterschiedlicher Weise an, indem sie divergierende Vorstellungen von der "Angemessenheit " wissenschaftlicher Begriffe zugrundelegen. Generell läßt sich sagen, daß bei der Beurteilung der "Angemessenheit" von Begriffen (aber auch von theoretischen Ansätzen und 45 Wenn man beispielsweise versucht, das Wort "Student" zu definieren, indem man sagt: "Als Studenten sollen alle die Individuen bezeichnet werden, die an einer staatlich anerkannten Hochschule immatrikuliert sind", so kann diese Definition nur verstanden werden, wenn bereits Klarheit darüber besteht, was unter "Individuum", "staatlicher Anerkennung", "Hochschule", "Immatrikulation" zu verstehen ist, usf. - Im übrigen ließe sich das so definierte Wort "Student" im Sprachgebrauch stets durch die umständlichere Formel "Individuum, das an staatlich anerkannter Hochschule immatrikuliert ist", ersetzen, ohne daß daraus ein Informationsverlust oder -gewinn entstehen könnte.

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methodologischen Strategien) folgende Gesichtspunkte eine Rolle spielen: Selbstverständliches formales Ziel jeder erfahrungswissenschaftlichen Forschung ist es, "Unbekanntes" aufzudecken und faßbar zu machen. Wissenschaftliche Begriffe, Theorien und Methoden müssen deshalb so beschaffen sein, daß das "Unbekannte" mit ihrer Hilfe auch tatsächlich erfaßt werden kann. Die Entscheidung über die Verwendung eines bestimmten begrifflichen, theoretischen und/oder methodischen Instrumentariums stellt deshalb immer einen Vorgriff auf etwas Unbekanntes, noch zu Erkennendes dar. Insbesondere ist es unvermeidlich, daß in diese Vorentscheidung Annahmen darüber eingehen, von welcher Beschaffenheit (bzw. "Natur", "Wesen", "Struktur", o. ä.) die zu erforschende Realität ist. Wer z. B. annimmt, daß im Bereich der historisch-sozialen Realität invariante Gesetzmäßigkeiten existieren und auch erkennbar und erkenntniswürdig sind, wird sich zu deren Erforschung ein anderes wissenschaftliches Instrumentarium wählen als ein Wissenschaftler, der diese Annahmen nicht teilt. Damit ist bereits gesagt, daß in dem "Vorgriff auf Unbekanntes" unweigerlich auch das allgemeine Erkenntnisziel des Forschers bzw. seiner Wissenschaft enthalten ist. Denn man wird ein Instrumentarium von Begriffen, Theorien und Methoden stets so zuzuschneiden versuchen, daß es Ergebnisse erbringt, die - aus welchem Grund auch immer - für "wichtig" gehalten werden. Beide, das Erkenntnisziel und das Vorverständnis vom Gegenstand, sind (wie wir bereits im zweiten Kapitel im Zusammenhang mit der Entfaltung unserer gesellschaftstheoretischen Orientierung gesehen haben) nicht unabhängig voneinander. Wir können somit sagen, daß erfahrungswissenschaftliche Begriffe, Theorien und Methoden stets zweierlei zu leisten haben: Sie müssen einerseits dem Erkenntnisziel des Forschers und andererseits den empirischen Gegebenheiten möglichst gerecht werden. Wenn ihnen dies gelingt - wenn sie also tatsächlich zu dem Zugang verschaffen können, was jeweils erforscht werden soll - dann wollen wir sie als "angemessen"46 bezeichnen. Weichen zwei wissenschaftliche Schulen in ihrem Erkenntnisziel und in ihrem Vorverständnis vom Gegenstand so weit voneinander ab, wie die dialektische Soziologie und der kritische Rationalismus, so muß es ihnen schwerfallen, sich auf ein gemeinsames wissenschaftliches Instrumentarium zu einigen, das sie beide für "angemessen" halten. Das gilt es nun zu zeigen. 46 Viele Methodologen bevorzugen an Stelle des Terminus "Angemessenheit" das Wort "Gültigkeit" oder "Validität".

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2. Kritischer Rationalismus Die Antwort, die von seiten des kritischen Rationalismus auf die Frage gegeben wird, wie es möglich sei, zu "angemessenen" wissenschaftlichen Begriffen zu gelangen, erscheint auf den ersten Blick verblüffend einfach. Hans Albert schreibt: "Unter einer brauchbaren Wissenschaftslogik verstehen wir eine solche, die an die Stelle der alten Begriffsorientierung die Problem orientierung setzt, die die Akzentuierung von Definitionen zugunsten der Betonung von Hypothesen und Theorien fallen läßt ... ,,47

Die Strategie des kritischen Rationalismus ist es also, das Problem der Begriffsbildung als zweitrangig herunterzuspielen und sich stattdessen der Theoriebildung zuzuwenden. Über die wissenschaftliche "Angemessenheit" von Begriffen entscheidet allein die Brauchbarkeit der mit ihrer Hilfe formulierten Hypothesen und Theorien. Wir müssen uns demnach zunächst damit befassen, was im Sinne des kritischen Rationalismus unter "brauchbaren" Hypothesen bzw. Theorien zu verstehen ist, wenn wir Genaueres über den Stellenwert der Begriffsbildung im Rahmen dieser wissenschaftstheoretischen Konzeption erfahren wollen. Alle kritischen Rationalisten, ebenso wie schon ihr Vorläufer, der Positivist Com te, gehen von dem Grundgedanken aus, daß es nur eine einzige erfahrungswissenschaftliche Methode gebe - die Methode der Naturwissenschaften. Eine eigenständige geistes- oder sozialwissenschaftliche Methode lehnen sie ab: Die verschiedenen empirischen Wissenschaften unterscheiden sich nicht durch ihre Methode, sondern nur durch ihre spezifische Fragestellung, ihren Gegenstand und die zu seiner Erforschung erforderlichen Forschungstechniken. Diese Auffassung von der "Einheit der Realwissenschaften" ist nur möglich, weil dahinter ein bestimmtes Vorverständnis von der einheitlichen Beschaffenheit aller erfahrungswissenschaftlich erforschbaren Realität steht: Alle erfahrbare Realität - gleichgültig, ob sie nun Gegenstand der Physik oder der Psychologie, der Biologie oder der Soziologie sein mag - wird von immer-und-überall-gültigen invarianten Gesetzmäßigkeiten bestimmt.

47 H. Albert, Probleme der Theoriebildung. Entwicklung, Struktur und Anwendung sozialwissenschaftlicher Theorien. In: Ders. (Hrsg.), Theorie und Realität, Tübingen 1964, S. 14. Vgl. auch K. R. Popper, Objective Knowledge. An Evolutionary Approach, Oxford 1972, S. 309 f.

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Allgemeines Erkennungsziel aller empirischen Wissenschaften, auch der Soziologie, ist infolgedessen die Aufdeckung solcher Gesetzmäßigkeiten. 48 Diesem Zweck dienen die sog. nomologischen Hypothesen und Theorien 49 : Eine nomologische Hypothese ist im Verständnis des kritischen Rationalismus eine präzise formulierte und empirisch überprüfbare Aussage, die einen unter genau benennbaren Bedingungen immer und überall auftretenden empirischen Zusammenhang - eine Gesetzmäßigkeit - beschreibt. Hingegen sind verallge meinernde empirische Aussagen, deren Geltungsbereich lediglich auf ein bestimmtes Raum-Zeit-Gebiet eingeschränkt bleibt (und die insofern "historisch" sind), nicht als nomologische Hypothesen, sondern nur als "Quasi-Hypothesen" anzusehen. Eine nomologische Hypothese läßt sich demnach stets in die folgende logische Form bringen: Immer und überall wenn bestimmte Bedingungen gegeben sind, dann treten bestimmte Konsequenzen auf. Für unseren Diskussionszusammenhang ist dabei insbesondere der Hinweis wichtig, daß weder zur Beschreibung der Bedingungen, noch der Konsequenzen raum-zeitlich gebundene (historische) Begriffe verwendet werden dürfen, sondern ausschließlich immerund überall anwendbare (universelle) Begriffe 50. - Unter einer wissenschaftlichen Theorie im Sinne des kritischen Rationalismus ist "eine Menge (System) durch Ableitungsbeziehungen miteinander verbundener nomologischer Hypothesen zu verstehen, die im Grenzfall aus der Menge aller Folgerungen aus einer nomologischen Hypothese ... bestehen",51

Im Gegensatz zu älteren "positivistischen" Auffassungen schließt der kritische Rationalismus die Möglichkeit aus, daß der Prozeß der Theoriebildung in einer Wissenschaft jemals zum Abschluß kommen könne: Endgültige Hypothesen oder Theorien, die absolute Gewißheit über invariante Gesetzmäßigkeiten vermitteln, kann es prinzipiell nicht geben. Statt dessen vertreten Popper, Albert und ihre Anhänger eine "Approximationstheorie der Erkenntnis"52, derzufolge Hypothesen und Theorien sich immer nur an die invariante Struktur der Realität annähern können, ohne sie jemals mit letzter Gewißheit zu 48 Mit besonderer Klarheit wird diese Auffassung dargelegt von K. R. Popper, Die Zielsetzung der Erfahrungswissenschaften in: H. Albert (Hrsg.), Theorie und Realität, a. a. 0., S. 73 ff.; vgl. dazu auch das Hauptwerk von K. R. Popper, Logik der Forschung, 4. Aufl., Tübingen 1971, S. 77 ff. 49 Vgl. zum folgenden: H_ Albert, Probleme der Theoriebildung, a. a. 0., S. 19. - Das vom Griechischen hergeleitete Wort "nomologisch" (und auch das gleichbedeutend gebrauchte "nomothetisch', läßt sich mit "gesetzeswissenschaftlich" übersetzen. 50 Vgl. dazu oben, Kapitel 11, Abschnitt 3. 51 H. Albert, Probleme der Theoriebildung, a. a. 0., S. 27. 52 Ebd., S. 17.

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erfassen. Diese Annäherung vollzieht sich in Form eines ständigen "trial-and-error-Prozesses". Das heißt, wissenschaftliche Forschung befaßt sich entweder damit, vorhandene Hypothesen oder Theorien mit Hilfe von empirischen Untersuchungen mit der Realität zu konfrontieren (trial), um eventuell vorhandene Mängel (error) erkennen und entsprechende Verbesserungen (trial) vorschlagen zu können; oder sie befaßt sich damit, bereits erprobte Hypothesen und Theorien durch die Konstruktion und empirische Überprüfung "besserer" Hypothesen bzw. Theorien zu ersetzen. Hinter dieser Auffassung steht das von Karl R. Popper in seinem frühen Hauptwerk "Logik der Forschung" (1934) entwickelte FalsijikationsprinZip S3, demzufolge keine gültigen induktiven Schlüsse von empirisch gegebenen EinzeInillen auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten möglich sind, weil eine von Raum und Zeit unabhängige nomologische Aussage sich immer auf eine unendliche Zahl möglicher Einzelfälle bezieht, die niemals alle empirisch erfaßt werden können. Nomologische Hypothesen und Theorien können deshalb nicht endgültig verifiziert werden; hingegen kann jede allgemeine Gesetzesaussage durch den Nachweis eines einzigen ihr widersprechenden Einzelfalles widerlegt und damit "falsifiziert" werden. - Es wird nun deutlich, welche zentrale Bedeutung der Kritik im Rahmen des kritischen Rationalismus zukommt 54 : Kritik ist die treibende Kraft des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses. Deshalb müssen alle wissenschaftlichen Aussagen so beschaffen sein, daß sie einer ständigen theoretischen und empirischen Kritik ausgesetzt werden können; d. h. sie müssen prinzipiell falsifizierbar sein und dürfen nicht durch Dogmatisierung gegen Kritik immunisiert werden. Hauptaufgabe dieser kritischen Methode ist es, weniger taugliche Hypothesen und Theorien zu eliminieren, um so immer näher an die invariante Struktur der Realität heranzurücken. Mit anderen Worten, Zielrichtung der Kritik im Verständnis des kritischen Rationalismus sind wissenschaftliche Aussagen über Invarianzen; diese Invarianzen selbst bleiben hingegen jeder Kritik entzogen. Um nun entscheiden zu können, ob eine Hypothese oder Theorie der invarianten Struktur der Realität näher kommt als eine andere, ob sie also "besser" ist, bedarf es einer eindeutigen Bemessungsgrundlage. Der kritische Rationalismus bietet eine solche an, und zwar in Gestalt d~s Kriteriums der Erklärungskrajt: 53 Vgl. K. R. Popper, Logik der Forschung, 4. Aufl., Tübingen 1971, S. 47 ff. 54 Vgl. hierzu etwa.H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1968, Kap. 11.

