Soziologie als Beruf: Wissenschaftstheoretische Voraussetzung soziologischer Erkenntnisse [Reprint 2011 ed.] 9783110856477, 9783110130058

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Soziologie als Beruf: Wissenschaftstheoretische Voraussetzung soziologischer Erkenntnisse [Reprint 2011 ed.]
 9783110856477, 9783110130058

Table of contents :
Vorwort der Herausgeberin
Vorwort zur zweiten französischen Auflage
Einleitung: Wissenschaftstheorie und Methodenlehre
Die Didaktik der Forschung
Wissenschaftstheorie in den Humanwissenschaften und in den Naturwissenschaften
Methodenlehre und Verschiebung der Wachsamkeit
Die Hierarchie der Erkenntnisakte
Teil I: Der Bruch
1. Der wissenschaftliche Tatbestand wird gegen die Illusion unmittelbaren Wissens errungen
1.1 Vorbegriffe und die Techniken des Bruchs
1.2 Die Illusion der Transparenz und das Prinzip der Nicht-Bewußtheit
1.3 Natur und Kultur: Substanz und System von Beziehungen
1.4 Spontansoziologie und die Macht der Sprache
1.5 Die Versuchung der Prophetie
1.6 Theorie und theoretische Tradition
1.7 Theorie soziologischen Wissens und Theorie des sozialen Systems
Teil II: Die Konstruktion des Objekts
2. Der wissenschaftliche Tatbestand wird konstruiert: Die Formen empiristischer Kapitulation
2.1 Der empiristische Verzicht
2.2 Hypothesen oder Prämissen
2.3 Die falsche Neutralität der Techniken: Konstruiertes Objekt oder Artefakt
2.4 Analogie und Hypothesenbildung
2.5 Modell und Theorie
Teil III: Angewandter Rationalismus
3. Der wissenschaftliche Tatbestand wird errungen, konstruiert, validiert: Die Hierarchie der Erkenntnisakte
3.1 Der Zusammenhang der Operationen und die Hierarchie der Erkenntnisakte
3.2 Aussagensysteme und systematische Verifizierung
3.3 Paare in der Wissenschaftslogik
Schluß: Wissenssoziologie und Wissenschaftstheorie
Entwurf zu einer Soziologie der positivistischen Versuchung in der Soziologie
Die soziale Einbindung des Soziologen
Epistemologische Wachsamkeit und die scientific community
Textbeispiele
Bemerkungen zur Auswahl der Texte
Vorwort
– Der Streit von Vernunft und Einbildungskraft als wissenschaftstheoretisches Prinzip. Text Nr. 1: „Sur une épistémologie concordataire“
– Die drei Grade der Wachsamkeit. Text Nr. 2: Le rationalisme appliqué
Einleitung: Wissenschaftstheorie und Methodenlehre
Wissenschaftstheorie und rekonstruierte Logik. Text Nr. 3: The Conduct of Inquiry
1. Der Bruch
1.1 Vorbegriffe und die Techniken des Bruchs
1.2 Die Illusion der Transparenz und das Prinzip der Nicht-Bewußtheit
1.3 Natur und Kultur: Substanz und System von Beziehungen
1.4 Spontansoziologie und die Macht der Sprache
1.5 Die Versuchung der Prophetie
1.6 Theorie und theoretische Tradition
2. Die Konstruktion des Objekts
2.1 Der empiristische Verzicht
2.2 Hypothesen oder Prämissen
2.3 Die falsche Neutralität der Techniken: Konstruiertes Objekt oder Artefakt
2.4 Analogie und Hypothesenbildung
2.5 Modell und Theorie
3. Angewandter Rationalismus
3.1 Der Zusammenhang der Operationen und die Hierarchie der Erkenntnisakte
3.2 Aussagensysteme und systematische Verifizierung
3.3 Paare in der Wissenschaftslogik
Schluß: Wissenssoziologie und Wissenschaftstheorie
„Inzwischen kenne ich alle Krankheiten der soziologischen Vernunft“
Pierre Bourdieu im Gespräch mit Beate Krais
Bibliographische Angaben zu den Textbeispielen
Weiterführende Literatur
Namensregister

Citation preview

Bourdieu

Chamboredon Passeron Soziologie als Beruf

Soziologie als Beruf Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen soziologischer Erkenntnis

Pierre Bourdieu Jean-Claude Chamboredon Jean-Claude Passeron Deutsche Ausgabe herausgegeben von Beate Krais Übersetzt von Hella Beister, Reinhard Blomert und Bernd Schwibs

w DE

G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1991

Professor Pierre Bourdieu Centre de Sociologie Europeenne du College de France et de l'Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, Paris Professor Jean-Claude Chamboredon Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, Paris Professor Jean-Claude Passeron Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, Paris Dr. Beate Krais Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin © 1968 Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales and Mouton Editeur Titel der französischen Ausgabe: le metier de sociologue

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Halbarkeit erfüllt.

ClP-TitelauJnahme

der Deutschen

Bibliothek

Soziologie als Beruf : wissenschaftstheoretische Voraussetzungen soziologischer Erkenntnis / Pierre Bourdieu ; Jean-Claude Chamboredon ; Jean-Claude Passeron. Dt. Ausg. hrsg. von Beate Krais. Ubers, von Hella Beister ... — Berlin ; New York : de Gruyter, 1991 Einheitssacht.: Le metier de sociologue < d t . > ISBN 3-11-011941-2 (br.) ISBN 3-11-013005-X (geb.) NE: Bourdieu, Pierre; Chamboredon, Jean-Claude; Passeron, JeanClaude; Krais, Beate [Hrsg.]; EST © Copyright 1991 by Walter der Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Arthur Collignon GmbH, Berlin. — Druck: Kupijai & Prochnow, Berlin. — Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin. — Umschlagentwurf: Johannes Rother, Berlin. — Printed in Germany.

Vorwort zur deutschen Ausgabe Entstanden in pädagogischer Absicht, um Studenten der Soziologie die Ausbildung eines Sensoriums für die Fallstricke soziologischer Forschung zu erleichtern, ist dieses Buch doch nicht nur ein Lehrbuch, das an Textbeispielen aus dem gesamten Bereich der Humanwissenschaften die Hindernisse und Risiken wissenschaftlichen Arbeitens in der Soziologie illustriert und erläutert, sondern zugleich ein eigenständiger Beitrag zur Methodologie der Sozialwissenschaften. Ursprünglich war das Buch, ganz den pädagogischen Zwecken folgend, aus denen heraus es entstanden war, als erster Band eines dreibändigen Lehrbuchs der Soziologie konzipiert, das über die wissenschaftstheoretische Grundlegung hinaus zentrale soziologische Fragestellungen ebenso wie das methodische Instrumentarium der empirischen Sozialforschung behandeln sollte. Dazu ist es dann nicht gekommen, wie im Vorwort zur zweiten französischen Auflage und auch in dem in dieser Ausgabe enthaltenen Gespräch mit Pierre Bourdieu nachzulesen ist. Die erste französische Ausgabe dieses Buches ist 1968 erschienen, also zu einem Zeitpunkt, an dem die empirische Sozialforschung in der europäischen Soziologie bereits zu einem festen und anerkannten Bestandteil der Disziplin geworden war und auch durchaus interessante Ergebnisse und eine intensive Methodendiskussion aufzuweisen hatte, aber doch bei weitem nicht so entwikkelt und ausdifferenziert war wie heute. Und wenn man das inzwischen sehr umfangreiche, thematisch weit gespannte Werk Pierre Bourdieus betrachtet, so ist die mit diesem Buch vorliegende methodische Reflektion in einem Punkt von Bourdieus wissenschaftlicher Biographie zu lokalisieren, für den sich ähnliches sagen läßt wie für die empirisch verfahrende Soziologie allgemein: Bourdieu konnte zwar, ebenso wie seine Co-Autoren, bereits auf eine reichhaltige Erfahrung in der soziologischen Forschung zurückblicken — von den größeren Arbeiten waren bis 1968 die Studien über Algerien, die kunstsoziologischen Studien über die Fotografie und die Museen und einige Untersuchungen über die Funktionsweise des Bildungswesens' erschienen —, der größere Teil des Werkes stand jedoch noch aus. Vielleicht ist es gerade dieser Zeitpunkt in der Entwicklung einer Disziplin, zu dem Forschungs-Routinen, Spezialisierungen

1

P. Bourdieu, The Algerians. Boston: Beacon Press 1962. P. Bourdieu, A. Darbel, J.-P- Rivet, C. Seibel, Travail et travailleurs en Algerie. Paris und Den Haag: Mouton 1963. P. Bourdieu, A. Sayad, Le deracinement. La crise de l'agriculture traditionnelle en Algerie. Paris: Editions de Minuit 1964. P. Bourdieu, L. Boltanski, R. Castel, J.-C. Chamboredon, Un art moyen. Essai sur les usages de la photographie. Paris: Editions de Minuit 1965.

VI

Vorwort

und die damit einhergehende Verselbständigung von Methoden und Techniken noch wenig ausgeprägt sind, der eine Vergewisserung über das eigene Vorgehen in besonderem Maße als dringlich erscheinen läßt. Immerhin waren die sechziger Jahre in der Soziologie der Bundesrepublik die Jahre des Positivismusstreits, einer Kontroverse, die ihren Ausgang in dem Bedürfnis der Vertreter des Fachs hatte, den methodischen Standort einer sich wandelnden Disziplin zu klären. Daß die Referate von Popper und Adorno auf der Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Jahre 1961 und auch die sich darin anschließende Diskussion nicht dazu geführt haben, allgemeine wissenschaftslogische Positionen zu präzisieren, die Erwartungen vieler Tagungsteilnehmer dadurch enttäuscht wurden, wie der Berichterstatter Dahrendorf schreibt 2 , steht auf einem anderen Blatt. Soweit es um die „scharfe Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Empirie, von Konstruktion, Analyse und Tatsachenforschung" 3 geht, ist es wohl nicht weiter verwunderlich, daß die Referenten — und auch die Kontrahenten Albert und Habermas in Fortführung der Kontroverse — zur Klärung dieser Probleme relativ wenig beigetragen haben: Probleme ihrer eigenen, täglichen Forschungspraxis waren dies nicht oder doch nur selten. Allerdings sind genau dies Fragen, mit denen sich ein so stark von der empirischen Arbeit geprägter Soziologe wie Pierre Bourdieu konfrontiert sah und sieht. Die methodische Reflektion in „Soziologie als B e r u f , die wesentlich Selbstreflektion ist, setzt denn auch durchaus andere Akzente als der deutsche Positivismusstreit, trotz der zeitlichen Nähe zu diesem. Nun mag man fragen, inwiefern ein solches Buch auch heute noch von Interesse ist — über das Interesse hinaus, das die wissenschaftstheoretische Grundlegung des Werkes eines der innovativsten zeitgenössischen Soziologen beanspruchen kann, eines Soziologen, der seinem Fach eine neue Sicht auf die Welt des Sozialen eröffnet hat. Seit dem ersten Erscheinen dieses Buches hat nicht nur die empirische Sozialforschung einen ungeheuren Aufschwung erfahren, hat sich damit die Soziologie stark verändert, auch die wissenschaftstheoretische Diskussion ist weitergegangen. Welche Gründe also kann es geben, dieses Buch heute zu lesen, es zu übersetzen?

2

1

P. Bourdieu, A. Darbel, D. Schnappcr, L'amour de l'art. Les musees d'art europeens et leur public. Paris: Editions de Minuit 1966. P. Bourdieu, J.-C. Passeron, Les etudiants et leurs etudes. Paris und Den Haag: Mouton 1964. P. Bourdieu, J.-C. Passeron, Les heritiers. Paris: Editions de Minuit 1964. P. Bourdieu, J.-C. Passeron, M. de Saint-Martin, Rapport pedagogique et communication. Paris und Den Haag: Mouton 1965. Vgl. R. Dahrendorf, Anmerkungen zur Diskussion der Referate von Karl R. Popper und Theodor W. Adorno, in: Th. W. Adorno u. a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand 19808, S. 145—153. R. Dahrendorf, a. a. O., S. 153.

Β. Krais

VII

Die wissenschaftstheoretische Position, die in „Soziologie als B e r u f entwickelt wird, ist mindestens in zweierlei Hinsicht für die Soziologie nach wie vor neu. Zunächst einmal steht im Mittelpunkt eine Seite der Forschungslogik, die außerordentlich selten thematisiert wird: die logic of discovery nämlich, im Unterschied zur logic of validation — wenn es überhaupt sinnvoll ist, diese Unterscheidung aufrechtzuerhalten. Die strikte Unterscheidung von zwei verschiedenen Logiken, denen der Forschungsprozeß in seinen unterschiedlichen Phasen folgt, verweist ja eine wesentliche Seite wissenschaftlicher Arbeit, die Hypothesenbildung, den wissenschaftlichen „Einfall", das Generieren von forschungsleitenden Ideen oder wie immer man jene Aspekte des Forschungsprozesses bezeichnen will, die gemeinhin außerhalb der im strengen Sinne als wissenschaftlich geltenden logic of validation angesiedelt werden, ins Reich des Zufalligen, der Intuition, des ganz und gar Individuellen und Nicht-Rationalen. Gewiß wird man der scientific community einen Konsens darüber unterstellen dürfen, daß, wie Max Weber in „Wissenschaft als B e r u f schreibt, die „Eingebung", der „Einfall" das Entscheidende sei, wenn es zu einer wissenschaftlichen Leistung kommen solle. 4 Max Weber fügt noch hinzu, daß diese „Eingebung" nur „auf dem Boden ganz harter Arbeit" entstehe, doch geht er darauf nicht weiter ein, und dieser Aspekt des Forschungsprozesses wird in den späteren Überlegungen zur wissenschaftlichen Vorgehensweise, die auf der Trennung der Beweisführung vom Entstehungskontext aufbauen, ausgeklammert. Neuere wissenschaftssoziologische Untersuchungen zeigen hingegen, daß der wirkliche Forschungsprozeß diese Trennung nicht aufweist, daß vielmehr der Prozeß der Validierung von wissenschaftlich erzeugtem Wissen weit in den context of discovery zurückreicht und von diesem nicht zu trennen ist. 5 Pierre Bourdieu und seinen Co-Autoren nun geht es explizit darum, den wissenschaftlichen „Einfall", die „Idee", den „Prozeß der Hypothesenbildung" aus dem Bereich der Intuition herauszuheben und in einer ars inveniendi der Vernunft zugänglich zu machen. Sie sprechen von der invention, von der wissenschaftlichen Erfindung, und erinnern damit an eine Figur der klassischen Rhetorik. Zentraler Bestandteil dieser ars inveniendi ist die Konstruktion eines wissenschaftlichen Objekts, und dies ist der zweite und wesentliche Punkt, der die Lektüre dieses Buches so anregend macht. Von der Konstruktion des wissenschaftlichen Objekts zu sprechen, umfaßt zwei Momente: einmal das der Konstruiertheit von Wissen, zum andern aber das der Konstruktion eines besonderen wissenschaftlichen Objekts. Wissenschaftlich begründetes Wissen 4

5

M. Weber, Wissenschaft als Beruf, in: JM. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr (Siebeck) 1985 6 , S. 589 f. Vgl. K . D. K n o r r , The Manufacture of Knowledge: Λ η Fssay on the Constructivist and Contextual Nature of Science. Oxford: Blackwell 1980 und Β. Latour und S. Woolgar, Laboratory Life. The Social Construction of Scientific Facts. London: Sage 1979.

VIII

Vorwort

erscheint hier nicht als möglichst getreues Abbild einer „Realität", sondern als ein gemachtes, erst durch die Arbeit der Wissenschaftlerin oder des Wissenschaftlers hergestelltes, das ist: konstruiertes Wissen. Von entscheidender Bedeutung für die Konstruktion des wissenschaftlichen Objekts ist es, sich von den Ordnungsvorstellungen, Fragestellungen und Problemformulierungen des Alltagsverständnisses zu lösen, d. h. einen Bruch mit vorwissenschaftlichen Begriffen und Konzepten zu vollziehen, wie die Autoren schreiben, und statt dessen einen eigenständigen, systematisch begründeten Gegenstandsbereich mit eigenen Fragestellungen zu entwickeln. Eine solche konstruktivistische Position ist in der Soziologie bis heute keineswegs selbstverständlich; selbst die Diskussion darüber befindet sich erst am Anfang. 6 Statt dessen ist die Soziologie über weite Strecken dadurch gekennzeichnet, daß sie vorwissenschaftliche, oft aus dem politischen Raum stammende Problemdefinitionen einfach aufgreift. Beispiele für ein bloßes Aufgreifen vorwissenschaftlicher Problemdefinitionen führt Bourdieu in dem in diesem Band enthaltenen Interview an, wenn er darauf verweist, daß eine Reihe von Bindestrichsoziologien ihre Existenz vor allem dem Virulentwerden bestimmter sozialer Probleme verdanken und, sofern sie im Rahmen dieser commonjwwe-Problemformulierungen verharren, über „Betroffenheits"-Soziologien oder technokratische Praxisanweisungen nicht hinauskommen. Nur am Rande sei angemerkt, daß erst mit diesem Bruch, mit der Überwindung der vorwissenschaftlichen Konzepte und Fragestellungen, auch eine systematische Barriere gegen die Katheder-Prophetie aufgebaut wird, eine Versuchung, der Sozialwissenschaftler so lange nichts entgegenzusetzen haben — es sei denn ihre persönliche Moral —, solange sie sich auf dem gleichen vorwissenschaftlichen Terrain bewegen wie die breite Öffentlichkeit. Die Autoren diskutieren dieses Problem im ersten, dem „Bruch" gewidmeten Teil des Buches. Damit soll nun nicht dem Mißverständnis das Wort geredet werden, Wissenschaftlichkeit erweise sich vor allem an der Verwendung komplexer Fachterminologien und an der Ferne der Forschung zu Problemen der Praxis, und es geht auch nicht darum, die sozialen Akteure für blind zu erklären gegenüber ihrer gesellschaftlichen Praxis. Das Wissen der Akteure, ihr „sens pratique", ist der Ausgangspunkt jeder soziologischen Erkenntnis. 7 Dieses Wissen allerdings ist begrenzt, und insofern ist soziologisches Wissen, das diese Begrenzung zu überwinden trachtet, immer Aufklärung über gesellschaftliche Praxis. Aufklärung aber erreicht man nicht, wenn man nur reproduziert, was der sens pratique oder das Alltagsverständnis vorgeben; dazu 6

7

Vgl. dazu K . Knorr-Cetina, die mit einem erst kürzlich erschienenen Aufsatz über „Spielarten des Konstruktivismus", von der Wissenssoziologie herkommend, Perspektiven des Konstruktivismus in der Soziologie skizziert (Soziale Welt 40, 1989, 1/2, S. 8 6 - 9 6 ) . Vgl. dazu P. Bourdieu, Le sens pratique. Paris: Editions de Minuit 1980 (dt.: Sozialer Sinn, übers, von G. Seib, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987).

Β. Krais

IX

bedarf es der Analyse, die Beziehungen und Zusammenhänge freilegt, konstruiert, die in der Fülle der Erscheinungen und Handlungen des alltäglichen Lebens verborgen bleiben. Bourdieu, Chamboredon und Passeron knüpfen mit ihrer Argumentation an eine vor allem in Frankreich entwickelte wissenschaftstheoretische Tradition an, für die Namen wie Alexandre Koyre, Gaston Bachelard, Georges Canguilhem stehen. Mit Ausnahme der Arbeiten von Alexandre Koyre hat diese Tradition bis heute weder in der angelsächsischen noch in der deutschen sozialwissenschaftlichen Diskussion Beachtung gefunden. In diesem Band finden sich mehrere Textbeispiele von Gaston Bachelard und Georges Canguilhem. Mit ihren wissenschaftshistorischen Arbeiten, die das Augenmerk auf die „epistemologischen Hindernisse", wie Bachelard sie nennt, d. h. auf die sozialen und mentalen Hindernisse, die sich der wissenschaftlichen Erkenntnis in den Weg stellen, und auf die Konstruktion des eigenständigen wissenschaftlichen Objekts richten, haben sie das Wissenschaftsverständnis, das in diesem Buch vertreten wird, entscheidend beeinflußt. Wer die Arbeiten Pierre Bourdieus kennt, wird hier unschwer die konsequente Verlängerung seines Verständnisses von der Welt des Sozialen in die Wissenschaft erkennen (wobei an dieser Stelle nicht diskutiert werden soll, was zuerst war: ein spezifisches Wissenschaftsverständnis, von dem ausgehend Bourdieu ein spezifisches Verständnis von der Welt des Sozialen entwickeln konnte oder aber umgekehrt, oder wie sonst die beiden Aspekte seiner Soziologie ineinandergreifen): Gesellschaft, soziale Praxis, die sozialen Tatbestände oder sozialen Strukturen und Institutionen, mit denen sich die Soziologie beschäftigt, das ist etwas, was die Subjekte selbst machen, was sie, wie Bourdieu immer wieder hervorhebt, mit ihrem Handeln erst konstituieren, bei Kräften halten, realisieren, modifizieren, transformieren — es gibt nichts Gesellschaftliches außerhalb des Handelns der Subjekte. Um an dieser Stelle einer subjektivistischen Lesart vorzubeugen, sollte angemerkt werden, daß Bourdieu in seinem Verständnis von der Welt des Sozialen an Marx anknüpft, d. h. das Soziale nicht in der Interaktion aufgehen läßt, sondern auf der Verselbständigung von Institutionen und sozialen Strukturen gegen die Intentionen und den Willen der Subjekte insistiert. Doch geht es ihm, anders als Marx, nicht in erster Linie um die Darstellung der Verselbständigungen, der konsolidierten Produkte der sozialen Tätigkeit der Individuen, sondern um jene „praktischen Operatoren", die in der Praxis die von jeder Generation vorgefundenen sozialen Konstruktionen reproduzieren und transformieren. 8 8

Wenn Marx und Engels in ihrer Auseinandersetzung mit der idealistischen Geschichtsauffassung schreiben, daß in der Geschichte „auf jeder Stufe ein materielles Resultat, eine Summe von Produktionskräften, ein historisch geschaffnes Verhältnis zur Natur und der Individuen zueinander sich vorfindet, die jeder Generation von ihrer Vorgängerin überliefert wird, eine Masse von Produktivkräften, Kapitalien und Umständen, die zwar einerseits von der neuen Generation modifiziert wird, ihr aber auch andrerseits

χ

Vorwort

Der Begriff des Habitus, der Schlüsselbegriff für Bourdieus Werk, hat hier seinen Ursprung und seinen Stellenwert: Selbst strukturiert durch die sozialen Verhältnisse, fungiert er als der praktische Operator, mittels dessen das Handeln der Akteure zum sozialen Handeln wird, zum praktischen Konstruieren der sozialen Welt. Und die Soziologie als die Wissenschaft, in der es um die Erkenntnis der sozialen Welt geht, wird ihrerseits erst durch Konstruktion erzeugt, durch Konstruktion von Wissen über ein Objekt, das selbst bereits ein konstruiertes ist. Man ist versucht, im Falle der Soziologie von einer doppelten Konstruktion, gewissermaßen von einer Konstruktion auf der Ebene der Akteure und einer wissenschaftlichen Konstruktion auf einer Meta-Ebene, zu sprechen. Diese Vorstellung würde aber wohl das in diesem Buch vertretene Verständnis von Soziologie und von soziologischer Methode verfehlen. Die Soziologin oder der Soziologe stehen ja nicht außerhalb der Welt des Sozialen, die sie analysieren, oder blicken gar von oben auf sie herab; sie sind vielmehr selbst Akteure im sozialen Geschehen. Was ihnen — partiell! — die Analyse eben dieses Geschehens erlaubt, d. h. die für wissenschaftliche Erkenntnis konstitutive Objektivierung, ist einzig und allein die wissenschaftliche Methode, nicht aber eine fundamentale Differenz ihrer Position zu der der anderen sozialen Akteure. Es ist daher nur folgerichtig, wenn Bourdieu und seine CoAutoren in den abschließenden Passagen ihres Buches die eminente Bedeutung einer Soziologie der Soziologie für soziologische Erkenntnis herausstellen. Zu den grundlegenden Elementen „epistemologischer Wachsamkeit", wie die Autoren im Anschluß an Bachelard schreiben, gehört auch die Reflektion des wissenschaftlichen Subjekts auf seine eigene soziale Einbindung, eine Reflektion, die nicht nur dem Umstand zu gelten hat, daß Soziologen wie alle anderen Subjekte Strömungen des Zeitgeistes unterworfen sind, Denkweisen und Vorurteile mit sich herumschleppen, die der eigenen sozialen Herkunft, der erreichten gesellschaftlichen Stellung und der spezifischen Rolle als Intellektuelle geschuldet sind, sondern auch auf die soziale Ordnung in der

ihre eignen Lebensbedingungen vorschreibt und ihr eine bestimmte Entwicklung, einen speziellen Charakter gibt — daß also die Umstände ebensosehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen" (K. Marx, F. Engels, Die deutsche Ideologie, in MarxEngels-Werke, Bd. 3, S. 38), so akzentuiert Bourdieu den Mechanismus oder das Verfahren,, mit dem in der Praxis, im „wirklichen Leben", wie Marx und Engels schreiben, jene „Umstände" konstruiert werden: Wenn der Sinn sozialen Handelns in den Institutionen objektiviert ist, so erlaubt es doch erst die Existenz und Funktionsweise des Habitus, der inkorporierten Geschichte, „die Institutionen zu bewohnen, sie sich praktisch anzueignen und sie dadurch in Funktion, am Leben, bei Kräften zu erhalten, sie beständig dem Zustand toter Buchstaben, toter Sprache zu entreißen, den in ihnen niedergelegten Sinn wieder mit Leben zu erfüllen, aber nur, indem er (der Habitus — Β. K.) ihnen Veränderungen und Umwandlungen aufzwingt, die das Gegenstück und die Bedingung ihrer Reaktivierung sind." (P. Bourdieu, Le sens pratique, Paris: Editions de Minuit 1980, S. 92; eigene Übersetzung.)

Β. K r a i s

XI

jeweiligen scientific community und die eigene Position darin abzielt. Damit hängt die Qualität der Forschung in der Soziologie, wie in den anderen Wissenschaften, auch an der Organisation und Funktionsweise der scientific community, an der gesellschaftlichen Praxis derer, die Wissenschaft als ihren Beruf betreiben. Einige Bemerkungen noch zur Übersetzung: Die Übersetzung der Texte von Pierre Bourdieu ins Deutsche ist bekanntermaßen nicht ohne Probleme. Die komplexe, durchgearbeitete Schreib- und Argumentationsweise des Autors mit ihrer lateinischen Grammatik und vielfältigen expliziten und impliziten Bezügen auf die philosophische Tradition verwandelt sich in der deutschen Übersetzung leicht zu gestelzt wirkenden, schwer lesbaren, verschachtelten F,ndlos-Sätzen, in denen die im Original beeindruckende Kraft des sprachlichen Ausdrucks verschwindet. Dies gilt umso mehr für frühe Texte Pierre Bourdieus, in denen die Argumentation noch tastender vorgeht, auch stärker auf akademische Absicherung achtet, kurzum, in denen der Autor seines eigenen Weges und damit seiner Sprache noch nicht so sicher ist wie später. Dieses Buch richtet sich an Soziologen, die empirisch arbeiten, und sucht ihnen Überlegungen und Perspektiven nahezubringen, die in manchem ungewohnt sind oder gar gegen eingefahrene Denkgewohnheiten angehen. Die Lesbarkeit des Textes war daher bei der Übersetzung ein wichtiger Gesichtspunkt, ebenso die Überlegung, daß durchschnittlich gebildete Leser aus der Zunft der Soziologen nicht bereits durch einen akademisch auftrumpfenden Jargon davon abgehalten werden sollten, sich den Mühen der Auseinandersetzung mit dem Argument zu unterziehen. So erklärt sich beispielsweise, daß Begriffe wie „Nosographie" oder „polysemie", die im FremdwörterLexikon durchaus zu finden sind, ins Deutsche übersetzt worden sind, und daß versucht wurde, die in Übersetzungen aus dem Französischen geläufige Übernahme des Wortes „epistemologique" möglichst zu vermeiden und an seine Stelle zu setzen, was im Deutschen geschrieben würde: erkenntnis- oder wissenschaftstheoretisch, erkenntnis- oder wissenschaftskritisch, Wortverbindungen mit „Erkenntnis-" u. ä. Andererseits wurden im Deutschen ungebräuchliche Begriffe dann übernommen, wenn andernfalls der von den Autoren gemeinte Sinn verfälscht worden wäre. Dies gilt etwa für die invention, die „Erfindung": Von der „wissenschaftlichen Erfindung" zu sprechen, ist im Deutschen gewiß ungebräuchlich; übliche Wendungen wie etwa „Prozcß der Hypothesenbildung" oder „Forschungsprozeß" engen das Gemeinte zu sehr aufs Technische ein bzw. sind zu unspezifisch. Und der Begriff „F^ntdeckung" schließlich unterschlägt, worum es den Autoren gerade geht: um die Aktivität des wissenschaftlichen Subjekts, für die es Merkpunkte und ein Problembewußtsein zu entwickeln gilt. Herausgeberin und Übersetzer haben sich daher dafür entschieden, invention wörtlich mit „Erfindung" zu übersetzen. — Diese Beispiele sollen genügen, auf einige Probleme der Übersetzung

XII

Vorwort

aufmerksam zu machen. Jede Übersetzung enthält auch Elemente der Interpretation des Werkes durch die Übersetzerin oder den Übersetzer; wir haben uns bemüht, soweit wir uns interpretativer Eingriffe bewußt waren, diese mit Blick auf die Leser zu gestalten. Der Übersetzung wurde die zweite französische Ausgabe von 1972 zugrundegelegt, die gegenüber der ersten Auflage leicht überarbeitet, vor allem aber um einige Textbeispiele gekürzt ist. Die Übersetzung des Buches ins. Deutsche haben Bernd Schwibs (Textteil) und Hella Beister (Textbeispiele einschließlich der einführenden Bemerkungen dazu und das Gespräch mit Pierre Bourdieu am Schluß des Buchs) besorgt. Reinhard Blomert hat, zusammen mit der Herausgeberin, die englischen Textbeispiele ins Deutsche übertragen. Berlin, im November 1990

Beate Krais

Vorwort zur zweiten französischen Auflage Ursprünglich hatten wir die Absicht, diesem den Wissenschaftstbeoretischen Voraussetzungen gewidmeten Band einen mit der Konstruktion des soziologischen Objekts befaßten zweiten und schließlich einen dritten Band folgen zu lassen, der eine kritische Zusammenstellung des begrifflichen und technischen Forschungs-Instrumentariums geben sollte. Nach reiflicher Überlegung schien es uns jedoch unmöglich, auf den verbleibenden zwei Gebieten Entsprechendes zu jener Konstruktionsarbeit zu leisten, die durch die Nichtexistenz einer Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften möglich und notwendig geworden war. Auf diesem bereits besetzten und geradezu überbesetzten Gelände konnten wir uns nicht auf eine naive Position zurückziehen, aber wir mochten uns auch nicht mit einer wohltemperierten Erörterung gängiger Theorien und Konzepte bescheiden, wie sie in der akademischen Tradition als Voraussetzung jeder theoretischen Diskussion üblich ist. Die Versuchung war groß, diese Wissenschaftstbeoretischen Voraussetzungen einer grundlegenden Revision zu unterziehen, um die Darstellung in einem sehr viel stärkeren Maße, als dies im vorliegenden Band geschehen ist, pädagogischen Zielsetzungen zu unterwerfen. Jedes Prinzip hätte sich auf diese Weise in eine Vorschrift oder doch in eine Übung zur Verinnerlichung der entsprechenden Haltung umprägen lassen. So hätte man, um alle heuristischen Möglichkeiten eines Prinzips wie dem des Primats der Relationen herauszuarbeiten, am konkreten Beispiel zu zeigen, wie dieses Prinzip die technischen Entscheidungen der Forschungsarbeit anleitet (man hätte Untersuchungsreihen konstruieren müssen, bei denen jeweils im Hinblick auf die interessierenden Relationen unterschiedliche Populationen betrachtet werden; man hätte Fragen ausgearbeitet, die zwar für die Soziographie der jeweiligen Population sekundär sind, den interessierenden Fall aber in einem System von Fällen zu lokalisieren erlauben, aus dem er erst seine ganze Bedeutung gewinnt; man hätte graphische Techniken und Lochkartenverfahren verwendet, die das System von Relationen zwischen den mittels statistischer Tabellen aufgedeckten Relationen synoptisch und erschöpfend erfassen). D. h. man hätte wie in einem Seminar oder noch besser in einer Forschungsgruppe vorgehen müssen, wenn man die Konstruktion einer Stichprobe überlegt, den Aufbau eines Fragebogens untersucht oder statistische Tabellen analysiert. Wir haben dieses Vorhaben aufgegeben, nicht zuletzt aus der Befürchtung heraus, dieser pädagogische Klärungsversuch könnte, aufgrund der Begrenzungen schriftlicher Kommunikation, wieder nur dazu führen, daß forschungsorientiertes Lehren als lehrendes Einüben in schöpferisches Erkennen verfehlt wird, weil nur allzuleicht ein Kanon von Vorschriften für die Ein-

XIV

Vorwort

haltung einer neuen Methodologie oder, schlimmer noch, für eine neue theoretische Tradition dabei herauskommen würde. Diese Gefahr ist durchaus real: Die zu ihrer Zeit ketzerische Kritik am positivistischen Empirismus und an der methodologischen Abstraktion hat alle Aussichten, heute mit dem ewigen Vorgeplänkel einer neuen Vulgata verwechselt zu werden, die lediglich das obsessive Streben nach methodologischer Makellosigkeit durch den Ehrgeiz theoretischer Reinheit ersetzt und auf diese Weise Wissenschaft doch nur immer weiter aufschiebt. September 1972

Inhaltsverzeichnis Vorwort der Herausgeberin Vorwort zur zweiten französischen Auflage

V XIII

Einleitung: Wissenschaftstheorie und Methodenlehre Die Didaktik der Forschung Wissenschaftstheorie in den Humanwissenschaften und in den Naturwissenschaften Methodenlehre und Verschiebung der Wachsamkeit Die Hierarchie der Erkenntnisakte

4 8 9 13

Teil I: Der Bruch 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7

Der wissenschaftliche Tatbestand wird gegen die Illusion unmittelbaren Wissens errungen Vorbegriffe und die Techniken des Bruchs Die Illusion der Transparenz und das Prinzip der Nicht-Bewußtheit Natur und Kultur: Substanz und System von Beziehungen Spontansoziologie und die Macht der Sprache Die Versuchung der Prophetie Theorie und theoretische Tradition Theorie soziologischen Wissens und Theorie des sozialen Systems

15 15 17 22 24 28 31 35

Teil II: Die Konstruktion des Objekts 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Der wissenschaftliche Tatbestand wird konstruiert: Die Formen empiristischer Kapitulation Der empiristische Verzicht Hypothesen oder Prämissen Die falsche Neutralität der Techniken: Konstruiertes Objekt oder Artefakt Analogie und Hypothesenbildung Modell und Theorie

. .

37 40 44 46 56 60

Teil III: Angewandter Rationalismus 3. 3.1 3.2 3.3

Der wissenschaftliche Tatbestand wird errungen, konstruiert, validiert: Die Hierarchie der Erkenntnisakte Der Zusammenhang der Operationen und die Hierarchie der Erkenntnisakte Aussagensysteme und systematische Verifizierung Paare in der Wissenschaftslogik

65 65 72 75

Schluß: Wissensso2iologie und Wissenschaftstheorie Entwurf zu einer Soziologie der positivistischen Versuchung in der Soziologie . . . Die soziale Einbindung des Soziologen Epistemologische Wachsamkeit und die scientific community

80 83 85

XVI

Inhaltsverzeichnis

Textbeispiele Bemerkungen zur Auswahl der Texte

92

Vorwort — Der Streit von Vernunft und Einbildungskraft als wissenschaftstheoretisches Prinzip Text Nr. 1: G. Canguilhem, „Sur une epistemologie concordataire" — Die drei Grade der Wachsamkeit Text Nr. 2: G. Bachelard, Le rationalisme applique

93 100

Einleitung: Wissenschaftstheorie und Methodenlehre — Wissenschaftstheorie und rekonstruierte Logik Text Nr. 3: A. Kaplan, The Conduct of Inquiry

105

1. Der Bruch 1.1

1.2

1.3

1.4

Vorbegriffe und die Techniken des Bruchs — Vorbegriffe als Erkenntnishindernis Text Nr. 4: E. Dürkheim, Die Regeln der soziologischen Methode — Die provisorische Definition als Instrument des Bruchs Text Nr. 5: M. Mauss, „La priere" — Die logische Analyse als Adjuvans der epistemologischen Wachsamkeit Text Nr. 6: J. H. Goldthorpe und D. Lockwood, „Affluence and the British Class Structure" Die Illusion der Transparenz und das Prinzip der Nicht-Bewußtheit — Der Glaube an die Machbarkeit des Sozialen Text Nr. 7: E. Dürkheim, Erziehung und Soziologie — Systematisches Nichtwissen Text Nr. 8: E. Dürkheim, Die Regeln der soziologischen Methode — Das Prinzip des Determinismus als Negation der Illusion der Transparenz Text Nr. 9: E. Dürkheim, „Sociologie et sciences sociales" — Code und Dokument Text Nr. 10: F. Simiand, „Methode historique et science sociale" Natur und Kultur: Substanz und System von Beziehungen — Natur und Geschichte Text Nr. 11: K. Marx, Das Elend der Philosophie K. Marx, Grundrisse — Natur als psychologische Invariante und die Verkehrung von Ursache und Wirkung Text Nr. 12: E. Dürkheim, Die Regeln der soziologischen Methode — Die Unergiebigkeit der Erklärung historisch spezifischer Tatbestände durch allgemein-menschliche Neigungen Text Nr. 13: M. Weber, „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" Spontansoziologie und die Macht der Sprache — Krankheiten der Sprache Text Nr. 14: M. Chastaing, „Wittgenstein et le probleme de la connaissance d'autrui"

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144

Inhaltsverzeichnis

1.5

1.6

XVII

— Metaphorische Schemata in der Biologie Text Nr. 15: G. Canguilhem, La connaissance de la vie G. Canguilhem, „Le tout et la partie dans la pensec biologique" Die Versuchung der Prophetie — Professoren und Intellektuelle als Propheten Text Nr. 16: M. Weber, „Der Sinn der ,Wertfreiheit' der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften" Text Nr. 17: Β. M. Berger, „Sociology and the Intellectuals: Λη Analysis of a Stereotype" Theorie und theoretische Tradition — Architektonische und polemische Vernunft Text Nr. 18: G. Bachelard, Die Philosophie des Nein

149 151 154

154 156 159 159

2. Die Konstruktion des Objekts

2.1

2.2

2.3

2.4

— Die Methode der politischen Ökonomie Text Nr. 19: K. Marx, Grundrisse — Die positivistische Illusion einer voraussetzungsfreien Wissenschaft Text Nr. 20: M. Weber, „Die ,Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis" — „Die sozialen Tatbestände müssen wie Dinge behandelt werden" Text Nr. 21: Ii. Dürkheim, Die Regeln der soziologischen Methode E. Dürkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, Vorwort zur 2. Auflage Der empiristische Verzicht — Der Erkenntnisvektor Text Nr. 22: G. Bachelard, Der neue wissenschaftliche Geist Hypothesen oder Prämissen — Das Instrument ist Theorie in actu Text Nr. 23: E. Katz, „The Two-Step Flow of Communication: An Up-to-Date Report on an Hypothesis" — Der Statistiker muß wissen, was er tut Text Nr. 24: Ε Simiand, Statistique et experience: Remarques de methode . . . Die falsche Neutralität der Techniken: Konstruiertes Objekt oder Artefakt . . — Das Interview und die Organisationsformen der Erfahrung Text Nr. 25: L. Schatzman und A. Strauss, „Social Class and Modes of Communication" — Subjektive Bilder und objektive Bezugssysteme Text Nr. 26: J . H. Goldthorpe und D. Lockwood, „Affluence and the British Class Structure" — Kategorien der Eingeborenen-Sprache und die Konstruktion wissenschaftlicher Tatbestände Text Nr. 27: C. Levi-Strauss, Einleitung zu Soziologie und Anthropologie von Marcel Mauss Text Nr. 28: M. Mauss, „Introduction a l'analyse de quelques phenomenes religieux" Text Nr. 29: B. Malinowski, Argonauten des westlichen Pazifik Analogie und Hypothesenbildung — Die Verwendung von Idealtypen in der Soziologie Text Nr. 30: M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft M. Weber, „Die ,Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis"

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XVIII 2.5

Inhaltsverzeichnis

Modell und Theorie — Summa und Kathedrale: Tieferliegende Analogien als Produkt geistiger Gewohnheiten Text Nr. 31: E. Panofsky, Gothic Architecture and Scholasticism — Die heuristische Funktion der Analogie Text Nr. 32: P. Duhem, Ziel und Struktur der physikalischen Theorien . . . . — Analogie, Theorie und Hypothese Text Nr. 33: N. R. Campbell, Foundations of Science

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207 210 213

3. Angewandter Rationalismus 3.1

3.2

3.3

Der Zusammenhang der Operationen und die Hierarchie der Erkenntnisakte — Theorie und Experiment Text Nr. 34: G. Canguilhem, La connaissance de la vie G. Canguilhem, „Lemons sur la methode" — Die Lieblingsobjekte des Empirismus Text Nr. 35: C. Wright Mills, Kritik der soziologischen Denkweise Aussagensysteme und systematische Verifizierung — Theorie als methodisches Wagnis Text Nr. 36: L. Hjelmslev, Die Sprache — Zirkuläre Argumentation Text Nr. 37: E. Wind, „Über einige Berührungspunkte zwischen Naturwissenschaft und Geschichte" — Der Beweis durch ein System konvergierender Wahrscheinlichkeiten Text Nr. 38: C. Darwin, Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl Paare in der Wissenschaftslogik — Dialogische Philosophie Text Nr. 39: G. Bachelard, Le rationalisme applique — Der Neopositivismus, eine Verbindung von Sensualismus und Formalismus Text Nr. 40: G. Canguilhem, „Lesons sur la methode" — Formalismus als Intuitionismus Text Nr. 41: E. Dürkheim, „La sociologie et son domaine scientifique" . .

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Schluß: Wissenssoziologie und Wissenschaftstheorie — Das mondäne Leben der Wissenschaft Text Nr. 42: G. Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes . . . . 253 — Von der Wiederherstellung der soziologischen Urteilskraft Text Nr. 43: M. Maget, Guide d'etude directe des comportements culturels . . . 261 — Wechselseitige Kontrollen und die Übertragbarkeit der Zensur Text Nr. 44: M. Polanyi, Personal Knowledge: Towards a Post-Critical Philosophy 266

„Inzwischen kenne ich alle Krankheiten der soziologischen Vernunft" Pierre Bourdieu im Gespräch mit Beate Krais Bibliographische Angaben zu den Textbeispielen Weiterführende Literatur Namensregister

269 285 290 295

Einleitung: Wissenschaftstheorie und Methodenlehre „Die Methode", schreibt Auguste Comte, „kann nicht getrennt von den Forschungen, bei denen sie zur Anwendung kommt, studiert werden; oder es handelt sich um nichts anderes als ein lebloses Studium, das den Geist, der sich ihm widmet, nicht zu befruchten vermag. Betrachtet man das Wirkliche unter abstrakten Gesichtspunkten, reduziert sich alles, was darüber zu sagen ist, auf derart vage Allgemeinheiten, daß sie keinerlei Einfluß auf die geistige Verfassung haben können. Wenn man mit logischer Stringenz nachgewiesen hat, daß alle unsere Erkenntnisse auf Beobachtung begründet sein müssen, daß wir teils von den Fakten zu den Prinzipien, teils von den Prinzipien zu den Fakten vorzugehen haben, und was deren ähnliche Lehrsätze sonst noch sind, so kennt man die Methode doch weniger gut als jemand, der auf einigermaßen tiefergehende Weise eine einzige positive Wissenschaft studiert hat, selbst wenn dies nicht in philosophischer Absicht geschehen ist. Weil sie diesen wesentlichen Sachverhalt nicht erkannt haben, werden unsere Psychologen dazu verführt, ihre Träumereien für Wissenschaft zu halten, meinen sie, die positive Methode verstanden zu haben, weil sie die Vorschriften Bacons oder Descartes Discours de la methode gelesen haben. Ich weiß nicht, ob es später einmal möglich sein wird, a priori eine richtige Einführung in die Methode, unabhängig von jedem philosophischen Studium der Wissenschaften, zu geben; ich bin mir allerdings sehr sicher, daß dies gegenwärtig undurchführbar ist: die wichtigen logischen Verfahren können noch nicht mit hinlänglicher Präzision getrennt von ihren Anwendungen erklärt werden. Ich wage sogar hinzuzufügen, daß selbst dann, wenn ein solches Unternehmen einmal verwirklicht werden sollte, was durchaus denkbar erscheint, man immer noch ausschließlich durch das Studium der regelmäßigen Anwendungen der wissenschaftlichen Verfahren dahin gelangen kann, sich ein gutes System geistiger Gewohnheiten auszubilden, was schließlich das wesentliche Ziel der Methode ist." 1 1

Λ. Comte, Cours de philosophic positive (1830), Paris : 1926, S. 71 f. Mit G. Canguilhem könnte festgestellt werden, daß nur schwer den Verlockungen des Vokabulars zu widerstehen ist, „die uns fortgesetzt zu der Ansicht verleiten, die Methode ließe sich von den Forschungen, in denen sie am Werke ist, trennen". „Auguste Comte (lehrt) in der ersten Vorlesung des Cours de philosophie positive, daß ,die Methode nicht getrennt von den Untersuchungen, bei denen sie Anwendung kommt, studiert werden kann', was bedeutet, daß eine Methode nur angewendet werden kann, wenn man sie hat." (G. Canguilhem, „Theorie und Technik des Experimentierens bei Claude Bernard", in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Hpistemologie. Gesammelte Aufsätze, übers, von M. Bischoff und W. Seitter, hg. von W. Lepenies, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979.)

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] Anleitung

Diesem Text, der die Trennung von Methode und Praxis ablehnt und dadurch vorab alles Reden über die Methode verwirft, wäre nichts hinzuzufügen, hätte sich nicht bereits um die Methode eine umfassende Auseinandersetzung etabliert, die, wird sie nicht rigoros in Frage gestellt, die Gefahr in sich birgt, den Forschern ein gespaltenes Bild von wissenschaftlicher Arbeit zu vermitteln. Propheten, die gegen die uranfängliche Unreinheit der Empirie zu Felde ziehen — man weiß nicht genau, ob sie den Kleinkram wissenschaftlicher Routine als Angriff auf die Würde der von ihnen ausgewählten Forschungsobjekte oder des wissenschaftlichen Subjekts, das sie zu sein behaupten, ansehen — und jene Hohepriester der Methode, die am liebsten alle Forscher lebenslang an die Bänke des methodologischen Katechismus ketten würden; jene, die sich unaufhörlich über die Kunst, Soziologe zu sein, oder über die wissenschaftliche Art und Weise, Soziologie zu treiben, auslassen — sie haben nicht selten das eine gemeinsam, daß sie die Methode oder die Theorie, wenn nicht gar die Theorie der Methode oder die Theorie der Theorie, strikt vom praktischen Vorgehen in der Forschung trennen. Aus der konkreten Erfahrung mit Forschung und den dabei auftretenden alltäglichen Schwierigkeiten erwachsen, verfolgt dieses Buch kein anderes Ziel, als um der Sache willen ein „System geistiger Gewohnheiten" darzulegen: Es richtet sich an diejenigen, die bereits in die Praxis der empirischen Soziologie „eingestiegen" sind und denen man daher nicht die Notwendigkeit des Messens samt seines theoretischen und technischen Instrumentariums vergegenwärtigen muß; die sich daher auf Anhieb über Selbstverständliches mit uns verständigen können — so über die Notwendigkeit, kein konzeptuelles oder technisches Hilfsmittel zu vernachlässigen, das dazu beitragen könnte, die empirische Überprüfung so stringent und so nachdrücklich wie möglich durchzuführen. Nur wer über keine Forschungserfahrung verfügt oder verfügen will, kann in diesem Buch, in dem es um Fragen an die soziologische Praxis geht, eine Infragestellung empirischer Soziologie sehen. 2 Wenn es stimmt, daß ein Unterricht in Forschung sowohl von den Lehrenden als auch von den Lernenden einen direkten und steten Bezug auf die

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Das Mißverständnis, dem wir hier vorzubeugen suchen, wird vor allem deshalb möglich, weil das wissenschaftstheoretische Feld entsprechend der Logik der Gegensatzpaare (vgl, Teil III) geteilt ist, und es intellektuelle Traditionen gibt, die es durch die Identifizierung jeder Reflexion mit reiner Spekulation verhindern, die technische Funktion einer Reflexion über das Verhältnis zu den Techniken wahrzunehmen: Bei dieser dualistischen Organisation der wissenschaftstheoretischen Positionen wird nahezu unausweichlich jeder Versuch als Anklage gegen die Technik und die Techniker gedeutet, bei dem es darum geht, die technischen Operationen wieder in die Hierarchie der Erkenntnisakte einzufügen. Ob es uns nun gefallt oder nicht — und an dieser Stelle sei der kapitale Beitrag anerkannt, den die Methodologen, zumal P. F. Lazarsfeld, für die Rationalisierung der soziologischen Praxis geleistet haben —, so ist uns doch bewußt, daß man uns eher in die Ecke der I'ads and foibles of American Sociology stecken wird als in die der Language of Social Research.

Wissenschaftstheorie und Methodenlehre

3

persönliche Plrfahrung mit Forschung erfordert, dann können „die gerade gängige unangewandte Methodologie, die ganzen programmatischen Äußerungen über eine hypothetisch überlegene Forschung, die kritische Auseinandersetzung mit den Arbeiten anderer [...] und ähnliche Mittel und Gelegenheiten für methodologische A u s f ü h r u n g e n " 3 ebensowenig die Reflexion über das richtige Verhältnis zu den Techniken ersetzen wie der — wie immer kühne — Versuch zur Vermittlung von Prinzipien, die schon deshalb nicht als einfache grundlegende Wahrheiten dargestellt werden können, weil sie der Suche nach Wahrheiten zugrunde liegen. Wenn es im weiteren stimmt, daß die Methoden sich von den Techniken zumindest darin unterscheiden, „daß sie hinreichend allgemein sind, um in allen Wissenschaften oder einem wesentlichen Teil davon Geltung zu besitzen", 4 dann muß diese MethodenReflexion auch noch das Risiko auf sich nehmen und Anschluß finden an die klassischen Untersuchungen zur Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften; aber vielleicht müssen sich die Soziologen, um überhaupt der konzeptionellen Anarchie zu entkommen, in der sie aus Gleichgültigkeit gegenüber der wissenschaftstheoretischen Reflexion befangen sind, auch erst einmal über die grundlegenden Prinzipien einig werden, die für die Naturwissenschaftler oder Wissenschaftstheoretiker längst zu den Binsenwahrheiten gehören. Eine Einzelwissenschaft mit Hilfe allgemeiner, dem wissenschaftstheoretischen F2rkenntnisstand entsprechenden Prinzipien zu befragen, ist jedoch gerade im Fall der Soziologie im besonderen Maße gerechtfertigt und erforderlich: Denn alles ist hier dazu angetan, diesen Flrkenntnisstand schlicht zu ignorieren, vom humanistischen Stereotyp des nicht reduzierbaren Charakters der Geistes- und Sozialwissenschaften über die Existenz einer Z u n f t von Methodologen, die auf die selektive Reinterpretation der Erkenntnisse anderer Wissenschaften spezialisiert sind, bis hin zu den Charakteristiken der Rekrutierung und Ausbildung von Wissenschaftlern. Folglich geht es darum, die Verfahrensweisen der soziologischen Praxis der Flrkenntniskritik auszusetzen, um auf diese Weise eine Haltung der Wachsamkeit zu definieren und, wenn möglich, anzutrainieren, die in der adäquaten Erkenntnis des Irrtums und der Mechanismen, aus denen er entsteht, ein Mittel für seine Überwindung findet. Die Absicht, die Wissenschaftler instand zu setzen, ihre wissenschaftliche Arbeit eigenverantwortlich zu kontrollieren, steht in diametralem Gegensatz zu den Ordnungsrufen der Zensoren, die mit ihrem keinen Widerspruch duldenden Negativismus lediglich die Furcht vor dem Irrtum und

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R. Needham, Structure and Sentiment: A Test-case in Social Anthropology, Chicago und London: Chicago University Press, 1962, S. VII. Λ. Kaplan, The (Conduct of Inquiry. Methodology of Behavioral Science, San Francisco: Chandler, 1964, S. 23. Derselbe Autor bedauert, daß der Terminus der „Technologie" bereits eine spezifische Bedeutung gewonnen hat; er ließe sich seiner Beobachtung nach exakt auf zahlreiche sogenannte „methodologische" Studien anwenden (ebenda, S. 19).

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Einleitung

den resignativen Rückgriff auf eine mit Beschwörungsfunktion befrachtete Technologie zu provozieren vermögen. Wie das gesamte Werk Gaston Bachelards hinlänglich beweist, unterscheidet sich die Wissenschaftstheorie von einer abstrakten Methodenlehre durch das Bemühen, die Logik des Irrtums zu erfassen, um derart eine Logik der Entdeckung der Wahrheit zu entwickeln, im Sinne einer Polemik gegen den Irrtum und als Anstrengung, die angenäherten Wahrheiten der Wissenschaft und die von ihr verwendeten Methoden einer steten und methodischen Berichtigung zu unterziehen. [G. Canguilhem, Text Nr. /] Allerdings entfaltet die polemische Aktion der Vernunft ihre ganze Kraft erst dann, wenn die „Psychoanalyse des wissenschaftlichen Geistes" erweitert wird zu einer Analyse der sozialen Bedingungen der soziologischen Produktion: Als vorrangiges Instrument „epistemologischer Wachsamkeit" bietet sich dem Soziologen die Wissenschaftssoziologie an, ein Mittel zur fortschreitenden Erkenntnis und Präzisierung des Irrtums wie der Bedingungen, die ihn möglich und manchmal unausweichlich machen. [G. Bachelard, Text Nr. 2] Was nun in diesem Zusammenhang noch immer wie Polemik ad hominem aussehen könnte, ist allein auf die Grenzen des soziologischen Verstehens der Bedingungen für den Irrtum zurückzuführen: Eine Wissenschaftstheorie, die sich auf die Wissenssoziologie beruft, darf noch weniger als jede andere die Irrtümer Subjekten zuweisen, die nie gänzlich deren Urheber sind. Wenn wir, um einen Anspruch von Marx zu paraphrasieren, den Empiristen, Intuitionisten oder Methodologen nicht „in rosigem Licht" gezeichnet haben, so haben wir an bestimmte Personen doch stets nur gedacht, „soweit sie die Personifikationen" wissenschaftstheoretischer Positionen sind, die sich vollständig nur im Rahmen des sozialen Feldes begreifen lassen, in dem sie auftreten.

Die Didaktik der Forschung Form und Inhalt dieses Buches sind durch seine Funktion bestimmt. Eine Unterweisung in der Forschung, die die Grundlage einer professionellen Praxis darlegen und zugleich ein bestimmtes Verhältnis zu dieser Praxis vermitteln, d. h., die gleichermaßen das notwendige Instrumentarium zur soziologischen Behandlung eines Gegenstandes vorgeben und die Bereitschaft zu seinem adäquaten Gebrauch fördern möchte, muß sich von den Routinen pädagogischer Vermittlung lösen, um so den durch das Ritual kanonischer Darstellung weitestgehend „neutralisierten" Konzepten und Verfahren ihre heuristische Kraft wiederzugeben. Deshalb beginnt dieses Buch, das sich die Einführung in die praktischsten Akte der soziologischen Praxis zur Aufgabe gemacht hat, mit einer Reflexion, die die Implikationen einer jeden, guten wie schlechten, Praxis zu systematisieren und das Prinzip der epistemologi-

Wissenschaftstheorie und Methodenlehre

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sehen Wachsamkeit in Form praktischer Vorschriften zu spezifizieren sucht (Buch I). 5 Erst danach kann versucht werden, Funktion und Anwendungsbedingungen der theoretischen Schemata zu definieren, auf die die Soziologie zur Konstruktion ihres Gegenstandes zurückgreifen muß, ohne daß mit der Darstellung dieser Grundprinzipien genuin soziologischen Fragens der Anspruch erhoben wäre, eine fertige und umfassende Theorie des Gegenstandes der Soziologie oder gar eine allgemeine und universell gültige Theorie des sozialen Systems vorzulegen (Buch II). 5 Um dem Empirismus zu entkommen, muß die empirische Forschung nicht erst eine solche Theorie mobilisieren; es genügt, daß sie in jeder ihrer Operationen tatsächlich die Prinzipien umsetzt, die sie als Wissenschaft konstituieren, indem sie ihr einen Gegenstand mit einem Minimum an theoretischer Kohärenz vorgeben. Unter dieser Voraussetzung können Konzepte oder Methoden wie Werkzeuge behandelt werden, die sich, herausgelöst aus ihrem ursprünglichen Kontext, für neue Anwendungen anbieten (Buch III). 5 Durch die Anwendungsbeispiele nach der Darstellung jedes begrifflichen Instruments soll der Eindruck vermieden werden, als bestünde soziologisches Wissen aus einer Summe von Techniken oder aus einem Kapital an Begriffen, die von ihrer Anwendung in der Forschung abgetrennt und abtrennbar wären. Haben wir uns erlaubt, sowohl die theoretischen Prinzipien als auch die technischen Verfahren, die uns die Geschichte der wissenschaftlichen Soziologie überliefert hat, aus ihrem Begründungszusammenhang herauszulösen, dann nicht nur deshalb, um die Verknüpfungen einer didaktischen Ordnung aufzubrechen, die auf akademische Tändeleien mit der Dogmen- und Begriffsgeschichte nur verzichtet, um den durch Tradition oder Mode geheiligten Werten die rechte Anerkennung zu bezeigen, und nicht einmal nur deshalb, um heuristische Möglichkeiten zu entbinden, die häufig zahlreicher sind, als der akademische Verstand es sich träumen läßt. Dazu ermächtigt gefühlt haben wir uns vielmehr im Namen einer bestimmten Auffassung von der Theorie soziologischen Wissens: Darin wird diese als System der Prinzipien begriffen, die die Bedingungen der Möglichkeit aller genuin soziologischen Akte und Diskurse — und nur dieser — definieren, und zwar unabhängig davon, für welche Theorie des sozialen Systems diejenigen stehen, die unter Berufung auf jene Prinzipien soziologische Werke hervorbringen oder hervorgebracht haben. Die Frage, auf welche Theorie des Sozialen — die von Marx, Weber oder Dürkheim zum Beispiel — eine soziologische Untersuchung sich stützt, ist allemal zweitrangig gegenüber der Frage der Zugehörigkeit dieser Untersuchung zur Wissenschaft der Soziologie: Das einzige Kriterium für diese Zugehörigkeit ist die praktische Umsetzung der grundlegenden Prinzipien der Theorie soziologischen Wissens; diese vereint daher Autoren, die auf dem Boden der Theorien des sozialen Systems un5

Vgl. das Vorwort zur 2. französischen Auflage.

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Einleitung

überbrückbar geschieden sind. Wurden die meisten Forscher dazu verleitet, ihre jeweilige Theorie des sozialen Systems mit der Theorie des Wissens vom Sozialen zu verwechseln, die sie zumindest implizit in ihrer soziologischen Praxis verwenden, dann darf sich das wissenschaftstheoretische Projekt auch auf diese vorgängige Unterscheidung berufen, um Autoren zusammen zu diskutieren, deren gegensätzliche Lehrmeinungen verdecken, daß sie auf wissenschaftstheoretischer Ebene übereinstimmen. Man könnte befürchten, daß dieses Unternehmen zu einem Gemisch aus Prinzipien mit unterschiedlicher theoretischer Tradition oder zur Aufstellung einer Liste von Instruktionen, abgetrennt von den sie begründenden Prinzipien, führt. Dabei wird aber vergessen, daß der Ausgleich bzw. die Integration, deren Grundlagen wir darzulegen gedenken, wirklich stattfindet: in der genuin soziologischen Arbeit des Soziologen oder, genauer, im „Metier" des Soziologen, d. h. jenem Habitus, der als ein System von mehr oder weniger unter Kontrolle gebrachter und mehr oder weniger übertragbarer Schemata nichts anderes darstellt als die Verinnerlichung der Prinzipien der Theorie soziologischen Erkennens. Lediglich durch stetes Trainieren der epistemologischen Wachsamkeit ist der ständigen Versuchung, die methodischen Regeln in wissenschaftliche Kochrezepte oder Forschungsschnickschnack zu verwandeln, entgegenzutreten. Nur diese führt dazu, vor Gebrauch der Techniken und Begriffe nach den Bedingungen und Grenzen ihrer Gültigkeit zu fragen, und unterbindet so jede leichtfertige und mechanische Anwendung bewährter Verfahren, ebenso wie sie darauf aufmerksam macht, daß jede Operation, wie routiniert und routinisiert auch immer, stets aufs neue für sich selbst und unabhängig vom jeweiligen Fall überdacht werden muß. Nur wer die Ansprüche des Messens magisch überhöht, kann die Bedeutung von Operationen überschätzen, die letztlich doch nichts weiter sind als handwerkliche Griffe, und kann zugleich dadurch, daß er die methodologische Vorsicht in weihevolle Andacht verwandelt und aus Furcht, die gängigen Rituale nicht vollkommen zu erfüllen, Instrumente, die lediglich nach ihrem Nutzen bewertet werden sollten, entweder nur mit zitternden Händen anwenden oder ganz die Finger davon lassen. Wer die methodologische Sorge bis zur Obsession treibt, erinnert tatsächlich an jenen Kranken, von dem Freud berichtet, der seine Zeit mit dem Putzen seiner Brille verbrachte, ohne sie je aufzusetzen. Das Projekt einer methodischen Vermittlung der ars inveniendi ernstnehmen heißt erkennen, daß diese anderes und weitaus mehr impliziert als die ars probandi, deren Befürworter die nachträglich ermittelte logische Mechanik der Befunde und Beweise mit dem realen Funktionieren des erfinderischen Geistes verwechseln; heißt mit gleicher Evidenz auch einsehen, daß ein großer Unterschied besteht zwischen den Pfaden oder, besser, den Abkürzungen, welche eine Reflexion über Forschung heute zu entwerfen vermag, und dem

Wissenschaftstheorie und Methodenlehre

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Weg ohne Korrekturen und Umwege, den eine wirkliche Abhandlung über die soziologische Methode vorschlagen würde. Im Gegensatz zu jener Tradition, die sich an die Logik der Beweisführung hält und aus Prinzip sich versagt, in die Geheimnisse des Erfindens einzutreten, damit aber auch zwangsläufig zwischen einer Rhetorik der formalen Darstellung und einer literarisch verbrämten Psychologie der Entdeckung hin und her schwanken muß, wird hier das Ziel verfolgt, die Mittel zum Erwerb einer geistigen Disposition zu liefern, die die Voraussetzung ebenso der Erfindung wie der Beweisführung ist. Diese Synthese nicht zu leisten hieße, auf jede Hilfestellung bei der Arbeit zu verzichten und wie so mancher Methodologe nichts anderes mehr tun zu können, als sich auf die Wunder der schöpferischen Illumination, jene von der Hagiographie wissenschaftlicher Entdeckungen transportierte Vorstellung, oder die Mysterien der Tiefenpsychologie zu berufen bzw. diese — gleich Geistern — zu beschwören. 6 Selbstverständlich können die erworbenen Automatismen ein fortwährendes Erfinden ersparen; doch sollte man sich hüten, glauben zu machen, das Subjekt der wissenschaftlichen Erfindung sei ein automaton spirituale, der den gut funktionierenden Mechanismen eines ein für allemal entwickelten methodologischen Programms gehorchte; denn damit wäre der Wissenschaftler auf blinde Unterwerfung unter das Programm verwiesen und die Reflexion auf das Programm, die Voraussetzung für das Erfinden neuer Programme ist, 7 unterbunden. Die Methodologie, heißt es bei Weber, „ist sowenig Voraussetzung fruchtbarer Arbeit, wie die Kenntnis der Anatomie Voraussetzung

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Bei der Definition des Gegenstandes der Logik der Wissenschaften ist die methodologische Literatur stets darum bemüht, Überlegungen zu den n>ajs of discovery zugunsten der ways of validation explizit zu vermeiden (vgl. ζ. B. C. G. Hempel, Aspects of Scientific Explanation and Other Essays in the Philosophy of Science, New York: 1965, S. 82 f. K. R. Fopper kommt häufig auf diese Dichotomie zurück, sie scheint sich bei ihm mit dem Gegensatz von öffentlichem und privatem Leben zu decken: „Die Frage ,Wie haben sie Ihre Theorie gefunden?' berührt nämlich eine völlig private Angelegenheit, im Gegensatz zu der Frage ,Wie haben Sie Ihre Theorie geprüft}"' (Karl R. Popper, Das lilend des Historismus, 2. Auflage, Tübingen: Mohr, 1969, S. 106). Oder auch: „L'nsere Auffassung f...], daß es eine logisch, rational nachkonstruierbare Methode, etwas Neues zu entdecken, nicht gibt, pflegt man oft dadurch auszudrücken, daß man sagt, jede Entdeckung enthalte ein irrationales Moment', sei eine schöpferische Intuition' (im Sinne Bergsons) ..." (Karl R. Popper, Logik der Forschung, 3. verm. Auflage, Tübingen: Mohr, 1969, S. 7). Wird statt des Begründungszusammenhangs einmal explizit der „Entdeckungszusammenhang" thematisiert, muß mit zahlreichen zur Gewohnheit gewordenen Denkmustern der wissenschaftstheoretischen und methodologischen Tradition gebrochen werden, nicht zuletzt mit der Vorstellung des Forschungsprozesses als einer Abfolge klar unterschiedener und vorbestimmter Etappen. (Vgl. P. E. Hammond (Hg.), Sociologists at Work: Essays on the Craft of Social Research, New York: Basic Books, 1964.) Man bedenke nur, wie leicht Forschung sich gemäß der Logik der pump-handle research zu reproduzieren vermag, ohne etwas zu produzieren.

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Einleitung

,richtigen' Gehens". 8 Wenn nun zwar die Hoffnung vergeblich ist, eine Wissenschaft entdecken zu können, die aufzeigt, wie Wissenschaft betrieben wird, und von der Logik etwas anderes zu erwarten, als daß sie angibt, wie Wissenschaft im Werden kontrolliert oder fertige Wissenschaft auf ihre Geltung hin befragt werden kann, so bleibt doch die Feststellung, daß — wie John Stuart Mill erklärte — „das Erfinden kultiviert werden kann"; womit auch gesagt wäre, daß eine Darstellung der Logik des Erfindens, wie partiell auch immer, dazu beizutragen vermag, die Fähigkeit des Erfindens rationeller zu vermitteln.

Wissenschaftstheorie in den Humanwissenschaften und in den Naturwissenschaften Die meisten Irrtümer sowohl über die soziologische Praxis als auch über die Reflexion auf die Praxis wurzeln in einer falschen Vorstellung von der Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften und deren Verhältnis zur Wissenschaftstheorie der Humanwissenschaften. Von ihren expliziten Aussagen her diametral entgegengesetzte wissenschaftstheoretische Positionen weisen nicht selten die Gemeinsamkeit auf, daß sie die exakte Philosophie der exakten Wissenschaften nicht kennen. Dies gilt etwa für den Diltheyschen Dualismus und sein Gegenstück, den Positivismus: Vermag jener die Besonderheit der geisteswissenschaftlichen Methode lediglich in Abgrenzung von einem Bild der Naturwissenschaften zu postulieren, das selbst erst dem Bemühen um Unterscheidung erwachsen ist, so setzt der Positivismus alles daran, einem eigens zum Zwecke der Imitation fabrizierten Bild von den Naturwissenschaften nachzueifern. Jene Ignoranz hat jedenfalls dazu geführt, gleichermaßen künstliche Schranken zwischen den beiden Methoden aufzurichten, um nostalgischen humanistischen Vorstellungen oder entsprechenden frommen Wünschen nachzugehen, naiv als neue Entdeckung zu beklatschen, was doch nur Wiederentdeckung ist, wie schließlich die positivistische Uberbietungsstrategie mitzumachen und ein verkürztes, als Abbild der Wirklichkeit ausgegebenes Bild der Erfahrung treu und brav erneut abzubilden. Auch wenn man sieht, daß der Positivismus lediglich eine Karikatur der Methode der exakten Wissenschaften übernimmt, so heißt das doch noch lange nicht, daß man damit selbst schon über eine exakte Wissenschaftstheorie der Humanwissenschaften verfügt. Tatsächlich erweist es sich als eine Konstante in der Ideengeschichte, daß die Kritik des unreflektierten Positivismus 8

Max Weber, „Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, 1906", in: ders., Gesammelte Aufsätze %ur Wissenschaftslehre. 3. Aufl., Tübingen: Mohr, 1968, S. 217.

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Wissenschaftstheorie und Methodenlehre

dazu dient, auf dem subjektiven Charakter der sozialen Tatsachen und ihrer Widerständigkeit gegenüber strengen wissenschaftlichen Methoden zu insistieren. Wenn etwa von Hayek bemerkt, daß die „Methoden, die die von den Naturwissenschaften faszinierten Wissenschaftler oder sonstige Leute so oft den Sozialwissenschaften aufzuzeigen versucht haben, nicht immer notwendig jene waren, denen die Wissenschaftler faktisch in ihrem Bereich folgten, sondern eher jene, die sie zu benutzen glaubten", 9 dann zieht er daraus den unmittelbaren Schluß, daß die sozialen Tatsachen sich von den „Tatsachen der physikalischen Wissenschaften deshalb unterscheiden, weil sie Glaubensüberzeugungen oder individuelle Meinungen darstellen" und folglich „nicht danach definiert werden dürfen, was wir in bezug auf sie durch die objektiven Methoden der Wissenschaft entdecken könnten, sondern danach, was die handelnde Person in bezug auf sie denkt." 10 Kritik an der gedankenlosen Nachahmung der Naturwissenschaften verbindet sich derart zwangsläufig mit der subjektivistischen Kritik an der Objektivität der sozialen Tatsachen, daß jeder Versuch, die spezifischen Probleme zu behandeln, die sich mit der Übertragung des in den Naturwissenschaften erreichten Standes der Erkenntniskritik auf die Humanwissenschaften ergeben, stets der Gefahr ausgesetzt ist, als neuerliche Bekräftigung des unveränderlichen Rechts der Subjektivität zu erscheinen. 11

Methodenlehre und Verschiebung der Wachsamkeit Zur Überwindung dieser akademischen Debatten wie der akademischen Formen ihrer Überwindung muß die wissenschaftliche Praxis einer Reflexion unterzogen werden, die allerdings — im Gegensatz zur traditionellen Erkenntnistheorie — nicht der bereits fertig vorliegenden Wissenschaft gilt, der wahren Wissenschaft, deren Bedingungen der Möglichkeit und Kohärenz oder '' F. Λ. von Hayek, The Counter-Revolution 10 11

of Science: Studies on the Abuse of Science, Glencoe

(111.): Free Press, 1952, S. 14. Ebenda, S. 28 u. 30. Und doch könnte Dürkheims Unternehmen hinreichend zeigen, daß es möglich ist, sich der Alternative von blinder Nachahmung und gleichermaßen blinder Ablehnung der Nachahmung zu entziehen: „Die Soziologie entwickelte sich im Schatten der Wissenschaften von der Natur und in engem Kontakt mit ihnen [...]. Selbstverständlich war es nicht richtig, wenn einige der frühen Soziologen diese Nähe derart übertrieben, daß sie den Ursprung der Sozialwissenschaften und die Autonomie nicht mehr erkennen konnten, die diese gegenüber den Wissenschaften, welche ihnen vorausgingen, genießen müssen. Aber diese Übertreibungen dürfen nicht das Fruchtbare in diesen hauptsächlichen Brennpunkten des wissenschaftlichen Denkens vergessen machen." (E. Dürkheim, „La Sociologie et son domaine scientifique", Rivista Italiana di Sociologia, Bd. IV (1900), S. 1 2 7 — 1 5 9 ; wieder abgedruckt in: A. Cuvillier, Oü va la sociologie fran^aise?, Paris: Riviere, 1953, S. 1 7 7 - 2 0 8 . )

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Einleitung

deren Legitimitätstitel herauszuarbeiten wären, sondern der Wissenschaft als Pro^eß. Diese genuin erkenntniskritische Aufgabe besteht darin, in der fortwährend dem Irrtum ausgesetzten wissenschaftlichen Praxis selbst die Bedingungen auszumachen, unter denen das Wahre dem Falschen entrissen werden kann, und so von einem weniger wahren zu einem wahreren Wissen zu gelangen, oder in Bachelards Worten: zu einem „angenäherten, d. h. berichtigten" Wissen. Auf die Humanwissenschaften übertragen kann diese Philosophie der wissenschaftlichen Arbeit als „unablässige polemische Aktion der Vernunft" die Prinzipien einer Reflexion bereitstellen, die dadurch die konkreten Akte einer wirklich wissenschaftlichen Praxis zu inspirieren und zu kontrollieren vermag, daß sie das Spezifische der Prinzipien eines der Soziologie eigenen „regionalen Rationalismus" definiert. Der anti-evolutionistische, starre Rationalismus, der noch die Fragen der klassischen Erkenntnistheorie leitete, kommt heute vorzugsweise in den Versuchen einiger Methodologen zum Ausdruck, die methodologische Reflexion auf eine formale Logik der Wissenschaften zu verkürzen. Und doch hat bereits P. Feyerabend darauf verwiesen, daß „jede Art von Bedeutungs-Invarianz zu Schwierigkeiten führt, sobald es darum geht, über den Zuwachs an Wissen und die dazu beitragenden Entdeckungen Aufschluß zu geben". 12 Genauer: Wenn man sich vorrangig für überzeitliche Beziehungen zwischen abstrakten Aussagen interessiert, unter Abstraktion der Prozesse, aus denen jede Aussage oder jeder Begriff hervorgegangen ist, die ihrerseits weitere Aussagen oder Begriffe hervorgebracht haben, dann läßt man jene ohne Hilfestellung, die sich in die waghalsigen Manöver der wissenschaftlichen Arbeit gestürzt haben, man läßt gewissermaßen das Drama hinter den Kulissen ablaufen, um jeweils nur die Auflösung auf offener Bühne zu zeigen. Gefangen in ihrer Suche nach einer idealen Logik der Forschung, können sich die Methodologen nur an ein Abstraktum unter den Wissenschaftlern richten, nämlich einen Wissenschaftler, der diese Perfektionsnormen tatsächlich realisieren kann, kurz, der ein über jede Kritik erhabener, d. h. entweder nicht existierender oder aber steriler Wissenschaftler ist. Denn die bedingungslose Befolgung eines Organons von logischen Regeln führt ihrer Tendenz nach zu einer „verfrühten Abschließung", da sie, wie es bei Freud sinngemäß heißt, die Elastizität in den Definitionen, oder nach Carl Hempel die „Bedeutungsoffenheit" wisssenschaftlicher Begriffe 13 verschwinden läßt, welche — zumindest in bestimmten Phasen der Geschichte einer Wissenschaft oder eines Forschungsprozesses — eine Voraussetzung schöpferischer Erkenntnis darstellen.

12

13

P. Feyerabend, „Explanation, reduction and empiricism", in: Η. Feigl und G. Maxwell (Hg.), Scientific Lixplanation, Space and Time, (Minnesota Studies in the Philosophy of Science) Vol. Ill, Minneapolis: University of Minnesota Press, 1962, S. 31. C. G. Hempel, Grund^üge der Begriffsbildung in der empirischen Wissenschaft, übers, von H.J. von Kondratowitz, Düsseldorf: Bertelsmann Universitätsverlag, 1974, S. 34.

Wissenschaftstheorie und Methodenlehre

11

Iis soll keineswegs geleugnet werden, daß die logische Formalisierung, verstanden als ein Mittel zur Überprüfung der im Forschungsprozeß verwandten Logik und der Kohärenz ihrer Resultate, eines der leistungsfähigsten erkenntniskritischen Instrumente darstellt. Nur dient dieser legitime Gebrauch logischer Instrumente allzu häufig als Vorwand für eine geradezu perverse Leidenschaft für methodologische Exerzitien, die keinen anderen Zweck erkennen lassen als den, vorzuführen, welches Arsenal an Hilfsmitteln dem Forscher zur Verfügung steht. Angesichts gewisser, bloß um der Logik oder der Methodologie wegen konzipierter Forschungen wird man unwillkürlich an das Verhalten jenes von Abraham Kaplan erwähnten Betrunkenen gemahnt, der seinen verlorenen Schlüssel hartnäckig unter der Laterne sucht, weil es dort heller ist. [Λ. Kaplan, Text Nr. 3] Der technologische Rigorismus, der auf dem Glauben an eine ein für allemal und für alle Situationen definierte Wissenschaftlichkeit basiert, d. h. auf einer unwandelbaren Vorstellung von Wahrheit und demgemäß des Irrtums als einer Übertretung bedingungslos geltender Normen, steht in diametralem Gegensatz zur Entwicklung spezifischer Formen von Wissenschaftlichkeit, die von einer Theorie der Wahrheit als Theorie des berichtigten Irrtums ausgeht. „Das Erkennen", heißt es bei Gaston Bachelard, „muß sich mit dem Erkannten entwickeln". Aus diesem Grunde ist die Suche nach einer der Geschichte der sich entwickelnden Wissenschaft vorgängigen und ihr äußerlichen Logik ein vergebliches Unterfangen. Um die Verfahrensweisen der Forschung zu erfassen, muß man untersuchen, wie Forschung faktisch verfährt, statt sie auf die sklavische Befolgung einer Gebotstafel von Prozeduren einzuschwören, die vermutlich nur deshalb der tatsächlichen Praxis voraus zu sein scheinen, weil sie im voraus definiert wurden. 1 4 „Von der Tatsache fasziniert, daß innerhalb der Mathematik einen Irrtum zu vermeiden eine Sache der Technik ist, will man Wahrheit als Ergebnis einer bestimmten Normen folgenden geistigen Tätigkeit definieren; die experimentellen Gegebenheiten möchte man analog zu Axiomen in der Geometrie begreifen; man hofft, Regeln des Denkens zu bestimmen, die dieselbe Rolle spielen wie die Logik in der Mathematik. Ausgehend von einem beschränkten Experiment will man daraus unmittelbar eine Theorie entwickeln. Die Infinitesimalrechnung hat ihre Grundlagen erst nach und nach gewonnen, der Begriff der

11

Die Autoren einer längeren Studie über die Funktionen der statistischen Methode in der Soziologie bekennen in fine·. „... unsere Andeutungen [hinsichtlich der Verwendungsmöglichkeiten der theoretischen Statistik in der empirischen Sozialforschung] kennzeichnen nur den Stand der methodologischen Diskussion; die Praxis bleibt hinter dieser Entwicklung oft zurück". (Ε. K . Scheuch und D. Rüschemeyer, „Soziologie und Statistik. Über den Einfluß der modernen Wissenschaftslehre auf ihr gegenseitiges Verhältnis", Kölner Zeitschrift für Soziologie und So^ialpsychologie, 8 (1956), S. 272 — 291; auch in: E. Topitsch (Hg.), Logik der So^ialmssenschaften, Köln und Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 2. Aufl. 1965, S. 3 4 5 - 3 6 3 . ) '

12

Einleitung

Zahl erst in zweieinhalbtausend Jahren zu seiner Klarheit gefunden. Verfahren, die Wissenschaftlichkeit begründen, entstehen wie Antworten auf Fragen, die man α priori nicht zu stellen weiß, die erst im Entwicklungsprozeß der Wissenschaft auftauchen. Nur langsam verliert sich die Naivität. Dies gilt für die Mathematik, aber mehr noch für die Erfahrungswissenschaften, in denen jede widerlegte Theorie zu neuen Anforderungen an Wissenschaftlichkeit führt. Es ist mithin nutzlos, α priori die Bedingungen eines wirklich wissenschaftlichen Denkens zu postulieren." 15 Problematischer noch, die unablässige Mahnung zu methodologischer Perfektion hat leicht eine Verschiebung der epistemologischen Wachsamkeit zur Folge: Statt etwa über den jeweiligen Gegenstand des Messens zu reflektieren und sich zu fragen, ob er denn das Messen überhaupt lohnt; statt die Meßtechniken zu hinterfragen und nach dem unter den gegebenen spezifischen Bedingungen des Messens wünschenswerten und legitimen Grad an Genauigkeit zu fragen oder auch, einfacher, zu untersuchen, ob die Instrumente überhaupt das messen, was man messen will, kann es passieren, daß man sich fortreißen läßt von dem Wunsch, die reine Idee methodologischer Stringenz in machbare Aufgaben umzumünzen, und, besessen von der Genauigkeit bis zur dritten Stelle hinter dem Komma, das widersprüchliche Ideal einer intern bestimmbaren Präzision verfolgt, dabei aber vergißt, daß — wie A. D. Ritchie in Erinnerung ruft — „ein genaueres Maß als nötig methodisch ebenso schlecht ist wie eines, das nicht genau genug ist" 16 oder auch, wie N. R. Campbell anmerkt, daß dann, wenn gesichert ist, daß alle Aussagen innerhalb bestimmter Grenzen einander äquivalent sind und die annäherungsweise definierte Aussage sich innerhalb dieser Grenzen bewegt, der Gebrauch der angenäherten Form durchaus legitim ist. 17 Verständlich, daß die Ethik der methodologischen Gebote durch die Schaffung einer Kasuistik technischer Fehler zumindest indirekt einer Verfahrensgläubigkeit Vorschub leistet, die Wissenschaftlichkeit geradezu karikiert, ganz sicher aber das genaue Gegenteil von epistemologischer Wachsamkeit ist. 18 Es ist in 15 K'

17

18

A Regnier, Les infortunes de la raison, Paris: Seuil, 1966, S. 37 f. A. D. Ritchie, Scientific Method: An Inquiry into the Character and Validity of Natural Laws, London: Kegan Paul, Trench, Trubner, 1923, S. 113. Diese Suche nach einer „der Grundlage entbehrende(n) Genauigkeit" analysierend, die in der Überzeugung besteht, „der Verdienst der Lösung bemesse sich auch nach der Anzahl der berechneten Dezimalstellen", kommt Bachelard zu der Feststellung: „[...] die Genauigkeit eines Ergebnisses, die die Genauigkeit der experimentellen Vorgaben übersteigt, [ist] geradewegs die Bestimmung des Nichts [...]. Diese Praxis erinnert an den Scherz Dulongs, der von einem Experimentator sagte: er ist sich der dritten Stelle nach dem Komma gewiß, in der ersten ist er nicht sicher." (G. Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, übers, von M. Bischoff, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978, S. 309 f.) N. R. Campbell, Art Account of the Principles of Measurement and Calculation, London und New York: Longmans Green, 1928, S. 186. Das ängstliche Interesse für die Krankheiten des wissenschaftlichen Geistes kann ähnlich depressiv wirken wie die hypochondrischen Befürchtungen der Stammleser des Pschyrembel.

Wissenschaftstheorie und Methodenlehre

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höchstem Maße bezeichnend, daß die Statistik, die Wissenschaft vom Irrtum und von der angenäherten Erkenntnis, die in so gebräuchlichen Verfahren wie der Berechnung der Irrtumswahrscheinlichkeit oder des Konfidenzintervalls mit einer Philosophie der kritischen Wachsamkeit arbeitet, landläufig als wissenschaftliches Alibi für die blinde Unterwerfung unter das Forschungsinstrumentarium mißbraucht werden kann. Umgekehrt aber auch: Wann immer Theoretiker die empirische Forschung und deren Begriffsinstrumentarium vor das Tribunal einer Theorie stellen — wobei sie sich allerdings weigern, deren Konstruktionen am Erkenntnisstand der Wissenschaft zu messen, die sie angeblich reflektieren und leiten —, dann verdanken sie den unvermeidlichen verbalen Kotau der Praktiker vor ihnen stets noch dem Prestige, das unterschiedslos jedem theoretischen Unternehmen zuerkannt wird. Und wenn die intellektuelle K o n j u n k t u r es erlaubt, dann können die reinen Theoretiker sogar die Forschung paralysieren, wenn es ihnen nämlich gelingt, den Wissenschaftlern ihr logisches und semantisches Ideal eines integralen und universellen Zusammenhangs des Begriffssystems aufzuzwingen und damit die Wahnvorstellung, alles in jeder erdenklichen Weise und unter allen Aspekten gleichzeitig zu denken — wobei allerdings vergessen wird, daß man im wirklichen Forschungsprozeß nur dann auf die Entwicklung neuer Problemstellungen und Theorien hoffen kann, wenn man dem — wenn nicht schulmäßigen oder prophetischen, so doch unmöglichen — Anspruch entsagt, alles zu allem und in der richtigen Ordnung zu sagen. 1 9

Die Hierarchie der Erkenntnisakte Derartige soziologische oder psychologische Analysen der methodologischen Verirrung und spekulativen Ablenkung können jedoch die Erkenntniskritik, auf die sie verweisen, nicht ersetzen. Vor den Zurechtweisungen der Methodologen ist deshalb mit Nachdruck zu warnen, weil sie dadurch, daß sie das Augenmerk ausschließlich auf die formale Kontrolle experimenteller Verfahren und operationeller Begriffe richten, die Wachsamkeit von noch größeren Gefahren abzulenken drohen. Die unbestritten äußerst leistungsfähigen Instrumente und Hilfsmittel, mit denen die methodologische Reflexion die epistemologische Wachsamkeit versieht, kehren sich gegen diese WachsamGewisse theoretische

Abhandlungen über alles Bekannte oder E r k e n n b a r e

erfüllen

unzweifelhaft die gleiche Funktion der v o r w e g g e n o m m e n e n Annexion wie astrologische Prophetien, denen es i m m e r gelingt, das Ereignis in der Rückschau zu verarbeiten. W i e Claude Bernard sagt: „ E s gibt Leute, die alles Mögliche zu einem P r o b l e m sagen, um sich dann später, wenn ein entsprechendes E x p e r i m e n t durchgeführt wurde, darauf zu berufen. Sie sind wie diejenigen, die den Himmel voller Planeten zeichnen, um dann einen als v o n ihnen v o r h e r g e s a g t e n zu b e a n s p r u c h e n . " (C. Bernard, Principes de medecine experimentelle,

Paris: P. U. F., 1947, S. 2 5 5 . )

14

Einleitung

keit, wenn die Voraussetzungen für den Gebrauch dieser Instrumente nicht erfüllt sind. Nach außen hin den Eindruck der „Operationalisierung" epistemologischer Wachsamkeit vermittelnd, kann die Wissenschaft von den formalen Bedingungen verfahrensmäßiger Strenge den Anschein erwecken, als sei es ihre Sache, gleichsam mechanisch die praktische Umsetzung der die epistemologische Wachsamkeit definierenden Prinzipien und Regeln zu gewährleisten. Iis bedarf daher zusätzlicher Wachsamkeit, um zu verhindern, daß sie diesen Verschiebungseffekt automatisch produziert. Man müßte, heißt es einmal bei Saussure, „dem Sprachwissenschaftler zeigen, was er tut". 20 Sich fragen, was das denn sei: Wissenschaft treiben, oder, genauer, herauszufinden versuchen, was der Wissenschaftler macht, egal, ob er weiß, was er macht, heißt nicht nur nach der Wirksamkeit und formalen Stringenz der vorhandenen Theorien und Methoden fragen, sondern bedeutet auch, die Methoden und Theorien im Akt ihrer praktischen Umsetzung danach zu befragen, was sie welchen Gegenständen antun. Nach welcher Ordnung diese Befragung zu erfolgen hat, ist sowohl durch die erkenntniskritische Analyse der Hindernisse der Wissensproduktion vorgegeben als auch durch die soziologische Analyse des erkenntnistheoretischen Gepäcks der gegenwärtigen Soziologie. Dieses bestimmt die Rangfolge der Gefahren auf erkenntnistheoretischer Ebene und damit den Dringlichkeitsgrad ihrer Analyse. Mit Bachelard zu postulieren, daß die wissenschaftliche Tatsache gegen die Illusion des unmittelbaren Wissens errungen, daß sie konstruiert und validiert werden muß, heißt gleichermaßen den Empirismus, der den wissenschaftlichen Akt auf die Validierung reduziert, wie den Konventialismus verwerfen, der dem Empirismus lediglich die Konstruktion als das unmittelbar Vorausgehende entgegenhält. Da sie gegen die ganze spekulative Tradition der Sozialphilosophie, von der sie sich lösen muß, an den Imperativ der Validierung erinnert, gerät in der soziologischen Community leicht die wissenschaftstheoretische Hierarchie der wissenschaftlichen Akte in Vergessenheit, die die Validierung des empirisch Gegebenen der Konstruktion und diese dem Bruch unterordnet: In einer Erfahrungswissenschaft bleibt die bloße Aufforderung zur empirischen Überprüfung so lange eine Tautologie, wie sie nicht einhergeht mit einer Darlegung der theoretischen Vorannahmen, auf denen die Prüfung an der Erfahrung basiert, wie auch diese Darlegung so lange heuristisch wertlos bleibt, wie sie nicht einhergeht mit einer Darlegung der Erkenntnishindernisse, die sich in jeder wissenschaftlichen Praxis in je eigener Form zeigen.

211

E. Benveniste, „Lettres de Ferdinand de Saussure a Antoine Meillet", Cahiers de Saussure, 21 (1964), S. 9 2 - 1 3 5 .

Ferdinand

Teil I: Der Bruch

1. Der wissenschaftliche Tatbestand wird gegen die Illusion unmittelbaren Wissens errungen Epistemologische Wachsamkeit erweist sich bei den Humanwissenschaften als besonders notwendig, da hier die Trennung zwischen Alltagsmeinung und wissenschaftlichem Diskurs unklarer ist als in anderen Wissenschaften. Mit dem rasch und leichthin gemachten Zugeständnis, daß die Soziologen des 19. Jahrhunderts in ihrem vorrangigen Interesse an einer moralischen und politischen Reform der Gesellschaft es häufig an wissenschaftlicher Neutralität haben fehlen lassen und daß selbst die Soziologie unseres Jahrhunderts auf die Ansprüche der Sozialphilosophie hat verzichten können, ohne deshalb vor ideologischen Ansteckungen einer ganz anderen Ordnung geschützt zu sein, drückt man sich häufig vor der Erkenntnis — und den damit sich ergebenden Konsequenzen —, daß für den Soziologen die Vertrautheit mit der sozialen Welt das Erkenntnishindernis schlechthin darstellt, da diese Vertrautheit unablässig nicht nur fiktive Konzeptionen oder Systematisierungen hervorbringt, sondern auch die Bedingungen ihrer Glaubwürdigkeit. Der Soziologe ist nie definitiv vor der Spontansoziologie gefeit; er muß sich zu einer fortwährenden Polemik gegen die blindmachenden Evidenzen zwingen, die allzu billig die Illusion unmittelbaren Wissens und seines unüberschreitbaren Reichtums vermitteln. Die Trennung zwischen alltäglicher Wahrnehmung und Wissenschaft, die sich etwa für den Physiker im entschiedenen Gegensatz von Alltagsleben und Laboratorium niederschlägt, fällt ihm um so schwerer, als er im theoretischen Erbe, auf das er zurückgreifen kann, Hilfsmittel zur radikalen Zurückweisung der Alltagssprache und ihrer Begriffe nicht findet.

1.1 Vorbegriffe und die Techniken des Bruchs Dazu bestimmt, das Alltagsbewußtsein um jeden Preis mit sich selbst zu versöhnen, indem sie — und seien es widersprüchliche — Erklärungen eines Tatbestandes vorgeben, präsentieren sich die Primärmeinungen über soziologische Tatbestände als eine nur zum Schein systematische Sammlung von Urteilen zu wechselndem Gebrauch. Wie E. Dürkheim feststellt, leiten sich die Evidenz und „Autorität" dieser Vorbegriffe, dieser „schematischen und summarischen Vorstellungen", die „von der Praxis und für die Praxis geschaffen" sind, von den sozialen Funktionen her, die sie erfüllen. [.Ε. Dürkheim, Text Nr. 4]

16

1. D e r B r u c h

Der Einfluß dieser Alltagsbegriffe ist derart stark, daß alle Objektivierungstechniken eingesetzt werden müssen, um einen wirklichen Bruch mit ihnen zu vollziehen; häufig genug bleibt er noch bloßes Lippenbekenntnis. So haben die Ergebnisse statistischer Messung zumindest die negative Qualität, die Primäreindrücke durcheinander zu bringen. Bislang wurde auch nur unzulänglich die Funktion erkannt, die Dürkheim der vorläufigen Definition des Gegenstandes als einer „provisorischen" theoretischen Konstruktion im Rahmen des Bruchs zuerkannte, die vorrangig dazu bestimmt ist, „die Begriffe des Alltagsverstandes durch einen ersten wissenschaftlichen Begriff zu ersetzen". 21 [M. Mauss, Text Nr. 5\ Tatsächlich erscheint die logische und lexikologische Kritik der Alltagssprache insofern als unabdingbare Voraussetzung für die kontrollierte Erarbeitung wissenschaftlicher Begriffe, als die Alltagssprache und bestimmte wissenschaftliche Verwendungsweisen von Alltagsbegriffen das hauptsächliche Transportmittel von allgemein herrschenden Vorstellungen über die Gesellschaft bilden. [/. H. Goldthorpe und D. Lockwood, Text Nr. 6\ Da der Soziologe im Rahmen der Beobachtung oder des Experiments zu seinem Objekt in eine Beziehung tritt, die als soziale immer mehr als nur reine Erkenntnis ist, präsentieren sich ihm die Gegebenheiten wie lebende, individuelle, ja allzumenschliche Konfigurationen, die sich leicht als Objektstrukturen aufdrängen. Indem die statistische Analyse die der unmittelbaren Anschauung vorgegebenen konkreten und offenbaren Kriterien ersetzt, die sie soziologisch definieren — Beruf, Einkommen, Bildungsniveau usw. —, indem sie die spontanen Induktionen unterbindet, die kraft einer Art AuraEffekt dazu führen, daß einer ganzen Klasse oder Gruppe die markanten Züge der scheinbar „typischsten" Individuen zugesprochen werden, kurzum: indem die statistische Analyse das in der Erfahrung unablässig gestrickte Netz von Zusammenhängen zerreißt, trägt sie dazu bei, daß die Konstruktion neuer Zusammenhänge möglich wird, die durch ihren ungewohnten Charakter in der Lage sind, der Erforschung von Zusammenhängen einer höheren Ordnung, die jene erklären würden, zum Durchbruch zu verhelfen. Kurz gesagt, die Arbeit des Erfindens erschöpft sich nicht in einer bloßen Auslegung des — und sei es verworrenen — Wirklichen, denn sie setzt immer

21

P. F a u c o n n e t und M. Mauss, Artikel „ S o c i o l o g i e " in der Grande Hncyclopedie

J'ranfaise,

Bd. 30, Paris: 1901, S. 173. Rs ist kein Zufall, daß diejenigen, die bei D ü r k h e i m , und speziell in seiner T h e o r i e der Definition und des Indikators (siehe z. B. R. K . M e r t o n , „The Bearing o f Empirical Research on Sociological T h e o r y " , in: ders., On

Theoretical

Sociology, T o r o n t o (Ontario): 1 9 6 7 , S. 169), U r s p r u n g und Bürgschaft des „Operationalismus" finden wollen, die Funktion ignorieren, die D ü r k h e i m der Definition im Z u s a m m e n h a n g mit dem erkenntnislogischen Bruch beimaß. Tatsächlich sind zahlreiche sogenannte „operationale" Definitionen nichts anderes als eine logisch oder formalisierte Gestaltung v o n Vorstellungen des common sense.

kontrollierte

Wissenschaftlicher Tatbestand gegen die Illusion unmittelbaren Wissens

17

den Bruch mit dem Wirklichen und den Konfigurationen voraus, die es der Wahrnehmung anbietet. Wer wie Robert K. Merton mit seiner Analyse der serendipity allzu stark auf die Rolle des Zufalls bei der wissenschaftlichen Entdeckung abhebt, setzt sich der Gefahr aus, damit die naivsten Vorstellungen über das Erfinden wieder zu neuem Leben zu erwecken; Vorstellungen, wie sie etwa in Newtons Apfel paradigmatisch verdichtet sind: Einen unerwarteten Sachverhalt zu erfassen setzt zumindest die Entscheidung voraus, auf das Unerwartete methodisch zu achten, und sein heuristischer Wert hängt von der Relevanz und Kohärenz des Systems von Fragen ab, das es erschüttert. 22 Der Akt des Erfindens, der zur Lösung eines sensomotorischen oder abstrakten Problems führt, muß die offenkundigsten, weil vertrautesten Beziehungen aufbrechen, um das neue System von Beziehungen zwischen den Füementen sichtbar zu machen. In der Soziologie wie anderswo „führt eine ernsthafte Forschung zur Vereinigung dessen, was die Volksmeinung trennt, oder zur Trennung dessen, was die Volksmeinung vermischt." 23

1.2 Die Illusion der Transparenz und das Prinzip der Nicht-Bewußtheit Alle Techniken des Bruchs — logische Kritik der Begriffe, statistische Überprüfung der falschen Gewißheiten, entschiedene und methodische Infragestellung des äußeren Scheins — bleiben allerdings so lange wirkungslos, wie die Spontansoziologie nicht in ihrem eigentlichen Kern getroffen wird, d. h. in der sie tragenden Philosophie der Erkenntnis des Sozialen und des menschlichen Handelns. Als vom common sense klar geschiedene Wissenschaft kann sich die Soziologie nur konstituieren, wenn sie den systematischen Ansprüchen der Spontansoziologie den organisierten Widerstand einer Theorie der Erkenntnis des Sozialen entgegenstellt, deren Prinzipien Punkt für Punkt den Vorannahmen der Primärphilosophie des Sozialen widersprechen. Fehlt eine solche Theorie, kann der Soziologe noch so demonstrativ die Vorbegriffe zurückweisen — er wird seinen scheinbar wissenschaftlichen Diskurs unbewußt auf jenen Vorannahmen aufbauen, die den Vorbegriffen der Spontansoziologie zugrunde liegen. Der Artifizialismus, jene illusionäre Vorstellung von der Entstehung der sozialen Tatbestände, derzufolge der Wissenschaftler diese Tatbestände „allein aufgrund seiner privaten Reflexion" verstehen und erklären kann, besteht in letzter Instanz auf der Annahme, er wisse schon immer alles, eine Annahme, die sich aus dem Gefühl der Vertrautheit ergibt 22 23

R. K . M e r t o n , a. a. O . , S. 1 5 7 ff. „ Z u m Beispiel hat die Religionswissenschaft die Tabus der Unreinheit und der Reinheit in derselben G a t t u n g zusammengefaßt, weil sie alle Tabus sind; dagegen hat sie die Beerdigungsriten und den A h n e n k u l t säuberlich v o n e i n a n d e r geschieden". (P. Fauconnet und M. iMauss, „Sociologie", a. a. ()., S. 173.)

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1. Der Bruch

und auch die Spontanphilosophie der Erkenntnis der sozialen Welt begründet: Dürkheims Polemik gegen Artifizialismus, Psychologismus und Moralismus ist lediglich die Kehrseite des Postulats, demzufolge die sozialen Tatsachen „eine konstante Art des Seins, eine Natur haben, die nicht von der individuellen Willkür abhängt und von der sich notwendige Beziehungen ableiten". 24 [Ε. Dürkheim, Text Nr. 7] Nichts anderes meinte Marx mit seiner berühmten Formulierung: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein", oder auch Max Weber, wenn er davor warnt, den Sinn sozialen Handelns auf die subjektiven Absichten der Handelnden zu reduzieren. Dürkheim, der vom Soziologen fordert, in die soziale Welt wie in eine fremde Welt einzudringen, gesteht denn auch Marx das Verdienst zu, die Illusion der Transparenz überwunden zu haben: „Wir halten den Gedanken für fruchtbar, daß das gesellschaftliche Leben nicht durch die entsprechende Vorstellung der an ihm Beteiligten erklärt werden soll, sondern durch tieferliegende Ursachen, die sich dem einzelnen Bewußtsein entziehen". 25 \E. Dürkheim, Text Nr. 8) Eine derartige Konvergenz ist leicht zu erklären 26 : Was als Prinzip der Nicht-Bewußtheit bezeichnet werden kann und hier begriffen wird als Bedingung sine qua non der Konstitution der Soziologie als Wissenschaft, ist nichts weiter als die in der Logik dieser Wissenschaft vorgenommene Reformulierung des Grundsatzes des methodologischen Determinismus, den keine Wissenschaft negieren kann, ohne sich selbst zu negieren. 27 Das wird allerdings kaschiert, wenn man das Prinzip der Nicht-Bewußtheit im Voka24

25

26

27

E. Dürkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, hg. und eingeleitet von R. König, Neuwied: Luchterhand, 1961, und Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984, S. 101. fi. Dürkheim, Rezension von A. Labriola, „Essais sur la conception materialiste de l'histoire", Revue Philosophique, 22 (1897) XLIV, S. 648. Der Vorwurf des Synkretismus, den das Nebeneinanderstellen der Texte von Marx, Weber und Dürkheim hervorrufen könnte, beruht auf der Vermischung der Theorie des Wissens vom Sozialen als Bedingung der Möglichkeit wirklicher Soziologie mit der Theorie des sozialen Systems (vgl. zu diesem Punkt die Seiten 5 f., 35 f. und weiter unten, G. Bachelard, Text Nr. 2, S. 100—103). Sollte man uns diese Trennung nicht konzedieren, wäre zu prüfen, ob der Anschein der Disparatheit nicht daher rührt, daß man weiterhin der traditionellen Vorstellung einer Pluralität von theoretischen Traditionen anhängt, einer Vorstellung, die der „friedliche Eklektizismus" der Theorie soziologischen Wissens gerade in Frage stellt, indem er ausgehend von der Erfahrung der soziologischen Praxis bestimmte, in einer anderen Praxis, nämlich der des Philosophie-Unterrichts, rituell gewordene Grundsätze zurückweist. „Wenn ein Phänomen", schreibt Claude Bernard, „sich bei einem Experiment so widersprüchlich zeigt, daß es sich nicht auf eine notwendige Weise mit bestimmten Existenzvoraussetzungen verbunden erweist, müßte die Vernunft das Faktum als nichtwissenschaftliches Faktum zurückweisen [...], denn ein ursacheloses, d. h. ein in seinen Existenzvoraussetzungen unbestimmtes Faktum gelten zu lassen bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als die Wissenschaft zu negieren." (C. Bernard, Introduction ä ΐetude de la medecine experimentale, Paris: Baillere, 1865, Kap. II, Abschnitt 7.)

Wissenschaftlicher Tatbestand gegen die Illusion unmittelbaren Wissens

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bular des U n b e w u ß t e n formuliert und damit ein methodologisches Postulat in eine anthropologische These umwandelt, sei es, daß man v o m Substantiv auf die Substanz schließt, sei es, daß man sich auf die Vieldeutigkeit dieses Begriffs beruft, um die Bindung an die Mysterien der Innerlichkeit mit den Imperativen der Distanzierung zu v e r s ö h n e n . 2 8 Tatsächlich soll das Prinzip der Nicht-Bewußtheit lediglich v o r der Illusion schützen, die A n t h r o p o l o g i e könne sich als reflexive Wissenschaft konstituieren und zugleich die methodologischen Voraussetzungen bestimmen, unter denen sie zu einer Erfahrungswissenschaft werden kann. 2 9 [E. Dürkheim, Text Nr. 9; F. Simiand, Text Nr. 10] 28

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Obwohl er aufgrund des für die Humanwissenschaften seiner Epoche spezifischen begrifflichen Instrumentariums in der Problematik des Kollektivbewußtseins befangen blieb, hat Dürkheim doch sorgsam unterschieden zwischen dem Prinzip, mittels dessen der Soziologe sich die Existenz nicht-bewußter Regelmäßigkeiten erschließt, und dem Postulat eines mit spezifischen Merkmalen versehenem „Unbewußten". Das Verhältnis von individuellen und kollektiven Vorstellungen diskutierend, schreibt er: „Wir wollen weiter nichts behaupten, als daß in uns Phänomene auftauchen, die psychischer Art sind und doch von unserem Ich nicht erkannt werden. Um die Frage, ob sie von unbekannten Ichs wahrgenommen werden oder was sie außerhalb jeglicher Wahrnehmung noch sein können, ist es uns hier nicht zu tun. Man konzediere uns lediglich, daß die Vorstellungswelt über unser aktuelles Bewußtsein hinausreicht." Schon Dürkheim hat jedoch darauf hingewiesen, daß zwischen der methodologischen Annahme der Existenz nicht-bewußter Regelmäßigkeiten im Verhalten und der Annahme eines „Unbewußten" als besonderer psyschischer Instanz ein Unterschied besteht. Er deutet auch die Rolle der Sprache für die Neigung an, Bewußtseinsebenen, die in der Analyse unterschieden werden, zu „realisieren". Es gibt Ausdrücke, die ein Attribut erfordern, Verben, die ein Subjekt verlangen, also eine Substanz, Etymologien, die Nebenbedeutungen suggerieren. „Im Grunde deckt sich der Begriff einer unbewußten Vorstellung mit dem eines Bewußtseins ohne erfassendes Ich. Denn wenn wir sagen, eine psychische Tatsache sei unbewußt, meinen wir nur, daß sie nicht erfaßt wird. Die Frage ist lediglich, welchen Ausdruck man am besten verwenden sollte. Vom Standpunkt des Vorstellungsvermögens aus haben beide dieselben Nachteile. Es fallt uns ebenso schwer, eine Vorstellung ohne ein vorstellendes Subjekt wie eine Vorstellung ohne Bewußtsein zu begreifen." (E. Dürkheim, „Individuelle und kollektive Vorstellungen", in: ders., Soziologie und Philosophie, übers, von E. Moldenhauer, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1970, S. 69 f.) Das legt Levi-Strauss mit seiner Unterscheidung der Verwendung des Begriffs des Unbewußten bei Mauss und Jungs Begriff des kollektiven Unbewußten nahe, das „erfüllt [ist] von Symbolen und sogar von symbolisierten Dingen, die eine Art Substrat des Unbewußten bilden". Mauss wird das Verdienst zugestanden, daß er „ständig an das Unbewußte als Quelle des gemeinsamen und spezifischen Charakters der sozialen Tatsachen f...] appelliert hat". (C. Levi-Strauss, „Einleitung in das Werk von Marcel Mauss", in: M. Mauss, Soziologie und Anthropologie, übers, von H. Ritter, Bd. 1, München: Hanser, 1974, S. 25 und 24.) Ähnlich erkennt Levi-Strauss bereits bei Taylor die sicher noch konfuse und mehrdeutige Formulierung dessen, was die Originalität der Ethnologie ausmacht, nämlich die „unbewußte Natur der kollektiven Phänomene [...]. Selbst wenn man auf Interpretationen stößt, haben diese immer den Charakter sekundärer Rationalisierungen oder Erklärungen: ohne Zweifel sind die unbewußten Gründe, aus denen man einen Brauch praktiziert oder an einem Glauben teilhat, weit von denen entfernt, die man anführt, um jene zu rechtfertigen." (C. Levi-Strauss, Strukturale Anthropologie, übers, von H. Naumann, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1967, S. 32 f.)

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1. Der Bruch

Taucht die Spontansoziologie derart beharrlich und in so vielfacher Verkleidung innerhalb der wissenschaftlichen Soziologie auf, dann sicher deshalb, weil jene Soziologen, die das wissenschaftliche Projekt mit der Affirmation der Rechte des Individuums — Recht auf freies Handeln und Recht auf klares Bewußtsein beim Handeln — versöhnen wollen oder die es schlicht unterlassen, ihre Praxis an den Grundsätzen der Theorie des soziologischen Erkennens auszurichten, unvermeidlich auf jene naive Philosophie des Handelns und des Verhältnisses von Subjekt und Handeln zurückfallen, die in die Spontansoziologie derjenigen eingeht, denen die Verteidigung der gelebten Wahrheit ihrer eigenen Erfahrung am Herzen liegt. Der Widerstand, auf den die Soziologie bei ihrem Versuch stößt, die unmittelbare Erfahrung ihres erkenntnistheoretischen Primats zu entkleiden, nährt sich aus derselben humanistischen Philosophie des menschlichen Handelns wie jene Soziologie, die dadurch, daß sie mit Begriffen wie dem der „Motivation" hantiert oder sich mit Vorliebe Fragen des decision making widmet, immer noch, wenn auch auf ihre Weise, den alten naiven Wunsch eines jeden sozialen Subjekts verwirklicht: Gewillt, Herr und Meister seiner selbst und seiner Wahrheit zu bleiben, keinen anderen Determinismus als den seiner eigenen Entschlüsse anzuerkennen (auch wenn er diesen den Charakter der Unbewußtheit zugesteht), muß für den in jedem Menschen steckenden naiven Humanisten jeder Versuch zur „soziologischen" oder „materialistischen" Reduktion werden, der nachweisen will, daß der Sinn noch der persönlichsten und „transparentesten" Handlungen nicht dem Subjekt zuschreibbar ist, das sie ausführt, sondern sich aus dem umfassenden System der Beziehungen ergibt, in dem und durch das diese Handlungen geschehen. Die Tiefe, die der Sprachgebrauch der „Motivationen" (von den simplen „Motiven" ostentativ abgehoben) falschlich verheißt, soll möglicherweise die Philosophie der Entscheidung dadurch schützen, daß sie sie mit den Federn des wissenschaftlichen Prestiges schmückt, das mit der Erforschung unbewußter Wahlentscheidungen verknüpft ist. Häufig genug hintertreibt die oberflächliche Erkundung psychologischer Funktionen, so wie sie erlebt werden — „Gründe" oder „Befriedigungen" —, die Erforschung der sozialen Funktionen, welche die „Gründe" gerade verschleiern und deren Vollzug darüber hinaus die unmittelbar empfundenen Befriedigungen verschaffen. 30

30

In diesem Sinne lautete auch Dürkheims Kritik an Spencer: „Die sozialen Tatsachen sind nicht die einfache Fortführung psychischer Tatsachen, vielmehr sind diese zum größten Teil nur die Verlängerung der sozialen Tatsachen innerhalb des Bewußtseins der einzelnen Individuen. Dieser Satz ist sehr wichtig, denn der entgegengesetzte Gesichtspunkt verleitet den Soziologen jeden Augenblick dazu, die Ursache für die Wirkung zu nehmen und umgekehrt." (E. Dürkheim, Uber sociale Arbeitsteilung, Der deutsche Text von Ludwig Schmidts, durchgesehen von Michael Schmid, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988, S. 415.)

Wissenschaftlicher Tatbestand gegen die Illusion unmittelbaren Wissens

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Gegen diese ambivalente Methode, die zum ständigen unkontrollierten Hin- und Hergehen zwischen common sense und wissenschaftlichem common sense ermächtigt, ist ein zweites Prinzip der Theorie der Erkenntnis des Sozialen zu postulieren, das nichts anderes ist als die positive Ausprägung des Prinzips der Nicht-Bewußtheit: Die sozialen Beziehungen sind auf Verhältnisse zwischen Subjekten mit Absichten oder „Motivationen" deshalb nicht zu reduzieren, weil sie sich zwischen sozialen Lagen und sozialen Positionen herstellen und weil sie zugleich mehr Realität haben als die Subjekte, die sie verbinden. Marx' Kritik an Stirner läßt sich auf jene Sozialpsychologen und Soziologen erweitern, die die sozialen Beziehungen auf die Vorstellung zurückführen, welche die Subjekte von ihnen haben, und die unter Berufung auf einen praktischen Artifizialismus glauben, objektive Beziehungen durch Veränderung der subjektiven Vorstellung von ihnen verändern zu können: „Sancho will ζ. B. nicht, daß zwei Individuen als Bourgeois und Proletarier zueinander im ,Gegensatz' stehen [...]; er möchte sie in ein rein persönliches Verhältnis treten, als bloße Individuen miteinander verkehren lassen. Er bedenkt nicht, daß innerhalb der Teilung der Arbeit die persönlichen Verhältnisse notwendig und unvermeidlich sich zu Klassenverhältnissen fortbilden und fixieren und daß darum sein ganzes Gerede auf einen bloßen frommen Wunsch herausläuft, den er zu realisieren denkt, indem er die Individuen dieser Klassen vermahnt, sich die Vorstellung ihres ,Gegensatzes' und ihres ,besondern' .Vorrechts' aus dem Kopf zu schlagen. [...] Durch ein verändertes ,Dafürhalten'' und ,Wollen' wird der ,Gegensatz' und das ,Besondre' aufgehoben." 31 Unabhängig von den Ideologien der „Partizipation" und der „Kommunikation", denen sie häufig dienen, legen die klassischen Techniken der Sozialpsychologie aufgrund ihrer impliziten Wissenschaftstheorie eine Privilegierung der Vorstellungen der Individuen nahe, unter Vernachlässigung der objektiven Beziehungen, in denen diese verstrickt sind und von denen ebenso die „Befriedigung" oder „Nicht-Befriedigung", die sie empfinden, wie die Konflikte, die sie spüren, und die Erwartungen und Ambitionen, die sie äußern, bestimmt werden. Das Prinzip der Nicht-Bewußtheit fordert dagegen die Konstruktion des Systems der objektiven Beziehungen, innerhalb deren sich die Individuen vorfinden und die in der Struktur oder Morphologie der Gruppen adäquater zum Ausdruck kommen als in den Meinungen und offen erklärten Absichten der Subjekte. Wie eine Organisation funktioniert, ergibt sich nicht aus der Beschreibung der Einstellungen, Meinungen und Bestrebungen der Individuen; vielmehr muß die objektive Logik der Organisation erfaßt werden, um zu jenem Prinzip vorzudringen, das überdies noch die Einstellungen, Meinungen und Bestrebungen zu erklären vermag. 32 Dieser provisorische Ob-

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K. Marx, Die deutsche Ideologie, MliW, Bd. 3, Berlin: Dietz, 1962, S. 422. Eines ihrer auserwählten Modelle findet diese Reduktion auf Psychologie in der Kleingruppenforschung, in jenen abstrakten Handlungs- und Interaktionsinseln der

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jektivismus ist Voraussetzung nicht nur dafür, daß die objektivierte Wahrheit der Subjekte begriffen werden kann, sondern auch dafür, daß die gelebte Beziehung der Subjekte zu ihrer objektivierten Wahrheit im Kontext eines Systems von objektiven Beziehungen erklärt werden kann. 3 3

1.3 Natur und Kultur: Substanz und System von Beziehungen Zwar ist das Prinzip der Nicht-Bewußtheit lediglich die Kehrseite des Prinzips des Primats der Relationen, doch sollte letzteres von sich aus schon zur Ablehnung aller Versuche führen, die Wahrheit eines kulturellen Phänomens unabhängig v o m System der historischen und sozialen Beziehungen zu definieren, in das es eingefügt ist. Vielfach kritisiert, überlebt der Begriff der menschlichen Natur, dieser einfachsten und natürlichsten aller Naturen, doch immer wieder in Gestalt von Konzepten, die sie gewissermaßen in Münze schlagen, wie die „Tendenzen" oder „Neigungen" bestimmter Wirtschaftswissenschaftler, die „Motivationen" der Sozialpsychologie oder die „Bedürfnisse" und „Erfordernisse" der funktionalistischen Analyse. Die mit dem Naturbegriff einhergehende Wesensphilosophie bleibt auch noch beim naiven Gebrauch analytischer Kategorien wie Geschlecht, Alter, Rasse oder intellektuelle Fähigkeiten virulent, das heißt dann, wenn diese Merkmale als glei-

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Gesamtgesellschaft. Die Erhebungen sind Legion, in denen die in «Vre-Untersuchung psychologischer Konflikte zwischen Cliquen die Analyse der objektiven Verhältnisse zwischen sozialen Kräften ersetzt. War es aus pädagogischen Gründen notwendig, den vorgängigen Charakter der Objektivierung hervorzuheben, weil jedes soziologische Vorgehen nur auf diese Weise mit der Spontansoziologie brechen kann, so steht doch vollkommen außer Diskussion, die soziologische Erklärung auf die Dimension eines Objektivismus zu verkürzen: „Die Soziologie hat die Überwindung der fiktiven Opposition, wie Subjektivisten und Objektivisten sie willkürlich entstehen lassen, zu ihrer Voraussetzung. Soziologie als objektive Wissenschaft ist deshalb möglich, weil es äußere, notwendige und vom individuellen Willen unabhängige Beziehungen gibt, die, wenn man so will, unbewußt sind (in dem Sinne, daß sie sich nicht der einfachen Reflexion erschließen) und sich nur über objektive Beobachtung und Experiment dingfest machen lassen [...]. Doch im Unterschied zur Naturwissenschaft kann sich eine allgemeine Anthropologie nicht mit der Rekonstruktion objektiver Beziehungen zufriedengeben, da die Erfahrung der Bedeutung dieser Beziehungen zum vollständigen Sinn dieser Erfahrungen dazugehört: Selbst eine Soziologie, auf die nicht der geringste Verdacht des Subjektivismus fällt, bedient sich vermittelnder Begriffe zwischen Subjektivem und Objektivem wie Entfremdung, Einstellung oder Ethos. So ist es ihre Aufgabe, jenes System von Beziehungen zu konstruieren, das sowohl den objektiven Sinn der nach feststellbaren Regelmäßigkeiten organisierten Verhaltensformen als auch die einzelnen Beziehungen umschließt, welche die Subjekte zu ihren objektiven Existenzbedingungen und dem objektiven Sinn ihres Handels unterhalten, einem Sinn, dessen Objekt sie sind, nachdem man sie seiner beraubt hat. Anders gesagt, die Deskription der objektivierten Subjektivität verweist auf die Deskription der Verinnerlichung der Objektivität." (P. Bourdieu, „Einleitung", in: Bourdieu et alii, Eine illegitime Kunst. Die socialen Gebrauchsweisen der Photographie, übers, von U. Rennert, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981, S. 12 ff.)