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Nomologische Hypothesen und Theorien ermöglichen kausale Erklärungen. Eine im Sinne des kritischen Rationalismus korrekte Erklärung enthält immer mindestens drei unterscheidbare Bestandteile: (G) Allgemeine Gesetzesaussage (A) Anfangsbedingung (Be schrei- } Explanans bung der Umstände, unter denen (E) auftritt) (E) Zu erklärender Tatbestand

Explanandum

Zur Erläuterung dieses nomologischen Kausalitätsschemas soll ein möglichst unproblematisches naturwissenschaftliches Beispiel 55 benutzt werden: Wenn wir z. B. mit dem Tatbestand konfrontiert werden, daß ein Mensch X gestorben ist (E), der kurz zuvor 10 Gramm Zyankali gegessen hat (A), so mag der ursächliche Zusammenhang für den NichtwissenschaftIer bereits eindeutig erklärt erscheinen - aber nur deshalb, weil er stillschweigend mit der Wirksamkeit einer allgemeinen Naturgesetzlichkeit (G) rechnet, die etwa folgendermaßen lauten könnte: "Wenn ein Mensch wenigstens drei Milligramm Zyankali einnimmt, dann stirbt er binnen zehn Minuten". M. a. W., erst aus dem Zusammenspiel einer allgemeinen Gesetzessaussage (G) und einer empirisch gegebenen singulären Anfangsbedingung (A) läßt sich ein Ereignis (E) logisch deduzieren; es gilt damit als kausal erklärt. 5657

55 Da die Frage, ob das nomologische Kausalitätsmodell auch flir die Soziologie maßgeblich ist, im Rahmen des "Positivismusstreites" kontrovers diskutiert wird, würde die Verwendung eines soziologischen Beispieles bereits einer Stellungnahme gleichkommen, die an dieser Stelle noch nicht begründet werden könnte. 56 Vgl. zu diesem Absatz K. R. Popper, Naturgesetze und theoretische Systeme, in: H. Albert (Hrsg.), Theorie und Realität, a. a. 0., S. 93 ff., wo auch das Zyankalibeispiel verwendet wird, sowie K. D. Opp, Methodologie der Sozialwissenschaften. EinfUhrung in Probleme ihrer Theoriebildung, Hamburg 1970, S. 29 ff. und R. Prim/H. Ti/man, Grundlagen einer kritisch-rationalen Sozialwissenschaft. Studienbuch zur Wissenschaftstheorie, Heidelberg 1973, S. 70 ff. 57 Das hier skizzierte· Kausalitätsmodell läßt sich auch zur Formulierung wissenschaftlicher Prognosen und technischer Anweisungen verwenden: Aufgrund der allgemeinen Gesetzesaussage (G) und der Tatsache, daß ein Mensch X 10 Gramm Zyankali ißt, kann dessen baldiger Tod (E) "prognostiziert" werden. Umgekehrt läßt sich, wenn das Ereignis (E) herbeigeflihrt werden soll, aus der Gesetzesaussage (G) die "technische Anweisung" (A) deduzieren: "Er muß mindestens 3 Milligramm Zyankali einnehmen."

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Nun besitzt zweifellos nicht jede nomologische Wenn-Dann-Aussage eine gleich hohe Erklärungskraft. Stünde uns etwa in unserem Beispiel nur die sehr viel allgemeinere und unpräzisere Gesetzesaussage (G') zur Verfügung: "Wenn ein Mensch etwas schwer Verdauliches ißt, so kann er sterben", und hätte der Verstorbene vor seinem Tode nicht nur Zyankali (A), sondern auch noch ein Kilogramm Sauerkraut (A') verspeist, so wäre nicht zu entscheiden, ob der Tod aufgrund von (G') und (A) oder von (G') und (A') eingetreten ist. Mit anderen Worten, die Erklärungskraft von (G') reicht in diesem Fall für eine eindeutige Erklärung von (E) nicht mehr aus. - Eine Systematisierung derartiger Überlegungen führt nun zum wissenschaftstheoretischen Konzept der Erklärungskrajt, das Hans Albert folgendermaßen darstellt: ,,(Es) kann davon ausgegangen werden, daß man im wissenschaftlichen Denken nach Erkenntnis der Beschaffenheit der wirklichen Welt und damit nach Theorien strebt, die möglichst große Erklärungskraft besitzen und möglichst tief in die Struktur der Realität eindringen, Theorien, von denen wir vermuten dürfen, daß sie der Wahrheit möglichst nahe kommen, obwohl wir niemals Gewißheit darüber erreichen können". 58 "Um Erklärungskraft zu erreichen, muß man möglichst hohen Informationsgehalt anstreben ... Für die Bestimmung des informativen Gehaltes solcher (seil. nomologischer) Aussagen kann man von der Idee ausgehen, daß jede Information einen Ausschluß bestimmter logischer Möglichkeiten, eine Einschränkung des logischen Spielraums involviert. ( ... ) Theorien, die mehr Möglichkeiten ausschließen, informieren in höherem Grad über die Realität und sind gleichzeitig in stärkerem Maße anhand der Tatsachen prüfbar ... Man hat solche Aussagen einmal treffend als Immer-und-überallWenn-Dann-Aussagen bezeichnet. ( ... ) Sinkender Gehalt der Wenn-Komponente bedeutet ... größere Allgemeinheit der Hypothese selbst ... Steigender Gehalt der Dann-Komponente bedeutet größere Präzision der Hypothese. Man kann also sagen, daß größere Allgemeinheit und größere Präzision bei einer nomologischen Hypothese gleichzeitig größeren Informationsgehalt bedeuten".59

Mit Hilfe des strategischen Konzepts der Erklärungskraft 60 gewinnt die vom kritischen Rationalismus gegenüber der Frage der Begriffsbil58 H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1968, S. 47. 59 H. Albert, Probleme der Theoriebildung ... , a. a. 0., S. 22 ff. 60 Wie aus den voranstehenden Zitaten hervorgeht, können die Bezeichnungen "Erkliirungskraft", "Informationsgehalt", "empirische Aussagefähigkeit" synonym gebraucht werden. Eine ausftihrliche Darstellung des PopperAlbert'schen Konzepts der Erklärungskraft findet sich bei K. D. Opp, Methodologie der Sozialwissenschaften, a. a. 0., S. 166 ff. Detaillierte Ausfiihrungen über den Zusammenhang zwischen steigendem Informationsgehalt

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dung eingenommene pragmatische Haltung ihre innere Schlüssigkeit: Begriffe sind nur solange brauchbar, wie sie dazu beitragen, erklärungskräftige Aussagen zu formulieren; sie werden verworfen, sobald es gelingt, mit Hilfe anderer Begriffe bessere Hypothesen oder Theorien zu konstruieren. Eine "wesensmäßige" Bindung zwischen bestimmten Begriffen und bestimmten empirischen Sachverhalten kann es demnach nicht geben. Es gibt keine "richtigen" oder "falschen", sondern nur mehr oder weniger fruchtbare Begriffe. 61 Diese Auffassung zieht ein weitgehendes Desinteresse gegenüber Begriffsdiskussionen nach sich. Eine Einführung in die soziologischen Grundbegriffe auf der Basis des kritischen Rationalismus müßte demgemäß etwa folgendermaßen vorgehen: Sie müßte darauf bedacht sein, die im Hinblick auf ihren Beitrag zu erklärungskräftigen Hypothesen oder Theorien erfolgreichsten Begriffe vorzustellen und gleichzeitig deren Vorläufigkeit und ständige Revidierbarkeit zu betonen. Hingegen könnte ihr Hauptinteresse weder der systematischen Entfaltung eines Begriffsgebäudes (bzw. einer sog. "Taxonomie"62) noch historisch-hermeneutischen oder dialektischen Begriffsbestimmungen gelten. 63 Es gibt nun eine Vielzahl von Argumenten, die immer wieder gegen die hier skizzierte Konzeption vorgebracht werden. Wir wollen im folgenden vier zentrale Gegenargumente herausgreifen und prüfen, welche Antworten der kritische Rationalismus ihnen entgegenzusetund zunehmender "Wahrheitsähnlichkeit" (verisimilitude) ,finden sich bei K. R. Popper, Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Know· ledge, S. 228 ff. und ders., Objective Knowledge, a. a. 0., S. 52 ff. 61 Albert schreibt: "Man sucht vielfach nach ,Grundbegriffen' ohne jeden Zusammenhang mit relevanten Theorien, definiert sie, ohne darauf zu achten, daß man dabei jeweils gezwungen ist, auf andere Begriffe zuriickzu· greifen, und entfacht Definitionsstreitigkeiten, die nur von der Auffassung her verständlich erscheinen, man könne in irgendeinem inhaltlichen Sinne ,richtig' definieren, obwohl es in diesem Bereich keine Wahrheitsfragen gibt. ( ... ) es empfiehlt sich daher zum Beispiel, die soziologische Begriffsbildung im Rahmen der Theoriebildung zu analysieren. Begriffe als Bestandteile der theoretischen Sprache erweisen ihre Brauchbarkeit vor allem dadurch, daß sich die mit ihrer Hilfe konstruierten Theorien bewähren." (H. Albert, Probleme der Theoriebildung ... , a. a. 0., S. 21 ff. 62 Vgl. zu diesem Begriff H. L. Zetterberg, On Theory and Verification in Sociology, 3. Aufl., Totowa 1965, S. 43 ff. 63 Vgl. dazu etwa E. K. Scheuch/T. Kutsch, Grundbegriffe der Soziologie I, Grundlegung und elementare Phänomene, Stuttgart 1972, S. 21 f. und passim.

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zen hat. Auf diese Weise kann die innere Logik des kritischen Rationalismus noch deutlicher sichtbar gemacht und damit die Voraussetzung für eine möglichst sachgerechte Beurteilung seiner Einstellung zur soziologischen Begriffsbildung geschaffen werden. I. Ein erster Einwand richtet sich gegen die These von der Einheit der Realwissenschaften. Dabei wird in der Regel zwar zugestanden, daß eine pragmatische und gegenüber dem Erkenntnisobjekt indifferente Begriffsbildung, wie sie der kritische Rationalismus vorschlägt, für die Naturwissenschaften angemessen sein könne, keineswegs jedoch für die Humanwissenschaften (bzw. "Geisteswissenschaften", "Kulturwissenschaften", "Sozialwissenschaften" o. ä.). Denn deren Erkenntnisobjekte, die sozio-kulturellen Phänomene, seien stets Produkte menschlichen Handeins und menschlicher Geschichte, von Alltagssprache durchwirkt und insofern mit einem spezifischen "Sinn" behaftet, den der Forscher nur entschlüsseln könne, wenn er sich in deren jeweiligen historischen Zusammenhang hineinversetze und die dort geltende Sprache und Kultur beherrsche. 64 Bei der wissenschaftlichen Darstellung der mit Hilfe eines derartigen verstehenden (bzw. hermeneutischen) Verfahrens zutagegeförderten Ergebnisse sei die Wahl der Begriffe keineswegs beliebig; Begriffe seien keine "Spielmarken"6S, sondern sie müßten an den jeweils gegebenen sozio-kulturellen Sinnzusammenhang anknüpfen und dürften ihn nicht bis zur Unkenntlichkeit verdecken. In diesem Sinne schreibt etwa Jürgen Habermas: "Die soziologische Begriffsbildung knüpft unvermittelt an die kommunikativen Erfahrungen an, die vorwissenschaftlich strukturiert sind", und er spricht von dem "unvermeidlichen historischen Gehalt selbst der allgemeinsten Kategorien".66 Das Hauptargument, das dem kritischen Rationalismus gegen diesen Einwand zur Verfügung steht, liegt klar auf der Hand 67 : Er braucht 64 Diese von K. R. Popper (Das Element des Historizismus, Tübingen 1965, S. 5) als "antinaturalistisch" bezeichnete Auffassung wird mit geringen Variationen von Vertretern unterschiedlicher Schulen geteilt: z. B. Historisten (Meinecke, Croce, Rothacker), Hermeneutikern (Dilthey, Gadamer), Phänomenologen und sog. "Ethnomethodologen" (Schütz, Cicourel, Gar[inkel), Dialektikern (Adorno, Habermas), Vertretern der "verstehenden Soziologie" (Weber, Winch) etc. - Vgl. dazu auch unten, Kapitel IV, Abschnitt 2 a. 65 Diesen Ausdruck gebraucht T. W. Adorno, Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie, Frankfurt/M. o. J. (1971), S. 59. 66 J. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Tübingen 1967, S. 105 u. 172. 67 Vgl. zum folgenden: K. R. Popper, Das Elend des Historizismus, a. a. 0.,

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sich von dem Angriff nicht getroffen zu fühlen. Denn obwohl nicht bestritten wird, daß der Objektbereich der Humanwissenschaften von Geschichte, Kultur und Sprache geprägt ist, sind nicht sie das unmittelbare Erkenntnisziel der kritisch-rationalistischen Forschung, sondern die ihnen zugrundeliegenden, immer-und-überall-geltenden Gesetzlichkeiten, die also gerade nicht an eine bestimmte geschichtliche Periode, Kultur oder Sprache gebunden sind. Die Begriffe, die zur Formulierung derartiger Gesetzesaussagen herangezogen werden können, sind demnach prinzipiell beliebig, solange sie sich nur dazu eignen, nomologische Hypothesen oder Theorien zu formulieren, die so erklärungskräftig sind, daß angenommen werden kann, daß sie der invarianten Grundstruktur der sozio-kulturellen Realität nahekommen. Die nomologische Erklärungskraft von Hypothesen und Theorien ist demzufolge der Garant dafür, daß die benutzten Begriffe keine erkenntnishemmenden historischen, kulturellen oder sprachlichen Verzerrungen beinhalten. Damit ist gesagt, daß den Humanwissenschaften nach Auffassung des kritischen Rationalismus im Hinblick auf die Begriffs- und Theoriebildung kein wissenschaftstheoretischer Sonderstatus zusteht; auch das Sinnverstehen wird lediglich als forschungstechnisches Problem aufgefaßt, das "im Rahmen der üblichen Methodologie" gelöst werden kann. 68 2. Ein zweiter Einwand richtet sich gegen das sog. "Wertfreiheitspostulat " des kritischen Rationalismus. Er ist mit dem ersten eng verknüpft und kann - zumindest scheinbar - mit einer analogen Argumentation zurückgewiesen werden: Unter Berufung auf Max Weber geht der kritische Rationalismus davon aus, daß es die ausschließliche Aufgabe erfahrungswissenschaftlicher Aussagen sei, empirische Realität zu beschreiben und/oder zu erklären, nicht aber, sie zu bewerten und zu kritisieren. Die Sprache der Erfahrungswissenschaften habe deshalb nicht präskriptiv, sondern deskriptiv zu sein und sich ausschließlich wertneutraler Begriffe zu bedienen. Der Einwand lautet nun, daß es in den Humanwissenschaften eine von Wertimplikationen freie Terminologie nicht geben könne und Kapitel 111; H. Albert, Probleme der Theoriebildung, a. a. 0., passim; Ders., Hermeneutik und Realwissenschaft. Die Sinnproblematik und die Frage der theoretischen Erkenntnis, in: Ders., Plädoyer ftir kritischen Rationalismus, München 1971, S. 106-150. 68 H. Albert: Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1968, S. 154, Albert spricht in diesem Zusammenhang von einer "Theorie menschlicher Deutungsaktivitäten" , die es zu entwickeln gelte, um Verstehen nomologisch erklären zu können.

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daß deshalb die Behauptung, soziologische Aussagen seien unparteiisch und wertneutral, zwangsläufig dazu führe, die ihnen dennoch zugrundeliegenden Werthaltungen und Interessen zu verschleiern. 69 Der kritische Rationalismus antwortet darau(1°, indem er zunächst folgendes einräumt: 1. Wertgesichtspunkte spielen bei der Auswahl des jeweiligen Forschungsgegenstandes und der an ihn herangetragenen theoretischen Perspektive eine Rolle, da jede wissenschaftliche Betrachtungsweise unweigerlich selektiv ist. 2. Werte und Normen, denen im gesellschaftlichen Leben große Bedeutung zukommt, können zum Objekt soziologischer Forschung werden. 3. Die Forschungsergebnisse der Soziologie können jederzeit Gegenstand wertender Stellungnahmen und Kritik werden. 4. Die Entscheidung für die Anwendung der Methode des kritischen Rationalismus ist selbst eine Wertentscheidung. Trotz dieser verschiedenen "Wertbeziehungen" des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses ist es der kritisch-rationalistischen Auffassung zufolge jedoch möglich, alle soziologischen Forschungsergebnisse ausschließlich mit Hilfe einer wertneutralen Objektsprache zu formulieren, denn: "Was theoretisch relevant ist, wird ... keineswegs durch unmittelbare Bezugnahme auf Wertgesichtspunkte irgendwe1cher Art entschieden, sondern dadurch, daß sich gewisse Theorien an der Realität bewähren, andere dagegen nicht."71

3. Es zeigt sich also, daß der kritische Rationalismus gegen die beiden ersten, allerdings recht vordergründig formulierten Einwände durchaus gewappnet ist. Mit dem Hinweis auf das Kriterium der Erklärungskraft kann er sie scheinbar schlüssig widerlegen: Wenn eine Erfahrungswissenschaft in der Lage ist, erklärungskräftige nomologi69 Ein solcher Vorwurf wird von marxistischer Seite gegen die "bürgerliche" Soziologie vorgebracht (z. B. Lukacs, Hahn, Hofmann); er findet sich in ähnlicher Form aber auch bei "bürgerlichen" Soziologen wie Mannheim, Myrdal, Aron, Dahrendorf, bei Dialektikern (z. B. Adorno, Marcuse, Habermas) oder bei Vertretern kritischer Soziologie in den USA (z. B. Mills, Gouldner, Birnbaum). 70 Vgl. zum folgenden: H. Albert, Wert freiheit als methodisches Prinzip. Zur Frage der Notwendigkeit einer normativen Sozialwissenschaft, in: E. Topirsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, Kölft - Berlin 1965, S. 181-210; Oers., Traktat über kritische Vernunft, a. a. 0., Kap. III. 71 H. Albert, Probleme der Theoriebildung ... , a. a. 0., S. 44.

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sche Hypothesen oder Theorien hervorzubringen, scheint die auf eine ahistorische und wert freie Begriffsbildung hinauslaufende Argumentation des kritischen Rationalismus kaum angreifbar zu sein. Umso mehr muß ihn dana freilich der Einwand treffen, daß die gegenwärtige Soziologie über keine empirisch gut bestätigten und erklärungskräftigen nomologischen Theorien verfüge. Denn abgesehen von einigen verhaltenspsychologischen Theorieansätzen 72, die auf die systematische Erfassung von symbolisch vermittelten und tradierten Kulturelementen, Institutionen, Werten und sonstigen "verstehbaren" Sinngehalten der soziokulturellen Wirklichkeit verzichten und deshalb bestenfalls einen kleinen Teil der üblicherweise als "soziologisch relevant" geltenden Realität abdecken können, hat die Soziologie keine streng allgemeinen und präzisen nomologischen Theorieentwürfe anzubieten, zumal keine solchen, die gesamtgesellschaftlichen Struktur- und Funktionszusammenhängen gerecht zu werden vermöchten 73. Damit ergibt sich eine völlig neue Diskussionslage: So schlüssig und brauchbar die zuvor skizzierte wissenschaftstheoretische Konzeption des kritischen Rationalismus für "echte" nomologische Wissenschaften auch sein mag, für die Soziologie in ihrem heutigen Zustand scheint sie nicht zuzutreffen - ja, sie muß sich geradezu gegen sie wenden. Denn da die gegenWärtige Soziologie über keine erklärungskräftigen nomologischen Hypothesen oder Theorien verfügt, die eine "neutralisierende" Wirkung ausüben, könnte man folgern, daß ihre Objektsprache gegenüber jeglicher Art von unkontrollierbaren Wertimplikationen ungeschützt sei. Nach den Maßstäben der von ihr selbst propagierten Methodologie müßten die Forschungsergebnisse der kritisch-rationalistischen Soziologie dann geradezu als "vorwissenschaftlich" eingestuft werden ...

72 Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang Autoren wie Homans, Festinger, MalewsTd oder auch die WestdeutschenStendenbach, Hummel und Opp. Vgl. dazu die einfiihrende Schrift von K. D. Opp, Verhaltenstheoretische Sozio· logie. Ein neuer Forschungsansatz, Reinbek bei Hamburg 1972. 73 Auch Hans Albert nennt als Beispiele ftir nomologische Theorien im Bereich der Sozialwissenschaften nur derartige "reduktionistische" Ansätze, die der Sozialpsychologie und allenfalls ganz am Rande der Soziologie zuzurechnen sind (Vgl. H. Albert, Probleme der Theoriebildung, a. a. 0., S. 91, Fußnote). - Dessenungeachtet ist aber auch der nomologische Charakter dieser Theo· rien umstritten (Vgl. dazu J. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften a. a. 0., Abschnitt 4 oder K. Holz/camp, Kritische Psychologie, Frankfurt/M. 1972).

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Zu einer solchen Konsequenz ist zumindest Hans Albert nicht bereit14 . Vielmehr zieht er ein Zusatzargument heran, aufgrund dessen allen kritisch-rationalistisch vorgehenden Erfahrungswissenschaften das Merkmal der "wissenschaftlichen Neutralität und Objektivität" zugeschrieben werden kann, ohne daß der jeweilige Zustand ihrer Theoriebildung allzu sehr ins Gewicht fallen müßte: "Wissenschaften (sind) dadurch gekennzeichnet, daß sie ... ihre Sprache, ein relativ künstliches Zuchtprodukt einer kritisch-reflektierenden Denkhaltung, neutralisieren und sie vom praktisch-normativen Hintergrund der allgemeinen Weltorientierung ablösen. ( ... ) Der wissenschaftliche Fortschritt ist ... gerade davon abhängig, daß die Tradition der kritischen Diskussion aller Aussagen sich immer wieder dem Dogmatismus der natürlichen Denkhaltung gegenüber durchsetzt, eine Tradition, die in der Forderung nach intersubjektiver Überprüfbarkeit und Überprüfung zum Ausdruck kommt. Das Prinzip der Wertfreiheit kann als eine Konsequenz dieser Forderung, als eine methodische Regel au/ge/aßt werden, die einer konsequent durchgehaltenen kritischen Haltung entspringt. ( ... ) Überall, wo intersubjektive Kritik möglich ist, sind Werturteile nicht notwendig.,,75

In diesem Zitat schlägt sich die Auffassung nieder, daß bereits mit der konsequenten Beachtung der Forderung nach intersubjektiver Oberprüfbarkeit und ständiger Kritik, also allein mit Hilfe einer bestimmten Verfahrensweise, die Wertneutralität und "Objektivität" soziologischer Begriffe und Aussagen gewährleistet werden könne. 76 74 Hans Albert schreibt: ,,(Die These), daß eine Neutralisierung der sozialwissenschaftlichen Sprache nicht möglich sei, daß also die Mittel fUr eine wertfreie Sozialwissenschaft im Weberschen Sinne nicht zur Verfligung stünden ... , kann heute eigentlich nur noch eine gewisse Plausibilität flir diejenigen haben, die bereit sind, mehr als die Hälfte der modernen sozialwissenschaftlichen Literatur zu übersehen." (Traktat über kritische Vernunft, a. a. 0., S. 64) - Alberts Mentor Karl Popper zeigt sich von dieser "modernen sozialwissenschaftlichen Literatur" allerdings weniger beeindruckt und scheint die gegenwärtige Soziologie in den Vorhof der Wissenschaften verweisen zu wollen, wenn er schreibt: "In fact, compared with physics, sociology and psychology are riddled with fashions, and with uncontrolled dogmas. The suggestion that we can find anything here Iike 'objective, pure description' is cIearly mistaken." (Normal Science and Its Dangers, in: L Lakatos/A. Musgrave (Hrsg.), Criticism and the Growth of Knowledge, Carnbridge 1972, S. 57 f.). 75 H. Albert, Wertfreiheit als methodisches Prinzip, a. a. 0., S. 182 f. (Hervorhebungen: R. K.). 76 Vgl. dazu K. R. Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, in: T. W. Adorno u. a., Der Positivismusstreit ... , a. a. 0., S. 106 u. 112 ff.