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chermaßen notwendige und ewige natürliche Gegebenheiten begriffen werden, deren Wirken sich angeblich unter Abstraktion von den historischen und sozialen Bedingungen, die sie für eine gegebene Gesellschaft zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt in ihrer Besonderheit konstituieren, erfassen läßt. Tatsächlich wird das Konzept der menschlichen Natur immer dann verwandt, wenn entweder gegen Marxens Verbot, historisch Geschaffenes durch die Rückführung auf Natur festzuschreiben, oder aber gegen Dürkheims Forderung verstoßen wird, Soziales durch Soziales allein zu erklären. [ A T . Marx, Text Nr. 11; E. Dürkheim, Text Nr. 12] Dürkheims Formel behält ihren Wert, vorausgesetzt, sie wird weder als Einklagen eines „Realobjektes" — real unterschieden von dem der anderen Humanwissenschaften — noch als die soziologische Anmaßung verstanden, mit den Mitteln der Soziologie über alle Aspekte der menschlichen Wirklichkeit Aufschluß geben zu können, sondern lediglich als nachdrückliche Erinnerung an die methodologische Entscheidung, nicht vorschnell den Anspruch auf soziologische Erklärung fallenzulassen oder, in anderen Worten, so lange nicht auf ein von einer anderen Wissenschaft — etwa der Biologie oder der Psychologie — entlehntes Erklärungsprinzip zurückzugreifen, als die genuin soziologischen Methoden des Erklärens nicht vollkommen ausgeschöpft wurden. Ansonsten setzt man sich durch den Rekurs auf Faktoren, die ihrer Bestimmung nach geschichtlich und kulturell übergreifend sind, nicht nur der Gefahr aus, das als Erklärung auszugeben, was allererst der Erklärung bedarf, sondern kann im besten Fall auch nur verständlich machen, worin die Institutionen sich ähnlich sind — womit gerade unter den Tisch fallt, was nach Levi-Strauss deren historische Besonderheit und kulturelle Eigenheit ausmacht: „Wir haben hier eine Disziplin, deren erstes, wenn nicht einziges Ziel es sein sollte, Verschiedenheiten zu analysieren und zu interpretieren, die sich aber alle Probleme spart und nur noch von Ähnlichkeiten berichtet. Im selben Augenblick verliert sie jede Möglichkeit, das Allgemeine, zu dem sie hinstrebt, von dem Banalen, mit dem sie sich begnügt, zu unterscheiden."34 [M. Weber, Text Nr. 13] Um dezidiert gegen jene Wesensphilosophie anzugehen, deren Verführungskraft weitgehend auf der Denkschablone beruht, die da lautet: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne", reicht es allerdings nicht hin, die dem sozialen Menschen in seiner Universalität zugesprochenen Merkmale als „Residuen" oder als durch die Analyse konkreter Gesellschaften freigelegte Invarianten darzustellen: Von Pareto bis Ludwig von Mises fehlt es nicht an — scheinbar historischen — Analysen, die sich darauf beschränken, soziologisch derart unzulänglich fundierte Erklärungsprinzipien wie die „Neigung zur Gründung von Vereinigungen", „das Bedürfnis, Gefühle durch äußere Handlungen zu manifestieren", wie Ressentiment, Streben nach Prestige, Unstillbarkeit von 34

C. Levi-Strauss, Strukturale Anthropologie, a. a. O., S. 27.

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Bedürfnissen oder die libido dominandi als soziologische Erklärungen zu apostrophieren. 35 Es bliebe unverständlich, daß Soziologen derart häufig ohne weitere Erläuterung Erklärungen anbieten, zu denen sie wirklich nur aus schierer Verzweiflung greifen dürften, und sich damit selbst verleugnen käme nicht zu der Versuchung, welche die Erklärung durch öffentlich deklarierte Meinungen ausübt, noch die Verführung einer Erklärung durch das Einfache hinzu, deren „wissenschaftstheoretische Ineffizienz" bereits Bachelard anprangerte.

1.4 Spontansoziologie und die Macht der Sprache Ist die Soziologie eine Wissenschaft wie alle anderen, die nur besondere Schwierigkeiten hat, eine Wissenschaft wie alle anderen zu sein, so liegt dies wesentlich an dem spezifischen Verhältnis, das zwischen wissenschaftlicher und naiver Erfahrung der sozialen Welt besteht und zwischen den naiven und wissenschaftlichen Außerungsformen dieser unterschiedlichen Erfahrungen. Um mit den von der Spontansoziologie vorgegebenen trügerischen Konstruktionen Schluß zu machen, ist es in der Tat nicht schon damit getan, daß man die Illusion der Transparenz entlarvt und sich auf die Prinzipien beruft, die die Vorannahmen der Spontansoziologie überwinden helfen. Die Alltagssprache, diese „Hinterlassenschaft von Wörtern, Hinterlassenschaft von Ideen", wie Brunschvigs Titel lautet, die, weil alltäglich, nicht mehr wahrgenommen wird, birgt in ihrem Wortschatz wie ihrer Syntax eine gleichsam versteinerte Philosophie des Sozialen, die aus den umgangssprachlichen Wörtern oder den damit gebildeten komplexen Ausdrücken, die der Soziologe zwangsläufig benutzt, immer wieder zum Leben erweckt werden kann. Den Eindruck wissenschaftlicher Ausarbeitung vermittelnd, können sich die Vorbegriffe im soziologischen Diskurs ausbreiten, ohne die Glaubwürdigkeit zu verlieren, die ihnen ihre Herkunft verleiht: Vor der Ansteckungsgefahr der Soziologie durch die Spontansoziologie zu warnen bliebe verbale BeschwöAls Beleg für die These, daß die kritische Einstellung oder Stimmung gegenüber dem Kapitalismus ausschließlich durch das Ressentiment von in ihrem sozialen Ehrgeiz frustrierten Menschen motiviert werden kann, muß von Mises unabhängig von jedweder soziologischen Spezifizierung eine Neigung zur Selbstrechtfertigung verstärkt durch Aufstiegsstreben unterstellen. Weil viele Menschen aufgrund natürlicher Unzulänglichkeiten („die biologischen Eigenschaften, mit denen ein Mensch ausgestattet ist, begrenzen sehr stark das Feld, innerhalb dessen er anderen Dienste erweisen kann") angeblich ihre Aufstiegschancen verfehlt haben, kehren sie nun gegen den Kapitalismus das aus ihrem frustrierten Ehrgeiz geborene Ressentiment. Kurzum, wie es laut Leibniz auf ewig zum Wesen Casars gehört, den Rubikon zu überschreiten, so soll das Schicksal jedes sozialen Subjekts in seiner (nach ihren psychologischen und manchmal biologischen Merkmalen definierten) Natur eingeschlossen sein. Der Essentialismus mündet folgerichtig in eine „Soziodizee" (L. von Mises, The Anti-capitalistic Mentality, Princeton (Ν. J.), Toronto, London, New York: Van Nostrand, 1956, S. 143.)

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rung, ginge damit nicht der Versuch einher, die epistemologische Wachsamkeit angemessen auszurüsten, um auf diese Weise die Kontamination der Begriffe durch die Vorbegriffe zu vermeiden. Der Ehrgeiz, die Alltagssprache durch eine von Grund auf konstruierte und formalisierte, und deshalb perfekte, Sprache zu ersetzen, birgt, weil häufig verfrüht, die Gefahr in sich, daß von der dringenderen Analyse der Logik der Alltagssprache abgelenkt wird. Doch erst durch diese Analyse wird der Soziologe befähigt, die alltagssprachlichen Wörter innerhalb eines Systems von explizit definierten und methodisch gereinigten Begriffen neu zu bestimmen und zugleich die Kategorien, Problemstellungen und Schemata, die die wissenschaftliche Sprache der Alltagssprache entlehnt und die unter der wissenschaftlichen Fassade der formalisierten Sprache sich immer wieder einzuschleichen drohen, kritisch zu hinterfragen. „Die genaue Untersuchung der Grammatik eines Wortes schwächt die Position bestimmter festgelegter Normen unseres Ausdrucks, die uns davon abhielten, Tatsachen vorurteilsfrei zu sehen", schreibt Wittgenstein. „Mit unserer Untersuchung haben wir versucht, dieses Vorurteil, das uns zwingt zu denken, daß die Tatsachen bestimmten, in unserer Sprache verankerten Bildern entsprechen müssen, zu beseitigen." 3 6 Wird die Alltagssprache, dieses primäre Mittel zur „Konstruktion der Welt der Gegenstände", 3 7 nicht einer methodischen Kritik unterzogen, setzt man sich der Gefahr aus, in der und durch die Alltagssprache präkonstruierte Gegenstände als gegeben hinzunehmen. Das Bemühen um eine strenge Definition bleibt so lange nutzlos, ja sogar trügerisch, als das vereinheitlichende Prinzip der definierten Gegenstände nicht kritisch hinterfragt wurde. 3 8 Wie die Philoso-

Vl

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L. Wittgenstein, Das Blaue Buch. Iiine Philosophische Betrachtung (Das Braune Buch). Werkausgabe, Bd. 5, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984, S. 73 f. Vgl. F.. Cassirer, „Le langage et la construction du monde des objets", Journal de Psychologie normale et pathologique, 30 (1933), S. 18 — 44; und „The Influence of Language upon the Development of Scientific Thought", The Journal of Philosophy, 33 (1936), S. 309-327. M. Chastaing verlängert Wittgensteins Kritik an den Begriffsspielereien als Folge der Wortspiele mit dem Wort „Spiel" (vgl. M. Chastaing, „Jouer n'est pas j o u e r J o u r n a l de Psychologie normale et pathologique, Nr. 3 (Juli —Sept. 1959), S. 303 — 326). Chastaings logische und linguistische Kritik des Begriffs „Spiel" ließe sich nahezu vollständig auf den der „Freizeit" übertragen, auf die Verwendung, die gewöhnlich von ihm gemacht wird, und auf die „Wesensbestimmungen" von Seiten gewisser Soziologen: „Ersetzen Sie den alten Begriff ,Spiel' durch den Neologismus der .Freizeit'. Tauschen Sie also in einigen klassischen Beschreibungen von Spielen den ,Spieltrieb' oder die ,freie Tätigkeit' des Spielers durch eine als gewollt qualifizierte oder als Option des Individuums eingestufte Freizeitgestaltung, ohne sich um gelenkte Freizeit oder bezahlten Urlaub noch um den alten Gegensatz licetjlibet zu kümmern. Ersetzen Sie das ,Vergnügen am Spielen' durch die hedonistische Zielsetzung der Freizeitgestaltungen, passen Sie dabei auf, nicht Trister Sonntag, dann gar Ich hasse die Sonntage anzustimmen. Ersetzen Sie schließlich einige zweckfreie Spiele durch Freizeitaktivitäten, die sich Jenseits aller utilitaristischen Pinalität entfalten, falls Sie die Gartenarbeit der Arbeiter und Angestellten, wenn nicht die .Bastelei' vergessen können" (ebenda).

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phen, die sich die Suche nach einer wesensmäßigen Bestimmung des „Spiels" unter dem Vorwand aufzwingen lassen, die Alltagssprache besäße einen gemeinsamen Namen für „Kinderspiele, Olympische Spiele, mathematische Spiele und Wortspiele", so folgen auch die Soziologen, die ihre wissenschaftliche Fragestellung um Termini aus dem vertrauten Wortschatz der Alltagssprache aufbauen, nur der Sprache, die ihnen ihre Gegenstände vorgibt — gerade dann, wenn sie meinen, sich lediglich dem empirisch „Gegebenen" zu unterwerfen. Die von der Umgangssprache vorgenommenen Gliederungen sind nicht die einzigen unbewußt und unkontrolliert wirkenden Präkonstruktionen, die in die Soziologie einzudringen drohen; und so fände jene Technik des Bruchs, wie sie die logische Kritik der Spontansoziologie darstellt, in der Beschreibung der Krankheiten der Alltagssprache, die zumindest ansatzweise mit Wittgensteins spätem Werk vorliegt, sicherlich ein unersetzliches Instrument. [M. Cbastaing, Text Nr. 14] Eine solche Kritik würde den Soziologen befähigen, den Bedeutungshof (fringe of meaning, wie William James ihn nennt) um die umgangssprachlichen Wörter herum aufzulösen und die frei flottierenden Bedeutungen aller — selbst der dem Anschein nach abgestorbenen — Metaphern zu kontrollieren, die seine Aussagen nur allzuleicht in einen anderen Zusammenhang stellen als in den von ihm vorgesehenen. Nehmen wir einige dieser Bilder, die nach dem — biologischen oder mechanischen — Zusammenhang, auf den sie verweisen, oder entsprechend den von ihnen suggerierten impliziten Philosophien des Sozialen klassifiziert werden könnten: Gleichgewicht, Druck, Kraft, Spannung, Reflex, Wurzel, Körper, Zelle, Absonderung, Wachstum, Regulierung, Schwangerschaft, Absterben usw. Diese Interpretationsmuster, meistens der Physik oder der Biologie entnommen, bergen die Gefahr in sich, unter dem Deckmantel der Metapher und Homonymie eine inadäquate Philosophie des sozialen Lebens zu transportieren, vor allem aber die Suche nach einer spezifischen Erklärung zu hintertreiben, da sie auf billige Weise eine Erklärung bereits zu geben scheinen. 39 [G. Canguilhem, Text Nr. 15] So könnte eine Psychoanalyse des soziologischen Geistes vermutlich in mancher Beschreibung des revolutionären Prozesses als einer auf Unterdrückung folgenden Explosion einem nur unwesentlich transponierten mechanischen Schema auf die Spur kommen. Auch die Studien zur kulturellen Diffusion greifen meist eher unbewußt denn bewußt auf das Modell des sich ausbreitenden Ölflecks zurück, um damit über das Verbreitungsgebiet und den Verbreitungsrhythmus eines Kulturmerkmals Aufschluß zu geben. Es wäre ein Beitrag zur Reinigung des wissenschaftlichen Geistes, würde man einmal

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Das ist im übrigen Wurst wider Wurst: Wenn die Soziologie unter dem unkontrollierten Import biologischer Denkweisen und Vorstellungen gelitten hat, so mußte die Biologie zu einer anderen Zeit Begriffe wie „Zelle" und „Gewebe" von ihren moralischpolitischen Begriffen reinigen (vgl. G. Canguilhem, Text Nr. 15).

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konkret die Logik und die Funktionen solcher Schemata wie dem der „Veränderung des Maßstabs" untersuchen, mit dem die Übertragung von Beobachtungen oder Thesen, die auf der Ebene von Kleingruppen Gültigkeit haben, auf die Ebene der Gesamtgesellschaft oder der Gesellschaft im Weltmaßstab rechtfertigt wird; oder auch solcher Schemata wie der „Manipulation" und der „Verschwörung", die, letztlich auf der Illusion der Transparenz beruhend, nach tiefgründiger, weil Verborgenes aufdeckender, Erklärung aussehen und darüberhinaus auch deshalb durchaus befriedigend sind, weil sie Geheimbünde bloßstellen; oder schließlich auch eines Denkmusters wie der „Fernwirkung", das dazu verleitet, sich die Wirkung der modernen Kommunikationsmedien in den Kategorien des magischen Denkens vorzustellen. 40 Wie man sieht, finden sich die meisten dieser metaphorischen Schemata ebenso in den naiven wie in den wissenschaftlichen Äußerungen; und in der Tat verdankt sich ihre pseudo-explikative Leistung genau dieser doppelten Zugehörigkeit. Wie Yvon Beiaval sagt: „Wenn sie uns überzeugen, dann deshalb, weil sie uns ohne unser Wissen zwischen Bild und Gedanken, zwischen dem Konkreten und dem Abstrakten gleiten, hin- und hergehen lassen. Im Bunde mit der Einbildungskraft überträgt die Sprache unmerklich die Gewißheit der sinnlichen Evidenz auf die Gewißheit der logischen Evidenz". 41 Ihre Herkunft aus der Umgangssprache unter dem Zierat des wissenschaftlichen Jargons kaschierend, entziehen sich diese Misch-Schemata der Widerlegung, da sie entweder sofort eine allgemeine Erklärung anbieten und damit vertraute Erfahrungen wachrufen (so kann ein Begriff wie „Massengesellschaft" ζ. B. seine Mitbedeutungen aus der Erfahrung des großstädtischen Verkehrschaos schöpfen, beschwört ein Terminus wie „Mutation" häufig nichts anderes als die banale Erfahrung des Beispiellosen, Ausgefallenen), oder aber auf eine naive Geschichtsphilosophie verweisen, wie das Schema der zyklischen Wiederkehr, wenn es schlicht um die Abfolge der Jahreszeiten geht, oder wie das funktionalistische Schema, wenn dessen Gehalt sich auf das „untersuchen für" eines naiven Finalismus beschränkt, oder schließlich, indem sie bereits vulgarisierte wissenschaftliche Denkmuster aufgreifen, ζ. B. im Falle des Soziogramms, wenn zu dessen Verständnis das bereits vorhandene Bild der ineinander verhakten Atome benutzt wird. Für die Physik stellte Duhem fest, daß der Wissenschaftler stets der Gefahr ausgesetzt ist, in den Evidenzen des Alltagsverstandes die Abfalle früherer und von der Wissenschaft dort abgelagerter Theorien wieder zu verwerten; da die soziologischen Begriffe und Theorien gewissermaßen dazu vorbe40

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C h o m s k y zeigt, daß Skinners Vokabular, das von den technischen Termini einen bloß metaphorischen G e b r a u c h macht, dann seine Inkonsistenz erweist, wenn man es einer logischen u n d linguistischen Kritik unterzieht (N. Chomsky, Rezension v o n B. F. Skinner, „Verbal Behavior", in: Language, 35 (1959), S. 16 — 58.) Y. Beiaval, Les pbilosophes et leur langage, Paris: Gallimard, 1952, S. 23.

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stimmt sind, öffentliche Verbreitung zu finden, läuft der Soziologe mehr als jeder andere Wissenschaftler Gefahr, „nur Stücke aus dem Schatze der allgemeinen Erkenntnis wieder entnommen und in theoretische Wissenschaft verwandelt (zu) haben, die die theoretische Wissenschaft selbst diesem Schatze beigefügt hatte." 42 Wie allerdings der Gebrauch selbst mechanistischer Paradigmen zu pädagogischen oder heuristischen Zwecken in der modernen Physik belegt, muß nicht aus Gründen der wissenschaftlichen Strenge auf jede Art von Erklärung oder Erläuterung verzichtet werden, die mit Analogien arbeitet (wenn sie auch mit Verstand und Methode anzuwenden sind). Wie sich die physikalischen Wissenschaften kategorisch von den animistischen Vorstellungen von Materie und Wirkung auf die Materie absetzen mußten, so müssen die Sozialwissenschaften einen „wissenschaftstheoretischen Schnitt" vollziehen und auf diese Weise die wissenschaftliche Interpretation von allen artifizialistischen oder anthropomorphen Deutungen der Funktionsweise des Sozialen trennen: Nur wenn die von der soziologischen Erklärung benutzten Schemata vollständig explizit gemacht werden, 43 läßt sich die Kontamination vermeiden, denen noch die am stärksten gereinigten Schemata dann ausgesetzt bleiben, wenn sie strukturelle Affinitäten mit den Schemata des Alltags aufweisen. Bachelard zeigt, daß die Nähmaschine erst erfunden werden konnte, als man aufhörte, die Handbewegungen der Näherin nachzuahmen: Eine der nachhaltigsten Lehren, die die Soziologie aus der richtigen Vorstellung von der Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften ziehen könnte, bestünde sicherlich darin, sich in jedem Augenblick zu vergewissern, ob sie wirklich Nähmaschinen konstruiert, anstatt mehr schlecht als recht die spontanen Gesten der naiven Praxis zu übertragen.

1.5 Die Versuchung der Prophetie Weil es ihr schwerer fallt als anderen Wissenschaften, sich von der Illusion der Transparenz freizumachen und den Bruch mit den Vorbegriffen unwiderruflich zu machen; weil sie sich häufig nolens volens vor die Aufgabe gestellt sieht, auf die letzten Fragen nach der Zukunft der Zivilisation eine Antwort zu geben, ist die Soziologie heute prädisponiert, mit einem immer den Kreis der Fachkollegen sprengenden Publikum eine kaum geklärte Beziehung zu unterhalten, die nur allzuleicht die Logik jener Beziehung aufnimmt, die zwischen dem Erfolgsautor und seiner Lesergemeinde besteht oder manchmal 42

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P. Duhem, Ziel und Struktur der physikalischen Theorien, übers, von F. Adler, Hamburg: Meiner, 1978, S. 354. Für diese semantische Kontrolle kann sich die Soziologie nicht nur mit dem ausrüsten, was Bachelard als Psychoanalyse der Erkenntnis bezeichnete, oder mit einer rein logischlinguistischen Kritik, sondern auch mit einer Soziologie des sozialen Gebrauchs der Interpretationsmuster des Sozialen.

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sogar die, die es zwischen dem Propheten und seiner Gefolgschaft gibt. Mehr als jeder andere Experte ist der Soziologe dem vieldeutigen und ambivalenten Urteil der Nicht-Experten ausgesetzt, die sich durchaus in der Lage sehen, den vorgeschlagenen Analysen Glauben zu schenken, sofern diese den Vorannahmen ihrer Spontansoziologie entgegenkommen, die aber gerade deshalb auch gerne die Geltung einer Wissenschaft anzweifeln und diese nur in dem Maße schätzen, wie sie Überzeugungen des gesunden Menschenverstandes reproduziert. In der Tat: Beschränkt sich der Soziologe darauf, die Reflexionsgegenstände des Alltagsverstandes und die herkömmliche Art und Weise der Reflexion dieser Gegenstände bloß zu übernehmen, hat er der alltagspraktischen Gewißheit nichts entgegenzusetzen, wonach es Sache jedes Menschen sei, über alles Menschliche zu sprechen und jede — auch die wissenschaftliche — Aussage an der Elle des Menschlichen zu messen. Wie sollte sich auch nicht jeder wie ein kleiner Soziologe fühlen, da doch die Analysen der „Soziologen" sich vollkommen mit den Äußerungen des Alltagsgeredes dekken und die Aussage des Analytikers und die analysierten Äußerungen nur noch durch die brüchige Schranke der „Anführungszeichen" getrennt sind? Es ist kein Zufall, wenn das Banner des „Humanismus" — unter dem sich die Anhänger der Auffassung, daß Mensch sein genüge, um Soziologe zu sein, mit jenen im trauten Kreise treffen, die zur Soziologie kommen, um die allzumenschliche Leidenschaft für das „Humane" zu befriedigen — als Zeichen zum Sammeln für alle Widerstände gegen die objektive Soziologie dient, mögen sie sich aus der Illusion der Reflexivität speisen oder aus dem Insistieren auf den unantastbaren Rechten des freien und schöpferischen Subjekts. Wer es als Soziologe heute an der notwendigen Distanz zu seinem Gegenstand fehlen läßt, ist immer kurz davor, sich komplizenhafter Nachsicht für die eschatologischen Hoffnungen schuldig zu machen, die das breite intellektuelle Publikum heutzutage gerne auf die „Humanwissenschaften" — die angemessener als Wissenschaften vom Menschen zu bezeichnen wären — überträgt. Sobald der Soziologe es akzeptiert, sein Objekt und die Funktionen seines Diskurses nach den Anforderungen des Publikums zu definieren und damit die Anthropologie als ein System von umfassenden Antworten auf die letzten Fragen nach dem Menschen und dessen Geschick bereitzustellen, macht er sich zum Propheten, selbst wenn Stil und Thematik seiner Botschaft variieren je nachdem, ob er als „staatlich besoldete[r] oder privilegiertejr] kleine[r] Prophet", als weiser Meister die drängenden, beunruhigenden Fragen eines studentischen Auditoriums nach geistigem, kulturellem oder politischem Heil beantwortet, ob er jene theoretische Politik praktiziert, die C. W. Mills den von ihm so genannten „Staatsmännern" der Wissenschaft zuschreibt, und das kleine Reich der Begriffe zu vereinheitlichen sucht, über die und mit denen er zu herrschen gedenkt, oder ob er als kleiner Außenseiterprophet dem großen Publikum die Illusion gibt, Zugang zu den letzten Geheimnissen der Wissenschaften zu haben. [M. Weber, Text Nr. 16; Β. M. Berger, Text Nr. 17]

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Die Sprache der Soziologie, die selbst bei kontrolliertem Gebrauch immer auf — wenn auch in einer strengen und systematischen Bedeutung genommen — Wörter aus dem Alltags-Wortschatz zurückgreift und aus diesem Grund sofort mehrdeutig wird, sobald sie sich nicht mehr nur an Fachwissenschaftler richtet, bietet sich mehr als andere für betrügerische Verwendungen an: Das Spiel mit der Vieldeutigkeit, das durch die unterschwellige Affinität noch der weitestgehend gereinigten Begriffe mit den alltagspraktischen Schemata ermöglicht wird, begünstigt die Doppeldeutigkeiten und gewollten Mißverständnisse, welche dem sich prophetisch gebenden Falschspiel vielfaltige und zuweilen widersprüchliche Zuhörerschaften sichert. Wenn nach Bachelard „jeder Chemiker den Alchimisten in sich bekämpfen muß", so jeder Soziologe in sich den Sozialpropheten, den er nach Meinung seines Publikums verkörpern soll. Die scheinbar wissenschaftliche Erarbeitung von Evidenzen, die öffentlichkeitswirksam sind, weil sie öffentliche Evidenzen sind, im Verein mit der Verwendung einer mehrstimmigen Sprache, in der neben Wörtern der Alltagssprache technische Termini gewissermaßen als deren Bürgen auftauchen, bilden die wirksamste Tarnung des Soziologen, wenn er trotz allem all jene aus der Fassung zu bringen sucht, deren Erwartungen er erfüllt, indem er ihre Lieblingsthemen in einer monumentalen Orchestrierung zusammenführt und ihnen einen Diskurs anbietet, der in all seiner äußerlichen Esoterik in Wirklichkeit den exoterischen Funktionen eines prophetischen Unternehmens dient. Die prophetische Soziologie braucht lediglich die Antworten der Spontansoziologie auf die ungeordneten existentiellen Fragen, auf welche die Alltagserfahrung stößt, in trügerischer Weise zu systematisieren, um gleichsam natürlich in die Logik zu verfallen, in der der common sense seine Erklärungen konstruiert: Von allen einfachen Erklärungen sind es die mittels des Einfachen und der einfachen Naturen, auf die die prophetischen Soziologien am häufigsten zurückgreifen; sie finden dann beispielsweise in derart vertrauten Phänomenen wie dem Fernsehen das Erklärungsprinzip für „erdumspannende Veränderungen." „ ,Alle Wahrheit ist einfach.' — Ist das nicht zwiefach eine Lüge?" fragt Nietzsche. „Etwas Unbekanntes auf etwas Bekanntes zurückführen, erleichtert, beruhigt, befriedigt, giebt ausserdem ein Gefühl von Macht. Mit dem Unbekannten ist die Gefahr, die Unruhe, die Sorge gegeben — der erste Instinkt geht dahin, diese peinlichen Zustände wegzuschaffen. Erster Grundsatz: irgend eine Erklärung ist besser als keine. Weil es sich im Grunde nur um ein Loswerdenwollen drückender Vorstellungen handelt, nimmt man es nicht gerade streng mit den Mitteln, sie loszuwerden: die erste Vorstellung, mit der sich das Unbekannte als bekannt erklärt, thut so wohl, dass man sie ,für wahr hält'." 44

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F. Nietzsche, Gothen-Dämmerung. Kritische Studienausgabe, hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin und New York: de Gruyter, und München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1988, Bd. 6, S. 59, 93.

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Ob dieser Rückgriff auf Erklärungen durch das Hinfache beruhigen oder verunsichern soll, ob dabei Paralogismen der Form pars pro toto, auf Anspielung und Ellipse beruhende Systematisierungen oder die Macht spontaner Analogien herangezogen werden: Seine Erklärungskraft ruht doch immer in seinen tiefsitzenden Affinitäten zur Spontansoziologie. Schon bei Marx heißt es: „Solche belletristische Phrasen, die nach irgendeiner Analogie alles unter alles rangieren, mögen sogar geistreich scheinen, wenn sie das erstemal gesagt werden, und um so mehr so, je mehr sie das Disparateste identifizieren. Wiederholt, und nun gar mit Selbstgefälligkeit, als Aussprüche von wissenschaftlichem Wert wiederholt, sind sie tout bonnement albern. Nur für belletristische Grünfärber und Schwätzer ins Blaue gut, die alle Wissenschaften anschmieren mit ihrem lakritzsüßen Dreck." 4 ''

1.6 Theorie und theoretische Tradition Indem er seine Wissenschaftstheorie unter das Zeichen des „Warum nicht?" und die Geschichte der wissenschaftlichen Vernunft unter das der Diskontinuität oder, besser, des kontinuierlichen Bruchs stellt, verweigert Bachelard der Wissenschaft die Gewißheiten definitiven Wissens und erinnert sie daran, daß sie nur fortschreiten kann, wenn sie die Grundlagen ihrer eigenen Konstruktionen fortwährend selbst in Frage stellt. Aber damit ein Experiment wie etwa das von Michelson und Morley zu einer radikalen Infragestellung der grundlegenden Postulate der Theorie führen kann, muß es bereits eine Theorie geben, die ein derartiges Experiment zu initiieren und die durch dieses Experiment manifest werdende subtile Unstimmigkeit spürbar zu machen vermag. Derartigen theoretischen Großtaten, die den Stachel der Negation bis ins Innere einer scheinbar vollendeten wissenschaftlichen Theorie treiben und dann ζ. B. die nichteuklidischen Geometrien oder die nichtnewton'sche Physik ermöglichen, ist die Lage der Soziologie allerdings kaum förderlich. Der Soziologe ist vielmehr zu den unscheinbaren Anstrengungen verurteilt, zu denen ihn der immer wieder aufs neue unternommene Bruch mit den Versuchungen des naiven oder wissenschaftlichen common sense nötigt: Tatsächlich stößt er, wenn er sich im Rückblick der theoretischen Vergangenheit seines Fachs zuwendet, nicht auf eine ausgebildete wissenschaftliche Theorie, sondern auf eine Tradition. Eine solche Situation fördert die Spaltung des wissenschaftstheoretischen Feldes in zwei Lager, die sich allein durch ihre jeweils konträren Beziehungen zu ein und derselben Vorstellung von Theorie voneinander absetzen: Gleichermaßen unfähig, der traditionellen Vorstellung von Theorie eine genuin wissenschaftliche Theorie entgegenzustellen oder wenigstens doch eine wissenschaftliche Theorie der wissenschaftlichen Theo41

K . Marx, Grundrisse S. 200 f.

der Kritik, der politischen

Ökonomie.

(Rohentwurf),

Berlin: Diet/, 1953,

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1. Der Bruch

rie, stürzen sich die einen Hals über Kopf in eine Praxis, die in sich selbst ihr eigenes theoretisches Fundament zu finden behauptet, während die anderen weiterhin jenes traditionalistische Verhältnis zur Tradition aufrechterhalten, das die Gelehrten-Gemeinschaften aus Gewohnheit einem disziplinären Korpus gegenüber pflegen, dessen erklärte Prinzipien Vorannahmen kaschieren, die um so stärker dem Bewußtsein entzogen sind, je wesentlicher sie sind, und dessen semantische oder logische Kohärenz durchaus auch nur den manifesten Ausdruck letzter Optionen darstellen kann, die eher in einer Philosophie des Menschen und der Geschichte begründet sind als in einer bewußt entwickelten Axiomatik. Stehen jene, die eine Zusammenfassung aller theoretischen Beiträge der „Gründerväter" der Soziologie zu erstellen suchen, nicht vor einem ähnlichen Unterfangen wie die Theologen und Kanoniker des Mittelalters, die in ihren riesigen Summae die Gesamtheit der von den „Autoritäten" — kanonischen Texten oder Kirchenvätern — überlieferten Argumente und Fragen zusammenstellten? 46 Vermutlich würden die zeitgenössischen „Theoretiker" Whiteheads Diktum: „eine Wissenschaft muß ihre Gründer vergessen" zustimmen; ungeachtet dessen könnte es sein, daß ihre Synthesen sich weit weniger als es scheint von den mittelalterlichen Kompilationen unterscheiden: Was ist der Imperativ des „Kumulierens", dem sie ostentativ gehorchen, denn anderes, meist jedenfalls, als die Neuinterpretation des scholastischen Gebots der Versöhnung der Gegensätze unter Bezugnahme auf eine andere intellektuelle Tradition? Wie Erwin Panofsky feststellt, konnten „die Scholastiker nicht umhin wahrzunehmen, daß die Autoritäten und selbst die verschiedenen Passagen der Heiligen Schrift sich häufig widersprachen. Unter diesen Umständen blieb nichts weiter übrig, als sie trotz alledem so zu nehmen, wie sie waren und sie endlos immer wieder aufs neue zu interpretieren, bis sie versöhnt waren. Das machen Theologen seit jeher." 47 Im Kern beruht darin auch die Logik einer „Theorie", die wie jene Talcott Parsons' nichts anderes ist als eine endlose Wiederaufbereitung von theoretischen Versatzstücken aus 46

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Dieses traditionelle Verhältnis zu einer Tradition läßt sich in den ersten Momenten der Geschichte einer Wissenschaft immer beobachten. So verweist Bachelard auf eine parasitäre Gelehrsamkeit in den wissenschaftlichen Schriften des 18. Jahrhunderts, in der sich noch die fehlende Organisation und Abhängigkeit der Wissenschaftsgemeinschaft von der mondänen Gesellschaft niederschlägt: „De Marivetz und Goussier ist es bei der Behandlung des Feuers in ihrer berühmten Physique du Monde (1780) Pflicht und Ehre, sechsundvierzig verschiedene Theorien zu überprüfen, bevor sie eine gute vorschlagen, die eigene": Das liegt daran, daß ihre Wissenschaft noch nicht mit ihrer Vergangenheit, und sei es die fernste, gebrochen hat; liegt auch daran, daß die wissenschaftliche Diskussion mangels eigener Organisation und autonomer Regeln noch immer nach dem Modell der mondänen Konversation gedacht wird (G. Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beiträge einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis, übers, von M. Bischoff, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978, S. 64.) E. Panofsky, Gothic Architecture and Scholasticism, Latrobe (Penn.): Archabbey Press, S. 65.

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den Schriften eines ausgewählten Kreises von Autoritäten, 48 oder auch die Logik eines Lehrgebäudes wie das Werk Georges Gurvitchs, das sowohl nach seiner Topik als auch nach seiner Vorgehensweise alle Merkmale der Sammlungen der mittelalterlichen Kanoniker aufweist, diesen umfassenden Konfrontationen sich widersprechender Autoritäten samt ihren gewaltsamen concordantiae als krönendem Abschluß. 49 Es gibt keinen entschiedeneren Gegensatz zur architektonischen Vernunft der großen soziologischen Theorien und deren Fähigkeit, alle Theorien, alle theoretischen Kritiken und selbst alle Empirien in sich aufzunehmen, als die polemische Vernunft, die „durch ihre Dialektik und ihre Kritik" zu den modernen physikalischen Theorien geführt hat. Und folglich liegen Welten zwischen dem „Surobjekt" als „Ergebnis [...] einer Objektivität, die vom Objekt nur das beibehält, was sie zuvor der Kritik unterworfen hat", und dem Subobjekt, das aus Konzessionen und Zugeständnissen erwächst, auf deren Grundlage sich dann die großen Reiche der Theorien mit universellem Anspruch etablieren. [G. Bachelard, Text Nr. 18] So, wie die Werke nun einmal sind, die die Soziologen-Gemeinschaft als theoretische anerkennt, und vor allem so, wie das spezifische Verhältnis zu diesen Theorien ist, das sich aus der Logik ihrer Vermittlung (häufig nicht zu trennen von der ihrer Produktion) ergibt, stellt der Bruch mit den traditionellen Theorien und dem traditionellen Verhältnis zu diesen Theorien nur einen Sonderfall des Bruchs mit der Spontansoziologie dar: Denn jeder Soziologe muß mit wissenschaftlichen Vorannahmen rechnen, die ihm seine Problemstellungen, Thematiken und Denkmuster vorgeben. So gibt es Probleme, die aufzuwerfen die Soziologen unterlassen, da die Fachtradition sie nicht der Thematisierung würdig anerkennt und kein Begriffsinstrumentarium bzw. keine Techniken zur Verfügung stellt, um sie dem Kanon entsprechend zu behandeln; umgekehrt gibt es wiederum Probleme, die sie zwingend aufwerfen, da sie einen hohen Rang in der anerkannten Stufenleiter der Forschungsgegenstände einnehmen. Desgleichen gibt es eine rituelle Kritik alltäglicher Vorbegriffe, die selbst zu einem akademischen Vorbegriff verkommt, der sich prächtig dazu eignet, von der Infragestellung der wissenschaftlichen Vorbegriffe abzulenken. Gegen die traditionelle Theorie sind deshalb dieselben Waffen wie gegen die Spontansoziologie einzusetzen, weil noch die wissenschaftlichen Kon4"

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Die Behandlung, die es den Klassikern angedeihen läßt, um zum Ergebnis des kumulativen Charakters der soziologischen Theorie zu gelangen, gehört nicht gerade zu den einsichtigsten Seiten eines Buches wie The Structure of Social Action von Τ. Parsons. Der theoretische Traditionalismus überdauert möglicherweise aufgrund der Opposition, auf die er bei den positivistischen Praktikern und gerade auch in dem stößt, was sie ihm entgegenhalten: Muß man wirklich mit Politzer daran erinnern, daß „man bei aller guten Arbeit und allem Willen zur Präzision die Aristotelische Physik nicht in eine experimentelle Physik verwandeln [kann]"? (G. Politzer, Critique des jondements de la Psychologie, Paris: Rieder, 1928, S. 6.)

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1. Der Bruch

struktionen nicht nur in ihren Denkmustern, sondern auch in ihrem grundlegenden Ansatz der Logik des common sense verhaftet bleiben: In der Tat haben sie „den Bruch" mit „dem Geist einfacher Ordnung und Klassifikation" noch nicht vollzogen, der laut Bachelard „den wirklich modernen wissenschaftlichen Geist" kennzeichnet. Whiteheads Feststellung, wonach die Verfahrensweise der klassifikatorischen Logik — auf halbem Wege zwischen der Beschreibung der konkreten Objekte und der systematischen Erklärung mit Hilfe der entwickelten Theorie — immer auf einer „unvollkommenen Abstraktion" 50 beruht, charakterisiert sehr gut jene Theorien sozialen Handelns mit universellem Anspruch, die wie die von Parsons nur insoweit den Anschein von Allgemeinheit und Vollständigkeit vermitteln können, als sie „abstrakt-konkrete" Schemata benutzen, die in Funktion und Funktionsweise den Gattungen und Arten einer aristotelischen Klassifikation entsprechen. Und mag Robert K. Merton mit seiner „Theorie mittlerer Reichweite" auch die heute unhaltbar gewordenen Ambitionen einer allgemeinen Theorie des Sozialsystems aufgeben — die logischen Voraussetzungen dieser eher durch pädagogische denn wissenschaftliche Ziele angetriebenen Klassifikation und begrifflichen Klärung werden damit nicht in Frage gestellt: Die Kreuzklassifikation — vornehmer ausgedrückt: die Unterstrukturierung des Higenschaftsraums — dürfte in der universitären Soziologie (man denke an die Mertonsche Typologie der Anomie oder an die vielfachen multidimensionalen Typologien der Soziologie von Gurvitch) deshalb so häufig sein, weil sie eine endlose wechselseitige Befruchtung einer endlichen Menge verwandter Schulbegriffe fördert. Alle überlieferten Konzepte und anerkannten Theorien addieren oder alles Existierende in eine Art Kasuistik des Realen einfügen zu wollen, und zwar um den Preis jener didaktischen Übungen der universellen Taxonomie, die Jevons zufolge das aristotelische Zeitalter der Sozialwissenschaft kennzeichnen und die „unweigerlich zusammenbrechen, sobald die hinter den Phänomenen verborgenen Ähnlichkeiten auftauchen",' 11 heißt ignorieren, daß die wirkliche Kumulation Brüche voraussetzt, daß ein Fortschritt in der Theorie die Integration neuer Daten voraussetzt — auf der Grundlage einer kritischen Infragestellung der Fundamente der Theorie, die durch die neuen Daten einer Prüfung unterzogen werden. Mit anderen Worten: Zwar wird jede wissenschaftliche Theorie gegenüber dem Gegebenen wie ein historisch entwickelter provisorischer Code angewendet, der für eine bestimmte Zeit das souveräne und eindeutige Unterscheidungsprinzip zwischen wahr und falsch darstellt, doch ist die Geschichte einer Wissenschaft immer diskontinuierlich, weil kein Dechiffrierungsraster unbegrenzt verfeinert, sondern irgendwann immer durch ein anderes Raster ersetzt wird.

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Λ. N. Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, übers, von H. G. Holl, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984, S. 42 f. W. S. Jevons, The Principles of Science, London: Methuen, 1892, S. 691.

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1.7 Theorie soziologischen Wissens und Theorie des sozialen Systems Eine Theorie stellt weder den größten gemeinsamen Nenner aller großen Theorien der Vergangenheit dar, noch ist sie identisch mit jenem Teil der Soziologie, der sich von der Empirie nur deshalb absetzt, weil er sich der experimentellen Kontrolle entzieht. Und sie ist auch nicht eine Art Galerie der kanonischen Theorien, w o sich Theorie auf Theoriegeschichte reduziert, oder ein System v o n Konzepten, das, kein anderes Kriterium für Wissenschaftlichkeit anerkennend als die semantische Kohärenz, sich lediglich auf sich selbst bezieht, statt sich an den Tatsachen zu messen, noch u m g e k e h r t jene Addition von kleinen wahren Fakten oder von hier und da von dem einen und dem anderen isoliert nachgewiesenen Beziehungen, die nichts weiter darstellt als die positivistische Reinterpretation des traditionellen Ideals der soziologischen SummaBeiden — der traditionellen Vorstellung von Theorie w i e der positivistischen Vorstellung, die der Theorie die alleinige Funktion zuschreibt, so vollständig, einfach und genau w i e möglich eine Gesamtheit experimenteller Gesetze wiederzugeben — ist gemeinsam, daß sie die Theorie ihrer wesentlichen Funktion berauben, nämlich den erkenntniskritisch bestimmten Bruch zu bewerkstelligen, indem sie zu dem Prinzip hinführt, das Widersprüche, Unstimmigkeiten oder Lücken im System der aufgestellten Gesetze zugleich sichtbar machen und erklären kann. Vor der A u f g a b e der Theorie durch den Empirismus warnen heißt nicht, die terroristische Z u m u t u n g der Theoretiker rechtfertigen, die mit dem Ausschluß der M ö g l i c h k e i t „regionaler" Theorien die Forschung auf die Alternative des Alles oder Nichts, des pointillistischen Hyperempirismus oder der allgemeinen und universellen Theorie des sozialen Systems einschwören. In der Feststellung der Dringlichkeit einer soziologischen Theorie vermischen sich tatsächlich die unerfüllbare F o r d e r u n g nach einer allgemeinen universellen Theorie der Gesellschaftsformationen und die u n u m g ä n g l i c h e Forderung nach einer Theorie soziologischen Wissens. Diese Konfusion, die von den soziologischen Doktrinen des 19. Jahrhunderts gefördert w u r d e , gilt es aufzulösen, um so — ohne Rückfall in den Eklektizismus oder Synkretismus ^ Die Bestandsaufnahme aller als fundiert erachteter Aussagen ist durchaus von Interesse, wenn es darum geht, ein bequemes Mittel zur Mobilisierung erworbener Kenntnisse bereitzustellen (vgl. B. Berelson und G. Λ. Steiner, Human Behavior: An Inventory of Scientific findings, New York: Harcourt, Brace & World, 1964). Doch kann diese gewissermaßen „automatisch empirische" Kompilation von aus ihrem Kontext gerissenen Daten — wie es manchmal geschieht — nur gewaltsam als künftige Theorie oder Theoriefragment ausgegeben werden, deren Realisierung faktisch dann künftigen Forschungen überlassen wird. Theoretische Arbeit, die in der Überprüfung der Kohärenz eines Begriffssystems besteht, hat auch ohne Bezug auf empirische Forschungen eine positive Funktion, vorausgesetzt allerdings, sie gibt sich nicht als die Konstruktion der wissenschaftlichen Theorie selbst aus.

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1. Der Bruch

der theoretischen Tradition — zu erkennen, daß die großen klassischen Theorien in den fundamentalen Prinzipien konvergieren, die die Theorie soziologischen Wissens als Fundament der auf einen bestimmten Bereich von Tatbeständen begrenzten partiellen Theorien definieren. Gleich zu Beginn seiner Einleitung zu den Cambridge Economic Handbooks schrieb Keynes: „Die Wirtschaftstheorie liefert keine Sammlung von begründeten und unmittelbar anwendbaren Schlußfolgerungen. Sie ist eher eine Methode als eine Lehre, ein geistiges Handwerkszeug, eine Technik des Denkens, die dem, der damit ausgerüstet ist, hilft, richtige Schlußfolgerungen zu ziehen." 53 Als System von Regeln, die die Hervorbringung aller möglichen soziologischen Akte und Aussagen — und nur sie — steuern, ist die Theorie soziologischen Wissens generierendes Prinzip der verschiedenen partiellen Theorien des Sozialen (ζ. B. der Theorie des matrimonialen Tauschs oder der kulturellen Diffusion) und damit auch vereinheitlichendes Prinzip des genuin soziologischen Diskurses, der allerdings nicht mit einer einheitlichen Theorie des Sozialen zu verwechseln ist. 54 Wenn man, wie M. Polanyi feststellt, „die Wissenschaft von der Natur für ein Wissen von den Dingen hält und von der Wissenschaft das Wissen von der Wissenschaft unterscheidet, d. h. die Metawissenschaft, dann lassen sich drei logische Ebenen unterscheiden: die Objekte der Wissenschaft, die Wissenschaft selbst und die Metawissenschaft, die die Logik und die Epistemologie der Wissenschaft umfaßt". 55 Die Theorie soziologischen Wissens, die dem Bereich der Metawissenschaft zugehört, mit den partiellen Theorien des Sozialen zu konfundieren, die bei der systematischen Organisation einer Gesamtheit von Beziehungen und von Prinzipien zur Erklärung dieser Beziehungen die Prinzipien der soziologischen Metawissenschaft verwenden, führt zwangsläufig in ein Dilemma: Entweder verzichtet man darauf, Wissenschaft zu treiben, in der Hoffnung, daß eine Wissenschaft von der Metawissenschaft die Stelle einer Wissenschaft einnehmen kann; oder man hält eine notwendig leere Synthese von allgemeinen Theorien (oder selbst nur partiellen Theorien) des Sozialen für die Metawissenschaft, die Bedingung jeder möglichen wissenschaftlichen Erkenntnis ist.

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The Collected Writings of J. Μ. Keynes, Bd. 12, London: Macmillan, 1983, S. 856. Die soziale Definition des Verhältnisses von Theorie und Praxis, die Affinität aufweist zum traditionellen Gegensatz zwischen den noblen Aufgaben des Gelehrten und den geduldig-genauen Verrichtungen des Handwerkers sowie — zumindest in Frankreich — zum schulischen Gegensatz zwischen brillant und ernsthaft, verrät sich ebensosehr im Zögern, Theorie dann als solche anzuerkennen, wenn sie sich in einer partiellen Forschungsarbeit niederschlägt, wie in der Schwierigkeit, sie in Forschung zu aktualisieren. M. Polanyi, Personal Knowledge: Towards a Critical Philosophy, London: Routledge & Kegan Paul, 1958, S. 344.

Teil II: Die Konstruktion des Objekts 2. Der wissenschaftliche Tatbestand wird konstruiert: Die Formen empiristischer Kapitulation „Die Sichtweise", heißt es bei Saussure, „erzeugt das Objekt." Was bedeutet, daß eine Wissenschaft sich nicht durch einen ihr eigenen Wirklichkeitsbereich definieren läßt. Wie Marx festhält: „... die konkrete Totalität als Gedankentotalität, als ein Gedankenkonkretum, [ist] in fact ein Produkt des Denkens, des Begreifens [...]. Das Ganze, wie es im Kopfe als Gedankenganzes erscheint, ist ein Produkt des denkenden Kopfes, der sich die Welt in der ihm einzig möglichen Weise aneignet, einer Weise, die verschieden ist von der künstlerischen, religiösen, praktisch-geistigen Aneignung dieser Welt. Das reale Subjekt bleibt nach wie vor außerhalb des Kopfes in seiner Selbständigkeit bestehn". 56 [/f. Marx, Text Nr. 19] Das gleiche wissenschaftstheoretische Prinzip, Mittel zum Bruch mit dem naiven Realismus, formuliert auch Max Weber: „Nicht die sachlichen' Zusammenhänge der ,Dinge', sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde: wo mit neuer Methode einem neuen Problem nachgegangen wird und dadurch Wahrheiten entdeckt werden, welche neue bedeutsame Gesichtspunkte eröffnen, da entsteht eine neue ,Wissenschaft'." 57 [M. Weber, Text Nr. 20} Auch wenn die physikalischen Wissenschaften sich manchmal in Untereinheiten aufteilen lassen, die, wie etwa Selenographie und Ozeanographie, durch das Nebeneinander verschiedener, auf einen gleichen Wirklichkeitsbereich bezogener Fachdisziplinen definiert sind, so geschieht dies ausschließlich nach pragmatischen Zwecken: Tatsächlich organisiert sich wissenschaftliche Forschung um konstruierte Gegenstände, die mit den in der naiven Wahrnehmung getrennten Einheiten nichts mehr gemein haben. Daß zwischen der wissenschaftlichen Soziologie und den Kategorien der Spontansoziologie immer noch Verbindungen bestehen, ist darin zu erkennen, daß auch jene sich der Klassifikation auf der Grundlage verwandter Bereiche häufig nicht entzieht: Familien- und Freizeitsoziologie; Agrar- und Stadtsoziologie; Soziologie der Jugend und Soziologie des Alters... Allgemeiner gesprochen: Weil

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K. Marx, Einleitung \ur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW, Bd. 13, Berlin: Dietz, S. 6 3 1 - 6 3 3 . M. Weber, „Die .Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis", in: ders., Gesammelte Aufsätze %ur Wissenschaftslebre, Tübingen: Mohr 3 1968, S. 166.

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2. Die Konstruktion des Objekts

die empiristische Wissenschaftstheorie sich die wissenschaftliche Arbeitsteilung als reale Teilung des Wirklichen vorstellt, begreift sie das Verhältnis von Nachbardisziplinen (ζ. B. Psychologie und Soziologie) als Grenzkonflikte. Mit gutem Recht darf im Durkheimschen Grundsatz, nach dem „soziale Tatbestände wie Dinge zu behandeln" sind, (wobei der Nachdruck auf „behandeln wie" zu legen ist), das spezifische Gegenstück zu dem theoretischen Staatsstreich gesehen werden, mit dem Galilei den Gegenstand der modernen Physik als System quantifizierbarer Dinge konstituierte, oder zu der methodischen Entscheidung, mit der Saussure durch die Trennung von langue und parole der Sprachwissenschaft Existenz und ein Objekt verlieh. Dürkheim formuliert eine ähnliche Unterscheidung, wenn er bei der umfassenden Darlegung der wissenschaftstheoretischen Bedeutung der Hauptregel seiner Methode postuliert, daß keine der impliziten Regeln, die den sozialen Akteuren zum Zwang werden, „vollkommen in den Anwendungen auf[geht], die die Einzelnen von ihr machen, da sie ja vorhanden sein können, ohne wirklich angewendet zu werden.""' 8 Im Vorwort zur 2. Auflage der „Regeln der soziologischen Methode" wird nochmals nachdrücklich darauf verwiesen, daß es darum geht, eine geistige Haltung zu definieren, und nicht, dem Gegenstand einen ontologischen Status zuzuweisen. [E. Dürkheim, Text Nr. 21] Wenn sich diese Art Tautologie, mit der sich die Wissenschaft durch Konstruktion ihres Gegenstandes gegen den Alltagsverstand — und im Einklang mit den sie definierenden Konstruktionsprinzipien — konstituiert, nicht als selbstverständlich aufdrängt, dann deshalb, weil nichts so sehr den Evidenzen des Alltagsverstandes widerspricht wie die Unterscheidung zwischen dem durch die Wahrnehmung präkonstruierten „realen" Gegenstand und dem wissenschaftlichen Gegenstand als einem System explizit konstruierter Beziehungen. 59 Wer sich die Konstruktion des Gegenstandes ersparen will, muß die Forschung jenen präkonstruierten Objekten überlassen, den von der Spontansoziologie 6 0 zugeschnittenen, wahrgenommenen und benannten sozialen Tatbeständen oder den sogenannten „sozialen Problemen", die ihren Geltungsanspruch als soziologische Probleme um so hartnäckiger vertreten, je mehr E. Dürkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, a. a. O., S. 110. •l9 Vermutlich weil die Situation des Beginns oder Neubeginns das Explizitmachen der eine Wissenschaft kennzeichnenden Konstruktionsprinzipien besonders begünstigt, bewahrt die von Durkheimianern gepflegte polemische Argumentation zur Durchsetzung des Grundsatzes der „Besonderheit der sozialen Tatsachen" auch heute noch einen nicht nur archäologischen Wert. 60 So mancher frisch gebackene Soziologe handelt, als genügte es, sich einen Gegenstand mit sozialer Realität vorzunehmen, um sogleich einen mit soziologischer Realität zu haben. Abgesehen einmal von den unzähligen Dorfmonographien ließen sich hier alle jene Forschungsthemen anführen, deren Fragestellung sich auf die bloße Benennung von sozialen Gruppen oder Problemen beschränkt, die zu einem bestimmten Zeitpunkt vom allgemeinen Bewußtsein wahrgenommen werden.

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soziale Realität sie innerhalb der Soziologen-Gemeinschaft besitzen. 6 ' Zur Konstruktion eines Gegenstandes ist es nicht damit getan, der Alltagserfahrung entnommene Kriterien in komplexe Verfahren der Datenanalyse einzugeben (wie etwa in den zahlreichen Projekten des Typs „Freizeitverhalten von Jugendlichen in den östlichen Vororten von Paris"). Als Produkt einer Reihe von realen Trennungen bleibt der Gegenstand ein alltagspraktisches Objekt und erhält nicht deshalb schon die Bedeutung eines wissenschaftlichen Objekts, weil er sich zur Behandlung durch wissenschaftliche Techniken eignet. Sicher haben Allen H. Barton und Paul F. Lazarsfeld recht mit der Feststellung, daß Ausdrücke wie „conspicuous consumption"' oder „white-collar crime" auf alltagspraktische Objekte nicht rückführbare spezifische Objekte bilden, insofern sie die Aufmerksamkeit auf Tatbestände lenken, die zwar bekannt sind, dadurch aber, daß sie in einen Zusammenhang gestellt werden, einen neuen Sinn gewinnen; 62 doch stellt die Notwendigkeit, besondere Bezeichnungen zu entwickeln, die auch dann, wenn sie aus Wörtern der Alltagssprache zusammengestellt sind, neue Objekte bilden, indem sie neue Beziehungen zwischen verschiedenen Aspekten der Dinge herstellen, kaum mehr dar als ein Indiz für die erste Stufe des erkenntniskritisch bestimmten Bruchs mit den präkonstruierten Begriffen der Spontansoziologie. Selbst jene Begriffe, die den Begriffen der Alltagserfahrung am meisten zuwiderlaufen, verfügen, wenn sie isoliert auftreten, nicht über die Kraft, sich systematisch gegen die systematische Logik der Ideologie zu sperren: Gegen die analytische und formale Präzision der sogenannten operationellen Begriffe steht die synthetische und reale Präzision der deshalb als „systemisch" bezeichneten Begriffe, weil ihre Anwendung den fortwährenden Bezug auf das vollständige System ihrer wechselseitigen Beziehungen voraussetzt. 63 Flin wie immer par-

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Es ist kein Zufall, daß soziologische Bereiche wie die Untersuchung der modernen Kommunikationsmedien oder der Freizeit sich gegenüber den Fragestellungen und Denkmustern der Spontansoziologie als besonders durchlässig erweisen. Neben der Tatsache, daß diese Gegenstände bereits zu den obligaten Themen der Konversation über die moderne Gesellschaft gehören, ist deren ideologische Betrachtung auch darauf zurückzuführen, daß der Intellektuelle auch noch bei der Analyse des Verhältnisses der einfachen Bevölkerung zur Kultur sich zu sich selbst verhält. Im Verhältnis der Intellektuellen zur Kultur steckt das ganze Problem der Beziehung des Intellektuellen zur Lage der Intellektuellen, und dieses wird niemals in dramatischer Form thematisiert als in der Frage seiner Verhältnisses zu den unteren Klassen als von der Kultur ausgeschlossenen Klassen. Λ. H. Barton und P. F. Lazarsfeld, „Einige Funktionen von qualitativer Analyse in der Sozialforschung", in: C. Hopf und F.. Weingarten (Hg.), Qualitative So^ialforschung, Stuttgart: Klett-Cotta, 1984, S. 47. Selbst ausschließlich durch ihren „operationalen" Charakter definierte Konzepte und Aussagen können lediglich logisch einwandfrei formulierte Vorbegriffe sein und als solche zu den systematischen Konzepten und theoretischen Aussagen in einem ähnlichen Verhältnis stehen wie präkonstruierte zu konstruierten Gegenständen. Allein den operationalen Charakter von Definitionen zu betonen schwört die Gefahr herauf, eine bloß

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2. Die Konstruktion des Objekts

tieller Forschungsgegenstand kann immer nur in Abhängigkeit von einer theoretischen Fragestellung definiert und konstruiert werden, mit der sich die Aspekte der Realität, die durch die ihnen gestellte Frage in einen Zusammenhang gebracht werden, systematisch befragen lassen.

2.1 Der empiristische Verzicht Es fällt leicht, heute vor dem Hintergrund einer ganzen Tradition der Reflexion über Wissenschaft dem Satz zuzustimmen, daß in jede Beobachtung und in jedes Experiment Hypothesen eingehen. Allerdings kann die Definition des wissenschaftlichen Vorgehens als eines Dialogs zwischen Hypothese und Experiment bzw. Erfahrung auch zur anthropomorphen Vorstellung eines Austausche verkommen, worin beide Seiten vollkommen symmetrische und austauschbare Rollen innehaben. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, daß vom Realen nie eine Initiative ausgehen kann: Nur wenn man es fragt, vermag es auch zu antworten. Bachelard postulierte in anderen Worten: „Der epistemologische Vektor [...] weist vom Rationalen zum Realen und keineswegs in die entgegengesetzte Richtung, wie es alle Philosophen von Aristoteles bis Bacon behauptet haben." [G. Bachelard, Text Nr. 22] Daran zu erinnern, daß „theoretische Überlegungen [...] die experimentelle Arbeit von der Planung des Versuchs bis zu den letzten Handgriffen [beherrschen]",64 oder auch, daß es „ohne sie [d. h. die Theorie] unmöglich [ist], nur ein einziges Instrument zu justieren, eine einzige Ablesung zu interpre-

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klassifikatorische Terminologie (Beispiel: S. C. Dodd, Dimensions of Society, New York: 1942, oder ders., „Operational Definitions Operationally Defined", American Journal of Sociology, 48 (1942—1943), S. 482 — 489) als wirkliche Theorie auszugeben, dabei die Frage des systematischen Charakters der vorgeschlagenen Konzepte und selbst deren theoretischer Fruchtbarkeit späteren Forschungen vorzubehalten. C. G. Hempel schreibt hierzu: „In der zeitgenössischen methodologischen Literatur der Psychologie und der Sozialwissenschaften wird das Bedürfnis nach ,operationalen Definitionen' oft unter Vernachlässigung der Forderung nach systematischer Bedeutung hervorgehoben und gelegentlich wird der Eindruck erweckt, daß der vielversprechendste Weg, das Wachstum der Soziologie als wissenschaftlicher Disziplin zu fördern, darin bestünde, einen großen Bestand an ,operational definierten' Termen von hoher Determinanz und Uniformität des Gebrauchs zu schaffen, wobei es der späteren Forschung überlassen bleibt, zu entdecken, ob diese Terme sich für die Formulierung fruchtbarer theoretischer Prinzipien eignen. Aber Begriffsbildung in der Wissenschaft kann nicht von theoretischen Überlegungen getrennt werden. In der Tat ist es genau die Herausarbeitung von Begriffssystemen mit theoretischer Bedeutung, die wissenschaftliche Erkenntnis fortschreiten läßt; solche Herausarbeitung erfordert wissenschaftliche Erfindungsgabe und kann nicht durch die — sicherlich unverzichtbare, aber auch definitiv nicht ausreichende — operationalistische oder empiristische Forderung nach empirischer Bedeutung alleine ersetzt werden." (C. G. Hempel, Grundlage der Begriffsbildung in der empirischen Wissenschaft, a. a. O., S. 48.) K. R. Popper, Logik der Forschung, a. a. O., S. 72.

Wissenschaftlicher Tatbestand und Formen empiristischer Kapitulation

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deren", 65 ist deshalb notwendig, weil immer noch die Vorstellung vom Experiment als einer Validierungsanordnung ohne jeden theoretischen Inhalt herumgeistert, so in der weit verbreiteten Überzeugung, daß es Tatbestände gibt, die als solche die Theorie überdauern können, für die und durch die sie gemacht worden sind. Eigentlich sollte aber das unselige Schicksal, das den Begriff des Totemismus ereilt hat (das Levi-Strauss selbst mit dem der Hysterie verglichen hat), genügen, um den Glauben an die wissenschaftliche Unsterblichkeit der Tatbestände zu zerstören: Einmal von der Theorie aufgegeben, die sie zusammenhielt, werden die Tatbestände des Totemismus wieder zu jener Ansammlung von Elementen, aus der sie eine Theorie für eine bestimmte Zeit herausgehoben hatte und aus der sie eine andere Theorie nur wieder herausheben könnte, indem sie ihnen eine neue Bedeutung verliehe. 66 Wer einmal versucht hat, Material einer Sekundäranalyse zu unterziehen, das unter einer anderen — wie immer dem Anschein nach neutrale — Fragestellung erhoben wurde, der weiß, daß selbst die gehaltvollsten Daten nicht umfassend und adäquat auf Fragen antworten können, für und durch die sie nicht konstruiert worden sind. Keineswegs soll hier die Validität des Gebrauchs von Sekundärmaterial prinzipiell in Abrede gestellt werden; es soll vielmehr nur auf die wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen einer solchen Rückübersetzung verwiesen werden: Diese vollzieht sich immer auf der Grundlage (gut oder schlecht) konstruierter Tatbestände und nicht empirischer Daten. Eine derartige Arbeit der Interpretation, wie sie Dürkheim bereits in seiner Schrift zum Selbstmord beispielhaft vorgeführt hat, läßt sich sogar insofern als vorzügliche Einübung in die epistemologische Wachsamkeit verstehen, als sie eine methodische Darlegung der Problemstellungen und Konstruktionsprinzipien des Objekts voraussetzt, die gleichermaßen in das Material wie in dessen neue Aufbereitung eingehen. Diejenigen Forscher, die von der mythischen Dreiheit Erhebung — Daten — Computer Wunder erwarten, verkennen, was jene konstruierten Objekte — d. h. die mittels Fragebogen oder ethnographischer Bestandsaufnahme erhobenen wissenschaftlichen Tatsachen — von den Realobjekten unterscheidet, die, in Museen aufbewahrt, durch ihren „Surplus an Konkretheit" bei späteren Befragungen die Möglichkeit endlos erneuerter Konstruktionen bieten. An diese wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen nicht zu erinnern, birgt die Gefahr in sich, daß man das Gleiche auf unterschiedliche Weise und das Unterschiedliche auf gleiche Weise behandelt, Unvergleichbares vergleicht, den Vergleich des Vergleichbaren aber unterläßt — und dies alles deshalb, weil in der Soziologie selbst die objektivsten „Daten" durch die Anwendung von Klassifikationen (Altersklassen, Einkommensgruppen usw.) gewonnen werden, in die theo65 66

P. Duhem, Ziel und Struktur der physikalischen Theorien, a. a. O., S. 242. C. Levi-Strauss, Das Ende des Totemismus, übers, von H. Naumann, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1965, S. 12.

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2. Die Konstruktion des Objekts

retische Vorannahmen eingehen und die deshalb auch Informationen verfehlen, welche durch eine andere Konstruktion der Tatbestände erfaßt worden wären. 67 Der Positivismus, der wissenschaftliche Tatbestände wie empirische Gegebenheiten behandelt, ist entweder zu inkonsequenten, weil sich als solche verkennenden, Reinterpretationen verurteilt oder zu bloßen Bestätigungen, die unter weitestgehend ähnlichen technischen Voraussetzungen gewonnen werden. In beiden Fällen aber wird die methodologische Reflexion über die Bedingungen der Wiederholung zum Ersatz für die wissenschaftstheoretische Reflexion über die sekundäre Reinterpretation. Nur wer einem verstümmelten Bild von empirischem Vorgehen anhängt, kann die „Unterwerfung unter die Fakten" zum alleinigen Gebot erheben. Als Spezialist einer angefochtenen Wissenschaft ist der Soziologe in besonderem Maße der Versuchung ausgesetzt, sich des wissenschaftlichen Charakters seines Fachs dadurch zu vergewissern, daß er die Anforderungen, die er den Naturwissenschaften unterstellt, zu überbieten sucht. Reinterpretiert nach einer Logik, die wesentlich der der kulturellen Anleihe entspricht, führt das wissenschaftliche Gebot der Unterwerfung unter die Fakten schlicht zur Kapitulation vor dem empirisch Gegebenen. Jenen Praktikern der Humanwissenschaften, die dem von Nietzsche so genannten „Dogma von der unbefleckten Erkenntnis" noch immer anhängen, ist mit Alexandre Koyre ins Stammbuch zu schreiben, daß „das Experiment, für sich genommen, bei der Entstehung der klassischen Wissenschaft keine Rolle gespielt hat, es sei denn die eines Hindernisses"/' 8 Tatsächlich hat alles den Anschein, als vertrete der radikale Empirismus das Ideal, der Soziologe möge sich als solcher abschaffen. Die Soziologie wäre für die Versuchungen des Empirismus weniger empfanglich, könnte ihr nur mit Poincare nachdrücklich in Erinnerung gerufen werden, daß „die Tatsachen nicht sprechen". Und es ist vielleicht gerade der Fluch der Humanwissenschaften, daß sie es mit einem sprechenden Objekt zu tun haben. Denn beim Versuch, den Tatsachen die Problemstellungen und die theoretischen Konzepte zu entlocken, mit denen sich die Tatsachen konstruieren und analysieren lassen, besteht immer die Gefahr, daß der Soziologe sie dem Mund seiner Informanten entlockt. Um über deren Verhalten und die von ihnen selbst vorgebrachten Begründungen Aufschluß zu geben, ist es nicht damit getan, daß der Soziologe den Subjekten zuhört, ihre Äußerungen und Begründungen getreu aufnimmt. Damit riskiert er lediglich, daß er an die Stelle Vgl. P. Bourdieu und J.-C. Passeron, „La comparabilite des systemes d'education", in: R. Castel und J.-C. Passeron (Hg.), Education, democratic et developpement, Cahiers du Centre de sociologie europeenne, Nr. 4, Paris und Den Haag: Mouton, 1967, S. 20—58. 6" Λ. Koyre, Etudes galileennes, 1. Α l'aube de la science classique, Paris: Hermann, 1940, S. 7. Und weiter heißt es: „Die ,Experimente', auf die sich Galilei zu diesem Zeitpunkt oder später beruft, selbst jene, die er tatsächlich durchführt, sind und werden nie anderes sein als Gedankenexperimente" (a. a. O., S. 72). (p

Wissenschaftlicher Tatbestand und F o r m e n empiristischer Kapitulation

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seiner Vorbegriffe jene seiner Untersuchungspersonen setzt, oder ein v o m Gesichtspunkt der Wissenschaft und der Objektivität gleichermaßen falsches Gemisch aus Spontansoziologie des „Wissenschaftlers" und Spontansoziologie seines Untersuchungsobjekts. Bei der Befragung des Realen oder den Methoden zur Befragung des Realen nur auf Grundgegebenheiten zurückgreifen zu wollen, die doch erst durch Befragung hervorgebracht wurden, allerdings einer, die sich als solche verkennt und verleugnet, das dürfte einer der besten Wege sein, mit der L e u g n u n g , daß die Validierung Konstruktion voraussetze, ein Nichts zu validieren, das gleichwohl konstruiert wurde. Hunderte von Fällen ließen sich anführen, w o Soziologen, im Glauben, sich strikt an das G e b o t der Neutralität zu halten, da sie sich bei den Äußerungen der Subjekte doch nur an die Vorgaben ihrer Fragebogen halten, letztlich nichts anderes machen, als subjektive Urteile dem Urteil anderer Subjekte auszusetzen. Sie laufen damit Gefahr, die befragten Subjekte anhand von Urteilen einzuordnen, die sie selbst nicht einordnen können, oder für den Ausdruck einer grundlegenden F^instellung zu halten, was nur oberflächliche Ansichten sind, die sich lediglich der Notwendigkeit verdanken, auf Fragen ohne innere Notwendigkeit zu antworten. Mehr noch: D e m Soziologen, der es ablehnt, seine Distanz zum Realen und seine Einwirkung auf das Reale in bewußter und kontrollierter Weise zu rekonstruieren, kann es nicht nur passieren, daß er den Subjekten Fragen aufzwingt, die sich ihrer Erfahrung nicht stellen, und andere unterläßt, die sich ihr stellen; vielmehr kann er ihnen auch in vollkommener Naivität und in positivistischer Verwechslung der Fragen, die sich ihnen objektiv stellen, mit jenen, die sie sich bewußt stellen, die Fragen stellen, die kein anderer als er selbst sich im Hinblick auf sie stellt. Der Soziologe steht mithin vor der Q u a l der Wahl, wenn er, durch eine trügerische Philosophie der Objektivität in die Irre geführt, daran geht, sich als Soziologe aufzuheben. E s erstaunt nicht, daß der Hyperempirismus, der auf das Recht und die Pflicht der theoretischen Konstruktion zugunsten der Spontansoziologie verzichtet, auch zur Spontanphilosophie des sozialen Handelns findet, die dieses als den vor sich selbst transparenten Ausdruck eines bewußten und willentlichen Entschlusses begreift. In zahlreichen (zumal retrospektiven) Motivationsuntersuchungen wird implizit unterstellt, daß die Subjekte für einen Moment die objektive Wahrheit ihres Verhaltens zu erfassen vermögen (und davon eine adäquate und stete Erinnerung bewahren), so als ob ihre Vorstellung von den eigenen Entscheidungen und Handlungen nicht auch nachträglichen Rationalisierungen geschuldet wäre. 6 9 Sicher kann und soll man

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D e r B e g r i f f „ M e i n u n g " verdankt seinen theoretischen wie praktischen E r f o l g sicher der Tatsache, daß er alle Illusionen der atomistischen Philosophie des D e n k e n s und der S p o n t a n p h i l o s o p h i e des Verhältnisses v o n D e n k e n und Handeln in sich z u s a m m e n f a ß t , a n g e f a n g e n mit der Illusion v o n der privilegierten Rolle des verbalen A u s d r u c k s als

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2. Die Konstruktion des Objekts

auch die irrealsten Reden, Erklärungen, Erläuterungen aufnehmen; immer unter der Voraussetzung allerdings, man sieht in ihnen nicht die Erklärung des Verhaltens, sondern einen Aspekt des zu erklärenden Verhaltens. Wann immer der Soziologe sich der Aufgabe entziehen zu können glaubt, die Tatbestände von einer theoretischen Problemstellung her zu konstruieren, unterwirft er sich einer Konstruktion, die er nicht kennt und deren er sich nicht bewußt ist, und am Ende erhält er nichts als der Phantasie entsprungene Aussagen, die die Subjekte nur zu dem einen Zweck ersinnen: Um für die Erhebungssituation gewappnet zu sein und auf artifizielle Fragen oder auch auf den Kunstgriff par excellence, nämlich das Fehlen von Fragen, zu antworten. Verzichtet daher der Soziologe auf sein erkenntniskritisches Privileg, so bestätigt er nur immer wieder die Spontansoziologie.

2.2 Hypothesen oder Prämissen Es ließe sich leicht zeigen, daß in jede wissenschaftliche Praxis, selbst und vor allem dann, wenn sie sich blind auf den blindesten Empirismus beruft, theoretische Prämissen eingehen und der Soziologe keine andere Alternative hat als die zwischen nichtbewußten, folglich unkontrollierten und unzusammenhängenden Fragestellungen und einem Korpus von methodisch konstruierten, auf die empirische Überprüfung hin entwickelten Hypothesen. Die explizite Formulierung von theoretisch untermauerten Hypothesen abzulehnen bedeutet zwangsläufig, in den Forschungsprozeß Prämissen einfließen zu lassen, die nichts anderes sind als die Vorbegriffe der Spontansoziologie und der Ideologie, d. h. Fragen und Konzepte, die man als soziales Subjekt hat, wenn man als Soziologe keine haben möchte. So zeigt Elihu Katz, inwieweit die Autoren der unter dem Titel The People's Choice veröffentlichten Erhebung außerstande waren, in ihrer Forschung, die auf einem Vorbegriff begründet war, nämlich dem der „Masse", verstanden als ein atomisiertes Publikum von Rezipienten, empirisch das bedeutsamste Phänomen in Sachen kultureller Diffusion zu erfassen: Den zweistufigen Kommunikationsfluß {two-step flow), der sich nur um den Preis einer Überwindung der Vorstellung der Öffentlichkeit als strukturlose Masse belegen ließ. 70 [Ε. KatText Nr. 23]

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Indikator für Handlungsdispositionen. Was Wunder, wenn jene Soziologen, die Meinungsumfragen blind Vertrauen schenken, kontinuierlich Gefahr laufen, Handlungserklärungen oder, schlimmer, Absichtserklärungen mit Handlungswahrscheinlichkeiten zu verwechseln. E, Katz, „The Two-Step Flow of Communication: An Up-to-date Report on an Hypothesis", Public Opinion Quarterly, 21 (1957) 1, S. 6 1 - 7 8 (vgl. Text Nr. 23): „Von allen Ideen in ,The People's Choice' allerdings ist die These des zweistufigen Kommunikationsflusses wahrscheinlich diejenige, die durch empirische Daten am wenigsten abgesichert ist. Und der Grund hierfür ist klar: In der Anlage der Studie war die Bedeutung, die zwischenmenschliche Beziehungen bei der Analyse der Daten annehmen

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Die soziologische Praxis kann sich den Prämissen der Spontansoziologie entziehen, ist damit aber noch lange nicht in der Lage, das empiristische Ideal voraussetzungsloser Aufzeichnung zu realisieren, allein schon deshalb nicht, weil sie Instrumente und Techniken der Aufzeichnung benutzt. Max Planck wies darauf hin, daß bereits die Entwicklung eines Meßinstruments nichts anderes heißt, als der Natur eine Frage stellen. Messen und Meßinstrumente und, allgemeiner, alle Operationen der soziologischen Praxis — von der Ausarbeitung eines Fragebogens und der Codierung bis zur statistischen Analyse — sind zugleich, als bewußt oder unbewußt vollzogene Verfahren der Konstruktion von Tatbeständen und von Beziehungen zwischen diesen, Theorien in actu. Die in ein praktisches Verfahren eingehende Theorie — Theorie der Erkenntnis des Gegenstands und Theorie des Gegenstands — unterliegt um so weniger der Kontrolle und ist damit dem je besonderen Gegenstand um so weniger angemessen, je weniger bewußt sie ist. Indem als Methodologie bezeichnet wird, was häufig nichts anderes ist als die Zehn Gebote der technischen Vorschriften, wird die im eigentlichen Sinn methodologische Frage geradezu vermieden: Nämlich die Frage, was die Behandlung, die die jeweiligen Techniken (seien sie nun metrisch oder nicht-metrisch) dem Objekt angedeihen lassen, in wissenschaftstheoretischer Hinsicht bedeutet, und was die Fragen, die man dem Objekt mit diesen Techniken stellt, in theoretischer Hinsicht bedeuten. Zum Beispiel kann eine dem Anschein nach so einwandfreie und unverzichtbare Technik wie die Zufallsauswahl das Untersuchungsobjekt vollkommen zerstören, nämlich dann, wenn dieses Objekt durch die Struktur der Gruppen geprägt ist, die die Zufallsstichprobe gerade vernichtet. So bemerkt Elihu Katz: „Aber für die Untersuchung des Teils des Einflußverlaufs, der mit den Kontakten zwischen den Leuten zu tun hatte, griff das Untersuchungs-Design zu kurz, da in ihm eine Zufallsstichprobe von Individuen vorgesehen war, die von deren gesellschaftlichem Umfeld absah [...] Da in einer Zufallsstichprobe jeder Mensch ja nur für sich selbst sprechen kann, mußten Meinungsführer in der Wahluntersuchung von 1940 durch SelbstEinschätzung ermittelt werden". Und weiter merkt er an, daß diese Technik würden, nicht vorgesehen. Wenn man von der Vorstellung eines atomisierten Publikums ausgeht, die für so viele Forschungen über Massenmedien typisch war, ist es in der Tat überraschend, daß zwischenmenschliche Einflüsse überhaupt die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich zogen." Um zu ermessen, wie stark ein bestimmter Aspekt eines Phänomens durch die jeweilige Technik ausgeschlossen werden kann, muß man sich nur klar machen, daß Agrarsoziologen und Ethnologen schon seit längerem die Logik des tivo-step flow erfaßt hatten. Beispiele für derartige wiederzuentdeckende Wiederentdeckungen gibt es zuhauf: Α. H. Barton und P. F. Lazarsfeld etwa erinnern daran, daß das Problem der „informellen Gruppen", das anderen Soziologen schon lange bewußt war, den Forschern der Western Electric erst recht spät aufgegangen war und dann als „überraschende Entdeckung" erschien (vgl. dies., „Einige Funktionen von qualitativer Analyse in der Sozialforschung", a. a. O., S. 48).

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„keinen Vergleich der Führer mit ihren jeweiligen Anhängern erlaubt, sondern nur ganz allgemein von Führern und Nicht-Führern." 71 Sichtbar wird an diesem Beispiel, daß selbst in die dem Anschein nach neutralste Technik eine implizite Theorie des Sozialen eingeht, nämlich die einer als „atomisierte Masse" begriffenen Öffentlichkeit, d. h. im vorliegenden Fall die Theorie, die bewußt oder unbewußt in die Forschung einfließt, welche diese Techniken — in gleichsam prästabilierter Harmonie — anwandte. 72 Eine andere Theorie des Gegenstandes (in eins damit eine andere Definition der Forschungsziele) hätte die Anwendung einer andersgearteten Stichprobe erforderlich gemacht, zum Beispiel das Klumpen-Verfahren: Indem dabei alle Riemente von ihrerseits durch eine Zufallsstichprobe gezogenen sozialen Einheiten (eine Fabrik, eine Familie, ein Dorf) untersucht werden, läßt sich das vollständige Netz der Kommunikationsbeziehungen studieren, die innerhalb dieser Klumpen bestehen können. Dieses Verfahren, im betreffenden Fall durchaus angemessen, ist freilich um so unwirksamer, je homogener der Klumpen ist und je mehr das Phänomen, dessen Variationen untersucht werden sollen, von dem Kriterium abhängt, nach dem der Klumpen definiert wurde. Daraus ist der Schluß zu ziehen: Alle statistischen Verfahren sind erkenntniskritisch zu hinterfragen. „Der besten (und übrigens auch der schlechtesten) Statistik ist nichts anderes als Antwort abzuverlangen als das, was sie sagt, und zwar in der Art, wie sie es sagt, und unter den Bedingungen, unter denen sie es sagt." 73 Um dem Gebot Simiands wirklich zu folgen und die Statistik nichts anderes sagen zu lassen als das, was sie sagt, muß man sich in jedem Einzelfall fragen, was sie in welchen Grenzen und unter welchen Bedingungen sagt und sagen kann. [F. Simiand, Text Nr. 24]

2.3 Die falsche Neutralität der Techniken: Konstruiertes Objekt oder Artefakt Der Imperativ der „ethischen Neutralität", den Max Weber der moralisierenden Naivität der Sozialphilosophie entgegenhielt, ist heute im Begriff, zu einem routinemäßigen Gebot des soziologischen Katechismus zu verkommen. 71 72

1

E. Katz, a. a. O., S. 64. C. Kerr und L. H. Fisher zeigen gleichfalls die Affinität von Technik und impliziten Prämissen in den Forschungen der Mayo-Schule: Die tagtägliche Beobachtung der face/o-/iZ(Ti?-Kontakte und interpersonalen Beziehungen innerhalb des Betriebs impliziert die diffuse Überzeugung, daß „die kleine Arbeitsgruppe die wesentliche Zelle in der Organisation des Betriebes [ist] und daß diese Gruppe und ihre Mitglieder hauptsächlich affektiven Determinationen gehorchen [...]. Das Mayo-System entspringt automatisch zwei wesentlichen Entscheidungen. Waren diese Entscheidungen einmal getroffen, war alles gegeben: die Methoden, der Interessenbereich, die praktischen Vorschriften, die für die Forschung zurückbehaltenen Probleme" und, vor allem: „die Gleichgültigkeit gegenüber Problemen von Klasse, Ideologie, Macht" („Plant Sociology: The Elite and the Aborigines", in: Μ. Komarovsky (Hg.), Common I'rontiers of the Social Sciences, New York: Free Press, 1957, S. 2 8 1 - 3 0 9 ) . F. Simiand, Statistique et experience. Remarques de methode, Paris: Riviere, 1922, S. 24.

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Glaubt man den platteren Darstellungen der Weberschen Regel, genügt die Wachsamkeit gegenüber affektiver Voreingenommenheit und ideologischer Verführung, um aller wissenschaftstheoretischen Fragen nach der Bedeutung der Begriffe und der Relevanz der Techniken ledig zu sein. Mit der Illusion, wonach „wertneutrale" Verfahren auch „wissenschaftstheoretisch neutral" sind, wird die Kritik einer soziologischen Arbeit — die der eigenen wie die der anderen — auf die allemal leichtere und fast immer sterile Prüfung ihrer ideologischen Prämissen und letzten Werte begrenzt. Häufig genug dient die endlose Debatte um die „Werturteilsfreiheit" nur als Ersatz für eine eigentlich erkenntniskritische Diskussion der „methodologischen Neutralität" der Techniken und stellt insofern der positivistischen Illusion neue Sicherheiten aus. Es gibt hier einen Verschiebungs-Effekt: Das Interesse an den ethischen Vorannahmen und letzten Werten oder Zwecken lenkt ab von der kritischen Prüfung der Theorie soziologischen Wissens, die in die elementarsten Handlungen der soziologischen Praxis eingeht. Wird ζ. B. das offene Interview nicht deshalb unter allen Verfahren der Datenerhebung so unmäßig gelobt, weil es sich als paradigmatische Verwirklichung der Neutralität präsentiert — auf Kosten etwa der ethnographischen Beobachtung, die bei Befolgung der Regeln ihrer Tradition das Ideal einer systematischen Bestandsaufnahme in einer realen Situation doch weitaus vollständiger zu realisieren vermag? Man darf die Gründe, die für jene Interview-Form angeführt werden, guten Gewissens in Zweifel ziehen, wenn man feststellt, daß weder die „Theoretiker" noch die Methodologen, noch die Benutzer dieser Instrumente, die doch sonst um Rat und Weisung nicht verlegen sind, sich noch nie methodisch mit den spezifischen Verzerrungen auseinandergesetzt haben, die eine derart künstliche soziale Beziehung herbeiführt: Werden deren implizite Prämissen nicht kontrolliert, d. h. unterstellt man soziale Subjekte, die alle gleichermaßen in der Lage sind, frei über alles zu sprechen, nicht zuletzt über sich selbst, und gleichermaßen fähig, ein zugleich zwanghaftes und maßloses Verhalten zur Sprache einzunehmen, dann provoziert das offene Interview, das die (im übrigen je nach Milieu und Situation unterschiedlich verbindliche) Reziprozität der alltäglichen Tauschbeziehungen durchbricht, bei den Subjekten ein verbales Artefakt. Wie künstlich dieses ist, hängt auch davon ab, wie weit die Beziehung, die die Subjekte aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit zur Sprache haben, und die künstliche, ihnen durch die Interview-Situation aufgezwungene Beziehung zur Sprache auseinanderliegen. Wenn man die formell neutralsten Techniken nicht hinterfragen will, so muß man notwendig die Augen unter anderem davor verschließen, daß Erhebungsverfahren sozial qualifizierte Techniken der Soziabilität sind. [L. Schat^mann und A. Strauss, Text Nr. 25] Die ethnographische Beobachtung, die sich zum Sozialexperiment so verhält wie die Tierbeobachtung unter natürlichen Bedingungen zum Tierexperiment im Labor, macht den fiktiven und zwanghaften Charakter der meisten sozialen Situationen

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2. Die Konstruktion des Objekts

sinnlich erfahrbar, die qua routinierter Praxis der Soziologie hervorgebracht werden, einer Praxis, die um so stärker dazu verleitet, die „Reaktion auf die Laborbedingungen" zu ignorieren, je mehr sie sich auf Labor und Laborinstrumente, auf Tests und Fragebögen reduziert. Wie es keine vollkommen neutrale Datenerfassung gibt, so auch keine neutrale Frage. Wer als Soziologe seine eigenen Fragen nicht soziologisch hinterfragt, kann keine wirklich neutrale Analyse der von seinen Fragen provozierten Antworten vornehmen. Nehmen wir eine dem Anschein nach eindeutige Frage wie: „Haben Sie heute gearbeitet?" Die statistische Analyse belegt, daß sie ganz andere Antworten hervorruft, je nachdem, ob man sie einem Bauern aus der Kabylei oder aus Südalgerien stellt, die doch, bezögen sie sich auf eine „objektive" Definition von Arbeit, d. h. auf jene, die die moderne Ökonomie den Wirtschaftssubjekten nahelegt, ähnliche Antworten liefern müßten. Nur wenn er zunächst über den Sinn seiner eigenen Frage nachdenkt, statt vorschnell auf die Widersinnigkeit oder die Unwahrhaftigkeit der Antworten zu schließen, hat der Soziologe einige Aussichten zu entdekken, daß die Definition von Arbeit, die in seiner Frage steckt, in unterschiedlicher Weise fern von jener ist, die in die Antworten der zwei Gruppen von Subjekten eingeht. 74 Erkennbar wird daran, wie eine Frage, deren Sinn dem Fragenden selbst nicht einsichtig ist, das Objekt, das sie zwangsläufig konstruiert, auch wenn sie dazu explizit nicht gestellt wurde, verdunkeln kann. [/. H. Goldthorpe und D. Lockwood, Text Nr. 26] Eingedenk der Tatsache, daß man irgend jemand irgend etwas fragen kann und irgend jemand fast immer guten Willens ist, um zumindest irgend etwas auf irgendeine — und sei es die irrealste — Frage zu antworten, ist die Gefahr groß, daß der Fragende, der sich, mangels einer Theorie des Fragebogens, nicht nach der spezifischen Bedeutung seiner Fragen fragt, in der Realität der erhaltenen Antworten allzuleicht eine Gewähr für den Realitätsgehalt seiner Fragen sieht: 75 Wer wie Daniel Lerner Angehörige aus dem Subproletariat unterentwickelter Länder nach ihrer Fähigkeit befragt, sich in die Helden ihrer Lieblingsfilme hineinzuversetzen, wenn nicht sogar nach ihrem Verhältnis zur Zeitungslektüre, läuft damit ganz offensichtlich Gefahr, einen bloßen flatus vocis zu erheben, dem keine andere Bedeutung zukommt als jene, die ihm der Soziologe durch

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P. Bourdieu, Travail et travailleurs en Algerie, 2. Teil, Paris und Den Haag: Mouton, 1962, S. 303 f. Die Sekundäranalyse von Material noch der naivsten Erhebung bleibt deshalb immer mehr oder minder möglich und legitim, weil die Befragten nur selten wirklich beliebig antworten und auch nur selten in ihren Antworten nichts von dem offenbaren, was sie sind: Fälle, in denen keine Antwort gegeben oder Antwort verweigert wird, können bekanntlich interpretiert werden. Allerdings setzt die Erfassung des Sinns, den sie trotz allem offenbaren, einen Vorgang der Bereinigung voraus, und wäre es nur, um die Frage herauszufinden, auf die sie tatsächlich geantwortet haben, die aber nicht notwendig der ihnen gestellten entspricht.

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die Behandlung als bedeutungsvolle Äußerung verleiht. 7 6 Wann immer der Soziologe sich über die Problemstellung im unklaren ist, die in seinen Fragen zum Ausdruck kommt, verbaut er sich das Verständnis der Problemstellung, der die Subjekte in ihren Antworten Ausdruck geben. Damit sind die Bedingungen für das Nichtwahrnehmen jener Fehlleistung erfüllt, die darin besteht, Realitäten schlicht als nicht vorhanden zu erklären, nur weil sie durch das Beobachtungsinstrument und die sozial konditionierte Absicht seiner Benutzer kaschiert werden. Auch ein Fragebogen ausschließlich mit geschlossenen Fragen garantiert nicht schon deshalb Eindeutigkeit der Antworten, weil er alle Untersuchungspersonen formal gleichen Fragen unterwirft. Voraussetzen, daß ein und dieselbe Frage für soziale Subjekte, deren kulturelle Praxis — klassenbedingt — recht unterschiedlich ist, den gleichen Sinn hat, hieße verkennen, daß die verschiedenen Sprachen nicht nur im Umfang ihres Wortschatzes oder im Abstraktionsniveau differieren, sondern auch in den Themen und Problemstellungen, die sie transportieren. Maxime Chastaings Kritik am „Sophismus des Psychologen" ist immer dann angebracht, wenn das Problem der unterschiedlichen Bedeutung außer acht gelassen wird, die die Fragen und Antworten je nach sozialer Lage und Position der Befragten wirklich aufweisen: „Der Student, der seinen Blickwinkel mit dem der untersuchten Kinder verwechselt, nimmt in die Untersuchung seine eigene Sichtweise auf, statt die der Kinder [...]. Wenn er fragt: ,Sind Arbeiten und Spielen das Gleiche?', oktroyiert er mit den in seiner Frage gegebenen Substantiven den für Erwachsene geltenden Unterschied auf, den er anscheinend in Frage stellt [...]. Wenn der Untersuchende nun die Antworten — entsprechend nicht den Wörtern, aus denen sie bestehen, sondern nach dem Sinn, den er ihnen verleihen würde, wäre er der Antwortende — in die drei Schubladen ,Spiel ist Leichtigkeit', ,Spiel ist Nutzlosigkeit', ,Spiel ist Freiheit' einordnet, dann zwingt er die Gedanken der Kinder in das Gehäuse seiner philosophischen Rubriken." 7 7 Um sich diesem sprachlichen Ethnozentrismus zu entziehen, fl

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D. Lerner, The Passing of Traditional Society, New York: Free Press, 1958. Ohne in eine systematische Kritik der ideologischen Voraussetzungen eintreten zu wollen, die in einen Fragebogen eingehen, von dessen 117 Fragen sich lediglich zwei auf die Beschäftigung und den sozio-ökonomischen Status beziehen (gegenüber 87 zu den Massenmedien: Film, Zeitung, Funk und Fernsehen), ist festzustellen, daß eine Theorie, die die objektiven Existenzbedingungen des Subproletariats und besonders die sie kennzeichnende allgemeine Instabilität berücksichtigt, durchaus über die Fähigkeit des Subproletariers, sich als Kleinhändler oder Journalist zu sehen, Aufschluß geben kann, ja sogar über die spezifische Modalität dieser „Projektionen", wohingegen die von Lerner vertretene „Modernisierungstheorie" außerstande ist, die Beziehungen des Subproletariers zu Arbeit und Zukunft zu erklären. Wie grobschlächtig und unvollkommen auch immer, sollte dieses Kriterium doch ermöglichen, ein ideologisches Instrument, das notwendig ein bloßes Artefakt hervorbringt, von einem wissenschaftlichen Instrument zu unterscheiden. M. Chastaing, „Jouer n'est pas jouer", a. a. O.

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reicht es nicht aus, wie wir gesehen haben, die beim offenen Interview erhobenen Statements einer Inhaltsanalyse zu unterziehen; denn damit besteht die Gefahr, daß man sich Begriffe und Kategorien der von den Subjekten benutzten Sprache aufzwingen läßt. Von den Präkonstruktionen der Sprache — der des Wissenschaftlers ebenso wie der seines Objekts — kann man sich nur freimachen, indem man eine Dialektik in Bewegung setzt, bei der die methodische Gegenüberstellung zweier Systeme von Präkonstruktionen zu den angemessenen Konstruktionen führt. 78 [ C . Levi-Strauss, Text Nr. 27; M. Mauss, Text Nr. 28; B. Malinowski, Text Nr. 29] Aus der Tatsache, daß die klassischen Verfahren der empirischen Soziologie zwangsläufig fiktive experimentelle Situationen schaffen, die sich von den im sozialen Leben fortwährend hervorgebrachten sozialen Experimenten grundlegend unterscheiden, sind noch nicht alle methodologischen Konsequenzen gezogen worden. Je stärker die untersuchten Verhaltensweisen und Einstellungen von den jeweiligen Umständen abhängen, um so größer ist die Gefahr, daß die Untersuchung unter den besonderen Umständen, die zur Untersuchungs-Situation geführt haben, ausschließlich Einstellungen und Meinungen erfaßt, die über die Grenzen dieser Situation hinaus keine Gültigkeit mehr besitzen. Zum Beispiel müssen Untersuchungen über Klassenverhältnisse, insbesondere solche über deren politische Aspekte, nahezu unausweichlich zu dem Schluß kommen, daß die Klassenkonflikte schwächer werden, weil die technischen Sachzwänge, denen sie unterliegen, dazu führen, Krisensituationen auszuschließen; sie sind daher schwerlich in der Lage, die aus einer derartigen krisenhaften Situation erwachsenden Verhaltensweisen zu erfassen oder zu prognostizieren. Wie Marcel Maget feststellt, muß man sich „auf die Geschichte stützen, um (mögliche) Konstanten von Reaktionen auf neue Situationen zu entdecken. Das historisch Neue fungiert als ,Reaktiv' zur Aufdeckung latenter Möglichkeiten. Darin liegt auch der Nutzen, die untersuchte Gruppe bei der Auseinandersetzung mit neuen Situationen zu beobachten, wobei es immer nur einen Notbehelf darstellt, sich hypothetisch mit solchen Situationen auseinanderzusetzen, da man die Fragen nicht endlos vermehren kann." 79 Gegen eine restriktive Definition der Verfahren der Datenerhebung, die ohne weiteres dem Fragebogen den Vorrang einräumt und ebenso kodifizierte und erprobte Methoden wie die der ethnographischen Forschung (mit ihren spezifischen Techniken der morphologischen Beschreibung, Technikkunde, Kartographie, Lexikologie, Biographie, Genealogie usw.) lediglich als nähe8

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So dürfen das offene Interview und die Inhaltsanalyse nicht als eine Art absoluter Standard verwendet werden; ihre Funktion beruht darin, ein Mittel an die Hand zu geben, um sowohl den Sinn der gestellten Fragen als auch die Kategorien zu kontrollieren, mit denen die Antworten analysiert und interpretiert werden. M. Maget, Guide d'etude directe des comportements culturels, C. N. R. S., Paris: 1950, S. XXXI.

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rungsweise Substitute für den Königsweg unter den Erhebungstechniken gelten lassen, ist allerdings der wissenschaftstheoretische Primat der methodisch-systematischen Beobachtung wieder herzustellen. 80 Denn der Fragebogen stellt keineswegs die neutralste und kontrollierteste Form der Datenermittlung dar; vielmehr setzt er eine Reihe von keineswegs immer gewollten Restriktionen, die um so problematischer sind, je weniger man sich ihrer bewußt ist: Um einen Fragebogen entwickeln und mit den dadurch produzierten Tatbeständen umgehen zu können, muß man wissen, was der Fragebogen macht, d. h. unter anderem, was er nicht kann. Einmal ganz abgesehen von den Fragen, die zu stellen die die Erhebungssituation regelnden sozialen Normen verbieten, abgesehen auch von den Fragen, die der Soziologe zu stellen unterläßt, weil er eine soziale Definition von Soziologie akzeptiert, die lediglich ein Abklatsch des in der Öffentlichkeit verbreiteten Bildes von der Soziologie als Referendum ist: Noch mit den objektivsten, auf das Verhalten bezogenen Fragen erhält man nie etwas anderes als das Ergebnis einer Beobachtung, nämlich der, die das Subjekt zu seinem eigenen Verhalten anstellt. So hat denn auch nur die Interpretation einen Wert, die von der ausdrücklichen Absicht geleitet wird, methodisch zwischen Handlung auf der einen Seite und Absichtserklärungen und Erklärungen des Handelns auf der anderen zu trennen, wobei letztere von Aufwertung durch Ubertreibung oder Unterlassung aus dem Interesse an Geheimhaltung bis zur Entstellung, Neuinterpretation und zu „selektivem Vergessen" reichen können. Verfolgt man eine solche Absicht, so setzt dies voraus, daß man diese Trennung tatsächlich wissenschaftlich vornehmen kann, entweder im Fragebogen selbst, durch einen besonderen Gebrauch dieser Technik (man denke ζ. B. an Budget- bzw. Zeitbudget-Erhebungen als Quasi-Beobachtung), oder aber durch die direkte Beobachtung. Man wird also zu einer Umkehrung der Beziehung geführt, die manche Methodologen zwischen dem Fragebogen, einem einfachen Inventar von Äußerungen, und der Beobachtung ethnographischen Typs, einem systematischen Inventar von Handlungen und kulturellen Objekten, herstellen: 81 Der Fragebogen ist lediglich ein Beobachtungsinstrument unter ande8(1

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Eine systematische Darstellung dieser M e t h o d o l o g i e findet sich im v o r e r w ä h n t e n W e r k v o n Marcel Maget. Indem sie alle ethnographischen Techniken der m i n d e r bewerteten K a t e g o r i e der qualitative analysis zuschlagen, sehen jene, die der quantitative analysis absoluten V o r r a n g einräumen, in ihnen z w a n g s l ä u f i g bloße Notbehelfe; in einer A r t m e t h o d o l o g i s c h e m Ethnozentrismus beziehen sie jene Techniken auf die Statistik als ihre Wahrheit, mit der Folge, daß sie in ihnen lediglich eine „Quasi-Statistik" ausmachen können, in der es dementsprechend „Quasi-Verteilungen", „ Q u a s i - K o r r e l a t i o n e n " und „empirische Quasi-Daten" gibt: „ f . . . ] die S a m m l u n g und Analyse v o n quasi-statistischen Daten [kann] wahrscheinlich systematischer gestaltet w e r d e n als dies in der Vergangenheit geschehen ist, w e n n die logische S t r u k t u r quantitativer F o r s c h u n g dabei in ihrem Wesen berücksichtigt w i r d , d. h., diese m u ß dem qualitativen Beobachter allgemeine Warnsignale und Richtungshinweise geben." ( Α . H. Barton und P. F. Lazarsfeld, „Einige F u n k t i o n e n v o n qualitativer A n a l y s e in der Sozialforschung", a. a. O., S. 72).

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ren, dessen methodologische Vorzüge — wie ζ. B. die Fähigkeit, homogene und statistisch aufbereitbare Daten zu sammeln — seine Beschränkungen auf erkenntnistheoretischer Ebene nicht verdecken sollten. So stellt er keineswegs das ökonomischste Verfahren zum Erfassen standardisierten Verhaltens dar, dessen streng „geregelter" Ablauf in hohem Grad vorhersehbar ist, sich deshalb auch mittels Beobachtung oder sachkundiger Befragung von Informanten erfassen läßt; vielmehr besteht bei stark ritualisiertem Gebrauch des Fragebogens auch die Gefahr, daß damit gerade dieser Aspekt des Verhaltens ignoriert oder durch einen Verschiebungseffekt bereits als der Erfassung nicht wert angesehen wird. 82 Sicher kommt es vor, daß Methodologen die Verwendung der klassischen Verfahren der Ethnologie empfehlen; aber da sie das Messen zum Maß aller Dinge erheben und die Meßtechniken zum Maß aller Technik, können sie darin nur Hilfsmittel für die ersten Phasen der Forschung sehen, „um auf Ideen zu kommen". 83 Sie verbauen sich damit die genuin wissenschaftstheoretische Frage nach den Beziehungen zwischen den Methoden der Ethnologie und denen der Soziologie. Diese wechselseitige Ignoranz ist der Weiterentwicklung beider Disziplinen abträglich, ebenso wie unreflektierte Schwärmerei günstig ist für unkontrollierte Anleihen — wobei die beiden Haltungen sich im übrigen nicht ausschließen. Die Einheit der Sozialanthropologie (in ihrer über die Ethnologie hinausgehenden Bedeutung) wiederherzustellen, setzt eine wissenschaftstheoretische Reflexion voraus, die auszumachen hätte, was bei den zwei Methodologien auf die jeweilige Fachtradition und die faktischen Merkmale der jeweils untersuchten Gesellschaft zurückführbar ist. Es steht außer Frage, daß die ungeprüfte Übernahme von Methoden und Konzepten, die bei der Untersuchung von Gesellschaften erarbeitet wurden, die keine Schrift und keine historische Überlieferung besitzen, nur in geringem Grad sozial differenziert sind und kaum Kontakte zu anderen Gesellschaften aufweisen, zu absurden Ergebnissen führen kann (man denke nur an gewisse „kulturalistische" Analysen sozial stratifizierter Gesellschaften); doch nicht weniger eindeutig muß man sich davor hüten, durch die Umstände bedingte Beschränkungen für immanente Schranken der Gültigkeit ethnologischer Methoden zu halten: Nichts verbietet die Anwendung derartiger

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Umgekehrt geht das Interesse, das die Ethnologen vorzugsweise den stark regelhaften Aspekten des Verhaltens entgegenbringen, häufig einher mit Desinteresse für die Statistik, die doch allein den Abstand zwischen Normen und wirklichem Verhalten zu messen vermag. Vgl. zum Beispiel Α. H. Barton und P. F. Lazarsfeld, „Einige Funktionen von qualitativer Analyse in der Sozialforschung", a. a. O. C. Selltiz, M. Deutsch und S.W. Cook unternehmen es, die Bedingungen zu definieren, unter denen sich eine fruchtbare Umsetzung der ethnologisch inspirierten Techniken realisieren ließe (Research Methods in Social Relations, überarbeitete einbändige Ausgabe, London: Methuen, 1959, S. 59-65).

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Methoden auf moderne Gesellschaften, vorausgesetzt, die impliziten Prämissen dieser Methoden hinsichtlich der Struktur der Gesellschaft und der Logik ihrer Veränderungen werden in jedem Einzelfall erkenntniskritisch reflektiert. 84 Noch in die grundlegendsten und scheinbar mechanischsten Verfahren der Informationsaufbereitung gehen nicht nur wissenschaftstheoretische Entscheidungen ein, sondern auch eine Theorie des Objekts. So ist bei der Codierung der Indikatoren für die soziale Position oder beim Zuschnitt der sozio-ökonomischen Gruppen (man denke an die verschiedenen Indices, zwischen denen man wählen kann, um den Grad der „Statuskristallisation" zu definieren) offenkundig eine bewußte oder unbewußte Theorie der sozialen Schichtung im Spiel. Wer — aus Unachtsamkeit oder Unterlassung — nicht alle Konsequenzen aus dieser Einsicht zieht, muß sich die gegen jene biederen Beschreibungen gerichtete Kritik gefallen lassen, die eine Auffassung von der Funktion der experimentellen Methode nahelegen, wonach diese in der Aufdeckung von Beziehungen zwischen empirischen „Gegebenheiten" oder vorweg festgelegten Merkmalen dieser „Gegebenheiten" läge. Um mit Dewey zu sprechen: „Es gibt nichts Trügerischeres als die vorgebliche Einfachheit wissenschaftlichen Vorgehens, wie es in logischen Abhandlungen dargestellt wird. Diese scheinbare Einfachheit erreicht ihren Gipfelpunkt, wenn Buchstaben benutzt werden [um die Gliederung des Objekts darzustellen — wenn in einem Fall ABCD, im anderen BCFG, in einem dritten CDEH gegeben ist, dann lautet der Schluß, daß selbstverständlich C das Phänomen determiniert], Sie sind ein wirksames Mittel zur Verschleierung der Tatsache, daß das fragliche Material immer hoch standardisiert ist, und damit auch, daß die ganze Last der induktiv-deduktiven Forschung in Wirklichkeit von den Operationen zur Standardisierung des Materials getragen wird". 8 5 Wenn die Methodologen den Regeln der Handhabung der bereits gebildeten Kategorien mehr Aufmerksamkeit widmen als den Verfahren zu ihrer Konstituierung, dann deshalb, weil das Problem der Konstruktion des Objekts — etwa die Gliederung der Bevölkerung in soziale Kategorien, Einkommensgruppen oder Altersklassen — nicht im voraus und ein für allemal gelöst werden kann. Weil in jede Taxonomie eine Theorie eingeht, wird eine nicht bewußt getroffene Gliederung notwendig, von einer nicht bewußten Theorie angeleitet, d. h. nahezu immer von einer Ideologie. Unter Voraussetzung kontinuierlich variierender Einkommen ζ. B. geht in die Gliederung einer Bevölkerung in Einkommensgruppen zwangsläufig eine Schichtungstheorie ein: „Man kann

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Eine derartige Substantifizierung der ethnologischen Methode vollzieht R. Bierstedt in seinem Artikel „The Limitation of Anthropological Method in Sociology", American Journal of Sociology, 54 (1948 - 1 9 4 9 ) , S. 23 - 30. J. Dewey, Logic: The Theory of Inquiry, London: Allen & Unwin, 1939, S. 431, Anm. 1.

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keine Linie ziehen, um auf unbedingte Weise Arme und Reiche, die Inhaber von Boden- oder Anlagekapital und die Arbeiter zu trennen. Mehrere Autoren wollen aus diesem Sachverhalt den Schluß ziehen, daß sich in unserer Gesellschaft nicht von kapitalistischer Klasse sprechen läßt, noch daß Bürger und Arbeiter gegenübergestellt werden können." 86 Da könnte man ja gleich behaupten — so Pareto weiter — daß es kein Altern gibt, da man nicht weiß, bei welchem Alter, in welchem Moment des Lebens Altsein beginnt. Zu fragen wäre schließlich, ob nicht auch die dem Anschein nach am ehesten auf alle Arten quantifizierbarer Beziehungen anwendbare Methode, die multivariate Analyse, in jedem Einzelfall erkenntniskritisch reflektiert werden müßte: Denn mit dem Postulat, daß sich nacheinander der Einfluß der verschiedenen Variablen des umfassenden Systems der Beziehungen, in dem sie wirken, isolieren und für jede einzelne Variable getrennt erfassen läßt, verbaut sich diese Technik gerade das Verständnis für die Wirkung eines Faktors als Folge seiner Einbindung innerhalb einer Struktur und sogar für die eigentlich strukturelle Wirkung des Faktorensystems. Wenn man sich mittels eines synchronen Schnitts ein durch ein punktuelles Gleichgewicht definiertes System vorgibt, ist überdies die Chance groß, daß man nicht mehr erkennt, was auf einen vergangenen Zustand des Systems zurückzuführen ist, daß man also beispielsweise nicht sieht, daß zwei ähnliche Elemente, wenn man sie in ihrer Gleichzeitigkeit betrachtet, recht unterschiedliche Bedeutung haben können, wenn sie an unterschiedlicher Stelle in einer Abfolge, ζ. B. in unterschiedlichen biographischen Verläufen, auftreten. 87 Allgemeiner: Der intelligente Gebrauch aller Rechenmethoden zur Analyse eines Beziehungskomplexes setzt ein klares Bewußtsein und Wissen von der jeweiligen Theorie des sozialen Tatbestandes voraus, die in die Verfahren eingeht, mittels deren jede Theorie den Typ von Beziehungen zwischen Variablen auswählt und konstruiert, der ihr Objekt definiert. So leicht sich die technischen Regeln des Gebrauchs der Techniken kodifizieren lassen, so schwer zu definieren und noch schwerer praktisch umzusetzen sind die Grundsätze, mit denen sich ein die logischen und soziologischen Prämissen bewußt berücksichtigender Gebrauch der Techniken bestimmen läßt. Was die „Metaprinzipien" angeht, d. h. die den richtigen Gebrauch der empirischen Methoden in der Soziologie normierenden Regeln, die der Theorie der soziologischen Erkenntnis zugrundeliegen, so stehen sie in einem derartigen Gegensatz zur spontanen Wissenschaftstheorie, daß sie unter Berufung gerade auf die Vorschriften fortwährend unterlaufen werden können, 86

87

V. Pareto, Cours d' economiepolitique, Bd. 2, Genf: Droz, 1964. Die abstraktesten Techniken zur Gliederung des Materials haben gerade die Wirkung, konkrete Einheiten wie Generation, Biographie und Karriere zu zerstören. Vgl. P. Bourdieu, J.-C. Passeron und M. de Saint-Martin, Rapport pedagogique et communication, Cahiers du Centre de sociologie europeenne, Nr. 2, Paris und Den Haag: Mouton, 1965, S. 4 3 - 5 7 .

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mit denen man sie zu verbreiten glaubt. So kann die methodologische Absicht, es nicht bei bewußten Äußerungen bewenden zu lassen, sowohl dazu führen, daß man glaubt, mit Hilfe von solchen Konstruktionen wie dem hierarchischen Modell der Meinungsanalyse auch noch von den beiläufigsten Aussagen zu den ihnen zugrundeliegenden Einstellungen vordringen, d. h. auf gleichsam magische Weise Bewußtes in Unbewußtes umwandeln zu können, wie auf der anderen Seite, daß man mit einem gleichen Vorgehen, das allerdings aus umgekehrten Gründen scheitert, die unbewußte Struktur etwa einer Zeitungsnachricht durch eine strukturale Analyse herauszufinden sucht, dabei aber im günstigsten Fall mit großem Aufwand auf banale Wahrheiten stößt, die den Produzenten der Nachricht völlig bewußt waren. Auch der Grundsatz der ethischen Neutralität, Gemeinplatz aller methodologischen Traditionen, kann in seiner routinisierten Form paradoxerweise zu dem wissenschaftstheoretischen Irrtum verleiten, den er doch verhindern soll. So wenn Soziologen der „populären Kultur" und der modernen Kommunikationsmittel unter Berufung auf eine verflachte Auffassung kultureller Relativität der Täuschung aufsitzen, sie folgten einer goldenen Regel der Ethnologie, wenn sie alle kulturellen Praktiken — vom Volkslied über den Modeschlager bis zur Bach-Kantate — unterschiedslos gleich behandeln, als ob der Wert, den ihnen die verschiedenen Gruppen zuschreiben, nicht grundlegend zu ihrer Realität gehörte, als ob die kulturellen Verhaltensweisen nicht immer an die Werte, auf die sie objektiv bezogen sind, rückgebunden werden müßten, um auf diese Weise ihren wirklich kulturellen Sinn zu restituieren. Der Soziologe, der von den Wertunterschieden absieht, die die sozialen Subjekte zwischen kulturellen Werken herstellen, übernimmt illegitimerweise — weil unkontrolliert — den Relativismus, zu dem sich der Ethnologe bei der Beobachtung der Kulturen verschiedener Gesellschaften verpflichtet: Die verschiedenen „Kulturen", auf die man in einer stratifizierten Gesellschaft stößt, sind objektiv aufeinander bezogen, weil die sozialen Gruppen sich nicht zuletzt durch den Bezug auf diese Kulturen aufeinander beziehen. Dagegen existiert die Beziehung zwischen Kulturen unterschiedlicher Gesellschaften ausschließlich durch den und in dem vom Ethnologen vorgenommenen Vergleich. Ein umfassender, mechanischer Relativismus führt zum gleichen Resultat wie der ethische Ethnozentrismus: In beiden Fällen setzt der Beobachter seine eigene Beziehung zu den Werten der von ihm Beobachteten (und dadurch zu diesen selbst als Wert) an die Stelle der Beziehung, die diese selbst objektiv zu ihren Werten haben. „Welcher Physiker", fragt Bachelard, „wäre wohl bereit, seine Forschungsmittel für den Aufbau einer Versuchsanordnung auszugeben, die keinen theoretisch bestimmten Zweck hat?" So manche soziologische Untersuchung dürfte diese Testfrage kaum bestehen. Die schlichte Unterwerfung unter eine gegebene Praxis, bei der ein Satz von Hypothesen auf eine Serie fragmenta-

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2. Die Konstruktion des Objekts

rischer und passiver Vorwegnahmen reduziert wird, führt zwangsläufig zur blinden Handhabung einer Technik, die automatisch Artefakte erzeugt, d. h. Konstruktionen, die der methodisch und bewußt, eben wissenschaftlich, konstruierten Tatsache Hohn sprechen. Der positivistisch verfahrende Soziologe, der sich weigert, zum wissenschaftlichen Subjekt seiner Soziologie zu werden, geht — wenn das Unbewußte ihm keinen Streich spielen sollte — einer Soziologie ohne wissenschaftliches Objekt nach. Zu vergessen, daß jeder Tatbestand, der zwar nach formal einwandfreien, aber nicht reflektierten Verfahren konstruiert wird, nur ein Artefakt sein kann, heißt ungeprüft von der Möglichkeit der Anwendung der Techniken auf die Realität des Gegenstandes zu schließen, auf den man sie anwendet. Es erstaunt wohl kaum, daß diejenigen, die verkünden, daß wissenschaftlich nicht existiert, was sich mit den verfügbaren Verfahren nicht erfassen und messen läßt, in ihrer Praxis nur das als erkenntniswürdig ansehen, was gemessen werden kann, oder, schlimmer noch, alles Meßbare als wissenschaftlich existent erklären. Unterstellen, daß alle Objekte ein und derselben Technik oder unterschiedslos allen Techniken unterworfen werden können, heißt vergessen, daß die verschiedenen Verfahren — in unterschiedlichem Umfang und mit unterschiedlichem Gewinn — nur dann zur Erkenntnis des Gegenstands beitragen können, wenn ihr Gebrauch durch eine methodische Reflexion über die Bedingungen und Grenzen ihrer Gültigkeit kontrolliert wird; ihre Gültigkeit folgt aus ihrer Angemessenheit an das Objekt, d. h. die Theorie ihres Objekts. 88 Diese Reflexion allein ermöglicht das schöpferische Wieder-Erfinden, das die Anwendung einer Technik idealiter erfordert, dieser „tote Geist, den der Geist zu neuem Leben erwecken muß"; und erst recht gilt dies für die Erfindung und Umsetzung neuer Techniken.

2.4 Analogie und Hypothesenbildung Nur wer sich dessen bewußt ist, daß jedes im eigentlichen Sinn wissenschaftliche Objekt mit Bedacht und mit Methode konstruiert ist, vermag das Objekt zu konstruieren und kennt das Objekt, das er konstruiert; und nur wer dies alles weiß, kann sich Fragen stellen nach den Verfahren zur Konstruktion von Fragen an das Objekt. Eine Methodologie, die sich nie dem Problem stellt, wie denn die zu prüfenden Hypothesen gebildet werden, ist, wie Claude Bernard feststellte, außerstande, „denjenigen neue und fruchtbare Ideen zu vermitteln, die keine haben; sie wird lediglich dazu dienen, die Ideen derjenigen zu lenken, die schon welche haben, und sie zu entwickeln, um daraus 88

Der monomane Gebrauch einer spezifischen Technik ist der häufigste und am häufigsten angeprangerte: „Geben Sie einem kleinen Jungen einen Hammer", heißt es bei Kaplan, „und Sie werden sehen, daß ihm alles einen Hammerschlag wert erscheint" (A. Kaplan, The Conduct of Inquiry, a. a. Ο., S. 28).