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Von der Erklärungskraft als kritischem Korrektiv ist nicht mehr explizit die Rede. Man setzt vielmehr das Vertrauen in die Rationalität methodisch disziplinierter wissenschaftlicher Diskussion 77 - ein Vertrauen, das angesichts der Vielfalt grundsätzlicher Kontroversen über soziologische Begriffe, Theoreme und gesellschaftstheoretische Orientierungen allerdings nicht allzu realistisch anmutet. Um demnoch die Auffassung aufrechterhalten zu können, daß ein durch intersubjektive Kontrolle und Kritik erzielter Konsensus über erfahrungswissenschaftliche Aussagen gewichtiger sei als irgendeine beliebige Übereinkunft unter Gleichgesinnten, die sich an gemeinsame Spielregeln halten, wäre demnach eine zusätzliche Begründung erforderlich. Sie müßte wohl lauten: Da es gilt, invariante Strukturen der sozio-kulturellen Realität aufzuspüren, bedarf es einer hierfür "angemessenen", speziell auf diese Aufgabe zugeschnittenen Methode. Das ist die Methode des kritischen Rationalismus. Die nach dieser Methode verfahrende Forschung nähert sich zwar nicht immer auf dem direktesten Weg ihrem Ziel an. Zumal wenn sie noch recht weit davon entfernt ist, wie im Falle der Soziologie, die bisher über keine erklärungskräftigeI). Theorien verfügt, mag es gelegentlich Abweichungen geben. Aber "im Prinzip" ist die Annäherung an die invarianten Strukturen der Realität und damit auch die Neutralisierung der wissenschaftlichen Objektsprache allein durch die konsequente Anwendung der kritisch-rationalen Methode gewährleistet. 78 - Sollte sich dieser Gedankengang nun allerdings als ungerechtfertigt erweisen, dann müßte sich die Methode des kritischen Rationalismus den Vorwurf gefallen lassen, selbst nur eine unter mehreren konkurrierenden Forschungsstrategien zu sein, die sich mit dem Anspruch der Wertfreiheit schmückt, ohne jedoch die soziologischen Begriffe wirksam vor unkontrollierten ideologischen Einflüssen schützen zu können. 4. Der vierte Einwand, mit dem wir uns hier befassen wollen, muß demnach konsequenterweise besagen, daß das, wonach der kritische 77 Dieser Gesichtspunkt wird mit großer Klarheit hervorgehoben von R. Bubner, Dialektik und Wissenschaft, Frankfurt/M. 1973, S. 156 ff. 78 Dem Verfasser ist keine Äußerung eines Vertreters des kritischen Rationalis· mus bekannt, in der explizit das hier wiedergegebene Argument vertreten wird. Eine andere Möglichkeit, den wissenschaftstheoretischen Zusammenhang zwischen dem Prinzip der nomologischen Erklärung und dem Prinzip der objektsprachlichen Neutralität auch für theoretisch "unreife" Wissenschaften wie die Soziologie zu wahren, besteht unseres Erachtens jedoch nicht.

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Rationalismus suche und worauf seine ganze Methode zugeschnitten sei, gar nicht existiere: Invariante Strukturen könne es in der sozio-kulturellen Welt nicht geben.

Ein Gegenargument von seiten des kritischen Rationalismus, das sich an dieser Stelle anbietet, erscheint auf den ersten Blick schlagend. Selbst wenn man einräumt, daß erklärungskräftige nomologische Hypothesen oder Theorien noch nicht zur Verfügung stehen, so hat die am kritischen Rationalismus orientierte Soziologie doch immer wieder Forschungsergebnisse hervorgebracht, deren Erfolg und praktische Nützlichkeit nicht ernsthaft bestritten werden können. Wenn aber eine Methode, die auf die Aufdeckung invarianter Strukturen zugeschnitten ist, erfolgreich sein kann, dann kann ihre Zielsetzung schwerlich als unrealistisch und nicht erfolgversprechend abgetan werden. 79 Zur Veranschaulichung dieser Überlegung soll im folgenden ein längeres Zitat von Karl R. Popper wiedergegeben werden, in dem er darlegt, was er sich unter erfolgreichen, auch sozialtechnisch oder sozialpolitisch verwertbaren soziologischen Forschungsergebnissen vorstellt: "Da die Existenz ... soziologischer Gesetze oder Hypothesen ... oft bezweifelt worden ist, möchte ich hier eine Anzahl von Beispielen fur solche Gesetze angeben: ,Man kann nicht Zölle auf landwirtschaftliche Produkte einfUhren und zugleich die Lebenshaltungskosten senken.' - ,In einer Industriegesellschaft kann man die "pressure groups" der Konsumenten nicht so wirksam organisieren wie die "pressure-groups" bestimmter Produzenten.' ( ... ) ,Ohne Inflation keine Vollbeschäftigung.' ( ... ) ,Man kann einem Menschen nicht Macht über andere Menschen geben, ohne ihn in Versuchung zu fUhren, diese Macht zu mißbrauchen; die Versuchung wächst annähernd in demselben Maße wie die Menge der Macht, und sehr wenige können ihr widerstehen'."so

Es kann kein Zweifel bestehen, daß die Soziologie und ihre Nachbardisziplinen eine Vielzahl derartiger empirischer Verallgemeinerungen zu Tage gefördert haben 8 !, denen man schwerlich ohne weiteres 79 Hans Albert schreibt: "Technische Erfolge, die sich im Zusammenhang mit

der Forschung einstellen, kann man darauf zurückfUhren, daß man den wirklichen Zusammenhängen teilweise nahegekommen ist." (Der Mythos der totalen Vernunft, in: T. W. Adorno u. a., Der Positivismusstreit ... , a. a. 0., S.202). 80 K. R. Popper, Das Elend des Historizismus, a. a. 0., S. 50. - Mit den hier wiedergegebenen Beispielen erhebt Popper übrigens keineswegs den Anspruch, dem aktuellen Forschungsstand der Sozialwissenschaften gerecht zu werden. Er versteht sie lediglich als Illustrationsmaterial. 81 Eine Sammlung derartiger Ergebnisse findet sich bei B. Berelson/G. Steiner,

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Plausibilität, empirische Überprüfbarkeit, theoretische Fruchtbarkeit, prognostischen Wert und sozialtechnische Anwendbarkeit absprechen kann. Wenn nun trotz dieses unbestreitbaren Sachverhaltes das Argument widerlegt werden soll, daß derartige Erfolge der Methode des kritischen Rationalismus in jedem Fall Recht gäben, so wird man den Nachweis erbringen müssen, daß es sich bei diesen Erfolgen de facto nur um "Scheinerfolge " handeln könne, die keineswegs auf einen erfolgreichen Prozeß der Annäherung an sozio-kulutrelle Invarianzen zurückzuführen seien, weil sie auf völlig andersartigen Voraussetzungen beruhten. Die Argumente, auf die sich ein solcher Nachweis stützen könnte, sollen hier nur kurz skizziert werden, da sie im Zentrum des dialektisch-kritischen Denkens stehen, mit dem wir uns anschließend befassen werden: Gegen empirische Verallgemeinerungen von der Art der Popper'schen Beispiele kann eingewendet werden, daß sie zwar ohne weiteres in die äußere Form von nomologischen Hypothesen gebracht werden könnten, indem man sie in raum-zeit-unabhängige Wenn-Dann-Sätze umformuliere. So könne man etwa an Stelle des ersten von Popper genannten Beispiels die allgemeine (und sicherlich noch weiter präzisierbare) Hypothese setzen: "Immer und überall wenn Zölle für landwirtschaftliche Produkte eingeführt werden, dann werden (bei sonst gleichbleibenden Bedingungen) die Lebenshaltungskosten nicht sinken." Alle in dieser Hypothese enthaltenen deskriptiven Begriffe seien zwar streng allgemein. Dennoch sei es aber eine Hypothese, die nur unter bestimmten historischen Voraussetzungen sinnvoll angewendet werden könne. Der Zusammenhang zwischen Agrarzöllen ünd Lebenshaltungskosten sei keineswegs ein naturgesetzliches Ereignis. Er sei nur zu einer bestimmten Zeit und an bestimmten Orten gültig, wo es Zollgrenzen, landwirtschaftliche Importe, Geldwirtschaft, keinen Preisstop u. dgl. mehr gebe. Mit anderen Worten, die Hypothese sei auf die in marktwirtschaftIich organisierten Gesellschaften vorfindbaren Bedingungen zugeschnitten. Nur in diesem geschichtlichen Kontext seien ihre Begriffe sinnvoll anwendbar; sie seien infolgedessen nur formal allgemein, de facto aber historisch begrenzt. Im übrigen sei einzuwenden, daß es kein Wunder sei, daß die kritisch-rationalistisch verfahrende Sozialforschung empirische Regelmäßigkeiten vorfinde, da das Denken und Handeln der Menschen sich ja bekanntlich weitgehend im Rahmen dauerhafter sozio-kultureller Ordnungen abspiele; aber diese seien von Menschen gemacht und daher prinz iHuman Behavior. An Inventory of Scientific Findings, New York - Chicago - Burlingame 1964.

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piell veränderlich. Eine Methode jedoch, die von vorneherein hinter allen empirischen Regelmäßigkeiten Invarianzen vermute, verstelle sich selbst den Blick für solche historischen Zusammenhänge. Nicht Nomologisierung, sondern Historisierung soziologischer Verallgemeinerungen mit Hilfe hermeneutisch und gesellschaftstheoretisch genau durchdachter Begriffe habe deshalb die Devise zu sein. 82 Derartige Argumente lassen die These vom "Scheinerfolg" der kritisch-rational verfahrenden Soziologie, der auf dem Unvermögen zur Unterscheidung zwischen "echten" Invarianzen und veränderlichen Kulturtatsachen beruhe, zunächst plausibel erscheinen. Die Gegenthese indessen ist nicht minder überzeugend, die die faktischen "Erfolge" der Soziologie mit der konsequenten Anwendung einer nomologisierenden Methodologie in Zusammenhang bringt und sich dabei auf folgende, jeder Historisierung feindliche Überlegung stützen kann: "Würden wir Gesetze zulassen, die selbst Veränderungen unterliegen, dann könnten wir Veränderungen niemals durch Gesetze erklären. Dies käme dem Eingeständnis gleich, daß eine Veränderung einfach ein Wunder ist.,,83

Auf der gegenWärtigen Stufe unserer Argumentation können wir in diesem Dilemma - ob "Erfolg" oder "Scheinerfolg" - noch nicht Stellung beziehen. Wir werden uns zuvor genauer mit den Argumenten der dialektischen Seite befassen müssen. Vorläufig können wir aber die folgende Zwischenbilanz aufstellen: I. Das zentrale Argument des kritischen Rationalismus, das Kriterium der nomologischen Erklärungskraft, ist für die gegenwärtige Soziologie (noch) nicht nutzbar zu machen, um die These von der "Einheit der Realwissenschaften" und von der "Wertneutralität" und Instrumentalität der soziologischen Objektsprache zu stützen. 2. Das "Hilfsargument", demzufolge alle soziologischen Begriffe und Aussagen präzise und intersubjektiv gefaßt und ständiger kritischer Kontrolle unterzogen werden sollten, ist in unserer bisherigen Diskussion nicht erschüttert worden; es ist allerdings bis jetzt auch offen geblieben, inwieweit dadurch tatsächlich neutralisierende Wirkungen auf die soziologische Objektsprache zu erzielen sind. 3. Die Frage, 0 b "Erfolg" oder "Scheinerfolg" , ist vorläufig noch ungeklärt. Sollte sich erweisen, daß die Antwort "Scheinerfolg" lauten muß, so wird die Triftigkeit des "Hilfsargumentes" von der intersubjektiven Überprüfbarkeit und Kritik als Neutralisierungsin82 Vgl. dazu oben, Kapitel II, Abschnitt 3. 83 K. R. Popper, Das Elend des Historizismus, a. a. 0., S. 81 f.