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dann die bestmöglichen Ergebnisse zu ziehen. [...] Die Methode an sich gebiert nichts." 89 In Absetzung vom Positivismus, der in der Hypothese im Prinzip nichts anderes sieht als das Produkt einer Spontangenese in unbelebter Materie, verbunden mit der naiven Hoffnung, daß die Kenntnis der Fakten oder besser noch die Induktion auf der Basis der Fakten gleichsam automatisch zur Formulierung von Hypothesen führt, macht die Eidetik Husserls ebenso wie die historische Analyse Koyres am paradigmatischen Vorgehen Galileis sichtbar, daß eine Hypothese wie die der Trägheit nur in einer Art theoretischem Putsch gewonnen und entwickelt werden konnte; einem Putsch, der durch die Suggestionen der Erfahrung in keiner Weise gestützt war und sich lediglich durch den beharrlichen Widerstand legitimierte, den die Einbildungskraft den Tatsachen und den naiven und gelehrten Vorstellungen von diesen entgegensetzte. 90 Eine derartige Exploration der Seitenwege des Möglichen, die eine entschiedene Distanzierung gegenüber den Tatsachen voraussetzt, rutscht allerdings leicht in Intuitionismus, Formalismus oder reine Spekulation ab, und sie kann sich auch nur in trügerischer Weise den Zwängen der Sprache oder den Kontrollen der Ideologie entziehen. Wie R. B. Braithwaite feststellt, „ist wissenschaftliches Denken in Modellen immer ein ,als ob'-Denken [...]; der Preis, der für ihre Verwendung gezahlt werden muß, ist ständige Wachsamkeit." 91 Mit der Unterscheidung von Idealtyp und dem durch Induktion gewonnenen Allgemeinbegriff, dem geistigen „Wesen" oder der impressionistischen Kopie des Wirklichen, wollte Weber die Funktionsregeln und 89

1)(l

91

C. Bernard, Introduction ä l'etude de la medecine experimental, a. a. Ο., Kap. II, Abschnitt 2. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Gesammelte Werke, Bd. VI, Den Haag: Nijhoff, 1962. Koyre, der für den experimentellen Scharfsinn Galileis nicht minder empfanglich ist als alle anderen Wissenschaftshistoriker, zögert gleichwohl nicht, den grundlegenden Antrieb der von Galilei in Gang gesetzten wissenschaftlichen Revolution in dessen Entschluß zu sehen, eine archimedische Physik zu konstruieren. F,s ist die Theorie, in diesem Fall die theoretische Intuition des Trägheitsprinzips, die der Erfahrung vorhergeht und sie dadurch ermöglicht, daß sie Experimente denkbar macht, mit denen sich die Theorie validieren läßt. Vgl. A. Koyre, Etudes galileennes, III. Galilee et la loi d'inertie, Paris: Hermann, 1966, S. 226 f. R. B. Braithwaite, Scientific Explanation, Cambridge: Cambridge University Press, S. 93. Es ist kein Zufall, daß Wissenschaften wie die Ökonometrie, die seit längerem schon auf Modellkonstruktionen zurückgreifen, sich der Gefahr der „Immunisierung" gegenüber Erfahrung, die jedem formalistischen, d. h. vereinfachenden Vorgehen inhärent ist, stärker bewußt sind als die Soziologie. H. Albert hat auf das „unbeschränkte Alibi" hingewiesen, das mit dem Gebrauch der ceteribus-paribus-K\iLuse\ gegeben ist: Die Hypothese wird unwiderlegbar, sobald jede der Hypothese konträre Beobachtung geänderten Faktoren zugeschrieben werden kann, die die Hypothese neutralisiert, indem sie sie konstant setzt (H. Albert, „Modell-Platonismus. Der neoklassische Stil des ökonomischen Denkens in kritischer Beleuchtung", in: E. Topitsch (Hg.), Logik der So^ialwissenschaften, Köln und Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 1965, S. 406 — 434).

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2. Die Konstruktion des Objekts

Gültigkeitsbedingungen eines Verfahrens explizieren, das jeder Wissenschaftler, auch ein hartgesottener Positivist, bewußt oder nicht bewußt anwendet, mit dem man aber nur bei sachkundigem Gebrauch angemessen umgehen kann. In Absetzung von den spekulativen Konstruktionen der Sozialphilosophie, deren unwiderlegbare, weil unüberprüfbare logische Feinheiten zu keinem anderen Zweck da sind als zum Aufbau eines wohlgeordneten deduktiven Systems, ist der Idealtypus, der nach Weber der „Hypothesenbildung die Richtung weisen soll", eine Konstruktion, an der die Wirklichkeit gemessen werden soll, ist also keine ungefähre, sondern eine angenäherte Konstruktion — mit der weiteren Bestimmung, daß durch sie gemessen und vereinfacht werden kann. Am Idealtypus läßt sich die Wirklichkeit messen, weil er sich an ihr mißt und um so genauere Gestalt gewinnt, je präziser er seinen Abstand zum Wirklichen faßt. [M. Weber, Text Nr. 30] Sind einmal die Unklarheiten bereinigt, die bei Weber mit der Gleichsetzung von Idealtypus und Modell, im Sinne von konstruiertem oder festgestelltem exemplarischen Fall oder Extremfall, noch bestehen, dann ist die Argumentation mit Extremfallen bei der Entwicklung von Hypothesen unersetzlich: Der Idealtypus kann ebenso für den theoretisch interessanten Fall in einer konstruierten Gruppe von Transformationen gelten (man denke ζ. B. an die Rolle, die bei Bouligand das rechtwinklige Dreieck zur Demonstration der „Pythagorizität" 92 spielt) wie für den paradigmatischen Fall, der entweder völlig fiktiv, als Extremfall oder durch einseitige Steigerung relevanter Merkmale konstruiert sein kann oder ein tatsächlich beobachtbares Objekt ist, das die größtmögliche Zahl der Merkmale des konstruierten Objekts aufweist. Den inhärenten Gefahren dieses Verfahrens ist nur zu entgehen, wenn der Idealtypus nicht an sich und für sich behandelt wird — wie ein Muster, das nur kopiert werden müßte, um Aufschluß über die gesamte Kollektion zu bekommen —, sondern als ein Element einer Transformationsgruppe, und zwar so, daß er auf alle Fälle einer Gattung bzw. Familie bezogen wird, deren einen privilegierten Fall er darstellt. Max Weber, der qua methodischer Fiktion ein System der Verhaltensweisen konstruiert, bei denen zur Verfolgung rational berechneter Zwecke die rationalsten Mittel eingesetzt würden, verschafft sich damit ein ausgezeichnetes Mittel zum Verständnis des Spektrums wirklicher Verhaltensweisen, die der Idealtypus durch Objektivierung ihrer jeweiligen Distanz zum reinen Typus zu objektivieren erlaubt. Selbst der im Baconschen Sinne eines „erhellenden" Falls (ostensive instance) verstandene Idealtypus, der das Gesuchte „unverhüllt und substantiell, übersteigert und auf der Höhe seiner Macht" zeigt, kann methodisch kontrolliert verwandt werden: So kann etwa der „Fehlschluß vom dramatischen Beispiel", oder die Verallgemeinerung des Extremfalls, durchaus vermieden werden, wenn am beobachtbaren Extremfall auf die Struktur des Systems aller isomorphen Fälle y2

Vgl. G. Bachelard, Le rationalisme

applique, a. a. Ο., S. 91—97.

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geachtet wird; 9 3 aufgrund dieser Logik hebt Mauss den Potlatsch als übersteigerte Form aus der Gattung der totalen und agonistischen Tauschakte heraus; sie macht es auch möglich, den Studenten der Literaturwissenschaften aus bürgerlichem Haus, aus Paris, mit einem Hang zum Dilettantismus, als zulässigen Ausgangspunkt für ein Modell zu nehmen, das die möglichen Beziehungen zwischen der soziologischen Wahrheit über die Lage der Studenten und ihrer ideologischen Verklärung konstruiert. Der ars inveniendi muß es folglich um die Bereitstellung der technischen Mittel gehen, mit denen sich auf methodische Weise Hypothesen bilden und zugleich in Kenntnis der damit verbundenen Gefahren die entsprechenden Risiken so gering wie möglich halten lassen. Dem Denken in Analogien, das vielen Wissenschaftstheoretikern als wichtigstes Prinzip wissenschaftlicher Erfindung gilt, kommt in der Soziologie eine besondere Rolle zu, da ihre Besonderheit nicht zuletzt darin gründet, daß sie ihr Objekt nur durch ein vergleichendes VorgehenM zu konstituieren vermag. Will der Soziologe über die rein idiographische Betrachtung von Fällen hinauskommen, die sich nicht von selbst erklären, muß er die Hypothesen mit möglichen Analogien multiplizieren, bis er die Klasse der Fälle rekonstruiert hat, die den betreffenden Fall erklärt. Und zur Bildung dieser Analogien selbst darf er legitimerweise auf die Hypothese von Strukturanalogien zwischen den sozialen Phänomenen und solchen Phänomenen zurückgreifen, die bereits von anderen Wissenschaften, beginnend mit den nächststehenden wie Linguistik, Ethnologie, aber auch der Biologie, dargestellt worden sind. Wie Dürkheim feststellt, „ist

93

1,4

So wird für Goffman die psychiatrische Anstalt verständlich, indem er sie in die Reihe der totalen Institutionen, wie Kasernen oder Internate, einordnet: Der privilegierte Fall innerhalb der konstruierten Reihe kann mithin jener sein, der, isoliert genommen, durch seine nach offizieller Lesart humanitären Funktionen am wirkungsvollsten die Logik des Systems der isomorphen Fälle verschleiert (vgl. E. Goffman, Asyle. Über die sociale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insasssen, übers, von N. Lindquist, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1972). Vgl. zum Beispiel G. Polya, Induction and Analogy in Mathematics, Princeton (Ν. J.): Princeton University Press, 1954, Bd. I und II. Bereits Dürkheim legte Prinzipien der Reflexion über den richtigen Gebrauch der Analogie nahe: „Der Fehler der Biosoziologen besteht also nicht darin, den Vergleich gebraucht, sondern ihn mißbraucht zu haben. Sie wollten die Gesetze der Soziologie nicht durch die der Biologie überprüfen, sondern die ersteren aus der letzteren herleiten. Derlei Schlüsse sind wertlos; denn wenn sich auch die Gesetze des Lebens in der Gesellschaft zeigen, so doch in neuen Formen und mit spezifischen Merkmalen, über die die Analogie keine Aufschlüsse geben kann, denen vielmehr einzig durch direkte Beobachtung beizukommen ist. Hätte man hingegen damit begonnen, gewisse Bedingungen der sozialen Organisation mit Hilfe soziologischer Verfahren zu bestimmen, so wäre es durchaus legitim gewesen, des weiteren zu untersuchen, ob diese Bedingungen nicht zum Teil Ähnlichkeiten mit denen der animalischen Organisation aufweisen, wie sie der Biologe seinerseits bestimmt. Man mag sogar annehmen, daß alle Organisationen gemeinsame Merkmale haben müssen, die zu isolieren nicht nutzlos ist." (K. Dürkheim, „Individuelle und kollektive Vorstellungen", a. a. O., S. 45.)

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es niemals uninteressant zu untersuchen, ob ein Gesetz, das für einen Tatsachenbereich aufgestellt wurde, sich nicht mutatis mutandis anderswo auffinden läßt; eine solche Gegenüberstellung kann sogar dazu dienen, das Gesetz zu bestätigen und seine Tragweite deutlicher zu machen. Kurz, die Analogie ist eine legitime Form des Vergleichs, und der Vergleich das einzig taugliche Mittel, über das wir bislang verfügten, um zum Verständnis der Dinge zu gelangen." 9 " Kurzum, der Vergleich auf der Grundlage der Hypothese von Analogien ist nicht nur das wichtigste Instrument für den Bruch mit den präkonstruierten Gegebenheiten, die immer wieder an und für sich selbst behandelt werden wollen; er ist vielmehr auch Grundlage der hypothetischen Konstruktion von Beziehungen zwischen den Beziehungen.

2.5 Modell und Theorie Nur wenn man sich gegen die von den Positivisten, den Stammbenutzern des Begriffs, entwickelte Definition des Modells sperrt, lassen sich diesem die Eigenschaften und Funktionen zuweisen, die gewöhnlich der Theorie 9 6 zugebilligt werden. Sicher ist es nicht unberechtigt, als Modell jedes System von Beziehungen zwischen ausgewählten, abstrakt vereinfachten Eigenschaften zu bezeichnen, das explizit zu Zwecken der Beschreibung, Erklärung oder Prognose entwickelt wird und damit auch uneingeschränkt kontrollierbar bleibt; Bedingung bleibt jedoch, daß man darauf verzichtet, mit den Obertönen des Terminus zu spielen, mit denen man zu verstehen geben würde, daß das Modell in diesem Fall mehr sein kann als eine das Wirkliche lediglich tautologisch wiedergebende Kopie, die, wenn lediglich durch Anpassung und Extrapolation gewonnen, keineswegs zu den Grundprinzipien der von ihr imitierten Realität vordringt. Duhem warf den „mechanischen Modellen" Lord Kelvins vor, nur oberflächliche Ähnlichkeit mit den Fakten aufzuweisen. Als bloße „Darstellungsverfahren", die lediglich die Einbildungskraft ansprechen, können derartige Instrumente den Forschungsprozeß deshalb nicht leiten, weil sie im günstigsten Fall nicht mehr sind als die Gestaltung eines vorgängigen Wissens; sie verfügen auch über eine ausgeprägte Eigenlogik, die leicht dazu führt, die Suche nach der objektiven Logik zu hintertreiben, deren Konstruktion zur theoretischen Erklärung dessen nötig ist, was sie lediglich repräsentieren. 97 Manche wissenschaftlichen Formulierungen alltagspraktischer Vorbegriffe lassen an jene von Vaucanson und

95 96

97

Ebenda. In diesem ganzen Abschnitt wird „Theorie" im Sinne von „partieller Theorie des Sozialen" verwendet (vgl. oben, Abschnitt 1.7, S. 35 f.). Unter die unkontrollierten Modelle, die das Erfassen tieferliegender Analogien verhindern, sind auch diejenigen zu zählen, die die Sprache selbst noch in ihren abgestorbenen Metaphern transportiert (vgl. Abschnitt 1.4, S. 24 — 28).

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Cat entworfenen Automaten denken, die, in Unkenntnis der realen Funktionsprinzipien, auf Mechanismen aufgebaut waren, denen ganz andere Prinzipien zugrunde lagen und die deshalb auch nur die augenscheinlichsten Eigenschaften reproduzierten. Wie Georges Canguilhem feststellt, erwies sich in der Biologie der Gebrauch von Modellen erst dann als fruchtbar, als die nach der Logik der Herstellung und Weitergabe von Energie entworfenen mechanistischen Modelle durch kybernetische Modelle ersetzt wurden, die auf der Weitergabe von Information beruhen und damit an die Logik der Funktionsweise von Nervenkreisläufen anschließen. 98 Nicht zufallig mündet die Gleichgültigkeit gegenüber Prinzipien in einen Operationalismus, der seinen Ehrgeiz darauf beschränkt, „den Schein zu wahren", und dabei auch nicht davor zurückschreckt, für jedes Phänomen ein eigenes Modell vorzuschlagen oder für ein Phänomen gleich mehrere Modelle, die sich schon deshalb nicht widersprechen, weil ihnen als Produkt gelehrter Bastelei gleichermaßen jedes Prinzip fehlt. Die angewandte Forschung darf sich mit derartigen „Wahrheiten zu 40 %", wie Boas sie nannte, zufriedengeben; wer aber die ungefähre (und nicht angenäherte) Wiedergabe des Phänomens mit der Theorie der Phänomene verwechselt, erlebt unvermeidliche und unerklärliche Mißerfolge, unerklärlich jedenfalls so lange, wie eine zufallige Erklärungskraft nicht aufgeklärt wird. Den mimetischen Modellen, die — mit der Verwechslung von bloßer Ähnlichkeit und Analogie spielend, jenem Verhältnis zwischen Verhältnissen, das gegen allen äußeren Schein errungen und durch regelrechte abstrahierende Arbeit und gewissenhaft durchgeführten Vergleich konstruiert werden muß — lediglich die äußerlichen Ähnlichkeiten erfassen, stehen die analogischen Modelle gegenüber, die zu den verborgenen Prinzipien der von ihnen interpretierten Realitäten vorzudringen suchen. „Durch Analogie denken", heißt es im Wörterbuch der Academie Fra^aise, „bedeutet auf der Grundlage von Ähnlichkeiten oder von Beziehungen einer Sache mit einer anderen zu denken" oder vielmehr, wie Cournot berichtigt, „auf der Grundlage von Beziehungen oder von Ähnlichkeiten, insofern sie auf die Beziehungen verweisen. Denn beim analogischen Urteil richtet sich der geistige Blick lediglich auf die Ursache der Ähnlichkeiten: Die Ähnlichkeiten sind wertlos, wenn sie im Tatsachenbereich, in dem die Analogie Anwendung findet, nicht Beziehungen hervortreten lassen". 99 Die verschiedenen Verfahren der Hypothesenbildung lassen sich durch Formalisierung in ihrer Effizienz steigern. Die Formalisierung hat mehrere 1>ö

1)9

G. Canguilhem, „The Role of Analogies und Models in Biological Discovery", in: A. C. Crombie (Hg.), Scientific Change: Historical Studies in the Intellectual, Social and Technical Conditions for Scientific Discovery and Technical Invention, from Antiquity to the Present, Symposium on the History of Science, London: Heinemann, 1963, S. 507 — 520. Λ. Cournot, Izssai sur les fondements de nos connaissances et sur les caracteres de la critique pbilosophique, Paris: Hachette, 1912, S. 68.

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2. Die Konstruktion des Objekts

Funktionen: Sie kann klärend wirken als rigorose Kürzelschrift der Begriffe, kritisch als logischer Test im Hinblick auf die Stringenz der Definitionen und die Kohärenz des Systems der Aussagen; sie kann aber auch, unter bestimmten Umständen, eine heuristische Funktion erfüllen, d. h. die systematische Erforschung des Möglichen und die kontrollierte Konstruktion eines systematischen Satzes von Hypothesen, verstanden im Sinne eines vollständigen Schemas der möglichen Erfahrungen, gestatten. Ungeachtet der Tatsache, daß sich mittels der gleichermaßen automatischen wie methodischen Wirksamkeit der logischen oder mathematischen Symbole und Operationen, diesen — laut Marc Barbut — „Hilfsmitteln des Vergleichs schlechthin", die imaginäre Variation bis zum Äußersten treiben läßt, so ist doch auch ein auf Analogien begründetes Schließen in der Lage, selbst ohne jedes formale Raffinement, als Instrument des Entdeckungsprozesses zu fungieren, wenn auch mühsamer und weniger sicher. So, wie es am häufigsten gebraucht wird, ersetzt das Modell das in der Realität häufig nicht zu realisierende Experiment und ermöglicht damit, die Realität mit den Konsequenzen zu konfrontieren, die sich anhand dieses Gedankenexperiments vollständig, weil fiktiv, freilegen lassen: „In der Nachfolge von Rousseau und in einer Form, die ich für entscheidend halte, hat Marx gelehrt, daß die Sozialwissenschaft ebensowenig auf der Grundlage von Ereignissen aufbaut, wie die Physik von Gefühlsregungen ausgeht: das Ziel ist, ein Modell zu schaffen, seine Eigenschaften sowie die verschiedenen Reaktionen zu untersuchen, die es im Labor zeigt, um diese Beobachtungen dann bei der Interpretation dessen anzuwenden, was empirisch geschieht". 100 Ihre explikative Kraft gewinnen die Modelle aus ihren Konstruktionsprinzipien, nicht aus dem Grad ihrer Formalisierung. Sicher bildet, wie es häufig, von Leibniz bis Russell, belegt worden ist, der Rückgriff auf die „blinden Evidenzen" der Symbole einen hervorragenden Schutz gegen die blindmachenden Evidenzen der Intuition: „Symbole sind nützlich, weil sie die Dinge schwieriger machen. [...] Wir wollen wissen, ,was aus was deduziert werden kann'. Nun ist zu Beginn alles selbst-evident; und es ist schwer zu sehen, ob eine evidente Aussage aus einer anderen folgt oder nicht. Das Offensichtliche und das Richtige stehen miteinander auf dem Kriegsfuß. Aus diesem Grund erfinden wir neue und schwierige Symbole, so daß hier nichts mehr evident erscheint. Danach erfinden wir Regeln, um mit den Symbolen umzugehen, und alles wird mechanisch". 101 Allerdings hatten die Mathematiker weniger Gründe als die Soziologen, daran zu erinnern, daß die Formalisierung die Evidenzen des common sense auch bestätigen und nicht nur verwerfen kann.

100

101

C. Levi-Strauss, Traurige Tropen, übers, von E. Moldenhauer, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2 1989, S. 50 f. B. Russell, Mysticism and Logic, and Other Essays, London: Allen and Unwin, 1963, S. 61 (zuerst veröffentlicht als Philosophical Essays, London: Allen and Unwin, 1910).

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Man kann eine Gleichung für eine Kurve aufstellen, die durch alle Punkte eines Gesichts verläuft — so Leibniz. Die Berührung mit dem mathematischen Zauberstab macht aus einem wahrgenommenen noch kein konstruiertes Objekt; schlimmer: Gerade in dem Maße, wie die Symbole den Bruch mit der Erscheinungswelt symbolisieren, gewinnt das präkonstruierte Objekt eine illegitime Respektabilität, die es vor theoretischer Kritik schützt. Vor dem trügerischen Nimbus und Wunderwerk der Formalisierung bei fehlender wissenschaftstheoretischer Kontrolle ist zu warnen, weil sie in dem Maße, wie sie Aussagen, die blind der Spontansoziologie oder der Ideologie entnommen sein können, den äußeren Schein der Abstraktion verleiht, den trügerischen Gedanken nahelegt, man könne sich die Arbeit der Abstraktion ersparen, die allein in der Lage ist, augenscheinliche Ähnlichkeiten aufzulösen und verborgene Analogien zu entwickeln. Will man strukturelle Homologien erfassen, so muß man nicht unbedingt auf Formalisierungen zurückgreifen, um dies zu begründen und zu beweisen, daß man korrekt vorgegangen ist. Um die Voraussetzungen zu erkennen, die ein solches Verfahren möglich, legitim und fruchtbar machen, braucht man nur dem Ansatz Panofskys zu folgen, der ihn die Summa Thomas von Aquins mit der gotischen Kathedrale vergleichen läßt: Will man zu verborgenen Analogien vorstoßen, ohne jenem seltsamen Gemisch aus Dogmatismus und Empirismus, Mystizismus und Positivismus zu verfallen, das den Intuitionismus charakterisiert, darf man nicht in den Gegebenheiten der sinnlichen Anschauung das Prinzip suchen, das sie tatsächlich zu einer Einheit zusammenzufassen vermag; man muß vielmehr die zu vergleichenden Realitäten so aufbereiten, daß sie für den Vergleich verfügbar werden. Die Analogie zwischen der Summa und der Kathedrale stellt sich nicht auf der Ebene des Erscheinungsbildes her, sondern zwischen zwei Systemen intelligibler Beziehungen, nicht zwischen naiv wahrgenommenen „Dingen", sondern zwischen Objekten, die gegen den unmittelbaren Schein errungen und methodisch entwickelt worden sind. [E. Panofsky, Text Nr. 31] Ein theoretisch begründetes Modell erkennt man somit daran, daß es zwei miteinander verbundene Dinge zu leisten vermag: den Bruch mit dem Präkonstruierten und die Generalisierung. Es ist ein formaler Aufriß der Beziehungen zwischen den Beziehungen, die die konstruierten Objekte definieren, und kann daher auf Realitätsbereiche übertragen werden, die in ihrem Erscheinungsbild sehr unterschiedlich sind; ebenso führt ein solches Modell durch Analogie zu neuen Analogien, zu Grundlagen neuer Konstruktionen von Objekten. [P. Duhem, Text Nr. 32; N. Campbell, Text Nr. 33] Wie sich für den Mathematiker aus der Definition der Geraden als Kurve mit der Krümmung Null das Prinzip einer allgemeinen Theorie der Kurven ergibt — da sich die gekrümmte Linie besser verallgemeinern läßt als die Gerade —, so bietet auch das konstruierte reine Modell die Möglichkeit, unterschiedliche soziale Formen als Realisierungen ein und derselben Gruppe von Trans-

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formationen zu behandeln. Damit werden verborgene Eigenschaften zutage gefördert, die sich erst offenbaren, wenn alle Realisierungen wechselseitig in Beziehung gesetzt, d. h. auf das vollständige System der Beziehungen bezogen werden, in dem sich das Prinzip ihrer strukturellen Affinität äußert. 1 0 2 Erst dadurch gewinnen die Vergleiche zwischen verschiedenen Gesellschaften oder zwischen verschiedenen Subsystemen ein und derselben Gesellschaft ihre Produktivität, d. h. ihre generalisierende Kraft, im Gegensatz zu bloßen Annäherungen auf der Grundlage inhaltlicher Ähnlichkeit. In dem Maße, wie diese „wissenschaftlichen Metaphern" zu den Prinzipien der strukturellen Homologien vorstoßen, die in den Differenzen auf der Ebene der Erscheinungen untergegangen waren, bilden sie sozusagen „Miniaturtheorien", aber jedenfalls Theorien, insofern sie bei der Formulierung der generierenden und vereinheitlichenden Prinzipien eines Systems von Beziehungen den Anforderungen theoretischer Konstruktion voll und ganz entsprechen: Das sind Konsistenz auf der Ebene der Beweisführung und Produktivität auf der Ebene der wissenschaftlichen Erfindung. Als generative Grammatiken übertragbarer Schemata bilden diese „wissenschaftlichen Metaphern" den Ausgangspunkt für immer wieder neue Fragen und Infragestellungen; als systematische Realisierungen eines Systems von verifizierten oder zu verifizierenden Beziehungen zwingen sie zu einer ihrerseits nur systematisch vorzunehmenden Verifizierung; als bewußte Produkte einer Distanzierung von der Wirklichkeit führen sie doch immer wieder zu dieser zurück und ermöglichen es, an ihr die Eigenschaften zu messen, die nur, weil sie nicht wirklich sind, herausgearbeitet werden können: durch Deduktion. 1 0 3

102

103

Dasselbe Vorgehen, das darin besteht, den besonderen Fall oder selbst die Gesamtheit der realen Fälle als besondere Fälle eines idealen Systems von logischen Möglichkeiten zu konzipieren, kann selbst bei den konkretesten Operationen der soziologischen Praxis, wie der Interpretation einer statistischen Beziehung, dazu führen, daß ein Konzept wie „statistische Signifikanz" seinen Bedeutungsgehalt verändert: Wie in der Mathematik das Fehlen von Merkmalen als ein Merkmal angesehen werden konnte, so kann auch das Fehlen einer statistischen Beziehung zwischen zwei Variablen dann höchst signifikant sein, wenn man diese Beziehung innerhalb des vollständigen Systems der Beziehungen, zu dem sie gehört, betrachtet. Eine umfassende Bildung des wissenschaftlichen Geistes wäre in den Sozialwissenschaften notwendig, damit die Soziologen zum Beispiel in ihren Forschungsberichten häufiger von dem induktiven Vorgehen abgehen, das höchstens zu einer zusammenfassenden Bilanz führt, und, im Interesse einer systematischen Erklärung, die Gesamtheit der empirisch festgestellten Beziehungen von einem — oder mehreren — vereinheitlichenden Prinzip her reorganisieren, d. h. in ihrer Praxis dem theoretischen Anspruch Genüge tun, und wäre es auch auf der Ebene einer begrenzten Fragestellung.

Teil III: Angewandter Rationalismus 3. Der wissenschaftliche Tatbestand wird errungen, konstruiert, validiert: Die Hierarchie der Erkenntnisakte Der empiristische ebenso wie der formalistische oder der intuitionistische Irrtum nehmen ihren Ausgang von der Trennung der Erkenntnisakte und von einer verkürzten Vorstellung von den technischen Operationen, deren jede Bruch, Konstruktion und Validierung voraussetzt. Da auf der Verselbständigung der einzelnen Operationen beruhend, die doch ihre ganze Bedeutung und Fruchtbarkeit nur im Kontext eines auf das Ganze bezogenen Vorgehens gewinnen, ist die Debatte um den Wert von Theorie oder Messung, von Intuition oder Formalismus an und für sich zwangsläufig eine Scheindebatte.

3.1 Der Zusammenhang der Operationen und die Hierarchie der Erkenntnisakte Obwohl dem gängigen Bild des Forschungsprozesses als eines Zyklus von aufeinanderfolgenden Phasen (Beobachtung, Hypothesenbildung, empirische Prüfung, Theorie, Beobachtung usw.) insofern ein gewisser pädagogischer Nutzen zukommt, als mit ihm die Vorstellung einer Auflistung von Aufgaben, die entsprechend der Logik bürokratischer Arbeitsteilung gegliedert sind, durch die eines Zusammenhangs von wissenschaftstheoretisch bestimmten Operationen ersetzt wird, bleibt es dennoch in zweifacher Hinsicht trügerisch: Wenn man die Phasen des „Forschungs-Zyklus" als einander äußerliche Momente entwickelt, so wird damit der wirkliche Ablauf der Operationen nur unvollständig wiedergegeben, denn in Wirklichkeit ist in jeder einzelnen Operation der gesamte Zyklus präsent. Folgenreicher aber ist, daß in dieser Vorstellung die logische Ordnung der Erkenntnisakte — Bruch, Konstruktion, Validierung — verloren geht, die mit der chronologischen Ordnung der konkreten Operationen der Forschung nicht zusammenfallt. Daß ein wissenschaftlicher Tatbestand durch den Bruch errungen, daß er konstruiert und validiert wird, heißt nicht, daß jedem dieser Erkenntnisakte aufeinanderfolgende Operationen mit einem jeweils spezifischen Instrument entsprechen. 104 104

Indem man mechanisch diesen oder jenen Erkenntnisakt mit einer besonderen Technik verbindet — etwa den Bruch mit dem Distanzierungsvermögen des ethnologischen

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3. Angewandter Rationalismus

So ist ein theoretisches Modell, wie wir sahen, untrennbar zugleich Konstruktion und Bruch, insofern man, um Analogien in den Tiefenstrukturen konstruieren zu können, mit den Ähnlichkeiten auf der Ebene der Phänomene gebrochen haben muß; der Bruch mit den sichtbaren Beziehungen wiederum setzt aber die Konstruktion von neuen Beziehungen zwischen den Erscheinungen voraus. Daß die Erkenntnisakte voneinander unterschieden sind, wird insbesondere an einer falschen Praxis deutlich, für die, wie wir sahen, gerade das Weglassen dieses oder jenes Aktes charakteristisch ist. Deren hierarchische Integration aber definiert die richtige Praxis. Eine Analyse des Irrtums und seiner Bedingungen zeigt, was es kostet, einen der Erkenntnisakte zu übergehen; dabei läßt sich auch eine Hierarchie der Gefahren auf wissenschaftstheoretischer Ebene bestimmen, die sich aus der Abfolge der Akte Bruch, Konstruktion, Validierung ergibt: Das Experiment ist so viel wert wie die Konstruktion, die es prüft, und der heuristische Wert ebenso wie die Beweiskraft einer Konstruktion hängen davon ab, wie weit sie den Bruch mit dem äußeren Schein und dadurch die Erkenntnis des Scheins als solchen ermöglicht. Daraus folgt, daß es weder widersprüchlich noch eklektizistisch ist, gleichzeitig die Gefahren und den Wert einer Operation wie der Formalisierung oder selbst der Intuition zu betonen. Der Wert eines formalen Modells hängt davon ab, in welchem Grade die wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen des Bruchs und der Konstruktion erfüllt wurden: Wenn der Gebrauch von Symbolsystemen auch der Unterordnung unter die Spontansoziologie Vorschub zu leisten und sie zu verdecken vermag, wie wir gesehen haben, so kann er doch umgekehrt, bei angemessener Kontrolle der gegen die offensichtlichen Beziehungen konstruierten Beziehungen, vor dem Rückfall in den common sense schützen. Selbst die Intuition kann, hinlänglich kontrolliert, eine wissenschaftliche Funktion erfüllen: bei der Entwicklung von Hypothesen und der erkenntniskritischen Reflexion der anderen Operationen. Zweifellos wird der Intuitionismus zu Recht kritisiert, wenn er, ausgehend von der Überzeugung, in jedem Teil eines sozialen Systems komme ein und dasselbe Prinzip zum Ausdruck, in einer Art „zentraler Anschauung" die einheitliche und einzige Logik einer Kultur erfassen zu können glaubt und sich damit, wie so manche kulturalistische Deskription, die methodische Untersuchung der verschiedenen Subsysteme und die Frage nach ihren wirklichen wechselseitigen Beziehungen erspart. Wo jedoch das intuitive Erfassen, d. h. uno intuitu, der unmittelbar wahrnehmbaren Einheit einer Situation, eines Lebensstils oder

Vokabulars, die Konstruktion mit dem spezifischen Effekt des Formalismus oder die Validierung mit hochstandardisierten Formen der Befragung —, kann man sich dem Trugschluß hingeben, allen wissenschaftstheoretischen Anforderungen Genüge getan zu haben: Man hat sich ja, und sei es auf magische Weise, des geeigneten Instruments bedient.

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einer Existenzweise dazu führt, Eigenschaften und Beziehungen, die sich sonst nur sukzessive im Verlauf der Analyse preisgeben, auf ihre relevanten Beziehungen hin zu befragen, stellt es durchaus einen Schutz gegen die Atomisierung des Objekts dar, wie sie sich beispielsweise beim Rückgriff auf Indikatoren ergibt, die Äußerungen einer Einstellung oder eines Ethos nicht objektivieren können, ohne ihnen jeden inneren Zusammenhang zu rauben. 103 Damit trägt die Intution nicht nur zum Prozeß wissenschaftlichen Erfindens bei, sondern auch zur wissenschaftstheoretischen Kontrolle, insoweit sie in kontrollierter Form die soziologische Forschung an deren Anspruch gemahnt, die wechselseitigen Beziehungen, die die konstruierten Ganzheiten definieren, wiederherzustellen. Wissenschaftstheoretische Reflexion zeigt daher, daß sich die Hierarchie der Erkenntnisakte nur um den Preis der realen Aufspaltung der Forschungsoperationen, die den Intuitionismus so gut wie den Formalismus oder den Positivismus kennzeichnet, ignorieren läßt. Der angewandte Rationalismus bricht mit der spontanen Wissenschaftstheorie vor allem dadurch, daß er das Verhältnis von Theorie und Erfahrung umkehrt. Das elementarste Verfahren, die Beobachtung, die der Positivismus als um so korrektere Bestandsaufnahme beschreibt, je weniger theoretische Prämissen darin eingehen, ist vielmehr um so wissenschaftlicher, je bewußteren und systematischeren Charakter die theoretischen Grundsätze aufweisen, von denen sich die Beobachtung leiten läßt. Der Feststellung, daß es „für die Grammatik bereits einen ersten Erfolg darstellt, die Primärdaten der Beobachtung in korrekter Weise zu präsentieren", fügt Noam Chomsky weiter hinzu: „Zu bestimmen, welche Daten relevant sind, hängt ab von deren möglicher Einbindung in eine systematische Theorie; man kann von daher der Ansicht sein, daß noch die bescheidenste Ebene des Erfolgs nicht einfacher zu erreichen ist als die übrigen (...). Die gültigen und relevanten Daten zu ,lb

Es wäre nicht unnütz, den ganzen Komplex an Erfahrungen, Haltungen und Beobachtungsregeln, der sich im ethnologischen Imperativ der „Feldarbeit" zusammenfassen läßt, in die soziologische Praxis einzuführen, die in dem Maße, wie sie sich bürokratisiert, zwischen den, der die Untersuchung konzipiert, und die untersuchten Subjekte einen ganzen Apparat an ausführenden Hilfskräften und eine technische Apparatur schiebt. Sicher konstituiert die unmittelbare Erfahrung der Individuen und der konkreten Situationen, in denen sie leben — alltägliche Wohnverhältnisse, Landschaft, Gestik und Sprechweise —, für sich noch kein Wissen; aber sie kann doch das intuitive Band liefern, das zuweilen ungewöhnliche, aber systematische Hypothesen über die Beziehungen zwischen den Daten hervorbringt. Stärker als der Soziologe, für den eher die Distanz gegenüber seinem Gegenstand problematisch ist — was nicht immer einer wissenschaftslogisch bestimmten Distanzierung entspricht —, ist der Ethnologe wie alle, die auf teilnehmende Beobachtung zurückgreifen, der Gefahr ausgesetzt, den „menschlichen Kontakt" als ein Erkenntnismittel zu begreifen. Empfänglich gegenüber den Ansinnen und Verlockungen seines Gegenstandes, wie sich in den nostalgischen Beschreibungen von Orten und Menschen zeigt, muß er enorme Anstrengungen unternehmen, um eine Fragestellung zu entwickeln, mit der sich die einzigartigen Konfigurationen, die ihm die konkreten Gegenstände liefern, aufbrechen lassen.

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bestimmen ist nicht leicht. Das Beobachtete ist häufig weder relevant noch signifikant, und das, was relevant und signifikant ist, läßt sich in der Linguistik häufig genauso schwer betrachten wie in einem Physik-Labor oder irgendeiner anderen Wissenschaft." 106 Freud seinerseits bemerkt: „Der richtige Anfang der wissenschaftlichen Tätigkeit besteht vielmehr in der Beschreibung von Erscheinungen, die dann weiterhin gruppiert, angeordnet und in Zusammenhänge eingetragen werden. Schon bei der Beschreibung kann man es nicht vermeiden, gewisse abstrakte Ideen auf das Material anzuwenden, die man irgendwoher, gewiß nicht aus der neuen Erfahrung allein, herbeiholt." 107 Ein Beweis für den immanenten Theoriebezug der relevanten Beobachtung ist darin zu sehen, daß jeder systematische Versuch der Dechiffrierung, beispielsweise die strukturale Analyse eines Korpus von Mythen, in einer blind zusammengestellten Dokumentation zwangsläufig auf Lücken stößt, auch wenn die ersten Beobachter in ihrem Bemühen um voraussetzungslose Bestandsaufnahme eine erschöpfende Sammlung im Sinn hatten. Mehr noch, eine theoretisch untermauerte Lektüre bringt nicht selten „Fakten" zum Vorschein, die selbst denjenigen verborgen geblieben waren, die sie berichteten: So konnte Panofsky die auf dem Plan für die Chorhaube einer Kathedrale niedergeschriebene Wendung inter se disputando, tausendfach vor ihm gelesen und typisch für scholastische Dialektik, nur deshalb hervorheben, weil er sie zu einem Faktum machte und sich mit ihr von einer theoretisch begründeten Hypothese aus auseinandersetzte, nämlich der, wonach in der gotischen Architektur und in der scholastischen Kodifizierung der disputationes der gleiche Habitus des Dialektikers seinen Ausdruck finden könnte. 108 Was für die Beobachtung gilt, gilt ebenso für das Experiment, wenn auch die klassischen Darstellungen des Forschungs-Zyklus diese beiden Operationen als Anfangs- und Endpunkt eines in getrennte Phasen gegliederten Vorgehens ausweisen. Kein Experiment, in das nicht, wie gesehen, theoretische Prinzipien oder Prämissen eingingen: „Ein Versuch", schreibt Max Planck, „bedeutet die Stellung einer an die Natur gerichteten Frage, und eine

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108

N. Chomsky, Current Issues in Linguistic Theory, Den Haag und Paris: Mouton, 1964, S. 28. S. Freud, „Triebe und Triebschicksale", Gesammelte Werke, Bd. 10: Werke aus den Jahren 1913 — 1917, S. 210. Auch Auguste Comte hatte von der Rolle der Theorie keineswegs das positivistische Verständnis, das ihm seine Gegner gerne zuweisen: „Wenn auf der einen Seite jede Theorie sich auf Beobachtungen stützen muß, so ist doch auf der anderen Seite auch klar, daß unser Geist einer Theorie bedarf, um sich der Beobachtung hingeben zu können. Wenn wir beim Betrachten der Phänomene diese nicht sogleich mit Prinzipien in Verbindung bringen könnten, wäre es uns unmöglich, diese isolierten Beobachtungen zu kombinieren und folglich aus ihnen irgendeinen Nutzen zu ziehen; wir könnten sie noch nicht einmal im Gedächtnis behalten; zumeist blieben sie unserem Auge verborgen." (A. Comte, Cours de philosophie positive, a. a. O., Bd. 1, 1. Lektion, S. 14 f.) E. Panofsky, Gothic Architecture and Scholasticism, a. a. Ο., S. 87.

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Messung bedeutet die Entgegennahme der von der Natur darauf erteilten Antwort. Aber ehe man einen Versuch ausführt, muß man ihn ersinnen, d. h. man muß die Frage an die Natur formulieren, und ehe man eine Messung verwertet, muß man sie deuten, d. h. man muß die von der Natur erteilte Antwort verstehen. Mit diesen beiden Aufgaben beschäftigt sich der Theoretiker". 109 Auf der anderen Seite vermag allein das im Sinne einer „Bestätigung der Vernunft" gelungene Experiment der Theorie Erklärungswert und deduktive Kraft zu bescheinigen, d. h. deren Fähigkeit zu belegen, einen systematischen Komplex von Aussagen hervorzubringen, die sich mittels Überprüfung durch die Tatsachen bestätigen bzw. nicht bestätigen lassen.110 Allerdings gründet der theoretische Wert des Experiments wiederum nicht in der bloßen Übereinstimmung mit den Fakten: „Man muß", so G. Canguilhem, „in der Tat auch noch nachweisen können, daß die vorausgesagte Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zwischen einer Annahme und einer Beobachtung, nach der man, geleitet von der zur Richtschnur gemachten Annahme, gesucht hat, nicht auf eine — auch wiederholt auftretende — Koinzidenz zurückzuführen ist, sondern daß man zum beobachteten Tatbestand eben aufgrund der mit der Hypothese implizierten Methoden gelangt ist." 111 [G. Canguilhem, Text Nr. 34] Das bedeutet, daß die Fakten, die eine Theorie validieren, so viel wert sind wie die Theorie, die sie validieren. Das beste Mittel, von den Fakten die Antwort zu bekommen, die man haben will, besteht selbstredend darin, sie von einer „Theorie" aus zu befragen, die Fakten hervorbringt, welche nichts mehr sagen wollen, das der Mühe wert wäre, überhaupt gesagt zu werden. Das gilt für jene scheinwissenschaftlichen Ausarbeitungen von Vorbegriffen, die lediglich auf gewissermaßen maßgeschneiderte Fakten stoßen können, wie für bestimmte methodologische Übun-

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M. Planck, „Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft", in: ders., Vorträge und Erinnerungen, Stuttgart: Hirzel, s 1949, S. 376. Liegt die Besonderheit der positivistischen Wissenschaftstheorie in der Trennung von Faktenüberprüfung und theoretischer Ausarbeitung, aus der die wissenschaftlichen Tatsachen ihren Sinn gewinnen, so liegt es doch auf der Hand, daß die Comtesche Vorschrift, „sich immer nur Hypothesen auszudenken, die aufgrund ihrer Beschaffenheit in mehr oder minder ferner Zeit, aber doch unausweichlich positiv verifiziert werden können" (Λ. Comte, Cours dephilosophiepositive, a. a. Ο., Bd. II, 28. Lektion), zumindest negativ den wissenschaftlichen Diskurs von allen anderen unterscheidet. Bei Schuster, dessen These zufolge „eine Theorie nichts wert ist, wenn man nicht zeigen kann, daß sie falsch ist" (zit. bei L. Brunschvicg, L!experience humaine et la causalite physique, Paris: P. U. F., 3 1949, S. 432), vor allem aber bei K. R. Popper, der die „Falsifizierbarkeit" einer Theorie zum „Abgrenzungskriterium" von Wissenschaft erhebt, läßt sich die logische Argumentation finden, die dazu führt, die Widerlegung gegenüber der Bestätigung als Form erfahrungswissenschaftlicher Kontrolle zu präferieren (vgl. Logik der Forschung, a. a. O., S. 14 f., 47 ff.). G. Canguilhem, „Lemons sur la methode", gehalten 1941—42 an der nach ClermontFerrand ausgelagerten Philosophischen Fakultät von Straßburg (unveröffentlicht). Wir danken Herrn G. Canguilhem für die Genehmigung zum Abdruck des Textes.

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gen, die fürs Messen geschaffene Daten hervorbringen, gilt aber auch noch für jene theoretischen Arbeiten, die die Produktion qua Parthenogenese ihrer eigenen theoretischen Fakten allenfalls damit begründen können, was man in Paraphrasierung Nietzsches als „Dogma der unbefleckten Empfängnis" bezeichnen muß. 1 1 2 Das Objekt hält dagegen — so heißt es. Die Erfahrung erfüllt ihre Funktion nur in dem Maße, wie sie beständig das Realitätsprinzip gegen die Versuchung hält, sich dem Lustprinzip zu überlassen, das ebenso die unverbindlichen Kapriolen eines bestimmten Formalismus antreibt wie die allzu gefälligen Fiktionen des Intuitionismus oder die akademischen Exerzitien der reinen Theorie. Mit der Theorie und selbst der Hypothesenbildung ist nicht Schluß, wenn die Hypothese überprüft, nicht einmal, wenn sie verifiziert oder falsifiziert ist. Bei jeder wohldurchdachten empirischen Prüfung wird die Dialektik von Vernunft und Erfahrung deutlicher — vorausgesetzt freilich, daß man in der Lage ist, die Ergebnisse — auch die negativen — adäquat zu interpretieren, die diese Prüfung produziert, und sich nach den Gründen fragt, denen zufolge die Fakten recht haben, gegebenenfalls negativ zu antworten. Wenn Brunschvicg darauf verweist, daß die „Haltepunkte Punkte des Nachdenkens" sind, dann meint das nicht, daß der „unüberwindbare Schock der Erfahrung" 1 1 3 genügt, um gleichsam mechanisch eine Reflexion in Gang zu setzen, wenn der Entschluß zur Reflexion und zur Reflexion auf sich selbst als Reflektierendem fehlt. Wie Bertrand Russell ausführt, „besteht ein Verdienst des Beweises u. a. darin, daß er einen gewissen Zweifel an dem von ihm hervorgebrachten Ergebnis aufkommen läßt; und wenn eine Aussage in bestimmten Fällen bewiesen werden kann, in anderen aber nicht, gerät sie in den anderen Fällen in Verdacht, falsch zu sein". 114 Die Feststellung eines Scheiterns ist nicht weniger entscheidend als die Bestätigung — allerdings nur unter der Voraussetzung, daß sie zusammenfallt mit der Rekonstruktion der systematischen Gesamtheit der theoretischen Aussagen, innerhalb deren sie einen positiven Sinn gewinnt. „Es ist höchst ungewöhnlich", so Norman R. Campbell, „daß ein neues Gesetz durch Experiment, Beobachtung und Prüfung

1,2

113 114

Ist daran zu erinnern, daß jedes System von Aussagen, das wissenschaftliche Geltung beansprucht, der Prüfung durch die Realität zu unterziehen ist, so ist doch auch vor der Tendenz zu warnen, diesen wissenschaftstheoretischen Imperativ mit dem technologischen Imperativ zu identifizieren, der fordert, jede theoretische Formulierung dem jeweils herrschenden Stand der Techniken zu unterwerfen, mit denen sie sich angeblich im Augenblick ihrer Äußerung verifizieren läßt. Auf der anderen Seite darf aber auch keine theoretische Aussage als ein für allemal bewiesen gelten, da — wie C. G. Hempel bemerkt — „zumindest theoretisch die Möglichkeit neuer Erkenntnisse bestehen bleibt, die die gegenwärtigen Beobachtungen in Frage stellen und zur Zurückweisung der Theorie führen würden, die durch die Beobachtungen validiert wird" (C. G. Hempel, Aspects of Scientific Explanation, a. a. Ο., S. 84). L. Brunschvicg, Les etapes de la philosophie matbematique, Paris: Alcan, 1912. B. Russell, Mysticism and Logic, a. a. O., S. 74.

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der Ergebnisse entdeckt oder nahegelegt wird. Die meisten Fortschritte bei der Formulierung neuer Gesetze resultieren aus der Erfindung von Theorien, mit denen sich die alten Gesetze erklären lassen." 115 Kurzum, die Dialektik des wissenschaftlichen Vorgehens darf nicht auf einen — und sei es wiederholten — Wechsel zwischen unabhängigen Operationen reduziert werden, wobei dann die Verifizierung auf die Hypothesenbildung folgt und mit dieser in keinem anderen Verhältnis als dem der Konfrontation steht. Es gibt keine — und sei es auch noch so partielle — Operation, in der nicht die Dialektik von Theorie und Verifizierung in Gang gesetzt wird. Bei der Erarbeitung eines Code zum Beispiel müssen die Hypothesen, die in den Fragebogen eingegangen sind, in der Auseinandersetzung mit den zu analysierenden Tatsachen wieder aufgegriffen, spezifiziert und modifiziert werden, damit sie dem empirischen Test der Codierung und der statistischen Analyse unterzogen werden können: Die technische Anleitung, wonach der Code gleichzeitig mit dem Fragebogen entwickelt werden soll (mit dem Risiko, das zu Codierende auf das Codierbare, d. h. häufig Prä-Codierbare, zurückzuführen), impliziert eine starre Forschungslogik, führt sie doch dazu, eine der Gelegenheiten verschwinden zu lassen, in der die Kategorien der Datenerfassung den Daten angepaßt werden können. Ähnlich verlieren die unter formalen Gesichtspunkten untadeligen Stichprobenverfahren jede soziologische Bedeutung, wenn die Wahl der Auswahlverfahren unabhängig von den Hypothesen und den spezifischen Forschungszielen getroffen wird. Allgemeiner gesprochen, durch die Illusion, daß es Allzweckinstrumente gebe, wird der Forscher ermutigt, auf die Überprüfung der Validitätsbedingungen seiner Techniken in dem spezifischen Fall, in dem er sie benutzen soll, zu verzichten. Die technischen Kontrollen kehren sich gegen ihre eigene Intention, wenn sie zu dem Trugschluß führen, von der Kontrolle dieser Kontrollen könne abgesehen werden: Die methodologische Manie kann nicht nur lähmend wirken und sogar Fehler induzieren, und man kann sich mit ihr nicht nur Denken ersparen — dazu ist jede Methode da —, sondern auch das Nachdenken über die Methode. 116 Abgesehen davon, daß der Routine-Kleinkram der Praxis immer davon abhalten kann, Objekte in Augenschein zu nehmen, die nicht die Leistung der Forschungsinstrumente zur Geltung bringen, vergißt man darüber leicht, daß zum Erfassen bestimmter Fakten weniger eine Verfeinerung der Beobachtungs- und Meßinstrumente notwendig ist als die Kritik des in Routine erstarrten Gebrauchs dieser Instrumente. Hätte Uwarow seinen Assistenten werkeln lassen, der, um die Ordnung seines Laboratoriums besorgt, jeden Morgen die grau gefärbten locusta migratoria, die sich neben die grün gefärbten 1.5

1.6

N. R. Campbell, What is Science}, London: Methuen, 1921, S. 88. Vgl. auch J.-B. Conant, Modern Science and Modern Man, New York: Columbia University Press, 1952, S. 53. Vgl. in diesem Band G. Bachelard, Text Nr. 2.

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locusta danica verirrt hatten, an ihren Platz zurückstellte, wäre ihm das Faktum entgangen, daß die beiden Arten eigentlich nur eine waren und die locusta danica dann, wenn sie nicht mehr allein stand, graue Färbung annahm. Ist die Vermutung abwegig, daß, wie durch den Ordnungswahn des Assistenten Uwarows, auch bei dem wissenschaftstheoretisch unkontrollierten Gebrauch vieler traditioneller Techniken das wissenschaftliche Faktum vernichtet wird? Ähnlich dem Prestige des Theorie-Apparats kann auch die von der technischen Apparatur ausgehende Faszination das richtige Verhältnis zu den Fakten und zum Beweis durch die Fakten verhindern. Sich den Automatismen des Denkens zu unterwerfen ist nicht minder gefahrlich als die Illusion schöpferischen Tuns ohne Belege und Kontrolle. Die Verfeinerung der Techniken zur Tatsachenfeststellung und -Überprüfung führt, geht sie nicht mit verstärkter theoretischer Wachsamkeit einher, schließlich dazu, daß man immer besser immer weniger Dinge sieht, wenn nicht sogar dazu, daß man das Wesentliche übersieht, durch eines jener Versehen, die mit dem blinden Gebrauch von Techniken zur Schärfung und Kontrolle des Blicks funktional zusammengehen. [C. Wright Mills, Text Nr. 35]

3.2 Aussagensysteme und systematische Verifizierung Sind die Operationen der Praxis so viel wert wie die sie begründende Theorie, dann deshalb, weil die Stellung der Theorie in der Hierarchie der Forschungsoperationen darauf zurückzuführen ist, daß die Theorie den wissenschaftstheoretischen Primat der Vernunft gegenüber der Erfahrung aktualisiert. Es ist von daher kein Wunder, daß sie die grundlegende Voraussetzung für Bruch, Konstruktion und Validierung darstellt, und zwar kraft des sie definierenden systematischen Charakters: Nur eine wissenschaftliche Theorie vermag den Verlockungen der Spontansoziologie und den trügerischen Systematisierungen der Ideologie den organisierten Widerstand eines systematischen Korpus von Begriffen und Beziehungen entgegenzuhalten, das sich gleichermaßen durch die Kohärenz dessen, was es ausschließt, wie dessen, was es festlegt, definiert; 117 sie allein vermag ein System von systematisch aufeinander bezogenen Tatbeständen zu konstruieren [L. Hjelmslev, Text Nr. 117

Angesichts der Macht der Yorbegriffe, ob alltagssprachlicher oder wissenschaftssprachlicher Herkunft, die sich auf den von ihnen erzeugten systematischen Charakter der Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit zurückführen läßt, wäre die Hoffnung eitel, sie einen nach dem anderen widerlegen zu können. Historisch gesehen waren es immer systematische Theorien, die Illusionen mit ihrerseits systematischem Charakter überwinden konnten. Dies haben für die Physik sowohl T. S. Kuhn („The Function of Dogma in Scientific Research", in: A. C. Crombie (Hg.), Scientific Change: Historical Studies in the Intellectual, Social and Technical Conditions for Scientific Discovery and Technical Invention from Antiquity to the Present, Symposium on the History of Science, London: Heinemann, 1963, S. 347 ff.) als auch Ν. R. Hanson (Patterns of Discovery, Cambridge: Cambridge University Press, 1965) gezeigt.

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36]; und schließlich wird die Empirie nur durch die Theorie wirklich aussagekräftig, denn nur im Bezug auf einen systematisch entwickelten Satz von Hypothesen ist die empirische Widerlegung einer Hypothese wissenschaftlich folgenreich. Man möchte von der Soziologie sagen können, was Bachelard zur Experimentalphysik ausführte: „Die Zeit der zusammenhanglosen und beliebig veränderbaren Hypothesen ist vorbei, geradeso wie die der bizarren, isolierten Experimente. Von nun an bedeutet Hypothese Synthese." 118 Tatsächlich können bei einer pointillistischen Verifizierung, die eine diskontinuierliche Reihe von fragmentierten Hypothesen einer Serie von partiellen empirischen Tests unterzieht, nur Falsifizierungen ohne nennenswerte Folgen herauskommen. Wie bequem verfahrt etwa eine Auswertung, wenn sie die statistische Tabelle als Interpretationseinheit nimmt: Indem man sich die Frage nach dem Zusammenhang der Aussagen versagt, die sich der Tabelle oder jenen Tabellenreihen entnehmen lassen, deren jede einen maßgeschneiderten Kommentar als Dublette hinter sich herzieht, verhindert man, daß ein systematisches Korpus von Aussagen durch die Konfrontation mit jeder einzelnen Tabelle möglicherweise widerlegt wird. Nichts erhält das gute positivistische Gewissen besser als eine Vorgehensweise, bei der man von einer Beobachtung zu einer anderen springt, mit keinem anderen Gedanken als dem, daß dabei ja einmal ein Einfall kommen könnte; denn der Test auf globale Widerlegung, den etwa ein theoretisches Modell riskiert, wird ja ständig abgewiesen, und die isoliert genommenen Fakten haben dem diskontinuierlichen und immer wieder neu ansetzenden Fragen jener Dämmerzustände des wissenschaftstheoretischen Bewußtseins, in denen das „Noch-nicht-einmal-Falsche" gezeugt wird, nichts entgegenzusetzen. Die scheinbare Härte der Überprüfungstechniken hat hier keine andere Funktion als die, einen Rückzug zu verheimlichen. Gleich dem jungen Horace in Corneilles Drama sichert sich der Forscher einen leichten Sieg über die Fakten, indem er zunächst flieht, um sie dann einzeln anzugreifen. Geht in die Hypothese dagegen eine systematische Theorie des Wirklichen ein, kann die — in diesem Fall als theoretisch zu bezeichnende — empirische Prüfung ihre ganze Widerlegungskraft in systematischer Weise entfalten. Wie Duhem feststellt, „[kann] ein Experiment niemals zur Verwerfung einer isolierten Hypothese, sondern immer nur zu der einer ganzen theoretischen Gruppe führen". 119 Im Unterschied zu einer unzusammenhängenden Reihe von tf^-/£w-Hypothesen liegt der erkenntnistheoretische Wert eines Systems von Hypothesen in seiner Kohärenz; diese ist allerdings zugleich auch sein verwundbarster Punkt: Ein einziges Faktum kann es insgesamt in Frage stellen, andererseits läßt es sich auch nicht ohne weiteres, da um den Preis 118 119

G. Bachelard, Der neue wissenschaftliche Geist, a. a. O., S. 12. P. Duhem, Ziel und Struktur der physikalischen Theorie, a. a. O., S. 243.

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des Bruchs mit den Erscheinungsformen konstruiert, aufgrund des Augenscheins der Fakten oder der buchstabengetreuen Interpretation von Dokumenten bestätigen. In diesem Spiel um Alles oder Nichts setzt der Wissenschaftler bei der Auseinandersetzung mit den Fakten jederzeit alles dem Scheitern an den Fakten aus, was in seine Auseinandersetzung eingeht. Wenn es stimmt, daß wissenschaftliche Aussagen in ihrer vollkommensten Form gegen die Erscheinungsformen errungen werden und den theoretischen Akt voraussetzen, dessen Funktion darin besteht — wie Kant einmal sagt —, die Phänomene zu buchstabieren, damit sie als Erfahrung gelesen werden können, dann folgt daraus, daß sie nur dann als bewiesen gelten können, wenn das ganze System der durch — und nicht für — die zu validierenden theoretischen Hypothesen geschaffenen Fakten in sich stimmig ist. Fline solche Überprüfungsmethode, bei der die Kohärenz eines aus präzise gefaßten Tatbeständen konstruierten Systems als ihr eigener Beweis fungiert und zugleich die Beweiskraft der partiellen Beweise begründet, welche der Positivist zusammenhanglos handhabt, setzt natürlich die systematische Entscheidung voraus, die Fakten auf die sie als System konstituierenden Beziehungen hin zu befragen. Wenn also Erwin Panofsky das inter se disputando im Musterbuch von Villard de Honnecourt als „Beweisstück" nimmt, verkennt er keineswegs, daß diese Inschrift keine Antwort auf eine Tatsachenfrage darstellt — ζ. B. nach dem direkten Einfluß der Scholastiker auf die Architektur —, wie es die positivistische Historiographie möchte, für die das Fragen sich auf einen schlichten Fragenkatalog reduziert, dessen Fragen das Wirkliche eine nach der anderen mit Ja oder Nein beantwortet. Tatsächlich gewinnt dieses kleine Faktum seine Beweiskraft aus seinen Beziehungen zu weiteren Fakten, die ihrerseits als einzelne und unabhängig von den Beziehungen, die das Hypothesensystem zwischen ihnen herstellt, unbedeutend sind und erst als organisierte Glieder einer Serie ihren Wert erhalten: „Ob es sich um historische oder Naturphänomene handelt, die einzelne Beobachtung bietet nur dann den Charakter eines ,Faktums', wenn es mit analogen Beobachtungen verknüpft werden kann, so daß die gesamte Serie ,Sinn gewinnt'; der ,Sinn' kann also berechtigterweise als Kontrolle benutzt werden, zur Interpretation einer neuen einzelnen Beobachtung innerhalb desselben Phänomenenbereichs. Wenn sich jedoch diese einzelne Beobachtung unzweideutig dagegen sperrt, im Sinne der Serie interpretiert zu werden, und wenn erwiesen ist, daß kein möglicher Fehler im Spiel ist, dann muß der ,Sinn' in der Weise umformuliert werden, daß er auch die neue Beobachtung integriert." 120 [Ε. Wind, Text Nr. 37\ Die gleiche zirkuläre Bewegung macht jeder Soziologe, dem es darum geht, dem empirisch Gegebenen nicht seine eigenen Prämissen aufzuzwingen, wenn er bei der Auswertung einer Erhebung den Sinn jeder einzelnen der Fragen,

120

E. Panofsky, „Iconography and Iconology", in: ders., Meaning in the Visual Arts, New York: Doubleday, 1955, S. 35.

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mit denen er die Antworten provoziert und konstruiert hat, von der Gesamtheit der Antworten aus dechiffriert, zugleich aber auch den Sinn der Gesamtheit abhängig von dem neu formuliert, was er durch jede einzelne Antwort an Hinsichten gewinnt. Duhem beschrieb die Logik des Fortschritts der Physik nicht anders: Die Physik „ist ein symbolisches Bild, dem fortwährende Verbesserungen mehr und mehr Ausdehnung und Einheit geben; [...] während jedes Detail dieses Bildes abgeschnitten und isoliert vom Ganzen jede Bedeutung verliert und nichts mehr darstellt"; einem naiven Blick kann es nur „als ein monströser Wortschwall erscheinen, der nichts anderes als eine petitio principii auf die andere und einen circulus vitiosus auf den anderen häuft." 12 ' Die Kohärenz des Systems der Beweise als Beweis zu nehmen, nötigt zwangsläufig zum methodischen Zirkel·, es wäre aber zu einfach, darin nur einen Teufelskreis zu sehen, wie die Positivisten: Wenn sie diese Beweislogik unter Bezug auf eine analytische Definition der Verifizierung reinterpretieren, so können sie in dieser systematischen Konstruktion der Tatsachen nichts anderes erblicken als das Ergebnis einer vom Systemdenken inspirierten Manipulation der Daten. Darin dokumentiert sich die gleiche Blindheit, die andere etwa in einer strukturalen Analyse der Mythen nur eine Projektion der Denkkategorien des Forschers, wenn nicht sogar die Aufzeichnung eines projektiven Tests sehen läßt, und in der methodischen Entscheidung, jede der durch multivariate Analyse belegten statistischen Beziehungen abhängig vom System der Beziehungen zwischen den Beziehungen zu interpretieren, von dem jede Beziehung ihre Bedeutung erlangt, Voreingenommenheit. Die Beweiskraft einer empirisch festgestellten Beziehung ist nicht nur abhängig von der Stärke des statistischen Zusammenhangs: Die zusammengesetzte Wahrscheinlichkeit der überprüften Hypothese ist Funktion des vollständigen Systems der bereits belegten Aussagen (egal ob statistische Beziehungen oder Regelmäßigkeiten anderen Typs), d. h. Funktion jener „Beweiskette", wie es bei Reichenbach heißt, die „stärker ist als ihr schwächstes Glied, stärker sogar als ihr stärkstes Glied", 122 weil die Validität eines solchen Beweissystems sich nicht allein an der Einfachheit und Kohärenz der eingesetzten Prinzipien mißt, sondern mehr noch an Umfang und Vielfalt der berücksichtigten Tatsachen wie schließlich auch an der Mannigfaltigkeit der unerwarteten Konsequenzen, zu denen es führt [C. Darwin, Text Nr. 38]

3.3 Paare in der Wissenschaftslogik Bachelard zeigt, daß die Philosophien der Naturwissenschaften sich wie auf einem Spektrum verteilen — mit Idealismus und Realismus als den beiden Extremen und dem „angewandten Rationalismus" als zentralem Punkt. Nur 121 122

P. Duhem, Ziel und Struktur der physikalischen Theorien, a. a. Ο., S. 273 f. Λ. Kaplan, The Conduct of Inquiry, a. a. Ο., S. 245.

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dieser ist in der Lage, der Wahrheit der wissenschaftlichen Praxis zu ihrem Recht zu verhelfen, da nur er die „Werte der Kohärenz" und die „Treue zum Realen" miteinander verbindet: „Der Wissenschaftstheoretiker hat sich folglich dort zu halten, wo sich die Wege von Realismus und Rationalismus kreuzen. Von dort aus vermag er die neue Dynamik dieser beiden gegensätzlichen Philosophien zu erfassen, die doppelte Bewegung, mit der die Wissenschaft das Reale vereinfacht und die Vernunft kompliziert". [G. Bachelard, Text Nr. 39; G. Canguilhem, Text Nr. 40] Den fiktiven oder produktiven Formen des Dialogs zwischen symmetrischen Philosophien, die Bachelard für die Physik beschreibt, ließen sich mühelos entsprechende Formen zwischen den impliziten Philosophien der Humanwissenschaften zur Seite stellen, die ebenfalls auf der Grundlage von paarweise zugeordneten wissenschaftstheoretischen Positionen aufgebaut sind, sich wechselseitig um so leichter als Alibi nehmen und einen um so sterileren — wenn auch vehementen — Dialog führen, je weiter sie von der „zentralen Position" entfernt sind, d. h. von der wissenschaftlichen Praxis, innerhalb deren die Dialektik zwischen Vernunft und Erfahrung am ausgeprägtesten ist. Dabei würde deutlich, daß die konträren Standpunkte, die erbitterte wissenschaftliche Polemiken ausfechten, in Wirklichkeit komplementär sind: Die Auseinandersetzung mit dem Gegner dispensiert davon, die Diskussion mit ihm, will heißen: mit sich selbst, in der wissenschaftlichen Praxis zu führen. So kann die akademische oder prophetische Rhetorik der Sozialphilosophie im ungeordneten Wuchern der Monographien und partiellen Untersuchungen, mit allem, worauf sie dabei verzichtet, eine Rechtfertigung für ihre umfassenden Ambitionen und für ihre Verachtung sauberer Beweisführung sehen —, während der blinde Hyperempirismus eine Rechtfertigung α contrario in der Bloßstellung der inhaltsleeren Synthesen der Ideologie findet. Analog fühlt sich der Positivismus durchaus berufen, intuitionistische Positionen in ritueller Manier zu kritisieren, um sich doch nur dem Automatismus der Techniken zu überantworten, wenn nicht sogar paradoxerweise der Intuition — der Intuitionismus dagegen findet in der Trockenheit und im formalistisch Akkuraten der bürokratischen Forschungen des Positivismus ein Alibi für seine feuilletonistischen Variationen über unbestimmte Ganzheiten mit verschwommenen Konturen. 123 [E. Dürkheim, Text Nr. 41]

123

Bereits G. Politzer hat die Komplementarität und Komplizität zwischen dem technomanischen Rekurs auf die Labormethoden und dem Festhalten an einem theoretischen Traditionalismus in der Experimentalpsychologie der Vorkriegszeit ins Licht gerückt. Dieser tolle Zirkel von Introspektion und Experimentalismus weist gewisse Analogien auf zu dem Paar, das in der Soziologie das Festhalten an den Intuitionen der Spontansoziologie und der Rückgriff auf die schreckenerregende Magie eines mangelhaft begriffenen Symbolismus bilden.

Wissenschaftlicher Tatbestand und Hierarchie der Erkenntnisakte

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Dem äußeren Schein zum Trotz ist der Zusammenhang zwischen diesen Gegensatzpaaren so stark, daß sich nicht selten in nostalgischen Äußerungen oder Ausrutschern — die wissenschaftstheoretisch durchaus etwas zu bedeuten haben — von Verfechtern der einen oder anderen polaren Position dieser Zusammenhang von guten oder schlechten, bewußt oder unbewußt getroffenen wissenschaftstheoretischen Entscheidungen Bahn bricht; und er ist so stark, daß die Verselbständigung einer der Operationen der wissenschaftlichen Praxis zwangsläufig zum unbewußten oder schamvollen Rückgriff auf Substitute in Form der verworfenen Operationen führt. Wenn etwa der Positivismus den Intuitionismus aus den Forschungsphasen verbannt, die sich für technisches Raffinement besonders eignen, dann sieht er nicht — weil er die Kontrolle über seine Praxis auf die Kontrolle über seine Instrumente beschränkt —, daß er jetzt, wo er sich der Ressourcen der Theorie begeben hat, gezwungen ist, der Spontansoziologie sowohl die Begriffe zu entnehmen, die er in ausgetüftelte Indices übersetzt, als auch die Konzepte, in die er die subtilsten Ergebnisse seiner Manipulationen einsperrt (Liberalismus, Konformismus, Empathie, Befriedigung oder Teilhabe usw. 124 ). Verschwenderisch an Vorschriften und Rezepten, wo es um die Aufstellung und den Umgang mit dem Fragebogen geht, öffnen die Methoden-Handbücher der Intuition Tür und Tor, manchmal in der riskantesten Weise, wenn die Prinzipien der Hypothesenbildung oder der Entwicklung der Schemata zur Interpretation quantitativer Ergebnisse zu formulieren sind. Der proklamierte Gegensatz darf die untergründige Verbundenheit von Positivismus und Intuitionismus nicht verschleiern: Die Grundlage ihrer Erklärungen und das Prinzip ihrer Hypothesen schöpfen beide aus derselben Quelle, nur bei den Verifikationsverfahren divergieren sie. Um die These zu erhärten, daß der Intuitionismus insoweit die Wahrheit des Positivismus ist, als er ausbreitet, was der Positivismus unter dem Raffinement seiner Forschungsapparatur zu verbergen sucht, würde es genügen, bestimmte Klassiker der positivistischen Soziologie zu lesen. 125 Dem Intuitionismus wiederum, der meint, sich die Wege und

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Es läßt sich allgemein beobachten, daß dem Prinzip nach ausgeschlossene Verfahren unkontrolliert wieder in das wissenschaftliche Vorgehen eingeführt werden. Simiand hat gezeigt, daß sich Wirtschaftswissenschaftler, die sich nach eigenem Verständnis auf die Deduktion formaler Eigenschaften aus einem Modell beschränken, manchmal, beispielsweise bei der Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten, auf eine „bewußte oder unbewußte" Beobachtung berufen, „so daß der Rekurs auf die erfahrungswissenschaftliche Methode in diesem Fall von keinen Vorsichtsmaßnahmen und Garantien begleitet ist, die zu deren fachgemäßem und beweiskräftigem Gebrauch notwendig sind" (F. Simiand, „La methode positive en science economique", Revue de Metaphysique et de Morale, 16 (1908) 6, S. 8 8 9 - 9 0 4 ) . Es kommt sogar vor, daß hartgesottene Gegner der Intuition gewagten Vorgehensweisen des Intuitionismus — etwa jene, die Ruth Benedict dazu bringt, eine Reihe impressionistischer Formulierungen über den Charakter einer ganzen Kultur im Begriff des „apollinischen Musters" zusammenzufassen — die höchste Weihe eines methodo-

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3. Angewandter Rationalismus

Umwege der wissenschaftlichen Analyse ersparen und die realen Ganzheiten direkt erfassen zu können, unter Verwendung von Denkmodellen aus dem Arsenal der populären oder halb-wissenschaftlichen Soziologie, ist der Geschmack für das „kleine wahre Faktum" durchaus nicht fremd und so sucht er zuweilen, gleichsam als Huldigung an das Laster der Tugend, in einer Karikatur erfahrungswissenschaftlicher Beweisführung zu beweisen, daß auch er imstande ist, Beweise zu erbringen. Anders als es die spontane Erkenntnistheorie vorgibt, in der Positivismus wie Intuitionismus wurzeln und die jegliche intellektuelle Aktivität in die Alternative: Kühnheit ohne Präzision oder Präzision ohne Kühnheit zwängt, ist ein wirklich wissenschaftliches Projekt von vornherein so angelegt, daß jedes Mehr an Kühnheit in den theoretischen Ambitionen zu einem Mehr an Präzision bei der Beweisführung zwingt. Nichts verurteilt die Soziologie mithin dazu, zwischen einer „Gesellschaftstheorie" ohne empirisches Fundament und einer theorielosen Empirie, zwischen der risikolosen Verwegenheit des Intuitionismus und der anspruchslosen Gründlichkeit des Positivismus hin und her zu schwanken, wie es heute noch allzu oft geschieht. Nichts, außer einem verstümmelten, zur Karikatur verzerrten oder schwärmerischen Bild von den Naturwissenschaften. Hat die Soziologie erst einmal die Begeisterung für die äußerlichen Aspekte der erfahrungswissenschaftlichen Methode oder für die Wunderwerke des mathematischen Instrumentariums hinter sich gelassen, wird sie sicher in der Uberwindung des Gegensatzes von Rationalismus und Empirismus in actu das Mittel zu weiterem Fortschreiten finden, d. h. sie wird zugleich theoretisch kohärenter und wirklichkeitsgetreuer werden.

logischen Taufnamens zubilligen: „Eine derartige Formel, die in einem einzigen deskriptiven Konzept eine Vielzahl von Einzelbeobachtungen zusammenfaßt, kann man als .integrierendes Konstrukt' bezeichnen. Diese Definition umfaßt eine Reihe von Vorstellungen: ,Grundmuster' einer Kultur, ein ,Thema', ein ,Ethos', den .Zeitgeist' oder die .Mentalität der Zeit', einen ,nationalen Charakter' und, auf der Ebene des Individuums, einen ,Persönlichkeitstyp'." (Α. H. Barton und P. F. Lazarsfeld, „Einige Funktionen von qualitativer Analyse in der Sozialforschung", a. a. O., S. 77.)

Schluß: Wissenssoziologie und Wissenschaftstheorie Die vorangegangenen Analysen laufen alle darauf hinaus, der Soziologie einen wissenschaftstheoretischen Sonderstatus zu verweigern. Doch da die Grenzen zwischen Alltagswissen und Wissenschaft in der Soziologie unklarer sind als in anderen Disziplinen, erweist sich hier die Notwendigkeit eines erkenntnislogischen Bruchs als ganz besonders dringlich. Angesichts der Tatsache freilich, daß der Irrtum nicht zu trennen ist von den sozialen Bedingungen, die ihn möglich und manchmal unausweichlich machen, müßte man geradezu einen Kinderglauben an die Kraft wissenschaftstheoretischer Ermahnungen aufbringen, wollte man nicht auch nach den sozialen Bedingungen fragen, die den Bruch mit der Spontansoziologie und der Ideologie überhaupt möglich oder gar unabwendbar und die epistemologische Wachsamkeit zu einer Institution des soziologischen Feldes machen würde. Nicht zufällig verwendet Bachelard die Sprache des Soziologen, wenn er die gegenseitige Durchdringung von wissenschaftlicher Welt und mondänem Publikum beschreibt, wie sie für die Physik des 18. Jahrhunderts kennzeichnend war. [G. Bachelard, Text Nr. 42] Ein Soziologie-Soziologe fände mühelos Entsprechungen zu jenen Spielen der guten Gesellschaft, die sich einst an den Kuriosa der Physik entzündeten: Auch Psychoanalyse, Ethnologie und selbst die Soziologie haben ihre „elektrischen Küsse". Das Instrument, das der Erkenntniskritik — verstanden mehr im Sinne der Aufdeckung unbewußter Vorannahmen und der petitiones principii einer theoretischen Tradition als in dem der Infragestellung der Prinzipien einer ausgebildeten Theorie — ihre ganze Kraft und spezifische Form vermitteln kann, dieses Instrument findet der Soziologe vor in der Soziologie des soziologischen Wissens. Stellt in der Soziologie hier und heute der Empirismus die größte Gefahr für die Erkenntnis dar, so liegt dies nicht nur an der einzigartigen Natur des soziologischen Objekts als eines Subjekts, das selbst verbale Interpretationen seines Verhaltens anbietet; es hängt auch an den historischen und sozialen Bedingungen soziologischer Praxis. Man muß sich also hüten, der Struktur des wissenschaftstheoretischen Feldes, die wir als ein Spektrum von Gegensatzpaare bildenden philosophischen Positionen beschrieben haben, überhistorische Realität zuzuerkennen, und zwar u. a. auch deshalb, weil die zu verschiedenen Zeiten und unter unterschiedlichen historischen und sozialen Bedingungen sich entwickelnden Wissenschaften keineswegs nach einer vorweg festgelegten Ordnung dieselben Etappen derselben Geschichte wissenschaftstheoretischer Vernunft durchlaufen.

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Schluß

Entwurf zu einer Soziologie der positivistischen Versuchung in der Soziologie Die Anziehung, die der Empirismus auf die zeitgenössische französische Soziologie ausübt, dürfte weniger an den intrinsischen Reizen dieser beschränkten Philosophie der wissenschaftlichen Praxis oder an dem Platz liegen, den die Soziologie in diesem für alle Wissenschaften gültigen Entwicklungsmuster haben soll, sondern an einem ganzen Komplex sozialer und intellektueller Bedingungen, die ihrerseits eine Geschichte haben. An vorderer Stelle ist dabei der Aufschwung, die Routinisierung und der Niedergang der Durkheim-Schule zwischen den Weltkriegen zu nennen. Die empirische Soziologie hat in Frankreich nach 1945 ihren Neuanfang in einem ideologischen Feld gefunden, das von der Philosophie, genauer: von der existenzialistischen Philosophie, dominiert war; die Soziologie wurde unter diesen Umständen fast zwangsläufig dazu gebracht, die Partei der amerikanischen Soziologie, d. h. einer überaus empiristischen Soziologie, zu ergreifen — um den Preis einer teils frei gewählten, teils erzwungenen Lossagung vom theoretischen Erbe der europäischen Soziologie. 126 Die Illusion eines absoluten Anfangs und die Utopie einer Praxis, die ihre wissenschaftstheoretische Basis in sich selbst fände, vermochten sich bei der „Generation der 50er Jahre" nur deshalb durchzusetzen, weil sie, im Vergleich zur intellektuellen Generation von 1935, in einer besonderen Lage war: Die Vorläufer-Generation, der philosophischen Tradition verbunden, aber durch eine Reihe historischer Bedingungen (wozu nicht zuletzt die mangelhafte institutionelle Förderung der Forschung gehört) von empirischer Praxis abgeschnitten, mußte angesichts des Krieges die Aufgabe, empirische Forschung und Theorie miteinander in Einklang zu bringen, aufschieben. Daß die Entwicklung der verschiedenen Wissenschaften abhängt von der Struktur des Feldes, in dem sie koexistieren, zeigt sich auch daran (entgegen dem evolutionistischen Schema), daß die Soziologie nicht etwa von ihrer spezifischen Lage als Nachzüglerin profitiert und auf ihrem Weg Etappen überspringt, indem sie Fehler ihrer Vorgängerinnen vermeidet und sich die von ihnen hinterlassenen Markierungen zunutze macht; im Gegenteil, sie verfällt paradoxerweise nicht nur in wissenschaftstheoretische

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Die Polemiken darüber, welche philosophischen Prämissen in die verschiedenen Orientierungen der soziologischen Forschung eingehen, können die wissenschaftstheoretische Reflexion nicht ersetzen, häufig kaschieren sie nur deren Fehlen — man denke nur an den akademischen oder mondänen Charakter der Debatte über die „Philosophie[n] des Strukturalismus". In der Palette an philosophischen Attitüden, die die intellektuelle Konjunktur den Soziologen zur F-rklärung ihrer Praxis anbietet, kommt die Wissenschaftslogik, die wirklich in der wissenschaftlichen Arbeit steckt, nicht zum Ausdruck. Bachelard sah im philosophischen Eklektizismus der meisten Wissenschaftler eine Form, die abstrakte Reinheit philosophischer Systeme abzulehnen, die aus Gründen der „philosophischen Unreinheit" der Wissenschaft hinter dieser zurückbleiben.

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Fehler, die von den Naturwissenschaften schon lange nicht mehr begangen werden, sondern auch in spezifische Irrtümer, die ihr aus der permanenten Konfrontation mit dem erdrückenden Vor-Bild von fortgeschritteneren Wissenschaften erwachsen. Insbesondere läßt sich zeigen, daß das Bild, das sich jeder Soziologe von der Wissenschaftlichkeit seiner eigenen Praxis macht, von dem ganzen Feld abhängt, in dem diese Praxis stattfindet: Eine um ihre wissenschaftliche Anerkennung besorgte Wissenschaft muß sich unablässig nach den Voraussetzungen ihrer eigenen Wissenschaftlichkeit fragen und bei dieser ängstlichen Suche nach Rückversicherung bereitwillig jedes auffallige und nicht selten auch ganz naive Zeichen von wissenschaftlicher Legitimität übernehmen. Es ist kein Zufall, daß, wie Poincare sagte, die Naturwissenschaften von ihren Ergebnissen sprechen, die Humanwissenschaften von ihren Methoden. Die Methoden-Manie wie der geschäftige Drang nach den letzten Raffinessen der statistischen Verfahren erfüllen die gleiche demonstrative Funktion wie der Rückgriff auf prestigeträchtige Verweise oder die glühende Bewunderung für Instrumente, mit denen sich die Besonderheit des Metiers und seine wissenschaftliche Qualität am besten symbolisieren lassen, wie ζ. B. Fragebogen und Computer. Außerdem enthalten die technische Arbeitsteilung und die soziale Organisation des Berufsstandes zahlreiche Zwänge, die den Forscher in bürokratische Automatismen hineinrutschen lassen; Automatismen, die stets mit einer empiristischen Philosophie von Wissenschaft einhergehen. Bestimmte Züge der soziologischen Produktion in den Vereinigten Staaten, so die Schwemme an kleinen empirischen Monographien oder der vermehrte Ausstoß von „textbooks" und populärwissenschaftlichen Werken dürften nicht ohne Zusammenhang sein mit Merkmalen der dortigen Universitätsorganisation, insbesondere der Trennung des akademischen Personals in Verwaltungsleute und spezialisierte Forscher sowie mit Konkurrenzmechanismen, die jegliche akademische Karriere den Gesetzen des Marktes unterwerfen. 127 Die Professio127

Die Organisation des amerikanischen Universitätsbetriebs, die den Mechanismen des offenen Wettbewerbs einen großen Platz einräumt, fördert nicht von sich aus die Forschung, wie gerne in Frankreich unterstellt wird. Denn weil die Soziologie dort einer von außen herangetragenen Nachfrage nachzukommen hat (von Seiten der Geldgeber, der Stiftungen usw.), und das Urteil über die Produktionen, das über Karrieren entscheidet, eher den Forschungsmanagern obliegt als der Gruppe der peers, lehnen sich die wichtigsten Kriterien zur Beurteilung von Forschung stark an eine gängige Vorstellung von den Naturwissenschaften an und sind letztlich dem besonderen Charakter der Forschung nicht angemessener als die traditionellen Kriterien, auf denen die Universitätskarrieren im französischen System beruhen: Die Zerstückelung der Forschung in kleine fragmentarische Feinheiten und die Multiplikation fiktiver Themen oder das blinde Vertrauen in den statistischen Apparat und der Wettlauf um Veröffentlichungen belegen gleichermaßen, daß eine bürokratische Organisation der Forschungsproduktion nicht ausreicht, um die Qualität der wissenschaftlichen Arbeit zu garantieren. C. Wright Mills hat den Prozeß aufgezeigt, in dessen Verlauf die institutionellen Anforderungen der Forschungsinstitutionen als bürokratisches Ethos verin-

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Schluß

nalisierung der Forschung — gebunden an verstärkte Einwerbung von Drittmitteln, vermehrte Einrichtung von Forscherstellen und damit das Auftreten von Großforschungseinheiten — hat zu einer technischen Arbeitsteilung geführt, deren Besonderheit auf die Ideologie von der Selbständigkeit der Operationen zurückgeht, die sie selbst hervorgebracht hat. So stellt, wie wir gesehen haben, die Zerlegung des Forschungsprozesses in getrennte Operationen, die, zumindest unbewußt, der Mehrzahl der Forscher als Paradigma gilt, nichts anderes dar als die Projektion eines bürokratischen Organigramms in den wissenschaftstheoretischen Raum. 128 Die organisationsspezifischen Zwänge werden durch die Zwänge des technischen Instrumentariums noch verstärkt. Bedenkt man im weiteren, daß die populäre Vorstellung eines Wunderautomaten sich auch in den Köpfen der Forscher festsetzt und deren Neigung fördert, die Verantwortung für die Operationen des Forschungsprozesses an die Maschine abzugeben, und daß andererseits die Forschungsgeneräle mehr und mehr dem Fußvolk die Kärrnerarbeit aufbürden, d. h. in diesem Fall ihm den Kontakt mit den Fakten (sowie u. a. mit den Befragten) überlassen, sich selbst jedoch die großen strategischen Entscheidungen wie die über die Stichprobe, die Entwicklung des Fragebogens und die Abfassung des Endberichts vorbehalten, dann ist der Schluß nicht von der Hand zu weisen, daß dies alles die Dichotomie von blindem Empirismus und unkontrollierter Theorie, von formalistischer Magie und dem Ritual der subalternen Verrichtungen der Untersuchung nur verstärken kann. Die pathologischsten Auswüchse des Geschmacks an methodologischen Großtaten, der durch die angstgeprägte Beziehung zum naturwissenschaftlichen Vorbild gefördert wird, dürften neben dem Dualismus von geistes- und naturwissenschaftlicher Ausbildung auf das Fehlen einer integralen und spezifischen Soziologie-Ausbildung zurückzuführen sein. Als das statistische Instrumentarium infolge seiner größeren Verbreitung die Schutzfunktionen verlor, die ihm in der Zeit der ersten Versuche und seiner Monopolstellung zugewachsen waren, haben nicht wenige Forscher von diesem Hilfsmittel, zu dem sie meist erst spät und als Autodidakten gefunden hatten, einen nahezu terroristischen Gebrauch gemacht, der sich nur aus dem kaum überwundenen Schrecken des faszinierten Zauberlehrlings erklären läßt. Die Gegensätze zwischen verschiedenen wissenschaftstheoretischen Positionen gewinnen ihre volle Bedeutung mithin erst durch den Bezug auf das System der Positionen und Oppositionen zwischen den im intellektuellen

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nerlicht werden; dabei führen die extrinsischen Bewertungskriterien, die zur bürokratisch kontrollierten Ausübung der Soziologie erforderlich sind, zur Präferierung strikter Kompetenzaufteilungen und des ausschließlichen Interesses für routinisierte Techniken. Vgl. als Beispiel für die Darstellung der Untersuchungsphasen, wie sie in den meisten Lehrbüchern praktiziert wird: Α. A. Campbell und G. Katona, „The Sample Survey: A Technique for Social Science Research", in: L. Festinger und D. Katz, Research Methods in the Behavioral Sciences, London: Staples, 1954, S. 15 — 55.

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Feld unterschiedlich lokalisierten Institutionen, Gruppen oder Cliquen. Welche Position im wissenschaftstheoretischen Feld ein Forscher voraussichtlich einnehmen, d. h. welchen Oppositionen er sich anschließen wird, das hängt von der Gesamtheit seiner Merkmale ab: Ausbildungstyp (natur- oder geisteswissenschaftlich, kanonisch oder eklektisch, umfassend oder partiell), Status in der Universität oder im Verhältnis zur Universität, institutionelle Zugehörigkeiten, Mitgliedschaften in Interessenverbänden und intellektuellen pressure-groups (wissenschaftliche oder außerwissenschaftliche Zeitschriften, Ausschüsse und Komitees usw.). Man ist Empirist, Formalist, Theoretiker oder nichts von alledem sehr viel weniger aus Berufung denn aus Schicksal — in dem Maße, wie der Sinn für die eigene Praxis jeden einzelnen in Gestalt des Systems der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten einholt, die durch die sozialen Bedingungen seiner intellektuellen Praxis festgelegt werden. Erkennbar wird, daß es durchaus von Nutzen sein kann, die wissenschaftstheoretischen Glaubensbekenntnisse qua methodischer Entscheidung als Berufsideologien zu behandeln, die in letzter Instanz weniger die Wissenschaft als den Forscher, weniger die tatsächliche Praxis als die durch Stellung und Vergangenheit des Forschers der Praxis auferlegten Grenzen rechtfertigen sollen. Auch wenn die diversen Formen des wissenschaftstheoretischen Irrtums und der sie legitimierenden Ideologie ihre generative Kraft allgemein der theoretischen Konjunktur und deren Dominanten und Lücken verdanken, ist ihre Verteilung unter den Soziologen doch nicht zufällig. Das System der ideologischen Rechtfertigungen, die aus faktischen Begrenzungen gern zu Recht bestehende Grenzen machen, ist wohl auch der Ort, von dem die Widerstände gegen wissenschaftstheoretische Klarheit ausgehen. Kann die von jedem Soziologen vorzunehmende soziologische Analyse der sozialen Bedingungen seiner soziologischen Praxis und seines Verhältnisses zur Soziologie für sich allein keine wissenschaftstheoretische Reflexion ersetzen, so bildet sie doch die Voraussetzung für die Darlegung der unbewußten Prämissen und zugleich für eine umfassendere Verinnerlichung einer entwickelteren Wissenschaftstheorie.

Die soziale Einbindung des Soziologen Unter allen Prämissen, die sich für den Soziologen daraus ergeben, daß er soziales Subjekt ist, ist die grundlegendste sicherlich die des Fehlens aller Prämissen — und genau sie definiert den Ethnozentrismus. Denn wenn der Soziologe sich nicht klar macht, daß er ein mit einer spezifischen Kultur ausgestattetes Subjekt ist, und seine gesamte Praxis nicht ständig im Bewußtsein dieser Verwurzelung reflektiert, erliegt er leicht (eher als der Ethnologe) der Illusion unmittelbarer Evidenz oder der Versuchung der unbe-

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wußten Universalisierung einer singulären Erfahrung. 129 Doch ohne fortwährende Reinterpretation und Aktivierung durch epistemologische Wachsamkeit bleiben selbst die Warnungen vor dem Ethnozentrismus folgenlos. Tatsächlich sind innerhalb einer Gesellschaft auch die Beziehungen zwischen den Gruppen noch der Logik des Ethnozentrismus unterworfen: Der vom Soziologen zur Entschlüsselung des Verhaltens der sozialen Subjekte verwendete Code hat sich im Verlauf gesellschaftlich bestimmter Lernprozesse ausgebildet; ihm eignet daher stets etwas vom kulturellen Code der verschiedenen Gruppen, an denen er partizipiert. Unter allen kulturellen Vorgaben, die möglicherweise in die Interpretationen des Soziologen eingehen, ist der Einfluß des Klassenethos, des organisierenden Prinzips für die Aneignung der anderen unbewußten Modelle, am systematischsten und zugleich am besten verborgen. Da jede soziale Klasse die grundlegenden Prinzipien ihrer Ideologie, der Funktionsweise und der Entwicklung der Gesellschaft aus einer Primärerfahrung des Sozialen hat, in der, unter anderem, die soziale Determiniertheit mehr oder minder deutlich verspürt wird, liefe der Soziologe, der das für seine Herkunftsklasse charakteristische Verhältnis zur Gesellschaft nicht soziologisch analysierte, unweigerlich Gefahr, in sein wissenschaftliches Verhältnis zum Objekt die unbewußten Voraussetzungen seiner Primärerfahrung oder, subtiler, die Rationalisierungen einfließen zu lassen, mit deren Hilfe der Intellektuelle seine Erfahrung entsprechend einer Logik reinterpretieren kann, die immer auch von seiner Stellung im intellektuellen Feld geprägt ist. Wenn man beispielsweise beobachtet, daß die unteren Klassen ihre den ökonomischen und sozialen Zwängen unmittelbarer unterworfene Erfahrung eher in eine Sprache der Schicksalhaftigkeit fassen, während die Erinnerung an die soziale Determination von Präferenzen, die dem Anschein nach vor allem die Freiheit der Person zum Ausdruck bringen (zum Beispiel Geschmacksfragen in der Kunst oder religiöse Erfahrung), empörte Ungläubigkeit bei den gebildeten Klassen hervorruft, darf die soziologische Neutralität so mancher Debatte über soziale Determiniertheit und menschliche Freiheit in Zweifel gezogen werden. Ungeachtet aller epistemologischen Wachsamkeit bleibt der Ethnozentrismus immer virulent: Die intellektuelle Anprangerung des klassenspezifischen Ethnozentrismus kann durchaus als Alibi für intellektuellen oder berufsspezifischen Ethnozentrismus dienen. Als Intellektueller gehört der Soziologe zu einer Gruppe, die mehr oder minder zwangsläufig alle Interessen, Denkschemata, Problemstellungen, kurz: das gesamte System von Prämissen für selbstverständlich hält, das mit der Klasse der Intellektuellen als privilegierter Bezugsgruppe verbunden ist. Es ist daher kein Zufall, daß Intellektuelle, wenn sie die Verachtung gebildeter Kreise oder anderer Intellektueller ge129

Vgl. Levi-Strauss' Analyse des Evolutionismus als Ethnozentrismus (Rasse und übers, von T. König, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1972, S. 16 ff.).

Geschichte,

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genüber der „Massenkultur" geißeln, den unteren Klassen dabei ein Verhältnis zu dieser Art von Gütern andichten, das letztlich ihr eigenes ist oder — was auf dasselbe hinausläuft — dessen genaues Gegenteil. Dabei ist der Ethnozentrismus der Intellektuellen besonders tückisch, denn die von ihrer Klasse produzierte und von ihren Zeitschriften, Zeitungen und Diskussionen transportierte halbwissenschaftliche oder spontane Soziologie kann weniger leicht als die in breiteren Schichten der Bevölkerung kursierenden Formulierungen derselben Allgemeinplätze als vorwissenschaftlich kritisiert werden; es fallt ihr daher leicht, die Forschung mit unhinterfragten Vorbegriffen und obligaten Problemen zu versorgen: Ein derart stark integriertes Milieu legt denen, die darin arbeiten oder vielleicht noch stärker denen, die, wie die Studenten, darin arbeiten wollen, ein System von Zwängen auf, die um so wirksamer sind, als sie wie implizite Regeln guten Benehmens oder guten Geschmacks daher kommen. Will man den falschen Anspielungen und versteckten Überredungsversuchen eines intellektuellen Konsenses widerstehen, der sich unter dem Deckmantel des Dissenses verbirgt, und „entschieden allen Vorbegriffen aus dem Weg gehen" (deren Einfluß auf die Intellektuellen im übrigen sehr davon abhängt, wo sie sie hören: im Intellektuellen-Cafe oder in der Eckkneipe), darf man sich nicht scheuen, gegen eine naive Vorstellung von ethischer Neutralität im Sinne allgemeinen Wohlwollens alle modischen Gemeinplätze zu attackieren und die Abneigung gegen den Zeitgeist zu einer Leitlinie des soziologischen Denkens zu erheben.

Epistemologische Wachsamkeit und die scientific community Sowohl die Wissenssoziologie, die häufig zur Relativierung der Gültigkeit des Wissens herangezogen wurde, als auch die Soziologie der Soziologie, in der man lediglich die Widerlegung per absurdum der absurden Ansprüche des Soziologismus sehen wollte, stellen höchst wirksame Instrumente für die erkenntniskritische Kontrolle der soziologischen Praxis dar. Jeder Soziologe muß, wenn er sich selbst als reflektierendes Subjekt thematisieren will, auf die Soziologie soziologischen Wissens zurückgreifen. Doch darf er deshalb nicht hoffen, der Relativierung zu entgehen, etwa durch einen Gewaltakt, mit dem er sich von allen seine Situation definierenden Bestimmungen freimachen und zu jenem sozialen Ort der wahren Erkenntnis vordringen würde, in dem Mannheim seine „bindungs- und wurzellosen Intellektuellen" situierte; ein solcher Gewaltakt bleibt notwendigerweise fiktiv. Folglich ist die utopische Hoffnung aufzugeben, jeder könne sich allein durch entschlossene Aufhebung sozial bedingten Verstehens oder durch eine „Sozio-SelbstAnalyse", die keinen anderen Zweck hätte als den, sich die Selbstbefriedigung

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Schluß

in und durch die Sozio-Analyse der anderen zu gestatten, von den auf der eigenen Forschung lastenden Ideologien befreien. Die Objektivität der Wissenschaft kann nicht auf einem derart unsicheren Fundament wie der Objektivität der Wissenschaftler beruhen. Die Errungenschaften der Wissenschaftstheorie können erst dann konkreten Niederschlag in der Praxis finden, wenn die sozialen Bedingungen wissenschaftstheoretischer Kontrolle hergestellt sind, d. h. einer allgemeinen kritischen Auseinandersetzung, die unter anderem der Soziologie der soziologischen Praxis Rechnung trägt. [M. Maget, Text Nr. 43] Jede Wissenschaftsgemeinschaft ist ein sozialer Mikrokosmos, mit Kontroll-, Zwangs- und Ausbildungsinstitutionen, akademischen Autoritäten, Auswahlgremien, Foren der Kritik, Ausschüssen, Kooptationsorganen usw., die die Normen professioneller Kompetenz definieren und die von ihnen zum Ausdruck gebrachten Werte dauerhaft zu vermitteln suchen. 130 Damit hängen die Chancen zur wissenschaftlichen Produktion nicht allein von der Widerstandskraft einer scientific community gegenüber äußeren Ansprüchen ab, seien es die Erwartungen eines breiten intellektuellen Publikums, diffuser oder expliziter Druck von selten der Nutzer oder Geldgeber der Forschung oder der Einfluß politischer oder religiöser Ideologien; sie hängen auch davon ab, daß es der community mit Hilfe ihrer eigenen Organisation gelingt, in gewissem Umfang Konformität mit den wissenschaftlichen Normen aufrechtzuerhalten. Die Wissenschaftssoziologen, die vor allem die Trägheit der Welt der Wissenschaft als einer organisierten Gesellschaft hervorheben, setzen damit häufig nur einen Gemeinplatz der wissenschaftlichen Hagiographie um, nämlich den der Mühen des Erfinders. Indem sie ein besonderes Problem auf allgemeine Aussagen über den Widerstand gegen Innovationen reduzieren, versäumen sie es, die gegensätzlichen Effekte zu unterscheiden, die sich aus der Kontrolle der Wissenschaftsgemeinschaft ergeben können, je nachdem, ob die Forschung durch die kleinlichen Zwänge eines Gelehrten-Traditionalismus auf Konformität mit einer bestimmten theoretischen Tradition festgelegt wird oder ob die Institutionalisierung einer stimulierenden Wachsamkeit den fortschreitenden Bruch mit allen Traditionen begünstigt. 131 Die Frage, ob die 130

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Wie Duhem feststellt, sind weder logische Normativität noch die Kenntnis der experimentell bewiesenen Beziehungen als Bedingungen theoretischer Erneuerung ausreichend: „Die Betrachtung einer Gruppe experimenteller Gesetze kann daher nicht dem Physiker zum Bewußtsein bringen, welche Hypothesen er wählen muß, um von diesen Gesetzen eine theoretische Darstellung zu geben; es ist außerdem nötig, daß die gewohnten Gedanken derer, in deren Mitte er lebt, und die seinem eigenen Geist durch seine früheren Studien eingeprägten Tendenzen ihn leiten und den allzu großen Spielraum, den die Gesetze der Logik seinen Schritten lassen, beschränken" (P. Duhem, Ziel und Struktur der physikalischen Theorien, a. a. O., S. 345 [Übersetzung leicht verändert, A. d. Ü.]). Ein Beispiel für diese Art von Analyse, die die ablehnende Haltung der scientific community gegen Neuerungen an so allgemeinen Faktoren wie Korpsgeist oder Trägheit der

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Soziologie eine Wissenschaft — und eine wie alle anderen — sei, ist folglich zu ersetzen durch die Frage, welche Art der Organisation und Funktionsweise der scientific community am ehesten dazu führt, daß sich eine strikt wissenschaftlichen Kontrollen unterworfene Forschung entwickelt. Auf diese neue Frage läßt sich nicht mehr global antworten. In jedem einzelnen Fall müssen die vielfaltigen Auswirkungen der vielfaltigen Faktoren, die zusammen die Chancen für die Entwicklung einer mehr oder minder wissenschaftlichen Produktion bestimmen, analysiert und dabei genauer die Faktoren unterschieden werden, die dazu beitragen, einerseits die Chancen für die Wissenschaftlichkeit der scientific community insgesamt zu erhöhen, andererseits die Chancen für jeden einzelnen Wissenschaftler, an jenen Chancen entsprechend seiner Stellung innerhalb dieser community zu partizipieren. 132 Es ist ohne weiteres zu konzedieren, daß alles, was hilft, den Austausch von Kritik und Information zu intensivieren, die institutionell voneinander abgeschütteten Reservate der Wissenschaftstheorie aufzubrechen und alle Kommunikationshindernisse abzubauen, die auf Rangunterschiede in Renommee und Status, auf Unterschiede in Ausbildung und Karriere, schließlich auf die Ausbreitung von Cliquen zurückgehen, die zu sehr auf sich selbst zurückgezogen sind, um in Konkurrenz oder offen erklärten Konflikt miteinander zu treten — daß all das also dazu beiträgt, die von der Trägheit der Institutionen geprägte — die freilich zugleich existenznotwendig für sie ist — scientific community jener idealen Gemeinschaft der Wissenschaftler näherzubringen, unter deren Dach letztlich alle für die Wissenschaft und ihren Fortschritt notwendigen wissenschaftlichen Kommunikationsprozesse — und nur diese — stattfinden könnten. Wie fern die Gemeinschaft der Soziologen dieser idealen Situation noch steht, läßt sich in vielem ermessen: In zahlreichen

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akademischen Organisationen festmacht, findet sich in den Arbeiten von B. Barber (vgl. ζ. B. „Resistance by Scientists to Scientific Discovery", Science, 34 (1961) 3479, S. 596-602). Um deutlich zu machen, wie stark die individuellen Chancen zu Entdeckungen abhängen von den entsprechenden Chancen der Gruppe, der der Wissenschaftler angehört, genügt der Hinweis auf so bekannte Phänomene wie verfrühte oder gleichzeitige Erfindungen. Wie man weiß, konnten zahlreiche Entdeckungen erst nachträglich, unter Bezug auf einen theoretischen Rahmen, den es noch nicht gab, als sie gemacht wurden, als solche erkannt werden. Die Häufigkeit gleichzeitiger Entdeckungen läßt sich nur erklären, wenn man die Entdeckung auf einen bestimmten Stand der Theorie bezieht, d. h. unter anderem auf einen Stand der wissenschaftlichen Gemeinschaft und ihrer Kontroll- und Kommunikationstechniken zu einem bestimmten Zeitpunkt. Anhand des Prinzips der Erhaltung der Energie zeigt T. S. Kuhn, daß die Konvergenz der Entdeckungen nur α posteriori in Erscheinung treten kann, wenn verstreute Elemente in und durch eine wissenschaftliche Theorie integriert worden sind, die dann, wenn sie einhellig anerkannt wird, gewissermaßen in einer retrospektiven Illusion als notwendige Vollendung konvergenter Erfindungen erscheint (T. S. Kuhn, „Die Erhaltung der Energie als Beispiel gleichzeitiger Entdeckung", in: ders., Die Entstehung des Neuen, übers, von H. Vetter, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976).

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Polemiken kommen weit mehr extern bedingte Gegensätze zum Ausdruck als Divergenzen auf dem Hintergrund gemeinsam anerkannter wissenschaftlicher Werte. Zudem hängt die wissenschaftliche Wirkung der Kritik von der Form und Struktur des Austausche ab, innerhalb dessen sie stattfindet: Es gibt einigen Anlaß zu glauben, daß der verallgemeinerte Austausch von Kritik, bei dem der Wissenschaftler Α den Wissenschaftler Β kritisiert, dieser den Wissenschaftler C und dieser wieder A, ein für die organische Integration des Wissenschaftsmilieus günstigeres Modell darstellt als etwa der Klub wechselseitiger Bewunderung mit seiner Beschränkung auf den Austausch von Artigkeiten oder, was kaum besser ist, der Austausch ritueller Polemiken, mit denen die insgeheim verbündeten Gegner jeweils ihren Status konsolidieren. In der Tat, während sich die Partner beim eingeschränkten Austausch in der Gemeinsamkeit der impliziten Prämissen einrichten, zwingt der verallgemeinerte Austausch zur Multiplikation und Diversifikation der Kommunikation und fördert dadurch die Offenlegung der wissenschaftstheoretischen Postulate. Darüber hinaus gewährleistet ein solches „zusammenhängendes Netz der Kritik", wie Michael Polanyi zeigt, daß die Forschung aller den gemeinsamen Werten der Wissenschaftlichkeit entspricht, da dieses mit der „Transitivität der Urteile über die unmittelbaren Nachbarn" die Kontrolle jedes einzelnen über einige (nämlich diejenigen, über die er als Spezialist urteilen kann) und durch einige stiftet (nämlich diejenigen, die über ihn als Spezialisten urteilen können). [M. Polanyi, Text Nr. 44] Dadurch, daß dieses „System wechselseitiger Kontrollen" jeden Wissenschaftler fortlaufend in eine kritische Auseinandersetzung mit seinen wissenschaftlichen Operationen und den darin implizierten Prämissen verwickelt und ihn dadurch zwingt, diese Auseinandersetzung zu einem verbindlichen Moment seiner Praxis und der Kommunikation seiner Entdeckungen zu erheben, entwickelt und verstärkt es in jedem die Fähigkeit zur epistemologischen Wachsamkeit. 133 Auch die Effekte der gemeinhin als wissenschaftliches Allheilmittel gepriesenen interdisziplinären Zusammenarbeit können nicht losgelöst von den sozialen und intellektuellen Merkmalen der scientific community gesehen werden. So wie Kontakte zwischen Gesellschaften mit unterschiedlichen Traditionen eine Gelegenheit darstellen, nichtbewußte Prämissen zu explizieren, so bilden Diskussionen zwischen Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen ein vorzügliches Maß für den Traditionalismus einer wissenschaftlichen Zunft, d. h. für den Grad, mit dem sie aus der gewöhnlichen Diskussion unbewußt die Prämissen verbannt, die diese Diskussion allererst ermöglichen. Die interdisziplinären Veranstaltungen, die zumindest in den Humanwissenschaften weithin zu nichts anderem genutzt werden als zum Austausch von „Datenmaterial" oder, was auf dasselbe hinausläuft, von nicht gelösten Pro133

Eine Analyse der Funktion sozialer Kontrolle in der scientific community findet sich bei G. Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, a. a. O., S. 347 — 351.

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blemen, erinnern an jenen archaischen Typ v o n Transaktionen, bei denen zwei G r u p p e n sich der jeweils f ü r die andere G r u p p e hinterlegten P r o d u k t e bemächtigen können, ohne sich dazu treffen zu müssen. 1 3 4 Die scientific community m u ß also auch eigene F o r m e n der Soziabilität entwickeln. Ein Symptom für ihre H e t e r o n o m i e kann man, unter B e r u f u n g auf D ü r k h e i m , auch darin sehen, daß sie, zumindest in Frankreich, bis heute recht häufig einem m o n d ä n e n intellektuellen Publikum zu Gefallen sein will: „Wir glauben", schrieb D ü r k h e i m am Schluß der Regeln der soziologischen Methode, „daß f ü r die Soziologie der M o m e n t g e k o m m e n ist, auf weltliche Erfolge zu verzichten und den esoterischen Charakter anzunehmen, der aller Wissenschaft z u k o m m t . Sie wird dabei an Würde und Autorität gewinnen, was sie vielleicht an Popularität verliert." 1 3 5

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13s

Um sich klarzumachen, in welchem Umfang die Sprache, in der eine Gruppe von Fachleuten ihre Fragestellung formuliert, von der zum größten Teil unbewußten Tradition der entsprechenden Disziplin abhängt, braucht man nur an die Mißverständnisse zu denken, die beim Dialog zwischen Spezialisten verschiedener, und seien sie noch so nahestehender, Disziplinen auftreten. Wenn man, wie es häufig geschieht, den Grund aller Kommunikationsschwierigkeiten in der Verschiedenartigkeit der Sprache ausmacht, verbaut man sich die Einsicht, daß die Gesprächspartner sich in ihren Sprachen deshalb verschanzen, weil die Ausdruckssysteme zugleich die Wahrnehmungsund Denkschemata sind, die die Gegenstände hervorbringen, über die zu sprechen es sich lohnt. E. Dürkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, a. a. O., S. 222.

Textbeispiele

Bemerkungen zur Auswahl der Texte

Wenn wir %ur Veranschaulichung der Prinzipien der Wissenschaft der Soziologie auf Autoren Zurückgegriffen haben, die sich sonst in jeder Hinsicht voneinander unterscheiden, dann geschah dies aus der Uberzeugung heraus — auch auf die Gefahr hin, die Texte zu überfordern, wenn sie aus dem Zusammenhang gerissen werden —, daß sich Prinzipien der Erkenntnis des Sozialen unabhängig von jenen Theorien des Sozialen definieren lassen, an denen sich Schulen und Theorietraditionen scheiden. Wenn wir andererseits, um Lücken in der genuin wissenschaftstheoretischen Reflexion zur Soziologie ZU schließen, häufig auf Texte aus dem Bereich der Naturwissenschaften zurückgegriffen haben, dann weil wir die klassischen Analysen der Wissenschaftsphilosophie mutatis mutandis auch auf die Soziologie anwenden wollten, die eine Wissenschaft wie die anderen ist oder doch sein möchte. Und wenn wir schließlich eine ganze Anzahl Texte aus den Werken der Begründer der Soziologie, insbesondere der Durkheim-Schule, ausgewählt haben, dann weil uns scheint, daß die beiläufige Anerkennung, die Dürkheims Methodologie heute genießt, ihre wissenschaftstheoretischen Errungenschaften gründlicher neutralisiert, als es jede bewußte Gegenposition könnte; und weil ganz grundsätzlich die Anfänge am besten zur Verdeutlichung von Prinzipien geeignet sind, die eine neue Art von wissenschaftlicher Auseinandersetzung möglich machen.

Vorwort Der Streit von Vernunft und Einbildungskraft als wissenschaftstheoretisches Prinzip Um die Bedeutung der Philosophie des Nein als einer Synthese erkennen ^u können, die die Errungenschaften früherer Überlegungen ^usammenfaßt und über sie hinausgeht, indem sie die Wissenschaftstheorie als Reflexion über die Wissenschaft im Pro^eß ihres Hntstehens begründet, muß das Denken Bachelards explizit %ur Tradition von Erkenntnisphilosophie und Wissenschaftstheorie, insbesondere Meyer sons Realismus und Brunschvicgs Idealismus in Beziehung gesetzt werden. Bachelard stellt sich in das wissenschaftstheoretische Zentrum der für jedes wissenschaftliche Denken charakteristischen Pendelbewegung fischen der Macht der Berichtigung, die der Erfahrung zukommt, und der Macht des Bruchs und der Schöpfung, die Sache der Vernunft ist, und kann von dort aus die Philosophie, die sich unter der „ständigen polemischen Einwirkung der Vernunft" immer wieder erneuert, als angewandten Rationalismus oder rationalen Materialismus definieren. Diese Wissenschaftstheorie verwirft den Formalismus und das Beharren auf Konstant der einen und unteilbaren Vernunft zugunsten eines Pluralismus von Rationalismen, die den jeweils von ihnen rationalisierten Wissenschaftsbereichen entsprechen, und definiert — den „theoretischen Primat des Irrtums" %um obersten Axiom erklärend — den Fortschritt der Erkenntnis als eine ständige Berichtigung: Daher eignet sie sich auch hervorragend dafür, den So^ialwissenschaften, die besonders gefährliche Erkenntnishindernisse überwinden haben, um ihren eigenen, regionalen Rationalismus begründen können, eine Sprache geben und theoretischen Beistand leisten.

1. G. Canguilhem [...] In La dialectique

de la duree

erklärt Bachelard, er habe v o n Bergson fast

alles übernommen, nur nicht die Kontinuität. 1 Dieses Glaubensbekenntnis scheint uns ehrlicher in dem, was es ablehnt, als in dem, was es bejaht. A l s ganz entschiedener G e g n e r der Idee der Kontinuität, aber nur in Maßen ein A n h ä n g e r Bergsons, kann Bachelard nicht akzeptieren, daß W a h r n e h m u n g und Wissenschaft pragmatisch-kontinuierliche Funktionen sind. Die K o n t i nuität mißfällt ihm dabei aber noch mehr als der Pragmatismus, denn ebensowenig läßt er — mit Emile Meyerson — gelten, daß W a h r n e h m u n g und Wissenschaft spekulativ-kontinuierliche Funktionen des Bemühens um Identifikation des Mannigfaltigen sind. 2 G a n z sicher steht er einer Position näher, die man, mit aller Vorsicht, cartesianisch nennen könnte — w e n n man etwa an die Unterscheidung v o n Verstand und Einbildungskraft denkt —, eine Position, die in mancher Hinsicht auch Leon Brunschvicg und Alain teilen und die d a v o n ausgeht, daß sich die Wissenschaft über den Bruch mit der W a h r n e h m u n g und über deren K r i t i k konstituiert. Und hierin wiederum steht

1 2

S. S. 16. Ee rationalisme

applique, S. 176 — 177.

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Vorwort

er Brunschvicg näher als Alain, da er wie jener meint, die Unterordnung der Vernunft unter die Wissenschaft, die Belehrung der Vernunft durch die Wissenschaft vertreten und zelebrieren zu müssen; 3 doch weicht er von ihm insofern ab, als er den Akzent auf die polemische Form, die dialektische Gangart dieses das Wissen begründenden Voranschreitens legt, in dem Leon Brunschvicg eher einen kontinuierlichen Fortschritt am Werke sieht, einen Fortschritt der Berichtigung, gewiß, der aber alles in allem dem Verstand doch nur ein Innewerden seiner eigenen Norm abverlangt, die „Fähigkeit, sich eben durch die Aufmerksamkeit zu verändern, die er auf sich selbst richtet". 4 Diese Bestimmung der wissenschaftstheoretischen Position Bachelards über ihr Verhältnis zu anderen Positionen darf jedoch nicht vom Wesentlichen ablenken, und das ist: Denjenigen, die es nicht erlebt haben, begreiflich zu machen, was für ein Ereignis das 1927 war, dieses Auftauchen eines ungewöhnlichen, weil so gar nicht mondänen Stils in der Sphäre der französischen Philosophie, eines dichten, unzweideutigen und zugleich subtilen Stils, gereift in einsamer Arbeit, fern von allen akademisch-universitären Moden und Modellen, eines ländlichen philosophischen Stils. Das erste Gebot dieses Stils aber ist, die Dinge so zu sagen, wie man sie sieht oder weiß, unbekümmert um die Zustimmung, die man sich durch das Einflechten von Abschwächungen und Zugeständnissen, von „wenn man so will" und „eben noch", einhandeln kann. Denn mit diesem „eben noch" gibt man zugleich jede Genauigkeit auf — und von dieser will Bachelard keineswegs abgehen. Deshalb kümmert es ihn auch herzlich wenig — etwa wenn er behauptet, „die Wissenschaft ist kein Pleonasmus für Erfahrung", 5 sie werde gegen die Erfahrung, gegen die Wahrnehmung, gegen jeden gewohnten technischen Betrieb gemacht —, ob es seinen Zeitgenossen mit ihren Denkgewohnheiten möglich ist, sich mit diesen Thesen anzufreunden. Wissenschaft wird zu einer spezifischen Verstandesoperation, die eine Geschichte, aber keine Ursprünge hat. Sie ist die Genesis des Realen, aber man kann ihre eigene Genese nicht nacherzählen. Man kann sie als Wieder-Beginn beschreiben, aber nie bekommt man ihr allererstes Stammeln zu fassen. Sie ist nicht die herangereifte Frucht eines Vor-Wissens. Eine Archäologie der Wissenschaft ist ein sinnvolles Unternehmen, eine Vorgeschichte der Wissenschaft eine Absurdität. Nicht um diese Wissenschaftstheorie zu simplifizieren, sondern um sich ihrer Kohärenz vergewissern zu können, wollen wir ein Korpus von Axiomen aus ihr herauszufiltern versuchen, deren Verdoppelung als Code von Verstandesnormen erweisen wird, daß sie ihrer Natur nach keine unmittelbar 3 4 5

Die Philosophie des Nein, S. 164. Les ages de /'intelligence, S. 147. Le rationalisme applique, S. 38.

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einleuchtenden Evidenzen sind, sondern eben mühsam erworbene und erprobte Lehren. [...] Das erste Axiom betrifft den theoretischen Primat des Irrtums. „Wahrheit bekommt ihren vollen Sinn erst als Polemik. Es kann keine ursprüngliche Wahrheit geben. Es gibt nur ursprüngliche Irrtümer." 6 Nebenbei sei auf das Pythagoräisch-Cartesianische der grammatischen Form hingewiesen: ursprüngliche Wahrheit im Singular, ursprüngliche Irrtümer im Plural. Dasselbe Axiom lautet, ganz lapidar: „Wahres auf einem Untergrund von Irrtum, das ist die Form des wissenschaftlichen Denkens." 7 Das zweite Axiom betrifft die spekulative Entwertung der Intuition. „Intuitionen sind sehr nützlich: sie sind dazu da, zerstört zu werden." 8 Dieses Axiom wird auf zweierlei Weise in eine Prüfnorm verwandelt: „Unter allen Umständen hat das Unmittelbare vor dem Konstruierten zu weichen." 9 „Alles Gegebene muß als Ergebnis wiedergefunden werden." 10 Das dritte Axiom betrifft die Stellung des Objekts als Perspektive von Ideen.11 „Wir verstehen das Reale immer nur in dem Maße, wie die Notwendigkeit es für uns organisiert [...] Unser Denken bewegt sich zum Realen hin, es geht nicht von ihm aus." 12 Die Tragweite dieser drei Axiome kann nicht genug betont werden. In gewissem Sinne ist es eine Banalität zu sagen, die Wissenschaft treibe den Irrtum aus und trete an die Stelle der Unwissenheit. Aber allzu oft haben Philosophen oder Wissenschaftler den Irrtum auch als einen bedauerlichen Fehltritt angesehen, als ein Mißgeschick, das uns durch etwas weniger Übereilung oder etwas mehr Umsicht hätte erspart bleiben können, die Unwissenheit aber als Mangel an entsprechendem Wissen. Noch nie hatte jemand so eindringlich-sicher wie Bachelard gesagt, daß der Geist von sich aus zunächst reine Irrtumskraft sei, daß der Irrtum in der Genese des Wissens eine positive Funktion habe und daß die Unwissenheit nicht eine Art Lücke oder Mangel sei, sondern die Struktur und Vitalität eines Instinkts habe. 13 Zwar war seit dem Ende des 19. Jahrhunderts den Philosophen mit dem wachsenden Bewußtsein des notwendig hypothetisch-deduktiven Charakters jedweder Wissenschaft auch der Begriff der intuitiven Prinzipien — sinnlicher oder geistiger Evidenzen, Gegebenheiten oder Offenbarungen — als unzulänglich verdächtig geworden. Aber noch nie hatte jemand so viel Energie und Zähigkeit wie Bachelard darauf verwendet zu sagen, Wissenschaft werde

6

8 9 10 11 12 13

„Idealisme d i s c u r s i f , Recherches philosophiques, 1934—1935, S. 22. Le rationalisme applique, S. 48. Die Philosophie des Nein, S. 160. A. a. O . , S. 164. Le materialisme rationnel, S. 57. Dieser Ausdruck findet sich in d e m Hssai sur la connaissance approchee, S. 246. La valeur inductive de la relativite, S. 240 — 241. Die Philosophie des Nein, S. 22 f.; Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, S. 48.

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gegen das Unmittelbare, gegen die Empfindungen gemacht, „die erste Evidenz ist keine fundamentale Wahrheit", 1 4 das unmittelbare Phänomen sei nicht das wichtige. 1 5 Der kritische „böse Blick" sei nicht eine unerquickliche Notwendigkeit, derer sich der Wissenschaftler möglichst enthoben sehen möchte, denn er sei nicht Folge, sondern Wesen der Wissenschaft. Alles, was am Ende der Analyse der Instrumente des Wissens herauskomme, sei: Bruch mit der Vergangenheit der Begriffe, Polemik, Dialektik. Ohne Überspitzung, aber nicht ohne Paradox, verlegt Bachelard die Triebfeder der Erkenntnis in das Neinsagen. Vor allem aber hatte noch nie jemand so viel Geduld, Findigkeit und Bildung darauf verwendet, diese These mit immer neuen Beispielen zu untermauern: Das Modell hierfür findet sich unserer Ansicht nach in jenem Abschnitt, in dem das Beispiel der Atomtheorie als Beweis dafür herangezogen wird, daß der Erkenntnisgewinn einzig und allein in dem liegt, was die Berichtigung eines Begriffs aus der ursprünglichen Intuition oder dem ursprünglichen Bild „entfernt". 1 6 „Das Atom [ist] genau die Summe der an seinem ersten Bild geübten Kritik."17 Und: „Das vor einem Vierteljahrhundert von Bohr entwickelte Atommodell hat in diesem Sinne als gutes Bild gewirkt: es ist nämlich nichts mehr von ihm Übriggeblieben." 1 8 Bereits in einem früheren Werk, in dem er mit Bohrs Modell weniger streng verfuhr, hatte Bachelard den „illusorischen Charakter unserer ersten Intuitionen" 1 9 angeprangert. Für einen Philosophen, für den feststeht, daß „das Wirkliche niemals das ist, ,was man glauben könnte"', sondern „immer das, was man hätte denken müssen", 2 0 kann das Wahre nur die „Grenze der verlorenen Illusionen" 2 1 sein. Es ist also nicht verwunderlich, daß kein Realismus, und schon gar nicht der empirische, vor Bachelards Augen Gnade findet. Es gibt nichts Reales vor der Wissenschaft und außerhalb der Wissenschaft. Weder kreist die Wissenschaft das Reale ein, noch macht sie es dingfest; sie weist nur die geistige Richtung und Struktur, dank derer „man die Sicherheit haben kann, daß man sich dem Realen nähert". 2 2 So wenig wie die wissenschaftlichen Begriffe Kataloge von Empfindungen sind, so wenig sind sie geistiger Nachvollzug des Wesens. „Das Wesen ist eine Funktion der Relation." 2 3 Nachdem Bachelard die Unterordnung des Begriffs unter die Urteilskraft bereits im

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Die Psychoanalyse des Feuers, S. 8. Les intuitions atomistiques, S. 160. Die Philosophie des Nein, S. 159. A. a. ()., S. 159. A. a. O., S. 160. Les intuitions atomistiques, S. 193. Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, S. 46. „Idealisme discursif, a. a. O. La valeur inductive de la relativite, S. 203. A. a. O., S. 208.

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Essai sur la connaissance approchee24 begründet hatte, kehrt er aus Anlaß seiner Untersuchung der relativistischen Physik wieder zu dieser Position zurück und baut sie weiter aus. Das Wesensurteil erscheint nun als ein Sonderfall des Relationsurteils, das Attribut als eine Funkion der Modalität, das Sein als etwas, das mit den Relationen koinzidiert. „Die Relation sagt alles, beweist alles, enthält alles." 25 Das Reale begegnet dem Denken auf dem Weg zum Wahren. In der Ordnung der Modalurteile „ist das [...] assertorische Urteil weit hinter das apodiktische zu stellen". 26 Von nun an schert sich Bachelard kaum noch um das Etikett, das die Liebhaber akademischer Klassifikationen oder die Zensoren heterodoxer Ideologien gern dem anhängen würden, was eben nicht sein System, sondern die Richtschnur seines Denkens ist. Wird er Idealist genannt, wenn er über den Königsweg der Mathematik an die Wissenschaft herangeht, antwortet er: Diskursiver Idealismus, das heißt mühevoll in seiner Dialektik und nie siegend, ohne daß das Blatt sich wieder wendet. Nennt man ihn einen Materialisten, wenn er bis in das Labor des Chemikers vordringt, antwortet er: Rationaler Materialismus, das heißt informiert und nicht naiv, handelnd und nicht nachvollziehend, kurz: Materialismus, der seine Materie nicht vorfindet, sondern sie sich gibt, der „denkend und arbeitend mit der Welt von vorn anfangt". 27 Denn da die Realität der Welt der Vernunft unterstellt ist, ist sie auch immer wieder zu verbessern. Und die Vernunft hört nicht schon darum auf, unvernünftig zu sein, weil sie sich bemüht, immer vernünftiger zu werden. Wäre die Vernunft nur vernünftig, würde sie sich schließlich doch eines Tages mit ihrem Erfolg zufriedengeben. Ja zum Erreichten sagen. Jedoch, es heißt Nein und nochmals Nein. Wie ist diese immer wieder neu andrängende Kraft der Vernunft zu erklären? Bachelard hat einmal mit einer sehr schönen Formulierung gesagt, daß „wir die Kraft haben, die Quellen wieder zum Sprudeln zu bringen". 28 Tief im Innern des Menschen nun findet sich eine Quelle, die nie versiegt, die also auch nie erst wieder zum Sprudeln gebracht werden muß, und das ist die Quelle eben dessen, was die Philosophie lange Zeit dem Schlaf von Körper und Geist zugerechnet hat, die Quelle der Träume, Bilder, Illusionen. Das stete Wirken dieser ursprünglichen, buchstäblich dichterischen Kraft ist es, was die Vernunft zu ihrer steten Anstrengung des Neinsagens, der Kritik, der Reduktion zwingt. Die Vernunftdialektik, die essentielle Undankbarkeit der Vernunft gegenüber jedem neuen Erfolg, sind also nur ein Zeichen dafür, daß es im Bewußtsein eine nie erlahmende Kraft der Ablenkung vom Realen gibt, eine Kraft, die das wissen-

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La rectification des concepts, Kap. II. La valeur inductive de la relativite, S. 270. Λ. a. O., S. 245. Le materialisme rationnel, S. 22. Essai sur la connaissance approchee, S. 290.

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schaftliche Denken immer begleitet — nicht wie ein Schatten, sondern wie ein Gegen-Licht. [...] Also muß der Geist Vision sein, damit die Vernunft Revision sein kann, und dichterisch, damit die Vernunft in ihrem Vorgehen analytisch und der Rationalismus in seiner Intention psychoanalytisch sein kann. Es hat gelegentlich Verwunderung erregt, daß ein philosophisches Unternehmen, dem die durchgängig rationalistische Haltung scheinbar so gemäß ist, unter das Zeichen der Psychoanalyse gestellt wurde. Aber es handelt sich eben auch um etwas ganz anderes als das optimistische Selbstverständnis der Philosophie der Aufklärung oder des Positivismus. Es handelt sich nicht darum, sich für einen Rationalisten zu halten oder auszugeben. „Rationalisten", sagt Bachelard, „versuchen wir eben erst zu werden." 2 9 Und weiter führt er aus: „Es mag verwundern, daß ein rationalistischer Philosoph den Illusionen und Irrtümern soviel Beachtung schenkt und immer wieder rationale Werte und klare Bilder als Berichtigungen falscher Gegebenheiten hinstellen muß." 3 0 Das komme aber daher, daß im Gegensatz dazu, was die Rationalisten des 18. und 19. Jahrhunderts glaubten, der Irrtum nicht eine Schwäche sei, sondern eine Kraft, die Träumerei nicht Schall und Rauch, sondern ein Feuer. Wie das Feuer flamme sie immer wieder auf. „Ein Teil unserer Mühe wird dem Nachweis gelten, daß die Träumerei unablässig die Ur-Themen wiederholt, daß sie unablässig arbeitet wie eine Ur-Seele, trotz der Erfolge des entwickelten Denkens und selbst gegen die Belehrung durch die Experimente der Wissenschaft." 3 1 Solange man noch nicht ahnte, wieviel stets sich erneuernde Ur-Kraft der Sinnlichkeit in der sensualistischen Einbildungskraft steckt, solange konnte man noch auf eine endgültige Reduktion der Sinnesbilder durch das Walten der nicht-sinnlichen Vernunft hoffen. [...] Die Sinne — in jedem Sinne des Wortes — fabulieren. Man lese hierzu noch einmal die Betrachtungen unseres Philosophen (anläßlich der ersten Untersuchungen zur Elektrizität) zur sinnlichen Natur der konkreten Erkenntnis 32 und seine Schlußfolgerung über die Unveränderlichkeit der unbewußten Werte. 3 3 Man ist also nicht mit so wenig Aufwand Rationalist, wie die Männer der Aufklärung meinten. Der Rationalismus ist eine aufwendige Philosophie, eine Philosophie, die nie zum Ende kommt, eben weil sie „eine Philosophie ist, die keinen Anfang hatte". 3 4

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Λ. a. O., S. 10. A. a. O., S. 9. Die Psychoanalyse des Feuers, S. 13. (Das Zitat wurde für den vorliegenden Zusammenhang neu übersetzt; Λ. d. Ü.) Le rationalisme applique, S. 141. Λ. a. O., Anm. Le rationalisme applique, S. 123.

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Mit der Beschreibung der subtilen Dialektik der Vernunft als der Antwort auf die wuchernde Überfülle der Erkenntnishindernisse ist Bachelard etwas gelungen, woran so viele andere Wissenschaftstheoretiker gescheitert sind: die Anti-Wissenschaft zu verstehen. Emile Meyerson hat im Großen und Ganzen die Schwierigkeiten noch ganz gut bewältigt, denen sich der philosophische Verstand aufgrund des Widerstandes der Erfahrung, des Universums des Lebendigen, gegen das rationale Bemühen um die Identität des Realen gegenübersieht. Er hat diesen rebellischen Kern zu entwerten versucht, indem er ihn das „Irrationale" nannte; da er dann aber der Vernunft recht gibt, wenn sie dieses Irrationale „opfert", erkennt er ihm implizit doch einen gewissen Wert zu, den er ohne weiteres ebenfalls Realität nennt. Das ist aber eine Realität zuviel! In Wirklichkeit bleibt Meyersons Wissenschaftstheorie von ihrem Ansatz her manichäisch, da sie nicht zwischen dem Negativen und dem Nichts zu unterscheiden vermag. Dies ist unausweichlich das Schicksal jeder Wissenschaftstheorie, die die ausschließlich der Wissenschaft angehörenden Werte in die Philosophie selbst hineintragen möchte und die AntiWissenschaft, weil sie von der Wissenschaft und für die Wissenschaft disqualifiziert worden ist, für absolut disqualifiziert hält. Bachelard, der Wissenschaft und Dichtung, Vernunft und Einbildungskraft gleichermaßen verpflichtet ist, wenn auch auf unterschiedliche Weise, hat nichts vom Manichäer. Er hat sich entschieden, die Rolle und das Risiko eines philosophe concordataire35 auf sich zu nehmen, d. h. eines Philosophen, der die widerstreitenden Prinzipien zum Vergleich bringt. Wenn er die für, das heißt gegen, die Vernunft arbeitenden latenten Archetypen der produktiven Einbildungskraft ans Licht bringt, jene Hindernisse für die Wissenschaft, die die Gegenstände der Wissenschaft selbst sind, das der Wissenschaft Entgegenstehende, dann spielt Bachelard nicht den advocatus diaboli, sondern versteht sich als Helfershelfer des Schöpfers. Mit ihm bekommt die creatio continua noch einmal nach Bergson einen neuen Sinn. Nicht nur seine Wissenschaftstheorie ist nämlich nichtcartesianisch, 36 sondern vor allem auch seine Ontologie. Die creatio continua bürgt nicht für die Identität oder das Gewohnheitsmäßige des Seins, sondern für seine Naivität, seine Erneuerung. „Die Augenblicke sind verschieden, weil sie fruchtbar sind." 37

Georges Canguilhem „Sur une epistemologie concordataire"

33 36 37

llactivite rationaliste de la physique contemporaine, Le nouvel esprit scientifique, S. 135. IJintuition de l'instant, S. 112.

S. 56.

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Die drei Grade der Wachsamkeit Überwachung ersten Grades, das ist Erwartung des %u Erwartenden oder sogar Aufmerksamkeit für das Unerwartete, bleibt eine Haltung des empirischen Geistes. Überwachung %weiten Grades setzt eine klare Formulierung der Methoden und jene methodische Wachsamkeit voraus, die für die methodische Anwendung der Methoden unerläßlich ist; auf dieser Ebene kommt es durch Ausübung eines angewandten Rationalismus, der die Voraussetzung für eine klare Formulierung des adäquaten Verhältnisses von Theorie und Erfahrung ist, zur wechselseitigen Kontrolle von Rationalismus und Empirismus. Mit der Überwachung dritten Grades dann taucht die eigentliche wissenschaftstheoretische Fragestellung auf, mit der allein die „Absolutheit der Methode" als System einer „Zensur der Vernunft" und die falschen Absolutheiten der traditionellen Bildung, die bei der Überwachung ζweiten Grades durchaus noch eine Rolle spielen kann, durchbrechen sind. Die Freiheit gegenüber der traditionellen Bildung wie auch gegenüber der empirischen Geschichte der Wissenschaft, die mit dieser geschärften Kritik" gewinnen ist, führt zu einem Pragmatismus, den man auch als einen gegen Naturalisierung wirkenden Pragmatismus (pragmatisme surnaturalisant) bezeichnen könnte, da er in einer neugeschriebenen Geschichte der Methoden und Theorien das Mittel zur Überwindung der Methoden und Theorien sucht. Man sieht, daß eine Soziologie des Wissens und der Bildung, insbesondere aber eine Soziologie der wissenschaftlichen Unterweisung als Instrumente der Überwachung dritten Grades so gut wie unentbehrlich sind.

2. G. Bachelard Es läßt sich ein besonderer Bezirk des Über-Ichs definieren, der das VerstandesÜber-Ich genannt werden könnte. [...] Jedes Bemühen um wissenschaftliche Bildung enthält auch, in zusammengesetzten Formen, die Funktion der Selbstüberwachung. Diese Formen sind hervorragend geeignet, um an ihnen zu zeigen, wie Rationalität psychisch vor sich geht. Wenn wir dies näher untersuchen, dann zeigt sich erneut der spezifisch sekundäre Charakter des Rationalismus. Erst wenn man versteht, daß man versteht, erst wenn man Irrtum und Scheinverständnis mit Gewißheit ausmachen kann, ist man wirklich in der Philosophie des Rationalen zu Hause. Damit die Selbstüberwachung ihrer selbst gewiß sein kann, muß sie irgendwie selber überwacht werden. Damit treten Formen der ÜberwachungsÜberwachung auf, die wir, um beim Sprechen abzukürzen, in exponentieller Schreibweise wiedergeben werden: ( Ü b e r w a c h u n g ) 2. Wir werden auch noch die Elemente einer Überwachungs-Überwachungs-Überivachung andeuten — anders gesagt: die (Überwachung) 3. An diesem Problem der Disziplin des Geistes ist es auch verhältnismäßig leicht, den Sinn einer exponentiellen Psychologie zu erfassen und eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie diese exponentielle Psychologie dazu beitragen kann, Ordnung in die dynamischen Elemente von experimentellen und theoretischen Überzeugungen zu bringen. Je nach Ordnungsebene gehorcht die Verknüpfung von psychologischen Tatbeständen ganz unterschiedlichen Kausalitäten. Diese Verknüpfung ist in der kontinuierlichen Zeit des Lebens nicht darstellbar. Die Erklärung so unterschiedlicher Verknüpfungen braucht das Hierarchische. Dieses Hierarchische kommt

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ohne eine Psychoanalyse des Unnützen, Unbewegten, Überflüssigen, Unwirksamen nicht aus. [...] Ein Physiker überwacht seine Technik auf der Ebene der Überwachung seiner Gedanken. Er muß sich stets auf den normalen Gang seiner Apparate verlassen können. Immer wieder erbringt er den Nachweis, daß alles perfekt funktioniert. Und genauso ist es mit der rein psychischen Apparatur des richtigen Denkens. Nachdem damit die komplizierte Struktur des Überwachungsproblems für ein präzises Denken angedeutet ist, wollen wir uns jetzt ansehen, wie die Überwachungs-Überwachung eingeführt wird. Verstandesüberwachung in ihrer einfachen Form ist die Erwartung eines bestimmten Faktums, das Auffinden eines eindeutigen Ereignisses. Man überwacht nicht einfach irgendetwas. Die Überwachung richtet sich auf ein Objekt, das mehr oder weniger klar umrissen ist, mindestens aber schon eine Art von Bezeichnung bekommen hat. Für ein überwachendes Subjekt nichts Neues. Die Phänomenologie des reinen Neuen im Objekt könnte nicht die Phänomenologie der Überraschung im Subjekt aufheben. Die Überwachung ist also das Bewußtsein eines Subjekts, das ein Objekt hat — und zwar ein so klares Bewußtsein, daß das Subjekt und sein Objekt sich zusammen präzisieren und um so enger aneinander gekoppelt sind, je genauer der Rationalismus des Subjekts die Technik der Überwachung des Objekts vorbereitet. Mit dem Bewußtsein der Erwartung eines wohldefinierten Ereignisses muß dialektisch ein Bewußtsein der geistigen Bereitschaft einhergehen, so daß die Überwachung eines klar umrissenen Ereignisses in Wirklichkeit eine Art Rhythmoanalyse von zentraler und peripherer Aufmerksamkeit ist. Die einfache Überwachung, so alarmbereit und wachsam sie auch sein mag, ist in allererster Linie eine Haltung des empiristischen Geistes. Aus dieser Sicht ist ein Tatbestand ein Tatbestand und nichts als ein Tatbestand. Das Zur-Kenntnis-Nehmen respektiert die Kontingenz der Tatbestände. Die Funktion der Überwachungs-Überwachung dürfte erst nach einer „Abhandlung über die Methode" auftauchen, wenn also durch Verhalten oder durch Denken Methoden gefunden und validiert worden sind. Dann zwingt der Respekt vor der derart validierten Methode zu Überwachungshaltungen, die wiederum von einer speziellen Überwachung wachgehalten werden müssen. Die dergestalt überwachte Überwachung ist dann zugleich Bewußtsein einer Form und Bewußtsein einer Formung. Mit dieser „Dublette" taucht der angewandte Rationalismus auf. Es geht nämlich darum, geformte Tatbestände wahrzunehmen, Tatbestände, durch die die Prinzipien der Formung aktualisiert werden. Bei dieser Gelegenheit können wir im übrigen auch feststellen, wieviele Dokumente die Unterweisung im wissenschaftlichen Denken zur exponentiellen Psychologie beisteuert. Eine Erziehung des wissenschaftlichen Denkens könnte von einer deutlichen Formulierung dieser Überwachung der Über-

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wachung, die das klare Bewußtsein von der strengen Anwendung einer Methode ist, nur profitieren. Hier spielt die klar umrissene Methode insofern die Rolle eines gut analysierten Über-Ichs, als Fehler in aller Gelassenheit gemacht werden können; sie sind nicht nur nicht schmerzhaft, ja, sie sind lehrreich. Sie müssen gemacht werden, damit die Überwachungs-Überwachung alarmbereit bleibt, damit sie dazulernt. Auf dieser Ebene arbeitet die Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis und der rationalen Erkenntnis mit der Aufklärung der Beziehungen von Theorie und Experiment, Form und Materie, Strengem und Ungefährem, Gewissem und Wahrscheinlichem — lauter Dialektiken, die einer spezifischen Kritik bedürfen, damit man nicht ohne die gebotene Vorsicht von dem einem zum jeweils anderen Term kommt. Dies wird oft Anlaß zum Niederreißen philosophischer Blockaden sein; soundsoviele Philosophen treten nämlich mit dem Anspruch auf, der wissenschaftlichen Bildung ein Über-lch vorzugeben. Man brüstet sich mit dem Realismus, Positivismus, Rationalismus und schüttelt dabei gelegentlich gleich auch die Kritik ab, die doch die Grenzen und die Beziehungen von Rationalem und Erfahrungsbezogenem sichern soll. Sich ständig auf eine Philosophie wie auf etwas Absolutes zu berufen, heißt, eine Zensur auszuüben, deren Rechtmäßigkeit nicht immer wieder überprüft wird. Da die Überwachungs-Überwachung auf beiden Seiten arbeitet, bei Empirismus und Rationalismus, ist sie in mancherlei Hinsicht eine wechselseitige Psychoanalyse der beiden Philosophien. Die vom Rationalismus und vom wissenschaftlichem Experiment jeweils ausgeübte Kritik korrelieren miteinander. Unter welchen Umständen wird nun ( Ü b e r w a c h u n g ) 3 auftauchen? Ganz offensichtlich dann, wenn nicht nur die Anwendung der Methode, sondern die Methode selbst überwacht wird. (Überwachung) 3 setzt voraus, daß die Methode selbst überprüft wird, daß rationale Gewißheiten der Erfahrung ausgesetzt werden oder daß bei der Interpretation korrekt aufgezeichneter Phänomene eine Krise eintritt. Das aktive Über-lch übt dann in der einen oder anderen Richtung scharfe Kritik. Es stellt nicht nur das gebildete Ich, sondern auch frühere Formen des gebildeten Über-Ichs unter Anklage; zuerst gilt die Kritik natürlich der Bildung, wie sie bei traditioneller Unterweisung vermittelt wird; dann aber bezieht sie sich auf die theoretisch aufgearbeitete Bildung, die Geschichte der Rationalisierung des Wissens selbst. Kurz gefaßt kann man sagen, daß die Tätigkeit der ( Ü b e r w a c h u n g ) 3 sich für absolut frei gegenüber jeder Geschichtlichkeit von Bildung erklärt. Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens ist nicht länger ein notwendiger Zugangsweg, sie ist nur noch eine Gelenkigkeitsübung für Anfanger, mit der uns Beispiele für Verstandesleistungen vorgeführt werden sollen. Die überwachte Bildung, wie wir sie vor Augen haben, schreibt selbst dann, wenn sie der historischen Entwicklung zu folgen scheint, immer wieder eine neue, wohlgeordnete Geschichte, die mitnichten der tatsächlichen Geschichte entspricht. In dieser neugeschriebenen Geschichte ist alles Wert. Das (Über-lch) 3 findet zu schnei-

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leren Verdichtungen als die auf die historische Zeit verdünnten Beispiele. Es denkt Geschichte, sehr wohl um die Schwäche wissend, die darin läge, sie noch einmal zu leben. Muß noch darauf hingewiesen werden, daß die (Überwachung)^ Beziehungen von Form und Zweck erfaßt? Daß sie die Absolutheit der Methode zerstört? Daß sie die Methode als ein Moment des Methodenfortschritts beurteilt? Kein bruchstückhafter Pragmatismus mehr auf der Ebene der (Überwachung)3. Die Methode muß den Beweis einer rationalen Zweckbestimmtheit erbringen, die nichts mit einem vorübergehenden Nutzen zu tun hat. Oder wenigstens muß ein gegen jede Form der Naturalisierung angehender Pragmatismus (pragmatisme surnaturalisanf) ins Auge gefaßt werden, ein Pragmatismus, der wie eine anagogische Übung für den Geist angelegt wäre, ein Pragmatismus, der nach Beweggründen für Überwindung und Transzendenz sucht und der fragt, ob die Regeln der Vernunft nicht selber eine Zensur darstellen, die zu durchbrechen ist.

Gaston Bachelard Le rationalisme applique

Einleitung

Wissenschaftstheorie und Methodenlehre Wissenschaftstheorie und rekonstruierte Logik Die Wissenschaftsso^iologen haben festgestellt, daß das Verhältnis des Wissenschaftlers seiner Praxis — zumindest so me er sie erzählend oder beschreibend rekonstruiert — fast immer über sociale Repräsentationen vermittelt ist, die sich von Philosophien herleiten, die ihrerseits der Realität des wissenschaftlichen Prozesses oft sehr fern stehen. In den So^ialwissenscbaften werden die Operationen des Forschungspro^esses meist %u einer dem Regelkanon der Methodenlehre entsprechenden Logik uminterpretiert, weit entfernt von der im wirklichen Forschungspro^eß verwandten Logik. Nun ist die Rekonstruktion des Vorgehens %war ein Mittel %ur Überprüfung der logischen Stringentζ einer Untersuchung*, aber sie kann auch, wenn sie als Darstellung des wirklichen Vorgehens ausgegeben wird, entgegengesetzte Folgen haben. Dann besteht die Gefahr, daß eine Dichotomie £wischen dem wirklichen Vorgehen festgeschrieben wird, das der Intuition und dem Zufall unterliegt, und der idealen Stringendie in formalen Übungen oder beim Nachvoll^ug einer Untersuchung** viel leichter verwirklichen ist. Erinnert man daher an den Unterschied %wischen der wirklichen Logik des wissenschaftlichen Vorgehens und der idealen Logik der Rekonstruktion post festum, so ist das keine Aufforderung %um Hyperempirismus oder %um Abenteuer des Intuitionismus, sondern ein Appell an die wissenschaftstheoretische Wachsamkeit, denn dabei wird deutlich, daß der Forschungspro^eß seine eigene, von der Logik der Darstellung oder der Beweisführung unterschiedene Logik haben kann.

3. A. Kaplan Nun soll allerdings eine rekonstruierte Logik nicht einfach beschreiben, was die Wissenschaftler tatsächlich tun, und zwar aus zwei Gründen. Erstens ist Logik, da sie mit Evaluation zu tun hat, an dem, was getan wird, weniger interessiert als an dem, was offen bleibt. In der Wissenschaft Hypothesen zu bilden und sie durch befriedigendere zu ersetzen ist jedoch, im Ganzen gesehen, eine Sache begründeten Vorgehens und nicht etwas Unlogisches oder Außerlogisches. Was ich hier kritisiere, ist, daß sich bei der „hypothetisch-deduktiven" Rekonstruktion die wichtigsten Ereignisse im Drama der Wissenschaft irgendwo hinter der Bühne abspielen. Ganz gewiß ist für das Unternehmen Wissenschaft der Zuwachs an Wissen das Entscheidende, auch von einem logischen Standpunkt aus. Konventionelle Rekonstruktion liefert uns zwar die Auflösung der Geschichte, aber sie läßt uns unwissend über den Gang der Handlung. Zweitens ist eine rekonstruierte Logik keine Beschreibung, sondern eher eine Idealisierung der wissenschaftlichen Praxis. Nicht einmal der größte

* S. o., § 1.1, S. 15 f., und s. u., J. H. Goldthorpe und D. Lockwood, Text Nr. 6, S. 114. ** S. o., §2.1, S. 40.

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Kinleitung

Wissenschaftler verfügt über einen kognitiven Stil, der gänzlich und vollkommen logisch ist, und auch das brillanteste Stück Forschung trägt noch immer Spuren von allzu menschlichen Abschweifungen. Die Logik des Forschungsprozesses ist eingebettet in eine Matrix aus im Forschungsprozeß verwandten Α-Logiken oder gar Un-Logiken. Die Rekonstruktion idealisiert die Logik der Wissenschaft, sofern sie uns zeigt, wie diese aussehen würde, wenn sie extrahiert und zu höchster Reinheit geläutert würde. Dieses Argument zugunsten der rekonstruierten Logik ist wichtig und, wie ich meine, auch berechtigt — aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Die Idealisierung kann so weit getrieben werden, daß sie nur noch für die weitere Entwicklung der Logik selbst nützlich ist und nicht mehr für das Verständnis und die Evaluation wissenschaftlicher Praxis. Rekonstruktionen sind so sehr idealisiert worden, daß es den Einzelwissenschaften „zuweilen schwer fällt", wie Max Weber ironisch bemerkte, „mit unbewaffnetem Auge sich selbst in jenen Erörterungen wiederzuerkennen." 1 Im schlimmsten Fall ist der Logiker so damit beschäftigt, die Kraft und die Schönheit seines Instruments zu steigern, daß er das Material aus dem Auge verliert, mit dem es arbeiten muß. Im besten Fall läßt er sich auf einen fragwürdigen Platonismus ein: Daß die richtige Art, etwas zu analysieren und zu verstehen, darin besteht, es auf seine ideale Form zurückzuführen, d. h. auf seine von jeder konkreten Verkörperung abstrahierte Form. Das ist ein Weg, aber es ist nicht der einzige Weg, und ich bin weit davon entfernt zu glauben, daß es immer der beste Weg ist. Die große Gefahr bei der Verwechslung der im Forschungsprozeß verwandten Logik mit einer besonderen rekonstruierten Logik und insbesondere einer hoch idealisierten ist, daß dabei die Autonomie der Wissenschaft in subtiler Weise untergraben wird. Die normative Kraft der Logik hat nicht notwendigerweise die Wirkung, die Logik des Forschungsprozesses zu verbessern, sondern nur die, sie mit der herangetragenen Rekonstruktion in Einklang zu bringen. Es wird oft gesagt, daß die Verhaltenswissenschaften sich nicht länger die Physik zum Vorbild nehmen sollten. Ich glaube, dieser Rat ist falsch: Schließlich ist es durchaus sinnvoll, sich jene Operationen des Verstehens zum Vorbild zu nehmen, die sich bereits als in so hervorragender Weise erfolgreich bei der Suche nach der Wahrheit erwiesen haben. Allerdings meine ich, daß die Verhaltenswissenschaften aufhören sollten, sich an dem zu orientieren, was eine spezielle Rekonstruktion als Physik ausgibt.

Abraham Kaplan The Conduct of Inquiry 1

Μ. Weber, „Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik", in: ders., Gesammelte Aufsätze %ur Wissenschaftslehre, Tübingen: Mohr, 1985, S. 216.

1. D e r B r u c h

1.1 Vorbegriffe und die Techniken des Bruchs Vorbegriffe als Erkenntnishindernis Die Infragestellung der Wahrheiten" des common sense ist ein Gemeinplatz der Methodendiskussion geworden, die darüber ihre ganze kritische Potenζ verlieren droht. Bachelard und Dürkheim machen deutlich, daß auch eine Punkt für Punkt abhandelnde Auseinandersetzung mit den Vorurteilen des common sense die radikale Infragestellung der Prinzipien, auf denen er beruht, nicht ersetzen kann: „Was man deutlich zu wissen glaubt, verdunkelt angesichts des Wirklichen, was man wissen müßte. Wenn der Geist sich der wissenschaftlichen Bildung stellt, ist er niemals jung. Er ist sogar sehr alt, denn er ist so alt wie seine Vorurteile, j... j Die Meinung denkt falsch; sie denkt nicht: sie übersetzt Bedürfnisse in Erkenntnisse. Indem sie die Gegenstände durch ihre Nützlichkeit bestimmt, nimmt sie sich die Möglichkeit, sie zu erkennen j... j. Ηs genügte zum Beispiel nicht, sie in einzelnen Punkten richtigzustellen, wie eine Art provisorischer Moral, ein provisorisches Vulgärwissen. Der wissenschaftliche Geist verbietet uns Meinungen über Prägen, die wir nicht verstehen, über Prägen, die wir nicht klar zu formulieren wissen."* Die Um- und Irrwege der soziologischen Erkenntnis hängen nicht von äußeren Ursachen allein ab, etwa von der Komplexität und Vergänglichkeit der betrachteten Phänomene, sondern auch von den gesellschaftlichen Punktionen der Vorbegriffe, die der soziologischen Wissenschaft im Wege stehen: Ihre prägende Kraft verdanken die Primärmeinungen nicht allein der Tatsache, daß sie sich als systematischer Erklärungsversuch präsentieren, sondern auch der Tatsache, daß die Punktionen, die sie erfüllen, selber ein System bilden.

4. E. Dürkheim Sobald eine neue Gattung v o n Erscheinungen Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung wird, ist sie schon im Bewußtsein vertreten, und zwar nicht nur durch sinnlich-bildliche Vorstellungen, sondern auch durch eine Art v o n grob geformten Begriffen. Noch v o r den Anfangen der wissenschaftlichen Physik und Chemie verfügten die Menschen über Kenntnisse auf physikalischem und chemischem Gebiete, die über die reine Wahrnehmung hinausgingen. Solcher Art sind ζ. B. Begriffsbildungen, die wir sämtlichen Religionen beigemengt finden. Das Nachdenken geht eben der Wissenschaft voraus, die es nur mit mehr Methode zu handhaben versteht. Der Mensch kann nicht inmitten der Dinge leben, ohne sich über sie Gedanken zu machen, nach denen er sein Verhalten einrichtet. [...] Diese Gedankenbildungen oder Begriffe oder wie man sie auch nennen will, sind nicht die legitimen Vertreter der Dinge. Als Produkte der Vulgärerfahrung zielen sie v o r allem darauf ab, unsere Handlungen mit der Umwelt in Einklang zu bringen. Sie sind von der Praxis und für die Praxis geschaffen.

* G. Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen

Geistes, a. a. O., S. 47.

108

1. Der Bruch

Nun kann eine Vorstellung praktisch ganz wohl eine nützliche Rolle spielen und dennoch falsch sein. Kopernikus hat vor mehreren Jahrhunderten die Täuschungen unserer Sinne über die Bewegungen der Gestirne entlarvt; trotzdem sind es nach wie vor diese Täuschungen, die uns bei der Einteilung der Zeit leiten. Damit ein Gedanke die Bewegungen auslöst, die die Natur einer Sache erfordert, ist es nicht nötig, daß er diese Natur getreu ausdrückt. Es reicht hin, daß er uns fühlen läßt, was an der Sache nützlich und was nachteilig ist, worin sie uns dienlich und worin hinderlich sein kann. Außerdem besitzen derart gebildete Vorstellungen jene praktische Folgerichtigkeit nur sehr annähernd und nur im Durchschnitt der Fälle. Häufig sind sie ebenso gefährlich wie unangemessen. Indem man sich auf ihre Verarbeitung beschränkt, gelangt man nicht zu den Gesetzen der Wirklichkeit, man fange es an, wie man wolle. Diese Begriffe sind im Gegenteil wie ein Schleier, der sich zwischen die Dinge und uns legt und sie desto mehr verhüllt, je durchsichtiger man ihn glaubt. [...] Die Begriffe, von denen hier gesprochen wird, sind die notiones vulgares oder praenotiones, deren Existenz er [Bacon] am Grunde aller Wissenschaften aufweist, wo sie an Stelle der Tatbestände stehen. Es sind die tdola, gewissermaßen Phantome, die das wahre Aussehen der Dinge entstellen und die wir dennoch für die Dinge selbst nehmen. Und weil diese imaginäre Welt dem Verstände keinen anderen Widerstand bietet, überläßt er sich ohne Halt schrankenlosen Ambitionen und hält es für möglich, allein mit seinen Kräften die Welt nach Belieben zu konstruieren oder reformieren zu können. Geschah dies schon in den Naturwissenschaften, so lag es für die Soziologie noch viel näher. Die Menschen haben die Entstehung der Sozialwissenschaften nicht abgewartet, um sich über Recht, Moral und Familie, Staat und Gesellschaft Gedanken zu machen. Sie brauchten das zum unmittelbaren Lebensvollzug. Nun sind gerade in der Soziologie diese Vorbegriffe, also die praenotiones, um mit Bacon zu reden, imstande, die Geister zu beherrschen und sich an Stelle der Dinge zu setzen. Tatsächlich werden soziale Verhältnisse nur durch Menschen verwirklicht. Sie sind ein Erzeugnis menschlicher Tätigkeit. Sie scheinen also nichts anderes zu sein als die Verwirklichung von Ideen, die wir, angeboren oder nicht, in uns tragen, und deren Anwendung auf die verschiedenen Umstände, welche die Beziehungen der Menschen untereinander begleiten. [...] Ein weiterer Umstand verschafft schließlich dieser Art, die Dinge anzusehen, besonderes Ansehen. Die Einzelheiten des sozialen Lebens, die von allen Seiten das Bewußtsein überschwemmen, werden nicht hinreichend scharf aufgefaßt, um ihre Realität zu fühlen. Da wir nicht genug feste und naheliegende Anknüpfungspunkte in uns vorfinden, macht uns alles das nur zu leicht den Eindruck, es schwebe haltlos im Leeren, eine halb unwirkliche und unendlich plastische Materie. Darum haben auch so viele Denker in den sozialen Einrichtungen nur künstliche und mehr oder weniger willkürliche

Vorbegriffe und die Techniken des Bruchs. E. Dürkheim

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Kombinationen gesehen. Aber wenn sich uns auch die Details, die konkreten und besonderen Formen entziehen, so besitzen wir wenigstens grobe und beiläufige Vorstellungen darüber, wie im großen und ganzen das Kollektivleben aussieht, und gerade diese schematischen und summarischen Vorstellungen sind es, die die Vorbegriffe bilden, deren wir uns für das Bedürfnis des Tages bedienen. Die Existenz solcher Begriffe können wir nicht in Zweifel ziehen, da wir uns ihrer zur selben Zeit bewußt werden wie unserer eigenen. Sie sind nicht nur in uns vorhanden, als Erzeugnis oft wiederholter Erfahrungen erwerben sie auf Grund der Wiederholung und der ihr entspringenden Gewohnheit Einfluß und Ansehen. Wir fühlen ihren Widerstand, sobald wir uns von ihnen frei machen wollen. Und das, was uns Widerstand leistet, müssen wir als wirklich ansehen. Alles trägt also dazu bei, uns hier die wahre soziale Wirklichkeit sehen zu lassen. [...] Diese Vulgärbegriffe finden sich aber nicht nur in den Grundlagen der Wissenschaft, sondern man begegnet ihnen auch jederzeit im Laufe der wissenschaftlichen Argumentationen. Bei dem gegenwärtigen Stande unserer Kenntnisse können wir nicht mit Bestimmtheit sagen, was Staat, Souveränität, politische Freiheit, Demokratie, Sozialismus, Kommunismus usw. eigentlich sind, und die wissenschaftliche Methode würde dementsprechend verlangen, daß man sich des Gebrauches aller dieser Begriffe so lange enthalte, als sie nicht wissenschaftlich geklärt sind. Nichtsdestoweniger kommen diese Worte in den Diskussionen der Soziologen ohne Unterlaß vor. Gewöhnlich gebraucht man sie mit einer Sicherheit, als ob sie wohlbekannten und definierten Dingen entsprächen, während sie nur wirre Vorstellungen und ein unbestimmbares Gemisch von dumpfen Empfindungen, Vorurteilen und Leidenschaften in uns hervorrufen. Wir lächeln heutzutage über die sonderbaren Klügeleien, die die Ärzte des Mittelalters unter Zuhilfenahme der Begriffe von warm und kalt, feucht, trocken usw. aufbauten, ohne zu bemerken, daß wir dieselbe Methode immer noch auf eine Gattung von Erscheinungen anwenden, die es am allerwenigsten verträgt, weil sie besonders komplex ist. In den Sonderfächern der Soziologie ist dieser ideologische Charakter noch ausgesprochener. [...] Auch alle Fragen, mit denen sich die Ethik gewöhnlich befaßt, beziehen sich nicht auf Dinge, sondern auf Ideen. Auch hier handelt es sich darum zu wissen, was die Idee des Rechtes, die Idee der Moral ist, nicht aber das Recht und die Sitte an sich selbst. Die Ethiker sind noch nicht zu der sehr einfachen Auffassung gelangt, daß, ähnlich wie die Vorstellung der sinnlich wahrnehmbaren Dinge von diesen Dingen selbst ausgeht und sie mehr oder minder genau ausdrückt, unsere Vorstellung der Moral von dem Bild der Regeln, die vor unseren Augen in Wirkung sind, herrührt und sie schematisch abbildet; daß infolgedessen diese Regeln und nicht die ungefähre Anschauung, die uns darüber zu Gebote steht, Gegenstand der Wissenschaft sind, so wie ja auch die Physik die Körper, so wie sie existieren, zum Gegenstande nimmt

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1. Der Bruch

und nicht die Idee, die sich der naive Mensch über sie bildet. Daraus folgt, daß man für die Grundlage der Moral hält, was nur ihr Gipfel ist, nämlich die Art und Weise, wie sie sich ins Bewußtsein der Einzelnen hinein verlängert und dort auswirkt. [...] Es ist notwendig, alle Vorbegriffe systematisch auszuschalten. Ein besonderer Hinweis für diese Regel ist überflüssig; sie folgt aus allem früher Gesagten. Sie ist übrigens die Grundlage für jedes wissenschaftliche Verfahren. Der methodische Zweifel von Descartes ist im Grunde nur eine Anwendung dieser Regel. Wenn Descartes im Augenblick, da er an die Grundlegung der Wissenschaft herangeht, sich zum Gesetze macht, alle Vorstellungen, die er früher empfangen hat, in Zweifel zu ziehen, so tut er es, weil er nur wissenschaftlich erarbeitete Begriffe, d. h. solche, die nach der von ihm festgesetzten Methode aufgebaut sind, benützen will; alle übrigen, die ihren Ursprung anderswo herleiten, müßten also, wenigstens vorläufig, verworfen werden. Wir haben schon gesehen, daß die Theorie der ldola bei Bacon keinen anderen Sinn hat. Die zwei großen Systeme, die man so häufig einander entgegengestellt hat, stimmen in diesem wesentlichen Punkte überein. Der Soziologe muß also, sowohl bei der Bestimmung des Gegenstandes seiner Forschung als auch im Verlaufe seiner Beweisführung, sich des Gebrauchs von Begriffen entschieden entschlagen, die außerhalb der Wissenschaft und für Bedürfnisse, die nichts Wissenschaftliches an sich haben, gebildet wurden. Er muß sich von den falschen Selbstverständlichkeiten befreien, die den Verstand des naiven Menschen beherrschen, und ein für allemal das Joch dieser empirischen Kategorien abschütteln, die durch lange Gewöhnung schließlich zu einer tyrannischen Macht werden. Wenn ihn bisweilen die Notwendigkeit zwingt, auf jene zurückzugreifen, so mag er es wenigstens im Bewußtsein ihres geringen Wertes tun und sie nicht in der Wissenschaft eine Rolle spielen lassen, die ihnen nicht gebührt.

Emile Dürkheim Die Regeln der soziologischen Methode

Die provisorische Definition als Instrument des Bruchs Dürkheims Forderung nach einer vorgängigen Definition, als obligater Bestandteil des Rituals akademischer Exposition oft kritisiert und neuerdings einer „operationalistischen" Rehabilitierung unterzogen, die ihr ebensowenig gerecht wird, hat vor allem die Funktion, mit den Vorbegriffen aufzuräumen, das heißt mit den Prä-Konstruktionen der Spontansoziologie, indem über sie das Beziehungssystem konstruiert wird, das den wissenschaftlichen Tatbestand definiert.

5. M. Mauss Bleibt noch die Methode zu bestimmen, die unserem Gegenstand am ehesten gerecht wird. Zwar meinen wir, daß nicht immer wieder Methodenfragen erörtert werden sollten, jedoch scheint es uns von Nutzen zu sein, hier die

Vorbegriffe und die Techniken des Bruchs. M. Mauss

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Definitions-, Beobachtungs- und Analyseverfahren zu erklären, die im Laufe dieser Arbeit angewendet werden. Auf diese Weise können unsere Schritte dann auch jeweils leichter kritisiert und ihre Ergebnisse überprüft werden. Da das Gebet als integraler Bestandteil des Rituals eine gesellschaftliche Institution ist, hat die Untersuchung einen Stoff, ein Objekt, einen Gegenstand, an den sie sich halten kann und muß. Während das Ritual nämlich für Philosophen und Theologen eine konventionelle Sprache ist, in der, unvollkommen, das Spiel der innersten Bilder und Empfindungen zum Ausdruck kommt, wird es für uns die Realität selbst. Denn es enthält alles, was am Gebet aktiv und lebendig ist: In ihm ist alles bewahrt, was an Sinn in die Wörter hineingelegt wurde, alles im Keim enthalten, was daraus, auch durch neue Synthesen, abgeleitet werden kann: Die gesellschaftlichen Praktiken und Glaubensüberzeugungen, die in ihm verdichtet sind, sind vergangenheitsund gegenwartsträchtig, zukunftsschwanger. Untersucht man das Gebet unter diesem Blickwinkel, ist es also nicht länger etwas Unbeschreibbares, Unzulängliches. Es wird eine bestimmte Realität, etwas konkret Gegebenes, etwas Präzises, Festes, Festgelegtes, das sich dem Beobachter aufdrängt. Definition. — Nun wissen wir zwar, daß es irgendwo ein System von Tatbeständen gibt, die Gebete genannt werden, haben von ihm aber einstweilen nur einen verschwommenen Begriff, wir kennen weder seinen Umfang, noch seine genauen Grenzen. Vor allem also müssen wir diesen schwankendunbestimmten Eindruck in einen klar umrissenen Begriff verwandeln. Dies nun ist Sache der Definition. Es kann natürlich keine Rede davon sein, gleich auf Anhieb die Substanz der Tatbestände selbst zu definieren. Eine solche Definition kann nur am Ende der Wissenschaft erfolgen, denn die Definition, die wir zu Beginn vorzunehmen haben, kann nur provisorisch sein. Sie ist nur dazu da, den Untersuchungsprozeß einzuleiten und den zu untersuchenden Gegenstand zu bestimmen, ohne den Untersuchungsergebnissen vorzugreifen. Es geht darum herauszubekommen, welches die Tatbestände sind, die Gebete genannt zu werden verdienen. Obwohl sie provisorisch ist, kann bei dieser Definition jedoch gar nicht sorgfältig genug verfahren werden, denn sie bestimmt den ganzen weiteren Verlauf der Arbeit. Tatsächlich erleichtert sie die Forschung, weil sie das Beobachtungsfeld eingrenzt. Zugleich macht sie die Verifizierung der Hypothesen systematisch. Dadurch entgeht man der Willkür, man ist genötigt, alle Gebetstatbestände zu betrachten, und nur sie. Kritik kann dann nach genauen Regeln erfolgen. Will man eine These anfechten, muß man aufzeigen, daß entweder die Definition schlecht war und den ganzen weiteren Gedankengang beeinträchtigt hat, oder daß irgendein Tatbestand, der in die Definition eingegangen ist, vernachlässigt wurde, oder schließlich daß Tatbestände, die nicht in die Definition eingegangen sind, dennoch einbezogen wurden. Wird dagegen die Nomenklatur nicht festgelegt, geht der Autor unmerklich von einer Art Tatbestände zur anderen über, oder ein- und dieselbe Art

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1. Der Bruch

Tatbestände trägt bei unterschiedlichen Autoren unterschiedliche Namen. Die nachteiligen Folgen, die aus der fehlenden Definition entstehen, sind in der Religionswissenschaft, wo man sich wenig Gedanken über das Definieren gemacht hat, besonders spürbar. So können uns Ethnologen, die gerade noch gesagt haben, dieser oder jener Gesellschaft sei das Gebet nicht bekannt, gleich danach „religiöse Gesänge" oder eine Menge ritueller Texte zitieren, die sie in ihr beobachtet haben. Eine vorgängige Definition erspart uns dieses bedauerliche Schwanken und die endlosen Debatten zwischen Autoren, die unter demselben Thema nicht von denselben Dingen reden. Da diese Definition zu Beginn der Untersuchung erfolgt, das heißt zu einem Zeitpunkt, zu dem die Tatbestände nur von außen bekannt sind, kann sie auch nur nach äußeren Merkmalen vorgenommen werden. Es geht ausschließlich darum, das Untersuchungsobjekt einzugrenzen und also seine Konturen zu umreißen. Es müssen ein paar sichtbare, hinreichend deutliche Merkmale gefunden werden, anhand derer alles, was Gebet ist, erkannt werden kann, und zwar gewissermaßen auf den ersten Blick. Auf der anderen Seite aber müssen diese selben Merkmale objektiv sein. Hierbei darf man sich weder auf seine Eindrücke, noch auf seine Vorbegriffe, noch auf die des beobachteten Milieus verlassen. Wir sagen nicht deshalb von einem religiösen Akt, er sei ein Gebet, weil wir ihn als solches empfinden oder weil die Anhänger dieser oder jener Religion ihn so nennen. So wie der Physiker Wärme über die Ausdehnung der Körper definiert und nicht über den Eindruck von Wärme, so werden auch wir in den Dingen selbst dem Merkmal nachgehen, aufgrund dessen von Gebet gesprochen werden muß. Nach Eindrücken definieren läuft auf gar nicht definieren hinaus; denn nichts ist wandelbarer als ein Eindruck: Er wechselt von einer Person zu anderen, einem Volk zum anderen, und innerhalb einer Person wie innerhalb eines Volkes je nach der Stimmung, in der sie sich befinden. Setzt man daher, statt — zwar willkürlich, aber doch um Logik und Konkretion bemüht — den wissenschaftlichen Begriff vom Gebet zu bilden, diesen Begriff aus so unbeständigen Elementen wie der Empfindung von Einzelpersonen zusammen, so wird man erleben, wie er, sehr zum Schaden der Arbeit, zwischen den Gegensätzen schwankt. Die unterschiedlichsten Dinge werden Gebet genannt, entweder im Verlauf ein- und derselben Arbeit von ein- und demselben Autor, oder je nach den Autoren, die dem Wort jeweils unterschiedliche Bedeutungen geben, oder je nach den untersuchten Kulturen. Auf diese Weise kommt es schließlich dahin, daß Tatbestände einander als widersprüchlich gegenübergestellt werden, die doch zur selben Gattung gehören, oder daß Tatbestände vermengt werden, die unterschieden werden müssen. So wie die alte Physik aus warm und kalt zwei unterschiedliche Naturzustände machte, so wird sich ein Idealist auch heute noch der Einsicht verschließen, daß zwischen dem Gebet und einer gewöhnlichen magischen Beschwörungsformel eine gewisse Verwandtschaft besteht. Das einzige Mittel zur Vermeidung von

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Vorbegriffe und die Techniken des Bruchs. Goldthorpe/Lockwood

Unterscheidungen, die genauso willkürlich sind wie manche Vermengungen, ist, mit all diesen subjektiven Vorbegriffen ein- für allemal aufzuräumen, um zur Institution selbst vorzudringen. Unter dieser Bedingung ist diese Definition zu Beginn bereits ein erster Gewinn für die Untersuchung. [...] Wenn wir „das Gebet" sagen, meinen wir damit nicht, daß es irgendwo eine soziale Größe gibt, die diesen Namen verdiente und über die wir unmittelbar nachdenken könnten. Eine Institution ist nicht eine unteilbare und von den Tatbeständen, in denen sie zum Ausdruck kommt, unterschiedene Einheit, sie ist nur ihr System. Nicht nur gibt es nur besondere Religionen und nicht „die Religion", sondern von diesen ist wiederum jede einzelne nichts anderes als ein mehr oder weniger strukturiertes Ensemble von Glaubensüberzeugungen und religiösen Praktiken. Ebenso ist das Wort Gebet nur ein Substantiv, mit dem wir ein Ensemble von Erscheinungen kennzeichnen, von denen jede für sich schon ein Gebet ist. Nur haben sie alle bestimmte charakteristische Merkmale gemeinsam, die durch Abstraktion herausgearbeitet werden können. Wir können sie also unter ein- und demselben Namen zusammenfassen, der sie alle, und nur sie, bezeichnet. Wenn wir aber auch bei der Bildung dieses Begriffs in keiner Weise an die geläufigen Begriffe gebunden sind, so dürfen wir ihnen doch nicht unnötig Gewalt antun. Es kann nicht darum gehen, ein Wort, das alle Welt gebraucht, in völlig neuem Sinne zu verwenden, sondern nur darum, an die Stelle des üblichen Begriffs, der verschwommen ist, einen klareren und schärfer umrissenen Begriff zu setzen. Der Physiker hat den Sinn des Wortes Wärme nicht entstellt, wenn er sie über die Ausdehnung definiert. Ebensowenig entstellt der Soziologe den Sinn des Wortes Gebet, wenn er dessen Bedeutungsumfang und Inhalt eingrenzt. Sein einziges Ziel ist es, persönliche Eindrücke durch ein objektives Kennzeichen zu ersetzen, das Zweideutigkeiten und Verwechslungen ausräumt und Wortspielereien — unter Vermeidung von Neologismen — vorbeugt. Marcel Mauss „La priere"

Die logische Analyse als Adjuvans der epistemologischen Wachsamkeit Die Klärung von Begriffen und die Formulierung von Thesen und Hypothesen in einer Form, die sie der Überprüfung an der Erfahrung zugänglich macht, ist eine der Grundvoraussetzungen wissenschaftlicher S/ringen^ und eines der wirksamsten Instrumente der epistemologischen Wachsamkeit. Ganz besonders bedürfen B e g r i f f e aus der Umgangssprache wie „Konformismus"* und „Verbürgerlichung' einer Uberprüfung, um ihre Voraussetzungen klären, ihre Kohärenz auf die Probe stellen und die * Ein weiteres Beispiel für diesen Stil der Analyse findet sich bei M. Jahoda, „Conformity and Independence", Human Relations, April 1959, S. 99 ff.

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1. Der Bruch

Konsequenzen der mit ihnen implizierten Thesen herausarbeiten können. Sicher wäre den Automatismen der klassifikatorischen Abstraktion (s. o., 1.6) %u viel abverlangt, wollte man in dem von den Autoren vorgelegten formalisierten Schema einen allgemeingültigen Entwurf für die Überprüfung an der Erfahrung sehen; zumindest aber fordert die logische Analyse, die auf dieser Grundlage entwickelt werden kann, Ambivalenten zuta&e> die hinter dem halbwissenschaftlichen Begriff der „Verbürgerlichung' stecken.

6. J. H. Goldthorpe und D. Lockwood Angesichts des „Wohlstandes" der Arbeiterklasse ist die Behauptung aufgestellt worden, die Klassenstruktur Großbritanniens sei im Umbruch. Eine ganze Reihe von Autoren hat argumentiert, daß die Arbeiterklasse, oder zumindest ihr wohlhabenderer Teil, ihre Identität als gesellschaftliche Schicht verliere und dabei sei, in der Mittelklasse aufzugehen. Mit anderen Worten, es wird behauptet, daß heute viele Lohnarbeiter und ihre Familien von den Mitgliedern anderer Gruppen sozial nicht zu unterscheiden seien — etwa von den Büroangestellten, von den Fachkräften mittlerer Ränge oder den Technikern —, die zuvor gesellschaftlich höher rangierten. Das aber hieße, notabene, einen wesentlich schnelleren und weiterreichenden Wandel der Klassenstruktur zu unterstellen, als er aus den säkularen Trends der Berufsstruktur, der globalen Einkommens- und Vermögensverteilung oder intergenerationeller sozialer Mobilitätsraten folgen könnte. Es würde bedeuten, daß eine große Zahl von" Personen im Laufe ihres Lebens nicht nur kollektiv eine merkliche Verbesserung ihres Lebensstandards erfahren würde, sondern auch einen grundlegenden Wandel in ihrem Lebensstil und ihrer gesellschaftlichen Position im Verhältnis zu anderen Gruppen, mit denen sie in regelmäßigem Kontakt stehen. Damit sind also ökonomische Veränderungen ebenso angesprochen wie Veränderungen in den Werten, Haltungen und Wünschen, in Verhaltensmustern und in der Struktur der Beziehungen im Verbandsleben und im Gemeinwesen. [...] Die langfristigen Veränderungstendenzen, auf die wir oben hingewiesen haben, sind alle irgendwann einmal herangezogen worden, um Verschiebungen in den Parteianhängerschaften erklären zu helfen; insbesondere natürlich den Verlust an Unterstützung für die Labour Party während des vergangenen Jahrzehnts und davor. Politische Bedeutung erhielt dabei insbesondere die These von der Verbürgerlichung der Arbeiterklasse, vor allem im Hinblick auf die dritte der aufeinanderfolgenden Wahlniederlagen der Labour Party 1959. So meinen etwa Butler und Rose in ihrer Studie 1 über diese Wahl, das Wahlergebnis und die dazugehörige Berichterstattung aus den Wahlkreisen würden „deutlich machen, daß die Abwanderung zu den Konservativen nicht als vorübergehende Schwankung in der Wählergunst abgetan werden kann. Langfristige Faktoren waren ebenso beteiligt. Traditionelle Haltungen der 1

D. E. Butler und R. Rose, The British General Election of 1959, London: 1960, S. 2, 15.

Vorbegriffe und die Techniken des Bruchs. Goldthorpe/Lockwood

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Arbeiterklasse wurden durch ständig steigenden Wohlstand untergraben ..." Aus ihrer Sicht sind viele Arbeiter zumindest „an der Schwelle zur Mittelklasse". Das Thema wurde auch von „Revisionisten" der Labour Party aufgenommen, etwa von Crosland. „Die Abkehr von Labour", schrieb er, „obwohl sie zahlenmäßig nicht groß ist, muß ernst genommen werden, denn sie scheint eine langfristige Tendenz widerzuspiegeln. Sie scheint sogar kausal mit gewissen grundlegenden gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen verknüpft zu sein ..., die nicht nur irreversibel sind, sondern auch noch nicht abgeschlossen." Die Kräfte des Wandels „reißen langsam die alten Schranken zwischen Arbeiter- und Mittelklasse ein ...", und Labours Rückhalt schwindet aufgrund einer Krise der Klassenidentität: „Leute, die objektiv aufgrund ihres Berufs oder ihres Familienhintergrundes als zur Arbeiterklasse gehörig eingestuft würden, haben das Einkommen und das Konsumniveau der Mittelklasse erreicht, und manchmal auch eine Mittelklassenpsychologie." Es ist nicht unsere Absicht, hier zu betrachten, ob oder wie weit der Wahltrend gegen Labour tatsächlich mit irreversiblen Veränderungen verbunden ist. Wir sind jedoch der Ansicht, daß Deutungen über den Niedergang der Labour Party von der Art, wie sie hier vorgebracht wurden, in keiner Weise als überzeugend angesehen werden können. Zum einen gibt es viele andere mögliche Punkte, denen der Mißerfolg der Labour Party an der Wahlurne zugerechnet werden kann, ohne daß die These bemüht werden muß, die Arbeiter würden Angehörige der Mittelklasse. Und zum anderen ist da der elementare Punkt, daß es notwendig ist, bevor diese These sinnvollerweise als Erklärungsfaktor eingeführt werden kann, eine klare Vorstellung über das zu gewinnen, was sie besagt und, natürlich, auch eine empirische Bestätigung ihrer Gültigkeit. Wie die Dinge derzeit liegen, muß die Forderung nach Klarheit, ganz abgesehen vom Beweis, erst noch erfüllt werden. Das Hauptanliegen dieses Artikels besteht darin, einige Überlegungen vorzutragen, die zu einem systematischeren Denken in dieser Beziehung verhelfen können, und einige der Richtungen anzuzeigen, die die Forschung sinnvollerweise einschlagen sollte. Die wichtigsten soziologischen Implikationen des Arguments, wonach die besser gestellten Lohnarbeiter des Landes sich an die Mittelklasse assimilieren, scheinen die folgenden zu sein: a) Daß diese Arbeiter und ihre Familien einen Lebensstandard erreichen, der sie, gemessen an Einkommen und materiellem Besitz, zumindest mit den unteren Schichten der Mittelklasse auf eine Stufe stellt. Das bezieht sich auf bestimmte spezifisch ökonomische Aspekte der Klassengliederung. b) Daß die gleichen Arbeiter auch neue gesellschaftliche Perspektiven und neue Verhaltensnormen übernehmen, die eher für die Mittelklasse typisch sind als für die der Arbeiterklasse zugehörigen sozialen Gruppen. Das

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1. D e r Bruch

bezieht sich auf das, was der normative Aspekt der Klasse genannt werden kann. c) Daß diese Arbeiter, wenn sie wirklich vielen Mitgliedern der Mittelklasse in ihrer ökonomischen Lage und ihrer normativen Orientierung gleichkommen, von ihnen sowohl in formaler als auch in informaler sozialer Interaktion als Gleichgestellte akzeptiert werden. Das bezieht sich auf das, was der relationale Aspekt der Klasse genannt werden kann. [...] Für die Zwecke dieser Diskussion beginnen wir mit der Annahme ökonomischer Gleichheit zwischen Gruppen der Arbeiter und der Mittelklasse. Wir konzentrieren uns daher auf die beiden letzten Aspekte des Problems, die wir unterschieden haben, also den relationalen und den normativen Aspekt. Diese zwei Komponenten von Klasse, wie wir sie behandelt haben, können direkt auf zwei Begriffe bezogen werden, die derzeit in der soziologischen Literatur weit verbreitet sind: nämlich „Mitgliedschaftsgruppe" und „Bezugsgruppe". [...] Der für unser Problem relevante Fall ist der, in dem eine Person sich zunehmend von den Normen ihrer Mitgliedschaftsgruppe entfernt oder entfernt wird und sich als Bezugsgruppe eine andere Gruppe nimmt, in der sie gesellschaftlich akzeptiert wird oder auch nicht. Aus unserer Sicht müssen Veränderungen in der Klassenstruktur entsprechend diesem Muster begriffen werden, in einem anderen als dem engen ökonomischen Sinne — nämlich als eine besondere Form des allgemeinen Prozesses, vermittels dessen Individuen an gesellschaftliche Gruppen gebunden oder von ihnen getrennt werden. [...] Bezieht man sie auf Klassen, so zeigt etwa die Analyse Mertons 2 über die Bewegung von der eigenen Gruppe zur Bezugsgruppe deutlich, daß das Problem, „daß der Arbeiter zum Mittelklasse-Angehörigen wird", mit einem komplexen Prozeß sozialen Wandels zusammenhängt und nicht einfach als unmittelbare Reaktion des Individuums auf veränderte ökonomische Bedingungen zu sehen ist. Es mag durchaus sein, daß ein gewisses Wohlstandsniveau eine Voraussetzung der Verbürgerlichung der Arbeiterklasse ist, weil dies der wesentliche Faktor ist, der einen Mittelklasse-Lebensstil und die Teilnahme an der Mittelklassengesellschaft trägt. Es ist jedoch ein Irrtum, die Position eines naiven ökonomischen Determinismus einzunehmen, wie es wohl einige Autoren getan haben, und den Wohlstand der Arbeiterklasse als eine ausreichende Grundlage für die Verbürgerlichung anzusehen. Das dürfte, wie wir meinen, eine reale Möglichkeit allenfalls unter den folgenden, wesentlich spezifischeren Bedingungen sein: a) wenn Mitglieder der Arbeiterklasse in bestimmter Weise motiviert sind, die Normen der Arbeiterklasse abzustreifen, mit Normen von MittelklasseGruppen in Berührung kommen und beginnen, sich mit diesen zu identifizieren;

2

R. K . Merton, Social Theory and Social Structure, Glencoe (III.): The Free Press, 1957, K a p . VIII, S. 270.

V o r b e g r i f f e und die Techniken des Bruchs. G o l d t h o r p e / L o c k w o o d

117

b) wenn sie außerdem in der Lage sind, dem Konformitätsdruck in den Gruppen der Arbeiterklasse standzuhalten, denen sie angehören, entweder indem sie sich daraus zurückziehen, oder aber weil diese Gruppe aus dem einen oder anderen Grunde ihren Zusammenhalt und damit ihre Kontrolle über die Individuen verlieren; c) wenn es reale Chancen für Angehörige der Arbeiterklasse gibt, in den Gruppen der Mittelklasse Aufnahme zu finden, zu denen sie gehören wollen. Hiervon ausgehend könnte der gegenwärtige Prozeß des Übergangs in einem Modell formuliert werden, wie es unten aufgezeichnet ist. Es fußt auf den vier verschiedenen Positionen, die sich aus der Kreuzklassifizierung der relationalen und normativen Aspekte von Klasse ergeben: Abbildung 1: Assimilation durch

Aufstiegsstreben

Μ

Be^ugsgruppe Φ)

n o r m a t i v e Identifikation mit der ,Arbeiterklasse'

00

,isolierte' Position

(B) privatisierter Arbeiter

Μ

(Λ)

n o r m a t i v e Identifikation mit der .Mittelklasse'

(C) gesellschaftlich aufstrebender Arbeiter

Μ itgliedschaftsgruppe ,integrierte' Position

traditioneller Arbeiter

(D) assimilierter Arbeiter

Es ergeben sich daraus die zwei folgenden Alternativen in der Klassenlage des Arbeiters: 1. a) er verfügt über einen Satz von Normen, die vornehmlich Normen der Arbeiterklasse sind; b) oder er verfügt über einen Satz von Normen, die vor allem Normen der Mittelklasse sind; und 2. c) er ist sozial in eine Mitgliedschaftsgruppe der Klasse integriert, deren Normen er teilt; d) oder er ist sozial isoliert von den Mitgliedschaftsgruppen jener Klasse, deren Normen er teilt. In diesem Modell nimmt dann der Prozeß der Verbürgerlichung die Form einer Bewegung in drei Schritten an: Von (A) nach (B), von (B) nach (C) und von (C) nach (D). Mit der Verwendung eines solchen Modells wird es möglich, die These der Verbürgerlichung relativ systematisch und unzweideutig zu formulieren, also auch durch empirische Forschung überprüfbar zu machen. Mehr noch, eine schematische Darstellung dieser Art bringt einen weiteren Vorteil: Sie hilft nämlich, verschiedene in der Argumentation enthaltene

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1. Der Bruch

Voraussetzungen und Annahmen aufzudecken, die bei einigem Nachdenken als unbegründet oder als unzulässig grob angesehen werden müssen. Es gibt eine ganze Reihe solcher impliziten Annahmen; die Grundannahme aber, die bis heute jede Diskussion von Verbürgerlichung impliziert, ist wahrscheinlich die, daß dieser Prozeß die Assimilierung von Angehörigen der Arbeiterklasse an den Lebensstil und die Gesellschaft der Mittelklasse nach sich ziehe — die ihrerseits jedoch als „gegeben" betrachtet werden. Im Zusammenhang mit dieser Annahme ergeben sich mindestens zwei Punkte, die einer Stellungnahme bedürfen. Zum einen bedeutet die These von der Verbürgerlichung auch, wenn sie in dieser Weise erklärt wird, daß die „neue" Arbeiterklasse sich auf eine Mittelklasse zubewegt, die sich nicht verändert und homogen ist. Dies jedoch ist ein Gedanke, der nur formuliert zu werden braucht, um als unhaltbar erkannt werden zu können. Unabhängig von der allgemeineren „vertikalen" Unterscheidung zwischen Unternehmern und Selbständigen auf der einen, abhängig Beschäftigten auf der anderen Seite, gibt es offensichtlich innerhalb der Mittelklasse eine hoch entwickelte, wenn auch subtile und alles andere als statische Stratifizierung. Es ist daher wichtig, wie wir bereits angedeutet haben, ein Hauptaugenmerk künftiger Forschung auf die Beziehung zwischen der Arbeiterklasse und jenen spezifischen Gruppen der Mittelklasse zu richten, von denen sie sozial am wenigsten weit entfernt zu sein scheint. So gibt es etwa Gründe für die Annahme, daß unter kleinen Angestellten die individualistische Orientierung, wie sie oben skizziert wurde, heute weniger betont wird als früher oder als in anderen Gruppen der Mittelklasse. Wenn dies tatsächlich der Fall sein sollte, und wenn dies der Teil der Mittelklasse ist, mit der der aufstrebende Arbeiter sich zu identifizieren sucht, dann wird damit das Auftreten von Verbürgerlichungserscheinungen ein gut Teil plausibler: Jedenfalls plausibler, als wenn die Verbürgerlichung eine radikale Verschiebung der gesellschaftlichen Perspektive vom kollektiven zum individualistischen Pol beinhalten sollte. Wenn man jedoch die Möglichkeit anerkennt, daß sich das Gesellschaftsbild einiger Teile der Mittelklasse von dem „Individualismus" fortbewegt, der als typisch für die ganze Klasse gilt, stellt sich ein weiteres und grundlegenderes Problem. Der Gedanke, daß die Verbürgerlichung einen Prozeß der „Assimilierung durch Orientierung" an den Werten und Normen der Mittelklasse nach sich zieht, muß jetzt als lediglich eine Möglichkeit der Interpretation der vor sich gehenden Veränderungen an den Klassengrenzen betrachtet werden. Eine alternative und naheliegende Hypothese ist, daß dieser Wandel mit einer unabhängigen Konvergentζ zwischen der „neuen" Arbeiterklasse und der „neuen" Mittelklasse zusammenhängen könnte, und nicht mit dem Aufgehen der einen in der anderen. Es gibt verschiedene Überlegungen, die diese Sichtweise unterstützen dürften. Erstens, wie wir bereits bemerkt haben, ist es nicht sicher, daß die

Vorbegriffe und die Techniken des Bruchs. Goldthorpe/Lockwood

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Einstellungen und das Verhalten der „neuen" Arbeiterklasse etwas mit dem Streben nach einem „Mittelklassen"-Status zu tun haben. Zweitens ist kein überzeugendes Argument vorgetragen worden, das erklären würde, wie es aus der Struktur der gesellschaftlichen Beziehungen heraus, in denen die zur Debatte stehenden Arbeiter stehen, zu diesem Aufstiegsstreben kommen könnte. Zum dritten gibt es Fakten wie die fortdauernde Stärke der Gewerkschaften und die steigende gewerkschaftliche Organisation von Angestellten, die nicht ohne weiteres in das Konzept der Verbürgerlichung passen, wie es bislang entwickelt worden ist. Wenn man jedoch das „Konvergenz"Argument übernimmt, so hat man nicht nur ein Argument, das diese Fakten ganz ohne Schwierigkeiten erklärt, sondern auch eines, das von dem offensichtlich fehlenden Interesse der „neuen" Arbeiter an einer Zugehörigkeit zur Mittelklasse nicht im geringsten tangiert wird. Dieses Argument, etwas detaillierter ausgeführt, würde besagen, daß die Konvergenz der Einstellungen und des Verhaltens von bestimmten Gruppen der Arbeiter- und der Mittelklasse in erster Linie auf Veränderungen der ökonomischen Verhältnisse und der Lebensbedingungen in den Städten zurückzuführen ist, die gleichzeitig den „Kollektivismus" der ersteren und den „Individualismus" der letzteren geschwächt haben. Auf Seiten der Arbeiterklasse haben zwanzig Jahre annähernder Vollbeschäftigung, die stufenweise Erosion der traditionellen, auf der Arbeit beruhenden Gemeinschaft, die zunehmende Bürokratisierung der Gewerkschaften und die Institutionalisierung der Arbeitskonflikte alle in der selben Richtung gewirkt, nämlich die solidarische Natur der Bindungen an die Gemeinschaft und der kollektiven Aktion zurückzuentwickeln. Im gleichen Zeitraum hat es einen großen Spielraum und Anreize für individualistischere Orientierungen gegeben, was Ausgaben, Nutzung der Freizeit und das allgemeine Niveau der Erwartungen betrifft. Auf der anderen Seite hat es innerhalb der Gruppe der Angestellten eine Bewegung in die entgegengesetzte Richtung gegeben. Unter Bedingungen steigender Preise, immer größer werdender bürokratischer Organisationen und reduzierter Karrieremöglichkeiten halten jedenfalls die unteren Angestellten jetzt eindeutig weniger am unbedingten Glauben an die Tugenden des „Individualismus" fest und sind eher zu kollektivem gewerkschaftlichem Handeln bewußt unpolitischer und instrumenteller Natur bereit — besonders weil die Vorstellungen vieler Arbeiter von gewerkschaftlicher Politik denen ständig näher kommen, die sie selbst annehmbar finden. Die Vorstellung von der „Konvergenz" wird noch klarer, wenn wir unsere ursprüngliche individualistisch-kollektivistische Dichotomie in der Weise ändern, wie es Abbildung 2 zeigt. Hier führen wir eine Unterscheidung zwischen dem „Primat der Mittel" und dem „Primat der Aspirationen" ein. Mittel sollen eher kollektives Handeln oder eher individuelle Anstrengung sein; Aspirationen können sich eher an der Gegenwart und am sozialen Leben in der Gemeinschaft oder eher an der künftigen Position der Kernfamilie orien-

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1. Der Bruch

tieren. Die ursprünglichen idealtypischen Perspektiven werden hier als „solidarischer Kollektivismus" und „radikaler Individualismus" bezeichnet. Abbildung 2: Normative

Konvergent,j

Primat der Mittel Kollektives Handeln

Solidarischer Kollektivismus

Individuelles Handeln Orientierung an der Gegenwart und am sozialen Zusammenhang der Gemeinschaft

\ \

(„traditionelle Arbeiterklasse")

\ \,



\ Λν

% \

„Konvergenz" (neue Arbeiterklasse)

\

\

l Instrumenteller Kollektivismus

+

Primat der Aspirationen

V

„Konvergenz" (neue Mittelklasse)

\

\

\

X

Radikaler Individualismus

Orientierung an der künftigen Position der Kernfamilie

Pamilien^entrierung

Wenn man ihn in diesem Kontext sieht, dann ist der Kollektivismus nicht nur ein Mittel, sondern auch ein Zweck. Er ist durch die emotionale Bindung an eine lokale Klassengemeinschaft gekennzeichnet, im Gegensatz zu der utilitaristischen Bindung an einen spezifischen ökonomischen Verband, die typisch ist für das, was wir „instrumentellen Kollektivismus" genannt haben. In diesem letzten Fall sind die Mittel noch immer kollektives Handeln, aber sie sind dem vorrangigen Zweck des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstiegs der jeweiligen Kernfamilie untergeordnet. Der Grad, bis zu welchem sich die Familienorientierung entwickelt und insbesondere der Grad, bis zu welchem dieser Aufstieg mehr unter gesellschaftlichem als unter rein ökonomischem Gesichtspunkt gesehen wird, wird natürlich variieren. Aber im allgemeinen kann sie als Orientierung auf Konsum (von Waren, Zeit, Bildungsmöglichkeiten etc.) hin definiert werden, die die Familie als unabhängige Einheit in bezug auf Entscheidungen über ihre eigene Zukunft begreift. Wiewohl damit unterstellt wird, daß die gesellschaftlichen Perspektiven der „neuen" Arbeiterklasse und der „neuen" Mittelklasse in der beschriebenen Art zu konvergieren beginnen, muß an dieser Stelle der Vorbehalt eingeführt werden, daß Konvergenz nicht Identität impliziert. Es ist anzunehmen, daß instrumenteller Kollektivismus und Familienorientiertheit in beiden Schichten

Vorbegriffe und die Techniken des Bruchs. Goldthorpe/Lockwood

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vorhanden sind, aber ebenso ist davon auszugehen, daß das relative Gewicht der beiden Elemente von einer Schicht zur andern verschieden ist. Denn für die „neue" Arbeiterklasse bedeutet Konvergenz hauptsächlich eine Anpassung der Zwecke, für die „neue" Mittelklasse dagegen eine Anpassung der Mittel. Im ersteren Fall beinhaltet Konvergenz vor allem eine Verringerung des Kollektivismus des solidarischen Typs, der aus einer Schwächung des radikalen Individualismus erwächst. Im zweiten Fall ist der instrumentelle Kollektivismus ein Nebenprodukt, das sich aus einer Schwächung des radikalen Individualismus ergibt. Daher sind wohl beide, der neue „Individualimus" der Arbeiterklasse und der neue „Kollektivismus" der Mittelklasse, obgleich sie die beiden Schichten in größere Nähe zueinander bringen, immer noch in mehr oder weniger subtiler Weise von dem schwächer werdenden Individualismus der Mittelklasse und dem schwächer werdenden Kollektivismus der Arbeiterklasse unterschieden. Das mag vielleicht mehr für den Individualismus gelten; denn es erschiene am wahrscheinlichsten, daß die Veränderung der Aspirationen der „neuen" Arbeiterklasse langsamer vor sich geht als die entsprechende Veränderung der Mittel der „neuen" Mittelklasse. Wir dürfen daher erwarten, daß der Hauptunterschied im Rahmen der Konvergenz darin besteht, daß der neue Individualismus verschiedener Gruppen der Arbeiterklasse vor allem die Form eines Wunsches nach ökonomischem Vorankommen der Kernfamilie annehmen wird, während der schwächer werdende Individualismus verschiedener Gruppen der Mittelklasse nach wie vor durch eine größere Empfindlichkeit gegenüber der Bindung an Statusgruppen oder der Lösung von ihnen gekennzeichnet sein wird. An diesem Punkt können wir zu unserer früheren Unterscheidung zwischen dem „privatisierten" und dem „gesellschaftlich aufstrebenden" Arbeiter zurückkehren. Dies hängt, wie erinnerlich, davon ab, ob der von seiner traditionellen Klassenumgebung abgeschnittene Arbeiter dazu kommt, aus welchem Grund auch immer, sich mit einer Mittelklassen-Statusgruppe zu identifizieren. In Abbildung 2 gehören beide, der privatisierte und der gesellschaftlich aufstrebende Arbeiter, in die untere linke Ecke; in beiden Fällen werden ihre gesellschaftlichen Perspektiven als konvergierend mit denen der „neuen" Mittelklasse gesehen. Sie sind jedoch voneinander unterscheidbar, meinen wir, durch die Art ihres Individualismus. Im Falle des privatisierten Arbeiters kann, was für eine individualistische Sichtweise auch immer er entwickelt haben mag, diese als das Ergebnis negativer Faktoren (Abschwächung des solidarischen Kollektivismus) betrachtet werden, die sich daher auch eher auf ökonomische Verbesserung im Sinne der Konsumtion von Gütern konzentriert. Im Falle des gesellschaftlich aufstrebenden Arbeiters, auf der anderen Seite, gibt es zusätzlich eine positive Identifikation mit dem Individualismus der Mittelklasse; er ist daher sensibler für die Konsequenzen,

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1. Der Bruch

die der Lebensstil als Ganzes für die Statusdifferenzierung und Statusverbesserung hat. Abschließend wollen wir versuchen, die Fäden unserer Argumentation zusammenzuziehen, indem wir die in diesem Aufsatz vorgetragene Diskussion als Grundlage für die folgenden, notwendigerweise vorläufigen Thesen über die zu erwartenden weiteren Wirkungen des Wohlstands der Arbeiterklasse auf die britische Klassenstruktur verwenden. a) Die Veränderung, die am wahrscheinlichsten sein dürfte, ist am besten als Prozeß der normativen Konvergenz zwischen bestimmten Teilen der Arbeiterklasse und der Mittelklasse zu erklären; der Fokus der Konvergenz liegt dabei in dem, was wir „instrumenteilen Kollektivismus" und „Familienorientierung" genannt haben. Es gibt zumindest bis jetzt wenig Grund zu der weitergehenden These der Verbürgerlichung im Sinne der Assimilation von Arbeitern und ihrer Familien im großen Maßstab an den Lebensstil der Mittelklasse und an die Mittelklassengesellschaft im allgemeinen. Insbesondere gibt es weder einen stichhaltigen Beweis dafür, daß die Arbeiter bewußt die Integration in die Mittelklassengesellschaft anstreben, noch daß diese irgend offener für sie geworden ist. b) Die Gruppen, die in diese normative Konvergenz einbezogen zu sein scheinen, unterscheiden sich nicht allein in ökonomischer Hinsicht voneinander. Sicherlich ist auf seiten der Arbeiterklasse Wohlstand als solcher nicht ausreichend, um die Abschwächung des solidarischen Kollektivismus herbeizuführen. Der Prozeß der Konvergenz muß als ziemlich eng mit den Veränderungen in der Struktur der sozialen Beziehungen im industriellen, sozialen und Familienleben verbunden betrachtet werden, die ihrerseits wiederum nicht nur mit dem wachsenden Wohlstand, sondern auch mit Fortschritten in der industriellen Organisation und Technologie, mit der Entwicklung der Städte, demographischen Trends und der Entwicklung von Massenkommunikation und „Massenkultur" zusammenhängen. c) Selbst in den „neuen" Gruppen der Arbeiterklasse, in welchen instrumenteller Kollektivismus und Familienorientierung auftreten, scheinen Statusziele seltener angestrebt zu werden als ökonomische Ziele; mit anderen Worten, der privatisierte Arbeiter dürfte typischer sein als der gesellschaftlich aufstrebende Arbeiter. Die Bedingungen, die Statusstreben hervorbringen, müssen als viel ungewöhnlicher betrachtet werden als jene, die eine individualistischere Haltung begünstigen. Wir kehren also zu dem Punkt zurück, daß normative Konvergenz als eine Entwicklung anzusehen ist, die bis jetzt nur eine begrenzte Modifikation der Klassengrenze beinhaltet. d) Schließlich stimmt es mit den obigen Thesen überein, wenn man weiterhin davon ausgeht, daß die politischen Folgen des Einflusses der Arbeiterklasse so gesehen zumindest unbestimmt sind.

Illusion der Transparenz und Prinzip der Nicht-Bewußtheit. E. Dürkheim

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Die Verbindung zwischen „Wohlstand" und „Wahlentscheidung" ist durch die gesellschaftliche Lage vermittelt, in der sich der wohlhabende Arbeiter befindet. Wenn diese Lage in einer großen Zahl von Fällen als „Privatisierung" zu bezeichnen ist, wie wir glauben, und wenn die vorherrschenden Einstellungen jene des „instrumenteilen Kollektivismus" und der Familienorientierung sind, dann ist die Bindung des Arbeiters an die Partei seiner Wahl (um Duverger zu folgen) eher „assoziational" als „gemeinschaftsbezogen". Das bedeutet, seine instrumenteile Einstellung zur Gewerkschaft überträgt sich auf die Politik: Seine Stimme geht an den, der am meisten bietet. In diesem Teil der Arbeiterklasse bedeutet also die Wahl der Konservativen unter den gegenwärtigen Umständen wahrscheinlich die „Wahl des Wohlstands". Ein solches berechnendes und opportunistisches Wahlverhalten beinhaltet aber eine sehr schwache politische Bindung, und man braucht nicht Bilder von weit verbreiteter Arbeitslosigkeit heraufzubeschwören, um sich vorzustellen, wie sich diese Bindung vollends löst. Denn hat der Arbeiter einmal einen steigenden Lebensstandard erfahren, so entwickelt er bestimmte Erwartungen über die Berechtigung einer fortdauernden Verbesserung in der Zukunft. Daher kann sich seine derzeitige Parteibindung ohne weiteres auflösen, wenn diese Erwartungen nicht erfüllt werden und dies von ihm mit der aktuellen Regierungspolitik in Verbindung gebracht wird. Dieselbe Logik der „relativen Verarmung" mag sich beim aufstrebenden Arbeiter finden, wiewohl die Art der Aspirationen hier sehr verschieden ist. Aber sofern sein Streben nach steigendem gesellschaftlichem Status (und nicht einfach nur nach einem steigenden Lebensstandard) von den Statusgruppen, an denen er sich orientiert, nicht anerkannt wird, ist eine mögliche Folge von Wohlstand und Aufstiegsstreben, daß seine politischen Ansichten radikaler werden; dies muß bei jeder Überlegung zu seiner künftigen Parteiorientierung bedacht werden.

John H. Goldthorpe und David Lockwood „Affluence and the British Class Structure"

1.2 Die Illusion der Transparenz und das Prinzip der Nicht-Bewußtheit Der Glaube an die Machbarkeit des Sozialen Die Illusion der Transparenz beruht auf der Vorstellung, daß es %ur Erklärung und %um Verständnis von Institutionen genüge, die Intentionen nach^uvo Illeben, deren Hrgebnis sie sind. Diese Vorstellung des common sense verdankt einen Teil ihrer Stärke den durch sie gerechtfertigten allgemein verbreiteten

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1. Der Bruch

Haltungen wie lithno^entrismus oder Moralismus: Diese „srtifi^ iahs tisch e'' Illusion führt t(ur Illusion des Technokraten, der glaubt, Institutionen per Dekret einfuhren oder verändern können, oder £ur Illusion des Hvolutionisten, für den die Vergangenheit nur t'ormbeispiele aufouweisen hat, die den heutigen unterlegen sind. Damit wird die Haupttriebfeder der Spontanso^iologie deutlich, die ihre psychologische Kohären^ dem systematischen Charakter der Illusionen verdankt, die sie vermittelt*. Diesen Illusionen tritt Dürkheim mit der Erinnerung an die Komplexität der Determinationen entgegen, über die eine gesellschaftliche Institution von ihrer Vergangenheit und von dem Institutionensystem abhängt, in das sie gehört.

7. E. Dürkheim Beginnt man sich nämlich zu fragen, welche Erziehung die ideale sein solle, und sieht dabei ab von den Raum- und Zeitbedingungen, so gibt man implizit zu, daß ein System von Erziehung keine Realität aus sich selbst hat. Man sieht in ihr nicht eine Gesamtheit von Praktiken und Institutionen, die sich langsam im Laufe der Zeit herausgebildet haben, die im Einklang sind mit allen anderen sozialen Institutionen, und die sie ausdrücken, die folglich nicht nach Belieben anders geändert werden können als die Struktur der Gesellschaft selbst. Es scheint jedoch, daß dies ein reines System realisierter Begriffe ist; und insofern scheint es sich wieder der Logik zu unterwerfen. Man kann sich vorstellen, daß Menschen jeden Zeitalters die Erziehung freiwillig organisieren, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Wenn nun diese Organisation nicht überall dieselbe ist, so deshalb, weil Fehler gemacht wurden, entweder im Hinblick auf das Ziel, das es anzustreben gilt, oder im Hinblick auf die Mittel, welche erlauben, es zu erreichen. Von diesem Standpunkt aus erscheinen die Erziehungssysteme der Vergangenheit als viele totale oder partielle Irrtümer. Deshalb braucht man ihnen keine Aufmerksamkeit zu widmen; wir brauchen uns nicht mit der falschen Beobachtung oder Logik unserer Vorfahren zu solidarisieren; aber wir können und wir müssen die Frage stellen, ohne uns selbst mit Lösungen zu beschäftigen, die bereits gegeben wurden, d. h. indem wir alles beiseite lassen, was gewesen ist, müssen wir uns nur selbst die Frage stellen, was sein sollte. Die Lektionen der Geschichte können darüber hinaus dazu dienen, uns an der Wiederholung der Irrtümer, die begangen wurden, zu hindern. In der Tat hat jedoch jede Gesellschaft, wenn sie in einem bestimmten Stadium ihrer Entwicklung betrachtet wird, ein System von Erziehung, welches einen unwiderstehlichen Einfluß auf die Individuen ausübt. Es ist müßig zu glauben, daß wir unsere Kinder erziehen können, wie wir wollen. Es gibt Gebräuche, an die uns anzupassen wir verpflichtet sind. Wenn wir sie zu stark mißachten, so nehmen sie Rache an unseren Kindern. Sobald sie Erwachsene sind, sind sie unfähig, mit ihren Altersgenossen zu leben, mit denen sie nicht übereinstimmen. Ob sie nun * S. o., R. Dürkheim, Text Nr. 4, S. 107.

Illusion der Transparenz und Prinzip der Nicht-Bewußtheit. F . Dürkheim

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erzogen wurden im Einklang mit Ideen, die entweder veraltet oder verfrüht waren, spielt keine Rolle. In dem einen wie in dem anderen Falle gehören sie nicht zu ihrer Zeit und entsprechen deshalb nicht den Bedingungen des normalen Lebens. Es gibt folglich in jeder Epoche einen vorherrschenden Typ der Erziehung, von dem wir nicht abweichen können, ohne jenen lebhaften Widerstand zu erfahren, der die Anwandlungen von Abweichlertum zurückdrängt. Nun aber sind nicht wir es als Individuen, welche die Gebräuche und Ideen, die diesen Typ bestimmen, geschaffen haben. Sie sind das Produkt eines gemeinsamen Lebens, und sie drücken seine Bedürfnisse aus. Sie sind darüber hinaus zu einem Großteil das Werk vorangehender Generationen. Die gesamte menschliche Vergangenheit hat zur Bildung der Gesamtheit von Maximen, die unsere heutige Erziehung leiten, beigetragen; unsere gesamte Geschichte hat in ihr ihre Spuren hinterlassen und selbst die Geschichte der Völker, die vorher gelebt haben. So kommt es, daß die höheren Organismen den Widerhall der gesamten biologischen Evolution, deren Endprodukt sie sind, in sich tragen. Die historische Untersuchung der Bildung und Entwicklung von Erziehungssystemen offenbart, daß sie von Religion, politischer Organisation, Grad der Wissenschaftsentwicklung, Zustand der Industrie usw. abhängen. Wenn sie unabhängig von all diesen historischen Ursachen gesehen werden, werden sie unverständlich. Wie kann nun das Individuum vorgeben, durch seine eigene private Reflektion das zu rekonstruieren, was nicht ein Werk individuellen Gedankens ist? Nun, das Individuum ist nicht mit einer tabula rasa konfrontiert, auf der es errichten kann, was es möchte, sondern mit existierenden Realitäten, die es nicht schaffen, noch zerstören, noch beliebig transformieren kann. Es kann auf sie nur in dem Maße einwirken, in dem es gelernt hat, sie zu verstehen, ihre Natur und die Bedingungen, von denen sie abhängen, zu erkennen; und es kann sie nur verstehen, wenn es sie studiert, wenn es damit anfangt, sie zu beobachten, so wie der Physiker die unbelebte Materie untersucht und der Biologe lebende Körper.

Emile Dürkheim

Erziehung und Soziologie

Systematisches Nichtwissen Um die Illusion des unmittelbaren Wissens, die auf der Vertrautheit mit der socialen Welt auflaut, systematisch bekämpfen können, muß es sich der Soziologe \ur Pflicht machen, von der Annahme auszugeben, daß die sociale Welt ihm so unbekannt ist wie die biologische dem Biologen, ehe es eine Biologie gab. Daß die gesellschaftlichen Erscheinungen dem beobachtenden Individuum äußerlich sind, hängt damit zusammen, daß die Vergangenheit, aus der sie kommen, so weit zurückreicht und so dunkel ist, und zugleich auch mit der Vielzahl der an ihnen beteiligten Akteure. Also ist, und sei es

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1. Der Bruch

auch nur, um klare Entscheidungen zß erzwingen, von der Fremdheit des gesellschaftlichen Universums auszugeben, wobei dies außer der Anerkennung des in wissenschaftstheoretischer Hinsicht illusionären Charakters der Vorb e g r i f f e auch die geistige wie ethische Überzeugung voraussetzt, daß wissenschaftliche Fintdeckungen weder leicht, noch wahrscheinlich sind: In einer Situation, in der es derart schwierig ist, wissen, daß man und was man nicht weiß, ist die Entscheidungfür das Nichtwissen als methodologische Vorsichtsmaßnahme unerläßlich.

8. E. Dürkheim Wir behaupten also keineswegs, daß die sozialen Phänomene materielle Dinge sind, sondern daß sie mit dem gleichen Rechtstitel Gegenstände sind wie die materiellen Dinge, wenn auch solche anderer Art. Was ist eigentlich ein Ding? Das Ding verhält sich zur Idee wie etwas, das man von außen kennt, zu etwas, das man von innen kennt. Ein Ding ist jeder Gegenstand der Erkenntnis, der der Vernunft nicht von Natur aus zugänglich ist, von dem wir uns auf Grund einfacher gedanklicher Analyse keine angemessene Vorstellung bilden können; ein Ding ist all das, was unserem Verstände nur zu erfassen gelingt, wenn er aus sich selbst hinausgeht und auf dem Wege der Beobachtung und des Experimentes von den äußerlichsten und unmittelbar zugänglichsten Eigenschaften zu weniger leicht sichtbaren und tieferliegenden fortschreitet. Tatbestände einer bestimmten Ordnung wie Dinge zu behandeln, bedeutet also nicht, sie in diese oder jene Kategorie des Seienden einzureihen; es bedeutet nur, daß man ihnen gegenüber eine bestimmte geistige Haltung einnimmt. Es bedeutet vor allem, an ihre Erforschung mit dem Prinzip heranzutreten, daß man absolut nicht weiß, was sie sind, und daß ihre charakteristischen Eigenschaften sowie die sie bedingenden unbekannten Ursachen durch Introspektion nicht entdeckt werden können, mag sie noch so aufmerksam sein. Werden die Begriffe so bestimmt, so könnte unser Grundsatz, weit entfernt davon paradox zu sein, eher als ein Truismus gelten, wenn er nicht in der Geisteswissenschaft und besonders in der Soziologie so oft verkannt worden wäre. In diesem Sinne läßt sich in der Tat von jedem Gegenstand der Wissenschaft behaupten, daß er ein Ding sei, die Gegenstände der Mathematik vielleicht ausgenommen; denn zur Erkenntnis der letzteren reicht es aus, in unser Inneres zu schauen und die geistigen Prozesse, aus denen jene hervorgehen, zu analysieren, da wir sie von den einfachsten bis zu den kompliziertesten selbst konstruieren. Handelt es sich aber um Tatsachen im eigentlichen Sinne des Wortes, so sind sie uns in dem Augenblicke, da wir sie wissenschaftlich zu untersuchen beginnen, unbekannt, sind Dinge, von denen wir nichts wissen; denn die Vorstellungen, die man sich im Laufe des Lebens über sie zurecht macht, sind ohne Methode und Kritik entstanden und darum jedes wissenschaftlichen Wertes bar. Sie müssen daher beiseite geschoben werden. Sogar die Tatbestände der Individualpsychologie zeigen diesen Charakter und müssen unter diesem Gesichtspunkte betrachtet werden. Obwohl sie schon

Illusion der Transparenz und Prinzip der Nicht-Bewußtheit. Ii. D ü r k h e i m

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ihrem Begriffe nach in unserem Ich vorhanden sind, offenbart uns die innere Erfahrung weder ihr Wesen noch ihre Entstehung. Bis zu einem gewissen Grade läßt sie uns die seelischen Erscheinungen wohl kennenlernen, jedoch nur so weit, als die Empfindungen uns die Wärme oder das Licht, den Schall und die Elektrizität erkennen lassen: sie vermittelt uns unklare, flüchtige und subjektive Eindrücke, nicht aber klare und deutliche Erkenntnisse, geläuterte Begriffe. Das war auch der genaue Grund, welcher im Laufe dieses Jahrhunderts zur Begründung einer objektiven Psychologie geführt hat, deren Grundregel es ist, die psychischen Phänomene von außen, d. h. wie Dinge zu erforschen. Die sozialen Phänomene fordern ein solches Verfahren noch dringender. Denn zu ihrer Erkenntnis ist das Bewußtsein noch weniger berufen als zu der seines eigenen Wesens. Da aber die sozialen Phänomene vermeintlich unser Werk sind, wird man einwenden, daß wir nur unser selbst bewußt zu werden brauchen, um zu wissen, was wir in sie hineingelegt und wie wir sie gestaltet haben. Zunächst ist aber der größte Teil der sozialen Institutionen von früheren Generationen auf uns überkommen; wir haben an ihrem Aufbau keinen Anteil genommen und können daher die Ursachen ihrer Entstehung nicht auffinden, wenn wir uns selbst danach fragen. Und sogar wenn wir an ihrem Zustandekommen mitgewirkt haben, sehen wir die wirklichen Gründe, die unser Handeln und die Art unserer Tätigkeit bestimmten, nur höchst undeutlich und häufig sogar sehr ungenau. Schon wenn es sich nur um unsere privaten Unternehmungen handelt, wissen wir über die verhältnismäßig einfachen Motive, die uns leiteten, recht schlecht Bescheid. Wir halten uns für selbstlos, wo wir egoistisch handeln, glauben dem Hasse zu folgen, während^wir der Liebe nachgeben, glauben an unsere Zukunft und sind doch Sklaven unvernünftiger Vorurteile usw. Wie könnten wir dann die Fähigkeit besitzen, die viel komplexeren Ursachen, nach denen sich das Handeln der Gesellschaft vollzieht, zu erkennen? Nur in verschwindendem Maße nehmen wir an ihnen teil; wir haben eine große Zahl von Mitarbeitern, und was im Bewußtsein der anderen vorgeht, entzieht sich unserer Kenntnis. Unsere Regel ist also keine metaphysische Idee, keine Spekulation über den Grund der Dinge. Sie stellt lediglich die Forderung auf, daß sich der Soziologe in den geistigen Zustand versetzt, in welchem sich der Physiker, Chemiker und Physiologe befindet, sobald er an einen noch unerforschten Gegenstand herangeht. Er muß beim Vordringen in die soziale Welt das Bewußtsein haben, daß er ins Unbekannte dringt; er muß sich angesichts von Tatsachen fühlen, deren Gesetze ebenso unerwartet sind, als es die des Lebens waren, als es noch keine Biologie gab; er muß sich auf Entdeckungen vorbereiten, die ihn überraschen und außer Fassung bringen werden. Die Soziologie ist aber noch weit entfernt von diesem Grad geistiger Reife. Während der Gelehrte, der die physische Natur studiert, ein sehr deutliches Gefühl hat für die Widerstände, die sie ihm entgegensetzt und die er nur mit

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1. Der Bruch

größter Mühe überwinden kann, scheint sich der Soziologe inmitten von Dingen zu bewegen, die dem Geiste unmittelbar transparent sind; so beträchtlich ist die Leichtigkeit, mit der man ihn die dunkelsten Fragen lösen sieht. Bei dem gegenwärtigen Zustande der Wissenschaft wissen wir wirklich nicht, was auch nur die hauptsächlichsten sozialen Einrichtungen wie der Staat oder die Familie, das Eigentumsrecht oder der Vertrag, die Strafe und die Zurechnungsfähigkeit eigentlich sind; wir kennen die Ursachen nicht, von denen sie abhängen, ebensowenig die Funktionen, welche sie erfüllen, noch die Gesetze ihrer Entwicklung. Kaum beginnen wir, in gewissen Punkten einigermaßen klarer zu sehen. Und doch genügt es, die soziologischen Werke zu durchblättern, um sich zu überzeugen, wie selten das Gefühl für diese Ignoranz und diese Schwierigkeiten ist. Nicht nur erachtet man sich für verpflichtet, über alle Probleme gleichzeitig dogmatische Erörterungen anzustellen, man glaubt auch, auf einigen Seiten und in einigen Wendungen das Wesen der kompliziertesten Erscheinungen erreichen zu können. So drücken diese Theorien nicht die Tatsachen aus, die nicht in solcher Hast erschöpft werden können, sondern nur die vorgefaßte Meinung, den Vorbegriff, den der Autor schon vor der Untersuchung besaß.

Emile Dürkheim Die Regeln der soziologischen

Methode

Das Prinzip des Determinismus als Negation der Illusion der Transparenz „Damit es überhaupt eine echte Wissenschaft von den socialen Tatbeständen geben konnte, mußte man die Gesellschaften erst einmal als Realitäten sehen können, die jenen vergleichbar sind, die die anderen Welten bilden; verstehen, daß sie eine Natur haben, die wir nicht willkürlich verändern können, und Gesetze, die sich notwendig aus dieser Natur herleiten. Die Soziologie konnte, mit anderen Worten, nur entstehen, wenn die in der Physik und den übrigen Naturwissenschaften fest verankerte Idee des Determinismus endlich auch auf die Ordnung des Socialen ausgedehnt wurde."* Es bedurfte wohl erst des Beispiels der anderen Wissenschaften, um jenes eingefleischte Vorurteil überwinden können, aufgrund dessen die sociale Welt gern als Ausnahme behandelt wurde: So erscheint der Organi^ismus als Versuch, den in der Biologie anerkannten Determinismus auf die „sociale Welt" auszudehnen, wo er umstritten war, und „den Graben %u schließen, den man \-wischen den Gesellschaften und der übrigen Welt so lange hingenommen hatte". ** Diese historische Erinnerung daran, wie schwer sich das Prinzip des Determinismus in der Untersuchung der „socialen Welt" durchsetzte, soll — indem die wirklichen Grundlagen dieser immer wieder auftretenden Illusion anhand der einfachen und rohen Formen aufgezeigt werden, die sie \ u anderen Zeiten hatten — die Analyse und Beseitigung der subtilen Formen erleichtern, in denen die Illusion der Transparenz immer wieder auftritt.

* E. Dürkheim, „La sociologie", La Science fr anweise, a. a. O., S. 39. ** R. Dürkheim, ebd., S. 43.

Illusion der Transparenz und Prinzip der Nicht-Bewußtheit. FL Dürkheim

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9. E. Dürkheim Die Soziologie konnte nicht auf den Plan treten, ehe man nicht zu der Ansicht gelangt war, daß Gesellschaften wie die übrige Welt Gesetzen unterliegen, die notwendig aus ihrer Natur folgen und ihr Ausdruck sind. Diese Auffassung hat sich aber erst ganz allmählich entwickelt. Immerhin haben die Menschen jahrhundertelang geglaubt, daß die Mineralien nicht bestimmten Gesetzen unterworfen seien, sondern alle möglichen Formen und Eigenschaften annehmen könnten, sofern nur ein hinreichend starker Wille darauf verwendet würde. Man glaubte, daß bestimmte Formeln oder Gesten die Kraft hätten, einen unbelebten Körper in etwas Lebendiges zu verwandeln, einen Menschen in ein Tier oder eine Pflanze, und umgekehrt. Diese Illusion, zu der wir eine Art instinktiver Neigung besitzen, mußte sich im Bereich sozialer Tatbestände natürlich noch viel länger halten. [...] Erst Ende des 18. Jahrhunderts begann man zu ahnen, daß die soziale Welt wie die anderen Welten der Natur ihre eigenen Gesetze hat. Als Montesquieu erklärte, die Gesetze seien „notwendige Verhältnisse, die sich aus der Natur der Dinge herleiten", meinte er sehr wohl, daß diese exzellente Definition des Naturgesetzes für soziale Dinge genauso gelte wie für die anderen, und sein Esprit des lois hat genau den Zweck, zu zeigen, wie die rechtlichen Institutionen in der Natur der Menschen und in ihzrem jeweiligen Milieu begründet sind. Wenig später versuchte Condorcet, die Ordnung wiederzufinden, nach der sich die Fortschritte der Menschheit vollzogen hatten, was die beste Art war, um nachzuweisen, daß sie nichts Zufalliges oder Sprunghaftes hatten, sondern von ganz bestimmten Ursachen abhingen. Zur gleichen Zeit lehrten die Nationalökonomen, daß die Angelegenheiten des industriellen und kommerziellen Lebens von Gesetzen beherrscht werden, und glaubten sogar, diese entdeckt zu haben. Dennoch hatten all diese Denker, obgleich sie der Auffassung, auf der die Soziologie beruht, den Weg bereitet haben, noch eine recht ungewisse und schwankende Vorstellung davon, was die Gesetze des sozialen Lebens sind. Sie wollten nämlich nicht sagen, daß die sozialen Tatbestände untereinander nach feststehenden und gleichbleibenden Beziehungen von Ursache und Wirkung verknüpft seien, die der Wissenschaftler mit ähnlichen Verfahren zu beobachten suche, wie sie in den Naturwissenschaften angewandt werden. Sondern sie meinten lediglich, daß, da die Natur des Menschen gegeben sei, sich eben dadurch auch ein Weg vorgezeichnet finde, der allein natürlich sei und den die Menschheit gehen müsse, wenn sie sich in Einklang mit sich selbst befinden und ihr Geschick erfüllen solle·, es bliebe aber möglich, von diesem Weg abzuweichen. [...] Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts brach sich endgültig eine neue Auffassung Bahn, in erster Linie mit Saint-Simon und vor allem mit seinem Schüler Auguste Comte.

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1. Der Bruch

In seinem Cours de philosophie positive, in dem er eine Gesamtschau aller etablierten Wissenschaften seiner Zeit vornahm, stellte er fest, daß ihnen allen das Axiom zugrundeliegt, die Tatbestände, die sie abhandeln, stünden miteinander in notwendiger Beziehung, daß sie also alle auf dem Prinzip des Determinismus beruhen; woraus er Schloß, daß dieses Prinzip, das somit für alle anderen Bereiche der Natur nachgewiesen war, vom Bereich der mathematischen Größen bis zu dem des Lebens, auch für die soziale Welt gelten müsse. Auch die Widerstände, die dieser erneuten Ausweitung der Idee des Determinismus heute entgegengesetzt werden, dürfen den Philosophen nicht aufhalten; denn sie sind regelmäßig noch jedesmal aufgetreten, wenn es darum ging, dieses ganz grundlegende Postulat auf einen neuen Bereich auszudehnen, und sie sind noch immer überwunden worden. Es gab eine Zeit, da weigerte man sich, es auch nur für die Welt der unbelebten Körper anzuerkennen; es setzte sich durch. Danach verneinte man es bei lebenden und denkenden Wesen; auch dort ist es inzwischen unbestritten. Man kann also sicher sein, daß diese selben Vorurteile, auf die es jetzt stößt, wenn es um seine Anwendung auf die soziale Welt geht, sich wiederum nur eine gewisse Zeit halten werden. Und da es Comte für evident erklärte — was übrigens heute unbestritten ist —, daß das geistige Leben des Einzelnen notwendigen Gesetzen unterworfen sei, wie sollten dann die Aktionen und Reaktionen, die zwischen diesen Einzelbewußtseinen hin- und hergehen, wenn sie miteinander assoziiert sind, nicht derselben Notwendigkeit unterliegen? Von diesem Standpunkt aus erschienen die Gesellschaften nun nicht mehr als eine Art unbegrenzt bildbarer plastischer Materie, die sich die Menschen sozusagen nach Wunsch zurechtkneten können; von nun an mußten sie als Realitäten angesehen werden, deren Natur uns vorgesetzt wird und die wie alles Natürliche nur in Übereinstimmung mit den Gesetzen verändert werden können, von denen sie regiert werden. Die Institutionen der Völker konnten nicht mehr als Produkt des — mehr oder weniger aufgeklärten — Willens von Fürsten, Staatsmännern oder Gesetzgebern angesehen werden, sondern als notwendige Folge bestimmter Ursachen, die sie physisch implizierten. Da die Zusammensetzung eines Volkes zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Geschichte gegeben ist, wie auch der Stand seiner Kultur in dieser Zeit, folgt daraus eine soziale Organisation mit diesen oder jenen Merkmalen, genau wie die Eigenschaften eines Körpers aus seiner molekularen Zusammensetzung folgen. Wir haben es also mit einer beständigen, unwandelbaren Ordnung der Dinge zu tun, und um sie zu beschreiben und zu erklären, um Aussagen über ihre Merkmale und über die Ursachen machen zu können, von denen sie abhängig ist, wird eine reine Wissenschaft nun zugleich möglich und nötig. [...] Gestern noch glaubte man, daß hier alles Willkür wäre, Zufall, daß die Gesetzgeber oder die Könige ganz wie die Alchimisten von einst das Gesicht

Illusion der Transparenz und Prinzip der Nicht-Bewußtheit. F. Simiand

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von Gesellschaften nach Gutdünken verändern, es von einem Typus in einen anderen überführen könnten. In Wirklichkeit waren diese angeblichen Wunder illusorisch; und zu wieviel schweren Irrtümern hat diese noch immer allzu verbreitete Illusion nicht Anlaß gegeben. [...] Die Wissenschaften, die die Notwendigkeit der Dinge verkünden, geben uns gleichzeitig die Mittel an die Hand, sie zu beherrschen. Comte weist sogar mit Nachdruck darauf hin, daß die sozialen Phänomene von allen natürlichen Phänomenen die bildbarsten, weil komplexesten seien, Abwandlungen und Veränderungen am ehesten zugänglich. Daher erlegt die Soziologie dem Menschen durchaus keine passiv-konservative Haltung auf; im Gegenteil, allein dadurch, daß sie das Feld unserer Wissenschaft erweitert, erweitert sie auch das Feld unseres Handelns. Sie hält uns lediglich von unüberlegten und fruchtlosen Unternehmungen ab, zu denen uns der Glaube verleitet, es sei uns möglich, die soziale O r d n u n g nach unserem Willen zu verändern, ohne Rücksicht auf Gewohnheiten, Traditionen, geistige Verfassung von Menschen und Gesellschaften.

Emile Dürkheim „Sociologie et sciences sociales"

Code und Dokument Simiands Polemik gegen den Positivismus von Historikern wie Seignobos ist weniger wegen seiner Kritik an einer inzwischen überholten, rein faktenorientierten Geschichtsauffassung interessant, als wegen seiner Prinzipien einer wissenschaftlichen Soziologie. Da er die Soziologie nicht in der Problematik subjektiver Intentionen befangen sehen will, durch die sie entgegen jeder Logik z« einer Wissenschaft vom Zufälligen würde, Zß'gt Simiand, daß nur die Hypothese der „Nicht-Bewußtheit" eine Untersuchung der objektiven Beziehungen zwischen den Erscheinungen erlaubt. Durch diese methodische Vorentscheidung gibt sich die Soziologie ein eigenes Objekt, nämlich die Institution, und formuliert zugleich die i-'ragen neu, mit denen sie an ihr Material herangeht, das nun nicht mehr als Dokument behandelt wird, das heißt als subjektives Zeugnis der Intentionen historischer Akteure, sondern als ein Hnsemble von Indizien, von denen ausgehend sich die wissenschaftliche Fragestellung spezifische Untersuchungsobjekte schaffen kann, „Sitten, kollektive Vorstellungen, soziale Formen": Dies sind, weil sie nicht bewußt, das heißt willkürlich, vom Autor des Dokuments aufgezeichnet werden, die eigentlichen wissenschaftlichen Tatbestände des Soziologen. *

* Diese Definition des sozialen Tatbestands zählt zu denjenigen Prinzipien Dürkheims, die seine Nachfolger oder Schüler am stärksten geprägt und bei den meisten von ihnen ausgesprochen positive wissenschaftliche Leistungen möglich gemacht haben. So hat sich Granet in seinen sinologischen Arbeiten um eine Überwindung der Unterscheidung von „authentischen" und „nicht-authentischen" Dokumenten bemüht; Granet hat aus diesem — im Falle der chinesischen Tradition geradezu hoffnungslosen — Dilemma einen Ausweg gefunden, indem er die „Schemata" oder „Stereotype" zu seinem Objekt machte (zum Objekt zweiten Grades, das heißt zum konstruierten Objekt), denen die Formgebung des rituellen oder historischen Materials in den klassischen chinesischen Werken folgt, und er versteht diesen methodischen Ansatz als eine Hommage an die Lehren Dürkheims (M. Granet, Danses et legendes de la Chine ancienne, Bd. I, Paris: P. U. F., 1959, Einleitung, S. 2 5 - 3 7 ) .

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1. Der Bruch

10. F. Simiand Gegen eine Begründung [der Soziologie] nach dem Vorbild der übrigen [Wissenschaften] bleibt noch ein letzter, sich aus den Voraussetzungen für eine Erkenntnis in der untersuchten Materie selbst ergebender Einwand. — a) Das Dokument, dieser Mittler zwischen untersuchendem Geist und untersuchter Sache, ist, wie wir gesehen haben, etwas ganz anderes als eine wissenschaftliche Beobachtung: Es wird ohne feste Methode und für andere als wissenschaftliche Zwecke angefertigt; es hat also, wie man sagt, subjektiven Charakter. — Gewiß ist dies für die Sozialwissenschaft von Nachteil; aber es ist wichtig anzumerken, daß der Einwand hier wie bei der Frage der Kontingenz seine Stärke mehr aus der Geistesrichtung des Historikers zieht als aus der Natur der Dinge. Verlangt man vom Dokument einzelne Ereignisse, wie es der traditionelle Historiker tut, oder gar Erklärungen aufgrund von individuellen Motiven, Handlungen, Gedanken, zu deren Kenntnis man notwendig nur durch Vermittlung eines anderen Geistes gelangen kann, so ist das Dokument in der Tat eigentlich kein Material für die wissenschaftliche Arbeit. Richtet sich die Untersuchung aber auf die „Institution" und nicht auf das „Ereignis", auf die objektiven Beziehungen zwischen den Phänomenen und nicht auf die gedachten Intentionen und Zwecke, so geschieht es in Wirklichkeit oft, daß man den untersuchten Tatbestand nicht vermittelt über einen anderen Kopf, sondern direkt zu fassen bekommt. Die Tatsache, daß eine Sprache den Onkel väterlicherseits und den Onkel mütterlicherseits mit verschiedenen Wörtern bezeichnet, ist eine direkte Spur einer anderen Form der Familie als unserer heutigen: Eine Gesetzessammlung ist kein „Dokument" im Sinne der Geschichte, sie ist, wenn eben die rechtliche Regelung selbst das Objekt der Untersuchung darstellt, eine direkte, unmittelbare Tatsachenfeststellung. Oft werden Sitten, kollektive Vorstellungen, soziale Formen unbewußt aufgezeichnet oder hinterlassen automatisch Spuren in dem, was der Historiker Dokumente nennt. Soziale Phänomene können hier auf dem Wege einer regelrechten, vom Autor der Untersuchung angestellten Beobachtung erfaßt werden, einer manchmal unmittelbaren, häufiger jedoch mittelbaren Beobachtung (das heißt einer Beobachtung von Auswirkungen oder Spuren des Phänomens), aber jedenfalls nicht mehr auf indirektem Wege, das heißt nicht mehr vermittelt über den Autor des Dokuments. Die von den Geschichtsmethodologen geübte und in Bausch und Bogen auch auf die Sozialwissenschaft angewandte Erkenntniskritik gilt daher in vollem Umfang nur für Objekt und Praxis der traditionellen Geschichte; soll sie die ganze Praxis der positiven Sozialwissenschaft umfassen, und gar ihren besten und fruchtbarsten Teil treffen, muß sie vollständig überarbeitet, stark verändert und in großen Teilen ergänzt werden.

Frangois Simiand „Methode historique et science sociale"

Natur und Kultur: Substanz und System von Beziehungen. K. Marx

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I.3 Natur und Kultur: Substanz und System von Beziehungen Natur und Geschichte Marx hat oft dargestellt, daß sich die Eigenschaften oder Auswirkungen eines socialen Systems der Natur nur schreiben lassen, wenn seine Entstehungsgeschichte und seine historischen Funktionen ausgeklammert werden, das heißt all das, wodurch es sich als ein System von Beziehungen ausweist; er igt, genauer gesagt, daß dieser methodische Fehler deswegen so häufig ist, Weiler ideologische Funktionen erfüllt, indem er, zumindest in der Vorstellung, erfolgreich „Geschichte eliminiert". So haben die klassischen Nationalökonomen mit ihrer Betonung des „natürlichen" Charakters bürgerlicher Institutionen und bürgerlicher Produktionsverhältnisse zugleich die bürgerliche Ordnung gerechtfertigt und die herrschende Klasse gegen die Vorstellung vom historischen, also vorläufigen Charakter ihrer Herrschaft abgeschattet.