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stanz für die soziologische Begriffsbildung eingehender zu diskutieren sein. Sollte auch hier das Ergebnis negativ ausfallen, müßte die gesamte Konzeption des kritischen Rationalismus zur Frage der Begriffsbildung verworfen werden.

3. Dialektisch - kritische Soziologie Auf die Leitfrage dieses Kapitels, wie es möglich sei, "angemessene" soziologische Begriffe zu gewinnen, läßt sich nun eine erste vorläufige Antwort geben: Für den kritischen Rationalismus sind soziologische Begriffe dann angemessen, wenn sie die Formulierung intersubjektiv überprüfbarer und kritisierbarer nomologischer Aussagen gestatten, die möglichst erklärungskräftig sind und so ihre Nähe zur invarianten Struktur der Realität unter Beweis stellen. Aus der Sicht der dialektisch-kritischen Soziologie ist diese Auffassung verfehlt; mehr noch, sie ist Ausdruck eines ideologisch verengten Denkens. Für unsere Diskussion bedeutet das, daß die dialektisch-kritische Konzeption mindestens zweierlei leisten muß, um sich gegenüber dem kritischen Rationalismus behaupten zu können: Sie muß ihren prinzipiellen Ideologieverdacht erhärten, und sie muß eine eigene, überzeugendere Konzeption von der "Angemessenheit" soziologischer Begriffe entwickeln. Inwieweit das gelungen ist, soll in diesem Abschnitt erörtert werden. Vorweg scheinen jedoch einige Bemerkungen zu den Begriffen "Dialektik" und "Kritik" angebracht zu sein, denen die dialektisch-kritische Schule ihren Namen verdankt: Der Terminus Dialektik hat in der Nachfolge von Hegel, Marx und Engels in der Philosophie und Soziologie, aber auch in der politischen Propaganda vielfältige Verwendung gefunden; und er hat - hier muß einer polemischen Kritik Karl Poppers 84 zugestimmt werden - wegen seiner vielen Bedeutungen und seines oft unklaren Gebrauches zweifellos mit dazu beigetragen, daß als "Dialektiker" geltende Wissenschaftler vielfach in Dogmatismus erstarrt sind oder sich in unverständlicher Esoterik verstiegen haben. Da es aber sicherlich nicht Aufgabe dieser Schrift sein kann, eine Schneise durch das geistesgeschichtliche (und auch politisch-ideologische) Unterholz der Dialektikbegriffe zu schlagen, soll im weiteren von den folgenden Formulierungen von Rüdiger Bubner ausgegangen werden: 84 VgJ. K. R. Popper, Was ist Dialektik? , in: E. Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, a. a. 0., S. 262-290.

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"Wenn Didaktik irgendetwas ist, dann ist sie eine Methode. ( ... ) Für einen weit gefaßten Begriff von Methode gilt mindestens zweierlei als Bedingung: Rationalität und Nachvollziehbarkeit. Das vorgeschlagene Verfahren hat sich einmal vernünftig auszuweisen, d. h. es muß in der Lage sein, sich selbst unter Bezug auf allgemeine Gründe zu erläutern. Das Verfahren muß zum andern nachvollziehbar sein, d. h. es hat jedermann zugänglich zu bleiben, der sich auf das Verfahren einläßt, und es hat allen Teilnehmern gleiche Ergebnisse in Aussicht zu stellen. ,,85

Auf der Grundlage dieser Prämissen soll die sogenannte dialektischkritische Soziologie diskutiert werden. Damit verbunden ist die Annahme, daß wir auf diese Weise weiterführende Argumente zum Problem der soziologischen Begriffbildung gewinnen können. Eine solche Annahme ist deshalb nicht von vorneherein unrealistisch, weil unseres Erachtens mit gutem Grund vermutet werden kann, daß die dialektisch-kritische Soziologie nicht nur Widersprüchliches und Ungereimtes zu sagen hat, wie etwa ihre Gegner Popper und Albert behaupten 86 , sondern durchaus Argumente anbietet, die im Sinne der Bubner'schen Prämissen rational diskutierbar und kritisierbar sind. Diese Argumente müßten sich demzufolge auch klar und verständlich mitteilen lassen. Genau das soll im folgenden versucht werden, wenn Gedankengänge der Frankfurter Schule, insbesondere in der von Jürgen Habermas vertretenen Form vorgestellt werden: Das Wort "dialektisch" mag dabei zwar als Bestandteil des eingebürgerten Eigennamens "dialektisch-kritische Soziologie" stehen bleiben; ansonsten wird aber versucht, ohne es auszukommen. Sollten am Ende der Erörterung die diskutierten gedanklichen Zusammenhänge verständlich geworden sein, so mag man sie als dialektisch-kritische bezeichnen ... Nun zum Begriff der Kritik. Auf den ersten Blick scheint zwischen "kritischem" Rationalismus und "kritischer" Theorie kein auffälliger terminologischer Unterschied zu bestehen. Kritik im Verständnis des kritischen Rationalismus ist jedoch immer nur Kritik an Argumenten, an wissenschaftlichen Methoden und Techniken und vor allem an 85 R. Bubner, Dialektik und Wissenschaft, Frankfurt/M. 1973, S. 129 - Es soll allerdings nicht verschwiegen werden, daß das Zitat ein wenig "aus dem Zusammenhang gerissen" ist, da Bubner damit die Idee der Dialektik als einer allgemeinen wissenschaftlichen Methode verbindet, wovon in unserem Zusammenhang nicht die Rede ist. 86 VgL K. R. Popper, Was ist Dialektik? , a. a. 0.; H. Albert, Der Mythos der totalen Vernunft. Dialektische Anspruche im Lichte undialektischer Kritik, a. a. O.

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theoretischen und empirischen Aussagen; Kritik an Forschungsgegenständen wird dagegen nicht als Bestandteil einer wertfreien Wissenschaft angesehen - und soweit es sich bei diesen Forschungsgegenständen um sozio-kulturelle Invarianzen handelt, wäre eine Kritik ja auch sinnlos. Denn an Naturgesetzen gibt es nichts zu kritisieren, man kann sie nur erkennen und als gültig anerkennen, um sich ihre Kräfte dienstbar zu machen und ihren Bedrohungen zu entgehen. Vertreter der dialektisch-kritischen Soziologie sehen in einer solchen "szientistischen" Auffassung von Kritik den Ausdruck eines "positivistisch halbierten Rationalismus"87: So unumgänglich die rationale Kritik und Kritisierbarkeit aller soziologischen Verfahrensweisen auch sei, sie könne und dürfe nicht vor dem Forschungsgegenstand halt machen; vor allem aber dürfe eine vollwertige kritische Methode sich nicht selbst absolut setzen und damit das ihr zugrundeliegende Erkenntnisinteresse der wissenschaftlichen Kritik entziehen. Vielmehr müsse eine wahrhaft kritische Methode sich stets im Zusammenhang mit ihren eigenen historischen Entstehungs- und Anwendungsbedingungen sehen und insofern "reflexiv" bzw. selbstkritisch sein. 88 Diese Auffassung gilt es nun genauer zu beleuchten. Es ist eine der Eigentümlichkeiten der kritischen Theorie, daß es sie - im Sinne eines zusammenhängenden Aussagensystems 89 etwa nach dem Muster der Marx'schen Kapitalismustheorie - heute gar nicht gibt, ebensowenig wie eine umfassende nomologische Theorie der sozio-kulturellen Realität. 9o Die theoretische und empirische For87 J. Habermas, Gegen einen positivistisch halbierten Rationalismus, in: T. W. Adorno u. a., Der Positivismusstreit ... , a. a. 0., S. 235 ff. 88 Vgl. dazu etwa: M. Harkheimer, Traditionelle und kritische Theorie (1937), in: Ders.: Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze, Frankfurt und Hamburg 1970, S. 17, und J. Habermas, Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, 4. Aufl., Frankfurt 1971, S. 10. 89 Dieser Anspruch findet sich sowohl beim "frühen" Harkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, a. a. 0., S. 44, wie auch beim "späten" Habermas (vgl. Theorie und Praxis, a. a. 0., S. 18 f., und ders., Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: J. Habermas/N Luhmann, Sozialtechnologie oder Gesellschaftstheorie?, Frankfurt 1971, S. 101-140). T. W. Adorno hat sich dagegen unseres Wissens nie zu einer solchen Auffassung bereit gefunden (vgl. etwa T. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt 1966, S. 33 ff., und ders., Einleitung, in: Ders. u. a. Der Positivismusstreit ... , a. a. 0., S. 35 f.). 90 Vgl. dazu R. Bubner, Was ist kritische Theorie? , in: K. O. Apel, Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt 1971, S. 179 f., A. Wellmer, Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus, Frankfurt 1969, S. 145, B. Willms,

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schungsarbeit dialektisch-kritischer Soziologen gewinnt ihre Impulse nicht aus einer in sich geschlossenen Theorie, sondern weitgehend auf dem Wege über die sog. "Positivismuskritik". Damit hat es folgende Bewandtnis: Das Vordringen der als "positivistisch"91 bezeichneten naturwissenschaftlichen Denkweise in den Humanwissenschaften wird von Horkheimer und Adorno, den Begründern der Frankfurter Schule, ebenso wie an ihren Schülern nicht nur als eine wissenschaftstheoretische Fehlentwicklung, sondern gleichzeitig als Ausdruck eines grundlegenden gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses aufgefaßt. Insofern versteht sich ihre wissenschaftstheoretische Kritik immer zugleich auch als soziologische Kritik. Wissenschaftstheorie und Gesellschaftstheorie, Methodologie und Soziologie, sind für sie untrennbar miteinander verflochten. 92 Um diesen Gedankengang verständlich machen zu können, ist ein Rückblick auf den Entwicklungsgang der dialektisch-kritischen Schule nötig93 : Wie aus dem von Max Horkheimer im Jahre 1937 veröffentlichten programmatischen Aufsatz "Traditionelle und kritische Theorie "94 klar abzulesen ist, hat die kritische Theorie in ihrer ursprünglichen Form die Marx'sche Klassentheorie als gültige Grundlage anerkannt. Gesellschaftlicher Bezugspunkt und Adressat war die

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Kritik und Politik, a. a. 0., S. 68, J. Habermas, Theorie und Praxis, a. a. 0., S.14. Die als ,,{Neo-)Positivisten" kritisierten Autoren Popper und Albert weisen diese Bezeichnung zurück, da sie sich selbst als Positivismuskritiker verstehen: In der Tat hat sich der kritische Rationalismus in polemischer Auseinandersetzung mit dem sog. "Iogischen Positivismus" des Wiener Kreises um Schlick, Carnap und Neurath sowie dem Neopositivismus Wittgensteinscher Prägung entfaltet. Insofern muß der Positivismusvorwurf besonders kränkend wirken. - Wenn unter "Positivismus" bzw. "Szientismus" indessen die wissenschaftstheoretische Orientierung am naturwissenschaftlichen Vorbild im allgemeinen verstanden wird und nicht nur eine spezifische Ausprägung dieser allgemeinen Orientierung, dann ist die Bezeichnung eindeutig. Dennoch gibt sie zu Mißverständnissen Anlaß. Um Begriffsverwirrungen vorzubeugen, haben wir es deshalb vorgezogen, den Terminus "Positivismus" im deskriptiven Sinne zu vermeiden. So schreibt J. Habermas: " ... radikale Erkenntniskritik ist nur als Gesellschaftskritik möglich ... " (Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1968, S. 9). Vgl. zum folgenden A. Wellmer, Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus, a. a. 0., S. 10 ff., 53 ff. und 135 ff., sowie M. Jay, The Dialektical Imagination. A History of the Frankfurt School of Social Research, 1923-1950, London 1973. M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, a. a. 0., S. 12-56.