II. K. Marx Die Ökonomen verfahren auf eine sonderbare Art. Es gibt für sie nur zwei Arten von Institutionen, künstliche und natürliche. Die Institutionen des Feudalismus sind künstliche Institutionen, die der Bourgeoisie natürliche. Sie gleichen darin den Theologen, die auch zwei Arten von Religionen unterscheiden. Jede Religion, die nicht die ihre ist, ist eine Erfindung der Menschen, während ihre eigene Religion eine Offenbarung Gottes ist. Wenn die Ökonomen sagen, daß die gegenwärtigen Verhältnisse — die Verhältnisse der bürgerlichen Produktion — natürliche sind, so geben sie damit zu verstehen, daß es Verhältnisse sind, in denen die Erzeugung des Reichtums und die Entwicklung der Produktivkräfte sich gemäß den Naturgesetzen vollziehen. Somit sind diese Verhältnisse selbst von dem Einfluß der Zeit unabhängige Naturgesetze. Es sind ewige Gesetze, welche stets die Gesellschaft zu regieren haben. Somit hat es eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr; es hat eine Geschichte gegeben, weil feudale Einrichtungen bestanden haben und weil man in diesen feudalen Einrichtungen Produktionsverhältnisse findet, vollständig verschieden von denen der bürgerlichen Gesellschaft, welche die Ökonomen als natürliche und demgemäß ewige angesehen wissen wollen.

Karl Marx Das Elend der Philosophie

Der vorliegende Gegenstand zunächst die materielle Produktion. In Gesellschaft produzierende Individuen — daher gesellschaftlich bestimmte Produktion der Individuen ist natürlich der Ausgangspunkt. Der einzelne und vereinzelte Jäger und Fischer, womit Smith und Ricardo begin-

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1. Der Bruch

nen, gehört zu den phantasielosen Einbildungen der 18.-Jahrhundert-Robinsonaden, die keineswegs, wie Kulturhistoriker sich einbilden, bloß einen Rückschlag gegen Uberverfeinerung und Rückkehr zu einem mißverstandnen Naturleben ausdrücken. Sowenig wie Rousseaus contrat social, der die von Natur independenten Subjekte durch Vertrag in Verhältnis und Verbindung bringt, auf solchem Naturalismus beruht. Dies Schein und nur der ästhetische Schein der kleinen und großen Robinsonaden. Es ist vielmehr die Vorwegnahme der „bürgerlichen Gesellschaft", die seit dem 16. Jahrhundert sich vorbereitete und im 18. Riesenschritte zu ihrer Reife machte. In dieser Gesellschaft der freien Konkurrenz erscheint der Einzelne losgelöst von den Naturbanden usw., die ihn in frühren Geschichtsepochen zum Zubehör eines bestimmten, begrenzten menschlichen Konglomerats machen. Den Propheten des 18. Jahrhunderts, auf deren Schultern Smith und Ricardo noch ganz stehn, schwebt dieses Individuum des 18. Jahrhunderts — das Produkt einerseits der Auflösung der feudalen Gesellschaftsformen, andrerseits der seit dem 16. Jahrhundert neuentwickelten Produktivkräfte — als Ideal vor, dessen Existenz eine vergangne sei. Nicht als ein historisches Resultat, sondern als Ausgangspunkt der Geschichte. Weil als das Naturgemäße Individuum, angemessen ihrer Vorstellung von der menschlichen Natur, nicht als ein geschichtlich entstehendes, sondern von der Natur gesetztes. Diese Täuschung ist jeder neuen Epoche bisher eigen gewesen. Steuart, der in mancher Hinsicht im Gegensatz zum 18. Jahrhundert und als Aristokrat mehr auf historischem Boden steht, hat diese Einfältigkeit vermieden. Je tiefer wir in der Geschichte zurückgehen, je mehr erscheint das Individuum, daher auch das produzierende Individuum, als unselbständig, einem größren Ganzen angehörig: erst noch in ganz natürlicher Weise in der Familie und der zum Stamm erweiterten Familie; später in dem aus dem Gegensatz und Verschmelzung der Stämme hervorgehenden Gemeinwesen in seinen verschiednen Formen. Erst in dem 18. Jahrhundert, in der „bürgerlichen Gesellschaft", treten die verschiednen Formen des gesellschaftlichen Zusammenhangs dem Einzelnen als bloßes Mittel für seine Privatzwecke entgegen, als äußerliche Notwendigkeit. Aber die Epoche, die diesen Standpunkt erzeugt, den des vereinzelten Einzelnen, ist grade die der bisher entwickeltsten gesellschaftlichen (allgemeinen von diesem Standpunkt aus) Verhältnisse. Der Mensch ist im wörtlichsten Sinn ein ζ ώ ο ν ττολιτικόν, nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann. Die Produktion des vereinzelten Einzelnen außerhalb der Gesellschaft — eine Rarität, die einem durch Zufall in die Wildnis verschlagnen Zivilisierten wohl vorkommen kann, der in sich dynamisch schon die Gesellschaftskräfte besitzt — ist ein ebensolches Unding als Sprachentwicklung ohne zusammen lebende und zusammen sprechende Individuen. Es ist sich dabei nicht länger aufzuhalten. Der Punkt wäre gar nicht zu berühren, wenn die Fadaise, die bei den Leuten des 18. Jahrhunderts Sinn und Verstand hatte, von Bastiat, Carey,

Natur und K u l t u r : Substanz und System v o n Beziehungen. K . Marx

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Proudhon etc. nicht wieder ernsthaft mitten in die modernste Ökonomie hereingezogen würde. Für Proudhon u. a. ist es natürlich angenehm, den Ursprung eines ökonomischen Verhältnisses, dessen geschichtliche Entstehung er nicht kennt, dadurch geschichtsphilosophisch zu entwickeln, daß er mythologisiert, Adam oder Prometheus sei auf die Idee fix und fertig gefallen, dann sei sie eingeführt worden etc. Nichts ist langweilig trockener als der phantasierende locus communis. Wenn also von Produktion die Rede ist, ist immer die Rede von Produktion auf einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsstufe — von der Produktion gesellschaftlicher Individuen. Es könnte daher scheinen, daß, um überhaupt von der Produktion zu sprechen, wir entweder den geschichtlichen Entwicklungsprozeß in seinen verschiednen Phasen verfolgen müssen, oder von vornherein erklären, daß wir es mit einer bestimmten historischen Epoche zu tun haben, also ζ. B. mit der modernen bürgerlichen Produktion, die in der Tat unser eigentliches Thema ist. Allein alle Epochen der Produktion haben gewisse Merkmale gemein, gemeinsame Bestimmungen. Die Produktion im Allgemeinen ist eine Abstraktion, aber eine verständige Abstraktion, sofern sie wirklich das Gemeinsame hervorhebt, fixiert, und uns daher die Wiederholung erspart. Indes dies Allgemeine, oder das durch Vergleichung herausgesonderte Gemeinsame, ist selbst ein vielfach Gegliedertes, in verschiedne Bestimmungen Auseinanderfahrendes. Einiges davon gehört allen Epochen; andres einigen gemeinsam. [Einige] Bestimmungen werden der modernsten Epoche mit der ältesten gemeinsam sein. Es wird sich keine Produktion ohne sie denken lassen; allein, wenn die entwickeltsten Sprachen Gesetze und Bestimmungen mit den unentwickeltsten gemein haben, so muß grade das, was ihre Entwicklung ausmacht, den Unterschied von diesem Allgemeinen und Gemeinsamen, die Bestimmungen, die für die Produktion überhaupt gelten, müssen grade gesondert werden, damit über der Einheit — die schon daraus hervorgeht, daß das Subjekt, die Menschheit, und das Objekt, die Natur, dieselben — die wesentliche Verschiedenheit nicht vergessen wird. In diesem Vergessen liegt ζ. B. die ganze Weisheit der modernen Ökonomen, die die Ewigkeit und Harmonie der bestehenden sozialen Verhältnisse beweisen. Zum Beispiel. Keine Produktion möglich ohne ein Produktionsinstrument, wäre dies Instrument auch nur die Hand. Keine möglich ohne vergangne, aufgehäufte Arbeit, wäre diese Arbeit auch nur die Fertigkeit, die in der Hand des Wilden durch wiederholte Übung angesammelt und konzentriert ist. Das Kapital ist unter andrem auch Produktionsinstrument, auch vergangne, objektivierte Arbeit. Also ist das Kapital ein allgemeines, ewiges Naturverhältnis; d. h. wenn ich grade das Spezifische weglasse, was „Produktionsinstrument", „aufgehäufte Arbeit" erst zum Kapital macht. Die ganze Geschichte der Produktionsverhältnisse erscheint daher ζ. B. bei Carev als eine durch die Regierungen böswillig veranlaßte Verfälschung.

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ί. Der Bruch

Wenn es keine Produktion im Allgemeinen gibt, so gibt es auch keine allgemeine Produktion. Die Produktion ist immer ein besondrer Produktionszweig — ζ. B. Agrikultur, Viehzucht, Manufaktur etc. — oder sie ist Totalität. Allein die politische Ökonomie ist nicht Technologie. Das Verhältnis der allgemeinen Bestimmungen der Produktion auf einer gegebnen gesellschaftlichen Stufe zu den besondren Produktionsformen anderswo zu entwickeln (später). Endlich ist die Produktion auch nicht nur besondre. Sondern es ist stets ein gewisser Gesellschaftskörper, ein gesellschaftliches Subjekt, das in einer größren oder dürftigren Totalität von Produktionszweigen tätig ist. [...] Es ist Mode, der Ökonomie einen allgemeinen Teil vorherzuschicken — und es ist grade der, der unter dem Titel „Produktion" figuriert (siehe zum Beispiel J. St. Mill) —, worin die allgemeinen Bedingungen aller Produktion abgehandelt werden. Dieser allgemeine Teil besteht oder soll angeblich bestehn: 1) aus den Bedingungen, ohne welche Produktion nicht möglich ist. D. h. also in der Tat nichts als die wesentlichen Momente aller Produktion angeben. Es reduziert sich dies in der Tat aber, wie wir sehn werden, auf einige sehr einfache Bestimmungen, die in flachen Tautologien breitgeschlagen werden; 2) den Bedingungen, die mehr oder weniger die Produktion fördern, wie ζ. B. Adam Smiths fortschreitender und stagnanter Gesellschaftszustand. Um dies, was als A p e ^ u bei ihm seinen Wert hat, zu wissenschaftlicher Bedeutung zu erheben, wären Untersuchungen nötig über die Perioden der Grade der Produktivität in der Entwicklung einzelner Völker — eine Untersuchung, die außerhalb der eigentlichen Grenzen des Themas liegt, soweit sie aber in dasselbe gehört, bei der Entwicklung der Konkurrenz, Akkumulation etc. anzubringen ist. In der allgemeinen Fassung läuft die Antwort auf das Allgemeine heraus, daß ein industrielles Volk die Höhe seiner Produktion in dem Moment besitzt, worin es überhaupt seine geschichtliche Höhe einnimmt. In fact. Industrielle Höhe eines Volks, solange noch nicht der Gewinn, sondern das Gewinnen ihm Hauptsache ist. Sofern die Yankees über den Engländern. Oder aber: daß ζ. B. gewisse Racen, Anlagen, Klimate, Naturverhältnisse, wie Seelage, Fruchtbarkeit des Bodens etc. der Produktion günstiger sind als andre. Läuft auch wieder auf die Tautologie hinaus, daß der Reichtum in dem Grade leichter geschaffen wird, als subjektiv und objektiv seine Elemente in höherm Grad vorhanden sind. Das ist es aber alles nicht, worum es den Ökonomen wirklich in diesem allgemeinen Teil sich handelt. Die Produktion soll vielmehr — siehe ζ. B. Mill — im Unterschied von der Distribution etc. als eingefaßt in von der Geschichte unabhängigen ewigen Naturgesetzen dargestellt werden, bei welcher Gelegenheit dann ganz unter der Hand bürgerliche Verhältnisse als unumstößliche Naturgesetze der Gesellschaft in abstracto untergeschoben werden. Dies ist der mehr oder minder bewußte Zweck des ganzen Verfahrens. Karl Marx Grundrisse

Natur und Kultur: Substanz und System von Beziehungen. E. Dürkheim

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Natur als psychologische Invariante und die Verkehrung von Ursache und Wirkung Der Rückgriff auf psychologische Erklärungen bedeutet das Ende der Analyse, weil er allzu billig das Gefühl unmittelbarer Evidenζ vermittelt: Beruft man sich auf „elementare Naturkräfte" in Gestalt der „Neigungen", „Instinkte" oder „Strebungen" der menschlichen Natur, läuft man Gefahr, als Erklärung auszugeben, was gerade erklärt werden müßte, und meint insbesondere, die Ursprünge von Institutionen wie der Familie oder der Magie in Gefühlen zu finden, die von eben diesen Institutionen erst erweckt werden: „Man darf also nicht, wie Spencer, das sociale lieben als eine einfache Resultante der individuellen Naturen darstellen, da diese im Gegenteil vielmehr vom socialen Eeben abhängen. Die socialen Tatsachen sind nicht die einfache Entwicklung der psychischen Tatsachen, die %um größten Teil nur die Verlängerung der socialen innerhalb des Kollektivbewußtseins sind. [... / Der entgegengesetzte Gesichtspunkt verleitet den Soziologen jeden Augenblick, die Ursache für die Wirkung zu nehmen, und umgekehrt. Wenn man zum Beispiel, wie es oft vorgekommen ist, in der Organisation der Familie den logisch notwendigen Ausdruck der menschlichen Gefühle sieht, die jedem Bewußtsein innewohnen, dann dreht man die wirkliche Reihenfolge um. Die soziale Organisation der Verwandtschaftsbeziebungen hat im Gegenteil die entsprechenden Gefühle der Eltern und der Kinder bestimmt. Sie wären ganz anders, wenn die soziale Struktur anders wäre, und der Beweis ist, daß in der Tat die Vaterliebe in einer großen Zahl von Gesellschaften unbekannt ist."* Dürkheim weist nach, daß die natura naturans, auf die sich der vorwissenschaftliche Diskurs beruft, in ihrer Besonderheit nur erfaßt werden kann, wenn sie als natura naturata, als geschaffene Natur behandelt wird.

12. E. Dürkheim Eine rein psychologische Erklärung der soziologischen Tatbestände muß sich also alles das entgehen lassen, was jene Spezifisches, d. h. Soziales an sich haben. Was in den Augen so vieler Soziologen die Unzulänglichkeit dieser Methode verborgen hat, ist ein bei ihnen ziemlich häufiger Irrtum, daß sie nämlich die Wirkung für die Ursache nahmen und als ausschlaggebende Bedingungen der sozialen Phänomene gewisse relativ bestimmte und spezielle Bewußtseinszustände ansahen, die tatsächlich nur deren Folge sind. So geschah es, daß man ein gewisses Gefühl der Religiosität, ein gewisses Minimum sexueller Eifersucht, der väterlichen Liebe, kindlicher Ehrfurcht usw. als dem Menschen angeboren betrachtete, und damit wollte man die Religion, die Ehe, die Familie erklären. Doch zeigt die Geschichte, daß diese Neigungen der menschlichen Natur durchaus nicht inhärent sind; sie fehlen entweder unter gewissen sozialen Verhältnissen gänzlich oder zeigen in der einen oder anderen Gesellschaft derartige Variationen, daß der Überrest, den man nach Ausscheidung aller dieser Differenzen erhält und der allein als psychologischen Ursprunges erachtet werden kann, etwas Vages und Schematisches ist, das die Tatsachen, um deren Erklärung es sich handelt, in unendlichem Abstände hinter sich läßt. Das rührt davon her, daß sich diese Gefühle aus der sozialen Organisation ergeben und ganz und gar nicht deren Grundlage * E. Dürkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977, S. 3 9 1 - 3 9 2 .

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1. Der Bruch

bilden. Es ist sogar keineswegs erwiesen, daß der Geselligkeitstrieb von allem Anfang an ein angeborener Instinkt des menschlichen Geschlechtes gewesen ist. Es ist viel natürlicher, in ihm ein Erzeugnis des sozialen Lebens zu sehen, das sich allmählich in uns herangebildet hat; denn es ist eine Tatsache der Erfahrung, daß die Tiere gesellig sind oder nicht, je nachdem die Beschaffenheit ihrer Umwelt sie zum Gemeinschaftsleben zwingt oder sie davon abhält. — Und es muß noch hinzugefügt werden, daß selbst zwischen diesen bestimmteren Neigungen und der sozialen Wirklichkeit ein beträchtlicher Abstand bleibt. Es gibt übrigens ein Mittel, um den psychologischen Faktor nahezu vollständig zu isolieren, so daß sich der Umkreis seiner W i r k u n g genau feststellen läßt, nämlich die Aufrollung der Frage, welchen Einfluß die Rasse auf die soziale Entwicklung nimmt. Die ethnischen Eigenschaften gehören in der Tat der organisch-psychischen Ordnung an. Das soziale Leben muß also variieren, falls jene variieren, sofern die psychischen Phänomene die kausale Wirklichkeit auf die Gesellschaft haben, die man ihnen zuschreibt. Nun kennen wir kein einziges soziales Phänomen, das in unbestreitbarer Abhängigkeit v o n der Rasse stehen würde. Allerdings können wir diesem Satze nicht den Wert eines Gesetzes zuerkennen. Als konstanten Tatbestand unserer Erfahrung können wir ihn aber zumindest gelten lassen. Bei Gesellschaften derselben Rasse begegnet man den verschiedensten Organisationsformen, während bei verschiedenen Rassen überraschende Ähnlichkeiten beobachtet werden. Die Polis hat bei den Phöniziern ebenso wie bei den Römern und Griechen existiert. Bei den Kabylen findet man sie in Bildung begriffen. Die patriarchalische Familie war bei den Juden fast ebenso entwickelt wie bei den Hindus, aber bei den Sklaven, die doch ebenfalls der arischen Rasse angehören, kommt sie nicht vor. Dagegen existiert der Familientypus, den man bei ihnen antrifft, auch bei den Arabern. Die mutterrechtliche Familie und der Klan lassen sich überall beobachten. Das Detail des gerichtlichen Beweisverfahrens, die bei Hochzeiten üblichen Zeremonien sind bei Völkerschaften, die v o m ethnischen Gesichtspunkt aus völlig verschieden sind, identisch. 1st das nun richtig, so muß man annehmen, daß der psychische Einfluß viel zu allgemein ist, um den Ablauf der sozialen Phänomene zu bestimmen. Da er keine soziale Form v o r der anderen begünstigt, vermag er keine zu erklären. Es gibt zwar eine gewisse Anzahl v o n Tatsachen, die man dem Einflüsse der Rasse zuzuschreiben gewohnt ist. Bekanntlich erklärt man in dieser Weise, wieso sich die Entwicklung der Literatur und Kunst in Athen so rasch und intensiv, in Rom so langsam und mittelmäßig gestaltete. Aber obwohl diese Interpretation klassisch ist, ist doch niemals ein methodisch einwandfreier Beweis für sie erbracht worden; vielmehr scheint sie ihre Autorität ausschließlich der Tradition zu verdanken. Eine soziologische Erklärung dieser Phänomene hat man nicht einmal versucht, und doch könnte sie nach unserer Überzeugung erfolgreich angestrebt werden. Kurz, wenn

Natur und Kultur: Substanz und System von Beziehungen. R. Dürkheim

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man den künstlerischen Charakter der athenischen Zivilisation auf angeborene ästhetische Anlagen zurückführt, so verfährt man beinahe in derselben Weise wie das mittelalterliche Denken, als man das Feuer durch das Phlogiston und die Wirkungen des Opiums durch seine einschläfernde Kraft erklärte. Wenn schließlich die soziale Entwicklung wirklich ihre Wurzel in der psychischen Veranlagung des Menschen hätte, so wäre nicht einzusehen, wie sie überhaupt entstehen konnte. Denn dann müßte man annehmen, daß eine der menschlichen Natur innewohnende Triebkraft sie bewege. Welche Triebkraft könnte das aber sein? Wäre das jene Art von Instinkt, von dem Comtc spricht und der den Menschen dazu drängt, seine Natur immer vollkommener zu verwirklichen? Doch das hieße auf eine Frage mit einer Frage antworten und den Fortschritt durch einen angeborenen Trieb zum Fortschritt erklären, eine wahrhaft metaphysische Fntität, deren Fixistenz dazu durch nichts bewiesen ist. Denn selbst die entwickelteren Tierarten sind in keiner Weise von dem Bedürfnis nach Fortschritt erfüllt, und auch unter den menschlichen Gesellschaften gibt es viele, die sich darin gefallen, für unbestimmte Zeiten stationär zu bleiben. Oder ist es, wie Spencer zu glauben scheint, das Bedürfnis nach größerem Glück, das die immer komplexeren Formen der Zivilisation vollständiger zu realisieren berufen sind? Dann müßte man zunächst feststellen, daß das Glück mit der Zivilisation wächst; wir haben an anderer Stelle die Schwierigkeiten auseinandergesetzt, zu denen diese Hypothese führt. Doch selbst wenn das eine oder das andere dieser beiden Postulate akzeptiert werden müßte, so wäre dadurch die geschichtliche Entwicklung nicht verständlich gemacht; denn die Erklärung, die daraus folgen würde, wäre rein teleologisch, und wir haben weiter oben gezeigt, daß die sozialen Phänomene wie alle Naturerscheinungen dadurch allein nicht erklärt werden, daß man die Zwecke, denen sie dienen, aufdeckt. Hat man klargestellt, daß die immer anspruchsvolleren sozialen Organisationen, die im Laufe der Geschichte aufeinander gefolgt sind, diesen oder jenen Grundtrieb immer vollständiger befriedigt haben, so ist dadurch noch nicht klargestellt, wie sie entstanden sind. Die Tatsache, daß sie nützlich waren, läßt uns nicht erkennen, was sie hervorgebracht hat. Selbst wenn erklärt würde, wie wir dazu kamen, sie uns auszudenken und gewissermaßen die Dienste, die wir von ihnen erwarten können, in Gedanken zu entwerfen — und schon dieses Problem ist schwierig —, so hätten doch die Wünsche, deren Gegenstand sie sein könnten, nicht die Kraft, sie aus dem Nichts hervorzuziehen. Wird mit einem Wort zugegeben, daß sie notwendige Mittel zu angestrebten Zwecken waren, so bleibt noch die Frage ganz offen: Wie, d. h. woher und wodurch sind diese Mittel entstanden? Wir gelangen also zu folgender Regel: Die bestimmende Ursache eines soziologischen Tatbestands muß in den socialen Phänomenen, die ihm zeitlich vorangehen, und nicht in den Zuständen des individuellen Bewußtseins gesucht werden. Andererseits ist es leicht begreiflich, daß alles Vorhergehende ebenso auf die Feststellung

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1. Der Bruch

der F u n k t i o n wie auf die der Ursache anzuwenden ist. Die F u n k t i o n eines sozialen P h ä n o m e n s kann nicht anders als sozial sein, d. h. sie besteht in der E r z e u g u n g v o n W i r k u n g e n , die sozial nützlich sind. Allerdings kann es v o r k o m m e n und k o m m t tatsächlich vor, daß sie zugleich den Individuen dient. D o c h macht dieses glückliche Ergebnis nicht den unmittelbaren G r u n d ihres Daseins aus. Wir k ö n n e n also den obigen Satz folgendermaßen vervollständigen: Die Funktion eines socialen Phänomens muß immer in Beziehung auf einen socialen Zweck untersucht werden.

Emile D ü r k h e i m Die Regeln der soziologischen Methode

Die Unergiebigkeit der Erklärung historisch spezifischer Tatbestände durch allgemein-menschliche Neigungen Die Praxis der historischen Analyse und der ständige Rückgriff auf die vergleichende Methode haben Max Weber besonders hellhörig für den tautologischen Verbalismus psychologischer Erklärungen gemacht, die, wenn es „besondere historische Konstellationen" zu erklären gilt, auf Neigungen der menschlichen Natur verweisen. Die Erklärung des kapitalistischen Verhaltens durch eine auri sacra fames, die ihre größte Intensität mit der Moderne erreicht haben soll, vereint ganζ widersprüchlich Zwei Typen der historischen Beweisführung: Die Aufsplitterung realer Gesamtheiten in eine Unzahl von Tatbeständen, die aus ihrem Kontext gerissen werden und als Belege für eine historische Erklärung herhalten müssen; und die evolutionistische Rückführung eines spezifischen Systems von Verhaltensweisen auf eine ursprüngliche Institution, der es nichts wesentlich Neues hinzufügt. Diesem Text, in dem Weber die spezifischen Merkmale des modernen Kapitalismus rekonstruiert, ließen sich die Analysen Sombarts gegenüberstellen, der zunächst %war anerkennt, „daß der Geist des Wirtschaftslebens [... / grundverschieden sein kann; das heißt also, um es noch einmal genau festzustellen, daß die bei der Vornahme wirtschaftlicher Handlungen erforderten seelischen Qualitäten ebenso verschieden von Fall zu FtH sind die leitenden Grundsätze, nach denen die wirtschaftliche Tätigkeit eingestellt wird", dann aber doch der Versuchung erliegt, ein besonderes historisches Gebilde durch „allgemeine Aussagen" zu erklären, wie sie der common sense liebt: Die „Goldgier und Geldsucht" sind laut Sombart der gemeinsame Ursprung ganz unterschiedlicher Wirtschaftsformen, die sich bei den germanisch-keltisch-slawischen Völkern herausgebildet haben. „Alles spricht dafür, daß frühzeitig in den jung-europäischen Völkern, wenn auch vielleicht zuerst nur in den Oberschichten, eine unerschöpfliche Sucht nach dem Golde und seinem Besitze erwacht war."* Ein Gut teil seiner Methode besteht darin, in anekdotenhaften Erinnerungen, mit denen sich die Neigung zur Schatzbildung belegen läßt, oder in moralischen Pamphleten, in denen die „Mammonisierung aller Lebensbereiche" angeprangert wird, nach Spuren jener Goldgier und Geldsucht zu suchen, die in ihren unterschiedlichen Ausprägungen ein konstanter Faktor des Wirtschaftslebens sein soll.

13.

M. Weber

„ E r w e r b s t r i e b " , „Streben nach G e w i n n " , nach Geldgewinn, nach möglichst h o h e m Geldgewinn hat an sich mit Kapitalismus gar nichts zu schaffen. Dies Streben fand und findet sich bei Kellnern, Aerzten, Kutschern, Künstlern, * W. Sombart, Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftslebens, 1. Auflage, München und Leipzig: Duncker & Humblot, 1913.

Natur und Kultur: Substanz und System von Beziehungen. M. Weber

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Kokotten, bestechlichen Beamten, Soldaten, Räubern, Kreuzfahrern, Spielhöllenbesuchern, Bettlern: — man kann sagen: bei „all sorts and conditions of men", zu allen Epochen aller Länder der Erde, wo die objektive Möglichkeit dafür irgendwie gegeben war und ist. Es gehört in die kulturgeschichtliche Kinderstube, daß man diese naive Begriffsbestimmung ein für allemal aufgibt. Schrankenloseste Erwerbsgier ist nicht im mindesten gleich Kapitalismus, noch weniger gleich dessen „Geist". Kapitalismus kann geradezu identisch sein mit Bändigung, mindestens mit rationaler Temperierung, dieses irrationalen Triebes. Allerdings ist Kapitalismus identisch mit dem Streben nach Gewinn, im kontinuierlichen, rationalen kapitalistischen Betrieb: nach immer erneutem Gewinn: nach „Rentabilität". Denn er muß es sein. Innerhalb einer kapitalistischen Ordnung der gesamten Wirtschaft würde ein kapitalistischer Einzelbetrieb, der sich nicht an der Chance der Erzielung von Rentabilität orientierte, zum Untergang verurteilt sein. [...] Eine Gesinnung wie sie in den zitierten Ausführungen Benjamin Franklins zum Ausdruck kam** und den Beifall eines ganzen Volkes fand, wäre im Altertum wie im Mittelalter ebenso als Ausdruck des schmutzigsten Geizes und einer schlechthin würdelosen Gesinnung proskribiert worden, wie dies noch heute von allen denjenigen sozialen Gruppen regelmäßig geschieht, welche in die spezifisch moderne kapitalistische Wirtschaft am wenigsten verflochten oder ihr am wenigsten angepaßt sind. Nicht etwa deshalb, weil „der Erwerbstrieb" in den präkapitalistischen Epochen noch etwas Unbekanntes oder Unentwickeltes gewesen wäre — wie man so oft gesagt hat — oder weil die „auri sacra fames", die Geldgier, damals — oder auch heute — außerhalb des bürgerlichen Kapitalismus geringer wäre als innerhalb der spezifisch kapitalistischen Sphäre, wie die Illusion moderner Romantiker sich die Sache vorstellt. An diesem Punkt liegt der Unterschied kapitalistischen und präkapitalistischen „Geistes" nicht: Die Habgier des chinesischen Mandarinen, des altrömischen Aristokraten, des modernen Agrariers hält jeden Vergleich aus. Und die „auri sacra fames" des neapolitanischen Kutschers oder Barcajuolo oder vollends des asiatischen Vertreters ähnlicher Gewerbe, ebenso aber auch des Handwerkers südeuropäischer oder asiatischer Länder äußert sich, wie jeder an sich erfahren kann, sogar außerordentlich viel penetranter, und insbesondere: skrupelloser, als diejenige etwa eines Engländers im gleichen Falle. Die universelle Herrschaft absoluter Skrupellosigkeit der Geltendmachung des Eigeninteresses beim Gelderwerb war gerade ein ganz spezifisches Charakteristikum solcher Länder, deren bürgerlich-kapitalistische ** Max Weber hat in den vorangegangenen Abschnitten Texte zitiert, in denen für ihn „der Geist des Kapitalismus" zum Ausdruck kommt: Benjamin Franklin predigt darin eine asketische Moral, deren höchstes Ziel es ist, immer mehr Geld zu machen, um den Preis einer Lebensführung, die völlig beherrscht wird v o m Kalkül und von der Sorge um die Vermehrung des Geldes, das von Natur aus „zeugungskräftig und fruchtbar" ist.

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1. Der Bruch

Entfaltung — an den Maßstäben der okzidentalen Entwicklung gemessen — „rückständig" geblieben war. Wie jeder Fabrikant weiß, ist die mangelnde „coscienziosita" der Arbeiter solcher Länder, etwa Italiens im Gegensatz zu Deutschland, eines der Haupthemmnisse ihrer kapitalistischen Entfaltung gewesen und in gewissem Maße noch immer. Der Kapitalismus kann den praktischen Vertreter des undisziplinierten „liberum arbitrium" als Arbeiter nicht brauchen, so wenig er, wie wir schon von Franklin lernen konnten, den in seiner äußern Gebarung schlechthin skrupellosen Geschäftsmann brauchen kann. In der verschieden starken Entwicklung irgendeines „Triebes" nach dem Gelde also liegt der Unterschied nicht. Die auri sacra fames ist so alt wie die uns bekannte Geschichte der Menschheit; wir werden aber sehen, daß diejenigen, die ihr als Trieb sich vorbehaltlos hingaben — wie etwa jener holländische Kapitän, der „Gewinnes halber durch die Hölle fahren wollte, und wenn er sich die Segel ansengte" — keineswegs die Vertreter derjenigen Gesinnung waren, aus welcher der spezifisch moderne kapitalistische „Geist" als Massenerscheinung — und darauf kommt es an — hervorbrach. Den rücksichtslosen, an keine Norm innerlich sich bindenden Erwerb hat es zu allen Zeiten der Geschichte gegeben, wo und wie immer er tatsächlich überhaupt möglich war. [...] Nun hat aber der Okzident ein Maß von Bedeutung und, was dafür den Grund abgibt: Arten, Formen und Richtungen von Kapitalismus hervorgebracht, die anderwärts niemals bestanden haben. Es hat in aller Welt Händler: Groß- und Detailhändler, Platz- und Fernhändler, es hat Darlehensgeschäfte aller Art, es hat Banken mit höchst verschiedenen, aber doch denjenigen wenigstens etwa unsres 16. Jahrhunderts im Wesen ähnlichen Funktionen gegeben; Seedarlehen, Kommenden und kommanditeartige Geschäfte und Assoziationen, sind auch betriebsmäßig, weit verbreitet gewesen. Wo immer GVMinanzen der öffentlichen Körperschaften bestanden, da erschien der Geldgeber: in Babylon, Hellas, Indien, China, Rom: für die Finanzierung vor allem der Kriege und des Seeraubes, für Lieferungen und Bauten aller Art, bei überseeischer Politik als Kolonialunternehmer, als Plantagenerwerber und -betreiber mit Sklaven oder direkt oder indirekt gepreßten Arbeitern, für Domänen-, Amts- und vor allem: für Steuerpacht, für die Finanzierung von Parteichefs zum Zwecke von Wahlen und von Kondottieren zum Zweck von Bürgerkriegen und schließlich: als „Spekulant" in geldwerten Chancen aller Art. Diese Art von Unternehmerfiguren: die kapitalistischen Abenteurer, hat es in aller Welt gegeben. Ihre Chancen waren — mit Ausnahme des Handels und der Kredit- und Bankgeschäfte — dem Schwerpunkt nach entweder rein irrational-spekulativen Charakters oder aber sie waren an dem Erwerb durch Gewaltsamkeit, vor allem dem Beuteerwerb: aktuell-kriegerischer oder chronisch-fiskalischer Beute (Untertanen-Ausplünderung), orientiert. Der Gründer-, Großspekulanten-, Kolonial- und der moderne Finanzierungskapitalismus schon im Frieden, vor allem aber aller spezifisch kriegs-

Natur und Kultur: Substanz und System von Beziehungen. M. Weber

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orientierte Kapitalismus tragen auch in der okzidentalen Gegenwart noch oft dies Gepräge und einzelne — nur: einzelne — Teile des internationalen Großhandels stehen ihm, heute wie von jeher, nahe. Aber der Okzident kennt in der Neuheit daneben eine ganz andere und nirgends sonst auf der Erde entwickelte Art des Kapitalismus: die rational-kapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit. Nur Vorstufen dafür finden sich anderwärts. Selbst die Organisation unfreier Arbeit hat ja nur in den Plantagen und, in sehr begrenztem Maß, in den Ergasterien der Antike eine gewisse Rationalitätsstufe erreicht, eine eher noch geringere in den Fronhöfen und Gutsfabriken oder grundherrlichen Hausindustrien mit Leibeigenen- oder Hörigenarbeit in der beginnenden Neuzeit. Für freie Arbeit finden sich selbst eigentliche „Hausindustrien" außerhalb des Okzidents nur vereinzelt sicher bezeugt und die natürlich überall sich findende Taglöhnerverwendung hat mit sehr wenigen und sehr besonders, jedenfalls aber: sehr abweichend von modernen Betriebsorganisationen gearteten Ausnahmen (besonders: Staatsmonopolbetrieben) nicht zu Manufakturen und nicht einmal zu einer rationalen Lehrorganisation des Handwerks vom Gepräge des okzidentalen Mittelalters geführt. Die an den Chancen des Gütermarktes, nicht an gewaltpolitischen oder an irrationalen Spekulationschancen, orientierte, rationale Betriebsorganisation ist aber nicht die einzige Sondererscheinung des okzidentalen Kapitalismus. Die moderne rationale Organisation des kapitalistischen Betriebs wäre nicht möglich gewesen ohne zwei weitere Entwicklungselemente: die Trennung von Haushalt und Betrieb, welche das heutige Wirtschaftsleben schlechthin beherrscht und, damit eng zusammenhängend, die rationale Buchführung. Oertliche Trennung der Werk- oder Verkaufsstätten von der Behausung findet sich auch sonst (im orientalischen Bazar und in den Ergasterien anderer Kulturgebiete). Und auch die Schaffung von kapitalistischen Assoziationen mit gesonderter Betriebsrechnung findet sich in Ostasien wie im Orient und in der Antike. Aber: gegenüber der modernen Verselbständigung der Erwerbsbetriebe sind das doch nur Ansätze. Vor allem aus dem Grunde, weil die inneren Mittel dieser Selbständigkeit: sowohl unsre rationale Betriebsbuchführung wie unsre rechtliche Sonderung von Betriebsvermögen und persönlichem Vermögen ganz fehlen oder nur in Anfängen entwickelt sind. Die Entwicklung hat überall sonst dazu geneigt, Erwerbsbetriebe als Teile eines fürstlichen oder grundherrlichen Gro&haushalts (des „Oikos") entstehen zu lassen: eine, wie schon Rodbertus erkannt hatte, bei mancher scheinbaren Verwandtschaft doch höchst abweichende, geradezu entgegengesetzte, Entwicklung. Ihre heutige Bedeutung aber haben alle diese Besonderheiten des abendländischen Kapitalismus letztlich erst durch den Zusammenhang mit der kapitalistischen Arbeitsorganisation erhalten. Auch das, was man die „Kommerzialisierung" zu nennen pflegt: die Wertpapierentwicklung und die Rationalisierung der Spekulation: die Börse, steht damit im Zusammenhang. Denn ohne kapitalistisch-rationale Arbeitsorganisation wäre dies alles, auch die

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1. Der Bruch

Entwicklung zur „Kommerzialisierung", soweit überhaupt möglich, nicht entfernt von der gleichen Tragweite. Vor allem für die soziale Struktur und alle mit ihr zusammenhängenden spezifisch modern-okzidentalen Probleme. Eine exakte Kalkulation: — die Grundlage alles andern, — ist eben nur auf dem Boden freier Arbeit möglich. Max Weber „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus"

1.4 Spontansoziologie und die Macht der Sprache Krankheiten der Sprache Wir glauben, sagt Bacon sinngemäß, daß wir unsere Worte beherrschen, während es doch die Worte sind, die — von uns unbemerkt — uns beherrschen und uns unter der Hand in die Trugbilder ihres falschen Scheins verstricken. Bs genügt nicht, wie es die rationalistische Tradition der Lingua universalis oder der Characteristica generalis will, die Alltagssprache, dieses idolum fori, durch die vollkommene Logik einer konstruierten Sprache ersetzen: Die Logik der Alltagssprache, die übersehen wird, eben weil sie alltäglich ist, ist analysieren. Nur eine solche Kritik kann die falschen Problemstellungen und trügerischen Kategorien aufdecken, deren Vehikel die Sprache ist und die sich immer wieder ein^uschleichen drohen, selbst noch in der wissenschaftlichen Einkleidung einer hochformalisierten Sprache.

14. M. Chastaing Wittgenstein behandelt die Philosophen wie Kranke und erfindet eine neue Methode [11,26],* sie von ihren Leiden zu heilen. Wie? Indem sie sie %ur Ruhe bringt. Wie vertreibt sie ihre Unruhe? Indem sie ihre Probleme löst? Nein: indem sie sie auflöst [48,51,91,155], Woran kranken sie? An schlechten Ausdrucksweisen [47]. Gewiß, sie gebrauchen Wörter, die wir auch gebrauchen: Wissen, Sein, Ich, Gegenstand usw. [48], aber sie gebrauchen sie weder wie wir, noch in der niedrigen Verwendung, wie sie selber die Wörter Tisch, Küche oder Tennis gebrauchen [44]. Wenn sie fragen: „Denkt denn ein Oberst?", stellen sie dann dieselbe Frage, die auch wir leider manchmal stellen [126]? Wenn sie bekennen: „Ich kann über Ihre Empfindungen nichts wissen", sagen wir ihnen dann; „Versuchen Sie es doch"? Oder sie geben unseren gewöhnlichen Ausdrücken eine * Die Zahlen in Klammern verweisen auf die Philosophical Investigations, Oxford, 1953; I und II vor den Zahlen beziehen sich auf die Untersuchung von G. E. Moore, „Wittgenstein's Lectures", Mind, 1954 und 1955. — Die Angaben zu den Philosophischen Untersuchungen sind Seitenzahlen (Λ. d. Ü.).

Spontansoziologie und die Macht der Sprache. M. Chastaing

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seltsame Interpretation [19], oder diese Seltsamkeit drückt sich in außergewöhnlichen Wendungen aus [47]. Oder sie verstehen in ihrer Verwirrung weder unsere alltägliche Sprache mehr, noch ihre eigene, 1 oder erfinden eine Sprache, die so unverständlich ist wie die eines Verrückten, der befiehlt: Milch mir Zucker [138]. Ihre Probleme entstehen aus ihrer Aufhebung sprachlicher Regeln [51]. Ganz genau: aus ihrer Unfolgsamkeit gegenüber den Regeln der Sprachspiele.2

Nun wird aber der Sinn eines Wortes oder einer Wortverbindung vom System der Regeln bestimmt, durch das sein Gebrauch festgelegt ist3 [1,288]. Folglich haben philosophische Aussagen keinen Sinn 4 [48]. Und alle Philosophen, verirrt in der Wolke ihrer Absurditäten [222], sagen immer nur: „Ich bin ein Verirrter". "' Hauptsymptome der Verwirrung: 1. Das „Nicht-Mitspielen". — Die Kranken entwenden Wörter aus den Texten, in denen sie von uns benutzt werden, reißen Sätze aus ihrem gewöhnlichen Zusammenhang, und stoßen damit ungebräuchliche Wörter aus, denen sie eine absolute Bedeutung beilegen, während unsere Wörter nur in bezug auf die — verbalen oder nicht-verbalen — Verhältnisse etwas bedeuten, in denen wir mit ihnen zu spielen gelernt haben [6, 10, 20, 24, 36, 44, 65, 73, 220]. Zum Beispiel stellen sie jenseits aller Spiele, in denen ihre Wörter Rollen haben, und also jenseits jeder Sprache, 6 Fragen wie: „Ist dies einfach oder zusammengesetzt?" „Ist dies ein seelischer Vorgang?" [21,61]. Diagnostische Kennzeichen: a) Die Widersprüche [50], — Jemand, der fragt: „Kann man Schach ohne Königin spielen?", „Ist ein Tiger ohne Streifen ein Tiger?", 7 ist ein Philosoph. Wenn er gelernt hat, zu einem Raubtier mit gestreiftem Fell „Tiger" zu sagen, widerspricht er sich dann etwa nicht, wenn er von einem Tiger ohne gestreiftes Fell spricht? b) Das verborgene Wesen [43]. — Der Philosoph, der Zähne in einem Hühnerschnabel sucht, findet in ihm unsichtbare Zähne: P> sucht den Sinn 1

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„Wir sind, wenn wir philosophieren, wie Wilde, primitive Menschen, die die Ausdrucksweise zivilisierter Menschen hören, sie mißdeuten und nun die seltsamsten Schlüsse aus ihrer Deutung ziehen" [79], MacDonald übersetzt: Die Philosophen „verwenden gewöhnliche Wörter, nehmen ihnen aber ihre gewöhnliche Funktion" („The Philosopher's Use of Analogy", in: I^ogic and Language, 1, 1955, S. 82). Wittgenstein benutzt den Ausdruck Sprachspiel (language-game), um mal das System (1,6) einer Sprache, mal den Gebrauch dieser Sprache, das heißt das Sprechen, und mal das Sprechen und das Handeln, in das es eingebettet ist, zu bezeichnen [5]. Er erläutert diesen Ausdruck, indem er wie Saussure die Sprache mit dem Schachspiel vergleicht. Kine Formulierung von Schlick, die dieser Wittgenstein zuschreibt („Meaning and Verification", Philosophical Review, 1936, S. 341). Vgl. Β. A. Farrell, „An Appraisal of Therapeutic Positivism", Mind, 1946. Ein philosophisches Problem hat die Form: „Ich kenne mich nicht aus" [49], „Nur in einer Sprache kann ich etwas mit etwas meinen" [18]. Eine geradezu „Saussure'sche" Formulierung. Beispiele von Wittgenstein (J. Wisdom, „Other Minds", Mind, 1940, S. 370).

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1. Der Bruch

der Wörter „Sein" und „Ding", also hat er ihnen jeden sichtbaren Sinn genommen, indem er sie aus den Umständen herausgerissen hat, in denen sie gewachsen sind und deren manifeste Zeichen sie sind, 8 also muß er sich erst ausdenken, daß der gesuchte Sinn sich in den Ideen oder dem geistigen Wesen verbirgt, das die Wörter bedeuten 9 (wie eine Kerbe in einem Stein einen vergrabenen Schatz bedeutet), dann eine Intuition erfinden [84], die ihm mit einem Schlag [80J erlauben soll, das geheime Wesen von Lebewesen und Dingen zu entdecken [48]. c) Die Definitionen [73]. — Wenn einer, der das verborgene Wesen sucht, Sie fragt: „Was ist ein Spiel?", erwartet er dann nicht, daß Sie ihm ein- für allemal eine Antwort geben [43]? Wenn die Philosophen Fragen stellen, sind sie auf Definitionen aus. Aber wie ihnen sagen, wo das Spiel aufhört, wo es anfängt [33 — 36]? 10 Haben wir nicht gelernt, von Kinderspielen, Olympischen Spielen, mathematischen Spielen, Wortspielen usw. zu sprechen? Gelernt also, den Bereich der Spiele unendlich auszudehnen? Unser Begriff „Spiel" scheint unbegrenzt [31 — 33]. 11 Abhilfe: Man bringe Wörter und Sätze in ihre Heimat, das heißt nach Hause in die Situationen, in denen sie benutzt werden [48,155]. Dosierung: Man nehme bei philosophischen Krisen die kritischen Wörter und frage sich: „Unter welchen Umständen benutzen wir sie?" [48,61,188; 11,19]. 2. Der gemeinsame Nenner. — Die Kranken wehren sich: Sie wollen definieren, was allen Spielen unter allen Umständen gemeinsam ist\ sie möchten das Wesen der Kunst schauen, in dem alle Künste miteinander vereint sind. Und sie greifen an: Damit wir einen Allgemeinbegriff wie „Spiel" oder „Kunst" auf unterschiedliche Tätigkeiten anwenden können, müssen diese Tätigkeiten einen gemeinsamen Nenner haben. Muß also, damit man von „vol" sprechen kann, der „vol" ( = Flug) eines Fliegers mit dem „vol" ( = Diebstahl) eines Übeltäters etwas gemeinsam haben? Über „animaux volatiles" ( = Geflügel) und „voleurs de gibiers" ( = Wilddiebe) wechselten seine jagenden Vorfahren von einem „vol" zum anderen. Wir wechseln graduell von einer Verwendungsweise des Wortes „bureau" zu einer anderen, ohne an eine „Idee des , B u r e a u ' " zu denken, an der ein Stoff, ein Möbelstück, eine Räumlichkeit, eine Sozietät, eine öffentliche Dienststelle

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Die Bedeutung eines Wortes ist also über die Verhältnisse „vermittelt", in denen es gebraucht wird. Für P. F. Strawson ist die „Ablehnung der Lehre von der Unmittelbarkeit" eine Konstante der Philosophical Investigations (Mind, 1951, S. 92, 98). Vgl.: „Wo unsere Sprache uns einen Körper vermuten läßt, und kein Körper ist, dort möchten wir sagen, sei ein GFüST" [18]. Die Sprachwissenschaftler sagen genau das gleiche wie Wittgenstein: „Wo beginnt, wo endet zum Beispiel die Gattung ,ΤορΡ, oder die Gattung ,Kochtopf?" (Λ. Dauzat, La geographie linguistique, Paris: 1922, S. 123). Vgl. M. Chastaing, „Jouer n'est pas jouer", Journal de psjchologie normale et pathologique, 3, 1959, S. 3 0 3 - 3 2 6 .

Spontansoziologie und die Macht der Sprache. M. Chastaing

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beteiligt wären.** Das Geheimnis der allzu allgemeinen Ideen löst sich in der Semasiologie der graduellen Übergänge auf [II, 17]. Die Abhilfe also: Sagen Sie nicht: „Alle Substanzen, Eigenschaften, Handlungen, die mit ein- und demselben Wort bezeichnet werden, müssen etwas gemeinsam haben", sondern schauen Sie hin und sehen Sie ob es etwas Gemeinsames gibt. Schauen Sie sich an, wie das Wort „occupation" funktioniert und sehen Sie zu, ob die „occupation" eines Arbeiters, also seine Beschäftigung, etwas mit der „occupation" eines Sitzplatzes gemeinsam hat, also damit, daß er besetzt ist. O b eine Bemerkung „trocken" ist wie ein Boden und ein Boden „trocken" wie ein Champagner. 1 2 O b das Leben des Verbs „nehmen" genauso eindimensional ist wie das des Verbs „abschwenden". Lernen Sie anhand von Beispielen erkennen, wie die Wörter funktionieren [31—32,51,109]. Nehmen Sie eventuell eine Dosis Beispiele aus Abhandlungen zur Semantik. 3. Die einseitige Diät [155]. — Sicher, manche Philosophen sind ganz abstinent und füttern ihre Spekulationen gar nicht mit Beispielen; andere aber nähren ihre Gedanken nur mit einer einzigen Sorte Beispiele. Diese letzteren vergessen zum Schluß überhaupt, daß es unterschiedliche Sorten gibt. Infolgedessen machen sie besondere Redeweisen zu allgemeinen: Aus „einigen" machen sie „alle"; aus einem Teil die Totalität [3,13,18,37,110,155]. Beobachten Sie sie: Metaphysiker, die „gleich" durch „identisch" ersetzen, obwohl diese Ausdrücke nur manchmal synonym sind [91], oder Psychologen, die davon ausgehen, daß ein Motiv das Motiv ist [11,19], Sprachphilosophen, wie sie oft sind, sind sie es gewöhnt, alle Wörter als Namen und alle Namen als Eigennamen zu behandeln [18 — 20; 1,9]. Abhilfe: explizite Spezifizierung. Geben Sie die speziellen Umstände an, unter denen Wort X eine Bedeutung Y hat, grenzen Sie die Bedeutung ausdrücklich durch Angabe spezifischer, beispielhafter Bedingungen ein. „In diesem Falle ...", „in diesen Fällen ...". Manchmal wird es auch genügen, zu sagen: „in einer großen Zahl von Fällen ...". Für die Zubereitung dieses Mittels geben Sie zu dem bereits angegebenen Rezept „Unter welchen Umständen sagen wir, daß ..." noch die Frage hinzu: „Gibt es nicht Umstände, unter denen wir anders reden?" Würden Sie zum Beispiel gern alle Spiele als Wettkämpfe klassifizieren, dann fragen Sie nicht nur: „Welche Spiele", sondern auch noch: „Gibt es Spiele ohne Wettkämpfer?

** Im Französischen hat das Wort „bureau" u. a. die Bedeutungen: Schreibtisch, Büroraum, Anwaltskanzlei, Dienststelle, Amt, Abteilung, Vorstand ... (A. d. Ü.). 12 Vgl. R. Wells, „Meaning and Use", Word, Aug. 1951, S. 24. In dieser Nummer von Word kommen Wittgensteins Philosophie und die strukturale Sprachwissenschaft zusammen (vgl. S. Ullmann, „The Concept of Meaning in Linguistics", Archivum Ling., 1956, S. 18 — 29). Aber Aufeinander-zu-Bewegen ist nicht Beeinflussen. Wurde Wittgenstein von Sprachwissenschaftlern beeinflußt? Beeinflußte er die Sprachwissenschaft?

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1. Der Bruch

Und welche?" Durch Ihre Fragen lernen Sie, die verschiedenen Anwendungen des Wortes „Spiel" vergleichen [3,20,30,32,50], 4. „Kategorienfehler".13 — Weil die Philosophen sich nicht darin üben, die semantischen Geltungsbereiche ihres Vokabulars miteinander zu vergleichen, begehen sie den Fehler, diese Bereiche zu vermengen [24,13]. Ihre Sprache wird wie ein Tennisplatz, auf dem plötzlich Fußballtore stehen, wie ein Boxring, in dem Boxer verschiedener Gewichtsklassen miteinander kämpfen [231]. Machen sie womöglich die Humoristen nach, für die der „Kategorienfehler" oberstes Gebot ist? Nein. Sie offerieren uns ihre grammatischen Wit%e nicht als Witze [47], Allen Ernstes machen sie aus der Psychologie eine andere Physik [151] oder aus dem Denken ein anderes Reden [217] und sagen: Fräulein Mayer hat ein „Ich", wie: Sie hat blondes Haar, 14 oder: Der Geist hat eine Meinung, wie: Herr Schmidt hat eine Meinung [151], sie setzen die Gründe für den Traum mit seinen Ursachen gleich [11,20 — 21], unsere gesprochene Sprache mit einer logischen Sprache [46] oder die Wortbedeutung mit dem Wort selbst [49]. Allen Ernstes halten sie illustrierte Redewendungen für empirische Aussagen [100 — 101] und Metaphern, bei denen Wörter von ihrem semantischen Feld in ein anderes Feld wechseln [1,5,295], für gewöhnliche Ausdrücke. Abhilfe: Ein paar „Umwandlungsübungen". 1 5 Üben Sie sich darin, zu fragen: „Kann ich unter den Umständen, unter denen ich Α sage, Α umwandeln und Β sagen? Kann ich also Α oder Β beziehungsweise Α und Β sagen?" Fragen Sie zum Beispiel: „Kann ich sagen: ,Leide ich?' wie ich sage: ,Liebe ich?', ,lch empfinde einige Sekunden lang heftigen Kummer' wie: ,Ich empfinde einige Sekunden lang heftigen Schmerz'?" Und Sie werden nicht mehr der Versuchung erliegen, Liebe und Kummer in dieselbe Kategorie von Empfindungen einzureihen wie den Schmerz und selbst das Leiden [61,154,174], Fragen Sie: „Kann ich sagen, daß ich in Wörtern und Sätzen rede?" 16 , „daß ein Schachspieler mit Schachfiguren und Bauern spielt"? Und Sie werden nicht mehr in Versuchung geraten, Namen auf dieselbe Ebene zu stellen wie Sätze [24]. Lernen Sie also durch Fragen, bei denen Sie einen Sat^ im Gegensatz anderen Sätzen benutzen, eine Vokabel im Gegensatz zu anderen Vokabeln

13 14

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16

Vgl. G. Ryle, The Concept of Mind, Cambridge: 1951, S. 1 6 - 1 8 . J. F.. Thomson, „The Argument from Analogy and our Knowledge of Other Minds", Mind, 1951, S. 343. Beliebte Vokabel der „Glossematiker". Gerechtfertigt durch die zwanzigste Bemerkung, in der Wittgenstein wie jene das Wort zur kleinsten „Kommutationseinheit" erklärt, die Satzwert haben kann (8,9), und durch Bemerkung 558, in der er den berühmtberüchtigten „Substitutionstest" verwendet, um den Sinn eines Wortes zu identifizieren (vgl. L. Hjelmslev, Prolegomena to a Theory of Language, Baltimore, Indiana: Waverley Press, 1953, S. 66). Vgl. G. Ryle, „Ordinary Language", Philosophical Review, 1953.

Spontanso2iologie und die Macht der Sprache. G. Canguilhem

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[9,90], gleichzeitig die semantischen Unterschiede erkennen, die die Alltagssprache systematisch macht, und die Fehler, die die Philosophen machen, die das „System der Unterschiede" 17 ihrer Sprache vergewaltigen. Dieses Heilmittel kommt somit wie die vorigen von einer Psychoanalyse her, deren Reglement so aussieht: Damit sie gesund werden, müssen den Philosophen ihre verbalen Extravaganzen bewußt werden, 18 und damit ihnen diese Extravaganzen bewußt werden, muß man ihnen die alltägliche Sprache wieder bewußt machen, die übersehen wird, eben weil sie alltäglich ist [43 — 49]. Mit Hilfe einer klaren Darstellung unserer Art zu sprechen [6, 51,133,167] sind sie %ur sprachlichen Ordnung rufen [50]. Der Therapeut, der wie Descartes Klarheit und Ordnung liebt, 19 lehrt, wie Sokrates, gar nichts: Er trägt, die Alltagssprache darstellend, nie etwas anderes als Banalitäten vor [42,47,50; II, 27]. 20

Maxime Chastaing .Wittgenstein et le probleme de la connaissance d'autrui"

Metaphorische Schemata in der Biologie Die allgemeinen Schemata — Bilder oder Analogien — haben aufgrund des umfassenden und unmittelbaren Verständnisses, das sie vermitteln, die Macht, den Gang der wissenschaftlichen Erkenntnis der Dinge %u behindern. Um die heuristischen Potenzen von Begriffen wie „Zelle" oder „Gewebe" freizusetzen, mußte das biologische Denken erst einmal in der Eage sein, die affektiven oder socialen Konnotationen %u neutralisieren, die diesen Wörtern von ihrem gewöhnlichen Gebrauch her anhafteten. Meistens muß man sich erst einmal, wie Harvey, der das Bild der „Bewässerung' verdrängen mußte, um die Hypothese des Blutkreislaufs formulieren können, unwiderruflich von einem Bildersystem trennen, das die Formulierung einer kohärenten Theorie nicht erlaubt. Gan% allgemein kann der Rückgriff auf eine Analogie, auch wenn sie nicht völlig adäquat ist, %ur Wahrnehmung der Mehrdeutigkeiten einer weniger adäquaten Analogie verhelfen, jedenfalls wenn er in theoretischer Absicht und kontrolliert erfolgt: Die Metapher eines als Gesellschaft gedachten Organismus ermöglichte es der Biologie, sich von der technologischen Vorstellung vom Körper lösen; aber diese Analogie wurde ihrerseits von der weiteren Entwicklung der biologischen Theorie korrigiert.

15. G. Canguilhem Bei der Zelle haben wir es mit einem biologischen Objekt zu tun, das ganz unbestreitbar affektiv stark überdeterminiert ist. Die Psychoanalyse der Erkenntnis hat inzwischen genügend erfreuliche Erfolge gezeitigt, um die Würde 17 18 19 20

Formulierung von Saussure. „Denn die philosophischen Probleme entstehen, wenn die Sprache feiert" [19]. Schon Malebranche praktizierte Wittgensteins Methode {Recherche de la verite, VI, 2,7). „Sie stellt nur fest, was Jeder ihr zugibt" [156], sagt Wittgenstein von seiner „Philosophie".

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1. Der Bruch

eines Genres beanspruchen zu können, zu dem sich auch ohne systematischen Ansatz manches beisteuern läßt. In unser aller Erinnerung an den naturkundlichen Unterricht dürfte sich das Bild der Zellstruktur von Lebewesen finden. Dieses Bild hat geradezu kanonische Gültigkeit. Die schematische Darstellung des Epithels ist das Bild der Honigwabe. Zelle ist ein Wort, bei dem wir nicht an Mönche oder Gefängnisinsassen denken, sondern an Bienen. Haeckel hat darauf hingewiesen, daß die mit Honig gefüllten Wachszellen vollkommen der mit Zellsaft gefüllten Pflanzenzelle entsprechen. Doch scheint es uns, daß die Macht, die der Begriff „Zelle" in unseren Köpfen hat, nicht von dieser perfekten Entsprechung herrührt. Weiß man denn, ob der menschliche Geist, als er bewußt den Begriff „Zelle" vom Bienenstock übernahm, um den Grundbaustein des lebenden Organismus zu bezeichnen, nicht vielmehr fast unbewußt auch den Begriff der kooperativen Arbeit mit übernommen hat, dessen Produkt die Honigwabe ist? Da die Wabe der Grundbaustein eines Bauwerks ist, gehen die Bienen, wie Maeterlinck gesagt hat, völlig in der Republik auf. Wirklich ist Zelle ein zugleich anatomischer und funktionaler Begriff, Begriff eines Elementarbaustoffs und einer untergeordneten individuellen Teilarbeit. Sicher ist jedenfalls, daß die Entwicklung der Zelltheorie mehr oder weniger deutlich im Zeichen der affektiven und sozialen Werte von Kooperation und Assoziation stand. [...] Der Begriff Gewebe, französisch „tissu", ist nähere Betrachtung wert. „Tissu" kommt bekanntlich von „tistre", der alten Form des Verbs „tisser", weben.* Und so wie uns das Wort Zelle mit impliziten Bedeutungen affektiver und sozialer Natur befrachtet schien, so gibt es auch beim Wort „Gewebe" außer-theoretische Implikationen. Bei Zelle denken wir an die Biene und nicht an den Menschen; bei Gewebe an den Menschen und nicht an die Spinne. Gewebe ist Menschenwerk par excellence. Die Zelle mit ihrer gesetzmäßigen Sechseckform ist das Bild eines in sich geschlossenen Ganzen. „Gewebe" aber ist das Bild von Kontinuität, bei der jede Unterbrechung Willkür ist, bei der das Produkt aus einer stets fortsetzbaren Tätigkeit hervorgeht. Je nach Bedarf wird hier oder da geschnitten. Die Zelle ist darüberhinaus etwas Empfindliches, etwas, das gemacht ist, um bewundert und betrachtet, aber — bei Strafe der Zerstörung — nicht berührt zu werden. Ein Gewebe dagegen muß in die Hand genommen, betastet, geknüllt werden, um seine Dichte, den schönen Fall, das Flauschige würdigen zu können. Ein Gewebe wird gefaltet und entfaltet und Welle auf Welle auf dem Ladentisch entrollt. [...] Blut und Zellsaft fließen wie Wasser. Kanalisiert bewässert Wasser den Boden; also müssen auch Blut und Zellsaft bewässern. Aristoteles setzte die Verteilung des Blutes vom Herzen her mit der Bewässerung eines Gartens über Kanäle gleich. Und auch Galen dachte darüber nicht anders. Aber den * Das französische Wort tissu bedeutet S t o f f , Gewebe, Gespinst.

— A. d. Ü.

Spontansoziologie und die Macht der Sprache. G. Canguilhem

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Boden bewässern heißt letzten Endes, im Boden versickern. Und genau hierin liegt das Haupthindernis für das Verständnis des Blutkreislaufs. Harvey wurde berühmt, weil er das Experiment mit den abgebundenen Armvenen durchführte, die unterhalb der Einschnürung anschwellen und damit einen experimentellen Beweis für die Blutzirkulation liefern. Aber dieses Experiment war bereits 1603 von Fabricio d'Aquapendente durchgeführt worden — und es kann durchaus noch weiter zurückgehen —, der daraus zwar auf die Regulierungsfunktion der Venenklappen schloß, aber dachte, ihre Aufgabe sei die Verhinderung von Blutstauungen in den tieferliegenden Gliedern und Körperpartien. Harvey fügte der Summe der vor ihm getroffenen Feststellungen etwas ebenso Einfaches wie Ausschlaggebendes hinzu; die linke Herzkammer schickt in einer Stunde über die Aorta ein Dreifaches des Körpergewichts an Blut in den Körper. Woher kommt, wohin geht soviel Blut? Und weiter: Öffnet man eine Arterie, blutet der Körper vollkommen aus. Woraus die Idee der Möglichkeit eines geschlossenen Kreislaufs geboren wurde. „Ich fragte mich", sagt Harvey, „ob sich dies alles nicht durch eine Kreisbewegung des Blutes erklären ließe". Als Harvey jetzt das AbbindeExperiment wiederholt, kann er endlich allen Beobachtungen und Experimenten einen kohärenten Sinn geben. Man sieht, die Entdeckung des Blutkreislaufs besteht zunächst und vielleicht überhaupt wesentlich darin, daß der eine Begriff, nämlich der direkt aus dem Bereich der menschlichen Technik in die Biologie eingeführte Begriff der Bewässerung, durch einen anderen ersetzt wird, der geeignet ist, die präzisen Beobachtungen, die an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zeitpunkten am Organismus vorgenommen worden waren, zu „kohärieren". Die Realität des biologischen Begriffs setzt die Abkehr vom altvertrauten technischen Begriff der Bewässerung voraus.

Georges Canguilhem

I^a connaissance de la vie

Den Schlüssel zur organischen Totalität, jenen Schlüssel, den die Anatomie nicht liefern konnte, liefert uns die Physiologie. Die Organe und Systeme eines hochdifferenzierten Organismus existieren nicht für sich selbst und auch nicht als Organe und Systeme füreinander, sie existieren für die Zellen, für die unzähligen anatomischen Radikale, denen sie das Binnenmilieu in der durch Ausgleich von Schwankungen konstant gehaltenen Zusammensetzung schaffen, das sie brauchen. So daß ihre Assoziation, und diese ist nach dem Modell der Gesellschaft zu verstehen, den Elementen das kollektive Mittel liefert, ihr Leben separat zu leben: „Könnte man durchgängig ein Milieu

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1. Der Bruch

schaffen, das identisch wäre mit jenem Milieu, das das Zusammenwirken der Nachbarpartien ständig für einen gegebenen Elementarorganismus bereitstellt, so würde dieser in Freiheit leben, genau wie in der Gesellschaft".1 Der Teil ist abhängig von einem Ganzen, das nur zu seinem Unterhalt gebildet wurde. Indem sie die Untersuchung aller Funktionen auf die Ebene der Zelle zurückführt, trägt die allgemeine Physiologie der Tatsache Rechnung, daß die Struktur des Gesamtorganismus den Funktionen des Teils untergeordnet ist. Der Organismus ist aus Zellen und für Zellen gemacht, für Teile, die selber weniger komplizierte Ganze sind. Den Biologen des 19. Jahrhunderts gab die Verwendung eines politischen und ökonomischen Modells das Mittel zum Verständnis dessen an die Hand, was ihnen zuvor beim Gebrauch eines technologischen Modells verschlossen geblieben war. Das Verhältnis der Teile zum Ganzen ist eines der Integration — ein Begriff, der sich in der Neurophysiologie voll durchgesetzt hat —, deren Zweck wiederum der Teil ist, denn nun ist der Teil nicht mehr ein Teilstück oder ein Werkzeug, er ist ein Individuum. Zu der Zeit, als das, was später ganz konkret die Zelltheorie werden sollte, noch ebensosehr auf philosophischer Spekulation wie auf mikroskopischer Beobachtung beruhte, und ehe dann allgemein und definitiv dem Begriff Zelle der Vorzug gegeben wurde, verwendete man zur Bezeichnung des anatomischen Grundelements oft auch den Begriff Monade. Comte vor allem lehnte die Zelltheorie noch unter diesem Namen ab. Der indirekte, aber reale Einfluß von Leibniz' Philosophie auf die ersten Philosophen und Biologen der Romantik, die die Zelltheorie vorausahnten, gibt uns das Recht, von der Zelle zu sagen, was Leibniz von der Monade sagt, nämlich daß sie pars totalis sei. Sie ist kein Instrument, kein Werkzeug, sie ist ein Individuum, ein Subjekt von Funktionen. Immer wieder taucht in den Schriften Claude Bernards der Begriff der Harmonie auf, der eine Vorstellung davon vermitteln soll, was er unter organischer Totalität versteht. Auch hierin ist unschwer ein fernes Echo auf Leibniz zu erkennen. Der Begriff der Organisation bekommt so mit der Anerkennung der Zellform als dem morphologischen Grundelement jedes organisierten Körpers einen neuen Sinn. Das Ganze ist nicht mehr das Resultat einer Abstimmung der Organe aufeinander, es ist eine Totalität von Individuen. Im 19. Jahrhundert verliert der Begriff Teil parallel und gleichzeitig seinen traditionellen arithmetischen Sinn — nämlich durch die Begründung der Mengenlehre — und seinen traditionellen anatomischen Sinn — nämlich durch die Begründung der Zelltheorie. Hat nun, rund dreißig Jahre nach Claude Bernards Tod, die von A. Carrell 1910 entwickelte, aber bereits 1903 von J. Jolly erfundene in-vitro-KxAtur explantierter Zellen den experimentellen Nachweis erbracht, daß der Orga1

C. Bernard: Lemons sur les phenomenes 1878, Bd. I, Lektion 9, S. 356 f.

de la vie communs aux animaux et aux vegetaux,

Paris:

Spontansoziologie und die Macht der Sprache. G. Canguilhem

153

nismus wie eine Gesellschaft vom liberalen Typus aufgebaut ist — denn Claude Bernards Modell ist die Gesellschaft seiner Zeit —, in der die individuellen Lebensbedingungen respektiert werden und auch außerhalb der Assoziation fortbestehen können, die künstliche Bereitstellung eines geeigneten Milieus vorausgesetzt? Soll das freigesetzte Element, das heißt das Element, das von den Hemmungen und Stimulierungen befreit ist, denen es aufgrund seiner Integration in das Ganze unterliegt, in dieser Freiheit leben wie in der Gesellschaft, muß das Milieu, das man ihm bereitstellt, mit ihm altern, was darauf hinausläuft, daß aus dem Leben des Elements — bezogen auf das Ganze, dessen Äquivalent das künstliche Milieu darstellt — eine Seitenentwicklung gemacht wird und nicht etwas Unabhängiges. Darüber hinaus verbietet das Leben in Freiheit die Rückkehr in den Stand der Gesellschaft, ein Beweis dafür, daß der befreite Teil seinen Charakter als Teil unwiderbringlich eingebüßt hat. Hierauf hat schon Etienne Wolff verwiesen: „Die Assoziation von zuvor dissoziierten Zellen hat noch nie zur Wiederherstellung der strukturellen Einheit geführt. Noch nie ist auf die Analyse die Synthese gefolgt. Nur sprachliche Unlogik läßt uns oft den anarchischen Zellwucherungen, die weder die Struktur, noch die Kohärenz des Gewebes beibehalten, aus dem sie stammen, den Namen Zellkulturen geben." 2 Kurz, nur in nicht-separiertem Zustand kann ein organisches Grundelement Element genannt werden. In diesem Sinne muß man an Hegels Formel denken, nach der die Beziehung der Teile als Teile zueinander durch das Ganze realisiert wird, so daß es außerhalb des Ganzen auch keine Teile gibt. In diesem Punkte also haben die experimentelle Embryologie und Zytologie den von C. Bernard allzu eng mit einem sozialen Modell verknüpften Begriff der organischen Struktur — der alles in allem vielleicht doch nur eine Metapher war — korrigiert. Als Reaktion auf die Verwendung mechanischer Modelle in der Physiologie schrieb C. Bernard einmal: „Der Kehlkopf ist ein Kehlkopf und die Augenlinse ist eine Augenlinse, das heißt, ihre mechanischen oder physikalischen Verhältnisse sind im lebenden Organismus gegeben und nirgends sonst." 3 Was für die mechanischen Modelle in der Biologie gilt, gilt genauso für die sozialen. Der Begriff des Ganzen als eines Regulators der organischen Entwicklungen und Abläufe ist zwar seit der Zeit, als C. Bernard als einer der ersten seine Brauchbarkeit experimentell nachwies, ein zumindest formal unveränderter Begriff des biologischen Denkens geblieben, doch muß man sehen, daß sein Geschick nicht mehr an das des sozialen Modells gebunden ist, auf dem er zunächst beruhte. Der Organismus ist keine Gesellschaft, auch wenn er wie eine Gesellschaft die Struktur einer Organisation hat. Organisation im ganz allgemeinen Sinne ist die Lösung des 2

3

E. Wolff: „Les cultures d'organes embryonnaires ,in vitro' ", Revue scientifique, Mai —Juni 1952, S. 189. C. Bernard: Cahiers de notes, hg. von M. D. Grmek, Paris: Gallimard, 1965, S. 171.

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1. Der Bruch

Problems der Umwandlung v o n Konkurrenz in Verträglichkeit. Für den Organismus ist Organisation das Sein, für die Gesellschaft das, was sie zu tun hat. Wie C. Bernard, der sagte, „der Kehlkopf ist ein K e h l k o p f ' , können wir sagen, das Modell des Organismus ist der Organismus selbst.

Georges Canguilhem „Le tout et la partie dans la pensee biologique"

1.5 Die Versuchung der Prophetie Professoren und Intellektuelle als Propheten Die Stellung des Professors, der dem Erwartungsdruck einer mehr auf „persönliche Wertungen" als auf Einhaltung der dürren Regeln des Wissenschaftsgeschäfts erpichten jugendlichen Hörerschaft ausgesetzt ist, mag besonders stark die Versuchung \ur Prophetie mit sich bringen, und %war einer Prophetie besonderer Art, doch macht Webers Analyse mutatis mutandis verständlich, wie der Soziologe auch jedesmal Gefahr läuft, Verrat an den strengen Maßstäben der Forschung zu üben, wenn er sich als Intellektueller — und weniger als Soziologe — bewußt oder unbewußt darauf einläßt, dem Drängen einer intellektuellen Öffentlichkeit nachzugeben, die von der Soziologie allumfassende Antworten auf menschliche Probleme erwartet, die jeden — und erst recht jeden intellektuellen — Menschen angehen. Der Text von Bennett M. Berger ist im Laichte dieser Analyse Webers lesen: Die Enttäuschung, die den Intellektuellen von jenen Soziologen bereitet wird, die sich auf ihr Spezialgebiet zurückziehen und es ablehnen, Intellektuelle zu se'n> belegt a contrario die Anstiftung zum Prophetentum, die in den Erwartungen eines breiten intellektuellen Publikums mitschwingt, stets auf der Lauer nach der Gesamt schau, die „zu denken gibt", nach verbindlichen Aussagen über letzte Werte, Betrachtungen zu den „großen Problemen" oder übermäßig dramatischen, sich in Andeutungen ergehenden Systematisierungen, die so recht dazu angetan sind, eine existentielle Gänsehaut zu erzeugen.

16. M. Weber Eine Gewissenserforschung könnte vielleicht zeigen, daß die Erfüllung des Postulats v o r allem deshalb schwierig ist, weil wir es uns ungern versagen, auch das so interessante Gebiet der Wertungen, zumal mit der so anregenden „persönlichen Note", zu betreten. Jeder Dozent wird natürlich die Beobachtung machen, daß die Gesichter der Studenten sich aufhellen und ihre Mienen sich spannen, wenn er persönlich zu „bekennen" anfängt, und ebenso, daß die Besuchsziffer seiner Vorlesungen durch die Erwartung, daß er dies tun werde, höchst vorteilhaft beeinflußt wird. Jeder weiß ferner, daß die Frequenzkonkurrenz der Universitäten oft einem noch so kleinen Propheten, der die Hörsäle füllt, bei Vorschlägen gegenüber einem noch so erheblichen Gelehrten und sachlichen Lehrer die Vorhand gibt, — es sei denn, daß die

Die Versuchung der Prophetie. Μ. Weber

155

Prophetie den, politisch oder konventionell, jeweils als normal angesehenen Wertungen allzu entlegen wäre. [...] Es ist doch ein beispielloser Zustand, wenn zahlreiche staatlich beglaubigte Propheten, welche nicht auf den Gassen oder in den Kirchen oder sonst in der Oeffentlichkeit, oder, wenn privatim, dann in persönlich ausgelesenen Glaubenskonventikeln, die sich als solche bekennen, predigen, sondern in der angeblich objektiven, unkontrollierbaren, diskussionslosen und also vor allem Widerspruch sorgsam geschützten Stille des vom Staat privilegierten Hörsaals „im Namen der Wissenschaft" maßgebende Kathederentscheidungen über Weltanschauungsfragen zum besten zu geben sich herausnehmen. Es ist ein alter, von Schmoller bei einer gegebenen Gelegenheit scharf vertretener Grundsatz: daß die Vorgänge in den Hörsälen der öffentlichen Erörterung entzogen bleiben sollen. Obwohl nun die Ansicht möglich ist, daß dies gelegentlich, auch auf empirisch-wissenschaftlichem Gebiet, gewisse Nachteile haben könne, nimmt man offenbar und nehme auch ich an: daß die „Vorlesung" eben etwas anderes als ein „Vortrag" sein solle, daß die unbefangene Strenge, Sachlichkeit, Nüchternheit der Kollegdarlegung unter dem Hineinreden der Oeffentlichkeit, ζ. B. der Presse-Oeffentlichkeit, zum Schaden des pädagogischen Zweckes leiden könne. Allein ein solches Privileg der Unkontrolliertheit scheint doch jedenfalls nur für den Bereich der rein fachlichen Qualifikation des Professors angemessen. Für persönliche Prophetie aber gibt es keine Fachqualifikation und darf es daher auch nicht jenes Privileg geben. Vor allem aber darf sie nicht die bestehende Zwangslage des Studenten, um seines Fortkommens im Leben willen bestimmte Lehranstalten und also: deren Lehrer, aufsuchen zu müssen, dazu ausbeuten, um ihm neben dem, was er hierzu braucht: Weckung und Schulung seiner Auffassungsgabe und seines Denkens, und daneben: Kenntnisse, auch noch, vor jedem Widerspruch sicher, die eigene zuweilen gewiß ganz interessante (oft auch recht gleichgültige) sogenannte „Weltanschauung" einzuflößen. Für die Propaganda seiner praktischen Ideale stehen dem Professor, ebenso wie jedermann sonst, andere Gelegenheiten zu Gebote, und wenn nicht, so kann er sie sich in geeigneter Form leicht schaffen, wie bei jedem ehrlichen Versuch dazu die Erfahrung beweist. Aber der Professor sollte nicht den Anspruch erheben, als Professor den Marschallstab des Staatsmanns (oder des Kulturreformers) im Tornister zu tragen, wie er tut, wenn er die Sturmfreiheit des Katheders für staatsmännische (oder kulturpolitische) Sentiments benutzt. In der Presse, in Versammlungen, Vereinen, Essays, in jeder jedem anderen Staatsbürger ebenfalls zugänglichen Form mag (und: soll) er tun, was sein Gott oder Dämon ihn heißt.

Max Weber „Der Sinn der ,Wertfreiheit' der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften"

156

1. Der Bruch

17. Β. Μ. Berger Der größte Teil der gegen die Soziologen gerichteten Kritik rührt von der Vorstellung her, [...] die eigentliche Aufgabe des Intellektuellen in der okzidentalen Tradition sei die Kommentierung und Interpretation der zeitgenössischen Erfahrung. [...] Es wäre ein Fehler anzunehmen, daß, weil die Vorstellung v o m Intellektuellen durch das Bild v o m Literaten geprägt ist, sein eigentliches Kennzeichen darin läge, daß er ein Künstler oder ein Literaturkenner sei. Daß er als Intellektueller gilt, beruht nicht auf dem ästhetischen Wert seiner Romane, Schauspiele, Gedichte, Essays oder Literaturkritiken, sondern darauf, daß er durch sie die Rolle eines Kommentators zeitgenössischer Kultur und Interpreten zeitgenössischer Erfahrung zu spielen beansprucht. In unserer Zeit besetzen Literaten die Intellektuellenrolle aufgrund A) ihrer maximalen Freiheit von den einengenden Anforderungen fachlicher Spezialisierung, B) ihrer Freiheit (im Rahmen ihres Status' als Literaten), ausführliche und kompromißlose Urteile über Werte abzugeben und C) ihrer maximalen Freiheit von institutionellen Zwängen. A. Spezialisierung. Intellektuelle sind, wie ich sagte, Kommentatoren der zeitgenössischen Kultur und zeitgenössischer Erfahrungen; sie sind Kritiker des zeitgenössischen Lebens, liberal oder konservativ, radikal oder reaktionär. Die Reichweite ihrer Kompetenz ist nicht definiert; sie schließt nicht weniger als das gesamte kulturelle Leben eines Volkes ein. Wenn sie Akademiker sind, sind sie vielleicht Spezialisten in verschiedenen Fächern; aber ihre berufliche Spezialisierung beeinträchtigt im allgemeinen ihre Intellektuellenfunktion nicht. In den Geisteswissenschaften und besonders in der Literatur besteht die Spezialisierung gewöhnlich in der fundierten Kenntnis einer bestimmten historischen Periode und der für die Disziplin wichtigen Figuren, die mit der jeweiligen Periode in Verbindung gebracht werden: Dr. Johnson und die englische Literatur des achtzehnten Jahrhunderts; die Bedeutung von Gide in der französischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts; Fürst Metternich und die europäische Geschichte nach 1815; Kant, Hegel und der deutsche Idealismus 1750 — 1820. Fachkenntnisse wie diese sprechen nicht gegen die Übernahme der Intellektuellenrolle, weil die Traditionen der Geisteswissenschaften auf die Erfassung kultureller Ganzheiten angelegt sind; sie befördern die Kommentierung und Interpretation der gesellschaftlichen, kulturellen, intellektuellen und geistigen „Hintergründe" des Gegenstandsbereichs, für den man Experte ist. Die Geisteswissenschaften — und speziell die Literatur — bieten Intellektuellen einen professionellen Status, der wenig, wenn überhaupt, die Erfüllung ihrer Aufgabe als Intellektuelle behindert. [...] B. Werte. Bei der Kommentierung der zeitgenössischen Kultur und der Interpretation zeitgenössischer Erfahrungen gibt es für Intellektuelle kein

Die Versuchung der Prophetie. Β. Μ. Berger

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ernsthaft sanktioniertes Gebot, unparteiisch oder objektiv zu sein. Anders als der Soziologe, der unter der Maßgabe strikter Trennung zwischen Tatsachen und Werten arbeitet, wird vom Intellektuellen erwartet, zu urteilen und zu bewerten, zu loben und zu tadeln, Anhänger für seinen Standpunkt zu gewinnen und seine Position gegen seine intellektuellen Gegner zu verteidigen. Im Rahmen der freien Diskussion unter Intellektuellen nimmt die Ausübung dieser Funktion die Form der Polemik an; in einem akademischen Rahmen entwickelt sie sich zu dem Phänomen der Denkschulen. Die Sache ist die, daß, während in der Soziologie die Existenz von Denkschulen für alle ein Problem ist (insofern es eine dauernde Erinnerung daran ist, daß nicht genug gewußt wird — in der Wissenschaft werden Meinungen nur toleriert, wo Tatsachen nicht zu haben sind), die Existenz von Schulen in den Geisteswissenschaften als normal und richtig akzeptiert ist, weil die Geisteswissenschaften Bewertungen, die Entwicklung eines Standpunktes und die Heterogenität von Interpretationen aktiv fördern. C. Freiheit von institutionellen Zwängen. Literaten waren eher als Mitglieder anderer intellektueller Berufe in der Lage, den Tendenzen zur Bürokratisierung des intellektuellen Lebens zu widerstehen. Das lag an der Größe des Marktes für Belletristik in den Vereinigten Staaten und an den Möglichkeiten, kritische und interpretierende Artikel an die gewöhnlichen und die anspruchsvolleren Zeitschriften zu verkaufen, die wiederholten Erklärungen des Gegenteils zum Trotz in diesem Lande weiterhin blühen. Daß freie Autoren in der Lage sind, ihren Unterhalt unabhängig vom Gehalt einer Universität oder einer anderen großen Organisation zu sichern, vergrößert ihre Freiheit, Kritiker des zeitgenössischen Lebens zu sein. Solche Möglichkeiten gibt es für den Soziologen in der Regel nicht. Hinzu kommt, daß größere soziologische Forschung zunehmend „Team"-Forschung ist, während literarische und geisteswissenschaftliche Forschung an den Universitäten immer noch im weitesten Umfang eine Sache des einzelnen Gelehrten ist. Offensichtlich begrenzt die kollektive Verantwortung für eine Arbeit die Kommentare und Interpretationen ihrer Autoren; der einzelne Geisteswissenschaftler, der gewöhnlich nur sich selbst verantwortlich ist, ist frei von den Zwängen, die durch die Bedingungen kollektiver Forschung gesetzt werden. Das Ziel dieser Diskussion über die Intellektuellen war es, die Tatsache hervorzuheben, daß, obwohl die Soziologie für sich in Anspruch nimmt, in Fragen von Gesellschaft und Kultur sachverständig zu sein, ihre Verpflichtung auf die Traditionen der Wissenschaften (enge Spezialisierung, Objektivität und Forschung im Team) dagegen spricht, daß Soziologen die Rolle von Intellektuellen übernehmen. [...] Wenn der Soziologe sich als Sachverständiger in den Angelegenheiten seiner Zeitgenossen ausgibt, wird er so verstanden, als ob er in Wirklichkeit sagte, daß er über die Angelegenheiten seiner Zeitgenossen mehr weiß als der Intellektuelle; und als diese Botschaft bei der Gemeinschaft der Intellektuellen angekommen war, war die Folge vorherseh-

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1. Der Bruch

bar. Die Existenz dieser Botschaft wird zu einer weiteren Tatsache der Gegenwartserfahrung, der die Intellektuellen ihre kritischen Fähigkeiten widmen können — und mit beträchtlicher Schärfe, weil sie die Grundlage ihres Rechtes auf die Position, die sie als Intellektuelle halten, bedroht. Selbst Intellektuelle mit Sympathie für die Ziele der Soziologie unterschätzen oft gründlich die Konsequenzen, die deren Verpflichtung auf Wissenschaftlichkeit hat. Das typische Anliegen dieser Leute zeigt die Ermahnung, „sich mit den großen Problemen zu beschäftigen". Wiewohl aus diesem Rat ohne Zweifel die gute Absicht spricht, unterschätzt er typischerweise den Grad, bis zu welchem die Gebräuche in der Wissenschaft und die Verantwortlichkeit von Stiftungen und Universitätsinstitutionen den Typ von Arbeit, welche die Soziologen betreiben, bestimmen können. Ich meine damit ganz einfach, daß sich der Soziologe der Gemeinschaft der Sozialwissenschaftler gegenüber für den wissenschaftlichen Wert seiner Arbeit zu verantworten hat, und daß Forschungsinstitute an Universitäten gegenüber Vorwürfen, sie würden „umstrittene" oder „tendenziöse" Forschung finanzieren (was um so eher möglich ist, wenn man sich mit den „großen Problemen" beschäftigt), sensibel sind. Und wenn die „großen Probleme" aufgenommen werden, zum Beispiel in Büchern wie „The American Soldier" und „The Authoritarian Personality" oder in anderen Arbeiten wie etwa „The Lonely Crowd", 1 „White Collar" 2 und „The Power Elite", 3 dann folgen Kontroversen und Polemik. Denn die Mahnung des sympathisierenden Intellektuellen an den Soziologen, sich mit den „großen Problemen" zu beschäftigen, besagt letztlich, „sei kein Wissenschaftler, sei ein Humanist, sei ein Intellektueller". Diese Botschaft wird noch verstärkt durch die respektvolle (wenn nicht sogar hunderprozentig positive) Aufnahme, die die Intellektuellen den Arbeiten von Riesman und Mills bereiteten (die mit dem Aufputz der Wissenschaft noch am wenigsten belastet sind) und ihrer völligen Ablehnung von Werken wie „The American Soldier", das geradezu strotzt von Wissenschaftlichkeit. Fls gibt eine weitere Quelle für die Feindseligkeit der Intellektuellen gegenüber der Soziologie, die ich gerne untersuchen möchte, eine Quelle, die schon von Max Weber in seinem Vortrag „Wissenschaft als B e r u f angesprochen wurde. Denn wenn es wahr ist, daß Intellektualisierung und Rationalisierung, auf die sich Wissenschaft verpflichtet und einen Teil deren sie bildet, bedeutet, „daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen; daß man vielmehr alle Dinge — im Prinzip — durch Berechnen beherrschen könne", 4 dann ist es nicht nur wahr, wie

1 2 3 4

Dt.: D. Riesman, Die einsame Masse. Dt.: C. Wright Mills, Die amerikanische Elite, Hamburg: 1962. Dt.: C. Wright Mills, Menschen im Büro, Köln: 1955. M. Weber, „Wissenschaft als B e r u f , in: ders.: Gesammelte Aufsätze Tübingen: Mohr (Siebeck), 6. Aufl. 1985, S. 594.

^ur

Wissenschaftslehre,

Theorie und theoretische Tradition. G. Bachelard

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Weber sagt, daß „die Welt entzaubert" ist, sondern es ist auch wahr, daß der Sozialwissenschaftler begriffen wird als Herausforderer jener Tradition des Humanismus und der Kunst, die auf der Ansicht beruht, daß die Welt verzaubert ist, und daß der Mensch das Geheimnis der Geheimnisse ist. [...] Intellektuelle dieser Tradition scheinen zu glauben, daß die Erfüllung der Ziele der Sozialwissenschaft notwendig bedeutet, daß die schöpferischen Kräfte des Menschen „wegerklärt" werden, daß seine Freiheit negiert wird, seine „Natürlichkeit" mechanisiert und seine „Wunderbarkeit" zur Formel gemacht wird; daß jenes Cummings'sche „sich grenzenlos einzigartig Fühl e n ' 0 als ein sehr begrenztes und bestimmbares „gesellschaftliches Produkt" entlarvt werden wird, von dem jegliches Geheimnis und jede Transzendenz erfaßt werden kann, wenn nicht im Kern, dann doch im Rahmen irgendeiner soziologischen Theorie. Es ist daher kein Wunder, daß eine Angstvision wie diese zu der Überzeugung führen kann, eine Wissenschaft von der Gesellschaft sei zugleich unmöglich und von Übel.

Bennett M. Berger „Sociology and the Intellectuals: an Analysis of a Stereotype"

1.6 Theorie und theoretische Tradition Architektonische und polemische Vernunft Wissenschaftliche Theoriebildung schreitet über Berichtigungen fort, das heißt über die Integration von Kritiken, die auf die Zerstörung der Bilderwelt der ersten Anfänge abfielen. Zu sagen, kohärentes Wissen sei ein hrgebnis der polemischen und nicht der architektonischen Vernunft, heißt daran erinnern, daß man an der Arbeit von Kritik und dialektischer Synthese keine Abstriche machen kann, ohne den falschen Vermittlungen der traditionellen Synthesen anheim^ufallen.

18. G. Bachelard Versuchen wir indessen zusammenhängende Prinzipien im Tätigsein der Philosophie des Nein zu erfassen. [...] Niemand hat besser als Eddington die Bedeutung der fortwährenden Berichtigungen der verschiedenen Atommodelle erfaßt. Nachdem er an das Bohrsche Atommodell erinnert hat, welches den Aufbau des Atoms mit einem planetarischen System in Miniatur vergleicht, warnt Eddington davor, dieses 1

Ε. E. Cummings, six nonlectures, S. tlOf.

Cambridge (Mass.): Harvard University Press, 1955,

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t. Der Bruch

Bild zu wörtlich zu nehmen: 1 „Die Umlaufbahnen können nur schwer mit einer tatsächlichen Bewegung im Raum in Verbindung gebracht werden, denn es gilt gemeinhin die Annahme, daß der gewöhnliche Raumbegriff im Innern eines Atoms nicht mehr anwendbar ist; auch besteht heutzutage nicht mehr das geringste Verlangen, auf dem Charakter der Plötzlichkeit und der Diskontinuität, den der Begriff des Sprungs impliziert, zu beharren. Gleicherweise stellt man fest, daß das Elektron nicht in jener Weise lokalisiert werden kann, wie es jenem Bild entspräche. Zusammenfassend gilt, daß der Physiker zunächst einen sorgfaltigen Plan des Atoms entwirft und daß anschließend das Spiel seines kritischen Geistes ihn dazu führt, nacheinander jedes Detail aufzugeben. Was übrigbleibt, ist das Atom der modernen Physik!" Wir würden die gleichen Gedanken anders ausdrücken, denn es scheint uns nicht möglich zu sein, das Atom der modernen Physik zu verstehen, ohne Bezug zu nehmen auf die Geschichte seines Bildes, ohne zurückzugreifen auf die realistischen und rationalen Vorstellungsweisen und ohne deren epistemologisches Profil zu erläutern. Die Geschichte der verschiedenen Schemata ist in diesem Zusammenhang ein unumgänglicher pädagogischer Aufriß. Was auch immer man aus dem Bild entfernt, muß sich im berichtigten Begriff wiederfinden. Folglich würden wir gern festhalten, daß das Atom genau die Summe der an seinem ersten Bild geübten Kritik ist. Die kohärente Erkenntnis ist ein Produkt nicht der architektonischen, sondern der polemischen Vernunft. Der Surrationalismus konstituiert in gewisser Weise durch seine Dialektik und durch seine Kritik ein Surobjekt. Das Surobjekt ist das Ergebnis einer kritischen Objektivation, einer Objektivität, die vom Objekt nur das beibehält, was sie zuvor der Kritik unterworfen hat. Das Atom ist, so wie es in der zeitgenössischen Physik in Erscheinung tritt, die Verkörperung des Surobjektes. In seiner Beziehung zu den Bildern entspricht das Surobjekt haargenau dem Nichtbild. Anschauungsbilder sind sehr wertvoll: sie dienen dazu, beseitigt zu werden. In der Auflösung dieser Erstbilder stößt das wissenschaftliche Denken auf seine organischen Gesetze. Das Noumenon tritt in Erscheinung, indem nacheinander die Prinzipien des Phänomens dialektisiert werden. Das vor einem Vierteljahrhundert von Bohr entwickelte Atommodell hat in diesem Sinne als gutes Bild gewirkt: es ist nämlich nichts mehr von ihm übriggeblieben. Es hat aber so zahlreiche Nein hervorgerufen, daß es in jeder Hinführung eine unerläßliche pädagogische Rolle innebehält. Jene Nein haben sich so vortrefflich koordiniert, daß sie in der Tat die zeitgenössische Mikrophysik ausmachen.

Gaston Bachelard Die Philosophie des Nein 1

T. Eddington, New Pathways p. 259.

in Science, Cambridge: Cambridge University Press, 1935,

2. Die Konstruktion des Objekts Die Methode der politischen Ökonomie In der Darstellung der Prinzipien seiner Methode in den Grundrissen von 1857 wendet sich Marx zugleich gegen die „Illusion" Hegels, der „das Reale als Resultat des sich in sich %usammenfa·wenden I... / Denkens" a u f f a ß t , und gegen die Naivität der Empiristen, die meinen, das „reale" Objekt in seiner konkreten Totalität, %um Beispiel die Bevölkerung einer realen Gesellschaft, %um Objekt ihrer Wissenschaft machen %u können, und nicht sehen, daß sie die Abstraktionen des common sense übernehmen müssen, wenn sie sich weigern, sich der Arbeit der wissenschaftlichen Abstraktion unterziehen, bei der es immer um eine historisch und gesellschaftlich begründete Problematik geht. Das „Gedankenkonkretum", das die Forschung am Ende ihres Weges rekonstruiert, bleibt verschieden von dem „reale[nj Subjekt /... / [ , dasJ nach wie vor außerhalb des Kopfes in seiner realen Selbständigkeit bestehn" bleibt.

19. K. Marx Wenn wir ein gegebnes Land politisch-ökonomisch betrachten, so beginnen wir mit seiner Bevölkerung, ihrer Verteilung in Klassen, Stadt, Land, See, den verschiednen Produktionszweigen, Aus- und Einfuhr, jährlicher Produktion und Konsumtion, Warenpreisen etc. Es scheint das Richtige zu sein mit dem Realen und Konkreten, der wirklichen Voraussetzung zu beginnen, also ζ. B. in der Ökonomie mit der Bevölkerung, die die Grundlage und das Subjekt des ganzen gesellschaftlichen Produktionsakts ist. Indes zeigt sich dies bei näherer Betrachtung [als] falsch. Die Bevölkerung ist eine Abstraktion, wenn ich ζ. B. die Klassen, aus denen sie besteht, weglasse. Diese Klassen sind wieder ein leeres Wort, wenn ich die Elemente nicht kenne, auf denen sie beruhn. Ζ. B. Lohnarbeit, Kapital etc. Diese unterstellen Austausch, Teilung der Arbeit, Preise etc. Kapital ζ. B. ohne Lohnarbeit ist nichts, ohne Wert, Geld, Preis etc. Finge ich also mit der Bevölkerung an, so wäre das eine chaotische Vorstellung des Ganzen und durch nähere Bestimmung würde ich analytisch immer mehr auf einfachere Begriffe kommen; von dem vorgestellten Konkreten auf immer dünnere Abstrakta, bis ich bei den einfachsten Bestimmungen angelangt wäre. Von da wäre nun die Reise wieder rückwärts anzutreten, bis ich endlich wieder bei der Bevölkerung anlangte, diesmal aber nicht als bei einer chaotischen Vorstellung eines Ganzen, sondern als einer reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen. Der erste Weg ist der, den die Ökonomie in ihrer Entstehung geschichtlich genommen hat. Die Ökonomen des 17. Jahrhunderts ζ. B. fangen immer mit dem lebendigen Ganzen, der Bevölkerung, der Nation, Staat, mehren Staaten etc. an; sie enden aber immer damit, daß sie durch Analyse einige bestimmende abstrakte, allgemeine Beziehungen, wie Teilung der Arbeit, Geld, Wert etc. herausfinden. Sobald diese einzelnen

162

Die Konstruktion des Objekts

Momente mehr oder weniger fixiert und abstrahiert waren, begannen die ökonomischen Systeme, die von dem Einfachen, wie Arbeit, Teilung der Arbeit, Bedürfnis, Tauschwert aufstiegen bis zum Staat, Austausch der Nationen, und Weltmarkt. Das letztre ist offenbar die wissenschaftlich richtige Methode. Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen. Im Denken erscheint es daher als Prozeß der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und Vorstellung ist. Im ersten Weg wurde die volle Vorstellung zu abstrakter Bestimmung verflüchtigt; im zweiten führen die abstrakten Bestimmungen zur Reproduktion des Konkreten im Weg des Denkens. Hegel geriet daher auf die Illusion das Reale als Resultat des sich in sich zusammenfassenden, in sich vertiefenden, und aus sich selbst sich bewegenden Denkens zu fassen, während die Methode vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren. Keineswegs aber der Entstehungsprozeß des Konkreten selbst. Zum Beispiel die einfachste ökonomische Kategorie, sage ζ. B. Tauschwert, unterstellt Bevölkerung, Bevölkerung produzierend in bestimmten Verhältnissen; auch gewisse Sorte von Familien- oder Gemeinde- oder Staatswesen etc. Er kann nie existieren außer als abstrakte, einseitige Beziehung eines schon gegebnen konkreten, lebendigen Ganzen. Als Kategorie führt dagegen der Tauschwert ein antediluvianisches Dasein. Für das Bewußtsein daher — und das philosophische Bewußtsein ist so bestimmt —, dem das begreifende Denken der wirkliche Mensch und daher die begriffne Welt als solche erst das Wirkliche ist, — erscheint daher die Bewegung der Kategorien als der wirkliche Produktionsakt — der leider nur einen Anstoß von außen erhält —, dessen Resultat die Welt ist; und dies ist — dies ist aber wieder eine Tautologie — soweit richtig, als die konkrete Totalität als Gedankentotalität, als ein Gedankenkonkretum, in fact ein Produkt des Denkens, des Begreifens ist; keineswegs aber des außer oder über der Anschauung und Vorstellung denkenden und sich selbst gebärenden Begriffs, sondern der Verarbeitung von Anschauung und Vorstellung in Begriffe. Das Ganze, wie es im Kopfe als Gedankenganzes erscheint, ist ein Produkt des denkenden Kopfes, der sich die Welt in der ihm einzig möglichen Weise aneignet, einer Weise, die verschieden ist von der künstlerischen, religiösen, praktisch-geistigen Aneignung dieser Welt. Das reale Subjekt bleibt nach wie vor außerhalb des Kopfes in seiner Selbständigkeit bestehn; solange sich der Kopf nämlich nur spekulativ verhält, nur theoretisch. Auch bei der theoretischen Methode daher muß das Subjekt, die Gesellschaft, als Voraussetzung stets der Vorstellung vorschweben.

Karl Marx Grundrisse

Konkretes Objekt und wissenschaftliches Objekt. M. Weber

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Die positivistische Illusion einer voraussetzungsfreien Wissenschaft Max Webers charakteristische Auffassung von der Konstruktion des l'orschungsobjekts verweist auf eine Vorstellung von der erkenntnislogischen Rolle der Werte, die seiner Theorie vom Wissen des Socialen ein spezifisches Gepräge und spezifische Bntscheidungsgründe gibt. Doch macht die Kritik der Illusion, der Wissenschaftler könne unabhängig von allen theoretischen Voraussetzungen bestimmen, was bei einer 1int Scheidung „wesentlich" sei und was „zufällig', die methodologischen Widersprüche des positivistischen Bildes vom wissenschaftlichen Objekt in aller Schärfe deutlich: Abgesehen davon, daß die Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten, als Mittel unersetzlich, nicht an sich schon die Erklärung für die in ihrer Besonderheit betrachteten historischen Konstellationen liefert, werden auch Gesetzmäßigkeiten nur in Abhängigkeit von einer Problemstellung erfaßt und „Zufälliges" und Wesentliches" in Relation Zu den gestellten Problemen bestimmt, ohne daß je eine realistische Definition dieser beiden B e g r i f f e möglich wäre.

20. M. Weber Das Recht der einseitigen Analyse der Kulturwirklichkeit unter spezifischen „Gesichtspunkten" aber — in unserem Falle dem ihrer ökonomischen Bedingtheit — ergibt sich zunächst rein methodisch aus dem Umstände, daß die Einschulung des Auges auf die Beobachtung der Wirkung qualitativ gleichartiger Ursachenkategorien und die stete Verwendung des gleichen begrifflich-methodischen Apparates alle Vorteile der Arbeitsteilung bietet. Sie ist so lange nicht „willkürlich", als der Erfolg für sie spricht, d. h. als sie Erkenntnis von Zusammenhängen liefert, welche für die kausale Zurechnung konkreter historischer Vorgänge sich als wertvoll erweisen. Aber: die „Einseitigkeit" und Unwirklichkeit der rein ökonomischen Interpretation des Geschichtlichen ist überhaupt nur ein Spezialfall eines ganz allgemein für die wissenschaftliche Erkenntnis der Kulturwirklichkeit geltenden Prinzips. [...] Es gibt keine schlechthin „objektive" wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder — was vielleicht etwas Engeres, für unsern Zweck aber sicher nichts wesentlich anderes bedeutet — der „sozialen Erscheinungen" unabhängig von speziellen und „einseitigen" Gesichtspunkten, nach denen sie — ausdrücklich oder stillschweigend, bewußt oder unbewußt — als Forschungsobjekt ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden. Der Grund liegt in der Eigenart des Erkenntnisziels einer jeden sozialwissenschaftlichen Arbeit, die über eine rein formale Betrachtung der Normen — rechtlichen oder konventionellen — des sozialen Beieinanderseins hinausgehen will. Die Sozialwissenschaft, die wir treiben wollen, ist eine Wirklichkeitswissenschaft. Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen — den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung einerseits, die Gründe ihres geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordenseins andererseits. Nun bietet uns das Leben, sobald wir uns auf die Art, in der es uns unmittelbar entgegentritt, zu besinnen suchen, eine schlecht-

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Die Konstruktion des Objekts

hin unendliche Mannigfaltigkeit von nach- und nebeneinander auftauchenden und vergehenden Vorgängen, „in" uns und „außer" uns. Und die absolute Unendlichkeit dieser Mannigfaltigkeit bleibt intensiv durchaus ungemindert auch dann bestehen, wenn wir ein einzelnes „Objekt" — etwa einen konkreten Tauschakt — isoliert ins Auge fassen, — sobald wir nämlich ernstlich versuchen wollen, dies „Einzelne" erschöpfend in allen seinen individuellen Bestandteilen auch nur zu beschreiben, geschweige denn es in seiner kausalen Bedingtheit zu erfassen. Alle denkende Erkenntnis der unendlichen Wirklichkeit durch den endlichen Menschengeist beruht daher auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß jeweils nur ein endlicher Teil derselben den Gegenstand wissenschaftlicher Erfassung bilden, daß nur er „wesentlich" im Sinne von „wissenswert" sein solle. Nach welchen Prinzipien aber wird dieser Teil ausgesondert? Immer wieder hat man geglaubt, das entscheidende Merkmal auch in den Kulturwissenschaften in letzter Linie in der „gesetzmäßigen" Wiederkehr bestimmter ursächlicher Verknüpfungen finden zu können. Das, was die „Gesetze", die wir in dem unübersehbar mannigfaltigen Ablauf der Erscheinungen zu erkennen vermögen, in sich enthalten, muß — nach dieser Auffassung — das allein wissenschaftlich „Wesentliche" an ihnen sein: sobald wir die „Gesetzlichkeit" einer ursächlichen Verknüpfung, sei es mit den Mitteln umfassender historischer Induktion als ausnahmslos geltend nachgewiesen, sei es für die innere Erfahrung zur unmittelbar anschaulichen Evidenz gebracht haben, ordnet sich ja jeder so gefundenen Formel jede noch so groß gedachte Zahl gleichartiger Fälle unter. Was nach dieser Heraushebung des „Gesetzmäßigen" jeweils von der individuellen Wirklichkeit unbegriffen verbleibt, gilt entweder als wissenschaftlich noch unverarbeiteter Rückstand, der durch immer weitere Vervollkommnung des „Gesetzes"-Systems in dies hineinzuarbeiten sei, oder aber es bleibt als „zufallig" und eben deshalb wissenschaftlich unwesentlich überhaupt beiseite, eben weil es nicht „gesetzlich begreifbar" ist, also nicht zum „Typus" des Vorgangs gehört und daher nur Gegenstand „müßiger Neugier" sein kann. Immer wieder taucht demgemäß — selbst bei Vertretern der historischen Schule — die Vorstellung auf, das Ideal, dem alle, also auch die Kulturerkenntnis zustrebe und, wenn auch für eine ferne Zukunft, zustreben könne, sei ein System von Lehrsätzen, aus dem die Wirklichkeit „deduziert" werden könnte. Ein Führer der Naturwissenschaft hat bekanntlich geglaubt, als das (faktisch unerreichbare) ideale Ziel einer solchen Verarbeitung der Kulturwirklichkeit eine „astronomische" Erkenntnis der Lebensvorgänge bezeichnen zu können. Lassen wir uns, so oft diese Dinge nun auch schon erörtert sind, die Mühe nicht verdrießen, auch unsererseits hier etwas näher zuzusehen. Zunächst fällt in die Augen, daß diejenige „astronomische" Erkenntnis, an welche dabei gedacht wird, keine Erkenntnis von Gesetzen ist, sondern vielmehr die „Gesetze", mit denen sie arbeitet, als Voraussetzungen ihrer Arbeit anderen Disziplinen, wie der Mechanik, entnimmt. Sie selbst aber interessiert sich für die Frage: welches individuelle

Konkretes Objekt und wissenschaftliches Objekt. M. Weber

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Ergebnis die Wirkung jener Gesetze auf eine individuell gestaltete Konstellation erzeugt, da diese individuellen Konstellationen für uns Bedeutung haben. Jede individuelle Konstellation, die sie uns „erklärt" oder voraussagt, ist natürlich kausal nur erklärbar als Folge einer anderen gleich individuellen ihr vorhergehenden, und soweit wir zurückgreifen in den grauen Nebel der fernsten Vergangenheit, — stets bleibt die Wirklichkeit, für welche die Gesetze gelten, gleich individuell, gleich wenig aus den Gesetzen dedut(ierbar. Ein kosmischer „Urzustand", der einen nicht oder weniger individuellen Charakter an sich trüge, als [es] die kosmische Wirklichkeit der Gegenwart ist, wäre natürlich ein sinnloser Gedanke: — aber spukt nicht ein Rest ähnlicher Vorstellungen auf unserm Gebiet in jenen bald naturrechtlich erschlossenen, bald durch Beobachtung an „Naturvölkern" verifizierten Annahmen ökonomisch-sozialer „Urzustände" ohne historische „Zufälligkeiten", — so des „primitiven Agrarkommunismus", der sexuellen „Promiskuität" usw., — aus denen heraus alsdann durch eine Art von Sündenfall ins Konkrete die individuelle historische Entwicklung entsteht? [...] Gesetzt den Fall, es gelänge einmal, sei es mittels der Psychologie, sei es auf anderem Wege, alle jemals beobachteten und weiterhin auch alle in irgend einer Zukunft denkbaren ursächlichen Verknüpfungen von Vorgängen des menschlichen Zusammenlebens auf irgend welche einfache letzte „Faktoren" hin zu analysieren, und dann in einer ungeheuren Kasuistik von Begriffen und streng gesetzlich geregelten Regeln erschöpfend zu erfassen, — was würde das Resultat für die Erkenntnis der geschichtlich gegebenen Kulturwelt, oder auch nur irgend einer Einzelerscheinung daraus — etwa des Kapitalismus in seinem Gewordensein und seiner Kulturbedeutung —, besagen? Als Erkenntnismittel ebensoviel und ebensowenig wie etwa ein Lexikon der organischen chemischen Verbindungen für die biogenetische Erkenntnis der Tierund Pflanzenwelt. Im einen Falle wie im andern würde eine sicherlich wichtige und nützliche Vorarbeit geleistet sein. Im einen Fall so wenig wie im andern ließe sich aber aus jenen „Gesetzen" und „Faktoren" die Wirklichkeit des Lebens jemals deduzieren, — nicht etwa deshalb nicht, weil noch irgend welche höhere und geheimnisvolle „Kräfte" („Dominanten", „Entelechien" oder wie man sie sonst genannt hat) in den Lebenserscheinungen stecken müßten — das ist eine Frage ganz für sich —, sondern schon einfach deswegen, weil es uns für die Erkenntnis der Wirklichkeit auf die Konstellation ankommt, in der sich jene (hypothetischen!) „Faktoren", zu einer geschichtlich für uns bedeutsamen Kulturerscheinung gruppiert, vorfinden, und weil, wenn wir nun diese individuelle Gruppierung „kausal erklären" wollen, wir immer auf andere, ganz ebenso individuelle Gruppierungen zurückgreifen müßten, aus denen wir sie, natürlich unter Benutzung jener (hypothetischen) „Gesetzes"-Begriffe „erklären" würden. Jene (hypothetischen) „Gesetze" und „Faktoren" festzustellen, wäre für uns also jedenfalls nur die erste der mehreren Arbeiten, die zu der von uns erstrebten Erkenntnis führen würden. Die Analyse und

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Die Konstruktion des Objekts

ordnende Darstellung der jeweils historisch gegebenen, individuellen Gruppierung jener „Faktoren" und ihres dadurch bedingten konkreten, in seiner Art bedeutsamen Zusammenwirkens und vor allem die Verständlichmachung des Grundes und der Art dieser Bedeutsamkeit wäre die nächste, zwar unter Verwendung jener Vorarbeit zu lösende, aber ihr gegenüber völlig neue und selbständige Aufgabe. Die Zurückverfolgung der einzelnen, für die Gegenwart bedeutsamen, individuellen Eigentümlichkeiten dieser Gruppierungen in ihrem Gewordensein, so weit in die Vergangenheit als möglich, und ihre historische Erklärung aus früheren, wiederum individuellen Konstellationen wäre die dritte, — die Abschätzung möglicher Zukunftskonstellationen endlich eine denkbare vierte Aufgabe. Für alle diese Zwecke wäre das Vorhandensein klarer Begriffe und die Kenntnis jener (hypothetischen) „Gesetze" offenbar als ErkenntniswzY/e/ — aber auch nur als solches — von großem Werte, ja sie wäre zu diesem Zwecke schlechthin unentbehrlich. Aber selbst in dieser Funktion zeigt sich an einem entscheidenden Punkte sofort die Grenze ihrer Tragweite, und mit deren Feststellung gelangen wir zu der entscheidenden Eigenart kulturwissenschaftlicher Betrachtungsweise. Wir haben als „Kulturwissenschaften" solche Disziplinen bezeichnet, welche die Lebenserscheinungen in ihrer Kulturbedeutung zu erkennen streben. Die Bedeutung der Gestaltung einer Kulturerscheinung und der Grund dieser Bedeutung kann aber aus keinem noch so vollkommenen System von Gesetzesbegriffen entnommen, begründet und verständlich gemacht werden, denn sie setzt die Beziehung der Kulturerscheinungen auf Wertideen voraus. Der Begriff der Kultur ist ein Wertbegriff. Die empirische Wirklichkeit ist für uns „Kultur", weil und sofern wir sie mit Wertideen in Beziehung setzen, sie umfaßt diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, welche durch jene Beziehung für uns bedeutsam werden, und nur diese. Ein winziger Teil der jeweils betrachteten individuellen Wirklichkeit wird von unserm durch jene Wertideen bedingten Interesse gefärbt, er allein hat Bedeutung für uns; er hat sie, weil er Beziehungen aufweist, die für uns infolge ihrer Verknüpfung mit Wertideen wichtig sind. Nur weil und soweit dies der Fall [ist], ist er in seiner individuellen Eigenart für uns wissenswert. Was aber für uns Bedeutung hat, das ist natürlich durch keine „voraussetzungslose" Untersuchung des empirisch Gegebenen zu erschließen, sondern seine Feststellung ist Voraussetzung dafür, daß etwas Gegenstand der Untersuchung wird. Das Bedeutsame koinzidiert natürlich auch als solches mit keinem Gesetze als solchem, und zwar um so weniger, je allgemeingültiger jenes Gesetz ist. Denn die spezifische Bedeutung, die ein Bestandteil der Wirklichkeit für uns hat, findet sich natürlich gerade nicht in denjenigen seiner Beziehungen, die er mit möglichst vielen anderen teilt. Die Beziehung der Wirklichkeit auf Wertideen, die ihr Bedeutung verleihen, und die Heraushebung und Ordnung der dadurch gefärbten Bestandteile des Wirklichen unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung ist ein gänzlich heterogener und disparater Gesichts-

K o n k r e t e s O b j e k t und wissenschaftliches Objekt. M. W e b e r

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punkt gegenüber der Analyse der Wirklichkeit auf Gesetze und ihrer Ordnung in generellen Begriffen. Beide Arten der denkenden Ordnung des Wirklichen haben keinerlei notwendige logische Beziehungen zueinander. Sie können in einem Einzelfall einmal koinzidieren, aber es ist von den verhängnisvollsten Folgen, wenn dies zufallige Zusammentreffen über ihr prinzipielles Auseinanderfallen täuscht. Es kann die KxAturbedeutung einer Erscheinung, ζ. B. des geldwirtschaftlichen Tausches, darin bestehen, daß er als Massenerscheinung auftritt, wie dies eine fundamentale Komponente des heutigen Kulturlebens ist. Alsdann ist aber eben die historische Tatsache, daß er diese Rolle spielt, das, was in seiner Y^Aturbedeutung verständlich zu machen, in seiner historischen Entstehung kausal zu erklären ist. Die Untersuchung des generellen Wesens des Tausches und der Technik, des Marktverkehrs ist eine — höchst wichtige und unentbehrliche! — Korarbeit. Aber nicht nur ist damit die Frage nicht beantwortet, wie denn historisch der Tausch zu seiner heutigen fundamentalen Bedeutung gekommen ist, sondern vor allen Dingen: das, worauf es uns in letzter Linie doch ankommt: die Kulturbedeutung der Geldwirtschaft, um derentwillen wir uns für jene Schilderung der Verkehrstechnik ja allein interessieren, um derentwillen allein es heute eine Wissenschaft gibt, welche sich mit jener Technik befaßt, — sie folgt aus keinem jener „Gesetze". Die gattungsmäßigen Merkmale des Tausches, Kaufs usw. interessieren den Juristen, — was uns angeht, ist die Aufgabe, eben jene Kulturbedeutung der historischen Tatsache, daß der Tausch heute Massenerscheinung ist, zu analysieren. Wo sie erklärt werden soll, wo wir verstehen wollen, was unsere sozialökonomische Kultur etwa von der des Altertums, in welcher der Tausch ja genau die gleichen gattungsmäßigen Qualitäten aufwies wie heute, unterscheidet, worin also die Bedeutung der „Geldwirtschaft" liegt, da ragen logische Prinzipien durchaus heterogener Herkunft in die Untersuchung hinein: wir werden jene Begriffe, welche die Untersuchung der gattungsmäßigen Elemente der ökonomischen Massenerscheinungen uns liefert, zwar, soweit in ihnen bedeutungsvolle Bestandteile unserer Kultur enthalten sind, als Darstellungsmittel verwenden: — nicht nur aber ist das Ziel unserer Arbeit durch die noch so genaue Darstellung jener Begriffe und Gesetze nicht erreicht, sondern die Frage, was zum Gegenstand der gattungsmäßigen Begriffsbildung gemacht werden soll, ist gar nicht „voraussetzungslos", sondern eben im Hinblick auf die Bedeutung entschieden worden, welche bestimmte Bestandteile jener unendlichen Mannigfaltigkeit, die wir „Verkehr" nennen, für die Kultur besitzen. Wir erstreben eben die Erkenntnis einer historischen, d. h. einer in ihrer Eigenart bedeutungsvollen, Erscheinung. Und das entscheidende dabei ist: nur durch die Voraussetzung, daß ein endlicher Teil der unendlichen Fülle der Erscheinungen allein bedeutungsvoll sei, wird der Gedanke einer Erkenntnis individueller Erscheinungen überhaupt logisch sinnvoll. Wir ständen, selbst mit der denkbar umfassendsten Kenntnis aller „Gesetze" des Geschehens, ratlos vor der Frage: wie ist kausale Erklärung einer individuellen Tatsache

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Die Konstruktion des Objekts

überhaupt möglich}, — da schon eine Beschreibung selbst des kleinsten Ausschnittes der Wirklichkeit ja niemals erschöpfend denkbar ist. Die Zahl und Art der Ursachen, die irgend ein individuelles Ereignis bestimmt haben, ist ja stets unendlich, und es gibt keinerlei in den Dingen selbst liegendes Merkmal, einen Teil von ihnen als allein in Betracht kommend auszusondern. Ein Chaos von „Existenzialurteilen" über unzählige einzelne Wahrnehmungen wäre das einzige, was der Versuch eines ernstlich „voraussetzungslosen" Erkennens der Wirklichkeit erzielen würde. Und selbst dieses Ergebnis wäre nur scheinbar möglich, denn die Wirklichkeit jeder einzelnen Wahrnehmung zeigt bei näherem Zusehen ja stets unendlich viele einzelne Bestandteile, die nie erschöpfend in Wahrnehmungsurteilen ausgesprochen werden können. In dieses Chaos bringt nur der Umstand Ordnung, daß in jedem Fall nur ein Teil der individuellen Wirklichkeit für uns Interesse und Bedeutung hat, weil nur er in Beziehung steht zu den Kulturwertideen, mit welchen wir an die Wirklichkeit herantreten. Nur bestimmte Seiten der stets unendlich mannigfaltigen Einzelerscheinungen: diejenigen, welchen wir eine allgemeine Kulturbedeutung beimessen, sind daher wissenswert, sie allein sind Gegenstand der kausalen Erklärung. Max Weber „Die .Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis"

„Die sozialen Tatbestände müssen wie Dinge behandelt werden" Indem Dürkheim sich gegen die falschen Lesarten dieses Gebots verwahrt, bekundet er, daß er mit ihm nicht den obersten Grundsatz einer Philosophie des Socialen, sondern die methodologische Regel formulieren wollte, die die conditio sine qua non der Konstruktion des soziologischen Objekts ist. Dies nämlich ist der Sinn der Analysen, mit denen er die soziologische Analyse vor den Untersuchungen der Spontansoziologie bewahren versucht, indem er den Wissenschaftler auffordert, sich in erster Linie an morphologische und institutionelle Aspekte zu halten, das heißt an die am stärksten objektivierten Formen des sozialen Lebens. Wenn an diesen Text erinnert werden muß, dann weil er von Anfang an Stoff für Lesarten abgegeben hat, die, obgleich widersprüchlich, alle gleich ungenau waren, und weil er, klassisch geworden, weiterhin Gefahr l ä u f t , gesehen, aber nicht gelesen zu werden.

21. E. Dürkheim Die erste und grundlegendste Regel besteht darin, die soziologischen Tatbestände wie Dinge zu betrachten. [...] Die sozialen Erscheinungen [sind] Dinge und müssen wie Dinge behandelt werden. Um diesen Satz zu beweisen, muß man nicht über ihre Natur philosophieren oder die Analogien besprechen, die sie im Verhältnis zu den Erscheinungen niederer Ordnung aufweisen. Es reicht vollkommen, festzu-

Konkretes Objekt und wissenschaftliches Objekt. E. Dürkheim

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stellen, daß sie die einzige Gegebenheit sind, welche sich der Soziologie bietet. Ein Ding ist ja alles, was gegeben ist, was sich der Beobachtung anbietet oder vielmehr sich ihr aufdrängt. Die Erscheinungen wie Dinge zu behandeln, bedeutet also, sie in ihrer Eigenschaft als data zu behandeln, die den Ausgangspunkt der Wissenschaft darstellen. Die sozialen Phänomene zeigen unstreitig diesen Charakter. Was uns gegeben ist, ist nicht die Idee, die sich die Menschen vom Werte machen, denn sie ist uns nicht zugänglich; es sind die Werte, die wirklich im Verlauf wirtschaftlicher Beziehungen ausgetauscht werden. Es ist nicht diese oder jene Auffassung der Sittenidee; es ist die Gesamtheit der Regeln, die das Handeln tatsächlich bestimmen. Es ist nicht der Begriff des Nutzens oder des Reichtums; es sind alle Einzelheiten der wirtschaftlichen Organisation. Es ist möglich, daß das soziale Leben nur in der Entwicklung gewisser Ideen besteht. Aber vorausgesetzt, daß dem so sei, so sind doch diese Ideen nicht unmittelbar gegeben. Man kann sie also nicht direkt erreichen, sondern nur durch die phänomenale Wirklichkeit, die sie ausdrückt. Wir wissen nicht a priori, welche Ideen am Ursprünge der verschiedenen Strömungen stehen, in die sich das soziale Leben teilt, noch ob es solche gibt. Erst nachdem wir diese Strömungen bis zu ihren Quellen zurückverfolgt haben, werden wir wissen, woher sie stammen. Wir müssen also die sozialen Erscheinungen in sich selbst betrachten, losgelöst von den bewußten Subjekten, die sie sich vorstellen; wir müssen sie von außen, als Dinge der Außenwelt betrachten. Denn in dieser Eigenschaft bieten sie sich uns dar. Wenn dieser Charakter der Exteriorität nur scheinbar ist, so wird die Illusion in dem Maße verschwinden, als die Wissenschaft fortschreitet, und man wird gewahr werden, wie gewissermaßen das Äußere in das Innere eintreten wird. Doch kann das Ergebnis nicht präjudiziert werden, und selbst wenn die sozialen Phänomene nicht sämtliche charakteristischen Eigenschaften des Dinges haben sollten, müßte man sie zunächst so behandeln, als ob sie diese Eigenschaften hätten. Diese Regel ist auf die soziale Wirklichkeit in ihrer ganzen Ausdehnung anzuwenden, ohne daß eine Ausnahme statthaben könnte. Auch die Erscheinungen, die am meisten aus künstlichen Anordnungen zu bestehen scheinen, müssen unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden. Der konventionelle Charakter einer Sitte oder einer Institution darf niemals vorausgesetzt werden. Wenn wir übrigens unsere persönliche Erfahrung anrufen dürfen, so glauben wir versichern zu können, daß man bei dieser Methode häufig die Genugtuung haben wird, daß selbst die scheinbar willkürlichsten Tatsachen bei aufmerksamer Beobachtung die Eigenschaften der Konstanz und der Regelmäßigkeit als Anzeichen ihrer objektiven Beschaffenheit aufweisen. [...] Im Gegensatz [zu den psychischen Erscheinungen] besitzen die sozialen Phänomene viel ungezwungener und unmittelbarer dingliche Eigenschaften. Das Recht existiert in den Gesetzbüchern, die Bewegungen des täglichen Lebens werden in den Ziffern der Statistik und den Denkwürdigkeiten der Geschichte festgehalten, die

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Die Konstruktion des Objekts

Moden in den Kleidern, der Geschmack in den Kunstwerken. Vermöge ihrer Natur selbst streben sie dahin, sich außerhalb des individuellen Bewußtseins zu stellen, da sie es ja beherrschen. Um sie also in ihrer Gestalt als Dinge zu sehen, ist es nicht nötig, sie erst künstlich umzubiegen.

Emile Dürkheim Die Regeln der soziologischen Methode

Der Grundsatz, demzufolge die soziologischen Tatbestände wie Dinge behandelt werden sollen — ein Satz, der die Grundlage unserer Methode bildet — gehört zu jenen, die am meisten Widerspruch hervorgerufen haben. Man fand es paradox und unerhört, daß wir die sozialen Phänomene mit denen der Außenwelt in eine Reihe stellten. Doch lag ein Irrtum über den Sinn und die Tragweite dieser Gleichstellung vor, deren Ziel nicht darin bestand, höhere Seinsformen auf das Niveau von niedrigeren herabzudrücken, sondern im Gegenteil für erstere mindestens den gleichen Grad an Wirklichkeit in Anspruch zu nehmen, der den letzteren von jedermann zuerkannt wird. Wir behaupten also keineswegs, daß die sozialen Phänomene materielle Dinge sind, sondern daß sie mit dem gleichen Rechtstitel Gegenstände sind wie die materiellen Dinge, wenn auch solche anderer Art. Was ist eigentlich ein Ding? Das Ding verhält sich zur Idee wie etwas, das man von außen kennt, zu etwas, das man von innen kennt. Ein Ding ist jeder Gegenstand der Erkenntnis, der der Vernunft nicht von Natur aus zugänglich ist, von dem wir uns auf Grund einfacher gedanklicher Analyse keine angemessene Vorstellung bilden können; ein Ding ist all das, was unserem Verstände nur zu erfassen gelingt, wenn er aus sich selbst hinausgeht und auf dem Wege der Beobachtung und des Experimentes von den äußerlichsten und unmittelbar zugänglichsten Eigenschaften zu weniger leicht sichtbaren und tieferliegenden fortschreitet. Tatbestände einer bestimmten Ordnung wie Dinge zu behandeln, bedeutet also nicht, sie in diese oder jene Kategorie des Seienden einzureihen; es bedeutet nur, daß man ihnen gegenüber eine bestimmte geistige Haltung einnimmt. Es bedeutet vor allem, an ihre Erforschung mit dem Prinzip heranzutreten, daß man absolut nicht weiß, was sie sind, und daß ihre charakteristischen Eigenschaften sowie die sie bedingenden unbekannten Ursachen durch Introspektion nicht entdeckt werden können, mag sie noch so aufmerksam sein.

Emile Dürkheim Die Regeln der soziologischen Methode, Vorwort zur 2. Auflage

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Der empiristische Verzicht. G. Bachelard

2.1 Der empiristische Verzicht Der Erkenntnis-Vektor In Umkehrung des Ansatzes der klassischen Wissenschaftsphilosophie, die die Arbeit des Wissenschaftlers mit Gewalt in eine Handvoll vorgeformer Alternativen pressen bestrebt war, erlegt Bachelard dem Philosophen auf, „seine Sprache zu ändern, um das zeitgenössische Denken in seiner IHexibilität und Veränderlichkeit auszudrücken". So macht Bachelard, statt den „friedlichen Eklektizismus" der Wissenschaftler als Indiz für die philosophische Nicht-Bewußtheit der Wissenschaft anzusehen, aus der „metaphysischen Unreinheit" des wissenschaftlichen Vorgehens ein Objekt der wissenschaftstheoretischen Reflexion und sieht sich veranlaßt, den Anspruch der „intuitiven MetaphySle erklärten siken" zurück-Vmelsen' den wissenschaftlichen Rationalismus. Der „berichtigte Rationalismus" der Wissenschaft Zeu?f davon, daß ein „Rationalismus, der a-prhm-Urteile korrigiert hat, wie es bei den neueren Erweiterungen der Geometrie der ball war, kein geschlossener Rationalismus mehr sein kann".

22. G. Bachelard Seit William James ist oft wiederholt worden, der gebildete Mensch folge zwangsläufig einer Metaphysik. Uns scheint es präziser, zu sagen, jeder Mensch stütze sich in seiner Bemühung um wissenschaftliche Bildung nicht nur auf eine, sondern auf zwei Metaphysiken, und diese beiden natürlichen, überzeugenden, impliziten und zähen Metaphysiken stünden im Widerspruch zueinander. Um diesen beiden fundamentalen philosophischen Einstellungen, die im modernen wissenschaftlichen Denken eine friedliche Verbindung eingegangen sind, rasch einen provisorischen Namen zu geben, wollen wir ihnen die klassischen Etiketten des Rationalismus und des Realismus beilegen. Wer gleich einen Beleg für diesen stillen Eklektizismus wünscht, der denke einmal über folgendes Postulat der Wissenschaftsphilosophie nach: „Die Wissenschaft ist ein Produkt des menschlichen Geistes, das den Gesetzen unseres Denkens entspricht und mit der äußeren Welt übereinstimmt. Sie hat mithin zwei Aspekte, einen subjektiven und einen objektiven, und beide sind gleichermaßen notwendig, denn wir vermögen weder an den Gesetzen unseres Denkens noch an den Gesetzen der Welt irgend etwas zu ändern." 1 Eine sonderbare metaphysische Erklärung; sie kann zu einer Art von verdoppeltem Rationalismus führen, der in den Gesetzen der Welt die Gesetze des Denkens wiederfände, und ebensogut zu einem universellen Realismus, der „den Gesetzen unseres Denkens" eine absolute Unveränderlichkeit auferlegte und sie als Teil der Gesetze der Welt verstünde. Tatsächlich hat die Wissenschaftsphilosophie seit Boutys Aussage zu keiner weiteren Klärung gefunden. Es ließe sich leicht zeigen, daß noch der entschiedenste Rationalist in seinen wissenschaftlichen Urteilen tagtäglich die 1

Edmond Bouty, La verite scientifique,

Paris: 1908, S. 7.

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Die Konstruktion des Objekts

Weisungen einer Realität hinnimmt, die er im Grunde nicht kennt, und daß selbst der hartnäckigste Realist zu heuristischen Vereinfachungen greift, ganz so, als akzeptierte er die rationalistischen Leitprinzipien — woraus sich ersehen läßt, daß es in der Wissenschaftsphilosophie weder einen absoluten Realismus noch eine absoluten Rationalismus gibt und daß man bei der Beurteilung des wissenschaftlichen Denkens von keiner einheitlichen philosophischen Auffassung ausgehen darf. Früher oder später wird das wissenschaftliche Denken selbst zum zentralen Gegenstand der philosophischen Auseinandersetzung werden, was schließlich dazu führt, daß objektiv überprüfte diskursive Metaphysiken an die Stelle der intuitiven und unvermittelten Metaphysiken treten. Im Zuge dieser Überprüfungen wird deutlich, daß zum Beispiel ein Realismus, der wissenschaftlichen Zweifel erregt hat, nicht mehr von derselben Art sein kann wie der unvermittelte Realismus. Auch zeigt sich, daß ein Rationalismus, der zur Korrektur von Α-priori-Urteilen genötigt war, wie es bei den neueren Erweiterungen der Geometrie geschehen ist, kein geschlossener Rationalismus mehr sein kann. Es ist daher sinnvoll, so meinen wir, die Wissenschaftsphilosophie ohne vorgefaßte Meinungen und auch ohne die allzu engen Zwänge des traditionellen philosophischen Vokabulars anzugehen. Die Wissenschaft bringt in der Tat Philosophie hervor. Die Philosophie muß daher ihre Sprache so anpassen, daß sie das zeitgenössische Denken in seiner ganzen Flexibilität und Veränderlichkeit auszudrücken vermag. Zugleich muß sie diese merkwürdige Ambiguität respektieren, die bewirkt, daß jeder wissenschaftliche Gedanke sich zugleich in der Sprache des Realismus und in der des Rationalismus ausdrückt. Vielleicht sollten wir eben darin eine erste Lektion, über die nachzudenken, ein erstes Faktum, das zu erklären wäre, erblicken: in diesem Mangel an metaphysischer Reinheit nämlich, Resultat der Doppeldeutigkeit wissenschaftlicher Verifikation, die sich stets zugleich im Bereich der Erfahrung und im Bereich des Denkens bewegt, stets zugleich den Bezug auf die Realität und den Bezug auf die Vernunft umfaßt. Offenbar läßt sich rasch ein Grund für diese dualistische Basis jeglicher Wissenschaftsphilosophie angeben: Gerade weil die Wissenschaftsphilosophie eine angewandte Philosophie ist, vermag sie nicht jene Reinheit und Einheit zu wahren, die der spekulativen Philosophie möglich ist. Welchen Ausgangspunkt die wissenschaftliche Tätigkeit auch immer nehmen mag, voll überzeugen kann sie nur, indem sie diesen Ausgangsbereich verläßt: Wenn sie experimentiert, muß sie auf Vernunftgründe zurückgreifen; wenn sie von λ/ernunfterwägungen ausgeht, muß sie experimentieren. Anwendung ist stets Überschreitung. Wir werden zeigen, daß noch im einfachsten wissenschaftlichen Vorgehen eine Dualität sichtbar wird, eine epistemologische Polarisierung gewissermaßen, dank deren die Phänomene sich jeweils zugleich unter das Rubrum des Pittoresken und des begrifflich Faßbaren stellen, also mit dem Etikett des Realismus und dem des Rationalismus belegt werden können. Wenn wir uns im Sinne einer Psychologie des wissenschaftlichen Geistes genau an die

Hypothesen oder Prämissen. E. Katz

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Grenze wissenschaftlicher Erkenntnis zu begeben vermöchten, sähen wir, daß die heutige Wissenschaft sich in der Tat mit einer Synthese der metaphysischen Gegensätze befaßt. Zumindest die Richtung des Erkenntnis- Vektors ist, so meinen wir, klar erkennbar. Er weist ohne Zweifel vom Rationalen zum Realen und keineswegs in die entgegengesetzte Richtung, wie alle Philosophen von Aristoteles bis Bacon behauptet haben. Anders gesagt, die Anwendung wissenschaftlichen Denkens ist nach unserer Auffassung ganz wesentlich auf Realisierung gerichtet. Wir werden daher in diesem Buch aufzuzeigen versuchen, was wir unter der Realisierung des Rationalen oder allgemeiner unter der Realisierung des Mathematischen verstehen.

Gaston Bachelard Der neue wissenschaftliche Geist

2.2 Hypothesen oder Prämissen Das Instrument ist Theorie in actu Wörtlich genommen könnte der λ/ergleich der soziologischen Techniken mit Werkzeugen zu einer rein technischen Kritk an den Techniken führen. Demgegenüber %eigt E. Katz in seiner Analyse des allmählichen Entstehens der Hypothese vom Zwei-Stufen- Fluß der Informationsübermittlung durch die modernen Kommunikationsmittel, daß die Grenzen der Techniken unterschwellig lauter Anstöße liefern, die Analyse in eine bestimmte Richtung wenden, und daß Auslassungen gleichzeitig Hinweise sind. Weil Zufallsstichproben und Meinungsumfragen Subjekte erfassen, die aus dem Be%iebungsgefüge herausgerissen sind, in dem sie agieren und kommunizieren, führen diese Techniken zur Hypostasierung eines durch Abstraktion zustandegekommenen Artefakts.· Da über Individuen gearbeitet wird, die gewissermaßen „entsozialisiert" sind, kann die Autorität der Meinungsführer, der leaders, nur noch mit psychologischen Eigenschaften erklärt werden. Um die versteckten Hinweise zu entkräften, die durch die mit einer bestimmten Technik gegebenen Prämissen suggeriert werden, reicht technologisches Raffinement nicht aus: Auch Studien, die das gesamte Kommunikationsgefüge von den Beziehungen Zwischen jeweils zwei Personen aus zu rekonstruieren versuchen, bleiben in der ursprünglichen Abstraktion befangen. Nur der Bruch mit den Automatismen der Methodologie konnte den Weg frei machen für eine Untersuchung der Gesamtheit der sozialen Beziehungen innerhalb einer ganzen Gemeinschaft, und dann tritt das Geflecht der Izinflußkanäle so deutlich hervor, daß es nicht mehr nötig ist, Aufschluß darüber von den Subjekten zu erwarten statt vom Soziologen.

23. E. Katz Die Analyse des Entscheidungsprozesses im Laufe eines Wahlkampfs führte die Autoren der Untersuchung The People's Choice zu der Annahme, daß der Verlauf der Massenkommunikation weniger direkt sein könnte, als man in der Regel annahm. Es sei denkbar, so argumentierten sie, daß Einflüsse aus den Massenmedien zuerst die „Meinungsführer" erreichen, die dann das, was sie gelesen oder gehört haben, an Leute aus ihrer alltäglichen Umgebung

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Die Konstruktion des Objekts

weitergeben, auf die sie Einfluß haben. Diese Hypothese wurde „zweistufiger Kommunikationsfluß" genannt. Sie erregte beträchtliches Aufsehen. Die Autoren selbst fanden sie spannend wegen ihrer Implikationen für eine demokratische Gesellschaft. Es sei ein gesundes Zeichen, meinten sie, daß die Leute noch immer am besten durch einen Meinungsaustausch mit anderen Leuten überzeugt werden können und daß der Einfluß der Massenmedien weniger automatisch wirke und weniger mächtig sei, als angenommen worden war. Für die Gesellschaftstheorie und für die Kommunikationsforschung bedeutete diese Hypothese, daß das Bild der modernen städtischen Gesellschaft einer Revision unterzogen werden mußte. Das Bild des Publikums als einer Masse unverbundener, an die Medien, aber nicht aneinander gebundener Individuen war mit der Vorstellung von einem zweistufigen Kommunikationsfluß nicht vereinbar, denn dieser bedeutete, daß es Netze miteinander verflochtener Individuen gibt, durch welche die Massenkommunikation kanalisiert wird. Von allen Ideen in The People's Choice allerdings ist die These des zweistufigen Kommunikationsflusses wahrscheinlich diejenige, die durch empirische Daten am wenigsten abgesichert ist. Und der Grund hierfür ist klar: In der Anlage der Studie war die Bedeutung, die zwischenmenschliche Beziehungen bei der Analyse der Daten annehmen würden, nicht vorgesehen. Wenn man von der Vorstellung eines atomisierten Publikums ausgeht, die für so viele Forschungen über Massenmedien typisch war, ist es in der Tat überraschend, daß zwischenmenschliche Einflüsse überhaupt die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich zogen. [...] Im wesentlichen scheinen daran drei verschiedene Ergebnisse beteiligt gewesen zu sein: a) Die Bedeutung des persönlichen Einflusses·. [...] Persönliche Kontakte scheinen sowohl häufiger als auch in ihrem Einfluß auf die Wahlentscheidung bedeutsamer gewesen zu sein als die Massenmedien. [...] b) Die Ausübung des persönlichen Einflusses·. [...] Meinungsführer sind auf jeder Stufe der Gesellschaft zu finden und gleichen deshalb sehr wahrscheinlich stark den Leuten, die sie beeinflussen. [...] c) Die Meinungsführer und die Massenmedien·. Es zeigte sich, daß die Meinungsführer im Vergleich zur übrigen Bevölkerung dem Radio, den Zeitungen und Zeitschriften, also den formalen Kommunikationsmedien, deutlich stärker ausgesetzt sind. Jetzt ist das Argument klar: Wenn das gesprochene Wort so wichtig ist, und wenn die Spezialisten des gesprochenen Worts überall zu finden sind, und wenn diese Spezialisten den Medien stärker ausgesetzt sind als die Leute, die sie beeinflussen, dann fließen vielleicht die „Ideen vom Radio und von der Presse zu den Meinungsführern und von diesen zu den weniger aktiven Teilen der Bevölkerung". Um zu untersuchen, wie diese Einflußkanäle verlaufen und wie dies auf die Entscheidungsfindung wirkt, hatte das Untersuchungs-Design von The People's Choice verschiedene Vorteile. Am wichtigsten war die Anlage als

Hypothesen oder Prämissen. E. Katz

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Panel, wodurch es möglich wurde, Veränderungen fast so rasch zu erkennen, wie sie eintraten, und diese Veränderungen dann in Beziehung zu setzen zu den Einflüssen, die die Befragten erreichten. Z u m zweiten war die EffektVariable, die Entscheidung, ein greifbarer und leicht erfaßbarer Indikator der Veränderung. Aber für die Untersuchung des Teils des Einflußverlaufs, der mit den Kontakten zwischen den Leuten zu tun hatte, griff das Untersuchungs-Design zu kurz, da in ihm eine Zufallsstichprobe von Individuen vorgesehen war, die von deren gesellschaftlichem Umfeld absah. Es ist dies traditionelle Element im Design der Survey-Forschung, das den Sprung erklärt, der von den verfügbaren Daten zur Hypothese des zweistufigen Kommunikationsflusses gemacht werden mußte. Da in einer Zufallsstichprobe jeder Mensch ja nur für sich selbst sprechen kann, mußten Meinungsführer in der Wahluntersuchung von 1940 durch Selbsteinschätzung ermittelt werden, das heißt auf der Grundlage ihrer eigenen Antworten auf die beiden Fragen nach Ratgebern in politischen Dingen, die oben zitiert wurden. So wurden die Befragten einfach gebeten, zu sagen, ob sie Meinungsführer seien oder nicht. Viel wichtiger aber als das offensichtliche Problem der Gültigkeit, das sich aus dieser Technik ergibt, ist die Tatsache, daß sie keinen Vergleich der Führer mit ihren jeweiligen Anhängern erlaubt, sondern nur ganz allgemein von Führern und Nicht-Führern. Die Daten enthalten, mit anderen Worten, lediglich zwei statistische Gruppierungen: Leute, die sagten, sie seien Ratgeber, und Leute, die das nicht sagten. Daher darf die Tatsache, daß Meinungsführer stärker an der Wahl interessiert waren als Nicht-Führer, nicht so verstanden werden, als ob der Einfluß von interessierten Leuten zu weniger interessierten verlaufe. Um das Problem noch schärfer zu formulieren: Es kann sogar sein, daß die Meinungsführer sich lediglich gegenseitig beeinflussen, während die uninteressierten NichtFührer außerhalb des ganzen Einflußmarktes bleiben. Dennoch ist die Versuchung groß, anzunehmen, daß die Nicht-Führer Anhänger der Führer seien, und obwohl die Studie The People's Choice in dieser Hinsicht sehr sorgsam ist, mußte sie ihr erliegen. Die Autoren heben selbst hervor, daß es eine weitaus bessere Methode gewesen wäre, „die Leute zu fragen, wen sie in dieser Sache um Rat bitten würden, und anschließend die Interaktion zwischen Ratgebern und Ratsuchenden zu untersuchen. Aber dieses Verfahren wäre äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich, da es selten v o r k o m m t , daß miteinander verbundene Führer und Anhänger in der gleichen Stichprobe enthalten sind". Wie im Anschluß gezeigt werden soll, ist dies vielleicht das wichtigste Problem, das nachfolgende Untersuchungen zu lösen versucht haben. Der Autor stellt anschließend drei weitere Studien vor, die es erlaubt haben, die Probleme %u behandeln, die die Untersuchung T h e People's Choice aufgeworfen hatte. Bei der ersten, in einer Kleinstadt durchgeführten Untersuchung wurden als Meinungsführer alle jene Personen bezeichnet, die in den

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Die Konstruktion des Objekts

Antworten der Befragten mehrmals erwähnt worden waren, d. h. die Untersuchung stieg von den beeinflußten Personen den Personen mit Hinßuß auf und gelangte daher eher als die Studie %um Wahlverhalten, in der Meinungsführer als solche lediglich darüber definiert wurden, daß sie Ratgeber waren, wirklichen Meinungsführern. In der ^weiten Studie ging es gerade um die Konstellation Meinungsführer — „Geführter", die in der vorigen Studie nicht erfaßt worden war, da dort die Ausgangs-Stichprobe von den Befragten lediglich da%u diente, an die Meinungsführer heranzukommen.

So, wie eine Zweierkonstellation konstruiert werden konnte, indem man von einem Ratsuchenden zu einem Ratgeber gelangte, war es auch möglich, umgekehrt vorzugehen, indem man zuerst mit einer Person sprach, die als Ratgeber fungiert zu haben behauptete, und dann die Person ermittelte, von der der Ratgeber behauptete, er habe sie beeinflußt. Die Decatur-Studie versuchte dies auch. In ihr benutzte man die gleiche Art der auf Selbsteinschätzung beruhenden Fragen, wie sie die Wahlstudie benutzt hatte, und Personen, die sich selbst als einflußreich bezeichneten, wurden gebeten, die Namen jener anzugeben, die sie beeinflußt hatten. So kam man im Schneeballverfahren an die benannten Leute. Dabei ergab sich die Möglichkeit, nicht nur die Interaktion von Ratgeber und Ratsuchendem zu erforschen, sondern auch herauszubekommen, bis zu welchem Grad die Leute, die sich selbst als einflußreich bezeichnet hatten, in ihrer Selbsteinschätzung bestätigt wurden von denen, die sie angeblich beeinflußt hatten. Mit diesem Vorgehen hofften die Forscher etwas über die Validität von Selbsteinschätzungen aussagen zu können. Die Autoren der Studie The People's Choice hatten gezeigt, daß „die Leute zu fragen, an wen sie sich um Rat wandten, und daraufhin die Interaktion von Ratgebern und Ratsuchenden zu erforschen [...], äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich sein würde". Und tatsächlich erwies es sich als äußerst schwierig. Bei der Feldarbeit gab es viele Probleme, und das Ergebnis war, daß nicht alle „Schneeball"-Interviews durchgeführt werden konnten. Über weite Teile der Datenanalyse war es stattdessen notwendig, auf Vergleiche zwischen Meinungsführern und Nicht-Führern zurückzukommen und den Gruppen mit einer höheren Dichte von — nach eigener Einschätzung — Meinungsführern größeren Einfluß zuzuschreiben. Im Prinzip jedoch wurde gezeigt, daß eine Untersuchung, die interpersonelle Beziehungen erfaßt, sowohl möglich als auch gewinnbringend durchführbar war. Zu dem Zeitpunkt aber, als offensichtlich wurde, daß dieses Ziel erreicht werden konnte, begann das Ziel selbst verändert zu werden. Es schien wünschenswert, Einflußketten in die Beobachtung mit einzubeziehen, die länger waren als jene, die in die Zweierkonstellation aufgenommen waren; und von da aus die Ratgeber —Ratsuchender —Konstellation als eine Komponente einer komplex strukturierten sozialen Gruppe zu betrachten. Diese Veränderungen ergaben sich allmählich und aus einer Vielzahl von Gründen. Zum einen zeigten die Ergebnisse der Decatur-Studie und der

Hypothesen oder Prämissen. Fl Katz

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späteren Elmira-Untersuchung, daß die Meinungsführer selbst oft berichteten, daß ihre eigenen Entscheidungen von wieder anderen Leuten beeinflußt waren. Es erschien deshalb wünschenswert, in Begriffen von Meinungsführern der Meinungsführer zu denken. Zum zweiten wurde klar, daß Meinungsführerschaft nicht als „Persönlichkeitsmerkmal (trait)" betrachtet werden konnte, das einige Leute besitzen, andere nicht, obwohl die Wahlstudie manchmal diese Ansicht implizierte. Stattdessen schien es ganz offensichtlich, daß der Meinungsführer zu bestimmten Zeiten und im Hinblick auf bestimmte wesentliche Bereiche Einfluß hat aufgrund der Tatsache, daß er durch die anderen Mitglieder seiner Gruppe dazu „ermächtigt" ist. Warum bestimmte Personen hier erwählt werden, ist nicht allein mit demographischen Faktoren zu erklären (sozialer Status, Geschlecht, Alter etc.); vielmehr spielen auch Faktoren wie die Struktur und die Werte der Gruppe eine Rolle, zu der Ratgebender und Ratsuchender gehören. So kann der unerwartete Aufstieg junger Leute zur Meinungsführerschaft in traditionellen Gruppen, die sich neuen Situationen wie Verstädterung und Industrialisierung gegenüberstehen, nur vor dem Hintergrund alter und neuer Muster gesellschaftlicher Beziehungen innerhalb der Gruppe und von alten und neuen Orientierungsmustern in der Beziehung zur Welt außerhalb der Gruppe verstanden werden. [...] Ein anderer Faktor veränderte die Richtung des neuen Programms ebenfalls. Wenn man über die Decatur-Studie nachdachte, wurde klar, daß man zwar über die Rolle verschiedener Einflüsse bei Mode-Entscheidungen der Individuen sprechen konnte, daß aber die Untersuchung von ihrer Anlage her nicht geeignet war, das Aufkommen von Moden im Aggregat — Mode als Diffusionspro^eß — zu untersuchen, solange nicht sowohl dem Inhalt der Entscheidung, als auch dem damit verbundenen Zeitfaktor Rechnung getragen wurde. Die Entscheidungen der „Mode-Wechsler", die bei Decatur untersucht wurden, können sich gegenseitig aufgehoben haben: Während Frau X einen Wechsel von Mode Α zu Mode Β berichtete, mag Frau Y von einem Wechsel von Β zu Α berichtet haben. Was für Mode gilt, gilt für jedes andere Diffusionsphänomen: Um es zu erforschen, muß man den Verlauf eines spezifischen Themas in der Zeit verfolgen. Die Kombination dieses Interesses an der Diffusion mit jenem an der F>forschung der Rolle komplexer sozialer Kommunikationsnetze führte zu einer neuen Untersuchung, die (1) ein spezifisches Thema, (2) die Verbreitung im Zeitablauf und (3) die soziale Struktur einer ganzen Gruppe in den Mittelpunkt stellte. [...] Mit der Studie sollte herausgefunden werden, wie Arzte ihre Entscheidungen treffen, wenn sie neue Medikamente einführen. [...] Insgesamt gibt die Medikamenten-Studie im Vergleich mit den früheren Untersuchungen einen objektiveren Rahmen für die Entscheidung vor, psychologisch wie soziologisch. Zum einen ist der Entscheidungsträger selbst nicht die einzige Informationsquelle für seine Entscheidung. Objektive Daten des Verordnungsprotokolls werden ebenso benutzt. Zum zweiten wird die Rolle ver-

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Die Konstruktion des Objekts

schiedener Einflüsse nicht nur auf Basis der Rekonstruktion des Vorgangs durch den Entscheidungsträger selbst, sondern auch aufgrund objektiver Korrelationen bewertet, die Rückschlüsse auf den Verlauf des Einflusses ermöglichen. So waren Ärzte, die die neuen Arzneimittel früh anwandten, eher geneigt, an überregionalen medizinischen Fachtagungen teilzunehmen als jene, die sie später einführten. Ebenso ist es möglich, die Rolle sozialer Beziehungen in der Entscheidungsfindung des Arztes nicht allein aus dem Zeugnis des Arztes über diese sozialen Einflüsse selbst zu schlußfolgern, sondern auch aus der Verortung des Arztes in den interpersonalen Netzwerken, wie sie mit den soziometrischen Fragen abgebildet werden. So ist es auf der Basis der soziometrischen Integration in ihre community zu klassifizieren oder entsprechend dem Grad ihres Einflusses, meßbar daran, wie oft sie von ihren Kollegen als Freunde, Diskussionspartner und Berater genannt werden. Sie können auch nach ihrer Zugehörigkeit zu dieser oder jener Gruppierung oder Clique eingeordnet werden, aufgrund der Angabe darüber, wer ihren Namen nennt. Mit Hilfe des ersten Maßes kann ermittelt werden, ob die einflußreicheren Ärzte ein Arzneimittel früher einführen als jene, die weniger einflußreich sind. Der zweiten Art der Analyse kann man ζ. B. entnehmen, ob Ärzte, die zu denselben Untergruppen gehören, auch ähnliche Verhaltensmuster bei der Arzneimittel-Verschreibung haben. Auf diese Weise wird es möglich, die Aussagen des Arztes über seine Entscheidungen und die dabei beteiligten Einflüsse einerseits und den objektiveren Bericht über seine Entscheidungen und die Einflüsse, denen er dabei ausgesetzt war, andererseits, aufeinander zu beziehen. Man beachte, daß die Netzwerke der sozialen Beziehungen in dieser Studie vor der Einführung des neuen Medikaments erkundet worden waren, in dem Sinne, daß Freundschaft, Beratung und dergleichen unabhängig von jeder besonderen Entscheidung, die der Arzt traf, erfaßt wurden. Die Studie beschäftigte sich mit der möglichen Bedeutung verschiedener Glieder dieser soziometrischen Strukturen für die Übertragung von Einfluß. Es ist zum Beispiel möglich, jene Teile einer Struktur, die anläßlich der Einführung eines neuen Medikaments „aktiviert" werden, zu kennzeichnen und die zunehmende Verbreitung eines Medikaments bei Individuen und Gruppen in ihrem genauen Verlauf zu beschreiben. Während die Decatur-Studie erwarten konnte, nur die b e s o n d e r e B e z i e h u n g zu untersuchen, die bei einer gegebenen Entscheidung einen Einfluß hatte, kann die Arzneimittel-Studie diese Beziehung vor dem Hintergrund des ganzen Netzes potentiell bedeutsamer Beziehungen, in dem der Arzt sich befindet, verorten. Aufgrund dieser sukzessiven Veränderungen der Untersuchungsmethode konnten Hrgebnisse erhielt werden, die die Ausgangshypothese präzisierten und vervollständigten. Insbesondere kmnte festgestellt werden,

179

Hypothesen oder Prämissen. F. Simiand

— daß der persönliche Hinfluß eine größere Rolle spielt als der direkte Hinfluß der Massenmedien; so geigte sich beispielsweise in der dritten Studie, daß die Integration der Arzte in ihre community ein sehr wichtiger l'aktor ist; — daß Primärgruppen in ihren Meinungen sehr homogen sind; — daß die Massenmedien keine einfache Rolle spielen, da diese von der „Information" bis z u r „Legitimation" von Meinungen reichen kann; — daß Meinungsführer nicht über eine globale und für alle Bereiche geltende Autorität verfügen, sondern daß die Autorität, die ihnen zuerkannt wird, auf bestimmte Bereiche begrenzt ist; — daß sie daher keine substantiellen Merkmale aufweisen, die sie von denen trennen, die sie beeinflussen; vielmehr unterscheiden sie sich in den Eigenschaften, die ihnen zuerkannt werden (Kompetenz usw.), und in ihrer socialen Stellung; — daß Meinungsführer in höherem Maße den Massenmedien exponiert sind und zugleich sensibler gegenüber ihrem Hinfluß.

D a s m e t h o d i s c h e H a u p t p r o b l e m i n all d e n z i t i e r t e n U n t e r s u c h u n g e n w a r d i e E r f a s s u n g der zwischen P e r s o n e n b e s t e h e n d e n B e z i e h u n g e n bei gleichzeitiger E r h a l t u n g der W i r t s c h a f t l i c h k e i t u n d der Repräsentativität, die die schnitts-Untersuchung

einer

Zufallsstichprobe

bietet.

Die

Quer-

Antworten

auf

dieses P r o b l e m reichen v o n der A u f f o r d e r u n g an die b e f r a g t e n I n d i v i d u e n , d i e P e r s o n e n z u b e s c h r e i b e n , m i t d e n e n sie sich b e s p r o c h e n h a t t e n ( E l m i r a ) , über

Interviews

nach

dem

Schneeballsystem

mit

Beeinflus-

s e r — B e e i n f l u ß t e — K o n s t e l l a t i o n e n ( D e c a t u r ) bis z u r B e f r a g u n g einer g a n z e n community

(Medikamenten-Studie).

wahrscheinlich

irgendwo

Künftige

dazwischen

Untersuchungen

werden

b e f i n d e n . F ü r die meisten

sich

Untersu-

c h u n g e n d ü r f t e es j e d o c h z u m l e i t e n d e n P r i n z i p w e r d e n , g r ö ß e r e o d e r k l e i n e r e soziale M o l e k ü l e u m jedes einzelne A t o m i n n e r h a l b der S t i c h p r o b e a u f z u bauen.

Elihu Katz „ T h e T w o - S t e p F l o w of C o m m u n i c a t i o n : A n U p - t o - D a t e R e p o r t o n an H y p o t h e s i s "

Der Statistiker muß wissen, was er tut Nicht in eifersüchtiger Behauptung der Einzigartigkeit der soziologischen Methoden, sondern im systematischen Vergleich der soziologischen mit den naturwissenschaftlichen Methoden arbeitet Simiand, der die statistische Methode als eine Form der experimentellen Methode versteht, die Eigenart der der Soziologie eigenen Wissenschaftstheorie heraus. * Die Tatbestände, mit denen der Soziologe umgeht, sind gewissermaßen doppelt abstrakt: Erstens, als statistische Tatbestände, abstrakt in Bezug auf die empirische Realität (wie die Tatbestände, über die der Physiker arbeitet), und zweitens, als soziologische Tatbestände, abstrakt in Bezug auf die individuellen Erscheinungsformen; da soziale Tatbestände kollektiver Natur sind, werden sie in keinem individuellen Phänomen vollständig realisiert, so daß

* s. o., Einleitung, S. 3 und unten, R.Wind, Text Nr. 37, S. 231.

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Die Konstruktion des Objekts

„ihre Nicht-Übereinstimmung mit einer objektiven Realität /... / nicht gleich ins Auge fällt". Also muß in der Soziologie bei jeder neuen Untersuchung auch immer wieder neu über statistische Verfahren nachgedacht werden, und darüber, wie diese jeweils die Tatbestände verändern.

24. F. Simiand Übertragen wir also [die] Bedingungen der guten Abstraktion, die in der Methodologie der positiven Wissenschaften gelehrt werden, auf den Bereich der Statistik; und wir werden sehen, daß wir, sollen unsere statistischen Abstraktionen keine Täuschung sein, auch keine Selbsttäuschung, als erste Vorsichtsmaßnahme dafür Sorge tragen müssen, daß unsere Ausdrücke für komplexe Tatbestände, unsere Mittelwerte, Indizes, Koeffizienten, nicht bloß Resultate beliebiger Aufzählungen oder willkürlicher Zahlenkombinationen sind, sondern auch ihrerseits die konkrete Komplexität abbilden, die Zusammenhänge des Realen respektieren und etwas aussagen, das von der Vielfalt der individuellen Fälle, der sie entsprechen, verschieden und zugleich wahr ist. Stellen wir also im Gegenteil fest: Was beim Gebrauch statistischer Abstraktionen für uns irreführend sein kann und in der Tat auch oft ist, liegt nicht daran, daß es Abstraktionen sind, sondern daran, daß es schlechte Abstraktionen sind. Einen Physiker, der die Dichte irgendeiner Zusammenfassung verschiedenartiger Objekte bestimmte, können wir uns nicht vorstellen; denn es ist offenkundig, daß, da eine solche Zusammenfassung physikalisch ungleich ist, das Ergebnis wissenschaftlich uninteressant wäre. Wir können uns keinen Botaniker vorstellen, der seinen Pflanzenbeobachtungen einen Fünf- oder Zehnmonatsrhythmus zugrundelegte; denn es ist offenkundig, daß die Vegetation einem Zwölfmonats- beziehungweise Jahreszyklus folgt. Und, was noch näher und bereits im Bereich der Statistik liegt, wir können uns auch keinen Biologen vorstellen, der die Durchschnittsgröße aller Tiere in einem Tierpark bestimmte und untersuchte. Aber gibt es nicht Beispiele genug dafür, daß sich selbst in wissenschaftlich durchaus ausgewiesenen Arbeiten Preisindizes finden, die quer durch alle Preiskategorien gehen und kunterbunt und unterschiedslos Rohstoffpreise und Preise von Fertigprodukten, Warenpreise und Dienstleistungspreise, Gehälter, Mieten zusammenbringen, obwohl doch die Preisbewegungen all dieser Gruppen ihrer Richtung, ihrem Tempo oder ihren Zeitspannen nach oft so unterschiedlich sind, daß ein gemeinsamer Ausdruck, der alles vermengt, der also diesen Unterschieden nicht Rechnung trägt, nur sinnlos oder irreführend sein kann? Erst recht gibt es Beispiele, daß irgendwelche Daten der Wirtschaftsstatistik aus Elementen, deren charakteristische Schwankungen in kürzeren oder längeren Zyklen als in Fünf- oder Zehnjahreszeiträumen oder überhaupt unregelmäßig auftreten, zu Fünf- oder Zehnjahresmittelwerten zusammengefaßt

Hypothesen oder Prämissen. F. Simiand

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und untersucht werden. Durch die Darstellung, die wir aufgrund solcher Mittelwerte erhalten, wird also das wesentliche Merkmal des untersuchten Elements gerade verschleiert, statt sichtbar gemacht; sie kann nur irreführend sein. — Und um wieviele andere Beispiele ließen sich diese knappen Hinweise nicht ergänzen! Sie reichen jedoch allemal aus, um uns erst einmal darauf aufmerksam zu machen, woran, bei diesem Standpunkt, der wirkliche Unterschied zwischen dem gewöhnlichen Experiment der positiven Wissenschaften und dem Experiment in der Statistik zu erkennen ist, und dann, inwiefern der vom gleichen Standpunkt her festzustellenden Unterlegenheit des letzteren abzuhelfen ist. Der Unterschied zwischen diesen beiden Arten der Forschung liegt nicht darin, daß die eine mit Realitäten und die andere mit Abstraktionen operiert, sondern daß sich im materiellen Experimentieren der positiven Wissenschaften die schlechte Abstraktion, die Abstraktion ohne ausreichende Ubereinstimmung mit der Realität, also ohne objektive Grundlage, meist sofort mit physischer, materieller Evidenz als solche erweist; in der statistischen Forschung dagegen sperren sich die Zahlen als solche nie gegen eine Kombination mit anderen Zahlen, und die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit irgendeiner objektiven Realität ist hier im allgemeinen kein Tatbestand, der, wie man so sagt, „ins Auge fällt". Auch im materiellen Experiment isoliert der Wissenschaftler im Rahmen der von der Natur vorgegebenen Komplexität bestimmte Elemente, die in bekannter oder vermuteter Beziehung zu bestimmten anderen stehen; aber wenn er sich über die Beziehung täuscht oder irgendein wesentliches Element vergißt, kann er gar nicht umhin, dies zu bemerken, weil eben materiell das erwartete Phänomen nicht mehr auftritt. — Hier dagegen isoliert der Statistiker zwar auch innerhalb einer komplexen Größe bestimmte Elemente von anderen, bei denen er eine Beziehung zu ihnen vermutet: Aber dies geschieht gedanklich; fast nie verfügt er über ein künstliches Experiment; er kann nicht irgendeinen Faktor materiell einführen oder wegnehmen. Und folglich kann sich ihm die Realität oder Nicht-Realität der wahrgenommenen Beziehung auch nicht materiell offenbaren. Mehr noch, man kann sehen, daß man hier gefahrlich dicht an einem circulus vitiosus ist; denn oft ist der statistische Ausdruck notwendig, um den statistischen Tatbestand überhaupt erst sichtbar zu machen, ja man kann sagen, zu schaffen, und doch müßte man, um Basis und Natur des zu verwendenden statistischen Ausdrucks genau passend wählen zu können, schon vorher wissen, welcher statistische Tatbestand das ist und wie er sich genau verhält. Gleichzeitig sehen wir aber auch, wie die statistische Forschung den Bedingungen näherkommen kann, die beim physikalischen Experiment eine Unterscheidung der guten von der schlechten Abstraktion erlauben. [...]

182

Die Konstruktion des Objekts

Die erste Bedingung zur Erreichung einer gewissen Übereinstimmung mit der Realität ist, unsere statistischen Ausdrücke auf einer Basis zu formulieren, die eine gewisse Homogenität aufweist, oder auch auf einer Basis, die einen angemessenen Umfang hat, den hierfür erforderlichen Umfang. Zwar ist ganz klar, daß die in einem statistischen Wert enthaltenen Einzelfalle immer eine mehr oder weniger große und mehr oder weniger komplexe Heterogenität aufweisen (da sonst kein statistischer Ausdruck nötig wäre, um sie als Gesamtheit darzustellen) und daß also diese Homogenität nur relativ sein kann; daß auch der erforderliche Umfang nicht nur daten-, sondern auch problemabhängig variiert, und also gleichfalls nur relativ sein kann. Aber das Beispiel des Experiments in den positiven Wissenschaften zeigt uns, daß die Wahl der zu verwendenden statistischen Abstraktionen deshalb doch nicht willkürlich ist, wenn auch begründungspflichtig. Auf materielle Evidenzen können wir hierbei nicht zählen: Versuchen wir also, uns durch gedankliche Vorsichtsmaßnahmen abzusichern. Tasten wir uns langsam heran, machen wir Versuche, Tests, Gegentests, Abgleiche. Gerade weil es gute und schlechte Mittelwerte gibt, Mittelwerte, die einen Sinn haben und andere, die eben keinen haben, mißtrauen wir den Mittelwerten, kontrollieren wir sie, nehmen wir einen Abgleich der angegebenen Mittelwerte des einen Typs mit denen eines anderen Typs vor, mit anderen Indizes, mit ergänzenden Daten, und behalten wir nur diejenigen bei, die nach diesen Prüfungen wirklich Bestand zu haben und mit irgendeiner kollektiven Realität übereinzustimmen scheinen. Und Gleiches gilt für jede andere Modalität statistischer Ausdrücke. Wer zum Beispiel redete, urteilte, stritte heute nicht, angesichts der beträchtlichen Preisbewegungen und ihrer Folgen, über Indexziffern? Wer zöge sie nicht als Beweis und Argument für ganz unterschiedliche und manchmal entgegengesetzte Thesen heran? — Wieviele Leute aber haben sich, ehe sie sie in dieser Weise benutzen, sachkundig gemacht oder sich darum gekümmert, wie, auf welcher Basis und mit welchen Methoden, diese Indices Zustandekommen, was sie bedeuten und was nicht? Irving Fisher hat darauf aufmerksam gemacht, daß für die Darstellung eines Preis- oder Mengenensembles unbegrenzt viele Formeln für Indices aufgestellt werden können, die durchaus nicht dasselbe bedeuten oder in derselben Weise verwendet werden können; für die Zwecke seiner Untersuchung hat er sich darauf beschränkt, vierund%wan%ig dieser möglichen Formeln vorzuführen, und für jede von ihnen die von dieser oder jener Bedingung abhängigen charakteristischen Merkmale angegeben. Stanley Jevons hatte aus bestimmten Gründen und für ein bestimmtes Problem einen geometrischen Mittelwert verwendet. Wesley C. Mitchell dagegen benutzte aus bestimmten anderen Gründen und ebenfalls mit Erfolg für das von ihm untersuchte Problem einen Median mit Quartilen und Dezilen. Die heute am häufigsten verwendeten Indexziffern sind häufig mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen und auf recht unterschiedlicher

Konstruiertes Objekt oder Artefakt. Schatzman/Strauss

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Basis zustandegekommen. — 1st das nun alles nebensächlich? M u ß nicht im Gegenteil dies alles w o h l bedacht werden, und zwar abhängig v o n

der

untersuchten Frage und auch im Hinblick auf die Schlüsse, die man ziehen möchte? Und sind sie nicht gerade wegen dieser Unterschiede bei dieser oder jener Frage zu wechselseitiger Ergänzung und nutzbringendem

Abgleich

einzusetzen, auch, um die Grenzen ihrer G e l t u n g und ihrer legitimen Verw e n d u n g deutlich zu machen?

Francois Simiand

Statistique et experience:

Remarques de methode

2.3 Die falsche Neutralität der Techniken: Konstruiertes Objekt oder Artefakt Das Interview und die Organisationsformen der Erfahrung D. Riesman hat bestimmte „biases" aufgezeigt, die das Interview insofern beeinträchtigen können, als diese Technik — die meist nicht über die Instrumente verfügt, um dies kontrollieren — die Fähigkeit der Subjekte voraussetzt, sich dem „Interview als konventionellem Rahmen der Meinungsäußerung' gewachsen zu ZeWnInterview ist ein Sonderfall des socialen Aus tausch s; als solcher kann es sich den „Konventionen über das, was gesagt und was nicht gesagt werden d a r f , nicht entziehen; Konventionen, die ,je nach socialer Klasse, Region und ethnischer Gruppe variieren".* Als sociale Interaktionssituation wird die Interviewsituation gern nach dem Modell anderer Beziehungen interpretiert (Vertraulichkeit, Klagen, freundschaftliche Diskussion usw.), deren Muster von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich sein können. Und schließlich ist die Beziehung zu einem Soziologen nur ein Sonderfall der Beziehung zu Fremden überhaupt, denen gegenüber es Ehrensache ist, die ganz intimen Empfindungen oder Meinungen nicht preiszugeben: Bei der Interviewsituation kann also die ganze Moral einer Gruppe auf dem Spiel stehen. „Man muß verstehen, warum Angehörige der Arbeiterklasse dem Interviewer gegenüber meist nicht besonders zugänglich scheinen, warum sie sich ausweichend geben und zu Antworten neigen, die von der Situation eher ablenken als sie klären helfen. Hinter diesen Proklamationen, diesem ,ich behalte meine Angelegenheiten für mich', kann auch verletztes Ehrgefühl stecken. Iis ist nämlich schwer zu glauben, daß sich ein Besucher, der einer anderen Klasse angehört, jemals die Schwierigkeiten, die man hat, richtig und in allen Einzelheiten vorstellen kann: Also achtet man sehr darauf, ,sich keine Blöße zu geben' und sich gegen gönnerhafte Haltungen zu wappnen."** Da man sich selten Gedanken über die — je nach der sozialen Zugehörigkeit der Subjekte e'ne unterschiedliche — Wirkung der Befragungstechniken macht, ist es nicht unnütz, kommunikationssoziologische Analyse wiederzugeben, die z u m Untersuchungsobjekt machen will, was normalerweise als Untersuchungsinstrument und manchmal sogar als absolutes Meßinstrument für bestimmte Fähigkeiten behandelt wird (man denke zum Beispiel an Ferner, der aus der Fähigkeit der Subjekte, die Interviewsituation zu meistern, ein Indiz für ihre Fähigkeit macht, sich neuen Situationen

* D. Riesman, „The Sociology of the Interview", in: Abundance for WhatNew Doubleday, 1964, S. 4 9 2 - 5 1 3 . ** R. Hoggart, The Uses of Literacy, London: Chatto and Windus, 1957, S. 68.

York:

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Die Konstruktion des Objekts

anzupassen).*** L, Schatz/n an und A. Strauss geigen, daß beim Interview Kommunikationstechniken und Organisationsformen der Erfahrung angesprochen werden, z,u denen sich Mittel- und Unterschicht in allen Punkten gegensätzlich verhalten; zpge man aus diesen Analysen alle Konsequenzen, miißte man die Illusion der Neutralität der Techniken aufgeben und gegebenenfalls Instrumente zur Kontrolle der Auswirkungen der Interview situation einführen, um sie berücksichtigen zu können.

25. L. Schatzman und A. Strauss Die Annahme, daß es wichtige Unterschiede im Denken und in der Kommunikation gesellschaftlicher Klassen gebe, ist durchaus geläufig. Die Menschen leben in einer Umwelt, die durch Symbole vermittelt ist. Die Gegenstände und Ereignisse der Welt werden wahrgenommen und verarbeitet durch Benennung, Identifizierung und Einordnung in ein Schema. Ordnung wird durch begriffliche Organisation hergestellt, und diese Organisation umschließt nicht einfach Regeln von irgendjemandem, sondern den grammatischen, logischen und kommunikativen Kanon von sozialen Gruppen. Kommunikation verläuft entsprechend den gesellschaftlichen Bedingungen des Verstehens; das gilt auch für die „innere Konversation" oder das Denken. Sowohl Denken als auch Sprechen müssen den Anforderungen Rechnung tragen, die sich aus Kritik, Urteil, Bewertung und Kontrolle ergeben. Kommunikation über Gruppengrenzen hinweg läuft Gefahr — von rein sprachlichen Problemen einmal abgesehen —, durch unterschiedliche Regeln für die Ordnung des Sprechens und Denkens behindert zu werden. 1 Wenn diese Annahmen richtig sind, dann folgt daraus, daß es beobachtbare Differenzen in der Kommunikation je nach sozialer Schicht geben müßte, und daß diese Differenzen nicht einfach eine Sache des Präzisionsgrades, der Sorgfalt, des Wortschatzes oder des literarischen Stils sind. Es folgt daraus auch, daß die Denkweisen an den Sprechweisen erkennbar sind. Diese Hypothesen wurden mittels der Analyse von Gesprächen überprüft, die durchgeführt worden waren, um die Reaktionen der Bevölkerung auf eine Naturkatastrophe in den Dörfern von Arkansas Zu untersuchen, über die ein Tornado hinweggegangen war. Die Befragten wurden in ^im Gruppen eingeteilt: — eine „untere" Gruppe aus Angehörigen der unteren Schichten; ihre Bildung reichte nicht über die grammar school hinaus; ihr jährliches Familien-Einkommen lag unter 2 000,— Dollar; — eine „obere" Gruppe aus Angehörigen der Mittelschicht; diese hatten mindestens ein Jahr lang ein college besucht und verfügten über ein Jahreseinkommen von mehr als 4 000,— Dollar.

Die Unterschiede zwischen der niedrigeren und der höheren sozialen Gruppe waren enorm; und nachdem die Art der Unterschiede erfaßt war, war es ***S. o. Abschnitt 2.3, S. 48 f. 1 Vgl. E. Cassirer, An Essay on Man, New Haven: 1944; S. Langer, Philosophy in a New Key, New York: 1948; Λ. R. Lindesmith und A. L. Strauss, Social Psychology, New York: 1949, S. 2 3 7 - 2 5 2 ; G. H. Mead, Mind, Self and Society, Chicago: 1934; C. Wright Mills, „Language, Logic, and Culture", American Sociological Review, 4 (1939), S. 670 — 680.

Konstruiertes Objekt oder Artefakt. Schatzman/Strauss

185

erstaunlich, wie schnell eine typischc Kommunikationsorganisation bereits bei der Lektüre weniger Abschnitte eines Interviews erkannt und beschrieben werden konnte. Der Unterschied liegt nicht einfach darin, daß es der sozial niedrigeren bzw. höheren Gruppe mißlingt bzw. gelingt, sich klar und für die Zwecke des Interviewers hinreichend detailliert mitzuteilen. Auch beziehen sich die Unterschiede nicht allein auf richtige und ausgefeilte Grammatik oder die Verwendung eines präziseren oder farbigeren Wortschatzes. Der Unterschied besteht in einer beträchtlichen Ungleichheit a) in der Anzahl und Art der Perspektiven, die innerhalb der Kommunikation verwendet werden, b) in der Fähigkeit, die Rolle des Zuhörers einzunehmen, c) in der Handhabung von Klassifikationen und d) in der Struktur und in den stilistischen Schemata, die die Kommunikation ordnen und prägen. Perspektive

oder

Zentrierung

Mit Perspektive oder Zentrierung ist der Standpunkt gemeint, von dem aus beschrieben wird. Anzahl und Reichweite der Perspektiven können variieren. Die Flexibilität, mit der jemand während eines Gesprächs die Perspektive wechselt, ist ebenfalls variabel. Unterschicht·. — Jede Beschreibung, die uns ein Befragter aus der Unterschicht geliefert hat, ist fast ohne Ausnahme eine Beschreibung aus der eigenen Perspektive gewesen; er liefert dem Zuhörer seine eigenen Wahrnehmungen und Bilder ganz unvermittelt. Seine beste Darstellung ist die gerade, direkte Erzählung der Ereignisse, wie er sie gesehen und erfahren hat. Er stellt sich oft selbst klar in Zeit und Raum hinein und zeigt durch verschiedene verbindende Elemente in groben Zügen den Fortgang der Ereignisse im Verhältnis zu seinen eigenen Handlungen auf. Diesen F^ntwicklungsverlauf gibt es aber nur mit Bezug auf die eigene Person. Andere Personen und ihr Handeln tauchen in seiner Erzählung mehr oder weniger so auf, wie er ihnen begegnet ist. [...] Die Bilder des Sprechers unterscheiden sich beträchtlich an Klarheit, aber sie sind stets seine eigenen. Wenn er auch gelegentlich die Geschichten anderer Leute wiederholt, so erzählt er die Geschichte doch nicht so, als ob er die andere Person wäre und deren Ereignisse und Gefühle rekonstruierte. Er beschreibt vielleicht das Tun einer anderen Person und das Motiv dafür, soweit es ihn selbst betrifft, aber weiter geht seine Rollenübernahme nicht — er übernimmt nicht die Rolle eines anderen gegenüber wiederum anderen, außer gelegentlich in einer impliziten Art und Weise: „Einige Leute haben anderen geholfen, die verletzt waren." Diese Grenze kommt besonders deutlich heraus, wenn das Verhalten von mehr als zwei oder drei Personen

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Die Konstruktion des Objekts

beschrieben und aufeinander bezogen wird. Dann wird die Beschreibung verworren: Bestenfalls berichtet der Sprecher einige Reaktionen, aber es entsteht kein klares Bild der Interaktion. Entweder wird die Interaktion nicht registriert oder ist nur implizit in der Mitteilung enthalten („Wir rannten hinüber, um nach ihnen zu sehen, und sie waren in Ordnung"). Selbst bei sorgfaltiger Nachfrage ist die Situation nicht viel genauer zu klären. Die Sprecher, die am wenigsten verständlich sind, können den Interviewer völlig durcheinander bringen, wenn er Bildern, Handlungen, Personen und Ereignissen zu folgen versucht, die aus dem Nirgendwo zu kommen scheinen und ohne Vorwarnung wieder verschwinden. Mittelschicht. — Die Mittelschicht kann mit der besten Darstellung der Unterschicht durchaus mithalten, was Mitteilung und Ausführlichkeit in direkter Beschreibung angeht. Doch ist die Beschreibung nicht an eine so enge Perspektive gebunden. Sie kann von jedem der verschiedenen Standpunkte aus gesehen werden: Etwa von einer anderen Person aus, einer Klasse von Personen, einer Organisation, einer organisationsspezifischen Rolle oder selbst von der ganzen Stadt aus. Der Mittelschichtensprecher ist in der Lage, das Verhalten von anderen, einschließlich Klassen von anderen, von ihrem Standpunkt aus zu beschreiben, und er kann dabei Handlungssequenzen so beschreiben, wie andere sie sahen. Selbst Beschreibungen des eigenen Verhaltens werden oft von anderen Standpunkten aus gegeben. Korrespondenz

der Vorstellungen von Hörer und Sprecher

Die Menschen unterscheiden sich in ihrer Fähigkeit, die Notwendigkeit zu erkennen, sprachlich zwischen ihren eigenen Vorstellungen und denen ihrer Hörer zu vermitteln. [...] Wenn der Kontext dessen, worum es im Gespräch geht, für beide physisch sichtbar oder aufgrund der Ähnlichkeit vergangener Erfahrungen für beide gemeinsam vorhanden ist oder implizit aufgrund früherer Interaktion gegeben ist, ist das Problem des Kontexts weitestgehend gelöst. Aber wenn der Kontext weder in dieser Weise gegeben, noch vom Sprecher zur Verfügung gestellt wird, wird der Hörer mit verzwickten Interpretationsproblemen konfrontiert. In den Berichten der Befragten, die sich am wenigsten verständlich machen konnten, fanden wir Bilder-Folgen wie im Traum, mit wenig verbindenden, qualifizierenden, erklärenden oder anderen Elementen, die einen Kontext herstellen konnten. Daher kam der Interviewer in arge Bedrängnis, den Sinn des Berichts mitzubekommen, und mußte auf Schritt und Tritt darauf achten, daß nicht der Sprecher bildlich mit der Situation davonlief. Die Befragten waren bereit und oft ganz eifrig, ihre Geschichten zu erzählen, aber die Absicht, sich mitzuteilen, mündet nicht immer in klare Kommunikation. Das nämlich erfordert unter anderem die Fähigkeit, die eigenen Worte so zu hören, wie andere sie hören. Unterschicht·. — Angehörige der Unterschicht zeigten sich relativ unsensibel gegenüber der Verschiedenheit der Perspektiven. Im günstigsten Fall korri-

Konstruiertes Objekt oder Artefakt. Schatzman/Strauss

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gierte sich der Befragte in bezug auf die genaue Zeit, zu der er etwas Bestimmtes tat, oder wenn er merkte, daß sein Zuhörer bei dem Ereignis nicht dabei war, und ordnete dann die Dinge und Geschehnisse für ihn ein. Manchmal erreichte er die Ebene der Fremdperspektive: „Sie können sich nicht vorstellen, wie das war, wenn Sie nicht dabei waren." Trotzdem ist seine Annahme einer Übereinstimmung der Vorstellungen bemerkenswert. Die Namen von Personen werden genannt, ohne daß diese identifiziert würden, und oft werden Begriffe wie „wir" und „sie" ohne eindeutigen Bezug benutzt. Der Sprecher antizipiert selten Reaktionen auf seine Mitteilung und scheint kaum das Bedürfnis zu spüren, besondere Merkmale seines Berichts zu erklären. Selten qualifiziert er eine Äußerung, wahrscheinlich weil er es für selbstverständlich hält, daß seine Wahrnehmungen die Wirklichkeit repräsentieren und von allen, die dabei waren, geteilt werden. Da er so vieles für selbstverständlich halten kann, fehlt es seiner Erzählung an Tiefe und Reichtum; sie enthält auch fast keine Spezifizierungen und wenig echte Beispiele. Der Hörer wird sehr häufig mit einem beschreibenden Fragment konfrontiert, das vermeintlich eine komplettere Geschichte repräsentiert. Der Sprecher fügt dann vielleicht Redensarten wie „and stuff like that" oder „and everything' dazu. Solche Redensarten sind nicht eigentliche Zusammenfassungen, sondern Ersatz für Detailliertheit und Abstraktion. Zusammenfassende Feststellungen sind in Wirklichkeit gar nicht vorhanden, denn sie bedeuten ja, daß die Sprecher ein Gefühl haben für die Bedürfnisse des Hörers. Bestimmte Redensarten, die wie Zusammenfassungen aussehen — wie etwa „das ist alles, was ich weiß" und „so war es" —, zeigen lediglich, daß das Wissen des Sprechers erschöpft ist. Andere zusammenfassungsartige Redeweisen wie „es war zum Erbarmen" sind eher Nebenbemerkungen, mehr Reflexionen des Selbstgefühls oder der Emotion als Resümees dessen, was zuvor geschildert wurde. Mittelschicht. — Der Befragte aus der Mittelschicht macht ebenfalls gewisse Unterstellungen über die Übereinstimmung zwischen den Vorstellungen des anderen und seinen eigenen. Im Gegensatz zur Unterschicht erkennt er aber dennoch viel eher, daß Vorstellungen verschieden sein können und daß Gemeinsamkeit erst hergestellt werden muß. Von daher benutzt er viele Elemente, um den Kontext herzustellen und Bedeutungen zu klären. Er spezifiziert genau, faßt zusammen und versieht die Szene mit reichhaltigem einführendem Material, illustriert oft, nimmt Skepsis vorweg, lokalisiert und identifiziert Orte und Personen sorgfältig — alles mit großer Vielfalt im Detail. F> verläßt sich wenig auf Sprüche wie „Sie wissen schon"; er besteht darauf, etwas zu erklären, wenn er erkennt, daß es in einem Punkt an Plausibilität oder Nachdruck fehlt. Fir versäumt es daher selten, ein Bild oder eine Reihe von Bildern in Zeit und Raum zu verorten. Besonders bemerkenswert ist der häufige Gebrauch von genauen Spezifikationen. Das zeigt nicht nur vielfaltige Perspektivierung, sondern auch eine sehr große Auf-

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Die Konstruktion des Objekts

merksamkeit gegenüber Hörern, konkreten oder potentiellen — einschließlich des Sprechers selbst. Kurz, der Befragte aus der Mittelschicht hat das, was man „Kommunikationskontrolle" nennen könnte, jedenfalls in einer solchen halbformellen Situation wie dem Interview. Bildlich ausgedrückt steht er zwischen seinen eigenen Bildern und dem Hörer und sagt: „Lassen Sie sich von mir einführen in das, was ich sah und hörte." Es ist, als ob er einen Film drehte, über mehrere Kameras verfügte, die auf verschiedene Perspektiven ausgerichtet sind, und beim Drehen sorgfaltig auf die Wirkung achtete. Im Gegensatz dazu erscheint der Sprecher aus der Unterschicht eher wie eine einzelne Kamera, die die Szene vor dem Publikum abspult. [...] Der Mittelschichtangehörige steht — wegen seiner größeren Aufmerksamkeit für seinen Zuhörer, nehmen wir an — eher außerhalb seiner Erfahrung. Er erzählt einem nicht so sehr, was er sah, sondern formt eine Geschichte über das, was er sah. Die Geschichte mag in unterschiedlichem Maße korrekt sein, aber insofern sie ein organisierter Bericht ist, hat sie sowohl die Vorzüge als auch die Fehler der Organisierung. Inwieweit die jeweiligen Berichte von Mittelschicht- und Unterschichtsprechern in ihrer Genauigkeit vergleichbar sind, ist hier nicht relevant; die größere Objektivität der ersteren bedeutet lediglich größere Distanz zwischen Erzähler und Ereignis. Bei der Organisation seines Berichts ist sich der Mittelschichtsprecher sowohl des anderen als auch seiner selbst bewußt. Er kann mitten im Reden abbrechen, die Richtung ändern, und, allgemein gesprochen, große Kontrolle über den Verlauf seiner Mitteilungen ausüben. Der Sprecher aus der Unterschicht scheint dagegen weniger Voraussicht zu besitzen und scheint nur zu kontrollieren, wieviel er dem Interviewer sagen will oder ob er es überhaupt sagen will, wiewohl er vermutlich einige stilistische Kontrollen haben muß, die für einen Mittelschichtinterpreten nicht ohne weiteres erkennbar sind. Klassifik,ationen

und klassifikatorische

Beziehungen

Unterschicht — Die Informanten stellen Beziehungen hauptsächlich zu den Handlungen und Rollen besonderer Personen her, die sie häufig mit Eigenoder Familiennamen bezeichnen. Das sorgt für einigermaßen klare Bezeichnung und Beschreibung, aber nur solange der Bericht auf die Erfahrungen besonderer Individuen begrenzt ist. Kommt man an einen Punkt, wo der Interviewer Informationen über Klassen von Personen und ganze Organisationen haben möchte, und wie sie auf den Informanten einwirkten, wird der Unterschichtensprecher ziemlich oder ganz undeutlich. Schlimmstenfalls kann er nicht über Kategorien von Personen oder Handlungen reden, weil er offensichtlich nicht ohne Schwierigkeit in Begriffen von Klassen denkt. Fragen über Organisationen wie ζ. B. das Rote Kreuz werden umgewandelt in gegenständliche Ausdrücke, so spricht er über das Rote Kreuz, „das den

Konstruiertes Objekt oder Artefakt. Schatzman/Strauss

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Leuten hilft" und „die Leute, die anderen helfen", wobei er nur in sehr groben Zügen erfaßt, wie organisatorische Aktivitäten miteinander verknüpft sind. Wenn er Kategorien bildet, so nur in rudimentärer Form: „Einige Leute rannten; andere Leute sahen in die Häuser hinein." Der Interviewer bekommt ein skizzenhaftes und impressionistisches Bild. Es wird etwas vermittelt von der Verwirrung, die auf den Tornado folgte, aber die Beschreibung ist sehr wenig organisiert. Der Informant kann Klassen in Form von Entgegensetzungen (reich und arm, verletzt und nicht-verletzt) erwähnen oder Gruppen von leicht erfaßbaren gegensätzlichen Handlungen aufzählen, aber weder führt er die Beziehungen zwischen diesen Klassen anderweitig aus, noch beschreibt er eine Szene systematisch in Begriffen von Klassen, die explizit oder eindeutig aufeinander bezogen sind; eine Darstellung, die eine Verschiebung des Standpunktes voraussetzen würde. Es ist offensichtlich, daß die Sprecher hauptsächlich in partikularistischen oder konkreten Begriffen denken. Gewiß muß klassifikatorisches Denken bei vielen oder allen Informanten vorhanden sein; aber im Gespräch mit dem Interviewer sind Klassenbegriffe rudimentär oder gar nicht vorhanden und Beziehungen zwischen Klassen nur implizit: Beziehungen werden nicht ausdrücklich festgestellt oder werden vage gehalten. Fxhte Illustrationen fehlen fast vollständig, entweder weil sie Klassifikationen erfordern oder weil wir — als Beobachter aus der Mittelschicht — nicht erkennen, daß bestimmte Einzelheiten Klassen enthalten sollen. Mittelschicht·. — Die Mittelschichtsprache ist reich gespickt mit klassifikatorischen Ausdrücken, besonders wenn der Erzähler über das spricht, was er gesehen hat und nicht so sehr über sich selbst. Vor allem, wenn er beschreibt, was andere Leute tun, klassifiziert er Handlungen und Personen, und meistens bezieht er Klassen aufeinander. Oft sind seine Beschreibungen kunstvoll um das herum organisiert, was verschiedene Kategorien von Personen getan oder erfahren haben. Wenn ein Beispiel verwendet wird, ist es klar, daß der Sprecher meint, es stehe für eine allgemeine Kategorie. Hilfsorganisationen und andere zivile Organisationen werden aufgefaßt als Formationen oder Strukturen von koordinierten Rollen und Handlungen; einige Leute packen ihre ganze Erzählung der Katastrophenereignisse in organisatorische Begriffe, lassen sich kaum herab, Eigennamen oder persönliche Berichte zu geben. Kurz, konkrete Bilder nehmen in der Mittelschicht-Kommunikation wenig Raum ein oder werden überschattet von der überwiegend begrifflichen Terminologie und ihrem Reichtum. Mühelos wird die Rede um Klassifikationen herum organisiert, und unzweifelhaft ist der Sprecher sich dessen kaum bewußt. Dies bildet einen Teil im Gepäck seiner formalen und informalen Bildung. Das soll nicht heißen, daß Mittelschichtangehörige immer in klassifikatorischen Ausdrücken denken und sie benutzen, denn dies ist zweifellos nicht der Fall. F2s kann zwar sein, daß die Interview-Situation sie dazu bringt,

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Die Konstruktion des Objekts

wohlgeordnete Beschreibungen zu produzieren. Dennoch schließen wir, daß das Denken und Sprechen von Mittelschichtangehörigen im allgemeinen weniger konkret ist als das der Unterschicht. Organisierende

Ideen und stilistische

Mittel

Eines der Erfordernisse der Kommunikation ist, daß Äußerungen organisiert werden. Es muß jedoch nicht sein, daß das Prinzip der Organisation vom Sprecher explizit angegeben oder vom Zuhörer wahrgenommen wird. Organisierende Ideen können unterschiedlicher Art sein. Auf diese Weise wird eine Ordnung der Beschreibung des Informanten häufig durch die Interviewer-Frage vorgegeben, oder der Befragte kann seinen eigenen Rahmen setzen („Es gibt eine Sache, die Sie wissen sollten"). Der Rahmen kann gemeinsam von beiden konstruiert werden, vom Interviewer und vom Interviewten, wenn etwa der erstere eine offene Frage stellt, in deren sehr weiten Grenzen der Informant seine Beschreibung in einer Art ordnet, die ihm als geeignet oder treffend erscheint. Der Informant mag in der Tat seinen Bericht stark so organisieren, als ob er eine besondere Art von Geschichte oder Drama erzählte, indem er die Fragen des Interviewers als kaum mehr als allgemeine Hinweise darauf benutzt, was verlangt ist. Die große Zahl von Ereignissen, Zufallen und Bildern, die dem Hörer nahegebracht werden muß, mag ganz beiläufig, gefällig, dramatisch oder der Reihenfolge nach behandelt werden; aber wenn sie überhaupt mitgeteilt werden soll, muß sie irgendwie geordnet werden. Stilistische Mittel begleiten und gestalten diese organisierende Idee; Unter- und Mittelschicht benutzen sie auf ziemlich unterschiedliche Weise. Unterschicht·. — Die Eröffnungsfrage des Interviewers „Erzählen Sie mir Ihre Geschichte über den Tornado" lädt den Befragten ein, eine aktive Rolle bei der Organisierung seiner Erzählung zu spielen; und manchmal tut er das. Dennoch, mit Ausnahme einer Person, die eine wilde persönliche Erzählung lieferte, gaben die Befragten keine langen, gut organisierten oder straff verknüpften Bilder dessen, was ihnen während und nach dem Tornado passierte. Diese Art allgemeiner Schilderung kam ihnen entweder nicht in den Sinn, oder sie kam ihnen nicht angemessen vor. Der verwendete Bezugsrahmen ist ausschnitthafter oder begrenzter als derjenige, der von der Mittelschicht benutzt wurde. Es scheint mehrere Arten solcher Rahmenkonstruktionen zu geben; ihre Perspektive ist personenbezogen. Das eine ist die persönliche Erzählung; Ereignisse, Handlungen, Bilder, Personen und Orte erhalten hier eine sequentielle Ordnung. Stilistische Mittel fördern diese Art der Organisation: Zum Beispiel grobe temporale Konjunktionen wie „then", „and" und „so" und der Bericht von Bildern oder Ereignissen, wie sie erinnert werden oder wie sie im Fortgang der Erzählung auftauchen. Nebenbemerkungen können verwandtschaftliche Beziehungen oder die Lokalisierung des Individuums im Raum verdeutlichen. Solange aber die Abfolge der Erzählung

Konstruiertes Objekt oder Artefakt. Schatzman/Strauss

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für den Sprecher nicht zwingend ist, schweift er gerne ab in Einzelheiten über einen besonderen Vorfall, und dieser Vorfall liefert dann seinerseits die Anknüpfung für die Nennung weiterer Ereignisse. Ebenso kann, wenn eine Frage des Interviewers in die Erzählung einbricht, diese Anlaß für eine Antwort geben, die aus einer Anzahl von Bildern oder einem Vorfall zusammengesetzt ist. Oft wird ein Vorfall der Auslöser für einen anderen; aber auch wenn für den Sprecher eine logische oder temporäre Verbindung zwischen ihnen bestehen mag, kann diese vom Interviewer selten wahrgenommen werden. Von daher ist es wahrscheinlich, daß der Informant den jeweiligen Rahmen schnell wieder verläßt. Die große Gefahr bei Sondierungen und Nachfragen ist, daß der Sprecher den Faden seiner Erzählung und damit auch häufig die Frage des Interviewers aus dem Auge verliert. Als Entschädigung hierfür mag der Interviewer brauchbare und unerwartet reichhaltige Informationen aus den Abschweifungen erhalten, auch wenn er tiefer in dieses Material eindringen muß, um es in einen Zusammenhang zu bekommen. Allgemeine Fragen sind besonders geeignet, den Sprecher abschweifen zu lassen, da sie lediglich einen losen Rahmen vorgeben. [...] Wenn eine Frage gestellt wird, die abstrakte Klassen betrifft oder „jenseits" des Befragten liegt — eine Frage, sagen wir, über Hilfsorganisationen —, dann finden wir sehr allgemeine Antworten oder konkrete Aufzählungen von Beispielen oder es werden dadurch Bilder ausgelöst. Wenn der Interviewer insistiert, weil er Näheres über ein Ereignis erfahren will, erhält er gewöhnlich wenig mehr als eine Wiederholung oder eine Art blinder Aufzählung von Bildern oder Vorfällen, von denen angenommen wird, daß sie das gewünschte Bild ausfüllen. Daß so selten ausführlich berichtet wird, hängt wahrscheinlich mit der Unfähigkeit zusammen, aus unterschiedlichen Perspektiven zu berichten. [...] Mit Informanten aus der Unterschicht muß der Interviewer in der Regel sehr viel Mühe aufwenden, um eine verständliche Gliederung in das Interview hineinzubekommen. Das tut er, indem er dem Befragten viele kleine Untergliederungen aufzwingt. Er stellt viele Fragen nach der genauen Zeit, der Lage und Identität der Personen, Ausführung von Einzelheiten und ähnlichem. [...] Die Mittel, die benutzt werden, um die Kommunikation herzustellen, sind sehr schwer zu isolieren, vielleicht, weil wir selbst zur Mittelschicht gehören. Noch am ehesten ist die Verwendung grober chronologischer Angaben anzuführen (z. B. „then ... and then"), das Nebeneinanderstellen oder das direkte Gegeneinanderstellen von Klassen (ζ. B. reich und arm) und die serielle Anordnung von Ereignissen. Es ist jedoch auffällig, daß die für die Mittelschichtinterviews charakteristischen ausgefeilten Elemente fehlen. Mittelschicht·. — Ohne Ausnahme stellten Mittelschichtinformanten das gesamte Interview in ihren eigenen umfassenden Rahmen. Obwohl sie im allgemeinen gegenüber den Bedürfnissen des Interviewers sehr offen waren, gaben sie doch ihren eigenen Bericht. Das zeigte sich manchmal gleich von

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Die Konstruktion des Objekts

Beginn an; viele Informanten geben als Antwort auf die Einladung des Interviewers „Erzählen Sie mir Ihre Geschichte" eine ausführliche Schilderung. Die organisierende Gliederung mag eine flüssige Erzählung hervorbringen, die den Erzähler und die anderen in ein dichtes Netz aus Einzelheiten einbindet; sie mag ein relativ statisches, aber reichhaltiges Bild einer Gemeinschaft in Not liefern; oder sie mag mit dramatischen oder geradezu bühnenreifen Elementen ein kompliziertes Netz von Beziehungen in dramatischer Bewegung zeigen. Die ganze Stadt kann als Bezugsrahmen genommen und ihre Geschichte in Raum und Zeit dargestellt werden. Neben dem Hauptgliederungsprinzip benutzt der Mittelschichtbefragte viele Untergliederungen. Er kann, wie der Unterschichtangehörige, von einer Frage ausgehen. Aber wenn er das tut, insbesondere wenn die Frage durch ihre Allgemeinheit oder Abstraktheit viel Spielraum gewährt, gibt er meist eine Antwort, die um einen Unter-Punkt herum organisiert ist, der seine Auswahl und die Anordnung seiner Themen ordnet. Er wechselt vielleicht sogar von einem Bild zu einem anderen, aber selten sind diese ohne Verbindung zu der Frage, die sie ursprünglich hervorrief. Er gibt auch eher eine ausführlichere Darstellung als daß er einfach etwas wiederholt oder vereinzelte Wahrnehmungen wiedergibt. [...] Weil er mehrere Perspektiven eingenommen hat, kann der Befragte lange Nebenbemerkungen einfügen, die parallel laufenden Handlungen anderer Personen im Verhältnis zu sich selbst diskutieren, mannigfache Vergleiche zur Anreicherung der Einzelheiten und des Verständnisses ziehen — und kann danach zum Ausgangspunkt zurückkehren und von da aus weiter erzählen. Vielfach bereitet er seinen Zuhörer zunächst auf die Abschweifung vor und schließt dann den Kreis mit einer zusammenfassenden Feststellung oder einer Transition wie „well — anyhow", die das Ende der Abschweifung markiert. [...] Nur wenn berücksichtigt wird, wie sich die Interview-Situation für den Informanten darstellt, befindet man sich bei der Interpretation von Klassenunterschieden auf sicherem Grund. Betrachten wir zunächst die Bedeutung, die das Interview für den Angehörigen der Mittelschicht wahrscheinlich hat. Der Interviewer ist zwar ein Fremder, ein Außenseiter, aber er ist eine redegewandte, gebildete Person. Er möchte Auskunft im Namen einer Organisation; von daher haben seine Fragen nicht nur ihre Berechtigung, sondern stecken auch den Rahmen ab für eine gewisse Freiheit der Rede wie für die Verpflichtung, richtige und vollständige Auskunft zu geben. Der Informant ist zwar möglicherweise noch nie vorher von einer Forschungsorganisation befragt worden, aber er hat oft schon längere, relativ offene und verantwortungsvolle Gespräche mit Vertretern von Organisationen geführt. Zumindest ist er nicht unerfahren darin, mit gebildeten Fremden zu sprechen. Wir können auch unterstellen, daß der Lebensstil der Mittelschicht ihn häufig dazu bringt, sehr sorgfältig darauf zu achten, daß er nicht mißverstanden wird. Daher wird er verhältnismäßig sensibel für Kommunikation überhaupt

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und für Kommunikation mit Personen sein, die seine Ansichten oder seine Werte möglicherweise nicht teilen. Die Kommunikation mit solchen Zuhörern erfordert, daß man nicht nur auf die Bedeutungen dessen achtet, was man selbst sagt, sondern ebenso auf den möglichen Sinn dessen, was der andere sagt. Die Rollenübernahme mag häufig ungenau sein, aber sie ist deutlich wirksam. Wer die Reaktionen auf das, was er gesagt hat oder sagen will, wahrnimmt und vorwegnimmt, kann flexible und phantasievolle Methoden der Richtigstellung, genaueren Beschreibung, Plausibilisierung, Erklärung, Reformulierung entwickeln — kurz, er übernimmt viele verschiedenartige Perspektiven und kommuniziert in ihren Begriffen. Eine Vielzahl von Perspektiven beinhaltet eine Vielzahl von Methoden der Ordnung oder Gliederung von Details. Mehr noch, er ist in der Lage, ausdrücklich zu klassifizieren und Klassen in Beziehung zueinander zu setzen, was nichts ist als eine andere Art zu sagen, daß er gebildet genug ist, verschiedenartige Perspektiven von ziemlicher Reichweite einzunehmen. Es wäre sicherlich zu viel zu behaupten, daß Angehörige der Mittelschichten immer so sensibel reagieren. Kommunikation ist oftmals routinisiert, und vieles kommt bei Leuten, die sich gut kennen oder viel miteinander gemeinsam haben, auch an, ohne daß sie besonders subtil zu sein brauchen. Auch im sogenannten „expressiven" Verhalten wird die einfühlsame Rollenübernahme nicht praktiziert, etwa bei Beschimpfungen oder Geschrei während eines Ballspiels. Unter dem Vorbehalt, daß Mittelschicht-Sprechen zu einem großen Teil unter solchen Bedingungen zustandekommt, kann man doch einigermaßen sicher sagen, daß Leute aus dieser Schicht, wenn erforderlich, einen komplexeren und bewußt organisierten Diskurs handhaben können. Diese Art von Diskurs verlangt außer Geschichte und Scharfsinn auch, daß man einen Zuhörer mit subtilen Mitteln auf Distanz halten und gleichzeitig durchaus angemessen informieren kann. Betrachten wir nun, selbst auf die Gefahr einer Überfrachtung des Falles, wie die Unterschicht das Interview sieht. Der Interviewer ist aus einer höheren sozialen Schicht als der Befragte, so daß das Interview eine „Unterhaltung zwischen verschiedenen Schichten" ist. Es ist vollkommen wahrscheinlich, daß solche Gespräche zwischen Schichten größere Anstrengungen und Fähigkeiten verlangen als solche zwischen Mittelschicht-Befragten und Mittelschicht-Interviewer. F2s überrascht nicht, daß der Interviewer häufig aus dem Konzept gebracht wird und daß der Befragte häufig die Fragen falsch versteht. [...] Ein Angehöriger der Unterschicht aus einer Stadt in Arkansas trifft selten einen Angehörigen der Mittelschicht in einer dem Interview entsprechenden Situation. Er muß hier einem Fremden ausführlich über persönliche Erfahrungen berichten und sich für ihn an eine ungeheure Zahl von Einzelheiten erinnern. Über solche Dinge und in solchen Einzelheiten spricht er wohl gewöhnlich nur mit Zuhörern, mit denen er viele Erfahrungen und Symbole

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Die Konstruktion des Objekts

gemeinsam hat, so daß er sich nicht allzu viele Gedanken über Kommunikationstechniken machen muß. Er kann in der Regel davon ausgehen, daß Worten, Sätzen und Gesten von seinen Zuhörern nahezu gleiche Bedeutungen zugeschrieben werden. Dies ist im Interview aber nicht der Fall, und in keiner Situation, in der eine Schicht mit einer anderen in nichttraditioneller Weise spricht. Es bleibt die Frage, ob die Beschreibung der Wahrnehmungen und Erfahrungen, wie sie der Angehörige der Unterschicht liefert, lediglich unangemessen ist oder ob dies die Art ist, wie er wirklich sieht und erlebt. Gibt seine Rede gewohnte „konkrete" Modi des Denkens und der Wahrnehmung korrekt wieder, oder ist es so, daß er zwar in abstrakten und klassifikatorischen Begriffen und von mehreren Perspektiven her wahrnimmt, aber unfähig ist, seine Wahrnehmungen zu vermitteln? Wenn man nicht davon ausgeht, daß, wenn er in vertrauter Atmosphäre zu vertrautem Publikum spricht, Rede und Gesten verschiedene Perspektiven verkörpern, was, wie wir bereits gezeigt hatten, unwahrscheinlich ist, muß man schließen, daß die Rede in gewissem Sinne das Denken wiedergibt. An diesem Punkt sollte der Leser vielleicht am besten seine eigenen Schlüsse ziehen; dennoch wollen wir noch einige weitere Belege und Interpretationen aufführen, die sich aus der Analyse der Interviews ergeben. In jeder Situation, die eine Beschreibung menschlicher Handlungen erfordert, ist es notwendig, motivationale Ausdrucksweisen zu benutzen, entweder explizit oder implizit, allein schon deshalb, weil Handlungen benannt werden müssen. Bei Leuten, die wenig auf Disparitäten zwischen ihren Vorstellungen und denen ihrer Zuhörer achten, sind explizite motivationale Ausdrücke selten. Der häufige Gebrauch des Ausdrucks „of course" in der Unterschicht, gefolgt von etwas wie „sie gingen weg, um nach ihren Leuten zu schauen", impliziert, daß es fast nicht notwendig ist zu sagen, was „sie" taten, wieviel weniger noch den Grund anzugeben für das Tun. Das Motiv („schauen nach") ist implizit und abschließend, es muß weder erläutert noch erklärt werden. Wo die Motive angesprochen werden („sie brauchten Hilfe, daher gingen wir dort hin"), sind sie oft unbegründet und könnten ebenso weggelassen werden [...]. Dem Sprecher war es völlig klar, warum die Leute taten, was sie taten. Es gab keinen Grund zu fragen oder nach den Gründen zu fragen oder die Gründe für Handlungen zu erläutern. Auf Nachfragen hin kam vom Informanten nicht viel mehr: Er verwendete dann zwar motivationale Begriffe, aber innerhalb eines sehr engen Bereichs. Die Begriffe, die er gewöhnlich benutzte, bezogen sich auf verwandtschaftliche Verpflichtungen, Sorge um das Eigentum, humanitäre („Helfer"-) Gefühle und Handeln aus Gründen der Neugier („wir gingen hin, um nachzusehen"). [...] Angehörige der Mittelschicht zeigen sich vertraut mit einer Vielzahl spezifischer „Gründe", die es für bestimmte Handlungen geben kann. Die Komplexität ihres Denkens erlaubt es, Aktivitäten auf mannigfaltigste Art

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und Weise zu definieren und zu beschreiben. Hier gibt es in der Tat ein Instrument, diffuse Bilder („Sie rannten nach überall hin") aufzulösen in Klassen von Handlungen und Ereignissen. Der Angehörige der Mittelschicht ist aus dem einen Grunde dazu in der Lage, weil er über eine abstrakte motivationale Terminologie verfügt. Außerdem erfordern die feinen und subtilen Unterscheidungsmerkmale zur rationalen Erklärung von Verhalten Mittel, die sicherstellen, daß sie vom Hörer auch begriffen werden. In einem tatsächlichen Sinne kann das Bedürfnis, Verhalten zu erklären, mit dem Bedürfnis verknüpft sein, richtig zu kommunizieren — sowohl vernünftig zu erklären als auch objektiv zu sein. Von daher ist mit motivationaler Redeweise ein stetiger Fluß von spezifizierenden und verallgemeinernden Ausdrücken verbunden („ich weiß nicht warum, aber es könnte sein, er glaubte, daß es keine Alternative gab"). Es überrascht nicht, daß der Mittelschicht Elemente der gesellschaftlichen Struktur ebenso geläufig sind wie individuelles Verhalten. Sicherlich beruht dies nicht nur auf dem Kontakt mit Institutionen, sondern auch auf der Fähigkeit, abstrakte Klassen von Handlungen wahrzunehmen und darüber sprechen zu können. Der Angehörige der Unterschicht andererseits scheint nur rudimentäre Begriffe von organisatorischen Strukturen zu haben — zumindest was Hilfs- und Rettungsorganisationen angeht. Ein intensiverer Kontakt mit ihren Vertretern würde ihn ohne Zweifel nicht nur mit den Organisationen vertraut machen, sondern auch mit dem Denken in organisatorischen oder abstrakten Begriffen. Die Neigung der Unterschicht, die Aktivitäten der Hilfsorganisationen ganz konkret zu formulieren, bestätigt die Beobachtung von Warner, daß die untersten Schichten wenig Wissen oder „Gespür" für die sozialen Strukturen ihres sozialen Umfeldes haben. Daraus ergibt sich auch, daß es schwierig sein dürfte, ihnen relativ abstrakte Informationen durch formale Kommunikationsmedien zu vermitteln.

Leonard Schatzman und Anselm Strauss „Social Class and Modes of Communication"

Subjektive Bilder und objektive Bezugssysteme J. H. Goldthorpe und D. H. Lockwood begnügen sich nicht mit einer Kritik des schon lange umstrittenen Verfahrens, bei dem die befragten Personen aufgefordert werden, ihren P/at% in der socialen Hierarchie selber bestimmen, um so die Distan% ^wischen den Klassen untersuchen können. Ihre Analyse zeigt außerdem, daß bei jeder Erhebungstechnik zugleich danach gefragt werden muß, inwieweit sie der Problemstellung gerecht wird (wobei die Kenntnis der Meinung der befragten Personen kein lirsat^ für eine objektive Erfassung^ der Beziehungen %wischen den socialen Gruppen sein kann) und ob die Abstraktionen, die sie vornimmt, gut oder schlecht sind: 1'ordert man die befragten Personen auf, die Position in der So^ialstruktur ^u bestimmen, die sie für sich in /Anspruch

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nehmen, und macht sich nicht die Mühe, diese So^ialstruktur und vor allem die Vorstellung kennenyulernen, die sich diese Personen von ihr machen, behandelt man eine „Gestalt" wie eine „Serie jeweils separater und in keinerlei Beziehung zueinander stehender Antworten"*

26. J. H. Goldthorpe und D. Lockwood Die Ergebnisse von Meinungs- und Einstellungsuntersuchungen, die als relevant für die These der Verbürgerlichung zitiert worden sind, können in Kürze wie folgt zusammengefaßt werden. In einer ganzen Reihe von Untersuchungen der letzten Jahre, die insgesamt eine relativ große Zahl von Arbeitern erfaßt haben, haben jeweils erhebliche Anteile von Arbeitern — in der Größenordnung von 10% bis über 40% — angegeben, zur Mittelklasse zu gehören. In einigen Untersuchungen, wenn auch keineswegs in allen, wurde dann auch gezeigt, daß diese Zuordnung bis zu einem gewissen Grad mit anderen Ausdrucksformen von Mittel klassenzugehörigkeit korreliert — zum Beispiel mit der Wahl der Konservativen. Darauf gründete das Argument, daß das Klassenbewußtsein der Arbeiter schwächer werde und daß viele Arbeiter sich nicht länger mit anderen Personen in derselben objektiven Klassenlage identifizieren wollten, sondern sich selbst lieber als Teil einer höheren gesellschaftlichen Schicht auf einer Ebene mit den Angestellten, den Selbständigen etc. sähen. Unsere Kritik an dieser Argumentation gilt in erster Linie der hierbei vorrangig angewandten Untersuchungsmethode, nämlich dem Versuch, die Wahrnehmung der eigenen Position in der Klassenstruktur und die Klassenidentifikation der Individuen mit Hilfe von standardisierten Interviews herausfinden zu wollen. [...] Zum einen ist bekannt, daß Antworten auf Fragen wie „Zu welcher gesellschaftlichen Klasse würden Sie sich rechnen?" signifikant variieren können, je nachdem, ob der Befragte ein vorgegebenes Schema von Klassenkategorien vorgelegt bekommt, oder ob die Kategorisierung offen bleibt. Zum zweiten ist ebenso bekannt, daß die Verwendung kategorialer Vorgaben (was gewöhnlich der Fall ist), ein breites Spektrum an Variationen im Antwortmuster produziert, entsprechend den jeweils vorgegebenen Klassenbezeichnungen — zum Beispiel je nachdem, ob von „Unterschicht" gesprochen wird anstelle von „Arbeiterklasse" oder ob beides vorkommt. Zum dritten, und vielleicht am wichtigsten, ist deutlich geworden, daß Antworten auf Fragen zur Klassenzugehörigkeit, die nominell gleich sind und deshalb vom Forscher zu einer Gruppe zusammengefaßt werden, in Wirklichkeit für die verschiedenen Befragten sehr unterschiedliche Bedeutungen haben. Solche

* Zum Stellenwert dieser Kritik der in den Erhebungen zur sozialen Schichtung üblicherweise angewandten Techniken in der allgemeinen Diskussion, s. o., Text Nr. 6, S. 114.

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Antworten werden nämlich nicht nur von der Form der gestellten Frage beeinflußt, die für eine gegebene Stichprobe konstant gehalten werden kann, sondern auch von den eigenen Vorstellungen der Befragten zu ihrer Gesellschaft und deren Klassenstruktur, die bekanntermaßen recht variabel sein können. Deshalb wird dieselbe Frage von vielen verschiedenen und möglicherweise sehr verschiedenen Grundvorstellungen her beantwortet werden. So kann zum Beispiel die Angabe eines Arbeiters, er gehöre zur „Mittelschicht", unter anderem einen der folgenden Aspekte meinen: a) daß der Befragte sich nicht mit denen identifiziert, die er als die niedrigste Schicht der Gesellschaft betrachtet, und daß er sich von diesen unterscheiden möchte, also etwa von Gelegenheitsarbeitern oder Leuten am Rande der Armut; b) daß er seine Position in der Mitte einer breit definierten Arbeiterklasse sieht (von einem objektiven Standpunkt aus betrachtet), die weitgehend seine eigene soziale Welt konstituiert; das heißt, er sieht sich zum Beispiel als über den schlechter ausgebildeten oder schlechter bezahlten Arbeitern stehend, aber als unterhalb von Vorarbeitern, Polizisten, Garagenaufsehern und ähnlichem; c) daß er sich mindestens auf einer Ebene mit vielen Angestellten, kleinen Geschäftsleuten etc. sieht, was die wirtschaftlichen Verhältnisse angeht — also Einkommen und materiellen Besitz; d) daß er nach einem Lebensstil strebt, von dem er weiß, daß er sich zumindest von dem unterscheidet, der gewöhnlich der Arbeiterklasse zugerechnet wird; oder schließlich e) daß er aus einer Familie kommt, die er als Mittelklassenfamilie betrachtet. Wenn man dieses alles berücksichtigt, so kann man nur zu dem Schluß kommen, daß die Ergebnisse der Studien zur Klassenidentifikation, die mit standardisierten Interviews durchgeführt wurden, von geringem soziologischem Wert sind. Es erscheint so gut wie unmöglich, solche Daten in einer Weise zu interpretieren, die verläßliche Angaben über die Wahrnehmung von Klassen oder das Klassenbewußtsein der Befragten lieferte; die Möglichkeiten willkürlicher Variation und Uneindeutigkeit sind bei weitem zu groß. Und gewiß, das würden wir behaupten, geben sie keine valide Grundlage für das Argument ab, daß Arbeiter heute in beträchtlicher Zahl als Angehörige „echter" Mittelklassen-Gruppen gesehen werden wollen oder auch nur, daß sie eine solche Zugehörigkeit anstreben.

John H. Goldthorpe und David Lockwood „Affluence and the British Class Structure"

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Die Konstruktion des Objekts

Kategorien der Eingeborenen-Sprache und die Konstruktion wissenschaftlicher Tatbestände Claude Hevi-Strauss gibt %u bedenken, daß Mauss %ur Erklärung des Mechanismus von Gabe und Gegengabe nur deshalb auf eine Theorie der Hingeborenen, das „hau", zurückgreifen mußte, weil er sich von den Kategorien seiner eigenen Sprache irreführen ließ und dort, wo es nur den einen Tauschvorgang gibt, der nicht analytisch aufgebrochen werden kann, drei verschiedene Vorgänge und also drei verschiedene Verpflichtungen unterschieden hat, nämlich „geben, nehmen, erwidern". Mauss hätte gar nicht erst nach einer Macht suchen müssen, mit der sich die Gegengabe erklären ließe, hätte er sich, statt kritiklos eine Theorie übernehmen, die bloß die bewußte lirklärung einer „unbewußten Notwendigkeit" ist, „deren Grund anderswo liegt", auf die Sprache der Hingeborenen verlassen, die, wie er selber bemerkt, „nur ein einziges Wort haben, um kaufen und verkaufen, leihen und verleihen bezeichnen", Vorgänge also, die ihn die Suggestionen seiner eigenen Sprache für antithetisch halten lassen.

27. C. Levi-Strauss Stehen wir hier nicht vor einem der (nicht so seltenen) Fälle, wo der Ethnologe sich vom Eingeborenen narren läßt? Gewiß nicht vom Eingeborenen im allgemeinen, den es nicht gibt, sondern von einer bestimmten Eingeborenengruppe, wo Spezialisten sich bereits mit Problemen beschäftigen, sich Fragen gestellt und versucht haben, sie zu beantworten. Im vorliegenden Fall verzichtet Mauss darauf, seine Prinzipien bis zum Ende anzuwenden, und übernimmt statt dessen eine neuseeländische Theorie, die einen unschätzbaren Wert als ethnographisches Dokument hat, die jedoch nichts als eine Theorie ist. Daß die Weisen der Maori sich zuerst bestimmte Probleme gestellt und sie auf eine ungemein interessante, aber kaum befriedigende Weise gelöst haben, ist kein Grund, sich ihrer Interpretation zu beugen. Das hau ist nicht der letzte Grund des Austausches: es ist die bewußte Form, in welcher die Menschen einer bestimmten Gesellschaft, in der das Problem eine besondere Bedeutung hatte, eine unbewußte Notwendigkeit erfaßt haben, deren Grund anderswo liegt. Im entscheidenden Augenblick wird Mauss also von einem Zögern und einem Zweifel zurückgehalten. Er weiß nicht mehr genau, ob das Bild der Theorie oder die Theorie der Realität — und zwar jeweils der der Eingeborenen — zu entwerfen ist. Dabei hat er in einem großen Maße recht: die Theorie der Eingeborenen steht in einem viel direkteren Verhältnis zu ihrer Realität als eine Theorie, die ausgehend von unseren Kategorien und unseren Problemen entwickelt würde. Als er schrieb, war es also ein sehr großer Fortschritt, ein ethnographisches Problem von seiner neuseeländischen oder melanesischen Theorie her anzugehen, statt mit okzidentalen Begriffen wie Animismus, Mythos oder Partizipation. Ob jedoch eingeboren oder okzidental, eine Theorie ist immer nur eine Theorie. Sie gibt bestenfalls einen Einstieg, denn was die Interessierten, seien es Feuerländer oder Australier, glauben, ist immer von dem, was sie wirklich denken oder tun, weit entfernt. Nachdem man die Auffassung der Eingeborenen freigelegt hat, müßte man sie durch

Konstruiertes Objekt oder Artefakt. M. Mauss

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eine objektive Kritik reduzieren, die die zugrunde liegende Realität zu erreichen erlaubt. Die Chance nun, daß diese sich in dem bewußt Durchgearbeiteten findet, ist viel geringer als die, daß sie in den unbewußten mentalen Strukturen liegt, die sich durch die Institutionen hindurch und besser noch in der Sprache fassen lassen. Das bau ist ein Produkt der Reflexion der Eingeborenen; die Realität jedoch liegt viel offener zutage in bestimmten linguistischen Zügen, die Mauss nicht versäumte herauszuheben, ohne die ganze ihnen zukommende Bedeutung zu erkennen: Das Papuanische und Melanesische, notiert er, haben „nur ein einziges Wort, um kaufen und verkaufen, verleihen und leihen zu bezeichnen. Die antithetischen Operationen werden durch ein und dasselbe Wort ausgedrückt." Dies beweist hinlänglich, daß die fraglichen Operationen alles andere als „antithetisch", vielmehr nur zwei Modi einer selben Realität sind. Man braucht das hau nicht, um die Synthese zu vollziehen, denn die Antithese existiert nicht. Sie ist eine subjektive Illusion der Ethnographen und häufig auch der Eingeborenen, die sich dann, wenn sie — wie es oft genug vorkommt — über sich nachdenken, als Ethnographen oder genauer als Soziologen verhalten, das heißt als Kollegen, mit denen man diskutieren kann.

„Einleitung zu Soziologie und Anthropologie

Die mit dieser Kritik implizierten bestimmen, wie der Hthnologe seine der Hingebnrenen mit Vorsicht unbewußten Strukturen %u berufen. Sprache vorgenommene Abgrenzung sich nicht notwendig den Kategorien

Claude Levi-Strauss von Marcel Mauss"

methodologischen Grundsätze reichen jedoch nicht aus, um Z" Objekte konstruieren soll. Iis ist nicht damit getan, der Theorie begegnen und sich auf die Sprache als den wichtigsten Ort der Mauss hat an anderer Stelle bemerkt, daß die von irgendeiner keinen Vorrang vor den Konstruktionen des Soziologen hat, der der Hingeborenensprache beugen muß.

28. M. Mauss Nicht zwangsläufig muß ein soziales Phänomen, um zu sein, auch sprachlich seinen Ausdruck finden. Was die eine Sprache mit einem Wort sagt, sagen andere mit mehreren. Es ist nicht einmal nötig, daß sie es überhaupt sagen: Die Vorstellung einer Ursache ist im transitiven Verb nicht explizit enthalten, und doch in ihm vorhanden. Für den sicheren Nachweis der Existenz eines bestimmten Prinzips mentaler Prozesse ist es notwendig und ausreichend, daß sich diese Prozesse nur durch dieses Prinzip erklären lassen. Niemand ist etwa darauf verfallen, die Universalität der Vorstellung des Heiligen infragezustellen, und doch wäre es recht schwierig, ein Wort in Sanskrit oder Griechisch zu finden, das dem (sacer) der Lateiner entspräche: Hier rein (medhja), zum Opfer gehörig ( j a j n i j a ) ,

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Die Konstruktion des Objekts

göttlich (devya), furchterregend (ghora)\ dort heilig (ιερός oder άγιος), ehrwürdig (σεμνός), gerecht (θεσμός), ehrfurchtgebietend (αίδέσιμος). Hatten nun aber Griechen und Hindus etwa kein sehr richtiges und starkes Bewußtsein vom Heiligen? Marcel Mauss „Introduction ä l'analyse de quelques phenomenes religieux"

Malinowski hat die Regeln für die Konstruktion des wissenschaftlichen Objekts am umfassendsten formuliert, nämlich beim Nachdenken darüber, wie die verschiedenen Arten von Gaben, Zahlungen und kommerziellen Transaktionen, die er bei den Trobriandern beobachtet hatte, klassifizieren seien. Zwar ist jene Form des methodologischen Ethno%entrismus, die in der Einführung „künstlicher", von unserer eigenen Terminologie und unseren eigenen Kriterien bestimmten Kategorien besteht, z,u vermeiden, und die Terminologie der Eingeborenen ist ein Mittel zu diesem Zweck, es „muß aber auch bedacht werden, daß [diese] [...] kein Sesam-öffne-dich [...] liefert", da es auf der Ebene von Institutionen und Verhaltensweisen unbewußte „Ordnungsprinzipien" gibt, die der Ethnologe herausarbeiten muß, um die Klassifikation, die sich ihm in der Eingeborenensprache spontan anbietet, kontrollieren zu können. Ganz Gegensatz Zur gängigen Vorstellung von der ethnologischen Methode, die sich durch Treue 7um Konkreten auszeichnet, zeigt Malinowskis Analyse, daß es gerade die Sorge um die konkrete Beschreibung des Verhaltens ist, die dazu führt, daß der Ethnologe nicht Opfer der spontanen Kategorien der Sprache wird, seien dies nun seine eigenen Kategorien oder die der Subjekte, die er untersucht. *

29. B. Malinowski Ich habe absichtlich eher von Formen des Tauschs, der Gaben und Gegengaben gesprochen als von Tauschgeschäften oder Handel; denn es existieren zwar reine und einfache Formen des Tauschhandels, aber zwischen diesem und einfachen Gaben gibt es so viele Übergänge und Abstufungen, daß es unmöglich ist, eine klare Abgrenzung zwischen Handel auf der einen Seite und dem Gabentausch auf der anderen zu ziehen. In der Tat geraten alle Abgrenzungsversuche, die von unserer eigenen Terminologie und unseren begrifflichen Unterscheidungen ausgehen, in Gegensatz zur korrekten Methode. Um diese Fakten angemessen zu behandeln, ist es notwendig, einen vollständigen Überblick über alle Formen von Bezahlung und Geschenk zu geben. Dieser Überblick umfaßt an einem Ende den Extremfall der reinenGgabe, das heißt, einer Gabe, für die nichts zurückgegeben wird. Über viele traditionelle Formen von Gaben oder Zahlungen, die teilweise oder bedingt erwidert werden und die ineinander verschwimmen, folgen dann Tauschformen, bei denen eine Äquivalenz mehr oder weniger streng beachtet wird, und am anderen F,nde steht der echte Tauschhandel. In dem folgenden Überblick werde ich jede Transaktion grob nach ihrem Verhältnis zur Äquivalenz klassifizieren. * Vgl. oben Abschnitt 1.4, S. 24 ff.

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Analogie und Hypothesenbildung. M. Weber

Solche tabellarischen Berichte vermögen nicht ein ebenso klares Bild von den Fakten zu vermitteln, wie dies einer konkreten Beschreibung gelingen könnte, und sie erzeugen zudem den Eindruck von Künstlichkeit; aber, und dies muß mit Nachdruck festgestellt werden, ich werde hier keine dem Denken der Eingeborenen fremden, künstlichen Kategorien einführen. Nichts ist in ethnographischen Berichten so irreführend wie die Beschreibung von Fakten aus Eingeborenenzivilisationen mit unseren eigenen Begriffen. Dies soll denn auch hier nicht geschehen. Die Ordnungsprinzipien sind, obwohl sie das Verständnis der Eingeborenen übersteigen, nichtsdestoweniger in ihrer sozialen Organisation, ihren Bräuchen und sogar in den Begriffen ihrer Sprache enthalten. Letztere stellt immer das einfachste und sicherste Mittel dar, Zugang zum Verständnis der Unterscheidungen und Klassifikationen der Eingeborenen zu gewinnen. Es muß aber auch bedacht werden, daß die Kenntnis ihrer Terminologie, obgleich wichtig für das Verständnis des Denkens, kein Sesam-öffne-dich zur Vorstellungswelt der Eingeborenen liefert. Tatsächlich gibt es viele hervorstechende und äußerst bedeutsame Züge der trobriandischen Soziologie und Sozialpsychologie, für die es gar keinen Ausdruck gibt, während ihre Sprache andererseits Unterteilungen und Feinheiten kennt, die für die tatsächlichen Verhältnisse völlig irrelevant sind. Ein Überblick über die Terminologie muß daher immer durch die direkte Analyse ethnographischer Fakten und die Erforschung der Vorstellungen der Eingeborenen ergänzt werden, d. h. durch die Sammlung von Meinungen, typischen Ausdrücken und gebräuchlichen Redewendungen mittels direkter intensiver Befragung. Die schlüssigste und tiefste Einsicht ist jedoch stets nur durch die Erforschung des Verhaltens und durch die Analyse ethnographischer Bräuche und konkreter Fälle von überlieferten Regeln zu gewinnen.

Bronislaw Malinowski

Argonauten des westlichen

Pazifik

2.4 Analogie und Hypothesenbildung Die Verwendung von Idealtypen in der Soziologie Webers Methodologie des Idealtypus bietet nicht, wie ihm mit dem Vorwurf des „Konstruktivismus" willkürlich unterstellt wird, ein Beweismittel, das die Suche nach empirischen Rege lhaftigkeiten oder die historische Arbeit der kausalen Zurechnung ersetzen soll. Bei der Erklärung von „Einqylgeschehnissen" (socialen Gebilden, Kulturformen oder Ereignissen) können die ideal typischen Konstruktionen „ihren Dienst leisten", indem sie %ur Formulierung von Hypothesen führen und die Fragen anregen, die an die Realität stellen sind; sie können jedoch von sich aus keinerlei Erkenntnis der Realität verhelfen. Die „Sinnadäquan^', die der Idealtypus erreichen muß, um seine Funktion erfüllen und

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Die Konstruktion des Objekts

verborgene Beziehungen aufdecken χμ können, rechtfertigt im übrigen nicht den gängigen Gebrauch von Webers Definition der „verstehenden Soziologie" als Beleg für eine psychologische Soziologie, die ihre Objekte von „Motivationen" und vom erlebten Sinn des Handelns aus konstruieren möchte: Iiier wird deutlich, daß der „gemeinte Sinn" nichts mit dem „subjektiven Sinn" tun hat, da die Hypothese von der Nicht-Bewußtheit des kulturellen Sinns des Handelns von Weber explizit als Grundsatz der verstehenden Soziologie dargestellt wird.

30. M. Weber Die Soziologie bildet — wie schon mehrfach als selbstverständlich vorausgesetzt — Typen-Begriffe und sucht generelle Regeln des Geschehens. Im Gegensatz zur Geschichte, welche die kausale Analyse und Zurechnung individueller, /&»//#rwichtiger, Handlungen, Gebilde, Persönlichkeiten erstrebt. Die Begriffsbildung der Soziologie entnimmt ihr Material, als Paradigmata, sehr wesentlich, wenn auch keineswegs ausschließlich, den auch unter den Gesichtspunkten der Geschichte relevanten Realitäten des Handelns. Sie bildet ihre Begriffe und sucht nach ihren Regeln vor allem auch unter dem Gesichtspunkt: ob sie damit der historischen kausalen Zurechnung der kulturwichtigen Erscheinungen einen Dienst leisten kann. Wie bei jeder generalisierenden Wissenschaft bedingt die Eigenart ihrer Abstraktionen es, daß ihre Begriffe gegenüber der konkreten Realität des Historischen relativ inhaltsleer sein müssen. Was sie dafür zu bieten hat, ist gesteigerte Fiindeutigkeit der Begriffe. Diese gesteigerte Eindeutigkeit ist durch ein möglichstes Optimum von J7/?»adäquanz erreicht, wie es die soziologische Begriffsbildung anstrebt. Diese kann — und das ist bisher vorwiegend berücksichtigt — bei rationalen (wert- oder zweckrationalen) Begriffen und Regeln besonders vollständig erreicht werden. Aber die Soziologie sucht auch irrationale (mystische, prophetische, pneumatische, affektuelle) Erscheinungen in theoretischen und zwar J7«»adäquaten Begriffen zu erfassen. In allen Fällen, rationalen wie irrationalen, entfernt sie sich von der Wirklichkeit und dient der Erkenntnis dieser in der Form: daß durch Angabe des Maßes der Annäherung einer historischen Erscheinung an einen oder mehrere dieser Begriffe diese eingeordnet werden kann. Diese gleiche historische Erscheinung kann ζ. B. in einem Teil ihrer Bestandteile „feudal", im anderen „patrimonial", in noch anderen „bureaukratisch", in wieder anderen „charismatisch" geartet sein. Damit mit diesen Worten etwas Eindeutiges gemeint sei, muß die Soziologie ihrerseits „reine" („Ideal"-) Typen von Gebilden jener Arten entwerfen, welche je in sich die konsequente Einheit möglichst vollständiger Sinnadäquanz zeigen, eben deshalb aber in dieser absolut idealen reinen Form vielleicht ebensowenig je in der Realität auftreten wie eine physikalische Reaktion, die unter Voraussetzung eines absolut leeren Raums errechnet ist. Nur vom reinen („Ideal"-) Typus her ist soziologische Kasuistik möglich. Daß die Soziologie außerdem nach Gelegenheit auch den Durchschnitts-Tyipus, von der Art der empirisch-statistischen Typen verwendet: — ein Gebilde, welches

A n a l o g i e und Hypothesenbildung. M. W e b e r

203

der methodischen Erläuterung nicht besonders bedarf, versteht sich von selbst. Aber wenn sie von „typischen" Fällen spricht, meint sie im Zweifel stets den /öWtypus, der seinerseits rational oder irrational sein kann, zumeist (in der national-ökonomischen Theorie ζ. B. immer) rational ist, stets aber j/««adäquat konstruiert wird. Man muß sich klar sein, daß auf soziologischem Gebiete „Durchschnitte" und also „Durchschnittstypen" sich nur da einigermaßen eindeutig bilden lassen, w o es sich nur um Gradunterschiede qualitativ gleichartigen sinnhaft bestimmten Verhaltens handelt. Das kommt vor. In der Mehrzahl der Fälle ist aber das historisch oder soziologisch relevante Handeln von qualitativ heterogenen Motiven beeinflußt, zwischen denen ein „Durchschnitt" im eigentlichen Sinn gar nicht zu ziehen ist. Jene idealtypischen Konstruktionen sozialen Handelns, welche ζ. B. die Wirtschaftstheorie vornimmt, sind also in dem Sinn „wirklichkeitsfremd", als sie — in diesem Fall — d u r c h w e g fragen: Wie würde im Fall idealer und dabei rein wirtschaftlich orientierter Zweckrationalität gehandelt werden, um so das reale, durch Traditionshemmungen, Affekte, Irrtümer, Hineinspielen nicht wirtschaftlicher Zwecke oder Rücksichtnahmen mindestens ^//bestimmte Handeln 1. insoweit verstehen zu können, als es tatsächlich ökonomisch zweckrational im konkreten Fall mitbestimmt war, oder — bei Durchschnittsbetrachtung — zu sein pflegt, 2. aber auch: gerade durch den Abstand seines realen Verlaufs v o m idealtypischen die Erkenntnis seiner wirklichen Motive zu erleichtern. Ganz entsprechend w ü r d e eine idealtypische Konstruktion einer konsequenten, mystisch bedingten, akosmistischen Haltung zum Leben (ζ. B. zur Politik und Wirtschaft) zu verfahren haben. Je schärfer und eindeutiger konstruiert die Idealtypen sind: je weltfremder sie also, in diesem Sinne, sind, desto besser leisten sie ihren Dienst, terminologisch und klassifikatorisch sowohl wie heuristisch. Die konkrete kausale Zurechnung von Einzelgeschehnissen durch die Arbeit der Geschichte verfährt der Sache nach nicht anders, wenn sie, um ζ. B. den Verlauf des Feldzuges von 1866 zu erklären, sowohl für Moltke wie für Benedek zunächst (gedanklich) ermittelt (wie sie es schlechthin tun muß)·. wie jeder von ihnen, bei voller Erkenntnis der eigenen und der L a g e des Gegners, im Fall idealer Zweckrationalität disponiert haben würde, um damit zu vergleichen: wie tatsächlich disponiert worden ist, und dann gerade den beobachteten (sei es durch falsche Information, tatsächlichen Irrtum, Denkfehler, persönliches Temperament oder außerstrategische Rücksichten bedingten) Abstand kausal zu erklären. Auch hier ist (latent) eine idealtypische zweckrationale Konstruktion verwendet. — Idealtypisch sind aber die konstruktiven Begriffe der Soziologie nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Das reale Handeln verläuft in der großen Masse seiner Fälle in dumpfer Halbbewußtheit oder Unbewußtheit seines „gemeinten Sinns". Der Handelnde „fühlt" ihn mehr unbestimmt, als daß er ihn w ü ß t e oder „sich klar machte", handelt in der Mehrzahl der Fälle triebhaft

204

Die Konstruktion des Objekts

oder gewohnheitsmäßig. Nur gelegentlich, und bei massenhaft gleichartigem Handeln oft nur von Einzelnen, wird ein (sei es rationaler, sei es irrationaler) Sinn des Handelns in das Bewußtsein gehoben. Wirklich effektiv, d. h. voll bewußt und klar, sinnhaftes Handeln ist in der Realität stets nur ein Grenzfall. Auf diesen Tatbestand wird jede historische und soziologische Betrachtung bei Analyse der Realität stets Rücksicht zu nehmen haben. Aber das darf nicht hindern, daß die Soziologie ihre B e g r i f f e durch Klassifikation des möglichen „gemeinten Sinns" bildet, also so, als ob das Handeln tatsächlich bewußt sinnorientiert verliefe. Den Abstand gegen die Realität hat sie jederzeit, wenn es sich um die Betrachtung dieser in ihrer Konkretheit handelt, in Betracht zu ziehen und nach Maß und Art festzustellen. Man hat eben methodisch sehr oft nur die Wahl zwischen unklaren oder klaren, aber dann irrealen und „idealtypischen", Termini.