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Arbeiterklasse; das revolutionäre proletarische Klasseninteresse gab der frühen kritischen Theorie die politische Perspektive. Horkheimer war zwar skeptisch, was das aktuelle politische Bewußtsein und die Kampfbereitschaft der arbeitenden Bevölkerung und ihrer politischen Repräsentanten anbetraf; dennoch blieb aber das Proletariat für ihn das einzig denkbare gesellschaftliche Potential, von dem eine praktische Umwälzung der kapitalistischen Welt in Richtung auf eine vernünftigere und freiere Gesellschaft erhofft werden konnte. - Von dieser ursprünglichen Konzeption rückten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno später ab. Das wird in ihrer kurz vor Kriegsende in der amerikanischen Emigration verfaßten Schrift .. Dialektik der Aufklärung"95 deutlich, die für die spätere Frankfurter Schule richtungweisend wurde. Die beiden Autoren waren zu der Auffassung gelangt, daß die Lehre von Marx und Engels einerseits angesichts tiefgreifender sozialer und politischer Veränderungen nicht mehr zur Erklärung und aktiven Beeinflussung der Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften ausreiche und daß sie andererseits auch für die autoritär-bürokratischen Fehlentwicklungen in der Sowjetunion mitverantwortlich zu machen sei96 • Nicht mehr allein im Kapitalismus, sondern in den in West und Ost immer deutlicher werdenden Tendenzen zur technokratischen Verplanung und Verdinglichung der soziokulturellen Lebensverhältnisse wurde nun das Haupthindernis menschlicher Freiheit und Emanzipation gesehen. Damit verlor die dialektisch-kritische Theorie freilich ihren ursprünglichen Adressaten, auf den sie ihre Argumentation zuschneiden konnte: Die marxistische Hoffnung auf die verelendende Arbeiterklasse als revolutionäre Kraft hatte sich als trügerisch erwiesen. Ein neuer Adressat war nicht in Sicht, von dem die praktische Verwirklichung der kritischen Ideen zu erhoffen war. So begann sich die kritische Theorie von einer revolutionären zu einer primär ideologiekritischen Soziologie zu wandeln 97 • Anstelle der Klassentheorie mußte sie eine neue Argu95 M. HorkheimerjT. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Sozialphilosophische Fragmente, 2. Aufl. Amsterdam 1947. 96 Vgl. dazu: Ebd., S. 138 sowieM Horkheimer, Vorwort zur Neupublikation (1968), in: Ders., Traditionelle und kritische Theorie, a. a. 0., S. 7 ff., T. W. Adorno, Einleitungsvortrag zum 16. deutschen Soziologentag, in: Ders. (Hrsg.) Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft, Stuttgart 1968, S. 20 ff., und J. Habermas, Technik und Wissenschaft als "Ideologie", Frankfurt 1968, S. 75. 97 Vgl. B. Willms, Kritik und Politik, a. a. 0., S. 66 f., und A. Wellmer, Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus, a. a. 0., S. 145 f., sowie J. Habermas, Theorie u. Praxis, a. a. 0., S. 229 ff.

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mentationsbasis finden. In Analogie zur Marxschen Vorgehensweise, der einst die sog. bürgerliche Politische Ökonomie als fortgeschrittensten wissenschaftlichen Ausdruck der kapitalistischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts herangezogen hatte, um in kritischer Auseinandersetzung mit ihr "das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen"98, so sollte nun die am "positivistischen" Wissenschaftsverständnis ansetzende "Kritik der instrumentellen Vernunft "99 zur Grundlage einer Erneuerung der dialektisch-kritischen Gesellschaftstheorie werden 100. Hinter dieser gesellschaftstheoretischen Neuorientierung steht die These, daß das naturwissenschaftlich-technische Denken und Handeln, das den Menschen in fortgeschrittenen Industriegesellschaften einen nie gekannten Grad an Freiheit von naturgegebenen Zwängen ermöglicht hat, sich zunehmend als Inbegriff von "Vernunft" und "Aufklärung" schlechthin durchsetzt und alle Lebensverhältnisse prägt, so daß eine von unnötigen Herrschaftszwängen befreite, wahrhaft vernünftige Gesellschaftsentwicklung verhindert wird. Horkheimer und Adorno haben, wie ihr Schüler Albrecht Wellmer schreibt, "In der Entfesselung technischer Rationalität die geschlossenste aller Formen der Herrschaft von Menschen über Menschen erkannt"lOl. Die von dieser Einsicht ausgehende dialektische Kritik der instrumentellen Vernunft setzt nun auf zwei Ebenen an - zum einen als Technokratiekritik , zum anderen als Positivismuskritik: I. Der technokratiekritische Ansatz tritt in folgendem Zitat von Horkheimer und Adorno klar zutage: "Die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität, die einerseits die Bedingungen ftir eine gerechtere Welt herstellt, verleiht andererseits dem technischen Apparat und den sozialen Gruppen, die über ihn verfügen, eine unmäßige Überlegenheit über den Rest der Bevölkerung. Der Einzelne wird gegenüber den ökonomischen Mächten vollends annulliert. Dabei treiben diese die Gewalt der Gesellschaft über die Natur auf nie geahnte Höhe. Während der Einzelne vor dem Apparat verschwindet, den er bedient, wird er von diesem besser als je versorgt.

98 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, a. a. 0., S. 7 f. 99 Vgl. den deutschen Titel "Zur Kritik der instrumentellen Vernunft" (2 Bde., Frankfurt/M. 1967) der zuerst 1947 von Max Horkheimer publizierten Schrift "EcJipse of Reason" (New York 1947). 100 Vgl. A. Wellmer, Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus, a. a. 0., S.138. 101 A. Wellmer, a. a. 0., S. 141.

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Im ungerechten Zustand steigt die Ohnmacht und Lenkbarkeit der Masse mit der ihr zugeteilten Gütermenge"l~

Herbert Marcuse und Jürgen Habermas l03 haben diesen Gedanken mittlerweile mit der These weitergeführt, daß naturwissenschaftlichtechnologische Rationalität in fortgeschrittenen Industriegesellschaften immer mehr die Funktion einer herrschaftslegitimierenden Ideologie übernehme, die alle Lebensbereiche durchdringe: Ein zweckrationales Denken und Handeln, das immer ausschließlicher an Gesichtspunkten wie Effizienz, Preis, Leistung und technischem Sachzwang orientiert sei und für eine kritische Auseinandersetzung mit Herrschafts- und Ungleichheitsphänomenen keinen Raum mehr lasse, beginne sich allgemein durchzusetzen. Dieses "positivistische Gemeinbewußtsein"l04 sei deshalb so schwer zu erschüttern, weil Wissenschaft und Technik heute zur unentbehrlichen "ersten Produktivkraft"IOS geworden seien. 2. Dem zweiten, positivismuskritischen Ansatz kommt im Rahmen unserer wissenschaftstheoretischen Diskussion die Hauptbedeutung zu. Ihmzufolge üben Wissenschaftsgläubigkeit und technokratisches Denken nicht nur in der Gestalt eines "positivistischen Gemeinbewußtseins" ideologische Funktionen aus, sondern sie springen auch in den Bereich der Humanwissenschaften über, speziell in die Soziologie. Jürgen Habermas schreibt: "Es besteht ein systematischer Zusammenhang zwischen der logischen Struktur einer Wissenschaft und der pragmatischen Struktur möglicher Verwendungen der in ihrem Rahmen erzeugten Informationen" I06. Und: "D,ie modernen (seil. nomologischen) Wissenschaften erzeugen ... ein Wissen, das seiner Form (nicht der subjektiven Absicht) nach technisch verwertbares Wissen ist"lo7. Für die am naturwissenschaftlichen Vorbild orientierte Soziologie bedeutet das, daß ihre Ergebnisse nolens - volens einem "technischen Erkenntnisinteresse" untergeordnet sind. Auf die Lösung "praktischer" oder "emanzipatorischer" Probleme \08. die an 102 M HorkheimerjT. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. 0., S. 9. 103 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied und Berlin 1967, und J. Habermas, Technik und Wissenschaft als "Ideologie", a. a. O. 104 Ebd., S. 93; vgl. dazu auch unten, Kapitel IV, Abschnitt 4. 105 Ebd., S. 79. 106 Ders., Theorie und Praxis, a. a. 0., S. 15 f. 107 Ders., Technik und Wissenschaft als "Ideologie", a. a. 0., S. 72 f. 108 Auf die Begriffe .. technisches", ..praktisches" und "emanzipatorisches" Erkenntnisinteresse werden wir anschließend ausführlicher eingehen.

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die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten menschlicher Emanzipation von undurchschauten sozio-kulturellen Zwängen anknüpfen, ist sie dagegen nicht zugeschnitten. "Weil in der Methodologie der Erfahrungswissenschaften ein alle übrigen Interessen ausschließendes technisches Erkenntnisinteresse ebenso stillschweigend wie zuverlässig begründet ist, können unter dem Titel der Wertfreiheit alle anderen Bezüge zur Lebenspraxis abgeblendet werden. Die Ökonomie der zweckrationalen Mittelwahl, die durch bedingte Prognosen in Form von technischen Empfehlungen verbürgt wird, ist der einzig zugelassene ,Wert', und auch er wird nicht explizit als Wert vertreten, weil er mit Rationalität schlechthin zusammenzufallen scheint"I09. Alle für die Gestaltung der sozio-kulturellen Lebensverhältnisse bedeutsamen politischen und praktischen Entscheidungsfragen werden demzufolge zu bloßen Wert fragen erklärt und einem irrationalen Dezisionismus überlassen, der wissenschaftlicher Kontrolle entzogen bleibt. In den technokratischen Gesellschaften westlicher (und östlicher llO ) Prägung, wo reibungsloser Verwaltung von Menschen der Vorzug vor emanzipierten Bürgern gegeben wird, ist nach Habermas "wertfreie" Soziologie deshalb als Manipulationsinstrument bestens einzusetzen. Die beiden hier skizzierten Argumentationslinien führen somit zum gleichen Resultat: Es besteht eine Konvergenz zwischen der Entwicklung fortgeschrittener "technokratischer" Industriegesellschaften und fortgeschrittener "positivistischer" Wissenschaft - eine Konvergenz, die die Emanzipationschancen der davon betroffenen Menschen bedroht. Wenn sich demnach die dialektisch-kritische Soziologie den kritischen Rationalismus (als eine der ausgearbeitetsten Formen des humanwissenschaftlichen "Positivismus") zum Widerpart wählt, um in Auseinandersetzung mit ihm ihre eigene Konzeption zu entfalten, so zielt sie damit immer zugleich auch auf die technokratische Gesellschaft und das sie beherrschende "ideologische" Denken. Zu Anfang dieses Abschnittes wurde darauf hingewiesen, daß eine dialektisch-kritische Soziologie, die sich dem kritischen Rationalismus überlegen erweisen will, vor allen Dingen in der Lage sein muß, ihren "positivismuskritischen" Ideologievorwurf zu erhärten. Die 109 J. Habermas, Theorie und Praxis, a. a. 0., S. 317. liD JÜTgen Habermas fUhrt die pOSitivistischen und technokratischen Fehlentwicklungen, die er im herrSchenden Marxismus der osteuropäischen Staaten sieht, unter anderem auch auf Marx selbst zurück, dem er ein "positivistisches Selbstmißverständnis" nachzuweisen versucht (Erkenntnis und Interesse, a. a. 0., Kap. 2 und 3).