Wirtschaft

Max Weber und Gesellschaft

Wir haben in der abstrakten Wirtschaftstheorie ein Beispiel jener Synthesen vor uns, welche man als „Ideen" historischer Erscheinungen zu bezeichnen pflegt. Sie bietet uns ein Idealbild der Vorgänge auf dem Gütermarkt bei tauschwirtschaftlicher Gesellschaftsorganisation, freier Konkurrenz und streng rationalem Handeln. Dieses Gedankenbild vereinigt bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge. Inhaltlich trägt diese Konstruktion den Charakter einer Utopie an sich, die durch gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen ist. Ihr Verhältnis zu den empirisch gegebenen Tatsachen des Lebens besteht lediglich darin, daß da, wo Zusammenhänge der in jener Konstruktion abstrakt dargestellten Art, also vom „Markt" abhängige Vorgänge, in der Wirklichkeit als in irgend einem Grade wirksam festgestellt sind oder vermutet werden, wir uns die Eigenart dieses Zusammenhangs an einem Idealtypus pragmatisch veranschaulichen und verständlich machen können. Diese Möglichkeit kann sowohl heuristisch wie für die Darstellung von Wert, ja unentbehrlich sein. Für die Forschung will der idealtypische Begriff das Zurechnungsurteil schulen: er ist keine „Hypothese", aber er will der Hypothesenbildung die Richtung weisen. Er ist nicht eine Darstellung des Wirklichen, aber er will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen. Es ist also die „Idee" der historisch gegebenen modernen verkehrswirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft, die uns da nach ganz denselben logischen Prinzipien entwickelt wird, wie man ζ. B. die Idee der „Stadtwirtschaft" des Mittelalters als „genetischen" Begriff konstru-

Analogic und Hypothesenbildung. Μ. Weber

205

iert hat. Tut man dies, so bildet man den Begriff „Stadtwirtschaft" nicht etwa als einen Durchschnitt der in sämtlichen beobachteten Städten tatsächlich bestehenden Wirtschaftsprinzipien, sondern ebenfalls als einen Idealtypus. Es wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen i?/«^e/erscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen GedankenhWdc. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht, inwieweit also der ökonomische Charakter der Verhältnisse einer bestimmten Stadt als „stadtwirtschaftlich" im begrifflichen Sinn anzusprechen ist. Für den Zweck der Erforschung und Veranschaulichung aber leistet jener Begriff, vorsichtig angewendet seine spezifischen Dienste. [...] Was ist nun aber die Bedeutung solcher idealtypischen Begriffe für eine Erfahrungrwissenschaft, wie wir sie treiben wollen? Vorweg sei hervorgehoben, daß der Gedanke des Sein sollenden, „Vorbildlichen" von diesen in rein logischem Sinn „idealen" Gedankengebilden, die wir besprechen, hier zunächst sorgsam fernzuhalten ist. Es handelt sich um die Konstruktion von Zusammenhängen, welche unserer Phantasie als zulänglich motiviert und also „objektiv möglich", unserem nomologischen Wissen als adäquat erscheinen. Wer auf dem Standpunkt steht, daß die Erkenntnis der historischen Wirklichkeit „voraussetzungslose" Abbildung „objektiver" Tatsachen sein solle oder könne, wird ihnen jeden Wert absprechen. Und selbst wer erkannt hat, daß es eine „Voraussetzungslosigkeit" im logischen Sinn auf dem Boden der Wirklichkeit nicht gibt und auch das einfachste Aktenexzerpt oder Urkundenregest nur durch Bezugnahme auf „Bedeutungen", und damit auf Wertideen als letzte Instanz, irgend welchen wissenschaftlichen Sinn haben kann, wird doch die Konstruktion irgend welcher historischer „Utopien" als ein für die Unbefangenheit der historischen Arbeit gefährliches Veranschaulichungsmittel, überwiegend aber einfach als Spielerei ansehen. Und in der Tat: ob es sich um reines Gedankenspiel oder um eine wissenschaftlich fruchtbare Begriffsbildung handelt, kann a priori niemals entschieden werden; es gibt auch hier nur einen Maßstab: den des Erfolgs für die Erkenntnis konkreter Kulturerscheinungen in ihrem Zusammenhang, ihrer ursächlichen Bedingtheit und ihrer Bedeutung. Nicht als Ziel, sondern als Mittel kommt mithin die Bildung abstrakter Idealtypen in Betracht. Jede aufmerksame Beobachtung der begrifflichen Elemente historischer Darstellung zeigt nun aber, daß der Historiker, sobald er den Versuch unternimmt, über das bloße Konstatieren konkreter Zusammenhänge hinaus die Kulturbedeutung eines noch so einfachen individuellen Vorgangs festzustellen, ihn zu „charakterisieren", mit Begriffen arbeitet und arbeiten muß, welche regelmäßig nur in Idealtypen scharf und

206

Die Konstruktion des Objekts

eindeutig bestimmbar sind. Oder sind Begriffe wie etwa: „Individualismus", „Imperialismus", „Feudalismus", „Merkantilismus" „konventionell" und die zahllosen Begriffsbildungen ähnlicher Art, mittels deren wir uns der Wirklichkeit denkend und verstehend zu bemächtigen suchen, ihrem Inhalt nach durch „voraussetzungslose" Beschreibung irgend einer konkreten Erscheinung oder aber durch abstrahierende Zusammenfassung dessen, was mehreren konkreten Erscheinungen gemeinsam ist, zu bestimmen? Die Sprache, die der Historiker spricht, enthält in hunderten von Worten solche unbestimmten, dem unreflektiert waltenden Bedürfnis des Ausdrucks entnommenen Gedankenbilder, deren Bedeutung zunächst nur anschaulich empfunden, nicht klar gedacht wird. In unendlich vielen Fällen, zumal auf dem Gebiet der darstellenden politischen Geschichte, tut nun die Unbestimmtheit ihres Inhaltes der Klarheit der Darstellung sicherlich keinen Eintrag. Es genügt dann, daß im einzelnen Fall empfunden wird, was dem Historiker vorschwebt, oder aber man kann sich damit begnügen, daß eine partikuläre Bestimmtheit des Begriffsinhaltes von relativer Bedeutung für den einzelnen Fall als gedacht vorschwebt. Je schärfer aber die Bedeutsamkeit einer Kulturerscheinung zum klaren Bewußtsein gebracht werden soll, desto unabweislicher wird das Bedürfnis, mit klaren und nicht nur partikulär, sondern allseitig bestimmten Begriffen zu arbeiten. Eine „Definition" jener Synthesen des historischen Denkens nach dem Schema: genus proximum, differentia specifica ist natürlich ein Unding: man mache doch die Probe. Eine solche Form der Feststellung der Wortbedeutung gibt es nur auf dem Boden dogmatischer Disziplinen, welche mit Syllogismen arbeiten. Eine einfach „schildernde Auflösung" jener Begriffe in ihre Bestandteile gibt es ebenfalls nicht oder nur scheinbar, denn es kommt eben darauf an, welche dieser Bestandteile denn als wesentlich gelten sollen. Es bleibt, wenn eine genetische Definition des Begriffsinhaltes versucht werden soll, nur die Form des Idealtypus im oben fixierten Sinn. Er ist ein Gedankenbild, welches nicht die historische Wirklichkeit oder gar die „eigentliche" Wirklichkeit ist, welches noch viel weniger dazu da ist, als ein Schema zu dienen, in welches die Wirklichkeit als Exemplar eingeordnet werden sollte, sondern welches die Bedeutung eines rein idealen Grav^begriffes hat, an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird. Solche Begriffe sind Gebilde, in welchen wir Zusammenhänge unter Verwendung der Kategorie der objektiven Möglichkeit konstruieren, die unsere, an der Wirklichkeit orientierte und geschulte Phantasie als adäquat beurteilt. Der Idealtypus ist in dieser Funktion insbesondere der Versuch, historische Individuen oder deren Einzelbestandteile in genetische Begriffe zu fassen. Man nehme etwa die Begriff: „Kirche" und „Sekte". Sie lassen sich rein klassifizierend in Merkmalskomplexe auflösen, wobei dann nicht nur die Grenze zwischen beiden, sondern auch der Begriffsinhalt stets flüssig bleiben muß. Will ich aber den Begriff der „Sekte" genetisch, ζ. B. in bezug auf gewisse

Modell und Theorie. E. Panofsky

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wichtige Kulturbedeutungen, die der „Sektengeist" für die moderne Kultur gehabt hat, erfassen, so werden bestimmte Merkmale beider wesentlich, weil sie in adäquater ursächlicher Be2iehung zu jenen Wirkungen stehen. Die Begriffe werden aber alsdann zugleich idealtypisch., d. h. in voller begrifflicher Reinheit sind sie nicht oder nur vereinzelt vertreten. Hier wie überall führt eben jeder nicht rein klassifikatorische Begriff von der Wirklichkeit ab.

Max Weber Die ,Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis"

2.5 Modell und Theorie Summa und Kathedrale: Tieferliegende Analogien als Produkt geistiger Gewohnheiten Die Parallelität der Entwicklung von gotischer Kunst und scholastischem Denken in der Zeit um 1130— 1140 bis etwa 1270 kann erst deutlich werden, wenn man die „äußeren Erscheinungsformen beiseiteläßt" und den verborgenen Analogien %wischen den logischen Ordnungsprinzipien der Scholastik und den Konstruktionsprin^ipien der gotischen Architektur nachgeht. Diese methodologische Entscheidung ist von der Absicht bestimmt, mehr suchen und nachzuweisen als vage „Parallelität" oder diskontinuierliche und verstreute „Einflüsse". Damit erteilt Panofsky den Scheinbeweisen, mit denen sich der Intuitionismus ^ufriedengibt, oder den beruhigenden, aber reduktiven kleinen Detailbeweisen, für die sich der Positivismus begeistert, eine Absage und kann schließlich die historische Konvergenz, die Gegenstand seiner Untersuchung ist, auf ein verborgenes Prinzip — Habitus oder „formgebende Kraft von Gewohnheiten" zurückführen.

31. E. Panofsky In der hohen Zeit dieser erstaunlich synchronen Entwicklung, nämlich in der Periode zwischen etwa 1130—1140 und 1270, können wir, wie mir scheint, eine Verbindung zwischen gotischer Kunst und Scholastik beobachten, die konkreter ist als bloße „Parallelität" und doch auch allgemeiner als jene individuellen (und sehr wichtigen) „Einflüsse", die von gelehrten Beratern unvermeidlich auf Maler, Bildhauer und Baumeister ausgeübt werden. Im Gegensatz zu bloßer Parallelität ist die Verbindung, an die ich denke, eine genuine Beziehung von Ursache und W i r k u n g ; und im Gegensatz zu individuellem Einfluß ergibt sich diese Beziehung von Ursache und W i r k u n g eher durch Diffusion als durch direkte Beeinflussung. Sie ergibt sich aus der Verbreitung von etwas, was in Ermangelung eines besseren Begriffs geistige Gewohnheit genannt werden kann — wobei dieses abgenutzte Klischee in seinem präzisen scholastischen Sinn gebraucht werden soll als „Prinzip,

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Die Konstruktion des Objekts

welches das Handeln reguliert", principium importans ordinem ad actum.1 Solche geistigen Gewohnheiten findet man überall und in jeder Zivilisation. Alles, was heute über Geschichte geschrieben wird, ist durchdrungen von der Idee der Evolution (einer Idee, deren Evolution viel mehr Aufmerksamkeit verdient hätte, als sie bislang erhalten hat, und die gerade jetzt in eine kritische Phase einzutreten scheint); und wir alle reden mit größter Leichtigkeit, und ohne über besondere Kenntnisse von Biochemie oder Psychoanalyse zu verfügen, über Vitaminmangel, Allergien, Mutterfixierungen und Minderwertigkeitskomplexe. Häufig ist es schwierig oder unmöglich, eine einzelne gewohnheitsbildende Kraft aus den vielen anderen zu isolieren und sich die Transmissonskanäle vorzustellen. Die Periode von etwa 1130 — 1140 bis etwa 1270 und die „100Meilenzone um Paris" bilden jedoch eine Ausnahme. In diesem eng umgrenzten Bereich besaß die Scholastik das Monopol auf Bildung. Die intellektuelle Erziehung war im großen und ganzen von den Klosterschulen an Institutionen übergegangen, die eher städtisch als ländlich, eher kosmopolitisch als regional und gewissermaßen auch nur zur Hälfte kirchlich waren: An die Kathedral-Schulen, die Universitäten und die studia der neuen Bettelorden — die fast alle im 13. Jahrhundert entstanden waren —, deren Angehörige auch innerhalb der Universitäten eine immer größere Rolle spielten. Und ebenso wie die scholastische Bewegung, die durch die Lehre der Benediktiner vorbereitet und von Lanfranc und Anselm von Bec eingeführt worden war, unter Dominikanern und Franziskanern fortgesetzt wurde und aufblühte, erreichte der gotische Stil, in den Klöstern der Benediktiner vorbereitet und begründet durch Suger von St. Denis, seinen Höhepunkt in den großen Kirchen der Städte. Es ist bezeichnend, daß die größten Namen der Architekturgeschichte in der romanischen Periode die Namen von BenediktinerAbteien sind, in der Hochgotik die von Kathedralen und in der Spätgotik die von Gemeindekirchen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß die Erbauer gotischer Bauwerke Gilbert de Poiree oder Thomas von Aquin im Original lasen. Aber sie kamen mit dem scholastischen Weltbild auf unzähligen anderen Wegen in Berührung, ganz abgesehen von der Tatsache, daß ihre eigene Arbeit sie automatisch in einen Arbeitszusammenhang mit jenen brachte, die die liturgischen und ikonographischen Programme entwickelten. Sie waren auf die Schule gegangen; sie hörten Predigten an; 2 sie konnten den öffentlichen disputationes de quodlibet3 beiwohnen, die sich mit allen erdenklichen Tagesfragen beschäftigten 1 2

3

Thomas von Aquin, Summa Theologiae, I —II, qu. 49, Art. 3 c. Vgl. E. Gilson, „Michel Menot et la technique du sermon medieval", in: Les tdees et les /eures, Paris, Vrin, 1932, S. 9 3 - 1 5 4 . Man unterschied die disputationes ordinariae und ihre literarische Fassung, die quaestiones disputatae, von den disputationes quodlibetales und ihrer schriftlichen Wiedergabe, den quaestiones quodlibetales. Eine disputatio ordinaria hatte stets folgenden Verlauf: Am ersten

Modell und Theorie. E. Panofsky

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und sich richtiggehend zu gesellschaftlichen Ereignissen entwickelt hatten, nicht unähnlich unseren Opern, Konzerten oder öffentlichen Vorträgen; 4 und sie konnten bei vielen anderen Gelegenheiten mit den Gelehrten in fruchtbaren Kontakt treten. Die Tatsache, daß \veder die Naturwissenschaften noch die Humanwissenschaften noch auch die Mathematik ihre eigenen, esoterischen Methoden und Terminologien entwickelt hatten, hielt das ganze menschliche Wissen im Rahmen des normalen, nicht-spezialisierten Verstandes. Auf der anderen Seite wird auch von der socialen Situation des Baumeisters her verständlich, inwiefern seine Situation der Verinnerlichung des ganzen Komplexes charakteristischer Denkgewohnheiten der Scholastik forderlich war. In dieser Zeit existierte eine „städtische Professionalität, die noch nicht %um späteren Zunft- und Bauhüttenwesen verfestigt war und daher eine Grundlage bildete, auf der sich der Priester und der Haie, der Dichter und der Rechtsgelehrte, der Scholar und der Handwerker auf der Hbene annähernder Gleichheit t r e f f e n konnten". Dieser professionelle Baumeister war „ein Mann von Welt, weit gereist, oft sehr belesen, und erfreute sich eines gesellschaftlichen Ansehens, für das es in der Vergangenheit nichts Vergleichbares gab und das auch seither nicht übertroffen wurde". Hiniges weist auch darauf hin, daß der Baumeister selbst „als eine Art Scholastiker angesehen wurde".

Wenn wir fragen, in welcher Weise die geistigen Gewohnheiten, die in der frühen und in der Hochscholastik aufgekommen waren, die Entwicklung der früh- und hochgotischen Architektur beeinflußt hatten, tun wir gut daran, den begrifflichen Gehalt der Lehre beiseite zu lassen und uns, um einen Begriff der Scholastiker selbst zu übernehmen, auf ihren modus operandi zu konzentrieren. Die wechselnden Lehrmeinungen in solchen Dingen wie der Beziehung von Seele und Leib oder dem Problem der Universalien im Verhältnis zu den Partikularien schlugen sich natürlich in den bildenden Künsten deutlicher nieder als in der Architektur. Gewiß, der Baumeister lebte in engem Kontakt zu Bildhauern, Glasmalern, Holzschnitzern usw., deren Arbeiten er genau studierte, wo immer er hinkam (Zeugnis dafür gibt das Album des Villard de Honnecourt), die er in seine eigenen Unternehmungen

4

Tag mußte der Kandidat unter dem Vorsitz seines Lehrers auf die argumenta und objectiones antworten, die die Lehrer, Kandidaten oder Studenten vortrugen, die dieser in unregelmäßigen Abständen stattfindenden akademischen Zeremonie beiwohnten. Am zweiten Tag ordnete der Lehrer Argumente und Einwände, faßte sie zusammen und belegte sie mit kurzen, unter Berufung auf die Vernunft und die Autoritäten entwickelten Argumenten sed contra. Dann ging er frei daran, die Frage von Grund auf zu klären, indem er auf ihre Ursprünge oder ihre historischen oder spekulativen Konsequenzen einging, und formulierte und bewies dann seine endgültige Antwort, die determinatio magistralis genannt wurde. Von ihr aus beantwortete er dann die Einwände. Zweimal pro Jahr, vor Weihnachten und vor Ostern, fanden Diskussionsübungen statt, die disputationes de quodlibet genannt wurden, weil sie sich auf ganz unterschiedliche Fragen erstreckten und auch die Lösung der Probleme nicht so weit vorantrieben (s. M. Grabmann, Hinführung in die Summa Theologiae des heiligen Thomas von Aquin, Freiburg 1919). Vgl. M. de Wulf, History of Mediaeval Philosophy, 3rd English Ed., London: II, 1938, S. 9.

Die Konstruktion des Objekts

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einbezog und beriet und denen er ein ikonographisches Programm zu übermitteln hatte, das er, wie erwähnt, nicht ohne Zusammenarbeit mit einem Scholastiker als Berater ausarbeiten konnte. Aber bei alledem assimilierte und transportierte er eher das zeitgenössische Denken in seiner Substanz, als daß er es anwendete. Was er, der „die Gestalt des Gebäudes plante, während er die Sache nicht selbst von Hand ausführte", 5 anwenden konnte und tatsächlich anwandte, direkt und als Baumeister, war vielmehr diese besondere Art des Vorgehens, die sich wohl als erste dem Geist des Laien einprägte, wann immer er mit dem scholastischen Geist in Berührung kam.

Erwin Panofsky Gothic Architecture and Scholasticism

Die heuristische Funktion der Analogie Englische Physiker der Schule Kelvins konnten, unter Verwendung mechanischer Modelle, die Wirkungen einiger Gesetze aufgrund von Mechanismen darstellen, die einer gan^ anderen Funktionslogik folgten. Pierre Duhem, der diese Modelle angreift, arbeitet den Unterschied ^wischen diesem von der Phantasie geleiteten Rückgriff auf Ähnlichkeiten und dem eigentlich analogischen Verfahren heraus, das — von abstrakten Beziehungen anderen abstrakten Beziehungen vordringend — die heuristische Kraft theoriegestützter Verallgemeinerungen und Übertragungen ausmacht.

32. P. Duhem Ebenso darf man, wenn man die Fruchtbarkeit, die der Gebrauch der Modelle mit sich bringen kann, genau abschätzen will, nicht diesen Gebrauch mit der Verwendung der Analogie verwechseln. Der Physiker, der die Gesetze einer gewissen Kategorie von Phänomenen zu vereinigen und zu klassifizieren sucht, läßt sich sehr oft durch die Analogie, die er zwischen diesen Phänomenen und den Phänomenen einer anderen Kategorie sieht, leiten. Wenn diese letzteren schon geordnet und in einer befriedigenden Theorie dargestellt sind, wird der Physiker versuchen, die ersteren in einem System desselben Typus und derselben Form zu gruppieren. Die Geschichte der Physik zeigt uns, daß die Forschung nach Analogien zweier verschiedener Kategorien von Erscheinungen vielleicht von allen beim Bau physikalischer Theorien verwendeten Mitteln die sicherste und fruchtbarste Methode gewesen ist. So hat die Analogie, die Huygens zwischen den Lichtphänomenen und denen, die den Ton bilden, bemerkte, ihn zum Begriff der Lichtwelle geführt, Thomas von Aquin, Summa Theologiae,

I, q. 1, Art. 6 c.

211

Modell und Theorie. P. Duhem

die er so wunderbar zu benüt2en wußte. Später führte diese selbe Analogie Malebranche und sodann Young zur Darstellung des monochromatischen Lichtes durch eine Formel, die der gleicht, die einen Ton darstellt. Eine Ähnlichkeit, die Ohm zwischen der Fortpflanzung der Wärme und der der Elektrizität bemerkte, ermöglichte es ihm, die Gleichungen, die Fourier für die erstere Erscheinungsklasse aufgestellt hatte, auf die zweite zu übertragen. Die Geschichte der Theorien des Magnetismus und der dielektrischen Polarisation besteht nur in der Entwicklung von Analogien zwischen den Magneten und elektrischen Isolatoren, die seit langem von den Physikern vermutet worden waren. Dank dieser Analogie hat jede der beiden Theorien vom Fortschritt der anderen Nutzen gezogen. Die Verwendung der physikalischen Analogie nimmt manchmal eine noch bestimmtere Form an. Wenn zwei Kategorien von sehr verschiedenen, sehr unähnlichen FLrscheinungen auf abstrakte Theorien reduziert worden sind, kann es geschehen, daß die Gleichungen, in denen die eine derselben formuliert ist, algebraisch, mit den Gleichungen, die die andere ausdrücken, identisch ist. Wenn nun auch diese beiden Theorien auf Grund der Natur der Gesetze, die sie ordnen, im Wesen verschieden sind, stellt doch die Algebra zwischen ihnen eine genaue Übereinstimmung her. Jedem Satz der einen dieser Theorien entspricht ein homologer in der andern. Jedes Problem, das in der ersten gelöst wird, stellt und löst ein ähnliches Problem in der zweiten. Von diesen zwei Theorien kann jede nach dem von den Engländern angewendeten Wort dazu dienen, die andere zu illustrieren: „Unter physikalischer Analogie verstehe ich," sagt Maxwell 1 , „die teilweise Ähnlichkeit zwischen den Gesetzen eines Wissenszweiges und denjenigen eines anderen, die bewirkt, daß der eine Wissenszweig dazu dienen kann, den anderen zu illustrieren." Eines der vielen Beispiele dieser wechselseitigen Illustration zweier Theorien sei hier angeführt: Der Begriff des warmen und der des elektrisierten Körpers sind zwei dem Wesen nach verschiedene Begriffe. Die Gesetze, die die stationäre Verteilung der Temperaturen auf einer Gruppe von Körpern, die gute Wärmeleiter sind, bestimmen, und die Gesetze, die den elektrischen Gleichgewichtszustand auf einer Gruppe von Körpern, die gute Elektrizitätsleiter sind, angeben, handeln von vollkommen verschiedenen physikalischen Objekten. Dennoch werden die beiden Theorien, die die Aufgabe haben, diese Gesetze zu klassifizieren, durch zwei Gruppen von Gleichungen ausgedrückt, die der Algebraiker nicht voneinander unterscheiden kann. Er löst auch jedesmal, wenn er die Lösung eines Problems über die stationäre Temperaturverteilung findet, gleichzeitig ein Problem der Elektrostatik und umgekehrt. 1

J. Clerk Maxwell, Scientific

Papers,

vol. I, S. 156.

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Die Konstruktion des Objekts

Eine derartige algebraische Übereinstimmung zwischen zwei Theorien, eine derartige Illustration der einen durch die andere ist außerordentlich wertvoll. Sie bietet nicht nur eine wesentliche Gedankenökonomie, da sie erlaubt, den ganzen für eine Theorie aufgestellten algebraischen Apparat ohne weiteres auf andere zu übertragen, sondern stellt auch ein Verfahren der Neuforschung dar. Es kann in der Tat geschehen, daß in einem dieser beiden Gebiete, denen derselbe algebraische Grundriß entspricht, die Anschauung auf Grund des Experiments vollständig natürlich ein Problem ergibt und dessen Lösung nahelegt, während in dem anderen Gebiete der Physiker nicht so leicht dazu geführt worden wäre, diese Frage zu stellen oder die betreffende Lösung zu geben. Diese verschiedenen Arten, in denen an die Analogie zwischen zwei Gruppen physikalischer Gesetze und zwischen zwei verschiedenen Theorien appelliert wird, [...] bestehen in der Annäherung zweier abstrakter Systeme aneinander, indem entweder das eine schon bekannte zur Auffindung der Form des anderen, das man noch nicht kennt, dient, oder, wenn beide schon formuliert sind, machen sie einander gegenseitig deutlicher.

Pierre Duhem Ziel und Struktur der physikalischen Theorien

Analogie, Theorie und Hypothese Zwar ist es ein Gemeinplatz der wissenschaftstheoretischen Reflexion, die Bedeutung des Rückgriffs auf die Analogie bei wissenschaftlichen Entdeckungen betonen; doch kann Norman Campbell mit Hilfe einer logischen Analyse der Struktur von Theorien — aufgefaßt als eine Verbindung von J.extk und Syntax — nachweisen, daß die Analogie nicht nur eine vorläufige, unterstützende Funktion bei der Formulierung von Hypothesen erfüllt, sondern geradezu die treibende Kraft für das Hrklärungspotential eines als Theorie fungierenden Systems von Sätzen darstellt. * Der positivistischen Theorievorstellung oder, was auf dasselbe hinausläuft, der „operationalistischen" Definition des Sinns von Sätzen, hält Campbell entgegen, daß sich der theoretische „Sinn" eines Systems von Sätzen nicht auf den Sinn irgendeines anderen, logisch scheinbar gleichwertigen Systems von Sätzen reduzieren läßt.

* Dem ist hinzuzufügen, daß auch in seiner Rolle als Werkzeug der Hypothesenfindung der Rückgriff auf die Analogie nur dann fruchtbar ist, wenn er auf dem Versuch einer Verallgemeinerung oder Übertragung bereits bestehender Theorien beruht; wie M. Cohen und E. Nagel bemerken, führt „das unklare Gefühl von Ähnlichkeit", mit dem psychologisch das wissenschaftliche Vorgehen beginnt, nur dann zur „Hypothese einer expliziten Struktur- oder Funktionsanalogie", wenn die ins Auge gefaßte Hypothese dank dem Umweg über ein diskursives Verfahren „gewisse strukturelle Analogien zu anderen bereits bestehenden und gesicherten Theorien" aufweisen kann (M. Cohen und E. Nagel, An Introduction to Logic and Scientific Method, London: Routledge & Kegan Paul, 1964, S. 2 2 1 - 2 2 2 ) .

Modell und Theorie. N. R. Campbell

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33. N. R. Campbell Der Gedanke, daß die Analogie zu Gesetzen eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung von Theorien spielt, ist nicht neu. Kein Autor, der sich systematisch mit den Grundlagen der Wissenschaft befaßt, kann letztlich die enge Beziehung zwischen der Analogie und Theorien oder Hypothesen unbeachtet lassen. Dennoch scheint mir, daß die meisten Autoren diese Aussage ernsthaft mißverstanden haben. Sie sprechen von Analogien als „Hilfen" bei der Bildung von Hypothesen (womit sie gewöhnlich das meinen, was ich Theorien genannt habe) und für den allgemeinen Fortschritt der Wissenschaft. Aber aus der Sicht, die hier geltend gemacht wird, sind Analogien nicht „Hilfen" bei der Aufstellung von Theorien; sie sind ein ganz wesentlicher Bestandteil von Theorien, ohne den Theorien völlig wertlos wären und den Namen nicht verdienten. Es wird oft behauptet, zwar führe die Analogie zur Formulierung der Theorie, sie habe jedoch, wenn die Theorie einmal formuliert ist, ihren Zweck erfüllt und könne aufgegeben und vergessen werden. Eine solche Behauptung ist absolut falsch und führt völlig in die Irre. Wenn die Wissenschaft der Physik eine rein logische Wissenschaft wäre, wenn ihre Aufgabe darin bestünde, eine Reihe von Sätzen aufzustellen, die alle wahr sind und logisch miteinander verbunden, aber durch kein anderes Merkmal gekennzeichnet, dann mag diese Vorstellung vielleicht korrekt sein. Wenn gezeigt worden wäre, daß die Theorie, einmal aufgestellt, durch rein logische Deduktion zu den Gesetzen führt, die erklärt werden sollen, dann sicherlich könnte die Analogie als bedeutungslos aufgegeben werden. Aber wenn dies wahr wäre, hätte es nie eine Notwendigkeit zur Einführung der Analogie gegeben. Jeder Narr kann eine logisch zufriedenstellende Theorie erfinden, die irgendein Gesetz erklärt. Es ist jedoch eine Tatsache, daß es keine zufriedenstellende physikalische Theorie gibt, die die Variation des Widerstands eines Metalls bei Temperaturschwankungen erklärt. Ich brauche etwa eine Viertelstunde, um die auf den vorigen Seiten entwickelte Theorie auszuarbeiten; und doch ist sie, behaupte ich, formal so befriedigend wie jede andere Theorie in der Physik. Wenn nichts anderes als das erforderlich wäre, dürfte es uns niemals an Theorien fehlen, um unsere Gesetze zu erklären; ein Schuljunge könnte an einem Tag die Probleme lösen, an denen Generationen vergeblich nach dem höchst trivialen Verfahren von Versuch und Irrtum gearbeitet haben. Was an der Theorie auf S. 123* falsch ist, was sie absurd und keinen einzigen Moment überlegenswert macht, ist, daß sie keine einzige Analogie enthält; und eben deshalb, weil zu ihrer Entwicklung keine Analogie benutzt wurde, ist sie so vollkommen wertlos. [...]

* A u f den vorangegangenen Seiten hat sich der A u t o r spielerisch an einer Formalisierung der Definitionen und Aussagen versucht, die formal ein Ensemble von experimentell ermittelten Gesetzen erklären.

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Die Konstruktion des Objekts

Es ist niemals schwierig, eine Theorie zu finden, die Gesetze logisch erklärt; was schwierig ist, ist eine Theorie zu finden, die Gesetze logisch erklärt und zugleich die erforderliche Analogie verwendet. [...] Die Analogie als ein Hilfsmittel beim Erfinden von Theorien zu betrachten ist so absurd, wie wenn man die Melodie als ein Hilfsmittel für die Komposition von Sonaten betrachtete. Wenn die Erfüllung von Harmoniegesetzen und von formalen Entwicklungsprinzipien alles wäre, was von Musik verlangt wird, könnten wir alle große Komponisten sein; was uns alle daran hindert, über einen so banalen Vorgang wie dem des Kaufs eines Lehrbuches der Musik herausragende Musiker zu werden, ist, daß uns der Sinn für das Melodische abgeht. Der Grund, warum diese verkehrte Ansicht, Analogien seien lediglich ein nebensächliches Hilfsmittel bei der Entdeckung von Theorien, jemals Glauben gefunden hat, liegt, denke ich, in einer falschen Auffassung von der Natur von Theorien. Ich sagte, daß es eine Binsenweisheit sei, daß Analogien für die Hypothesenbildung wichtig seien, und daß mit dem Begriff „Hypothese" in diesem Zusammenhang gewöhnlich die Sätze (oder das System von Sätzen) bezeichnet werden, die hier Theorien genannt werden. Diese Feststellung ist völlig richtig, aber diese Autoren erkennen im allgemeinen nicht, daß die „Hypothesen", von denen sie reden, eine besondere Klasse von Sätzen sind und insbesondere, daß sie völlig verschieden sind von der Klasse der Gesetze; es gibt da die Neigung, eine „Hypothese" lediglich als ein Gesetz zu betrachten, für welches der vollständige Beweis noch nicht gefunden ist. Wenn diese Auffassung richtig wäre, würde es stimmen, daß die Analogie lediglich eine Hilfsfunktion bei der Entdeckung der Gesetze hätte und keinen weiteren Nutzen, sobald das Gesetz entdeckt ist. Denn wenn das Gesetz einmal aufgestellt ist, würde die Art und Weise der Prüfung, ob es wahr oder falsch ist, in keiner Weise mehr von der Analogie abhängen; wenn die „Hypothese" ein Gesetz wäre, würde ihre Wahrheit, wie die jedes anderen Gesetzes, festgestellt, indem geprüft würde, ob die behauptete Beziehung einer Regelmäßigkeit zwischen den Beobachtungen tatsächlich besteht. Je nachdem, ob der Test dies bestätigt oder verworfen hätte, würde das Gesetz als wahr oder falsch beurteilt werden; die Analogie hätte damit nichts zu tun. Wenn der Test eine Bestätigung liefern würde, bliebe das Gesetz wahr, selbst wenn sich später herausstellen würde, daß die Analogie, die es anregte, falsch war; und wenn der Test negativ ausfiele, würde das Gesetz stets falsch bleiben, wie vollständig und befriedigend auch immer die Analogie zu sein schiene. Eine Theorie ist kein Gesetiζ. Aber eine Theorie ist kein Gesetz; sie kann nicht, wie ein Gesetz, im Experiment direkt bewiesen werden; und die Art und Weise, in der sie aufgestellt wird, ist nicht unwichtig. Denn eine Theorie wird häufig ohne die Ausführung irgendeines zusätzlichen Experiments akzeptiert; insoweit sie auf Experimenten beruht, sind diese Experimente oft durchgeführt worden und bekannt gewesen, bevor die Theorie entwickelt worden ist. Das Boyle'sche Gesetz und das Gay-Lussac'sche Gesetz waren

Modell und Theorie. N. R. Campbell

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bekannt, bevor die Theorie der Gaskinetik formuliert w o r d e n war; und die Theorie war anerkannt oder zum Teil anerkannt, bevor andere Gesetze, die aus ihr abgeleitet werden können, bekannt waren. Die Theorie war ein Additum zum wissenschaftlichen Wissen, das sich nicht aus dem Zuwachs an experimentellem Wissen oder der Aufstellung neuer Gesetze ergab; sie konnte deshalb f ü r ihren Beweis auf neues experimentelles Wissen verzichten. Die G r ü n d e , weshalb sie als etwas wertvolles anerkannt wurde, was nicht in Boyles oder Gay-Lussacs Gesetzen enthalten war, waren nicht experimenteller Natur. Der G r u n d , w a r u m sie A n e r k e n n u n g fand, beruhte auf der Analogie, von der her sie entwickelt wurde; hätte die Analogie nicht gestimmt, wäre die ganze Grundlage ihrer A n e r k e n n u n g verschwunden. D e r Schluß, daß eine Theorie kein Gesetz ist, wird besonders einsichtig, wenn die Theorie hypothetische Elemente enthält, die nicht vollständig durch Experimente zu bestimmen sind, Elemente zum Beispiel wie das m, n, x,y, ζ in der Theorie der Gaskinetik in ihrer einfachsten F o r m . D e n n in diesem Falle formuliert die Theorie etwas — nämlich Sätze über diese Elemente für sich g e n o m m e n —, das experimentell weder bewiesen noch widerlegt werden kann; sie formuliert also etwas, was unmöglich ein Gesetz sein kann, denn alle Gesetze, obwohl sie nicht immer durch das Experiment bewiesen werden können, sind doch stets durch das Experiment falsifizierbar. Man könnte meinen, daß es nur deshalb möglich ist zu behaupten, daß eine Theorie kein Gesetz ist, weil das hier angeführte Beispiel f ü r eine Theorie so beschaffen ist. Im anderen Extremfall, in dem das „Lexikon" alle hypothetischen Elemente als meßbare Begriffe a u f f ü h r t , ist der Schluß viel weniger einsichtig; denn dann kann eine B e h a u p t u n g über jedes der hypothetischen Elemente aufgestellt werden, die, wenn sie nicht schon ein Gesetz ist, doch im Experiment bewiesen oder falsifiziert werden kann. [...] Der Fall, der unmittelbar weitere Überlegungen verlangt, ist jener, in welchem das „Lexikon" Funktionen von einigen, aber nicht von allen hypothetischen Theorieelementen auf meßbare Begriffe bezieht, in dem aber bereits die Zahl dieser F u n k t i o n e n ausreicht, u m alle hypothetischen Elemente zu determinieren. In diesem Falle trifft es zu, daß Sätze über alle hypothetischen Theorieelemente aufgestellt werden können, die experimentell bewiesen oder falsifiziert werden können. Das heißt in unserem Beispiel: Wenn ein. Liter Gas bei einem D r u c k von 1 Million d y n / c m 2 e i n Volumen von 0,09 g m hat, dann kann a u f g r u n d dieses experimentell g e w o n n e n e n Wissens behauptet werden, daß ν = 1,8 χ 105 cm/sek ist. Eine eindeutige Aussage über dieses hypothetische Element ν kann auf rein experimenteller Grundlage formuliert werden. Wenn das Lexikon hinreichende F u n k t i o n e n der anderen Elemente enthielte, könnten gleichartige eindeutige Aussagen auf experimenteller Basis über sie formuliert werden. Wenn die Theorie also auf eine Reihe eindeutiger Aussagen auf experimenteller Grundlage z u r ü c k g e f ü h r t werden kann, m ü ß t e

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Die Konstruktion des Objekts

sie dann nicht als ein Gesetz betrachtet werden, oder wenigstens als ein Satz, der experimentell bestimmbar ist wie ein Gesetz? Ich behaupte: Nein. Ein Satz oder ein System von Sätzen ist nicht dasselbe wie ein anderes System, dem es logisch äquivalent ist, und das in ihm impliziert ist. Die beiden Systeme können in ihrer Bedeutung verschieden sein. Mit Bedeutung eines Satzes meine ich [...] die Ideen, an die man denkt, wenn er behauptet wird. Eine Theorie kann genauso logisch aufgebaut sein wie ein System von experimentell überprüfbaren Aussagen, aber sie bedeutet etwas vollständig anderes; und es ist ihre Bedeutung, auf die es ankommt, nicht daß sie in gleicher Weise logisch ist. Wenn logische Äquivalenz alles wäre, was zählte, wäre die [oben entwickelte] absurde Theorie ebenso wichtig wie jede andere; sie ist jedoch absurd, weil sie nichts bedeutet, keine Ideen hervorruft, abgesehen von den Gesetzen, die sie erklärt. Eine Theorie ist dann von Wert und eine in irgendeinem Sinne wissenschaftlich bedeutsame Theorie, wenn sie Ideen erzeugt, die nicht in den Gesetzen enthalten sind, die sie erklärt. Solche Ideen zu erzeugen ist von größerem Wert als logische Äquivalenz mit den Gesetzen. Theorien werden oft anerkannt und hoch geschätzt, wenigstens von einem Teil der wissenschaftlichen Welt, selbst wenn jeder weiß, daß sie nicht ganz stimmig sind und mit experimentellen Gesetzen nicht ganz äquivalent sind, einfach, weil die Ideen, zu denen sie anregen, als solche von Wert sind.

Norman R. Campbell

Foundations of Science

3. Angewandter Rationalismus 3.1 Der Zusammenhang der Operationen und die Hierarchie der Erkenntnisakte Theorie und Experiment Da die Bedeutung eines wissenschaftlichen Tatbestands auf die Theorie zurückverweist, und sogar auf die gan%e Geschichte der Theorie, sind isoliert dargestellte lixperimente, ohne Bezug also auf die Theorie, die sie möglich machte, oder auf die Theorien, die sie widerlegen, wissenschaftslogisch reiner Un-Sinn. Das Hxperiment anführend, hei dem ein isolierter Muskel, der sich in einem Gefäß mit Wasser befindet, durch elektrische Reibung kontrahiert, ohne daß sich der b'lüssigkeitspegel verändert, und das den Nachweis erbringen soll, daß „eine Muskelkontraktion eine T'ormveränderung ohne Volumenveränderung ist", bemerkt G. Canguilhem: „Hs ist ein wissenschaftslogisches l'aktum, daß ein auf diese Weise gelehrtes experimentelles I;aktum biologisch keinen Sinn hat."* Mehr noch: Die Notwendigkeit einer Umformulierung der Theorie ergibt sich %war daraus, daß bestehende Theorien durch Takten oder durch die Masse der %u integrierenden empirischen Daten widerlegt werden, die Theorien selbst jedoch gehen nicht direkt von diesen Takten aus, sondern von bereits vorliegenden Theorien, auf die bezugnehmend sie formuliert werden. Nur die Geschichte der Theorie ermöglicht also ein umfassendes Verständnis sowohl der aktuellen Theorien als auch der empirischen Tatbestände, die durch sie erzeugt und organisiert werden.

34. G. Canguilhem Die Zelltheorie ist sehr gut d a f ü r geeignet, den philosophischen Geist über die Natur der Biologie unschlüssig w e r d e n zu lassen: G r ü n d e t sie in der V e r n u n f t oder in der E r f a h r u n g ? Lichtwellen w e r d e n mit dem geistigen A u g e gesehen, die Zellen eines Pflanzenpräparats aber doch w o h l mit dem Sinnesorgan A u g e . D e m n a c h w ä r e die Zelltheorie eine S a m m l u n g v o n Beobacht u n g s p r o t o k o l l e n . Das m i k r o s k o p b e w a f f n e t e A u g e sieht das mikroskopische Leben aus Zellen gebildet, w i e das bloße A u g e das makroskopische Leben die Biosphäre bilden sieht. U n d doch ist das M i k r o s k o p eher eine E r w e i t e r u n g des Verstandes als des Auges. A u ß e r d e m : Die Zellteorie besagt ja nicht, daß L e b e w e s e n aus Zellen bestehen, sondern daß erstens die Zelle der Bestandteil aller

einzige

Lebewesen ist, und daß zweitens jede Zelle aus einer bereits

bestehenden Zelle h e r v o r g e h t . A b e r nicht das A l i k r o s k o p berechtigt zu dieser Aussage. Das M i k r o s k o p ist bestenfalls ein Mittel, diese zu verifizieren, w e n n

* G. Canguilhem, La connaissance de la vie, a. a. Ο., S. 18. P. Duhem nannte solche Experimente „fingiert", die — ohne Zusammenhang mit der Theorie — gern als pädagogischer Trick angewendet werden, um Aussagen zu beweisen, die mit diesen Experimenten allein gar nicht bewiesen werden können. Vgl. P. Duhem, Ziel und Struktur der physikalischen Theorien, Hamburg: Meiner, 1978, S. 269.

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Angewandter Rationalismus

sie einmal gemacht ist. Woher aber kam die Idee, sie zu machen, bevor sie verifiziert war? [...] Seit man sich in der Biologie für die morphologische Beschaffenheit lebender Körper interessiert, schwankt der menschliche Geist zwischen den beiden Vorstellungen einer kontinuierlichen plastischen Ur-Substanz und einer Verbindung von Teilchen, von organisierten Atomen oder Lebenskernen. Hier stehen wie in der Optik die Verstandesanforderungen von Kontinuität oder Diskontinuität in Widerspruch zueinander. In der Biologie wird mit dem Ausdruck Protoplasma ein Bestandteil der Zelle bezeichnet, die als Grundbaustein des Organismus angesehen wird, aber die Etymologie dieses Wortes verweist auf die Auffassung eines formerzeugenden „Urschlamms". Der Botaniker Hugo von Mohl, einer der ersten Autoren, der die Entstehung von Zellen durch Teilung bereits bestehender Zellen exakt beobachtete, schlug 1843 „Protoplasma" als einen Ausdruck vor, der die physiologische Funktion eines Fluidums bezeichnet, das überall dort, wo Zellen entstehen sollen, der Bildung der ersten festen Körper vorausgeht. Dies ist dasselbe, was Dujardin 1835 „Sarkod" nannte und worunter er eine lebende, gallertartige Masse verstand, die in der Folge organisierte Formen bilden kann. Bis zu Schwann, der als Begründer der Zelltheorie angesehen wird, gibt es niemanden, bei dem sich diese beiden Bilder nicht überlagerten. Laut Schwann gibt es eine strukturlose Substanz, das Cytoblastem, in dem die Kerne entstehen, um die herum sich dann Zellen bilden. Schwann sagt, daß sich in den Geweben die Zellen dort bilden, wo Nährflüssigkeit in das Gewebe eindringt. Die Feststellung dieser theoretischen Ambivalenz selbst bei den Autoren, die am meisten dazu beigetragen haben, die Zelltheorie auf eine feste Grundlage zu stellen, hat Klein zu der folgenden, für unsere Untersuchung höchst bedeutsamen Bemerkung veranlaßt: „Man trifft also bei Autoren, die über die unterschiedlichsten Gegenstände arbeiten und sehr unterschiedliche Standpunkte einnehmen, auf eine kleine Anzahl hartnäckig wiederkehrender Grundvorstellungen. Natürlich haben diese Autoren sie nicht voneinander abgeschrieben; vielmehr scheinen diese Grundhypothesen konstante Denkweisen darzustellen, die Bestandteil der Erklärung in den Wissenschaften sind." 1 Wenn wir diese Feststellung forschungslogischer Natur auf die Ebene der Elrkenntnisphilosophie übertragen, müssen wir dem empiristischen Gemeinplatz, der von Wissenschaftlern oft kritiklos übernommen wird, wenn sie sich zur Philosophie ihres experimentellen Wissens aufschwingen, entgegenhalten, daß die Theorien nie von den Tatbeständen ausgehen. Die Theorien gehen immer nur von früheren, oft sehr alten Theorien aus. Die Tatbestände sind nur der — selten geradlinige — Weg, auf dem eine Theorie von einer anderen ausgeht. Diese Abkunft der Theorien allein von

1

M. Klein, Histoire

des origines de la theorie cellulaire,

Paris: Hermann, 1936.

Zusammenhang der Forschungsoperationen. G. Canguilhem

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den Theorien hat A. Comte sehr schön mit dem Hinweis verdeutlicht, daß es, da ein durch Beobachtung ermittelter Tatbestand eine diese Beobachtung steuernde Theorie voraussetzt, logisch unausweichlich ist, daß den richtigen Theorien falsche Theorien vorausgehen. Wir haben aber schon gesagt, wo die Auffassung Comtes unserer Ansicht nach unhaltbar wird, nämlich in seiner Gleichsetzung des zeitlich Vorausgehenden mit dem logisch Minderwertigen, einer Gleichsetzung, die Comte unter dem Einfluß eines immerhin durch mathematische Deduktion gemilderten Empirismus dazu bringt, den von nun an in seinen Augen endgültig gesicherten theoretischen Wert jener logischen Ungeheuerlichkeit zu sanktionieren, nämlich des „allgemeinen Tatbestands". Zusammenfassend ist also zu sagen, daß die wirklichen Ursprünge der Zelltheorie woanders gesucht werden müssen als in der Entdeckung bestimmter mikroskopischer Strukturen von Lebewesen.

Georges Canguilhem La connaissance de la vie

Heute ist davon auszugehen, daß — nach der Formulierung Brunschvicgs — „uns die Modalität des physikalischen Urteils in keiner Weise von der Modalität des mathematischen Urteils verschieden scheint". 2 Nur in Opposition zum Anspruch des Rationalismus, der sich als die Philosophie der Mathematik ausgab, konnte sich der Empirismus als die Philosophie der experimentellen Wissenschaft ausgeben. Nur in einer Zeit, in der die Beweisführung des Mathematikers den Anspruch erhob, definitiv von einer geistigen Gewißheit auszugehen, konnte das Experiment des Physikers den Anspruch erheben, in der sinnlichen Gewißheit aufzugehen. Die zeitgenössische Wissenschaftstheorie kennt weder induktive noch deduktive Wissenschaften. Sie läßt keine auf intrinsischen Merkmalen beruhende Unterscheidung von hypothetischen und kategorischen Urteilen gelten. Sie kennt nur hypothetisch-deduktive Wissenschaften. In diesem Sinne gibt es keinen wesensmäßigen Unterschied zwischen der Geometrie — einer Naturwissenschaft (Comte, Einstein) und der mathematischen Physik. Ebensowenig gibt es einen Schnitt zwischen Vernunft und Erfahrung·. Es bedarf der Vernunft, um eine Erfahrung machen zu können, und der Erfahrung, um zur Vernunft zu kommen. Die Vernunft tritt nicht als die Zehn Gebote der Wissenschaft auf, sondern als die Norm der Systematisierung, mit der das Denken aus seinem dogmatischen Schlummer gerissen werden kann. 1

Hxperience

humaine et causalite physique,

S. 606.

220

Angewandter Rationalismus

Es ist also davon auszugehen: Gegen den Empirismus: Daß es keine induktive Methode im eigentlichen Sinne gibt. Was in einer Erfahrungswissenschaft Induktion ist, also die Hypothesenfindung, ist das deutlichste Zeichen dafür, daß die Methode nicht ausreicht, um den Fortschritt des Wissens zu erklären. Gegen den Positivismus: Daß es bewogen auf Gesetze und erklärende Theorien keine unterschiedlichen Gewißheiten gibt. Kein Tatbestand, der nicht theoriedurchdrungen wäre, kein Gesetz, das nicht eine vorübergehend stabilisierte Hypothese wäre, so daß also die Suche nach Beziehungen der Struktur genauso legitim ist wie die Suche nach Beziehungen von Abfolge oder Ähnlichkeit. Wir können die Hypothese nicht als Wissenslücke ansehen, sie ist kein Notbehelf, dem sich der Verstand in Elrmangelung kategorischer Prinzipien anvertraute. Die Hypothese ist die Antizipation einer Beziehung, die den mit der Wahrnehmung des Phänomens implizierten Begriff zugleich definieren und erklären kann. (Beispiel: Torriceiiis Hypothese schlägt für das beobachtete Phänomen den Begriff Druck und die Erklärung Gleichgewicht von Gas und Flüssigkeit vor.) Wenn die Wissenschaftler Hypothesen aufstellen, dann um über sie die Tatbestände zu finden, mit denen sie überprüft werden können. Die Hypothese ist ein Werturteil über die Realität? Was aber sind die logischen Bedingungen der Überprüfung einer Hypothese? Ein Tatbestand kann zu einer Idee in ein Verhältnis von Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung nur unter der einen Bedingung treten, daß zwischen Tatbestand und Idee logische Homogenität besteht. Das heißt, daß der Tatbestand, wenn die Idee Urteil ist — zu beurteilendes Urteil —, ebenfalls Urteil sein muß, und zwar ein (vorläufig) gesichertes Urteil. Die Idee — Hypothese oder Gesetz — ist ein allgemeines, der Tatbestand ein besonderes Urteil. Ein Tatbestand kann also eine Hypothese nur dann bestätigen oder widerlegen, wenn in beiden Urteilen dieselben Begriffe zueinander in Beziehung gesetzt werden. In der Praxis des Experiments besteht diegan^e Schwierigkeit in dem Nachweis, daß die Beziehung strikt dieselbe ist, daß die Begriffe dieselben Inhalte haben. Damit ein Tatbestand überhaupt eine Hypothese widerlegen kann, müssen die Elemente des Besonderen (des Tatbestands) und des Allgemeinen (der Hypothese) mit denselben Methoden bestimmt worden sein. Die Begriffe, die zueinander in Beziehung gesetzt werden, müssen von denselben Techniken von Nachweis und Analyse ausgehen. In der Biologie kann die Einwirkung einer chemischen Substanz auf ein Gewebe nur in

3

Vgl. Max Planck, Ursprung und Auswirkung wissenschaftlicher Ideen, in: ders., Wege zur physikalischen Erkenntnis. Reden und Vorträge. Leipzig: Hirzel 1934, S. 280: „Dabei kommt es, wie wir gesehen haben, nicht immer allein auf die Frage an, ob eine Idee wahr oder falsch ist, ja ob sie überhaupt einen deutlich angebbaren Sinn besitzt, sondern vielmehr darauf, daß sie fruchtbare Arbeit erzeugt."

Zusammenhang der Forschungsoperationen. G. Canguilhem

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Abhängigkeit von der Dosis korrekt interpretiert werden. Und selten läßt sich in der Biologie ein für die eine Varietät der Gattung geltender Schluß auf die Gattung insgesamt übertragen; bei gleicher Dosierung hat Koffein eine bestimmte Wirkung auf die quergestreifte Muskulatur des Frosches. Aber beim Wasserfrosch ist die Wirkungsweise eine andere als beim Grasfrosch. Folglich ist der erkannte oder beobachtete Tatbestand keineswegs schon deshalb ein Argument für oder gegen eine Hypothese, weil er erkannt oder beobachtet worden ist; er muß erst so kritisiert und rekonstruiert werden, daß er, ins Begriffliche übersetzt, mit der betreffenden Hypothese logisch vergleichbar wird. Ein Tatbestand beweist nichts, solange die Begriffe, mit denen er formuliert wird, nicht systematisch kritisiert, berichtigt, bereinigt worden sind. Neue Informationen erhalten wir nur aufgrund veränderter Tatbestände. Damit erledigt sich auch der Vorwurf des Pragmatismus, der gegen die Definition der Hypothese als Werturteil erhoben werden könnte. Die bloße Tatsache, daß eine Hypothese mit den Tatbeständen übereinstimmt, macht noch nicht ihren (Realitäts-) Wert aus. Man muß nämlich auch noch nachweisen können, daß die vorausgesagte Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zwischen einer Annahme und einer Beobachtung, nach der man, geleitet von der zur Richtschnur gemachten Annahme, gesucht hat, nicht auf einen — auch wiederholt auftretenden — Zufall zurückzuführen ist, sondern daß man zum beobachteten Tatbestand eben aufgrund der mit der Hypothese implizierten Methoden gelangt ist. Man versteht so auch, daß sich Theoretiker nicht immer nur aus Stolz, oder weil sie generell allem Neuen abgeneigt sind, weigern, die Stichhaltigkeit eines ihre Hypothese bestätigenden oder nicht bestätigenden Tatbestands anzuerkennen. Michelson starb in der festen Überzeugung, sein Experiment habe keine Beweiskraft und die Erdbewegung müsse sich über die anisotrope Ausbreitung des Lichts bezogen auf einen irdischen Beobachter nachweisen lassen. 1905 bewog derselbe Tatbestand Einstein zu einer Neuformulierung der Grundsätze der klassischen Mechanik. Vor den Widerspruch von Tatbestand und Theorie gestellt, kann man wahlweise den Tatbestand oder die Theorie anzweifeln. Diese Wahl hängt davon ab, ob die Theorie schon alt ist und sich systematisch aus vielen Tatbeständen „herauskristallisiert" hat, oder ob sie im Gegenteil noch in den Kinderschuhen steckt; sie hängt aber auch vom intellektuellen Wagemut der Wissenschaftler ab. Jedenfalls gibt es kein Wissen, das nicht polemisch ist, und keinen Tatbestand, der so überzeugend wäre, daß sich jegliches Mißtrauen ihm gegenüber verbietet. Eine eingehende Betrachtung der Verifikationsmethoden wird uns dies bestätigen. Wenn eine Hypothese einen Tatbestand oder eine Gruppe von Tatbeständen erklärt, und wenn diese Tatbestände durch sie vorhersagbar werden, ist damit dennoch nicht gesagt, daß sie die einzig mögliche Hypothese ist. Wenn zwei Hypothesen möglich sind, gäbe es nur ein einziges Mittel, um zwischen diesen

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Angewandter Rationalismus

Alternativen zu einer Entscheidung zu kommen, nämlich die Vorhersage eines Tatbestands — zusätzlich zu all den Tatbeständen, deren Erklärung beide Alternativen für sich in Anspruch nehmen können —, der nur durch eine von ihnen erklärbar ist. Ein solches Experiment wird (nach Bacon) ein experimentum crucis genannt, jenes zum Beispiel (horror vacui oder Luftdruck?), das Perier auf Anregung von Pascal auf dem Puy-de-Dome durchführte. Heute glaubt man nicht mehr an das experimentum crucis. P. Duhem hat in seiner Arbeit über Ziel und Struktur der physikalischen Theorien nachgewiesen, daß es potentiell, wenn nicht gar faktisch, immer eine größere Zahl möglicher Hypothesen gibt, als in einer Zweier-Alternative aufgehen. Zum Beispiel stellte Foucault Hypothesen auf (zur Ausbreitung des Lichts in der Luft und im Wasser), die, wie er meinte, eine Entscheidung zwischen der Emissionsund der Wellenhypothese über die Natur des Lichts erlaubten. Aber Duhem weist nach, daß eine dritte Hypothese, nämlich die des Elektromagnetismus, zu eben jenem Zeitpunkt potentiell vorhanden war, als man meinte, die Frage in Form einer Alternative stellen zu können. Kurz, in Wirklichkeit ist der Ausschluß aller Hypothesen bis auf eine einzige — ein Ausschluß, der als Beweis vollkommen zufriedenstellend wäre — ein unerreichbares Ideal. Wie Edgar Poe in Eureka sagt: „Zu zeigen, wie gewisse vorhandene Erscheinungen — gewisse gegründete Tatsachen — selbst mathematisch genau erklärt werden können, unter Voraussetzung einer gewissen Hypothese, heißt durchaus nicht, diese Hypothese selbst belegen. Mit anderen Worten: zu zeigen, wie aufgrund gewisser vorhandener Daten, eine gewisse sichtbar vorhandene Erscheinung eingetreten sein könnte, oder gar müßte, erbringt noch mitnichten den Beweis, daß diese Erscheinung aufgrund dieser Daten eingetreten sei-, zumindest nicht bis zu der Zeit, wo ebenfalls gezeigt wird, daß es keine anderen Daten gebe oder geben könne, aufgrund deren die zur Debatte anstehende Erscheinung eventuell gleichermaßen hätte eintreten können." Selbst angenommen, es gäbe nur zwei konkurrierende Theorien, so gibt es doch innerhalb jeder Theorie eine Vielfalt von Prinzipien. Die Konsequenzen, die sich aus jedem dieser Prinzipien für sich genommen ergeben, müßten auch jeweils für sich kalkuliert werden können. Sie werden aber vom Experiment gemeinsam und en bloc bestätigt oder widerlegt. Viele Logiker, die sich ansonsten einig sind, daß eine Bestätigung niemals kategorisch oder endgültig sein kann, meinen, daß die Negation das Entscheidende sei, und das Positive am Experiment die Negation der darin eingegangenen Theorie. Jean Nicod schreibt: „Die Bestätigung liefert nur eine Wahrscheinlichkeit, die Widerlegung dagegen eine Gewißheit. Die Bestätigung spricht für etwas, die Widerlegung besiegelt es." 4 Hier scheint in Vergessenheit geraten zu sein, daß es unmöglich ist, den theoretischen Stel-

4

Le probleme lopique de Γ induction, S. 24.

Zusammenhang der Forschungsoperationen. G. Canguilhem

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lenwert eines Tatbestands unabhängig von der zu diesem Zeitpunkt bestehenden wissenschaftlichen Kultur und unabhängig vom Stand der Nachweisund Meßtechniken zu ermitteln. Newton mußte seine Theorie durch Berechnungen verifizieren, bei denen die Länge des Erdradius, zwingend abgeleitet aus der Länge des Meridians, eine Rolle spielte. Dieses Maß nun war zu jener Zeit ein derart grober Näherungswert, daß das Experiment — denn das war es immerhin — der Theorie widersprach. Newton ließ seine Theorie bis zu dem Tage liegen, an dem er die Ergebnisse einer von Abbe Picard vorgenommenen neuen Messung des Meridians erfuhr. Die Theorie ließ sich nun verifizieren, und Newton entschloß sich zur Veröffentlichung. Obwohl dem Negativexperiment kein Vorrang vor dem positiven eingeräumt werden kann, muß man doch sehen, daß das Denken mehr Gewißheit über das Falsche als über das Wahre hat. Das Wahre ist die Position, auf der man sich immer zu befinden glaubt, doch gibt es genügend Irrtümer von heute, die Wahrheiten von gestern sind, um zur Vorsicht zu gemahnen. Dagegen enthält die Anerkennung eines Irrtums im Kern das, was wir Wahrheit nennen, denn da die Urteilskraft keine Position aufgibt, ohne zu begründen, warum sie das tut, wird die akzeptierte und anerkannte Negation durch eine umfassendere Affirmation begründet. Wenn der horror vacui durch das Experiment vom Puy-de-Döme endgültig Irrtum wurde, dann deshalb, weil Torriceiiis Hypothese die bis dahin allgemeine Verkennung der Wirkungen des Luftdrucks zugleich erklärte und entschuldigte. Damit kommen wir wieder zu der vorgeschlagenen Definition zurück: Die Hypothese ist ein Werturteil über die Realität. Ihr Wert liegt darin, daß mit ihr neue, oft paradox erscheinende Tatbestände vorausgesagt und konstruiert werden können, die der Verstand mit dem erworbenen Wissen vereinbart, die aber in einem kohärenten System eine neue Bedeutung bekommen. Zur Realität kommen nun die Realisierungen hinzu und bestätigen durch ihre pragmatische, aber vom Verstand durchdrungene Wirksamkeit die natürliche Kausalität. Der Pragmatismus hat recht, wenn er fordert, daß tragfahige Ideen schöpferisch sein müssen, aber man vergesse darüber nicht, daß die wahren Errungenschaften eben die kalkulierbaren, wenn nicht überhaupt die vorab kalkulierten sind. Wir müssen den Schluß ziehen, daß es keine erfahrungswissenschaftliche Methode im eigentlichen Sinne gibt, wenn damit ein anderes Untersuchungsverfahren gemeint sein soll als die deduktive Methode. Alles, was Methode ist, ist Deduktion, aber Deduktion und Methode machen allein noch keine Wissenschaft. In diesem Sinne ist das Verhältnis zur Erfahrung grundlegend für den Fortschritt des Wissens, und dieses Verhältnis, das eigentlich Erfindung ist, läßt sich nicht in Methodenregeln kodifizieren. Der Ausdruck „erfahrungswissenschaftlich" ist zweideutig. Die Wissenschaft ist insofern erfahrungswissenschaftlich, als sie mit der Erfahrung zu tun hat, aber wie

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mit einem P r o b l e m , dessen L ö s u n g sie sein will; w i r k l i c h Wissenschaft ist sie nur, weil sie w a g t , L ö s u n g zu sein, das heißt intelligibles System. Die L ö s u n g der empirischen P r o b l e m e kann n u r rational sein, und n u r die V e r n u n f t kann Probleme stellen, die zu rationalen L ö s u n g e n führen.

G e o r g e s Canguilhem Lemons sur la m e t h o d e "

Die Lieblingsobjekte des Empirismus Aufgrund des o f f e n polemischen Charakters der Analysen C. Wright Mills' %ur wissenschaftlichen Selbstaufgabe der amerikanischen empiristischen Soziologie meint man allzu o f t , das wissenschaftstheoretische Problem, das sie aufwerfen, nicht ernst nehmen zu müssen: nämlich das des Zusammenhangs Ζwischen den Forschungstechniken der bürokratischen Soziologie und den Problemstellungen, die sie konstruiert — oder eben vermeidet. Die „Großstatistiker",* wie Mills sie an anderer Stelle nennt, fabrizieren unbewußt Tatbestände „nach Maß" und suchen sich gerne solche Untersuchungsobjekte, die sich besonders gut für die Anwendung der fraglos hingenommenen Techniken von Routineerhebungen eignen: So wird die Diffusions- und Kommunikationssoziologie auf die Meinungsforschung reduziert, die politische Soziologie auf die Analyse des Wahlverhaltens und das Problem der sozialen Klassen auf die Untersuchung der Schichtung kleinstädtischer Populationen. Am Ende dieser blinden Umdefinition der wissenschaftlichen Objekte durch die Techniken „sind wahr und falsch zu so feinem Korn zermahlen, daß man sie nicht mehr unterscheiden kann".** Die streng orthodoxe Erhebung, die von sich selbst als Konstruktion nichts weiß und sich die Frage nach den Verfahren verbietet, mit denen sie ihre Tatbestände konstruiert, verbietet sich damit zugleich auch die Erfindung neuer Konstruktionsverfahren, sowie die Kontrolle der Konstruktionen, die sie durchführt; so wird neben anderen Verfahren auch der historische Vergleich aufgegeben, der allein Zel&en könnte, ob das Objekt, das man zu untersuchen behauptet, mit dem gewählten Untersuchungsbereich überhaupt zu fassen ist. ***

35. C. Wright Mills W i e die g r o ß e T h e o r i e so stützt sich auch der abstrakte Empirismus auf einen einzigen P u n k t des Arbeitsprozesses der F o r s c h u n g und räumt ihm eine M o n o p o l s t e l l u n g ein. [...] Das m e t h o d o l o g i s c h e K o r s e t t entspricht dem Fetischismus der Begriffe. Ich w e r d e hier nicht versuchen, die Arbeitsergebnisse der abstrakten Empiriker zusammenzufassen, sondern nur den generellen Charakter ihrer A r b e i t s weise und einige ihrer Thesen verdeutlichen. A n e r k a n n t e Untersuchungen dieser Schule zeigen die Tendenz, sich i m m e r m e h r zu gleichen. Praktisch * C. W. Mills, „I. Β. M. plus Reality plus Humanism = Sociology", in: Power, Politics and People, New York: Oxford University Press, 1963, S. 569. ** Ebd. *** So ζ. B. S. Thernstrom, „Yankee City Revisited: the Perils of Historical Naivete", American Sociological Review, Bd. XXX,' 1965, Nr. 2, S . 2 3 4 - 2 4 2 .

Zusammenhang der Forschungsoperationen. C Wright Mills

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geht diese Schule, um zu „Daten" zu gelangen, von mehr oder weniger geplanten Interviews mit einer Reihe von Individuen aus, die durch ein Stichproben verfahren ausgewählt werden. Die Antworten werden klassifiziert und auf Hollerithkarten gelocht, aus deren Auswertungsergebnissen bestimmte Beziehungen herausgesucht werden. Zweifellos trägt dies, sowie auch die Leichtigkeit, mit der jeder einigermaßen intelligente Forscher die Methode lernen kann, zu ihrer Popularität bei. Normalerweise werden die Ergebnisse zu Statistiken verarbeitet. Auf der einfachsten Stufe erlauben diese gewisse Aussagen über Proportionen. Auf einem höheren Niveau werden die einzelnen Fragen zu oftmals komplizierten mehrfachen Klassifizierungen kombiniert und dann auf die verschiedenste Weise zu Meßrelationen zusammengefaßt. E,s gibt verschiedene komplizierte Meßrelationen, diese Daten zu handhaben, die wir hier nicht näher zu berühren brauchen, da sie ohne Rücksicht auf die jeweilige Kompliziertheit stets Manipulationen des beschriebenen Materials sind. Abgesehen von der Erforschung der Reklame und der Massenmedien stellt die „öffentliche Meinung" wohl das Hauptgebiet dieser Arbeiten dar, obgleich das ohne jeden Gedanken an eine mögliche Neufassung der Probleme der öffentlichen Meinung und des Kommunikationswesens als Objekte einer vernünftigen Forschungsarbeit geschieht. Den Rahmen solcher Arbeiten bestimmen primitive Fragen wie etwa: Wer sagt was zu wem, mittels welcher Medien und mit welchen Ergebnissen? Die üblichen Definitionen der wichtigsten Begriffe lauten folgendermaßen: „... Wenn ich ,Öffentlichkeit' sage, so beziehe ich mich auf die Größe der Zahl, d. h. auf die nicht-privaten, nicht-individualisierten Empfindungen und Antworten einer großen Zahl von Menschen. Diese Eigenschaft der öffentlichen Meinung macht die Anwendung von Stichprobenerhebungen notwendig. In den Begriff der ,Meinung' schließe ich nicht nur die übliche Bedeutung der Meinung hinsichtlich aktueller, kurzlebiger und und typisch politischer Fragen ein, sondern auch Einstellungen, Gefühle, Werte, Informationen und entsprechendes Handeln. Um sie alle richtig erfassen zu können, benötigen wir nicht nur Fragebogen und Interviews, sondern auch Tests und Skalen". 1 In diesen Ausführungen findet sich die deutliche Tendenz, das Untersuchungsobjekt mit den Untersuchungsmethoden zu verwechseln. Wahrscheinlich sollte folgendes gesagt werden: Der Begriff „Öffentlichkeit" bezieht sich, so wie ich ihn verwenden will, auf jede einigermaßen große Anhäufung und kann deshalb mit Hilfe von statistischen Stichproben untersucht werden; da ferner die Meinungen von Menschen vertreten werden, so muß ich mit ihnen sprechen, um sie herauszufinden. Gelegentlich jedoch werden oder können 1

B. Berelson, „The Study of Public Opinion", in: The State of the Social Sciences, von L. D. White, Chicago: 1956, S. 299.

hrsg.

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Angewandter Rationalismus

sie keine Auskunft geben; in diesem Falle kann man projektive Tests und Skalen zu Hilfe nehmen. Die Untersuchungen über die öffentliche Meinung sind in den meisten Fällen im Rahmen der Sozialstruktur der Vereinigten Staaten durchgeführt worden und betreffen selbstverständlich nur etwa die letzten Jahrzehnte. Deshalb bringen sie wohl hinsichtlich der Bedeutung der „öffentlichen Meinung" keine befriedigende Klärung oder formulieren nicht die wichtigsten Probleme auf diesem Gebiete. In den historischen und strukturellen Grenzen dieser Untersuchungen ist dies, auch in provisorischer Form, nicht zu erwarten. Das Problem „der Öffentlichkeit" entsteht in den westlichen Ländern aus der Umwandlung der mittelalterlichen Gesellschaft und ihrer traditionell und konventionell gemeinsamen Ansichten; dieses Problem erreicht seinen heutigen Höhepunkt in der Idee einer Massengesellschaft. 2 Was im 18. und 19. Jahrhundert als „Öffentlichkeit" bezeichnet wurde, hat sich nunmehr zu einer Gesellschaft von „Massen" ausgewachsen. Mehr noch: die strukturelle Bedeutung der Öffentlichkeit sinkt, da die Menschen im großen und ganzen zu „Massenmenschen" werden, von denen jeder in einer recht machtlosen Umgebung gefangen ist. Dieses oder dergleichen könnte den Rahmen für die Auswahl und den Entwurf von Untersuchungen über die Öffentlichkeit, die öffentliche Meinung und die Massenkommunikation bilden. Daneben ist auch eine volle Berücksichtigung der historischen Phasen der demokratischen Gesellschaft vonnöten, insbesondere auch des sogenannten „demokratischen Totalitarismus" oder der „totalitären Demokratie". Kurzum, auf diesem Gebiete können die sozialwissenschaftlichen Probleme nicht innerhalb der Möglichkeiten und mit den Begriffen des abstrakten Empirismus behandelt werden, wie dies gegenwärtig geschieht. Viele Probleme, mit denen sich die Anhänger dieser Schule beschäftigen, wie ζ. B. die Wirkung der Massenmedien, verlangen die Berücksichtigung struktureller Gegebenheiten. Kann man wirklich hoffen, die Wirkung dieser Medien und gar erst ihre grundsätzliche Bedeutung für die Entwicklung der Massengesellschaft zu verstehen, wenn man — mit welcher Präzision auch immer — nur eine Bevölkerung untersucht, die mit diesen Medien schon seit fast einer Generation „saturiert" ist? Die Unterscheidung zwischen Individuen, die „mehr" oder „weniger" dem einen oder anderen Medium ausgesetzt sind, mag für die Werbung von Interesse sein, stellt aber kein brauchbares Fundament für die Theorie der Massenmedien dar. In den Untersuchungen dieser Schule über das politische Leben nimmt das „Wählerverhalten" eine Sonderstellung ein, weil es, wie ich glaube, der statistischen Analyse leicht zugänglich ist. Die Dürftigkeit der Ergebnisse 2

Vgl· J· Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied: 1962.

Untersuchungen

einer Kategorie

der

Z u s a m m e n h a n g der Forschungsoperationen, (λ W r i g h t Mills

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wird leider nur durch die Kompliziertheit der Methoden und die angewandte Sorgfalt kompensiert. Für die Vertreter der Wissenschaft von der Politik dürfte es sicherlich interessant sein, sich mit einer umfassenden Untersuchung des Wahlprozesses zu befassen, die in keiner Weise auf die Beeinflussungsmethoden der Parteiapparate oder sonst eine politische Institution Bezug nimmt. Genau das ist jcdoch in der anerkannten und berühmten Untersuchung „The People's Choice" über die Wahl von 1940 in Erie County, Ohio, geschehen. Aus diesem Buch ersehen wir, daß reiche Protestanten vom Lande die Republikaner zu wählen geneigt sind, die Wähler des umgekehrten Schlags dagegen die Demokraten usw. Wir erfahren jedoch sehr wenig von der Dynamik des politischen Lebens in Amerika. Die Rechtfertigungsidee ist einer der Zentralbegriffe der politischen Wissenschaft, zumal sie sich mit den Fragen der Meinung und Ideologie befaßt. Die Erforschung der „politischen Meinung" nimmt sich gerade in bezug auf den Verdacht sehr merkwürdig aus, daß das politische Leben in Amerika in Hinsicht auf die Wahlen eine Art Politik ohne Meinung zu sein scheint, wenn man das Wort „Meinung" ernst nimmt. Aber solche Fragen — und ich verstehe meine Bemerkungen nur als Fragen — können im Rahmen dieser „politischen Untersuchungen" nicht gestellt werden. Aber wie könnte es auch sein? Sie verlangen historische Kenntnisse und eine psychologische Reflexion, die von den abstrakten Empirikern nicht genügend anerkannt, oder genauer gesagt, von den meisten nicht beherrscht wird. [...] Insoweit Studien über soziale Schichtung in der neuen Manier durchgeführt wurden, haben sie keine neuen Ideen hervorgebracht. Tatsächlich sind die Vorstellungen anderer Schulen nur „übersetzt" worden, gewöhnlich werden recht schwammige „Indices" des „sozialökonomischen Status" verwendet. Die äußerst schwierigen Probleme des Klassenbewußtseins und des falschen Bewußtseins, die Begriffe des Status im Gegensatz zur Klasse und M. Webers die Statistiker herausfordernde Idee der sozialen Klasse sind von den Anhängern der neuen Methode nicht weiter verfolgt worden. Darüber hinaus werden immer wieder kleinere Städte als Untersuchungsgebiete ausgewählt, obschon die Anhäufung derartiger Studien sich unmöglich zu einem angemessenen Bild der nationalen Struktur der Klassen, des Status und der Machtverhältnisse addieren läßt. [...] In diesem kurzen Versuch, die Arbeiten der abstrakten Empiriker zu charakterisieren, habe ich nicht nur gesagt: „Diese Schule hat sich nicht mit den wichtigen Problemen beschäftigt, die mich interessieren", oder auch nur: „Sie haben nicht das untersucht, was die meisten Sozialwissenschaftler für wesentlich halten." Vielmehr habe ich gesagt: Sie haben die Probleme des abstrakten Empirismus untersucht; jedoch nur innerhalb der Grenzen ihrer willkürlichen Erkenntnistheorie, die sie seltsamerweise sich selber auferlegten, haben sie ihre Fragen und Antworten formuliert. Ich glaube, daß ich mich vorsichtig ausgedrückt habe: Sie lieben das methodologische Korsett. Das

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Angewandter Rationalismus

alles bedeutet im Hinblick auf die Arbeitsergebnisse, daß in ihnen die Einzelheiten ohne ausreichendes Verständnis für die Form aufeinandergetürmt wurden; in der Tat sind bei ihnen für die Form nur die Setzer und Buchbinder zuständig. Die Einzelheiten aber, so zahlreich sie auch sein mögen, können uns in nichts, was uns einer Überzeugung wert ist, überzeugen.

Charles Wright Mills Kritik der soziologischen Denkweise

3.2 Aussagensysteme und systematische Verifizierung Theorie als methodisches Wagnis An Saussures Analyse eines sprachgenetischen Problems %eigt Hjelmslev, daß der wissenschaftliche Fortschritt methodische Wagnisse voraussetzt, die sich lediglich auf die damit mögliche Ökonomie des Denkens bei der Konstruktion der Tatbestände gründen und die nur durch die Tatbestände validiert werden können, die sie entdecken helfen. Der Beweis wird nicht durch ein experimentum cruris erbracht, sondern durch die Kohären^ der Indizien, die aufgrund der Theorie in %uvor ζusammenhangsund bedeutungslosen Tatbeständen sichtbar wird. Diese methodische Entscheidung — nämlich „Formeln", Abstraktionen %ur „Zusammenfassung' von sprachlichen Entsprechungen, die die traditionellen Methoden nicht miteinander in Verbindung gebracht haben, als ein System behandeln — ermöglichte es Saussure, einen hypothetischen Sprach^ustand kohärenter beschreiben; erst danach ließ sich dieser durch phonetische Sachverhalte bestätigen, die mit Hilfe dieser Hypothesen entdeckt werden konnten.

36. L. Hjelmslev Eine solche Systembetrachtung der gemeinsamen Formeln wurde erstmals vom Schweizer Ferdinand de Saussure in einer Arbeit von 1879 angewendet, die in der Geschichte der Linguistik Epoche machen sollte. /... Es ist das besondere Kennzeichen dieses Werkes,] daß es auf der einen Seite die gemeinsamen Formeln* als ein System betrachtet und daraus alle Konsequenzen zieht, und * Man sagt, daß es eine feste Abhängigkeit oder Funktion zwischen den Ausdruckselementen verschiedener Sprachen gibt, wenn „wir unter denselben Bedingungen die gleichen Entsprechungen in allen in Betracht kommenden Wörtern haben" (Hjelmslev, S. 21). So gibt es, unter der Bedingung: Stellung am Silbenanfang, eine Funktion der Ausdruckselemente m des Gotischen, Keltischen, Lateinischen, Griechischen, Litauischen, Altslawischen, Armenischen, Altindischen. Es heißt beispielsweise lateinisch mäter, griechisch mater, litauisch mote mote, altslawisch mati, armenisch mayr, altindisch mäta. Ein- und dieselbe Funktion für alle Sprachen, wie hier für das Ausdruckselement m, wird mit einem einfachen Zeichen, einer „Formel", bezeichnet; in diesem Beispiel wird also m geschrieben, um anzuzeigen, daß es eine Formel ist, die eine Elementfunktion angibt. Die Formel ist also eine Abstraktion zur Bezeichnung der Reihe von Elementen in den verschiedenen Sprachen einer Sprachfamilie, zwischen denen es eine feste Entsprechung gibt.

Aussagensysteme und systematische Verifizierung. L. Hjelmslev

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daß es auf der anderen Seite in sie keine andere Realität hineinlegt als eben die eines Systems, sie also nicht als vorgeschichtliche Laute mit einer bestimmten Aussprache auffaßt, die sich schrittweise zu den Lauten in den einzelnen indogermanischen Sprachen gewandelt haben sollen. Diese Betrachtungsweise mußte notwendigerweise zu praktischen Fortschritten führen, was die Erklärung der indogermanischen Verhältnisse selbst angeht. Gerade weil Saussure die gemeinsamen Formeln als ein System betrachtet, und dazu als ein System, das frei gemacht ist von konkreten lautlichen Festlegungen, also kurz gesagt, als einen bloßen Sprachbau, gelangt er in diesem Werk über die indogermanische Grundsprache, die Hochburg der Theorie vom Sprachwandel, zu Methoden, die mustergültig sein dürften für die Analyse eines jeglichen Sprachzustandes, und die man als Musterbeispiele nehmen kann, wie ein Sprachbau zu analysieren ist. Saussure nimmt dieses System für sich und stellt die Frage: wie analysiere ich es, so daß ich dadurch die einfachste und eleganteste Erklärung bekomme? Anders ausgedrückt: mit wie wenigen Formeln oder Elementen kann ich mich begnügen zu operieren, um über diesen ganzen Mechanismus Klarheit zu bekommen? Und dabei hat Saussure mit dem indogermanischen System etwas getan, was vorher niemand gekonnt hat; er hat also mit anderen Worten eine neue Methode, eine Sprachbaumethode, in die genetische Linguistik eingeführt. Wir werden mit einem Beispiel zeigen, worum es sich handelt. Wir haben oben [...] davon gesprochen, daß das Indogermanische einen Vokalwechsel *e: *o: Ο hat, der in Diphthongen als *ei: *oi: *i, *eu: *ou: *u usw. vorliegt. Außerdem hat man im Indogermanischen eine Art von Ablaut, oder etwas, das aussehen mußte wie eine ganz andere Art von Ablaut, nämlich einen Wechsel zwischen Langvokal und *A. Den findet man ζ. B. in aind. sthi-täh ,gestanden' : ti-sthä-mi ,ich stehe' lat. sta-tus : stäre ,stehen' idg. Wurzelform *stA: *s(äoder in da-nam ,Gabe' dä-dä-mi ,ich gebe' aind. di-täh ,gegeben' lat. da-tus dö-num *döidg. Wurzelform *dA (Wir erinnern uns, daß aind. i = lat. α ein Idg. *A ist. [...]) Wenn man nun, so erkannte Saussure, den Langvokal in diesen Ablauten als eine Verbindung von Kurzvokal mit *A interpretiert, wird man erreichen, daß die zwei Arten von Ablaut, die bisher ganz verschieden ausgesehen haben, völlig gleich werden:

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A n g e w a n d t e r Rationalismus

Diese Umdeutung des mit *A wechselnden Langvokals als Kurzvokal -f*A war natürlich nur möglich, weil die Verbindung Kurzvokal + *A in keiner anderen Weise im Indogermanischen vorkommt. Aber das bedeutet einen entscheidenden Bruch mit der bisherigen Rekonstruktionsmethode: eine Formel wie Saussures *oA ist ja nicht begründet in den vorliegenden Elementfunktionen zwischen den indogermanischen Sprachen, sondern in einer internen Funktion innerhalb der Grundsprache. Wenn man sich nur an die Elementfunktionen zwischen den vorliegenden (und zu Saussures Zeit bekannten) indogermanischen Sprachen hielte, bestünde keinerlei Grund, einen Unterschied zu machen zwischen δ in άδ-num und δ in rhetör. Wenn sich δ in dö-num, aber nicht δ in rhetör, zu *oA umdeuten läßt, so beruht das nicht auf einer Funktion zwischen verschiedenen Sprachen, sondern auf einer Funktion zwischen den Bestandteilen eines einzelnen Sprachzustandes. Was hier geschehen ist, ist die Gleichsetzung einer algebraischen Größe mit dem Produkt von zwei anderen, und die hier durchgeführte Operation erinnert an die, welche der Chemiker vornimmt, wenn er analysiert, daß Wasser gleich ist einem Produkt von Sauerstoff und Wasserstoff. Es ist eine Operation, die man bei jeglichem Sprachzustand vornehmen kann, um die einfachst mögliche Beschreibung zu erhalten; [...] Um das methodisch Wesentliche und Interessante an diesen Reduktionen zu verstehen, muß man sich klar machen, daß dies eine Art Auflösung der indogermanischen Größe in algebraische oder chemische Produkte ist; es ist kein Resultat, das direkt aus dem Vergleich zwischen den verschiedenen indogermanischen Sprachen hervorgeht, sondern es ist eine Weiterbehandlung, eine Analyse des Resultats aus diesem Vergleich. Später, lange nachdem diese Analyse durchgeführt war, hat es sich gezeigt, daß es indogermanische Sprachen gibt, die einen Unterschied machen zwischen einem mit *o und einem mit *A wechselnden *ö, nämlich Hethitisch, als der polnische Linguist Kurylowicz zeigen konnte, daß heth. h bisweilen idg. *A entspricht. Außerdem hat Herman Moller seine Theorie mit dem Hinweis auf das HamitoSemitische bekräftigen können: es ist gerade einer der wichtigsten Ecksteine in Herman Mollers Beweisführung für die genetische Verwandtschaft zwischen Indogermanisch und Hamito-Semitisch, daß das Hamito-Semitische besondere Konsonanten hat, die den verschiedenen indogermanischen Koeffizienten entsprechen. Diese Bekräftigungen, die aus der Betrachtung von bisher unbekannten Elementfunktionen zwischen den genetisch verwandten Sprachen gewonnen wurden, sind sicher höchst interessant, besonders dadurch, daß sie zeigen, daß die interne Analyse eines Sprachbaus, wie der indogermanischen Grundsprache, eine eigentümlich starke Realität enthält; man könnte vielleicht meinen, daß man sich bei der Durchführung solcher Analysen in der Sphäre von Abstraktionen verliert; es ist aber genau umgekehrt: man bereitet sich dadurch vor, neu entdeckte Elementfunktionen besser verstehen zu können; man hat tatsächlich durch die Analyse des Sprachzu-

Aussagensysteme und systematische Verifizierung. Ii. Wind

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stands eine tiefere Erkenntnis des Sprachbaus erlangt. Auf der anderen Seite sind aber diese Bekräftigungen von Seiten des Hethitischen und HamitoSemitischen eben auch nur Bekräftigungen, und die interne Analyse des Riementsystems der Grundsprache selbst könnte ohne sie vorgenommen werden.

Louis Hjelmslev Die Sprache

Zirkuläre Argumentation Das Bemühen um eine Iiigenständigkeit, die ihr Vorbild oder ihre Berechtigung von einer falschen l'orstellung von den naturwissenschaftlichen Methoden herleitet, führt wissenschaftstheoretisch einer Blindheit, die sich ebenso im Beharren auf der Besonderheit intuitionist ischer Methoden äußern kann wie in sklavisch-ängstlicher Nachahmung der Naturwissenschaften. Gan% im Gegensatz da%u bemüht sich Ii. Wind, durch methodische Gegenüberstellung die besondere form herauszustellen, die die wissenschaftstheoretischen Probleme der Naturwissenschaften in den Humanwissenschaften annehmen. Weil der „methodische Zirkel" nur ein Aspekt der wechselseitigen Durchdringung von Theorie und l:orschungsoperationen ist, ist er kein logischer Zirkel: Der I-'ortschritt in der Theorie des Objekts %ieht einen Fortschritt in der Methode nach sich, deren adäquate Anwendung eine ausgefeiltere Theorie erforderlich macht, die allein in der Tage ist, die Anwendung der Methode kontrollieren und erklären, worin und warum die Methode erfolgreich ist. So entsteht eine Bewegung, die aus dem einfachen Dokument ein wissenschaftliches Objekt macht und die starre Trennung nicht kennt, die der Positivismus wischen Tatbeständen und Interpretationen von Tatbeständen errichten möchte.

37. E. Wind Von einigen Berührungspunkten zwischen Natur- und Geschichtsforschung soll hier die Rede sein, keineswegs von allen. [... Ich werde] nur einige formale Entsprechungen aufdecken zwischen den wissenschaftlichen Verfahrensweisen, durch die wir jede dieser beiden Welten erkennen und auf uns wirken lassen. Schon die Behauptung, daß solche Entsprechungen bestehen, mag manchem als Ketzerei erscheinen. 1 Ist uns doch jahrzehntelang gepredigt worden, daß — vom Gebrauch der allgemeinsten logischen Grundsätze abgesehen — Geschichte und Naturforschung sich wie Pol und Gegenpol verhalten und daß es die erste Pflicht eines Adepten der Geschichte sei, jeder Sympathie mit naturwissenschaftlichen Idealen abzuschwören. Diese Forderung, zu ihrer Zeit ganz gewiß ein Akt der Befreiung, ist heute ohne Ziel, da der Gegner fehlt, gegen den sie sich richtet. Gerade derjenige Naturbegriff, dem einst Dilthey seine „Geisteswissenschaft" entgegenstellte, ist von den Naturfor1

Im folgenden geht es vor allem um die Schule von Dilthey, Windelband und Rickert.

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Angewandter Rationalismus

Schern selbst längst aufgegeben, und die Vorstellung einer Naturbeschreibung, die unterschiedslos Menschen und ihre Schicksale wie Steine und Sandkörner ihren „unabänderlichen Gesetzen" zu fügen vermeint, lebt eigentlich nur noch in den Angstträumen einiger Historiker. Es bedeutet also keinen sündhaften Rückfall in die so gern geschmähte „positivistische Denkweise", wenn im folgenden an einigen Beispielen gezeigt wird, wie gerade Fragen, die die Historiker als ihre eigenen ansehen, auch in der Naturwissenschaft gestellt werden. Den allzu seßhaften Bewohnern des „globus intellectualis" mag es immerhin unglaublich erscheinen, daß ihre Antipoden nicht auf dem Kopfe stehen.

Dokument und Instrument Es ist heute kein Geheimnis mehr, daß die Zirkelschlüsse, den Verboten der traditionellen Logik zum Trotz, die gesamte Urkundenforschung beherrschen: Ein Historiker, der seine Dokumente befragt, um über einen politischen Vorgang Aufschluß zu erhalten, kann diese Dokumente nur sinngerecht auslegen, wenn er sich über ihre Stellung innerhalb des Vorgangs klar ist, über den er sie gerade befragen wollte. Ebenso wird auch ein Kunsthistoriker, der aus einem gegebenen Werk etwas über die Entwicklung seines Urhebers erschließen will, unversehens zum Stilkritiker, der die Zugehörigkeit dieses Werks zum (Euvre des betreffenden Meisters prüft; wobei er die Kenntnis von dessen Entwicklung, die er gerade erforschen wollte, voraussetzen muß. Dieses Umschlagen der Erkenntnisrichtung vom eigentlichen Gegenstand der Forschung auf das Forschungsmittel und die damit verbundene Vorwegnahme dessen, was man eigentlich erst ergründen wollte, ist aller historischen Untersuchung eigen, und die gegebenen Beispiele lassen sich beliebig vermehren: Eine Untersuchung über die Kunstanschauungen des Barock, die Berninis kunsttheoretische Äußerungen als Quelle benutzt, um den Stil seiner Werke zu deuten, schägt um in eine Untersuchung über die Rolle der Theorie im künstlerischen Schaffensprozeß Berninis. Eine Untersuchung über Cäsars Monarchie und das Prinzipat des Pompeius, welche die Schriften Ciceros als ihre Hauptquelle verwertet, schlägt um in eine Untersuchung der Rolle Ciceros in dem Konflikt zwischen Senat und Usurpatoren. Grundsätzlich könnte man also dies als die Dialektik des historischen Dokuments bezeichnen: daß man diejenigen Kenntnisse, die man mit Hilfe des Dokuments zu gewinnen sucht, für dessen adäquaten Gebrauch bereits voraussetzen müßte. Gerade dieser Paradoxie verfallt nun aber auch der Naturforscher. Der Physiker sucht allgemeine Gesetze der Natur durch Instrumente zu erschließen, die diesen Gesetzen selbst unterworfen sind. In der klassischen Mechanik verwendet man Meßlatten und Uhren, die man von einem Ort auf den anderen überträgt; wobei man voraussetzt, daß diese Ortsveränderung ihre Konstanz als Meßinstrumente nicht beeinträchtigt.

Aussagensysteme und systematische Verifizierung. E. Wind

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Diese Voraussetzung aber bringt selbst ein mechanisches Gesetz zum Ausdruck (nämlich die Unabhängigkeit der Messungsgröße von Ort und Bewegung), von dessen erst zu erprobender Geltung die Zuverlässigkeit der gewählten Instrumente abhängt. Für Wärmemessungen wählt man eine Flüssigkeit wie Quecksilber als Maßstab und behauptet von ihr, daß sie sich bei zunehmender Wärme gleichmäßig ausdehne. Kann man aber eine solche Behauptung aufstellen, ohne die Gesetze der Wärmelehre zu kennen? Und kann man wieder diese Gesetze anders erkennen als durch Messungen, bei denen man eine Flüssigkeit wie etwa Quecksilber als Maßstab verwendet? — Der Zirkel ist also in der Naturwissenschaft ebenso unentrinnbar wie in der Geschichte, und um Entsprechungen und Zusammenhänge zwischen diesen beiden Forschungsmethoden aufzudecken, scheint hier ein günstiger Ansatzpunkt gefunden.

„Eingriff' und „Affekt" des Forschers Daß Dilthey sich gerade auf einen solchen Zirkel berufen sollte, um die Unvergleichbarkeit von Historie und Naturforschung zu erläutern, ist in der Geschichte gedanklicher Unglücksfälle wohl einer der wunderlichsten. In seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften wird die Erklärung, daß die Geschichte sich mit der Naturwissenschaft an F,xaktheit nicht messen könne, durch den Ausruf begleitet: Und doch wird dieses alles mehr als auf gewogen durch die Tatsache, daß ich selber, der ich mich von innen erlebe und kenne, ein Bestandteil dieses gesellschaftlichen Körpers bin ... Das Individuum ist einerseits ein Element in den Wechselwirkungen der Gesellschaft, ... in bewußter Willensrichtung und Handlung auf die Einwirkungen derselben reagierend, und es ist zugleich die dieses alles anschauende und erforschende Intelligent·2 Daß der Mensch, der nach Diltheys Worten „ein Bestandteil der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit" ist, sich selbst von innen her erlebe und kenne, ist — heute mehr denn je — eine spekulative Behauptung. Eine umfassende ärztliche Theorie und Technik, die unter dem Namen der „Tiefenpsychologie" auch in die Soziallehren gestaltend eingreift, pflegt genau das Gegenteil zu lehren: nämlich, daß der Mensch sich selbst nicht unmittelbar kennt und erlebt. Und auch für die historische Deutung von Kulturdokumenten ist eine viel komplexere Psychologie erforderlich, als es Diltheys unmittelbare Erlebnislehre mit ihrem direkten Appell an die „Lebendigkeit" ist. Peirce schrieb in einem Entwurf zu einer Psychologie der Ideenentwicklung: „It is the belief men betray and not that which they parade which has to be studied." 3 [...] 2 1

W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Bd. I, Leipzig und Berlin: 1922, S. 37. Ch. S. Peirce, „Issues of Pragmatism", The Monist, 15, 1905, S. 485; Collected Papers of Charles Sanders Peirce, hg. von Charles Hartshorne und Paul Weiss, Bd. V. Cambridge (Mass.): 1934, S. 297.

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A n g e w a n d t e r Rationalismus

Setzt man nämlich den direkten Appell an das innere Erlebnis als unerlaubten Kurzschluß außer Funktion, so enthält Diltheys Bemerkung eigentlich nichts mehr, was nicht auch ein Physiker — in sinngemäßer Abwandlung — von sich behaupten könnte: „Ich selber, der ich mit Apparaten und Meßinstrumenten hantiere, bin ein Bestandteil dieser physikalischen Welt; das Individuum (d. h. der experimentelle Forscher) ist einerseits ein Element in den Wechselwirkungen der Natur, in bewußter Handlung auf die Einwirkungen derselben reagierend, und er ist zugleich die dieses alles berechnende und hypothetisch erforschende Intelligenz." Alan wende nicht ein, daß durch diese „physikalische Travestie" der Sinn des Diltheyschen Satzes völlig vernichtet sei. Der Tiefsinn ist allerdings verschwunden, und was übrig bleibt, atmet den wohltuenden Geruch der Trivialität. Dafür sagt aber der Satz jetzt etwas aus, was nicht nur einfach, sondern auch wahr ist: Der Forscher ist in den Pro^eß, den er erforscht, selbst eingeschaltet. So verlangt es der oberste Grundsatz aller Methodenlehre. Um Physik zu treiben, muß man physikalisch affiziert sein; ein „reiner" Geist treibt keine Physik. Man braucht dazu — wie sehr der Geist auch „deute" — einen Körper, der die zu deutenden Signale vermittelt. Sonst käme man mit der erforschenden Umwelt überhaupt nicht erst in Kontakt. — Ein „reiner" Geist treibt aber auch keine Historie. Dazu muß man historisch affiziert sein, bedrängt von der Fülle vergangener P>fahrung, die in Gestalt von „Überlieferung" in die Gegenwart eindringt: fordernd, verpflichtend, oft auch nur erzählend, berichtend, hinausweisend auf andere gleichfalls vergangene Erfahrung, die überhaupt noch nicht erschlossen ist. So ist auch hier der Forscher zunächst Empfänger von Signalen, auf die er sich einstellt und denen er nachjagt, aber auf deren Eintreffen er nur sehr bedingten Einfluß hat. Die Aufnahme und Verarbeitung dieser Zeichen, das Funktionieren dieses ganzen „Empfangsapparats" läßt sich nicht auf die einfache Formel traditioneller Antithesen („Hie Leib, hie Seele" oder „hie innen, hie außen") bringen. Wohl aber läßt sich sagen, daß durch diese Einschaltung in den zu erforschenden Prozeß der Forscher selbst, wie jedes seiner Werkzeuge, zum Teilobjekt der Forschung wird, wobei das Wort „Teilobjekt" in zwiefachem Sinne gemeint ist: Er ist, wie jedes andere Forschungsmittel, nur ein Teil des Gesamtobjekts, das erforscht wird. Es ist aber auch nur ein Teil seiner selbst, was in dieser Weise, zum „Instrument" entäußert, in die Objektwelt seiner Forschung eingeht.

Edgar Wind Über einige Berührungspunkte zwischen Naturwissenschaft und Geschichte"

Aussagensysteme und systematische Verifizierung. C. Darwin

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Der Beweis durch ein System konvergierender Wahrscheinlichkeiten Die Beweisführung, mit der Darwin indirekt und durch subtiles Abwägen von Wahrscheinlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten nachweist, daß alle Jäubenrassen von einer einzigen Art abstammen, illustriert die Risiken wie die schöpferischen Möglichkeiten einer handwerklichen Diskursivität, die vielleicht dem mühseligen Verlauf der Beweissuche in der Soziologie näherkommt als die untadeligen, aber selten anwendbaren Programme der reinen Methodologie. Um beweisen, was ihn die reale Trage, auf die er stößt, beweisen ywingt, und um es auf der Grundlage des Materials z>< beweisen, das zH berücksichtigen sie ihn %wingt, stellt Darwin Wahrscheinlichkeits- und Umvahrscheinlichkeitssysteme und -mtersysteme auf und konfrontiert sie miteinander. Wie A. Kaplan steigt, der diesen Text gittert, wird dabei deutlich, daß sich die Gegenhypothese %ur Hypothese Darwins nur um den Preis zahlreicher Annahmen aufrechterhalten läßt, die unwahrscheinlich sind, wenn sie zusammengebracht werden, daß man sie aber vielleicht gelten ließe, wenn diese unzusammenhängend aufgestellt würden. Auf diese Weise setz/ er ein System aus positiven und negativen Beweisgründen zusammen, eine „Beweiskette", die „stärker ist als ihr schwächstes Glied, stärker sogar als ihr stärkstes Glied'. *

38. C. Darwin W i e g r o ß auch die Differenzen zwischen den Taubenrassen sind, ich bin doch völlig überzeugt, daß die allgemeine Meinung der Naturforscher, sie stammen alle von der Felstaube (Columba livia) ab, richtig ist, wenn nämlich unter dieser Bezeichnung die verschiedenen geographischen Rassen oder Unterarten mitinbegriffen werden, die nur in ganz geringer Weise voneinander abweichen. Da einige der Gründe, die mich zu dieser M e i n u n g bestimmt haben, auch auf andere Fälle anwendbar sind, so will ich sie hier kurz anführen: Wären die verschiedenen Rassen nicht Varietäten und würden sie nicht von der Felstaube abstammen, so müßten sie wenigstens von sieben bis acht Stammarten herrühren. Denn es wäre unmöglich, unsere heutigen Hausrassen durch Kreuzung einer geringeren Anzahl hervorzubringen; wie ζ. B. könnte eine Kropftaube durch Kreuzung zweier Rassen hervorgebracht werden, wenn nicht wenigstens eine der Elternart den charakteristischen großen Kröpf hätte? Die angenommenen Stammarten müssen alle Felstauben gewesen sein, das will besagen, sie brüteten nicht freiwillig auf Bäumen, ja sie setzten sich nicht einmal freiwillig darauf. Doch außer der C. livia und ihren geographischen Unterarten sind nur zwei oder drei Arten von Felstauben bekannt und diese haben nicht eine einzige der charakteristischen Eigenschaften unserer Haustauben. Es müßten daher die angenommenen Stammarten entweder noch in den Gegenden existieren, w o sie ursprünglich gezähmt wurden und den Ornithologen noch unbekannt sind, was im Hinblick auf ihre Größe, Gewohnheiten und m e r k w ü r d i g e n Charaktere unmöglich scheint; oder sie müßten im Zustand der Wildheit ausgestorben sein. Aber Vögel, die an Felsen brüten und die g u t fliegen, sind nicht leicht auszurotten; und die gewöhnliche

* Λ. Kaplan, The Conduct of Inquiry, a. a. ()., S. 245.

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Angewandter Rationalismus

Felstaube, deren Lebensweise gleich der unserer Hausrassen ist, konnte noch nicht einmal auf einigen der kleinen britischen Inseln an den Küsten des Mittelländischen Meeres ausgerottet werden. Mir scheint daher die angebliche Ausrottung so vieler Arten, die mit der Felstaube gleiche Lebensgewohnheiten besitzen, eine übereilte Annahme zu sein. Überdies sind die oben bezeichneten verschiedenen Hausrassen nach allen Weltgegenden gebracht worden, und daher müßten auch einige von ihnen nach ihrer Heimat zurückversetzt worden sein. Doch nicht eine von ihnen ist verwildert, obgleich die Feldtaube — welche die Felstaube in ihrer am wenigsten veränderten Form darstellt — in manchen Gegenden wieder verwildert ist. Ferner: alle neueren Versuche zeigen, daß es schwer ist, ein wildes Tier zur Fortpflanzung in der Domestikation zu veranlassen; es müßte daher angenommen werden, daß schon in frühen Tagen und von halbcivilisierten Menschen wenigstens sieben oder acht Arten so vollständig gezähmt wurden, daß sie nun in der Gefangenschaft recht fruchtbar sind. Ein Argument von großer Wichtigkeit und auch an verschiedenen andern Fällen anwendbar, ist, daß die erwähnten Rassen, obgleich sie im allgemeinen, was Konstitution, Lebensweise, Stimme, Farbe und die meisten Teile ihrer Struktur betrifft, mit der Felstaube übereinstimmen, doch in anderen Teilen bedeutend von ihr abweichen. Vergeblich würden wir in der ganzen großen Familie der Columbiden nach einem Schnabel gleich dem der englischen Brieftaube oder der kurzstirnigen Purzeltaube, oder der Berbertaube suchen; nach umgekehrten Federn wie bei der Perückentaube; nach einem Kröpf wie bei der Kropftaube; oder nach einem Federnschwanz wie bei der Pfauentaube. Es müßte daher angenommen werden, daß der halbcivilisierte Mensch nicht nur mehrere Arten vollständig gezähmt, sondern auch, daß er absichtlich oder zufallig außergewöhnlich abweichende Arten dazu erlesen habe, ferner, daß diese Arten nunmehr erloschen oder verschollen sind. Das Zusammentreffen so vieler Gemeinsamkeiten ist schon im höchsten Grade unwahrscheinlich. Einige Thatsachen bezüglich der Färbung des Gefieders verdienen wohl Beachtung: Die Felstaube ist schieferblau mit weißen Lenden, die bei der indischen Unterart (C. intermedia Strickland) bläulich sind. Der Schwanz hat eine schwarze Schlußbinde, deren äußere Federn einen äußerlichen weißen Rand haben. Die Flügel haben zwei schwarze Binden. Einige halbgezähmte und einige ganz wilde Unterrassen haben überdies noch die Flügel schwarz gesprenkelt. Diese verschiedenen Kennzeichen kommen vereint bei keiner zweiten Art der ganzen Familie vor. Nun kommen aber in jeder unserer Hausrassen, selbst unter gut ausgebildeten Vögeln, zuweilen alle diese Kennzeichen gut entwickelt in Verbindung miteinander vor, selbst bis auf die weißen Ränder der äußeren Schwanzfedern. Mehr noch! wenn Vögel verschiedener Rassen, wovon keine blau ist, noch eines der erwähnten Kennzeichnen trägt, gepaart werden, so zeigen die nachkommenden Blendlinge

Aussagensysteme und systematische Verifizierung. C. Darwin

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die Neigung, jene charakteristischen Zeichen anzunehmen. Um nur ein Beispiel aus meinen vielen Beobachtungen anzuführen: ich kreuzte einige weiße Pfauentauben, die sehr oft brüten, mit einigen schwarzen Berbertauben, deren blaue Varietäten sind so selten, daß ich noch nie Kunde von ihrem Vorkommen in England erhielt. Die Blendlinge waren schwarz, braun und gefleckt. Ich kreuzte auch eine Berbertaube mit einer Schnippe, einer weißen Taubenart mit rotem Schwanz und rotem Fleck auf der Stirne, und die bekanntlich sehr echt brüten. Die Blendlinge waren dunkel und gefleckt. Ich kreuzte dann einen der Nachkömmlinge der Berberpfauentauben mit einem Nachkömmling der Berberschnippe, und diese brachten einen Vogel hervor von so schöner blauer Farbe, weißen Lenden, doppelter schwarzer Flügelbinde und schwarzer Schlußbinde mit weißen Seitenrändern der Steuerfedern, wie nur irgend eine wilde Felstaube sein mag. Wir können uns diese Thatsache mit dem bekannten Prinzip der Reversion (Rückkehr) zu den vorelterlichen Eigenschaften erklären, wenn alle Haustauben von der Felstaube abstammen. Leugnen wir aber letzteres, so müssen wir eine von beiden nachfolgenden Unwahrscheinlichkeiten gelten lassen: entweder, daß alle die verschiedenen imaginären Stammarten wie die Felstaube gefärbt und gezeichnet waren — obgleich keine andere existierende Art so gefärbt und gezeichnet ist — so daß bei jeder einzelnen Rasse die Neigung zur Rückkehr zu dieser Färbung und Zeichnung vorhanden wäre; aber daß jede Rasse, selbst die reinste, während der letzten zwölf oder höchstens zwanzig Generationen mit der Felstaube sich gekreuzt hätte. Ich sage, während zwölf oder höchstens zwanzig Generationen, denn es ist kein Beispiel bekannt, daß auch nach einer längeren Reihe von Generationen ein Abkömmling zu den Eigenarten eines Ahnen fremden Blutes zurückgekehrt wäre. Wenn in einer Rasse nur einmal eine Kreuzung mit einer anderen stattgefunden hat, so wird die Neigung, zu den Eigentümlichkeiten der letzteren zurückzukehren, natürlich um so geringer werden, je weniger von ihrem Blute in den nachfolgenden Geschlechtern übrig bleibt. Hat aber eine solche Kreuzung nicht stattgefunden, und es ist in der Rasse doch die Neigung vorhanden, zu den Eigenarten zurückzukehren, die sie in früheren Zeiten verloren hat, so ist anzunehmen — was auch immer des Gegenteils sich zeigen mag — daß diese Neigung sich durch eine unbestimmte Zahl von Generationen ungeschwächt fortpflanzen könne. Diese zwei verschiedenen Fälle der Reversion werden von jenen, die über Erblichkeit schreiben, oft verwechselt. Endlich sind auch die Hybriden oder Blendlinge aller Taubenrassen vollkommen fruchtbar, was ich nach meinen eigenen Beobachtungen bestätigen kann, die ich zu diesem Zwecke bei den verschiedensten Rassen vorgenommen habe. Aber es wird dagegen kaum ein Fall angeführt werden können, der sicher erweist, daß ein Abkömmling zweier verschiedener Tierarten vollkommen fruchtbar gewesen wäre. Manche Fachleute sind der Meinung, daß lang fortgesetzte Domestikation diese starke Neigung zur Unfruchtbarkeit auf-

Angewandter Rationalismus

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hebe. Aus der Geschichte des Hundes und einiger anderer Haustiere läßt sich annehmen, daß dieser Schluß richtig sein mag, sofern er auf nahverwandte Arten angewendet wird. Aber dabei auch anzunehmen, daß Arten, ursprünglich so verschieden wie es jetzt Brieftaube, Purzcltaube, Kropftaube und Pfauentaube sind, eine untereinander vollkommen fruchtbare Nachkommenschaft gäben, wäre doch zu voreilig. Aus diesen verschiedenen Gründen: die Unwahrscheinlichkeit nämlich, daß der Mensch in frühen Zeiten schon sieben bis acht Arten von Wildtauben in der Domestikation zum Fortpflanzen veranlassen konnte, Arten, die wir im wilden Zustand nicht kennen gelernt haben und auch im verwilderten Zustand uns unbekannt geblieben sind; die im Vergleich mit allen anderen Columbiden so sehr abnormen Charaktere dieser Arten, obgleich sie in vielen Beziehungen der Felstaube so ähnlich sind; das gelegentliche Wiedererscheinen der blauen Farbe und der verschiedenen dunkeln Flecke bei allen Rassen, mögen sie nun rein gehalten oder gekreuzt werden; und schließlich die vollkommene Fruchtbarkeit der Bastardabkömmlinge — aus diesen verschiedenen Gründen zusammengenommen, können wir mit Gewißhcit annehmen, daß alle unsere Hausrassen Abkömmlinge der Felstaube oder Columba livia und deren geographischen Unterarten sind.

Charles Darwin

Die Entstehung der Arten durch natürliche

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3.3 Paare in der Wissenschaftslogik Dialogische Philosophie Bachelard bat oft gezeigt, daß sich die moderne Wissenschaft von einer „zweifachen Gewißheit" leiten läßt, die in dem mehr oder weniger intensiven Dialog ζ-wischen den beiden Philosophien Rationalismus und Realismus formuliert wird. * Die Wissenschaftstheorie unterscheidet sich von der traditionellen Wissenschaftsphilosophie dadurch, daß sie diese zweifache Philosophie, die alle Handlungen des Wissenschaftlers beherrscht, als Objekt der Reflexion akzeptiert, statt an diese Handlungen wissensphilosophisch heranzugehen. Dabei erweist sich, daß ausgehend von Rationalismus und technischem Materialismus alle Philosophien der wissenschaftlichen lirkenntnis eine Ordnung ergeben. Die Philosophien, auf die man in den beiden „schwächeren", zum naiven Idealismus und zum naiven Realismus führenden Perspektiven t r i f f t , verlieren genau in dem Maße ihr Vermögen, die Arbeit des Wissenschaftlers z,u erklären und ihm theoretischen Beistand zu leisten, wie sie sich von dem „philosophischen Mittelpunkt" entfernen, „in dem gleichzeitig die reflektierte Hrfahrung und die rationale Hrkenntnis Zusammenkommen, kurz, (von dem) Raum, in dem die zptg^nössische Wissenschaft arbeitet". Bine solche Spektralanalyse der wissenschaftstheoretischen Positionen müßte — mutatis mutandis auf die * S. oben, Text Nr. 1, S. 93, und Text Nr. 22, S. 171.

Paare in der Wissenschaftslogik. G. Bachelard

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So^ialwissenschaften angewendet — deutlich machen, daß fiktive Dialoge £wischen fernliegenden und manchmal dennoch in geheimem Einverständnis handelnden Widersachern (%um Beispiel Formalismus und Intuitionismus) häufiger sind als intensive Wechselbeziehungen %wischen Theorie und Erfahrung.

39. G. Bachelard In Wirklichkeit hat dieses Wechselspiel zweier konträrer Philosophien, das sich im wissenschaftlichen Denken abspielt, noch weitere Philosophien erfaßt, und wir werden Dialoge darzustellen haben, die zwar weniger intensiv sind, die Philosophie des wissenschaftlichen Geistes jedoch erweitern. Zum Beispiel würde man die Wissenschaftsphilosophie geradezu verstümmeln, wollte man nicht untersuchen, wie der Positivismus oder der Formalismus einzuordnen sind, die doch alle beide in der zeitgenössischen Physik und Chemie ihre Funktion haben. Wir halten aber unsere zentrale Position auch deshalb für richtig, weil ausgehend vom angewandten Rationalismus alle Philosophien eine Ordnung ergeben. So braucht das folgende Schaubild kaum erläutert zu werden, wenn man es auf das wissenschaftliche Denken anwendet: Idealismus Τ Konventionalismus Formalismus Τ Angewandter Rationalismus und Technischer Materialismus Τ Positivismus Τ Empirismus Τ Realismus Wir wollen nur auf die beiden schwächeren Perspektiven näher eingehen, die einerseits vom Rationalismus zum naiven Idealismus und andererseits vom technischen Materialismus zum naiven Realismus führen. Interpretiert man nämlich die rationale Erkenntis systematisch als Bildung bestimmter Formen, als einfaches Gerüst von Formeln, die geeignet sind, jeder beliebigen Erfahrung Form zu geben, führt man einen Formalismus ein. Dieser Formalismus kann zur Not die Resultate des rationalen Denkens erfassen, nicht aber seine ganze Arbeit. Im übrigen bleibt es nicht immer bei einem Formalismus. Erste Schritte in Richtung einer Philosophie, in der die Erfahrung eine geringere Rolle spielt, sind bereits getan. Es liegt nahe, die theoretische Wissenschaft als ein Ensemble von Konventionen anzusehen, als eine Serie von mehr oder weniger eingängigen Gedanken, aufgebaut in der klaren

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A n g e w a n d t e r Rationalismus

Sprache der Mathematik, die nur noch das Esperanto der Vernunft ist. Daß diese Konventionen eingängig sind, macht sie aber nicht weniger willkürlich. Ganz natürlich kommt man dahin, diese Formeln und Konventionen, diese Willkür, der Tätigkeit des denkenden Subjekts zu unterstellen. Auf diese Weise gelangt man zum Idealismus. Diesen Idealismus gesteht sich die zeitgenössische Wissenschaftstheorie nicht mehr ein, aber das ganze 19. Jahrhundert hindurch hat er in den Naturphilosophien eine so große Rolle gespielt, daß er in einer allgemeinen Untersuchung der Wissenschaftsphilosophien immer noch aufgeführt werden muß. Im übrigen ist auf das Unvermögen des Idealismus hinzuweisen, einen Rationalismus moderner Art zu begründen, einen aktiven Rationalismus, der imstande ist, dem Wissen aus den neuen Räumen der Erfahrung Formen zu geben. Die Perspektive, die wir gerade beschrieben haben, läßt sich, mit anderen Worten, nicht umkehren. Entwirft der Idealist eine Philosophie der Natur, begnügt er sich damit, die Bilder, die er sich von der Natur macht, in eine Ordnung zu bringen, indem er sich an das hält, was an diesen Bildern unmittelbar ist. Er kommt über die Grenzen eines vergeistigten Sensualismus nicht hinaus. Er läßt sich nicht auf eine fortgesetzte Erfahrung ein. Er wäre erstaunt, verlangte man von ihm, der naturwissenschaftlichen Forschung auch in bezug auf das — seinem Wesen nach instrumentale — Experimentieren zu folgen. Er glaubt sich nicht verpflichtet, die Konventionen anderer Denkweisen zu akzeptieren. Er ist nicht zum langsamen Gang der Disziplin bereit, die seinen Geist nach den Lektionen der objektiven Erfahrung formen würde. Der Idealismus begibt sich also jeder Möglichkeit, das moderne wissenschaftliche Denken zu erklären. Das wissenschaftliche Denken kann seine vielfältigen, strengen Formen nicht in diesem Klima der Vereinzelung finden, in diesem Solipsismus, der jedem Idealismus angeboren ist. Das wissenschaftliche Denken braucht soziale Realität, braucht die Billigung einer community der Mathematiker und Physiker. Also müssen wir, wenn wir an der Begründung einer spezifischen Philosophie für das wissenschaftliche Denken arbeiten, die zentrale Position des angewandten Rationalismus einnehmen. In der anderen Perspektive unseres Schaubildes findet sich dann anstelle der Verblasenheit, die zum Idealismus führt, eine zunehmende Denkfaulheit, die zum Realismus führt, zu einem Begriff von Realität als Synonym für Irrationalität. Tatsächlich scheinen einem sofort alle Prinzipien von Notwendigkeit verloren zu gehen, wenn man vom eng der Theorie verpflichteten Rationalismus des physikalischen Experiments zum Positivismus kommt. Infolgedessen kann der reine Positivismus wohl kaum die Kraft der Deduktion erklären, die in der Entwicklung der modernen Theorie eine Rolle spielt, und auch nicht die hohen Kohären^werte der zeitgenössischen Physik. Dennoch hält der Positivismus im Vergleich zum reinen Empirismus wenigstens an der hierarchischen Ordnung der Gesetze fest. Er nimmt sich das Recht, von den subtilen

Paare in der Wissenschaftslogik. G . Bachelard

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Approximationen, den Details, den Varietäten abzusehen. Die hierarchische Ordnung der Gesetze hat jedoch nicht den hohen Organisationswert, den die vom Rationalismus entwickelten Notwendigkeiten haben. Darüber hinaus ist der Positivismus, da er auf Nützlichkeitserwägungen gründet, schon nicht mehr weit davon entfernt, zum Pragmatismus abzusinken, zu jener Unzahl von Rezepten, die den Empirismus ausmachen. Der Positivismus hat nichts von dem, was nötig ist, um zu bestimmen, welcher Ordnung Approximationen angehören, um jenes eigenartige Rationalitätsempfinden zu verspüren, das die Approximationen zweiter Ordnung vermitteln, jene mehr ungefähren, umstritteneren, kohärenteren Erkenntnisse, zu denen wir bei aufmerksamer Prüfung von Detailexperimenten gelangen und die uns zu verstehen geben, daß es im Zusammengesetzten mehr Rationalität gibt als im Einfachen. Noch einen Schritt über den Pimpirismus hinaus, der sich ganz in der Aufzählung seiner Erfolge erschöpft, und man gelangt im übrigen zu jener Ansammlung von Dingen und Fakten, die den Realismus vollstopft und damit die Illusion von Reichtum erzeugt. Wir werden in der Folge zeigen, wie sehr jenes von manchen Philosophen so leichthin übernommene Postulat, die Realität sei als Pol der Irrationalität anzusehen, jedem wissenschaftlichen Geist zuwiderläuft. Haben wir die philosophische Betätigung des wissenschaftlichen Geistes erst einmal auf ihren aktiven Mittelpunkt zurückgeführt, wird sich ganz klar zeigen, daß der aktive Materialismus genau die Funktion hat, alles zu drosseln, was an seiner Materie oder seinen Objekten als irrational qualifiziert werden könnte. Die Chemie liefert uns — gestützt auf ihre rationalen α priori — Substanzen ohne Ak^identien, sie befreit alle Materie von der Irrationalität der Ursprünge. [...] Unternimmt man den Versuch einer philosophischen Bestimmung der aktiven wissenschaftlichen Begriffe, merkt man bald, daß jeder dieser Begriffe zwei Seiten hat, immer wieder zwei Seiten. Jeder präzise Begriff ist ein Begriff, der präzisiert wurde. Er wurde präzisiert im Bemühen um Idoneismus im Sinne Gonseths, und zwar um so mehr, je intensiver seine Dialektik war. Diese Dialektiken werden aber schon von den entfernten Symmetrien des vorgeschlagenen Schaubildes angesprochen. So ließen sich manche Probleme der Erkenntnistheorie der Physik bereits klären, wenn man die dialogische Philosophie von Formalismus und Positivismus einführte. Der Formalismus würde bereits mit hinreichender Klarheit alle mathematischen Gesichtspunkte koordinieren, die den von der wissenschaftlichen Erfahrung aufgedeckten positiven Gesetzen ihre Form geben. Der Formalismus hat zwar nicht das Apodiktische des Rationalismus, verfügt aber doch über logische Autonomie. Auch zwischen Empirismus und Konventionalismus — als Philosophien wohl allzu spannungslos — ließen sich noch Korrespondenzen herstellen. Ihr Dialog hätte zumindest den Reiz eines doppelten Skeptizismus. Daher finden sie auch viel Anklang bei denjenigen modernen Philosophen, die den Fortschritten des wissenschaftlichen Denkens eher fern stehen.