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bisher in überaus geraffter Form referierten Gedankengänge der dialektisch-kritischen Schule haben diesen Vorwurf wohl plausibel gemacht, aber sicherlich noch nicht ausreichend begründet. Ein Exkurs über den Begriff der "Ideologie", der dem vierten Kapitel bereits etwas vorgreift, kann hier weiterhelfen: Der Ideologiebegriff wird einerseits zur Charakterisierung bestimmter im gesellschaftlichen Alltagsleben gebräuchlicher "Systeme von Überzeugungen und Begriffen"llI benutzt, andererseits kann er aber auch auf wissenschaftliche Aussagen und Theorien angewendet werden. So bezeichnen sich beispielsweise der kritische Rationalismus und die dialektisch-kritische Soziologie gegenseitig als "ideologisch", während der Ideologiebegriff gleichzeitig auch zur Beschreibung von Massenkommunikationsinhalten, Festreden, politischen Programmen, Stammtischgesprächen usw. Verwendung finden kann. Im ersteren Fall ist er ein primär wissenschaftstheoretischer , im letzteren ein primär soziologischer Begriff, wenngleich beide Ebenen hier offensichtlich eng miteinander verzahnt sind 112. Gerade wegen dieser Zwischenposition zwischen Wissenschaftstheorie und Soziologie kommt dem Ideologiebegriff sowohl für das Verständnis des sog. "Positivismusstreites" wie auch für das Problem der soziologischen Begriffsbildung eine Schlüsselstellung zu. In der westlichen Welt wird die Bezeichnung "ideologisch" sowohl im Alltagssprachgebrauch wie auch in den Sozialwissenschaften üblicherweise im abwertenden Sinn verwendet: Was "ideologisch" genannt wird, gilt als falsch, verzerrt, parteiisch o. ä., im Gegensatz zu "wahr", "richtig" oder auch "objektiv". In der DDR und anderen sozialistischen Staaten finden wir einen abweichenden Sprachgebrauch; dort sind "ideologische Schulung", "sozialistische Ideologie" usw. Bezeichnungen für etwas durchaus Positives und Wahres, während andererseits die "imperialistische Ideologie des staatsmonopolistischen Kapitalismus" als unwahr und gefährlich angeprangert wird. Diese scheinbare Sprachverwirrung läßt sich auflösen, indem man ihren gemeinsamen Problemhintergrund rekonstruiert: Es ist unverkennbar, daß in allen Fällen als Komplementärbegriff zum Ideologiekonzept der Begriff der Wahrheit auftritt, wenn auch mit jeweils unterschiedlicher Bedeutung: 111 O. Rammstedt, Ideologie, in: W. Fuchs u. a. (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie,Opladen 1973, S. 288. 112 Dies hängt selbstverständlich eng mit der Tatsache zusammen, daß auch die Wissenschaften ein vollgültiger Bestandteil der sozio-kulturellen Realität sind. Darauf wurde oben (S. 40 f.) bereits hingewiesen.

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1. Dem marxistischen ldeologiebegri!f. wie er in schematisierter Form beispielsweise in der DDR-Soziologie Anwendung findet ll3, liegt die These zugrunde, daß alles gesellschaftsbezogene Denken an Klasseninteressen gebunden sei. Es wird deshalb generell "Ideologie" genannt, unabhängig davon, welches Klasseninteresse dahinter steht. Mit Hilfe der historisch-materialistischen Theorie lassen sich jedoch wahre von falschen Ideologien unterscheiden: Ein Gedankensystem liegt dann ideologisch richtig, wenn es den praktischen Interessen der Arbeiterklasse entspricht, die in Industriegesellschaften der Träger fUr gesellschaftlichen Fortschritt ist. Falsch und rückschrittlich sind Ideologien hingegen, wenn sie einem bürgerlichen, imperialistischen, kapitalistischen Interesse dienen, das dem Interesse der Arbeiterklasse (bzw. der sozialistischen Staaten ...) zuwiderläuft. Nur gegen derartige "fortschrittsfeindliche" Ideologien richtet sich die marxistische Ideologiekritik.

Es mutet nun fast wie eine "Ironie der Geschichte" an, daß die in westlichen Industriegesellschaften sowohl unter Nicht- wie unter Anti-Marxisten gebräuchlichen Ideologiebegriffe genau an diese (von Marx auf kapitalistische Gesellschaften gemünzte) ideologie-kritische Tradition anknüpfen .. Ihnen allen ist das Bestreben gemeinsam, durch Bewußtmachen und/oder Kritik von "ideologischem" Denken einen Beitrag zur "Aufklärung" zu leisten. Da sie jedoch alle als Gegner des orthodoxen Marxismus nicht über ein eindeutiges klassentheoretisches Wahrheitskriterium verfügen, treten charakteristische Schwierigkeiten auf, wenn es um die Bestimmung dessen geht, was jeweils als "ideologiefrei" oder "wahr" gelten soll. 2. Eine Möglichkeit, diesen Schwierigkeiten zu entgehen, bietet der totaleldeologiebegri!f. als dessen klassischer Vertreter der Wissenssoziologe Karl Mannheim gelten kann 114. Nach dieser Auffassung ist alles gesellschaftsbeiogene Denken auch wenn es frei von Ungenauigkeiten, Wertaussagen oder bewußten Verzerrungen ist - unweigerlich an einen gesellschaftlichen Standort gebunden und insofern einseitig und ideologisch. Ideologiekritische "Aufklärung" im Sinne dieses Ideologiebegriffes ist dann gleichbedeutend mit "Ernüchterung", d. h. mit der Verbreitung der Einsicht, daß alle Realitätsdeutungen ideologisch seien. Denn eine überzeugende Möglichkeit, zwischen "wahren" und "falschen" bzw. zwischen mehr oder weniger "wahren" Ideologien zu unterscheiden, gibt es nicht. Dem in der heutigen Soziologie weit verbreiteten wissensoziologischen Relativismus ist damit der Weg geebnet, auch wenn Mannheim selbst glaubte, ihm mit Hilfe der (unhaltbaren) Vorstellung von einer über den Gruppeninteressen stehenden "sozial freischwebenden Intelligenz" entgehen zu können 115. 113 Vgl. dazu etwa E. Hahn, Ideologie, in: W. Eichhorn u. a. (Hrsg.), Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, Berlin 1969,-S. 202-208. 114 Vgl. K. Mannheim, Ideologie und Utopie, 3. Aufl., Frankfurt 1952. 115 Es muß betont werden, daß es sich hier nur um eine sehr summarische

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3. Einen anderen Weg zur Bewahrung des Ideologiebegriffes geht der kritische Rationalismus 116. Der von ihm verwendete "szientistische" Ideologiebegriff stützt sich auf die wissenschaftstheoretische Maxime von der "Geltungsirrelevanz der Genese", derzufolge der Wahrheitsgehalt einer Aussage unabhängig von der sozialen Interessenkonstellation beurteilt werden kann, in der sie entstanden ist. Diese Wendung wird möglich, weil der kritische Rationalismus anstelle des klassentheoretischen ein anderes, wissenschaftstheoretisches Wahrheitskriterium einfUhrt - nämlich die oben bereits dargestellte "Approximationstheorie der Wahrheit", die auf dem Kriterium der nomologischen Erklärungskraft fußt. Ideologisch ist demzufolge alles Denken, das entweder auf empirisch unzutreffenden Voraussetzungen beruht, oder aber aufgrund von begrifflicher Unklarheit, logischer Widersprüchlichkeit und Leerformelhaftigkeit oder von Verstößen gegen das Wertfreiheitspostulat zwar vortäuscht, etwas über die Realität auszusagen, de facto aber nicht empirisch überprüfbar ist. Das fUhrt zu der Konsequenz, daß alles Denken, das den vom kritischen Rationalismus gesetzten methodischen Maßstäben nicht gerecht wird, als ideologisch und dogmatisch zu gelten hat - insbesondere auch das Denken der dialektisch-kritischen Soziologie. "Aufklärung" in diesem Sinne ist demnach gleichbedeutend mit der ideologiekritisehen Verurteilung aller Denkweisen, die dem naturwissenschaftlichen Vorbild nicht gerecht werden. Wie wir allerdings aufgrund unserer bisherigen Erörterungen schon sagen können, steht und flillt die auf dem Kriterium der Erklärungskraft aufgebaute "szientistische" Ideologiekritik mit der oben aufgeworfenen Frage, ob "echte" nomologische Theorien in der Soziologie möglich sind. (Unberührt davon bleiben freilich die unbestreitbaren Verdienste der "szientistischen" Ideologiekritik bei der sprachlogischen Disziplinierung des sozialwissenschaftlichen Denkens.)

Wir sehen demnach folgendes: Während der "totale" Ideologiebegriff zwar soziologisch argumentiert, aber über einen undifferenzierten Relativismus nicht hinauskommen kann, weil ihm eine gesellschaftstheoretische Orientierung fehlt, die Herrschafts- und Ungleichheitsstrukturen systematisch berücksichtigen und mit dem Ideologiebegriff in Zusammenhang bringen könnte, ist der "szientistische" Ideologiebegriff rein wissenschaftstheoretisch fundiert und dürfte deshalb streng genommen gar nicht als soziologischer Begriff verwendet werden. Darstellung der Mannheimschen Ideologielehre handelt, die de facto weitaus vielschichtiger ist. Insbesondere umfaßt sie auch verschiedene Aspekte sowohl des "szientistischen" wie auch des "kritischen" Ideologiebegriffes. (Vgl. dazu R. Kreckel, Soziologische Erkenntnis und Geschichte, Opladen 1972, S. 106 ff. und passim). 116 Vgl. H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, a. a. 0., S. 80 ff., sowie E. Topitsch, Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, Neuwied 1961.

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4. Gesellschaftskritisch argumentierende Autoren, die mit Grundbegriffen wie Herrschaft, Ungleichheit oder Konflikt operieren, ohne jedoch über ein verläß· Iiches klassentheoretisches Wahrheitskriterium zu verfUgen, pflegen ihren kritischen Ideologiebegriff hingegen eindeutiger zu soziologisieren. Sie wenden ihn auf solche Aussagen und Denksysteme an, die dazu beitragen, bestehende Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, Herrschafts· und Ausbeutungsverhältnisse zu legitimieren und/oder zu verschleiern 117. Ideologiekritische "Aufklä· rung" ist dann gleichbedeutend mit der Entschleierung und Bekämpfung derartiger Ideologien und ihrer Funktionen. Bei der Bestimmung dessen, was jeweils konkret als "unideologisch", "fortschrittlich", "aufklärerisch" o. ä. zu gelten habe, herrscht allerdings in der Regel Unsicherheit - eine Unsicherheit, die wegen des Fehlens eines eindeutigen klassentheoretischen (oder szientistischen) Wahrheitskriterium nur zu verständlich ist. 5. Angesichts dieser Unsicherheit ist es nicht allzu verwunderlich, daß wir insbesondere unter Anhängern des soziologischen Funktionalismus - auch einem Ideologiebegriff mit umgekehrtem Vorzeichen, einemaffinruztiven Ideologiebegriffbegegnen. Bei diesem soziologischen Ideologiebegriff treten an die Stelle des Wahrheitsbegriffes die in einer Gesellschaft jeweils vorherrschenden Werte und Normen: Davon abweichende und/oder dagegen ankämpfende Denksysteme werden als "ideologisch" bezeichnet. In diesem Sinne schlägt etwa der promi· nente amerikanische Soziologe Edward Shils vor, den Ideologiebegriff "einem Muster von Ansichten beizuordnen, das dissensual entgegengesetzt von den allgemein geteilten Glaubens· und Normenmodellen liegt" 118.

Wir sehen also, weder dem "kritischen" noch dem "affirmativen" Ideologiebegriff gelingt es, die wissenssoziologische Relativismusproblematik überzeugend zu überwinden: Im einen Falle ist der Ideologiebegriff besser geeignet zur Parteinahme für, im anderen Falle zur Parteinahme gegen jeweils herrschende gesellschaftliche Verhältnisse. Eine Entscheidung zwischen diesen beiden komplementären Begriffen läßt sich freilich nicht mit wissenschaftstheoretischen oder soziologischen, sondern allenfalls mit ethischen Argumenten begründen. 6. Vertreter der dialektisch-kritischen Soziologie, und wohl am deutlichsten/ÜTgen Habenruzs, haben versucht, dieser Schwierigkeit durch die Entfaltung eines modifizierten kritischen Ideologiebegriffes Rechnung zu tragen, der zwar an die Marx'sche Tradition anknüpft, ohne aber deren Wahrheitskriterium zu übernehmen. Nach Habenruzs werden die heutigen spätkapitalistischen Gesellschaften 117 Vgl. etwa A. W. Gouldner, The Coming Crisis of Western Sociology, London 1971, S. 47 ff., oder J. Rex, Sociology and the Demystification of the Modern World, London 1974, Kapitel 9. 118 E. Shils, Ideologie, in: W. Bernsdorf (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, 2. Aufl., Stuttgart 1969, S. 441.

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nicht mehr bestimmt von einem unvermittelten "Klassengegensatz zwischen Partnern, die in einem institutionalisierten Verhältnis der Gewalt, der ökonomischen Ausbeutung und der politischen Unterdrückung stehen" 119. Die Legitimation der dennoch fortbestehenden Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse wird deshalb nicht mehr von ,reinen' Klassenideologien im Marx'schen Sinne besorgt, die ausschließlich auf die Verschleierung und Rechtfertigung eindeutiger' Ausbeutungs- und Gewaltverhältnisse spezialisiert sind, ohne gleichzeitig etwas zur Befriedigung der Bedürfnisse der jeweils Benachteiligten beizutragen. "Denn nunmehr ist die erste Produktivkraft: der in Regie genommene wissenschaftlich technIsche Fortschritt selbst zur Legitimationsgrundlage geworden. ( ... ) Das technokratische Bewußtsein ist einerseits ,weniger ideologisch' als alle vorangegangenen Ideologien; denn es hat nicht die opake Gewalt einer Verblendung, welche Erftillung von Interessen nur vorspiegelt. Andererseits ist die heute dominante, eher gläserne Hintergrundideologie, welche die Wissenschaft zum Fetisch macht, unwiderstehlicher und weitreichender als Ideologien alten Typs, weil sie mit der Verschleierung praktischer Fragen nicht nur das partielle Herrschaftsinteresse einer bestimmten Klasse rechtfertigt und das partielle Bedürfnis auf seiten einer anderen Klasse unterdrückt, sondern das emanzipatorische Gattungsinteresse als solches trifft."120 "Die Reflexion, die die neue Ideologie herausfordert, muß daher hinter ein historisch bestimmtes Klasseninteresse zurückgehen. und den In teressenzusammenhang einer sich selbst konstituierenden Gattung als solchen freilegen."l2l Mit etwas einfacheren Worten: Heute sind es nicht mehr nur unterdrückte Teile der Gesellschaft, die mit Hilfe von Ideologien beschwichtigt oder belogen werden. Vielmehr wird die ganze Gesellschaft von ihrem eigenen technokratischen Glaubensbekenntnis geblendet - von einer Ideologie also, die nicht mehr direkt lügt, weil Wissenschaft und Technik ja tatsächlich die Verwirklichung allgemeiner Ziele (wie etwa die Hebung des Lebensstandards) möglich machen; gerade dadurch gelingt es dieser technokratischen Ideologie aber um so wirksamer, die Menschen von der Einsicht in ihre "wahren" Bedürfnisse und Interessen (Habermas nennt das "emanzipatorisches Gattungsinteresse") fernzuhalten. Ideologiekritische Aufklärung hat demnach die Aufgabe, dieses allmählich in Vergessenheit geratene "Gattungsinteresse" aus der menschlichen Geschichte zu rekonstruieren, ins gesellschaftliche Bewußtsein zurückzurufen und zu praktischer Geltung zu bringen. Damit das gelingen kann, müssen insbesondere auch die "positivistisch" verblendeten Humanwissenschaften vom Standpunkt eines emanzipatorischen Erkenntnisinteresses aus aufgeklärt werden.

Die in diesem Kapitel primär interessierende Auseinandersetzung zwischen kritischem Rationalismus und dialektisch-kritischer Sozio-

119 J. Habermas, Technik und Wissenschaft als ,Ideologie', a. a. 0., S. 88, 120 Ebd., S. 88 f. 121 Ebd., S. 91.

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logie scheint damit erneut in eine Patt situation einzumünden: Auf der einen Seite steht das wissenschaftstheoretische Ideologiekonzept des kritischen Rationalismus, das seine innere Schlüssigkeit aus dem Kriterium der Erklärungskraft und damit aus der noch unbeantworteten Frage nach der Existenz und Erkennbarkeit soziokultureller Invarianzen gewinnt. Auf den anderen Seiten steht der zugleich gesellschafts- und wissenschaftstheoretische Ideologiebegriff von Habermas, der mit seiner Lehre von den Erkenntnisinteressen steht und fällt. Mit ihr müssen wir uns deshalb als nächstes beschäftigen. Zuvor soll aber noch der unmittelbare Nutzen des Ideologie-Exkurses für unsere soziologische Begriffsproblematik erläutert werden: Zum einen hat er exemplarisch aufgezeigt, in welch unauflöslicher Weise ,oziologische Begriffe mit der ihnen zugrunde liegenden gesellschaftsund wissenschaftstheoretischen Orientierung verschmolzen sind. Zum anderen wurde aber auch erkennbar, daß derartige Begriffe offenbar trotz aller Divergenzen als Variationen eines gemeinsamen Themas hier: der Frage nach "Ideologie" und "Wahrheit" - interpretiert werden können. Diese Einsicht läßt hoffen, daß es trotz aller wissenschafts- und gesellschaftstheoretischer Kontroversen gelingen kann, eine Basis für die Entfaltung soziologischer Grundbegriffe zu finden, die nicht völlig einseitig und arbiträr ist. Am Beispiel unseres Exkurses über die divergierenden Ideologiebegriffe ist auch eine Eigentümlichkeit des "Positivismusstreites" deutlich geworden: Die kritisch-rationalistische Seite behauptet, ausschließlich auf wissenschaftstheoretischer Ebene zu diskutieren und sich dabei - getreu der These von der "Geltungsirrelevanz der Genese" - auf keinerlei gesellschaftstheoretische Argumente zu stützen. Die dialektisch-kritische Gegenseite versteht sich dagegen gleichzeitig als wissenschaftstheoretisch und soziologisch. Ihr Vorwurf gegen den kritischen Rationalismus ist, daß dieser - obwohl er das Gegenteil behaupte - dennoch gesellschaftstheoretisch argumentiere, ohne sich dessen jedoch bewußt werden zu können: Er sei die Wissenschaftstheorie der "technokratischen" Gesellschaft. Daraus entsteht nun freilich eine Schwierigkeit. Denn die dialektisch- kritische Soziologie kann sich mit ihren gesellschaftstheoretischen Einwänden bei ihrem Kontrahenten nicht verständlich machen, weil dieser ja (gemäß seinem eigenen Anspruch) nur auf wissenschaftstheoretische Gegenargumente eingehen kann. Mit anderen Worten, der kritische Rationalismus kann - wenn überhaupt - nur auf der von ihm selbst festgelegten Diskussionsebene, also auf wissenschaftstheoretischem Gebiet, erfolgversprechend attackiert werden. Einwände auf anderen Ebenen treffen ihn nicht. Dieses "Handikap" 97

muß die dialektisch-kritische Soziologie akzeptieren 122. Wenn sie sich nicht mit einem Zustand wechselseitiger Verständnislosigkeit abfinden möchte, muß sie deshalb ihre Kritik wissenschaftstheoretisch vorbringen und auch den Versuch machen, ihre gesellschaftstheoretischen Einwände in wissenschaftstheoretische zu transponieren. I. Einen ersten wissenschaftstheoretischen Angriffspunkt gegen den kritischen Rationalismus bietet dessen Exklusivitätsanspruch, der sich in der These von der "Einheit der real wissenschaftlichen Methode" niederschlägt. Diese Einheitsthese muß ins Wanken geraten, wenn überzeugend dargelegt werden kann, daß die Koexistenz mehrerer rationaler und nachvollziehbarer erfahrungswissenschaftlicher Methoden möglich ist. Habermas vertritt diese Auffassung und versucht sie mit seiner Lehre von den "erkenntnisleitenden Interessen" zu untermauern. Um die wissenschaftstheoretische Einheitsthese des kritischen Rationalismus erschüttern zu können, ist der Rückgriff auf das Konzept des erkenntnisleitenden Interesses freilich noch nicht unbedingt erforderlich. Es genügt vielmehr bereits der Hinweis, daß es neben den Naturwissenschaften de facto eine Reihe von sog. Geistes- bzw. Humanwissenschaften gibt, die sich nicht naturwissenschaftlicher, sondern historisch-hermeneutischer Methoden bedienen: Klassische hermeneutische Wissenschaften wie die Geschichtswissenschaften, die Philologien oder auch die Jurisprudenz befassen sich nicht (bzw. nicht hauptsächlich) mit der Suche nach nomologischen Gesetzmäßigkeiten, sondern mit der Auslegung und Interpretation von Texten und mit der Vermittlung von kulturellen Inhalten im weitesten Sinne (Sprache, Kunst, Wissen über geltende Werte, Normen, Traditionen oder Rechtssysteme, Wissen über eigene Vergangenheit und über fremde Kulturen etc.)123. Es handelt sich dabei also 122 I. Habermas ist sich dieser Ausgangslage klar bewußt (Vgl. Erkenntnis und Interesse, a. a. 0., S. 13 f.). 123 Das historisch-hermeneutische Verfahren umschreibt Habermas folgendermaßen: ,,Hermeneutik bezieht sich ... auf die Kunst, sprachlich kommunizierbaren Sinn zu verstehen und, inI Falle gestörter Kommunikation, verständlich zu machen. ( ...) Wir sprechen nicht zufällig von der Kunst des Verstehens und des Verständlichmachens, weil das Interpretationsvermögen, über das jeder Sprecher verfugt, stilisiert, eben zu einer Kunstfertigkeit ausgebildet werden kann." (I. Habermas, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, in: Ders., Kultur und Kritik, Frankfurt/M. 1973, S. 264). Vgl. zum Problem des "Sinnverstehens" auch unten, Kapitel IV, Abschnitt 2 a.

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durchaus um "seriöse" Erfahrungswissenschaften, wenngleich die hermeneutischen Techniken der Gewinnung und Vermittlung von Wissen nicht den gleichen mathematisierbaren Exaktheitsgrad erreichen wie die naturwissenschaftlichen Meßtechniken 124 Man wird also die Hermeneutik nicht einfach "in den Vorhof von Wissenschaft überhaupt. "125 verweisen dürfen. Vielmehr wird man der Habermas'schen Feststellung zustimmen müssen, daß die unter Hermeneutikern geführten Methodendiskussionen "gewiß nicht weniger artikuliert sind und auf keinem geringeren Niveau geführt werden als die der analytischen Wissenschaftstheorie. "126 Die faktische Aufspaltung der Erfahrungswissenschaften in einen historisch-hermeneutischen und einen naturwissenschaftlich orientierten Zweig kann also schwerlich geleugnet werden - und das ist Anlaß genug, um die Habermas'schen Vorbehalte gegen den Exklusivitätsanspurch einer nomologischen Einheitswissenschaft ernst zu nehmen. 2. Habermas muß freilich noch einen Schritt weiter gehen. Um den kritischen Rationalismus auf den Erkenntnisbereich der Naturwissenschaften (bzw. des "zweckrationalen Handeins") zurückverweisen zu können, muß er zeigen, daß erfahrungswissenschaftliche Methoden nicht nach Belieben auf alle möglichen Erkenntnisgegenstände angewandt werden dürfen, sondern daß ein notwendiger Zusammenhang zwischen bestimmten "erkenntnisleitenden Interessen", bestimmten Erkenntnisbereichen und bestimmten Methoden besteht: Habermas unterscheidet zwischen naturwissenschaftlichen Forschungsmethoden, die er empirisch-analytisch nennt, und humanwissenschaftlichen Verfahrensweisen, die er als historisch-hermeneutisch bezeichnet 127. Dabei geht er davon aus, daß den empirisch-analytischen Naturwissenschaften ein technisches Erkenntnisinteresse zugrundeliegt, das auf Naturbeherrschung abzielt und aus der "anthropologisch tiefsitzenden"128 Notwendigkeit der aktiven Auseinandersetzung des Menschen mit seiner natürlichen Umwelt ableitbar ist. Die historischhermeneutischen Human- bzw. Geisteswissenschaften folgen nach Habermas dagegen einem praktischen Erkenntnisinteresse , das sich aus der ebenso "anthropologisch tiefsitzenden" Notwendigkeit des Menschen zur Orientierung in seiner sozio-kulturellen Mitwelt ergibt, ohne die ein sinnvolles Kommunizieren und ein aufeinander abge124 125 126 127 128

Vgl. J. Habefmlls, Theorie und Praxis, a. a. 0., 18 f. Ders., Zur Logik der Sozialwissenschaften, a. a. 0., S. 3. Ebd., S. 96. Vgl. dazu unten, Kapitel IV, Abschnitt 4. J. Habefmlls, Theorie und Praxis, a. a. 0., S. 27.

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stimmtes Zusammenarbeiten und Zusammenleben der Menschen nicht möglich wäre. Er schreibt: "Das hermeneutische Verstehen ... bannt die Gefahr des Kommunikationsabbruchs ... sowohl in der Vertikale der ... kollektiven überlieferung, wie auch in der Horizontale der Vermittlung zwischen verschiedenen Individuen, Gruppen und Kulturen. Wenn diese Kommunikationsströme abreißen und die Intersubjektivität der Verständigung entweder erstarrt oder zerf