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Angewandter Rationalismus

Was die beiden am weitesten auseinanderliegenden Philosophien angeht, Idealismus und Realismus, so haben sie kaum eine andere Stärke als ihren Dogmatismus. Der Realismus ist abschließend, der Idealismus voreilig. Keiner von beiden hat jene Aktualität, die beim wissenschaftlichen Denken gefordert ist. Insbesondere kann man sich wirklich nicht vorstellen, wie sich aus einem Vulgärrealismus der wissenschaftliche Realismus entwickeln sollte. Bestünde Wissenschaft in der Beschreibung einer gegebenen Realität, wüßte man nicht, woher sie das Recht nehmen sollte, diese Beschreibung zu ordnen. Unsere Aufgabe ist es also nachzuweisen, daß der Rationalismus keineswegs vom Imperialismus des Subjekts bedingt ist, daß er vielmehr in einem vereinzelten Bewußtsein gar nicht entstehen kann. Wir haben auch zu beweisen, daß der technische Materialismus keineswegs ein philosophischer Realismus ist. Der technische Materialismus entspricht seinem Wesen nach einer umgestalteten Realität, einer korrigierten Realität, einer Realität, die eben den Stempel des Menschlichen par excellence bekommen hat, den Stempel des Rationalismus. So werden wir immer wieder zum philosophischen Mittelpunkt zurückgeführt, in dem gleichzeitig reflektiertes Experiment und rationale Erkenntnis zusammenkommen, kurz, in den Raum, in dem die zeitgenössische Wissenschaft arbeitet.

Gaston Bachelard

Le rationalisme applique

Der Neopositivismus, eine Verbindung von Sensualismus und Formalismus Am Neopositivismus der Wiener Schule sieht man deutlich, daß ein radikaler Formalismus — im Gegensatz %ur allgemeinen Vorstellung, die dem formalen Raffinement automatisch die Eigenschaften einer theoretischen Konstruktion zuerkennt — mit der Unterwerfung unter die „Tatbestände" des common sense einhergeht, das heißt unter die sensualistische Theorie, die vom common sense aktiviert wird, wenn er sich den Tatbestand als etwas unmittelbar Gegebenes vorstellt.

40. G. Canguilhem Es ist oft angemerkt worden, daß es vom Empirismus zum Positivismus eine Verbindung gibt. D'Alembert ist das Bindeglied zwischen Comte und den Sensualisten des 18. Jahrhunderts. Der Positivismus definiert sich selbst über die Weigerung, irgendeinen Satz in Erwägung zu ziehen, der nicht inhaltlich direkt oder indirekt auf beobachtete Tatbestände Bezug nimmt. „Indem ich [dem Begriff Philosophie] das Wort positiv beigebe, zeige ich an, daß ich jene

Paare in der Wissenschaftslogik. G. Canguilhem

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Art des Philosophierens meine, die darin besteht, Theorien gleich welcher Denkrichtung als etwas zu betrachten, dessen Gegenstand die Koordination der beobachteten Tatbestände ist." 1 Sofort fallt auf, wie hier die Tatbestände von der Theorie getrennt werden, die ihnen gewissermaßen nachgeordnet und äußerlich ist: Gleiches gilt für das Schema der positiven Methode, demzufolge der menschliche Geist sich bemüht, die wirklichen Gesetze der Erscheinungen, das heißt die unveränderlichen Beziehungen von Abfolge und Ähnlichkeit, „durch den gut abgestimmten Gebrauch von rationaler Erkenntnis und Beobachtung" zu entdecken. 2 An anderer Stelle entwickelt Comte die Bedeutung des Wortes positiv so: real, verifizierbar, anwendbar. 3 Die bereits im Empirismus deutliche Rückbeziehung der theoretischen Spekulation auf die pragmatische Anwendung ist im Positivismus nicht mehr zu übersehen. Sie zeigt sich an der Unterscheidung (astronomisch gesehen) zwischen dem Universum und der Welt (Sonnensystem), die allein menschliches Interesse verdient; an Comtes Ablehnung des Gebrauchs von Methoden oder Instrumenten, mit denen die Zusammensetzung der Himmelskörper bestimmt oder einfache Gesetzeszusammenhänge (wie das Mariotte'sche Gesetz) kompliziert und korrigiert werden können; an der Verbannung der Wahrscheinlichkeitsrechnung aus Physik und Biologie. Was die allgemeine Unterordnung der Erkenntnis unter das Handeln angeht (wissen, um vorauszusehen, um handeln zu können), so ist sie so bekannt, daß nicht näher auf sie eingegangen werden muß. Dieselben Tendenzen finden sich in dem wieder, was allgemein der Neopositivismus der Wiener Schule genannt wird, der paradoxerweise eine radikal sensualistische Theorie der Erforschung des Realen mit einer radikal formalistischen Theorie (formalistisch in dem Sinne, den sie in den modernen Arbeiten zur Axiomatik bekommt) des Denkens und Sprechens verbindet, wobei er an so unterschiedliche Traditionen anknüpft wie die, für die die Namen Ernst Mach und Hilbert stehen. Die eigentlichen Vertreter dieser Schule sind R. Carnap, M. Schlick und Neurath, zu denen noch Ph. Frank hinzugezählt werden muß, und, wenn auch entfernter, H. Reichenbach, der sich allerdings gegen eine strikte Zuordnung zu dieser Schule verwahrt. Die Wiener Neopositivisten greifen — mit vielen Vorbehalten — Wittgensteins Grundidee auf (Tractatus logico-philosophicus), daß die Sprache das Abbild der Welt sei: Das Reale ist ein Ensemble von „Daten", und deren Kenntnis macht seine Beschreibung aus. Namen entsprechen Gegenständen, Sätze den wirklichen Beziehungen zwischen Gegenständen. Die Sprache hat dieselben Grenzen wie die Welt, es könnte nichts Verstehbares in ihr geben, das nicht auch in der Welt wäre (der Begriff einer Grenze der Welt hat zum Beispiel 1 2 3

Λ. Comte, Vorrede zur 1. Auflage des Cours de Philosophie positive, 1830. Cours de la Philosophie positive, 1. Lektion. Discours sur ΐensemble du positivisme, 1. Teil.

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A n g e w a n d t e r Rationalismus

keinen Sinn). In letzter Konsequenz — wo ihm Carnap nicht mehr folgt — behauptet Wittgenstein, daß es keine „Sätze über Sätze" geben könne. Zweck der Philosophie sei es lediglich, die Sprache zu kritisieren, Sätze zu erklären (wobei allerdings zu fragen ist, wie über Sätze gearbeitet werden soll, wenn keine Sätze über Sätze gemacht werden können). Also besteht trotz aller Vorbehalte die Grundlage der Wissenschaft nach Ansicht des Wiener Kreises aus Sätzen, mit denen Beobachtungsergebnisse auf die Ebene der Sprache gebracht werden. Nur Sätze können einen Sinn haben, nicht einzelne Wörter. Der Sinn eines Urteils über die Realität ist aber immer an eine Verifikationsmethode gebunden. Ein Urteil, das man nicht verifizieren, das heißt auf irgendeine wirkliche Beobachtung zurückführen könnte, hätte keinen Sinn. Zum Beispiel hat der Begriff Gleichzeitigkeit in der Relativitätstheorie eine Bedeutung bekommen, weil Einstein die Voraussetzungen einer Methode der Übermittlung und des Empfangs von Signalen definiert hat. Außerhalb dieses Experiments hat der Begriff der Gleichzeitigkeit nichts zu bedeuten. Nach Neurath sind alle Natur- und Geisteswissenschaften Teilstücke einer noch zu schaffenden „Einheitswissenschaft", diese Wissenschaft ist die Philosophie. Die Einheitswissenschaft muß über eine universale Sprache verfügen, diese Sprache soll die der Physik sein. Daher der Ausdruck Physikalismus, der nicht etwa bedeutet, daß jeder wissenschaftliche Satz auf die jeweils aktuell gültigen, weil aktuell verifizierten Theorien der Physik reduzierbar sein muß, sondern daß jeder realitätsbezogene Satz auf die gleiche Art verifizierbar sein muß wie die Protokollaussagen oder Protokollsät^e der Physik. Jedes physikalische Experiment läuft auf den Befund hinaus, daß ein bestimmter elementarer Sachverhalt (die Bewegung eines Zeigers auf einer Skala, das Erscheinen oder Verschwinden von Schatten oder Schlieren auf einem Schirm) unter bestimmten Umständen von einem bestimmten Experimentator aufgezeichnet wurde. Jede brauchbare physikalische Theorie muß zu solchen Verifizierungen führen: Mit dem genauen Protokoll über den Befund kann dann jedem Menschen Inhalt und Ergebnis der Beobachtung authentisch vermittelt werden; und die Übereinstimmung der von der Theorie abgeleiteten Protokollsätze (das heißt der Beobachtungen, zu deren Aufzeichnung man gelangen muß) mit den von realen Beobachtern direkt formulierten Protokollsätzen bürgt für die Richtigkeit der Theorie. Nur als dieser Physikalismus soll der Wiener Neopositivismus hier untersucht werden. Nach Neurath und Carnap muß der Sinn des Wortes Daten präzisiert werden, wenn man von dem Zusammenhang spricht, durch den einem realitätsbezogenen Satz seine Gültigkeit bescheinigt wird. Sie meinen, jede Protokollaussage müsse eine Aussage mit Bezug auf physikalische Objekte enthalten, zum Beispiel daß ein dunkler Fleck oder ein heller Kreis an einer bestimmten Stelle auf einem Schirm zu beobachten ist. Die Konsequenz dieser

Paare in der Wissenschaftslogik. G . Canguilhem

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Behauptung ist, daß die bei allen ontologischen Philosophien so beliebte Unterscheidung von „realer" Welt und „Schein"-Welt sinnlos ist. Reales und Schein unterscheiden sich voneinander wie zwei unter unterschiedlichen Bedingungen gewonnene Versuchsergebnisse (Frank). Zum Beispiel läuft der Unterschied zwischen dem sichtbaren NaCl-Kristall und dem realen Kristall (das heißt seiner molekularen Struktur) auf einen Unterschied des Lichts hinaus: Bei Sonnen- oder Lampenlicht sieht das menschliche Auge den Kristallkörper als kompakten Körper, unter Einwirkung von Röntgenstrahlen auf der photographischen Platte aber als körnige Struktur. Eine physikalische Theorie hat infolgedessen nur noch die Aufgabe, die Versuchsdaten nach einem Schema und mit dem Ziel zu ordnen, die Erwartung auf bestimmte zukünftige Befunde hinzulenken. Wenn man die Identität von Licht und Elektrizität behauptet, darf man nicht versäumen, mindestens ein als Folge einer „realen" Identität von Licht und Elektrizität beobachtbares Phänomen anzuführen. Diese Lenkung der Erwartung ist der einzig reale Sinn, der dem Kausalitätsprinzip zukommt: Möchte man herausbekommen, sagt Frank, was darunter zu verstehen ist, wenn im praktischen Leben von Kausalitätsprinzip gesprochen wird, so kommt man darauf, daß es sich um eine bestimmte Art handelt, unsere Experimentaldaten mit dem Ziel einer Anpassung an die uns umgebende Welt und der Bewältigung der Sorge um die ganz unmittelbare Zukunft miteinander zu verknüpfen. Man sieht also, wie hier im Grunde der Neopositivmus via Comte „zurück zu Hume" findet. Zwischen dem sensualistischen Empirismus und dem Positivismus des 19. oder 20. Jahrhunderts besteht jedoch der bedeutsame Unterschied, daß für die sensualistischen Empiristen das Chaos der „Eindrücke" schließlich aus sich heraus zu einer Ordnung findet, indem es durch Assoziation Verbindungen eingeht, wohingegen der Positivismus die Notwendigkeit betont, Ordnung — bei Comte über eine Theorie mathematischen Typs, beim Wiener Kreis über das formale Schema — erst hineinzutragen. Dabei handelt es sich jedoch um ein Nebeneinander zweier Ordnungsprinzipien (Naturalismus und Rationalismus) und keineswegs um ihre Synthese. Die physikalische Theorie wie das formale Schema bleiben den Daten weiter nachgeordnet und äußerlich. Der Positivismus geht also davon aus, daß das unmittelbar Gegebene ursprünglich geeignet ist, eine aufgrund eines Ordnungsprinzips nachträglich gestaltungsfähige Erkenntnismaterie darzustellen. Dies hat Gonseth sehr genau gespürt, als er über die Doktrin des Wiener Kreises sagte: „Sie ist ein höchst summarischer, äußerst wenig nuancierter Realismus." 4 Ein höchst summarischer Realismus, gewiß, aber auch ein höchst vulgärer, eben der des common sense, der in der Form des absoluten Glaubenssatzes die Identität von Empfindung und Erkenntnis postuliert.

4

Qu'est-ce que la logique?, S. 34.

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Angewandter Rationalismus

Über dieses Postulat bzw. diesen Glaubenssatz ist zu urteilen. Und zwar zunächst anhand einer Zusammenfassung der Gedanken Max Plancks, eines der größten Physiker unserer Zeit. 5 Wenn man davon ausgeht, daß die Sinneswahrnehmungen zugleich eine ursprüngliche Größe und die einzig unmittelbare Realität sind, ist es falsch, von Sinnestäuschungen zu sprechen. Wenn man des weiteren nicht über den persönlichen Eindruck hinausgelangen kann, ist es unmöglich, von diesem zu einer objektiven Erkenntnis zu kommen. Es gibt keinen Grund, unter den persönlichen Eindrücken eine Auslese oder Auswahl vorzunehmen: Sie haben alle das gleiche Recht. In letzter Konsequenz, sagt Planck, verwerfe der Positivismus die Existenz und sogar die bloße Möglichkeit einer von der Individualität des Wissenschaftlers unabhängigen Physik. Wissenschaft ist nur möglich, wenn man von der Annahme ausgeht, daß eine reale Welt existiert, wir aber keine unmittelbare Erkenntnis von ihr haben können. Die wissenschaftliche Arbeit ist also das Streben nach einem unerreichbaren Ziel, „das Ziel ist metaphysisch, es ist unerreichbar". 6 Der Positivismus hat recht, wenn er das Messen als die Grundlage der Wissenschaft ansieht, aber er verkennt gründlich die Tatsache, daß das Messen ein Phänomen ist, dem der Wissenschaftler, das Meßinstrument und selbst die Theorie vorausgehen. Man sieht die Verwandtschaft von Plancks Positivismuskritik mit der Meyersons: Der Begriff Realität, der Begriff „Ding", sagt Meyerson, ist für die Wissenschaft unverzichtbar. Das Kernproblem ist letztlich: welchen theoretischen Stellenwert die Sinnesdaten haben. Zunächst einmal sind es nur Daten. Sodann erkennt die sensualistische oder positivistische Wissenschaftstheorie an, daß Wissenschaft, wenn sie sich von Sinnesdaten aus entwickelt, sich von ihnen löst. Comte bleibt dem empiristischen Realismus trotz seines Mathematismus treu: „Trotz aller willkürlichen Annahmen wird das Licht mit Notwendigkeit immer eine Kategorie sui generis darstellen, nicht reduzierbar auf irgendeine andere Kategorie: Licht wird ewig von anderer Art sein als Bewegung oder Schall. Letztlich stünden, selbst wenn es sonst keine Gründe gäbe, schon physiologische Erwägungen einer solchen Gedankenverwirrung unüberwindlich entgegen, nämlich aufgrund von unveränderlichen Eigenschaften, die den Gesichtssinn grundsätzlich vom Gehör oder vom Tastsinn unterscheiden." 7 Und doch wird diese Behauptung von der gesamten Entwicklung des Wissens widerlegt. Die Erkenntnis eint, was die sinnliche Wahrnehmung sondert und unterscheidet; sie ist das Bemühen um die Schaffung eines Universums, dessen Realität genau daher rührt, daß es den Anspruch der Sinneswahrnehmung, als Wissen aufzutreten, diskreditiert. Sicher bleibt die 5

6 7

M. Planck, „Pontivismus und reale Außenwelt", in: Wege physikalischen Leipzig: Hirgel 1934, S. 216. A. a. O., S. 217. Cours de philosophique positive, 33. Lektion, Schleicher II, S. 338.

Erkenntnis,

Paare in der Wissenschaftslogik. FL. Dürkheim

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erklärende Theorie mit der Erfahrung in Berührung, und sogar in allerengster Berührung, aber doch nur insofern, als die Erfahrung das lösende Problem ist und nicht der Ansatz zu dessen Lösung. Der Bezug der Theorie auf die Erfahrung bietet Gewähr dafür, daß sich die Theorie nicht von dem Problem löst, das der Anlaß ihres Entstehens war, bedeutet aber keineswegs, daß die Lösung in der Gestalt auftreten wird, die die Ausgangs-Erfahrung hatte.

Georges Canguilhem „Lemons sur la methode"

Formalismus als Intuitionismus Obwohl sie die besonderen Prinzipien — und Voraussetzungen — des Autors durchaus berücksichtigt, macht Dürkheims Kritik an Simmeis Versuch der Begründung einer formalen Soziologie den Zusammenhang ^wischen formalistischem Ansatz und Intuitionismus deutlich. Die Absicht, die vom „Inhalt" abstrahierenden sozialen Formen vorschnell zum Objekt der Soziologie zu machen, führt notwendig zu willkürlichen beziehungsweise von den Intuitionen des common sense induzierten Assoziationen: Begibt man sich der Erkenntnisse und Kontrollen, die für die Konstruktion komplexer Objekte unabdingbar sind, gibt man sich der „Phantasie des Einzelnen" hin und kann nur noch zu einer Methode kommen, bei der der Beweis durch das Beispiel und das System durch die eklektische Kumulierung ersetzt wird.

41. E. Dürkheim Dürkheim erinnert an die Intention des Werks von Simmel: geben, indem in der Gesellschaft der „Inhalt" von der „Form" das heißt „die Assoziation, innerhalb derer diese Phänomene Soziologie bildet, „der Wissenschaft von der Assoziation im

Der Soziologie ein eigenes Objekt zu geschieden wird — wobei die horm, zu beobachten sind", das Objekt der Abstrakten".

Mit welchen Mitteln aber gelangt man zu dieser Abstraktion? Wenn es richtig ist, daß alle Assoziationen von Menschen für bestimmte Zwecke gebildet werden, wie läßt sich dann die Assoziation im allgemeinen zur Bestimmung ihrer Gesetze von den unterschiedlichen Zwecken abtrennen, denen sie dient? „Durch Vergleichung von Assoziationen, die auf ganz unterschiedliche Zwecke gerichtet sind, und durch Hervorhebung dessen, was sie gemeinsam haben. Alle Unterschiede, die in den besonderen Zwecken liegen, um derentwillen Gesellschaften entstehen, neutralisieren sich auf diese Weise wechselseitig, und die Form allein tritt hervor. So ist ein Phänomen wie die Parteibildung sowohl in der Welt der Kunst, als auch im politischen Leben, in der Wirtschaft und in der Religion zu beobachten. Sucht man also nach dem, was sich trotz der Verschiedenheit der Zwecke und Interessen in all diesen Fällen findet, erhält man die Gesetze dieser besonderen Form des

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Angewandter Rationalismus

Zusammenschlusses. Mit derselben Methode wären Über- und Unterordnung, IIierarchiebildung, Arbeitsteilung, Konkurrent usw. zu untersuchen." 1 Es könnte scheinen, als wäre der Soziologie auf diese Weise ein klar definiertes Objekt zugewiesen. In Wirklichkeit dient jedoch eine solche Auffassung unserer Meinung nach nur dazu, sie im Dunstkreis einer metaphysischen Ideologie zu belassen, aus dem sie im Gegenteil unbedingt heraustreten möchte. Wir sprechen der Soziologie nicht das Recht ab, sich vermittels abstrakter Ideen zu konstituieren, denn es gibt keine Wissenschaft, die das nicht täte. Nur müssen die Abstraktionen methodisch entwickelt werden und bei der Gliederung der Tatbestände ihren natürlichen Unterschieden folgen, sonst arten sie notwendigerweise in Phantasiekonstruktionen aus, in nichtssagende Mythologie. Die alte politische Ökonomie nahm durchaus das Recht der Abstraktion für sich in Anspruch, und grundsätzlich kann man es ihr auch nicht absprechen; aber sie hat schlechten Gebrauch davon gemacht, denn sie legte ihrer gesamten Deduktion eine Abstraktion zugrunde, die vorauszusetzen sie kein Recht hatte, und zwar den Begriff eines Menschen, der sich in seinem Handeln ausschließlich von seinem Eigeninteresse leiten läßt. Eine solche Hypothese kann nicht gleich zu Anfang aufgestellt werden, zu Beginn einer Forschungsarbeit; nur durch wiederholte Beobachtungen und methodische Vergleiche läßt sich beurteilen, wie stark uns solche Beweggründe beeinflussen können. Wir haben kein Mittel, um zu befinden, es gebe in uns bestimmte Elemente, die klar genug definiert sind, um von anderen Faktoren unseres Verhaltens isoliert und gesondert betrachtet werden zu können. Wer vermöchte zu sagen, ob zwischen Egoismus und Altruismus wirklich jene klare Trennung besteht, die der gesunde Menschenverstand unreflektiert voraussetzt? Zur Rechtfertigung der von Simmel vertretenen Methode genügt es nicht, sich auf das Beispiel von Wissenschaften zu berufen, die mit Abstraktionen arbeiten; man muß nachweisen, daß die Abstraktion, auf die man sich bezieht, auch gemäß den Prinzipien zustandegekommen ist, nach denen sich jede wissenschaftliche Abstraktion zu richten hat. Mit welchem Recht aber wäre, und auch noch derart radikal, die Form vom Inhalt der Gesellschaft zu trennen? Man läßt es bei der Behauptung bewenden, nur die Form sei gesellschaftlicher Natur und der Inhalt habe nur indirekt gesellschaftlichen Charakter. Also gibt es keinen Beweis, um eine Aussage zu stützen, die der Wissenschaftler nicht nur nicht als evidentes Axiom, sondern durchaus als willkürliche Behauptung ansehen kann. Zwar ist nicht alles gesellschaftlich, was in der Gesellschaft geschieht, doch kann man diese Aussage nicht auf alles beziehen, was sich in der Gesellschaft 1

Georg Simmel, „Comment les formes sociales se maintiennent", in: I'Annee sociologique, 1898, S. 71 — 109. Da keine deutsche Fassung dieses von Dürkheim zitierten Textes von Simmel zu finden war, wurde er ins Deutsche rückübersetzt (Anm. d. Ü.).

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Paare in d e r W i s s e n s c h a f t s l o g i k . F . D ü r k h e i m

und durch sie entwickelt. Folglich müßte man, um Phänomene, die die Textur des sozialen Lebens bilden, aus der Soziologie ausklammern zu können, den Beweis erbracht haben, daß sie nicht das Werk des Kollektivs sind, sondern ganz andere Ursprünge haben und lediglich innerhalb des von der Gesellschaft gebildeten allgemeinen Rahmens auftreten. Soweit wir wissen, ist aber kein Versuch zu einem solchen Beweis gemacht oder auch nur mit den Untersuchungen begonnen worden, die ihm vorausgehen müßten. Immerhin ist auf den ersten Blick zu sehen, daß die Traditionen und kollektiven Praktiken von Religion, Recht, Moral, politischer Ökonomie als Tatbestände sicher nicht weniger sozial sind als die äußeren Formen der Vergesellschaftung; und dieser erste Eindruck bestätigt sich bei einer eingehenderen Prüfung dieser Tatbestände: Überall trifft man auf das Werk der Gesellschaft, die diese Phänomene hervorbringt, und ganz deutlich ist auch ihre Rückwirkung auf die soziale Organisation. Sie sind die Gesellschaft selbst, lebend und handelnd. Welch sonderbare Vorstellung, sich die soziale Gruppe als eine Art leerer Form zu denken, als beliebiges Modell, in die eine beliebige Materie gegossen werden könnte! Nun wird gesagt, daß es Strukturen gibt, denen man überall begegnet, gleich welcher Art die Zwecke sind, auf die sie sich richten. Aber es ist ganz klar, daß alle diese Zwecke, worin sie sich auch immer unterscheiden mögen, auch gemeinsame Merkmale haben. Warum nun sollten nur diese letzteren, und die besonderen Merkmale nicht, eine soziale Bedeutung haben? Nicht nur hat dieser Gebrauch der Abstraktion nichts Methodisches, denn sein Ergebnis ist die Trennung von Dingen, die gleicher Natur sind; sondern es mangelt der Abstraktion, zu der man auf diese Weise kommt, auch an jeglicher Bestimmtheit. Was bedeutet es denn, Ausdrücke wie sociale Formen, Formen der Association im allgemeinen zu verwenden? Wollte man nur von der Art und Weise sprechen, wie die Individuen innerhalb der Assoziation miteinander in Beziehung gesetzt sind, von den Dimensionen, der Dichte, mit einem Wort vom äußeren, morphologischen Aspekt dieser Assoziation, dann wäre der Begriff bestimmt, aber zu eng, um allein das Objekt einer Wissenschaft ausmachen zu können; denn dies liefe darauf hinaus, die Soziologie allein auf die Betrachtung des Substrats zu reduzieren, auf dem das soziale Leben beruht. In Wirklichkeit aber gibt unser Autor diesem Begriff eine sehr viel weitere Bedeutung. Er versteht darunter nicht nur die Form des Zusammenschlusses, die statische Beschaffenheit der Assoziation, sondern die allgemeinsten Formen von sozialen Beziehungen überhaupt. Es sind die weitestgefaßten Formen von Beziehungen aller Art, die innerhalb einer Gesellschaft entstehen können; von solcher Natur aber sind die Tatbestände, die sich uns als direkt in die Soziologie gehörend darstellen, nämlich Arbeitsteilung, Konkurrent Nachahmung, Freiheits- oder Abhängigkeits^ustand des Individuums gegenüber der sozialen Gruppe. 2 Dann bestünde zwischen diesen Beziehun2

V g l . „ L e p r o b l e m e de la s o c i o l o g i e " , Revue de Metaphysique 499.

et de Morale,

II, 1 8 9 4 , S.

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Angewandter Rationalismus

gen aber auch nur ein gradueller Unterschied, und wie könnte dieser eine so scharfe Trennung zwischen zwei Ordnungen von Phänomenen rechtfertigen? Wenn die ersteren die Materie der Soziologie bilden, warum sind dann die letzteren, wenn sie doch gleichartig sind, aus ihr auszuschließen? Der Anschein einer Begründung, den die vorgetragene Abstraktion hatte, solange die beiden Elemente einander als Form und Inhalt gegenüberstanden, löst sich auf, sobald die Bedeutung dieser Begriffe genauer gefaßt wird, und man merkt, daß es nur falsch gebrauchte Metaphern sind. Der allgemeinste Aspekt des sozialen Lebens ist nicht Inhalt oder Form, genausowenig wie die besonderen Aspekte, die es etwa aufzuweisen hat. Es gibt hier keine zwei Arten von Realität, die zusammengehörig und doch unterschieden und voneinander zu trennen wären, sondern nur Tatbestände gleicher Natur, die in unterschiedlichen Allgemeinheitsgraden untersucht werden. Welcher Allgemeinheitsgrad ist aber andererseits notwendig, um solche Tatbestände unter die soziologischen Phänomene einreihen zu können? Das wüßte niemand zu sagen, und die Frage gehört zu denen, auf die es keine Antwort geben kann. Man versteht jetzt, wie willkürlich dieses Kriterium ist und wie die Grenzen der Wissenschaft mit ihm je nach Wunsch weiter oder enger gezogen werden können. Unter dem Vorwand, die Forschung einzugrenzen, überläßt eine solche Methode sie in Wirklichkeit der Phantasie des Einzelnen. Es gibt keine Regel mehr, mit der unpersönlich darüber entschieden werden könnte, wo der Bereich der soziologischen Tatbestände beginnt und wo er enden muß; nicht nur sind die Grenzen verschiebbar, was legitim wäre, sondern es ist auch nicht einsichtig, warum sie an dieser und nicht an einer anderen Stelle gezogen werden. Hinzu kommt, daß man für die Untersuchung der allgemeinsten Typen des sozialen Handelns und seiner Gesetze auch die Gesetze seiner besonderen Typen kennen muß, denn nur durch methodischen Vergleich mit den letzteren können die ersteren untersucht und erklärt werden. In dieser Hinsicht setzt jedes soziologische Problem die gründliche Kenntnis all jener besonderen Wissensbereiche voraus, die man so gern aus der Soziologie ausklammern möchte, ohne die sie aber nun einmal nicht auskommt. Und da diese universelle Kompetenz unmöglich ist, muß man es bei summarischen, eilig erworbenen und keinerlei Kontrolle unterliegenden Kenntnissen bewenden lassen. Und wirklich sind so auch Simmeis Studien beschaffen. Wir schätzen ihren Scharfsinn und ihren Einfallsreichtum; aber wir glauben nicht, daß die Haupteinteilungen unserer Wissenschaft objektiv so gezogen werden können, wie er sie versteht. Die Fragen, die er der Aufmerksamkeit der Soziologen empfiehlt, haben keinen erkennbaren Zusammenhang; es sind Themen für Betrachtungen, die mit keinem ein Ganzes bildenden wissenschaftlichen System zusammenhängen. Noch dazu bestehen die Beweise, die er anführt, im allgemeinen nur im Aufzählen von Beispielen; ohne vorherige kritische Würdigung und ohne die Möglichkeit einer späteren Beurteilung ihres Stellenwerts werden Tatbestände

Paare in der Wissenschaftslogik. E. Dürkheim

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aus ganz unterschiedlichen Bereichen herangezogen. Damit die Soziologie ihren Namen als Wissenschaft verdient, muß sie aus etwas ganz anderem bestehen als aus philosophischen Variationen über einige mehr oder weniger zufällig und nach den besonderen Neigungen des Einzelnen ausgewählte Aspekte des sozialen Lebens; das Problem muß so gestellt werden, daß aus ihm eine logische Lösung entwickelt werden kann.

Emile Dürkheim „La sociologie et son domaine scientifique"

Schluß Wissenssoziologie und Wissenschaftstheorie Das mondäne Leben der Wissenschaft Bachelard "zeigt die für das mondäne öffentliche Leben der Physik des 18. Jahrhunderts charakteristische wechselseitige Abhängigkeit von Wissenschaftsschwärmerei und Zugeständnissen der Wissenschaftler an die Vorlieben ihres Publikums und entwickelt von da aus die allgemeinere Logik, eine wissenschaftliche Disziplin erliege solange dem Rei£ des mondänen Lebens, wie sie den erkenntnistheoretischen Bruch mit der Primärerfahrung nicht vollzogen habe. Die Analyse der socialen Bedingungen der Durchdringung der Wissenschaft mit dem geistigen Klima ihrer Zeit %eigt, daß nur eine „homogene und wohlbehütete scientific community" gegen die Versuchung gefeit sein kann, „Gala-Experimente" veranstalten.

42. G. Bachelard Heute, sagt der Autor, hat „die wissenschaftliche Hlementarausbildung Beobachter ein Buch geschoben, das ziemlich richtig, ziemlich geläutert

£wischen die Natur und den ist."

In der vorwissenschaftlichen Zeit, im 18. Jahrhundert, war dies nicht so. Damals konnte das wissenschaftliche Werk ein gutes oder ein schlechtes Buch sein. Es wurde nicht von einer offiziellen Lehre kontrolliert. Wenn es das Zeichen einer Kontrolle trug, so häufig das einer jener Provinz-Akademien, die sich aus den verwirrendsten und mondänsten Geistern zusammensetzte. Damals ging das Buch von der Natur aus, aber es hatte Interesse am täglichen Leben. Es war ein Buch zur Verbreitung populären Wissens, ohne den geistigen Hintergrund, der manchmal aus unseren populärwissenschaftlichen Büchern Werke mit höherem Anspruch macht. Autor und Leser dachten auf dem gleichen Niveau. Die wissenschaftliche Bildung wurde nahezu erdrückt von der Masse und Vielfalt zweitrangiger Literatur, die sehr viel umfangreicher war als der Bestand an wertvollen Büchern. Demgegenüber ist es sehr erstaunlich, daß populärwissenschaftliche Bücher in unserer Zeit relativ selten sind. Man schlage ein modernes wissenschaftliches Lehrbuch auf: die Wissenschaft wird dort im Zusammenhang mit einer Theorie der Einheit vorgeführt. Der organische Charakter ist so offenkundig, daß es schwierig wäre, ein Kapitel zu überschlagen. Kaum hat man die ersten Seiten hinter sich gebracht, so läßt sich der gemeine Verstand nicht mehr verlauten; niemals auch hört man die Fragen des Lesers. Die Anrede geneigter Leser würde dort nur zu gern ersetzt durch eine strenge Mahnung: Aufgepaßt, Schüler! Das Buch stellt seine eigenen Fragen. Das Buch befiehlt. Offnen Sie ein wissenschaftliches Buch des 18. Jahrhunderts und Sie werden sehen, daß es im täglichen Leben verwurzelt ist. Der Autor unterhält sich

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Schluß

mit seinem Leser wie bei einem Salonvortrag. Er macht sich die Interessen und natürlichen Sorgen zu eigen. Geht es etwa darum, die Ursachen des Donners ausfindig zu machen, so wird man mit dem Leser zunächst einmal von der Angst vor dem Donner sprechen, man wird ihm zu zeigen suchen, daß diese Angst unberechtigt ist, man wird das Bedürfnis haben, ihm den alten Hinweis zu wiederholen: beim Donnerschlag ist die Gefahr vorüber, denn nur der Blitz kann töten. So erklärt das Buch des Abbe Poncelet auf der ersten Seite der Einleitung: „Bei der Beschreibung des Donners ist es immer meine erste Absicht gewesen, die unangenehmen Eindrücke nach Möglichkeit zu mäßigen, die dieser Meteor bei einer Unzahl von Personen jeden Alters, jeden Geschlechts und jeden Standes hervorruft. Wieviele habe ich die Tage in heftiger Erregung und die Nächte in tödlicher Beunruhigung verbringen sehen?" 1 Poncelet widmet ein ganzes Kapitel, das sich als das längste des ganzen Buches erweist (S. 133 — 155), Reflexionen über den Schrecken, den der Donner hervorruft. Er unterscheidet hier Formen der Angst, die er eingehend untersucht. [...] Die gesellschaftliche Stellung der Leser bringt zuweilen einen besonderen Ton in das vorwissenschaftliche Buch. Die Astronomie für die vornehme Welt muß die Scherze der Großen aufnehmen. Ein Gelehrter von größter Geduld, Claude Comiers, beginnt sein Werk über die Kometen, ein Werk, das im Lauf des Jahrhunderts häufig zitiert wurde, mit den folgenden Worten: „Da man bei Hofe hitzig darüber gestritten hat, ob Komet männlich oder weiblich sei, und da einer der Marschälle von Frankreich, um den Streit der Gelehrten zu beenden, erklärt hat, es sei notwendig, den Schwanz dieses Sternes aufzuheben, um zu erkennen, ob man ihn mit die oder der zu behandeln habe ...". 2 Ein moderner Wissenschaftler würde zweifellos nicht die Ansichten eines Marschalls von Frankreich zitieren. Er würde sicherlich auch nicht endlos Scherze über den Schwanz oder den Bart der Kometen fortspinnen: „Wie der Schwanz des Tieres nach dem Sprichwort am schwierigsten abzuhäuten ist, so hat der des Kometen zu seiner Erklärung immer ebenso viel Mühe aufgegeben wie der Gordische Knoten zu seiner Lösung." Im 17. Jahrhundert sind die Widmungen der wissenschaftlichen Bücher, wenn das überhaupt möglich ist, von noch plumperer Schmeichelei als die der literarischen. Jedenfalls sind sie für einen modernen, wissenschaftlich denkenden Menschen, der politischen Autoritäten gleichgültig gegenübersteht, schockierender. [...] Diese allgemeinen Bemerkungen über die elementaren Lehrbücher genügen vielleicht, um den Unterschied des ersten Kontaktes mit dem wissenschaft1

2

Polycarpe Poncelet, La Nature dans la formation du Tonnerre et la reproduction des Etres vivants, Paris: 1769. Claude Comiers, La Nature et presage des Cometes. Ouvrage mathematique, physique, chimique et historique, enrichi des propheties des derniers siecles, et de la fabrique des grandes lunettes, Lyon: 1665, S. 7 — 74.

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liehen Denken in den zwei Perioden, die wir beschreiben wollen, kenntlich zu machen. Sollte man uns den Vorwurf machen, wir zögen nur schlechte Autoren heran und übergingen die guten, so würden wir erwidern, daß die guten Autoren nicht notwendig die erfolgreichen sind, und da wir untersuchen müssen, wie der wissenschaftliche Geist in der freien und quasi anarchischen — in jedem Fall nicht verschulten — Form entsteht, wie sie im 18. Jahrhundert anzutreffen war, müssen wir schon die ganz falsche Wissenschaft betrachten, die die wahre unter sich erdrückt, die ganze falsche Wissenschaft, gegen die sich gerade der echte wissenschaftliche Geist durchsetzen muß. Zusammenfassend läßt sich sagen, der vorwissenschaftliche Geist liege „im Jahrhundert". Er ist nicht regulär wie der wissenschaftliche Geist, der in den offiziellen Laboratorien gelehrt wird und in den Schulbüchern kodifiziert ist. Wir werden sehen, daß sich der gleiche Schluß aus einer etwas anderen Perspektive aufdrängen wird. Mornet hat den mondänen Charakter der Wissenschaft des 18. Jahrhunderts in einem scharfsinnigen Buch sehr schön aufgezeigt. Wenn wir auf diese Frage zurückkommen, so nur, um einige Nuancen hinsichtlich des in gewisser Weise kindlichen Interesses hinzuzufügen, das die Experimentalwissenschaft damals hervorrief, und um eine besondere Interpretation dieses Interesses vorzulegen. Unsere These dazu ist folgende: Durch die unmittelbare Befriedigung der Neugier, durch die Vervielfachung der Anlässe für die Neugier fördert man keineswegs die wissenschaftliche Bildung, man hemmt sie. Man ersetzt die Erkenntnis durch Bewunderung, die Ideen durch Bilder. In dem Versuch, die Psychologie der amüsierten Beobachter wiederzubeleben, werden wir sehen, wie sich eine Atmosphäre der Leichtfertigkeit ausbreitet, die dem wissenschaftlichen Denken den Sinn fürs Problem nimmt, also den Nerv des Fortschritts. Wir werden zahlreiche Beispiele aus der EJektrizitätslehre aufgreifen und sehen, wie verspätet und außergewöhnlich die Versuche einer Geometrisierung in den Lehren zur statischen Elektrizität waren; erst in der langweiligen Wissenschaft Coulombs trifft man auf die ersten wissenschaftlichen Gesetze der Elektrizität. Mit anderen Worten, bei der Lektüre zahlreicher Bücher, die der Elektrizitätslehre im 18. Jahrhundert gewidmet waren, wird sich der moderne Leser der Schwierigkeiten bewußt werden, die man hatte, sich vom Pittoresken der ersten Beobachtung zu lösen, den elektrischen Erscheinungen ihre Farbigkeit zu nehmen, die Erfahrung von ihren parasitären Zügen, ihren Unregelmäßigkeiten zu befreien. Es wird dann deutlich werden, daß der erste empirische Zugriff nicht einmal den richtigen Aufriß der Erscheinung gibt, nicht einmal eine wohlgeordnete hierarchisch gegliederte Beschreibung der Phänomene. Als das Geheimnis der Elektrizität erst einmal akzeptiert war — und es ist immer schnell geschehen, daß ein Geheimnis als solches akzeptiert wird — wurde die Elektrizität zum Gegenstand einer leichten „Wissenschaft", die der Naturgeschichte sehr verwandt und weit entfernt von den Kalkülen und

256

Schluß

Theoremen war, die seit Huygens und Newton Schritt für Schritt in die Mechanik, die Optik, die Astronomie Eingang fanden. Priestley schreibt noch in einem Buch, das 1767 erschien, „Elektrische Experimente sind die allersaubersten und niedlichsten in der ganzen Physik". 3 So präsentierten sich diese ersten einfachen Lehren, die so komplizierte Erscheinungen behandelten, als unkompliziert, eine notwendige Bedingung dafür, daß sie amüsant waren, daß sie bei einem mondänen Publikum auf Interesse stießen. Oder um es philosophisch auszudrücken, diese Lehren präsentierten sich im Gewände eines evidenten und grundlegenden Empirismus. Es ist wohltuend für die intellektuelle Faulheit, als Empirismus zu gelten, eine Tatsache eine Tatsache zu nennen und die Erforschung eines Gesetzes zu verbieten. Heute noch „verstehen" alle schlechten Schüler der Physikklasse die empirischen Formeln. Sie glauben leicht, daß alle Formeln, selbst die aus einer hochorganisierten Theorie abgeleiteten, empirische Formeln seien. In ihrer Vorstellung ist eine Formel nichts als ein bereitliegendes Ensemble von Zahlen, das man lediglich auf jeden Sonderfall anzuwenden bräuchte. Wie verführerisch ist auch die Empirie der ersten Elektrizitätslehre! Das ist kein nur evidenter Empirismus, hier zeigt sich ein farbenprächtiger Empirismus. Es gibt nichts zu begreifen, man braucht nur zu schauen. Für die elektrischen Erscheinungen ist das Buch der Welt ein Bilderbuch. Man muß darin blättern, ohne den Versuch, sich auf Überraschungen gefaßt zu machen. Auf diesem Gebiet scheint es gewiß, daß man niemals hätte voraussehen können, was man sieht. Priestley sagt richtig: „... wenn Jemand, etwa durch irgend einen aus der bloßen Vernunft hergeleiteten Schluß darauf gekommen wäre (den elektrischen Erschütterungsschlag vorauszusagen), so würde er für einen sehr großen Geist gehalten worden seyn. Die elektrischen Entdeckungen aber sind so sehr zufälliger Weise und durch ein blindes Ungefähr gemacht worden, daß nicht sowohl die Stärke des Geistes, als vielmehr die Kräfte der Natur, unsere Bewunderung dabei erregen." 4 Ohne Zweifel ist es eine fixe Idee bei Priestley, alle wissenschaftlichen Entdeckungen auf den Zufall zurückzuführen. Selbst bei seinen eigenen Entdeckungen, die er geduldig mit einer sehr bemerkenswerten Wissenschaft chemischen Experimentierens verfolgt hat, kapriziert sich Priestley darauf, die theoretischen Zusammenhänge zu verwischen, die ihn dahin geführt haben, fruchtbare Experimente anzustellen. Er hat einen solchen Willen zur empirischen Philosophie, daß das Denken kaum mehr als eine Art zufälliger Ursache des Experimentes ist. Nach Priestley ist alles dem Zufall zuzuschreiben. Ihm geht der Zufall über die Vernunft. Versenken wir uns darum in das Schauspiel! Kümmern wir uns nicht um den Physiker, der

3

4

Joseph Priestley, The History and Present State of Electricity, with original experiments ..., London: 1767 (dt.: Geschichte und gegenwärtiger Zustand der Electricität, nebst eigentümlichen Versuchen, Berlin und Stralsund: 1772, S. XV). Ibidem, S. XVII.

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lediglich ein Regisseur ist. Ganz anders ist das heute, wo die List des Experimentators, die Genialität des Theoretikers Bewunderung hervorrufen. Und um ganz deutlich zu machen, daß der Ursprung der hervorgerufenen Erscheinung menschlich ist, wird der Name des Experimentators — zweifellos für alle Ewigkeit — dem Effekt, den er konstruiert hat, beigefügt. So beim Zeeman-Effekt, beim Stark-Effekt, Raman-Effekt, Compton-Effekt, oder noch beim Cabannes-Daure-Effekt, der als Beispiel für einen in gewisser Weise gesellschaftlichen Effekt dienen könnte, einen Effekt, der durch die Zusammenarbeit mehrerer Köpfe hervorgerufen wurde. Das vorwissenschaftliche Denken stürzt sich nicht voller Eifer auf die Erforschung eines wohl umschriebenen Phänomens. Es sucht nicht die Variation, sondern die Vielfalt. Darin liegt ein besonders bezeichnender Zug. Die Suche nach der Vielfalt führt den Geist von einem Gegenstand zum nächsten, ohne Methode; der Geist zielt dann nur auf Extension der Konzepte; die Erforschung der Variation heftet sich an eine einzelne Erscheinung, sie versucht, deren sämtliche Variablen zu objektivieren, die Empfindlichkeit der Variablen zu erkunden. Sie bereichert das Verständnis des Konzeptes und bereitet die Mathematisierung der Erfahrung vor. Aber betrachten wir den vorwissenschaftlichen Geist bei seiner Suche nach Vielfalt. Schon bei der Durchsicht der ersten Bücher über Elektrizität fällt der heteroklite Charakter der Gegenstände ins Auge, deren elektrische Eigenschaften untersucht werden. Nicht daß man aus der Elektrizität eine allgemeine Eigenschaft machte: auf paradoxe Art hält man sie zugleich für eine außergewöhnliche, aber an die verschiedensten Substanzen geknüpfte Erscheinung. In erster Linie — natürlich an die Edelsteine, dann an den Schwefel, an die Rückstände von Verbrennung und Destillation, den Feuerstein, den Rauch, die Flamme. Man versucht, die elektrische Eigenschaft mit unmittelbar sichtbaren Eigenschaften in Verbindung zu bringen. Nachdem er einen Katalog der elektrisierbaren Substanzen aufgestellt hat, zieht Boulanger den Schluß, „daß die zerbrechlichsten und durchsichtigsten Substanzen allemal die elektrischsten sind". 5 Das Natürliche erfahrt stets große Beachtung. Da die Elektrizität ein Naturprinzip ist, hoffte man einen Augenblick lang, in ihr ein Mittel zur Unterscheidung der echten von den falschen Diamanten zu besitzen. Der vorwissenschaftliche Geist hat immer den Wunsch, das Naturprodukt möge reicher sein als das künstliche. Zu dieser wissenschaftlichen Konstruktion völliger Nebeneinanderordnung kann jeder seinen Stein beitragen. Die Geschichte kann uns die Vorliebe für die Elektrizität aufzeigen. Jedermann interessiert sich dafür, selbst der König. In einem Gala-Experiment brachte Nolet den elektrischen Schlag „hundert und achtzig Personen von der Garde, in des Königs Gegenwart, bei; und in dem Cartäuserkloster zu Paris machte die ganze Communität eine Reihe von 5

Ibidem, S. 85.

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Schluß

neunhundert Französischen Klaftern (Toisen) aus, vermittelst eiserner Drahte zwischen jeden zwo Personen ...; die ganze Gesellschaft fuhr, bei dem aus der Phiole herausgelockten Schlage, in ein und demselben Augenblick plötzlich auf, und es empfanden alle insgesamt die Erschütterung auf gleiche Weise." 6 In diesem Falle erhielt das Experiment seinen Namen von dem Publikum, das es beobachtete: „Wenn dergleichen Personen, welche bei diesem Experimente den erschütternden Schlag annehmen, einen Kreis schließen, so nennt man sie die Zusammenverschworenen."1 Als man daran ging Diamanten aufzulösen, war das ein erstaunlicher und sogar dramatischer Vorgang für die hochgestellten Persönlichkeiten. Macquer führte das Experiment vor 17 Personen durch. Als Darcet und Rouelle es wiederholten, nahmen 150 Personen daran teil. 8 Die Leidener Flasche war Gegenstand einer wirklich tiefen Verwunderung. „In demselben Jahre, in welchem es entdeckt worden war, suchte eine Menge Personen, fast in jeder Gegend von Europa, sich den Lebensunterhalt dadurch zu erwerben, daß sie umher zogen, und dasselbe für Geld sehen ließen. Da der gemeine Haufen von jedem Alter, Geschlechte und Range dieses Wunder der Natur und Weltweisheit mit Verwunderung und Erstaunen betrachtete: so darf es uns nicht befremden, wenn wir finden, daß alle Elektrisirer in Europa sich ohne Verzug mit Nachmachung dieses großen Experiments beschäftigen ..." 9 „Ein Kaiser könnte sich an statt der Einkünfte, mit jenen Geldsummen vollkommen begnügen laßen, welche in Schillingen, Sechs-, Drey- und Zwey-Stüberstücken, den Leydenschen Versuch sehen zu laßen, eingiengen." 10 Zweifellos trifft man im Verlauf der wissenschaftlichen Entwicklung auf eine schaustellerische Nutzung einiger Entdeckungen. Aber diese Nutzung ist heute unbedeutend. Die Vorführer von Röntgenstrahlen, die vor 30 Jahren bei den Schuldirektoren vorsprachen, um ein wenig Neues im Unterricht zu bieten, machten gewiß keine riesigen Vermögen. In unseren Tagen scheinen sie völlig verschwunden zu sein. Ein Abgrund trennt seither zumindest in der Physik den Scharlatan vom Wissenschaftler. Im 18. Jahrhundert findet die Naturwissenschaft das Interesse eines jeden gebildeten Menschen. Man glaubt instinktiv, daß ein naturgeschichtliches Kabinett und ein Laboratorium sich wie eine Bibliothek ganz nach Gelegenheit aufbauen ließen. Man hat Vertrauen: man erwartet, daß die Zufalle der individuellen Entdeckung sich von selbst zusammenfügen. Ist die Natur nicht 6 7 8

9 I()

Ibidem, S. 68. Ibidem, S. 373. Rncyclopedie, ou Dictionaire raisonne des sciences, des arts et des metiers, par une societe de gens de lettres, Paris: 1751—65, Artikel: Diamant. J. Priestley, Geschichte .... op. cit., S. 57. Ibidem, S. 363.

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Wissenssoziologie und Wissenschaftstheorie. G. Bachelard

kohärent und homogen? Ein anonymer Autor, wahrscheinlich der Abbe de Mangin, versieht seine Allgemeine und besondere Geschichte der Elektrizität mit folgendem höchst symptomatischen Untertitel: „Oder was einige Physiker in Europa darüber Merkwürdiges und Kurzweiliges, Nützliches und Wissenswertes, Ergötzliches und Belustigendes mitgeteilt haben". Er unterstreicht das gänzlich mondäne Interesse seines Werkes, denn wenn man seine Theorien studiere, könne man „etwas Klares und Präzises zu den verschiedenen Streitigkeiten sagen, die sich jederzeit in der Welt erhöben und über die die Damen gar an erster Stelle Fragen stellten ... Der Kavalier, dem früher ein schönes Gesicht und eine gute Figur genügt haben mögen, um sich in den Kreisen einen guten Namen zu machen, ist heute gezwungen, zumindest ein wenig seinen Reaumur, Newton, Descartes zu beherrschen." 11

In seinem Jahresbericht

über die Fortschritte

in der Physik, der

Naturgeschichte

und den Künsten vom Jahre 1772 sagt Dubois bezüglich der Elektrizität: „Alle Physiker wiederholen die Experimente, ein jeder will selber staunen ... Der Marquis de X hat, wie Sie wissen, ein sehr schönes physikalisches Kabinett, aber in die Elektrizität ist er vernarrt, und herrschte noch das Heidentum, so würde er der PUektrizität zweifellos einen Altar errichten. Er kannte meinen Geschmack und wußte genau, daß auch ich von der Hlektromanie geplagt bin. Er lud mich darum zu einem Essen ein, auf dem, wie er sagte, alle wichtigen Persönlichkeiten vom Stande der Elektrisierer und Elektrisiererinnen zusammenkommen sollten." 12 Man wünschte, diese Elektri^itätsgespräche zu kennen, die zweifellos mehr über die Psychologie der Zeit als über ihre Wissenschaft enthüllen würde. Detailliertere Auskunft besitzen wir da über das elektrische Diner Franklins; Priestley berichtet darüber in folgenden Worten: „Zum Mittagessen tödteten sie einen Indianischen Hahn durch den elektrischen Schlag, steckten ihn an den elektrischen Bratenwender, und ließen ihn an einem durch die elektrisirte Flasche angemachten Feuer braten, und tranken nachher die Gesundheit aller berühmten Elektrisirer in England, Holland, Frankreich und Teutschland aus elektrischen Pocalen, und beim Donner einer Entladung der elektrischen Batterie." 13 Der Abbe de Mangin berichtet wie viele andere ebenfalls von diesem großartigen Diner. Er fährt fort: „Ich denke, wenn Franklin jemals eine Reise nach Paris macht, so wird er sein prächtiges Mahl gewiß mit einem guten und kräftig elektrisierten Kaffee krönen." 1 4 Im Jahre 1936 weiht ein Minister ein elektriji^iertes Dorf ein. Auch er nimmt ein elektrisches Diner zu sich, und es ergeht ihm nicht schlecht dabei. Die Presse 11

Anonymus, Histoire

generale

et particuliere

de l'electricite,

3 Teile, Paris: 1752, Teil I, S.

2 f. 12

Dubois, Tableau annuel des progres

de la Physique, de l'Histoire

Jahr 1772, S. 1 5 4 - 1 7 0 . 13 14

J. Priestley, Geschichte ..., op. cit., S. 378. Anonymus, Histoire generale ..., op. cit., Teil I, S. 185.

naturelle et des Arts für das

260

Schluß

berichtet in gut piazierten Artikeln und großer Aufmachung darüber und liefert so den Beweis, daß kindische Interessen zeitlos sind. Man spürt im übrigen, daß diese über eine ganze gebildete Gesellschaft verbreitete Wissenschaft nicht wirklich eine wissenschaftliche Gemeinschaft konstituiert. Das Laboratorium der Marquise du Chätelet in Cirey-sur-Blaise, das in so vielen Briefen gerühmt wurde, hat absolut nichts, weder von nahem noch aus der Ferne, mit dem modernen Laboratorium gemein, wo eine ganze Schule an einem klaren Forschungsprogramm arbeitet, wie den Laboratorien Liebigs oder Ostwalds, wie dem Kälte-Laboratorium Kammerling Onnes' oder dem Laboratorium für Radioaktivität der Madame Curie. Das Theater von Cirey-sur-Blaise ist ein Theater; das Laboratorium von Cirey-sur-Blaise ist kein Laboratorium. Nichts verleiht ihm Zusammenhalt, weder sein Leiter, noch das Experiment. Es besitzt keinen anderen Zusammenhalt als das gute Nachtlager und den guten Tisch. Es ist Anlaß zur Konversation für die Abendunterhaltung oder den Salon. In allgemeinerer Hinsicht ist die Wissenschaft des 18. Jahrhunderts keine Lebensform, nicht einmal ein Beruf. Am Ende des Jahrhunderts stellt Condorcet noch zu diesem Zwecke die Berufe des Juristen und des Mathematikers einander gegenüber. Der erste ernährt seinen Mann und erfährt so eine Weihe, die dem zweiten vorenthalten bleibt. Andererseits ist die schulische Laufbahn für den Mathematiker ein gut gestaffelter Zugangsweg, der es zumindest gestattet, zwischen Schüler und Meister zu unterscheiden, dem Schüler einen Eindruck von der undankbaren und langwierigen Aufgabe zu vermitteln, die er zu erfüllen hat. Man braucht nur die Briefe der Madame du Chätelet zu lesen und man hat reichlich Gelegenheit, ihre Ansprüche an die mathematische Bildung zu belächeln. Maupertuis stellt sie unter Gunstbezeugungen Fragen, die heute ein Schüler der 4. Klasse ohne Schwierigkeiten löst. Diese gespreizte Mathematik ist das genaue Gegenteil einer gesunden wissenschaftlichen Bildung.

Gaston Bachelard Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes

Von der Wiederherstellung der soziologischen Urteilskraft Zu Methodenfehlern kommt es weniger aufgrund der Treue einer feststehenden Theorie, als aufgrund einer geistigen „Disposition", die immer auch von den socialen Merkmalen der geistigen Welt bedingt ist. Zum Beispiel hat die Abschottung von Erklärungstypen gegeneinander ihren Grund weniger in theoretischen Erwägungen im Hinblick auf die Autonomie der untersuchten Bereiche, als in dem mechanischen Festhalten an den Traditionen isolierter Disziplinen mit Forschungsbereichen, die ein Inseldasein führen. Weil wissenschaftstheoretische Fehler in den gesellschaftlichen Institutionen und

Wissenssoziologie und Wissenschaftstheorie. M. Maget

261

Verhältnissen als Versuchung, Anrei^ oder Determiniertheit angelegt sind (Tradition der Disziplin, Erwartungen der Öffentlichkeit usw.) und sich nie nur auf individuelle blinde I'lecke zurückführen lassen, können sie auch nicht einfach dadurch zurechtgerückt werden, daß der Forscher sein Vorgehen nachträglich reflektiert. Erkenntniskritik set^t eine soziologische Analyse der socialen Bedingungen der jeweiligen erkenntnislogischen Fehler voraus.

43. M. Maget Die Ethnographie ist gegen das Andrängen von Affekten genausowenig gefeit wie jede andere Forschung. Manche wissenschaftlichen Neigungen entspringen einem Fluchtbedürfnis: Flucht zu anderen Völkern, in ein anderes Milieu oder aufs Land, zurück in die gute alte Zeit, die mit ihrer illusorischen Stabilität eines Goldenen Zeitalters so wohltuend von den verwirrenden Turbulenzen moderner Zeiten absticht. Ferner sind zu verzeichnen: ästhetische Hinwendung zum Exotischen oder Rustikalen, ethische oder politische Zielsetzungen von Traditionalismen und Regionalismen, metaphysischer Überschwang und der heftige Wunsch, das Eigentliche des Menschen zu finden oder wiederzufinden, kindliches Festhalten der Erinnerung an die Vorväter und an den Spuren von Lebensformen, die die ihren waren und in denen sich ihre Wesenart ausdrückte. Schließlich die vielfältigen Formen des Snobismus, der sich auf das Besondere, das Seltene richtet: Wird heute irgendwo bis tief in die Nacht hinein diskutiert, dann können es die Berichte von Forschungsreisen durchaus mit den psychoanalytischen Tests aufnehmen. [...] Gleichermaßen gefährlich ist die übertriebene, wenn nicht ausschließliche Berufung auf die Intuition. An einer Zeremonie teilzunehmen, bei einem baskischen pelota-Spiel oder einem pardon mittendrin zu sein, suggeriert dem Zuschauer seine Kongruenz mit den Akteuren. Deren Leben mitzuleben, „sich in sie hineinzuversetzen", läßt die Erwartung entstehen, dieses Hineinversetzen erlaube automatisch die Rekonstruktion der psychischen Struktur der Gruppe, und manchen Künstlern oder Erleuchteten scheint dies ja auch auf Anhieb zu gelingen. Man kann die Intuition in der Tat als eine Aktivität ansehen, die von jeder Person, die um Weltverständnis und um die Erschließung verborgener Bedeutungen und Beziehungen vom jeweils Sichtbaren her bemüht ist, ununterbrochen ausgeübt wird. Die Kommunikation bedient sich ihrer, wenn „zwischen den Zeilen" gelesen werden muß. Bis in die Mathematik hinein spielt sie nachweislich eine Rolle. Es gibt keinen Grund, sich beim Versuch der Rekonstruktion kultureller Systeme radikal um die Früchte des Eintauchens in das Milieu und um das Stimulans des mimetischen Verhaltens zu bringen, der „Einfühlung" oder Empathie. Die Ergebnisse müssen allerdings kontrolliert werden, und die unmittelbaren Daten sind nicht als ein- für allemal richtige Erkenntnis anzusehen, sondern als Hypothesen, die verifiziert werden müssen. Im übrigen ist es schon aufgrund der Kulturunterschiede

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fraglich, ob der Beobachter überhaupt eine absolute Kongruenz erreichen kann. Das intuitionistische Verfahren weist die gleichen Nachteile auf wie die Introspektion allgemein. Wieviele chronische Mißverständnisse im Alltag, wieviele antropomorphe, ethno- oder auch einfach egozentrische Fehler entstehen, wenn keine Verifikation stattfindet (im vorliegenden Falle wäre das, wann immer es möglich ist, die Kritik von Seiten der Objekte von Untersuchungsergebnissen), aufgrund der Euphorie des scheinbaren Einklangs. Enge Spezialisierung, abgeschottet gegen jeden Anstoß von außen, ist als Fehlerquelle nicht weniger oft anzutreffen. Irgendein Zweig der Technologie oder der Kunst einer Region, die Tracht, die Architektur, werden um ihrer selbst willen untersucht, ohne Berücksichtigung des Ganzen, dessen Teil sie sind; etwa das Landleben unabhängig von seinen Beziehungen zur städtischen Welt in der entsprechenden Zeit und umgekehrt. Das ist so lange nicht weiter schlimm, wie es bei morphologischen Beschreibungen bleibt. Auch eine Untersuchung, die in bester Absicht betrieben wird und darauf bedacht ist, die Verbindungen mit den Nachbarbereichen nicht außer acht zu lassen, kann durch außerwissenschaftliche Umstände davon abgehalten werden, ihr Programm zu erfüllen. Auf diese Weise sind als die einzig verfügbaren Dokumente über vergangene Zeiten Bestandsaufnahmen zustandegekommen, die jenen begrenzten Untersuchungen hoch anzurechnen sind, wie verstümmelt das Bild auch sein mag, das sie vermitteln. Viel schädlicher ist diese Abkapselung bei Erklärungsversuchen, die sich ausschließlich auf den einmal gewählten Bereich beschränken. Organisationsformen, aktuelle Strukturen und spezifische Veränderungsprozesse können sicher bei allen Klassen von Erscheinungen definiert werden. Die Sprachwissenschaft hat als eine der ersten den Begriff des „immanenten Zusammenhangs" bei phonetischen oder semantischen Systemen bekannt gemacht. Sie hat aber gleichzeitig gezeigt, daß deren Entwicklung nicht erklärt werden kann, ohne sie auf andere Bereiche der Kultur und auf soziale Zusammenhänge zu beziehen. Relative Autonomie ist nicht völlige Unabhängigkeit. Das Streben nach einem Erklärungsmonopol ist zäh, geradeso wie die Hoffnung auf die Entdeckung eines universalen Merkmals. Exklusive Determinismen erheben Anspruch auf Hegemonie, und niemand ist völlig immun gegen ihren Reiz: Geographismus, Biographismus, Diffusionismus, Funktionalismus ... bis hin zum Ethnographismus, und auch die allzu streng antithetischen Haltungen werden fehlerhaft und irreführend, sobald sich die vorübergehend einem Extrem gegenüber eingenommenen polemischen Gegenpositionen tendenziell zu einer kategorischen Verneinung von Realitäten verfestigen, bei denen es eigentlich bloß um ihre unzulänglichen Interpretationen ging. Wenn wir jetzt noch an die voreiligen, über die gesicherten Daten hinausgehenden Verallgemeinerungen erinnern, an die angemaßte Exklusivität oder Universalität, an die Hypostasierung von Begriffen und ihre metaphysische

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Aufladung mit Substanz, dann rundet sich unser Bild der Hauptgefahren, denen unsere Untersuchungen aufgrund von Spezialisierung, lückenhaften Dokumenten und dem Bedürfnis nach absoluten, unmittelbar zugänglichen Wahrheiten ausgesetzt sind. Die Wirklichkeit rächt sich rasch, und die schematischen Erklärungen, einseitig-exklusiven Determinismen, unüberwindlichen Schranken fallen nach dem Kontakt mit ihr eine nach der anderen in sich zusammen. Geradeso wie wir das Aufkommen von physikalischer Chemie, Biochemie, Biogeographie usw. erlebt haben, so erleben wir jetzt, wie auf den Grenzen, die einst Mensch und Milieu, Körper und Geist, Individuum und Gesellschaft, Biologisches und Kulturelles trennten, Humangeographie, Psychosomatik, Sozialpsychologie, Entwicklungspsychologie entstehen — um nur diese zu nennen. Die Erforschung von Kulturen macht in dem Maße Fortschritte, wie wir das Biologische an dieser „bildbaren Masse" und die Prozesse, die auf ihre Gestaltung einwirken, besser kennenlernen. Zum Beispiel ist dies nicht mehr ohne eine Einbeziehung der Entwicklungspsychologie H. Wallons und J. Piagets denkbar, während diese wiederum für die Psychologie die Notwendigkeit der Berücksichtigung charakteristischer Milieumerkmale betonen. Als jüngster Sproß wirft die Kybernetik, ausgehend von mechanischen Modellen, die unendlich komplexer sind als die Automaten zur Zeit des Assoziationismus und Sensualismus des 18. Jahrhunderts, ein neues Licht auf die Zusammenhänge zwischen der Funktionsweise des Zentralnervensystems, der inneren Physiologie und der sozialen Kommunikation. Eigenartigerweise bestehen immer noch theoretische Gegensätze zwischen der Geschichte und einer Anthropologie, die von Evolutionsphänomenen nichts wissen will. Die Wissenschaft von der Gattung Mensch ist von der Geschichte dieser Gattung nicht zu trennen, es sei denn aufgrund vorläufiger methodologischer Festlegungen zur Definition organischer Spezialisierungen. So wie sie es verstanden hat, sich die Begriffe Biozönose, biologische Vergesellschaftung, Geotypus usw. anzueignen, so hat die Biologie auch früh schon dem Wandel dieser Gattungen besondere Bedeutung beigemessen, was für sie der Anlaß zum vollständigen Umdenken war. Erst recht muß die Kulturanthropologie die diachronische Dimension der von ihr untersuchten Phänomene und der Verhältnisse berücksichtigen, unter denen sie auftreten, mutieren oder absterben. Ihrerseits gehen diese Hinwendung zu einer facettenreicheren Auffassung von der Komplexität des Menschlichen und diese Fülle von neuen Zusammenhangsdisziplinen, Hypothesen und Entdeckungen nicht ohne einige Verwirrung ab. Sehen wir von der oben bereits erwähnten Tendenz zur Schematisierung von Begriffen und Theorien einmal ab: Den jüngsten Theorien der Elektronen-„gehirne" ist trotz der von ihren Urhebern gewahrten Zurückhaltung ohnehin mit Wortfetischismus und gewagten Vereinfachungen schon mehr als genug Ehre erwiesen worden. Doch auch der vorsichtigere,

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von dieser Konvergenzbewegung und dieser Vielfalt unterschiedlichster Forschungstätigkeiten jedoch leicht berauschte Forscher kann meinen, er müsse nun von den jüngsten Entdeckungen der Elektronik bis hin zu denen der Psychosomatik oder Phonologie über alles Bescheid wissen. Wird aus der Feststellung der Interdependenz die Behauptung, alles sei in allem enthalten, kann es leicht zu einer wirren Monadologie kommen, die genauso unfruchtbar wäre, wie es die Abkapselung war. Sie führt leicht zur Handlungsunfähigkeit, da sie das Recht infragestellt, bei der Untersuchung dieses Ganzen, das angeblich auch nur als Ganzes erfaßt werden kann, Bereich für Bereich und Schritt für Schritt voranzuschreiten, sowie das Recht, von ganz offensichtlichen Diskontinuitäten und Verschiedenheiten auszugehen, aus Furcht, die Beziehungen zwischen distinkten Bereichen und Phänomenen zu verfehlen. Mehr denn je dürfte es nötig sein, gegen diesen mitreißenden oder lähmenden Überschwang anzukämpfen und sich präzise Aufgaben zu stellen, und zwar in engem Zusammenhang mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen, aus deren Geschichte und aktuellem Stand jeweils nützliche Erkenntnisse und Anhaltspunkte für alle anderen zu gewinnen sind. Die Notwendigkeit, die „persönliche Gleichung" zu verkürzen, aus den unentbehrlichen Anstößen der Intuition Nutzen zu ziehen und sie dabei doch unvoreingenommen zu kontrollieren, Induktion und Deduktion, Analyse und Synthese zu vereinbaren; die Bedeutung sowohl der methodisch betriebenen Statistik — mag es um Elektronen und stationäre Systeme oder um Individuen und soziale Verhältnisse gehen —, als auch der im Alltag implizit sich ergebenden Statistik; die von den Entdeckungen abhängige dialektische Breiten- und Tiefenentwicklung der Erkenntnis, des Trennens und Verbindens, der Klassifikationen und Typologien; die im Lichte der erfahrungswissenschaftlichen Überprüfung notwendig werdende Revision von Begriffen — all diese Probleme sind nicht neu. Die kampferprobtesten Wissenschaften haben sie lösen müssen und arbeiten weiter an der Verbesserung ihrer Antworten. Auch sie haben ihren Anspruch auf absolute und endgültige Wahrheit aufgeben müssen, selbst wenn ihre Ergebnisse praktisch kaum anfechtbar sind. Ihrerseits können sich die Wissenschaften vom Menschen gleichermaßen von dem belastenden Auftrag freisprechen, Aussagen über den Menschen oder die Gesellschaft an sich machen zu müssen, und sich ihrer schrittweisen Erforschung widmen. Die Einheit der Wissenschaft, von der Physik bis zur Psychologie, von den Naturwissenschaften bis zu denen vom Menschen, wird, zumindest was ihre Grundprobleme angeht, immer deutlicher. Grundeinstellungen zum Objekt, Grundbegriffe, Strukturierungsansätze werden von einer Disziplin auf die andere übertragen. Der Behaviorismus — unabhängig von den ihm unterstellten ontologischen Postulaten — ist ein Beispiel für die Weigerung, den Anstößen der Introspektion und dem Nimbus des intuitiven Geistesblitzes unkontrolliert nachzugeben. Die Begriffe Zusammenhang und Kontext sind der Gestaltpsychologie und der Linguistik seit

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Wissenssoziologie und Wissenschaftstheorie. M. Maget

langem vertraut, die Begriffe Interdependenz von Organismus und Milieu der Biologie und der Entwicklungspsychologie. Die Linguistik hat dazu beigetragen, die Beziehungen zwischen synchronischen und diachronischen Sichtweisen und dem Begriff der Struktur klarer zu fassen, und Levi-Strauss wurde zu seinem kühnen Wegbereiter im Bereich sozialer Systeme. Natürlich dürfen solche Übertragungen nicht ohne eine strenge Kritik der besonderen Geltungsbedingungen in demjenigen Bereich erfolgen, in dem man sie einsetzen möchte. Nimmt man zum Beispiel an, daß die Definition der Geotypen brauchbare Modelle für die Definition von relativ homogenen kulturellen Gruppen abgeben kann (die man analog dazu Ethnotypen nennen könnte), so verhindern die spezifische Disponibilität und Soziabilität der Menschen ihre starre Übertragung und zwingen dazu — ohne sich über das Weiterwirken von Milieueinflüssen oder -zwängen zu täuschen —, die Beziehungen von Mensch und Milieu (den geographischen Determinismus) lockerer zu fassen und eher das soziale Milieu und die Verbindlichkeit der Kulturübertragung von Generation zu Generation zu betrachten. Auch einer gewissen Sozialchemie oder -energetik wird man mit Vorsicht begegnen, ohne es deshalb ein- für allemal abzulehnen, sich aussagekräftiger Analogien zu bedienen. Es ist nicht unbedingt notwendig, bereits erkannte Probleme mit neuem Aufwand neu zu entdecken, wenn es bereits Lösungen für sie gibt, bei denen es manchmal nur eines Minimums an kritischer Anpassung und Wachsamkeit bedarf, um sie in einem neuen Bereich zu nützlichen Arbeitsinstrumenten zu machen. So wie die Trennlinie zwischen Natur- und Humanwissenschaften durchlässiger für den Austausch wird, so verschwindet allmählich auch die berühmtberüchtigte Dichotomie von Geistes- und Naturwissenschaften, dank derer sich Studenten, die zunächst zur Gleichgültigkeit, wenn nicht Verachtung gegenüber dem Naturwissenschaftlichen erzogen wurden, ein paar Jahre später in einer unhaltbaren Lage angesichts von Disziplinen wiederfanden, die sich zumindest in einigen Aspekten zur Naturwissenschaft gemausert hatten. Spezialisierung ist unerläßlich im Wettstreit der Disziplinen, die sich ihrer organischen Zusammengehörigkeit um so mehr bewußt werden können, je genauer sie ihre spezifischen Aufgaben definiert haben und je mehr sie von dem Bemühen oder dem Anspruch, alles kennen oder erklären zu müssen, wie auch von der Furcht entlastet werden, alles alleine machen zu müssen; eine Ausbildung in Grundzügen der Wissenschaftstheorie, Information und ständige Kontakte können diese Spezialisierung nur erleichtern.

Marcel Maget

Guide d'etude directe des comportements

culturels

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Schluß

Wechselseitige Kontrollen und die Übertragbarkeit der Zensur Der Illusion einer Objektivität, die auf dem bloßen Willen Objektivität f u ß t , hält Michael Polanyi entgegen, daß die Verbindlichkeit gemeinsamer, fachgebietsübergreifender Normen nur durch die socialen Mechanismen der wechselseitigen Kontrolle erreicht werden kann und nicht durch das Wunder des wissenschaftlichen good-will der Wissenschaftler, und daß auch nur eine Art zirkulierender Delegation der Kontrollbefugnisse den allgemeinen Konsensus über den wissenschaftlichen Wert einzelner Werke gewährleistet.

44. M. Polanyi Jeder Wissenschaftler hat ein Gebiet im Blick, das sein eigenes Feld und einige angrenzende Gebietsstreifen umfaßt, über welche die Spezialisten der Nachbargebiete ebenfalls verläßliche Urteile abgeben können. Nehmen wir einmal an, daß eine Arbeit, die über das Spezialgebiet von Β gemacht wurde, verläßlich von Α und C beurteilt werden kann; jene von C durch Β und D; jene von D durch C und E; und so fort. Wenn dann jede dieser benachbarten Gruppen in ihren Standards übereinstimmt, dann werden die Standards, in denen Α, Β und C übereinstimmen, dieselben sein, mit denen B, C und D übereinstimmen und so fort durch das ganze Reich der Wissenschaft. Diese gegenseitige Abstimmung in den Standards ergibt sich natürlich entlang eines ganzen Netzes von Linien, welches eine Vielzahl von gegenseitigen Kontrollen der Abstimmungen bietet, die entlang jeder einzelnen Linie gemacht werden; und das System wird noch reichlich ergänzt durch die nicht ganz so sicheren Urteile von Wissenschaftlern über außergewöhnliche Leistungen, die von ihrem eigenen Gebiet etwas entfernter liegen. Es funktioniert aber im wesentlichen auf der Basis der „Transitivität" der nachbarlichen Einschätzungen — so wie eine Marschkolonne dadurch im Schritt gehalten wird, daß jeder Mann mit seinem Nächsten im Schritt bleibt. Über diesen Konsens bilden die Wissenschaftler eine fortlaufende Linie — oder vielmehr ein durchgängiges Netz — von Kritikern, die mit ihrem prüfenden Blick für alle wissenschaftlichen Veröffentlichungen ein gewisses Minimum an wissenschaftlichem Wert gewährleisten. Mehr noch: Dadurch, daß sich jeder in vergleichbarer Weise auf seinen unmittelbaren Nachbarn verlassen kann, ist sogar gesichert, daß wissenschaftliche Arbeiten auch oberhalb dieses Minimums bis hinauf zu den hervorragendsten Leistungen in den verschiedenen Wissenschaftszweigen mit den gleichen Standards gemessen werden. Die Richtigkeit dieser vergleichenden Beurteilungen ist für die Wissenschaft lebensnotwendig, denn sie leiten die Verteilung von Personen und Mitteln auf die verschiedenen Forschungslinien, sie bestimmen insbesondere die wesentlichen Entscheidungen, mit denen Neuanfangen in der Wissenschaft Anerkennung und Unterstützung gewährt oder aber verweigert werden. Obwohl es zugegebenermaßen leicht ist, Beispiele zu finden, bei denen diese Bewertung sich als falsch erwies oder zumindest bedauerlich

W i s s e n s s o z i o l o g i e und Wisscnschaftstheorie. M. Polanyi

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spät kam, sollten wir anerkennen, daß wir von „Wissenschaft" als einem genau bestimmbaren und alles in allem maßgeblichen Komplex an systematischem Wissen nur in dem Maße sprechen können, in dem wir glauben, daß diese Entscheidungen überwiegend richtig sind.

Michael Polanyi Personal Knowledge: Towards a Post-Critical Philosophy

„Inzwischen kenne ich alle Krankheiten der soziologischen Vernunft"

Pierre Bourdieu im Gespräch mit Beate Krais Β. K.: Als dieses Buch entstand, hattest du bereits einiges an soziologischer Arbeit hinter dir. An welchem Punkt in deiner Arbeit warst du angelangt, daß es dir nützlich oder notwendig erschien, diese wissenschaftstheoretische Reflektion einzuschieben, die sich dann in „Soziologie als Beruf niedergeschlagen hat? Ich frage auch deshalb danach, weil duja heute auf eine sehr viel längere und umfangreichere Erfahrung als Soziologe zurückblicken kannst ..., aber man kann ja nicht sagen, daß du mit dieser wissenschaftstheoretischen Reflektion angefangen hast.

P. B.: Angefangen hat diese Arbeit um 1966 herum. Es gab damals an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales ein neugeschaffenes Intensivstudium für Soziologie, und in diesem Rahmen hatte ich zusammen mit Passeron eine Reihe von Vorlesungen zur Wissenschaftstheorie gehalten; das Buch war dann eine Möglichkeit, die Vorlesung fortzusetzen, ohne daß wir jedes Jahr von vorne anfangen mußten. Der Ansatz war also pädagogisch, und das Buch war als Lehrbuch gedacht; gleichzeitig ging der Anspruch aber doch auch weiter. Ein Lehrbuch schreiben, das war eben auch eine Art, in bescheidener Form eine Abhandlung über die soziologische Methode zu verfassen. Β. K.: Aber das war auch schon eine Arbeit, die reflektierte, hinter dir lag.

was bereits an empirischer

Erfahrung

P. B.: Ja. Da war die pädagogische Absicht, aber auch der Wunsch, nach gut zehn Jahren Arbeit im Feld, erst in der Ethnologie und dann in der Soziologie, Bilanz zu ziehen. Ich hatte viel in Algerien gearbeitet, mit Leuten vom Statistischen Institut, und ich hatte das Gefühl, eine Methodologie in die Praxis umgesetzt zu haben, die noch nirgends richtig formuliert war. Und dieses Gefühl, daß eine Ausformulierung dringend notwendig war, wurde noch dadurch verstärkt, daß damals in Frankreich gerade die hohe Zeit der „Lazarsfeld-Invasion" war. Damals — um die sechziger Jahre herum — war Lazarsfeld nach Paris gekommen und hielt an der Sorbonne feierliche Vorlesungen, zu denen, glaube ich, alle französischen Soziologen hingingen, außer mir, und das ganz bewußt: Ich fand — symbolisch —, daß ich nicht zu Lazarsfeld in die Schule gehen mußte (es genügte ja, die Bücher zu lesen). Mit den Techniken, die interessant waren und die man natürlich lernen mußte und die ich auch gelernt hatte, vermittelte er ja in Wirklichkeit etwas anderes, nämlich eine implizite positivistische Wissenschaftstheorie, die ich nicht mitmachen wollte. Und das ist auch die eigentliche Absicht von „Soziologie als

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Pierre Bourdieu im Gespräch mit Beate Krais

B e r u f . Ganz zu Anfang gibt es da übrigens eine Anmerkung, in der steht ungefähr: Es wird heißen, dieses Buch sei gegen die empirische Soziologie gerichtet, aber das stimmt gar nicht. Es soll die theoretische Grundlage für eine andere Art empirischer Forschung liefern, indem es eine Technologie, die — das ist nicht zu bestreiten — mit Lazarsfeld große Fortschritte gemacht hat, in den Dienst einer anderen Wissenschaftstheorie stellt. Das war die eigentliche Absicht dieses Buchs. Ich hatte damals zwei entgegengesetzte Fehlentwicklungen vor Augen, von denen die Soziologie sich absetzen mußte: Für die erste, die „theoretizistisch" genannt werden kann, steht die Frankfurter Schule, das heißt Leute, die keine empirische Forschung betreiben, aber ständig die positivistische Gefahr anprangern (diese Strömung hat in Frankreich Goldmann vertreten). Für die zweite, die man die „positivistische" nennen kann, stand Lazarsfeld. Das war eben das Paar Lazarsfeld/Adorno; ich habe mich dazu ausführlicher in den Feinen Unterschieden geäußert. Es ging darum, diesen beiden Richtungen eine theoretisch begründete empirische Soziologie entgegenzusetzen, eine Soziologie, die kritische Intentionen haben kann (wie jede Wissenschaft), aber empirisch sein muß. Β. K.: Auf welche wissenschaftstheoretischen Traditionen konntet ihr bei dieser Auseinandersetzung zurückgreifen, worauf konntet ihr euch stützen bei eurem Versuch, eine theoretisch begründete empirische Soziologie entwickeln und die eigene Position klarzumachen?

P. B.: Zunächst einmal hatte ich damals meine eigenen Erfahrungen. In Algerien hatte ich mit Leuten vom Statistischen Institut gearbeitet, mit meinen Freunden vom INSEE 1 , Alain Darbel, Claude Seibel, Jean-Paul Rivet, und mit ihnen lernte ich die Statistik sozusagen „von der Pike a u f . Das war einer der Glücksfälle meines Lebens. Sie kamen von einer sehr strengen Statistik-Tradition her, die der angelsächsischen in nichts nachstand, von der Soziologie aber nicht zur Kenntnis genommen wurde. Ansonsten waren sie aber, obwohl sehr streng, was Stichprobenkonstruktion oder mathematische Modelle anging, in einer bürokratisch-positivistischen Tradition befangen, für die sich Fragen zu den ganz elementaren Schritten der Forschung gar nicht erst stellten. Ich hatte, kurz bevor ich mit der Arbeit zu diesem Buch anfing, an der Ecole Nationale de la Statistique et des Etudes Economiques Statistik gelehrt, und bei diesen Vorlesungen vor den zukünftigen Statistikern war mir klargeworden, daß man nicht nur lehren mußte, wie man Daten aufbereitet und verarbeitet, sondern auch wie man das Objekt konstruiert, für das diese Daten erhoben werden; nicht nur, wie man kodiert, sondern auch wie man die Implikationen aufdeckt, die in einer Kodierung stecken; nicht nur, wie man einen Fragebogen macht, sondern auch, wie man einen Satz von Fragen ausgehend von einer Problemstellung konstruiert usw. So weit also meine Erfahrungen. 1

Institut National de la Statistique et des Rtudes Economiques; entspricht dem Statistischen Bundesamt in der Bundesrepublik Deutschland.

Pierre Bourdieu im Gespräch mit Beate Krais

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Andererseits hatte ich meine Ausbildung, ich hatte mich ja während meines Philosophiestudiums vor allem für Wissenschaftsphilosophie, Wissenschaftstheorie usw. interessiert. Ich wollte versuchen, eine bestimmte wissenschaftstheoretische Tradition in den Bereich der Sozialwissenschaften zu übertragen, eine Tradition, für die zum Beispiel Bachelard, Canguilhem, Koyre stehen und die im Ausland wenig bekannt ist, außer vielleicht Koyre, bei Leuten wie Th. S. Kuhn — weswegen Kuhns Theorie der wissenschaftlichen Revolutionen mir wissenschaftlich auch nicht so revolutionär vorkam ... Diese Tradition, die nicht einfach in irgendeinem ,,-ismus" aufgeht, hat als gemeinsame Basis den Primat der Konstruktion: Die Konstruktion des Objekts ist der grundlegende wissenschaftliche Akt. Man geht nicht ohne Hypothese, ohne Konstruktionsinstrumente an das Reale heran. Und wenn man meint, man mache gar keine Voraussetzungen, dann konstruiert man, ohne es zu wissen, doch immer noch, und dann fast immer schlecht. Für die Soziologie ist es schon deshalb besonders wichtig, sich intensiv mit der Konstruktion zu befassen, weil sich die soziale Welt gewissermaßen selber konstruiert: Wir stecken voller Prä-Konstruktionen. Unausgesprochen und unbewußt werden in der Alltagserfahrung und auch in vielen sozialwissenschaftlichen Arbeiten Erkenntnisinstrumente für die Objektkonstruktion eingesetzt, die eigentlich selber zum Objekt gemacht werden müßten. Darauf sind auch manche Ethnomethodologen gekommen, aber ohne so weit zu gehen, wie Bachelard mit seiner Vorstellung vom epistemologiscben Bruch gegangen ist: Was bedeutet, daß sie mit ihrer Definition der Sozial wissenschaft als eines ,account of accounts' eben doch in der positivistischen Tradition steckenbleiben. Das ist heute gerade wieder gut an der Mode der discourse analysts zu sehen (die ja durch die Weiterentwicklung der Auf^eichnungsinstrumente, also etwa der Videotechnik, gewaltig Auftrieb bekommen hat): Die Konzentration auf einen Diskurs, der nur bei seinem face value genommen wird, nur so, wie er sich gibt, und dazu noch eine Philosophie, für die Wissenschaft bloßes Registrieren ist (und keine Konstruktion), hat zur Folge, daß der soziale Raum, in dem der Diskurs produziert wird, die Strukturen, die ihn determinieren usw., einfach ausgeblendet werden. Β. K.: Diese Vorstellung von der Konstruktion des wissenschaftlichen Objekts scheint mir außerordentlich wichtig. Vielleicht ist das heute für die Naturwissenschaften trivial; in den Sozialwissenschaften gehört diese Vorstellung aber keineswegs ^um selbstverständlichen Handwerkszeug jedes Wissenschaftlers, als Voraussetzung oder besser: als erster Schritt jeder Untersuchung. Mir scheint aber, daß eine Reflektion über die Art des wissenschaftlichen Objekts und die aktive Rolle des Wissenschaftlers bei der „Produktion" dieses Objekts gerade in den Sozialwissenschaften hilfreich sein muß, in denen Wissenschaft nicht möglich ist, wenn es dem Wissenschaftler nicht gelingt, auf Distanz K.u selbst als interessiertem und handelndem Subjekt z,u gehen.

P. B.: Unser Kopf und unsere Sprache sind voll von prä-konstruierten Objekten, und deshalb ist der Bruch mit den Prä-Konstruktionen, den Vorbegriffen, der Spontantheorie, in der Soziologie auch ganz besonders wichtig;

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Pierre Bourdieu im Gespräch mit Beate Krais

ohnehin wird ja meiner Meinung nach in Dreiviertel aller Untersuchungen nichts anderes gemacht, als soziale Probleme in soziologische Probleme zu verwandeln. Man kann dafür -zig Beispiele anführen: Das Altenproblem, das Frauenproblem, jedenfalls wenn es in einer bestimmten Form gestellt wird, das Jugendproblem ... Es gibt alle möglichen prä-konstruierten Objekte, die sich als wissenschaftliche Objekte durchsetzen und die, weil ihre Wurzeln im common sense liegen, von vornherein in der scientific community wie in der breiten Öffentlichkeit auf Beifall rechnen können. Ein Gutteil der Objektdefinitionen entspricht beispielsweise bürokratischen Einteilungen: Die großen Sparten der Soziologie entsprechen der Aufteilung auf Ministerien: Bildung, Kultur, Familie, Jugend und Sport usw. Und ganz allgemein sind viele Instrumente, mit denen soziale Realität konstruiert wird (etwa sozio-ökonomische Indices, Altersklassen usw.), bürokratische Kategorien, über die niemand richtig nachdenkt. Wir sind alle, wie Thomas Bernhard in Alte Meister sagt, mehr oder weniger „Staatsdiener", „verstaatlichte Menschen", Produkte von Schulsystemen und Lehrern ... Und um von diesem Vor-Gedachten wegzukommen, für diesen Bruch, braucht man eine ungeheure Energie, eine Art Bilderstürmer-Gewalt, wie sie eher bei Schriftstellern wie Thomas Bernhard oder Künstlern wie Hans Haacke zu finden ist als bei Professoren für Soziologie, so „radikale" Absichten sie auch haben mögen. Die Schwierigkeit ist, daß diese prä-konstruierten Objekte so etwas Selbstverständliches haben, und daß dagegen eine wissenschaftliche Arbeit, die beim Bruch mit dem common sense ansetzt, auf tausend Probleme stößt. Ganz elementare wissenschaftliche Operationen werden dann zum Beispiel äußerst schwierig. Solange man die soziale Welt nimmt, wie sie ist, das heißt, wie sie sich gibt, bietet sie fix-und-fertige Daten, Statistiken, Diskurse, die man umstandslos aufnehmen usw. kann. Kurz, befragt man sie, wie sie befragt werden will, geht alles wie von selbst: Sie redet gern, sie erzählt einem alles, was man wissen will, sie liefert Zahlen. Sie liebt Soziologen, die registrieren, reflektieren, wie Spiegel funktionieren. Positivismus, das ist die Philosophie von der Wissenschaft als Spiegel... Β. K.: Aber kommst du nicht selbst dem Positivismus sehr nahe, wenn du sagst, daß wir in der Soziologie nichts wissen, bevor wir nicht, wie die Naturwissenschaftler, durch wissenschaftliche Arbeit unsere „Daten", unser „Untersuchungsmaterial" erzeugt haben? Ich verstehe schon, daß man in den So^ialwissenschaften die Dinge — die „socialen Tatbestände" — nicht einfach so nehmen kann, wie sie sich dem alltäglichen Bewußtsein präsentieren. Aber man kommt doch andererseits nicht darum herum, daß die handelnden Subjekte auch Experten für ihr Leben sind, daß sie ein Bewußtsein von der socialen Welt und ein praktisches Wissen darüber haben, und daß dieses praktische Wissen nicht einfach als Illusion abgetan werden kann.

P. B.: Zu den Prä-Konstruktionen, die von der Wissenschaft infragegestellt werden müssen, gehört auch ein bestimmter Wissenschaftsbegriff. Auf der einen Seite gibt es den common sense, der mit Vorsicht zu genießen ist, weil die sozialen Akteure die Weisheit auch nicht, wie man so sagt, mit Löffeln

Pierre B o u r d i e u im Gespräch mit Beate K r a i s

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gefressen haben. Diese Illusion einer unmittelbaren Erkenntnis — da hatte Dürkheim, glaube ich, völlig recht — ist eines der Hindernisse, mit denen es die wissenschaftliche Erkenntnis zu tun hat. Andererseits ist es aber auch so, daß die Überzeugung, gegen den common sense konstruieren zu müssen, ihrerseits einer szientistischen Illusion Vorschub leisten kann, der Illusion des absoluten Wissens. Diese Illusion wird bei Dürkheim ganz klar formuliert: Die Akteure befinden sich im Irrtum, in einem Irrtum aus Mangel: Die Erkenntnis des Ganzen bleibt ihnen versagt, also ist ihre Erkenntnis primär, gänzlich naiv. Dann kommt der Wissenschaftler daher, der das Ganze erfaßt und der überhaupt im Vergleich mit normalen Sterblichen, die nichts verstehen, eine Art Gott ist. Die Soziologie der Soziologie, das ist für mich ein integraler Bestandteil der Soziologie, und sie ist unentbehrlich für jede Infragestellung sowohl der Illusion des absoluten Wissens, die der Position des Wissenschaftlers inhärent ist, als auch der besonderen Form, die diese Illusion je nach der Position bekommt, die der Wissenschaftler im Raum der wissenschaftlichen Produktion einnimmt. Im Homo academicus habe ich großes Gewicht auf diesen Punkt gelegt. Bei der Untersuchung der akademischen Welt ist die Gefahr besonders groß; die wissenschaftliche Objektivierung kann auch eine Möglichkeit sein, sich gegenüber seinen Konkurrenten als Gottvater aufzuspielen. Das ist vielleicht auch das erste, was mir bei meinen ethnologischen Arbeiten klar wurde: Es gibt Dinge, die man nicht mehr versteht, wenn man den wissenschaftlichen Blick nicht selber zum Objekt macht. Die Tatsache, daß man sich selbst als Wissenschaftler nicht kennt, daß man nicht alles weiß, was in der Stellung des Beobachters, des Analysierenden impliziert ist, ist eine Quelle von Irrtümern. Der Strukturalismus zum Beispiel — ich habe das in Der sociale Sinn zu zeigen versucht — beruht auf eben dieser Illusion, indem er nämlich die Gedanken, die sich der Wissenschaftler über die Akteure macht, in deren Köpfe verlegt. Β. K.: Du hast das epistemologische Paar AdornojLa^arsfeld erwähnt, ein bißehen wie eine Art von Scylla und Cbarybdis der Soziologie. In „Soziologie als Beruf ist aber auch von der Gefahr des „soziologischen Humanismus" die Rede, und ich kann mir nicht so recht vorstellen, was damit gemeint ist.

P. B.: In Frankreich machten nach dem Krieg zum Teil solche Leute empirische Soziologie, die den sozialen Bewegungen der Gauche chretienne [Christliche Linke] nahestanden (zum Beispiel gab es den Pater Lebret mit seiner Bewegung „Wirtschaft und Humanismus"). Sie betrieben die Soziologie — wie soll ich sagen? — karitativ. Furchtbar nette Leute, denen das Wohl der Menschheit am Herzen lag ... Es gibt einen berühmten Ausspruch von Andre Gide, „mit guter Gesinnung macht man schlechte Literatur". Genauso könnte man sagen, „mit guter Gesinnung macht man schlechte Soziologie". Meiner Meinung nach hat diese ganze Bewegung des christlichen Humanismus oder humanitären Sozialismus die Soziologie in eine Sackgasse geführt.

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Pierre Bourdieu im Gespräch mit Beate Krais

Β. K.: „Soziologischer Humanismus" rnuß aber nicht notwendigerweise christlich sein, glaube ich. Es gibt wohl auch Parallelen in einer Soziologie, die „links" sein will, als Soziologie, die aus dem Geist der Sozialarbeit gemacht wird — auch wenn hier eine der Wurzeln der angelsächsischen Soziologie liegt, man denke nur an die Webbs — oder vom „Klassenstandpunkt" aus, vom „Standpunkt des Proletariats" aus.

P. B.: Leider ist die empirische Soziologie zu Freizeit, Arbeit, Stadt von Leuten gemacht worden, die zwar menschlich unanfechtbar waren, aber eben sozusagen zu menschlich... Auch damit mußte gebrochen werden. Man macht nicht Soziologie, weil es einen befriedigt, wenn man mit den Leidenden leidet. Man mußte den Mut haben, zu all dem Nein zu sagen. Ich weiß noch, wie ich in Algerien gearbeitet habe, mitten im Krieg und konfrontiert mit Dingen, die mich sehr, sehr stark berührten, aber ich habe immer versucht, ein Stück Distanz zu halten, und das war eben auch eine Art, die Würde der Leute zu respektieren... Flaubert, das ist das Modell, das mir dazu einfällt, das heißt jemand, der einen distanzierten Blick auf die Realität hat, der die Dinge mit Anteilnahme sieht, aber sich nicht hineinziehen läßt. Das ist es sicher auch, was viele Leute an mir so geärgert hat: Ich habe das moralische Geschwätz nicht mitgemacht, den guten Willen, die humanistische Nettigkeit. Ich habe mit dem Begriff „Interesse" gearbeitet, das wäre auch so ein Beispiel für diese Haltung. Natürlich nicht Interesse im Sinne von Bentham, das habe ich oft genug gesagt. Aber das war auch eine Art, mich von dieser Sorte Humanismus abzusetzen und daran zu erinnern, daß es den Humanisten eben auch befriedigt, wenn er sagt, er ist Humanist. Β. K.: Ja — aber wenn man diesen kritischen Blick hat, dann unterstellt man auch, daß die Akteure Komplizen des sozialen Geschehens sind, daß sie sogar in ihre eigene Unterdrückung als aktiv Handelnde einbezogen sind. Im anderen Fall müßte man sich die Subjekte, die Menschen, als eine Art Marionetten denken, die durch ihnen äußerliche Kräfte und Strukturen gelenkt werden.

P. B.: Die Soziologie ist eine sehr schwierige Wissenschaft. Man steuert immer zwischen zwei Klippen hindurch, man umschifft die eine und scheitert dabei womöglich an der anderen. Das ist auch der Grund, warum ich mein Leben damit verbracht habe, an den Dualismen zu rütteln. Die Überwindung dieser Gegensatzpaare, oft in Gestalt irgendwelcher ,,-ismen", das ist ein Punkt, auf den ich jetzt mehr Gewicht legen würde als in „Soziologie als B e r u f . Zum Beispiel gibt es den Humanismus auf der einen Seite, der zumindest das eine für sich hat, daß er sagt, man muß zu den Leuten hingehen. Nur sind das keine realen Leute. Und dann gibt es die Theoretizisten auf der anderen Seite, meilenweit entfernt von jeder Realität, und von den Leuten, so wie sie sind. Die Althusserianer waren typisch für diese Haltung: Ecole-normale-T.ö^mgc, die oft aus dem Bürgertum kamen und noch nie einen Arbeiter oder Bauern oder ähnliches aus der Nähe gesehen hatten, die machten dann große Theorie ohne Akteure. Diese theoretizistische Welle kam direkt nach dem Buch „Soziologie als B e r u f . Überhaupt müßte „Soziologie als B e r u f je nach den Zeitumständen neu geschrieben werden. Die wissenschaftstheoretischen Aussagen entwickeln sich

Pierre Bourdieu im Gespräch mit Beate Krais

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ja aus dem Nachdenken über die wissenschaftliche Praxis, besonders über die Irrtümer, und also orientieren sie sich immer an den Gefahren, die zum jeweiligen Zeitpunkt die vorherrschenden sind. Da sich nun die Hauptgefahr im Laufe der Zeit ändert, muß sich auch der Hauptakzent des Diskurses ändern. Als „Soziologie als B e r u f geschrieben wurde, mußte der theoretische Pol gegen den Positivismus gestärkt werden. In den siebziger Jahren, zur Zeit der Althusser-Welle, hätte dann der empirische Pol Verstärkung gegen jenen Theoretizismus gebraucht, bei dem die Akteure auf Träger [dt. bei P. B.; A. d. Ü.] reduziert werden. Ein Gutteil meiner Arbeit, Der sociale Sinn zum Beispiel, wendet sich radikal gegen diesen Ethnozentrismus von Wissenschaftlern, die meinen, sie wüßten besser über die Wahrheit der Leute Bescheid als die Leute selber, und müßten sie zu ihrem Glück zwingen, wie in dem alten platonischen Mythos vom Philosophen-König (modernisiert als LeninKult): Begriffe wie Habitus, Praxis usw. hatten unter anderem die Funktion, daran zu erinnern, daß es ein praktisches Wissen gibt, eine praktische Erkenntnis, die ihre eigene Logik hat, nicht reduzierbar auf die Logik der theoretischen Erkenntnis; daß in gewissem Sinne die Akteure besser über die soziale Welt Bescheid wissen als die Theoretiker; und dennoch daran festzuhalten, daß sie nicht wirklich Bescheid wissen und daß die Arbeit des Wissenschaftlers darin besteht, dieses praktische Wissen explizit zu machen. Β. K.: Das theoretische oder wissenschaftliche Wissen ist also nicht etwas grundsätzlich anderes als das praktische Wissen, denn es ist konstruiert, wie das praktische Wissen auch, aber es ist explizit konstruiert, es re-konstruiert das praktische Wissen als explizites und hebt es auf diese Weise ins Bewußtsein. Und was da rekonstruiert wird mit den Mitteln der Wissenschaft ist dasselbe, es ist nicht ein Objekt oder eine Realität, die einer ganv^ anderen, den handelnden Subjekten verschlossenen Welt angehören. Aber wie macht man das, ein wissenschaftliches Objekt konstruieren? Wie kann man die hierfür notwendige Distant herstellen, ohne sich gleich über die handelnden Subjekte %u erheben, ohne sie als arme Teufel sehen, „denn sie wissen nicht, was sie tun", wie es in der Bibel heißt?

P. B.: Ich bin mehr denn je der Ansicht, daß das Allerwichtigste die Konstruktion des Objekts ist. Im Laufe meiner Arbeit habe ich immer wieder erlebt, wie sehr alles, einschließlich der technischen Probleme, mit der vorangestellten Definition des Objekts steht und fallt. Natürlich ist die Objektkonstruktion nicht der Initiierungsakt, und ein Objekt konstruieren heißt nicht, einen „Projektantrag" stellen. Man müßte sich einmal soziologisch mit den Research Proposais befassen, die die Wissenschaftler in den Vereinigten Staaten vorlegen müssen, um Geld zu bekommen: Da soll man vorab seine Forschungsziele und seine Methoden definieren und nachweisen, daß das, was man machen will, etwas anderes ist als das, was man früher gemacht hat usw. Die Rhetorik, die man benutzen muß, um den „methodological appeal" zu bekommen, von dem Adam Przeworski und Frank Salomon in einem Text sprechen, der als Ratgeber für die Verfasser von solchen proposals gedacht ist, 2 enthält eine sozial sanktionierte implizite Wissenschaftstheorie. Das geht 2

On the Art of Writing Proposals,

New York: Social Science Research Council, 1981.

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Pierre Bourdieu im Gespräch mit Beate Krais

so weit, daß in den USA und anderswo viele Wissenschaftler von einer empirischen Arbeit, die nicht gemäß den Normen dieser Rhetorik dargestellt wird, das Gefühl haben, sie wäre nicht richtig wissenschaftlich. Während doch in Wirklichkeit die Form, in der sich ein wissenschaftliches Projekt darstellt, der realen Logik der Arbeit völlig entgegengesetzt ist, denn das ist eine Arbeit, die eben nicht zu Beginn ein für allemal erledigt wird, sondern sich im Verlauf der Untersuchung über viele kleine Schritte und über eine ganze Serie kleiner Korrekturen vollzieht. Was nicht heißt, daß man dem Objekt vollkommen hilflos gegenübersteht. Man verfügt ja über allgemeine methodische Grundsätze, die gewissermaßen in den wissenschaftlichen Habitus eingegangen sind. Genau das ist das Metier des Soziologen: Eine in Habitus verwandelte Theorie der soziologischen Konstruktion. Dieses Metier beherrschen, das heißt all das, was in den Grundbegriffen Habitus, Feld usw. steckt, praktisch beherrschen. Das heißt beispielsweise wissen, daß man, will man überhaupt eine Chance haben, das Objekt zu konstruieren, die Voraussetzungen explizit machen muß, daß man die Prä-Konstruktionen des Objekts soziologisch konstruieren muß; es heißt auch wissen, daß das Reale relational ist, was existiert, sind die Relationen, also etwas, das man nicht sieht, anders als Einzelpersonen oder Gruppen. Nehmen wir ein Beispiel. Ich habe vor, die Grandes Ecoles zu untersuchen. Schon wenn ich sage „Grandes Ecoles", habe ich eine entscheidende Festlegung getroffen... Alle Jahre wieder gibt es den Amerikaner, der nach Paris kommt, um die Ecole Polytecbnique von den Ursprüngen bis zum heutigen Tage zu untersuchen, oder einen anderen, der das für die Ecole Normale machen will. Kein Problem. Die Objekte sind da, die Archive sind da usw. In Wirklichkeit kann man meiner Ansicht nach — aber das kann ich hier nicht weiter ausführen — die Ecole Polytecbnique gar nicht unabhängig von der Ecole Normale oder der Ecole Nationale d'Administration untersuchen. Man untersucht dann ein Objekt, das keines ist. Aber man erlebt dabei, was ich vorhin schon gesagt habe: Je naiver man an ein Objekt herangeht, desto problemloser bieten sich einem die Daten an, die man untersuchen soll. Sage ich aber, mein konstruiertes Objekt, das sind die Grandes Ecoles insgesamt, dann bekomme ich im Gegenteil tausenderlei Probleme: nicht miteinander vergleichbare Statistiken zum Beispiel. Und ich muß das Risiko eingehen, daß es so aussieht, als wäre ich weniger wissenschaftlich als die, die sich an das offensichtliche Objekt halten, so groß sind die Schwierigkeiten, die man überwinden muß, wenn man das konstruierte Objekt empirisch fassen will. Β. K.: Ich möchte gerne noch einmal auf die Planung für „Soziologie als Beruf zurückkommen. Im Vorwort zur ^weiten französischen Ausgabe steht, daß ursprünglich ein dreibändiges Werk vorgesehen war: Die „wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen", das ist der vorliegende Band, dann ein zweiter Band über die Konstruktion des soziologischen Objekts, und schließlich ein dritter, in dem es um die kritische Darstellung des Methoden-Instrumentariums gehen sollte. Ich kann mir diesen dritten Band ganz gut vorstellen, aber ich habe Schwierigkeiten mit dem geplanten zweiten Band. Vielleicht hatten die Autoren diese auch, und vielleicht ist er auch deshalb nicht geschrieben worden?

Pierre B o u r d i e u im G e s p r ä c h mit Beate K r a i s

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P. B.: Der erste Band konnte ein eigenständiges Buch werden, bloß eben als Lehrbuch verkleidet, weil es dazu nichts gab, und ich denke im übrigen auch heute noch, daß es nicht allzuviel dazu gibt... Der zweite Teil wäre viel schwieriger geworden. Man hätte entweder ein klassisches Lehrbuch machen können, also mit den Uberschriften, die man in einem Lehrbuch der Soziologie erwarten kann (Struktur, Funktion, Handeln usw.), oder eben dasselbe wie im ersten Teil, also eine eigenständige Abhandlung, die eine allgemeine Theorie geworden wäre. Ich für mein Teil hatte nicht die geringste Lust, ein klassisches Lehrbuch zu schreiben, mich etwa zu „Funktion" und „Funktionalismus" zu äußern: Das wäre eine rein akademische Übung gewesen. Der dritte Teil, die Werkzeuge, hätte nützlich sein können, hätte aber bedeutet, daß man die Aufteilung in Theorie und E,mpirie anerkennt, ein Gegenstück zu diesem verhängnisvollen Gegensatz von theory und methodology in der angelsächsischen Tradition. In „Soziologie als B e r u f heißt es, unterschiedliche statistische Verfahren enthielten implizite Philosophien des Sozialen, die explizit gemacht werden müßten: Wenn man eine Regressions-, Pfad-, Faktorenanalyse durchführt, sollte man auch wissen, auf welche Philosophie des Sozialen man sich damit einläßt, insbesondere auf welche Philosophie der Kausalität, des Handelns, der Existenzweise des Sozialen usw. Zwischen dem einen oder dem anderen Verfahren kann man nur problemabhängig wählen, konstruktionsabhängig: Wenn ich zum Beispiel die Korrespondenzanalyse viel verwende, dann weil ich meine, daß diese ein im wesentlichen relationales Verfahren ist, dessen Philosophie völlig dem entspricht, was meiner Ansicht nach die soziale Realität ausmacht. Es ist ein Verfahren, das in Relationen „denkt", so wie ich es mit Begriff Feld zu tun versuche. Man kann also nicht die Objektkonstruktion und die Instrumente der Objektkonstruktion trennen, denn man braucht Instrumente, um von einem Forschungsprogramm zu einer wissenschaftlichen Arbeit zu kommen. Hätte ich erklären wollen, welche Faktoren den unterschiedlichen Schulerfolg von Schülern unterschiedlicher Schulen bestimmen, hätte ich (vorausgesetzt, ich hätte die Unabhängigkeit der einzelnen Grundvariablcn voneinander bewiesen — was meiner Meinung nach nicht geht) die multiple Regressionsanalyse genommen. ß. K.: Wir kommen also wieder vytrück auf das Problem der Konstruktion des Objekts, dieses Mal von der Seite der Instrumente her, die den spezifischen Objekten angemessen sein müssen. Die Arbeit des Soziologen ist, wenn ich es richtig verstanden habe, in hohem Maße geprägt durch die Merkmale des jeweiligen Objekts, durch seine Geschichte...

P. B.: Das ist das Problem der Besonderheit des Objekts. Bei meiner Auffassung von wissenschaftlicher Arbeit ist es klar, daß ich nur über ein räumlich und zeitlich bestimmtes Objekt arbeiten kann. Angenommen, ich wollte untersuchen, wie das Lehrerurteil funktioniert. Ich gehe davon aus, daß die Urteile von Lehrern über ihre Schüler und deren Arbeiten Ergebnis der Aktivierung mentaler Strukturen sind, und diese wiederum Ergebnis der

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Inkorporierung sozialer Strukturen, etwa der Aufteilung in Disziplinen. Um dieses sehr allgemeine Problem zu lösen, befasse ich mich vielleicht mit den Personen auf den ersten Plätzen im concours general? oder mit den Benotungsbögen, die ein bestimmter Lehrer in den sechziger Jahren geführt hat, und arbeite die Bewertungskategorien heraus, die in sie eingegangen sind. Wenn ich das heute veröffentliche, zwanzig Jahre danach, dann heißt es: „Die Daten sind überholt, das ist vorbei, heute haben nicht mehr die Lehrer in den geisteswissenschaftlichen Fächern das Sagen, sondern die Lehrer in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern", usw. In Wirklichkeit habe ich aber als Objekt die mentalen Strukturen einer Person, deren soziale Amtsgewalt eine der mächtigsten in unserer Gesellschaft überhaupt ist, einer Person, die die Macht hat, symbolisch zu verwerfen („du bist ein Idiot", „eine Null") oder zu sanktionieren („du bist intelligent"). Das ist ein sehr wichtiges Objekt, und man kann es überall beobachten. Mit meiner Analyse eines historischen Falls liefere ich ein Programm für andere empirische Analysen unter anderen Verhältnissen als den von mir untersuchten. Sie ist eine Aufforderung zur schöpferischen Lektüre und zur theoretischen Induktion, die von einem gut konstruierten besonderen Fall ausgehend verallgemeinert. Hat man auf diese Weise ein Programm (zu erklären sind: mentale Strukturen, Klassifizierungsprinzipien, Taxonomien, die wahrscheinlich in Adjektiven zum Ausdruck kommen), braucht man die Erhebung nur zu einem anderen Zeitpunkt und an einem anderen Ort zu wiederholen und dabei nach den Invarianten zu suchen. Diejenigen, die kritisieren, daß meine Forschungsergebnisse „zu französisch" sind, haben nicht begriffen, daß das Wichtige nicht die Ergebnisse sind, sondern der Prozeß, in dem sie erarbeitet werden. „Theorien" sind Forschungsprogramme, die nicht zur „theoretischen Diskussion" anregen sollen, sondern zur praktischen Umsetzung, über die sie dann widerlegt oder verallgemeinert werden können. Husserl hat einmal gesagt, man müsse sich in den besonderen Fall versenken, um das Invariante in ihm zu entdecken; und Koyre, der bei Husserl Vorlesungen gehört hat, zeigt, daß Galilei das Experiment mit der schiefen Ebene nicht erst tausendmal wiederholen mußte, um das Phänomen des Falls zu verstehen. Er brauchte nur das Modell zu konstruieren, gegen den Augenschein. Wenn der besondere Fall gut konstruiert ist, hört er auf, ein besonderer zu sein, und normalerweise müßte dann jedermann mit ihm arbeiten können. Β. K.: „Soziologie als Beruf ist 1968 ^um ersten Mal auf Französisch herausgekommen, es ist also ein Buch, das inzwischen gut zwanzig Jahre alt ist. In diesen zwanzig Jahren ist die Soziologie nicht stehengeblieben; vor allem die empirische Forschung ist sehr stark weiterentwickelt worden. Du selbst hast seither viel gearbeitet, hast deine theoretischen Konzepte weiterentwickelt und umfangreiche empirische Untersuchungen veröffentlicht. Du hast also heute erheblich mehr Erfahrung mit der Soziologie als damals. Wenn du heute noch einmal ein Buch über das Metier des Soziologen schreiben würdest, was würdest du anders machen? Was würdest du hinzufügen? 3

Jährlicher Leistungswettbewerb der besten Gymnasiasten in Frankreich.

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P. B.: Vor allem würde ich die Dinge anders formulieren. Das war ein programmatischer Text. Hinter mir hatte ich eine Erfahrung, aber vor allem mußte ich meiner Unzufriedenheit mit dem offiziellen Diskurs über die wissenschaftliche Praxis Luft machen. Heute weiß ich das, was damals wie ein Programm formuliert wurde, besser und praktischer. Im Grunde ist „Soziologie als B e r u f doch noch ein richtiges Lehrer-Buch. Es enthält ja auch viel Negatives, das ist typisch Lehrer... Tu dies nicht und tu jenes nicht... Überall Verbotsschilder. Es ist programmatisch und negativ zugleich, ein bißchen so, als verteilte man ein Grammatikbuch, um Sprechunterricht zu geben... Obwohl in „Soziologie als Beruf die ganze Zeit von „metier" im französischen Sinne die Rede ist (also von „avoir du metier", sein „Handwerk", sein „Metier" verstehen, das heißt einen „Habitus" haben, es praktisch beherrschen), kommt es didaktisch daher, und das ist halt ein bißchen lächerlich: Es sagt dauernd, man müsse konstruieren, aber es zeigt nie, wie man das praktisch macht. Ich glaube, es ist ein Buch, das auch Schaden angerichtet hat. Es hat die Leute wach gemacht, aber es ist sofort für den Theoretizismus vereinnahmt worden. Zu den Arten, keine Soziologie zu machen — und es gibt viele — gehört eine, die darin besteht, sich an großen Worten zu berauschen und endlos den „wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen" zu huldigen. Das Metier vermittelt sich großenteils praktisch, und um es vermitteln zu können, muß man es sehr gründlich verinnerlicht haben. In meinen Seminaren sage ich oft, ich bin ein bißchen wie ein alter Arzt, der alle Krankheiten der soziologischen Vernunft kennt. Es gibt geschlechtsspezifische Fehlerneigungen, herkunftsbedingte, bildungsbedingte: Junge Männer sind häufiger theoretizistisch, während junge Frauen sozial darauf eingestimmt sind, zu bescheiden zu sein, zu vorsichtig, zu gewissenhaft, sie flüchten sich in die Empirie, in das Klein-Klein, und man muß sie ermutigen, daß sie sich trauen, daß sie theoretisch etwas riskieren... Diese Dispositionen sind aber auch durch die soziale Herkunft bedingt: Theoretische Arroganz ist weniger wahrscheinlich bei Intellektuellen der ersten Generation... So gesehen gibt es eine ganze Reihe klassischer Krankheiten, die man immer wiedererkennt. Ich glaube, aufgrund meiner Erfahrung als Forschungsleiter, zu der man noch die Erfahrung all der Krankheiten hinzurechnen muß, die ich zu dem einen oder anderen Zeitpunkt meiner Laufbahn selber gehabt habe, und all die Irrtümer, die ich selber begangen habe, kann ich inzwischen die Grundsätze der Objektkonstruktion praktisch lehren, wie ein alter Handwerker, und das macht den großen Unterschied dazu aus, wie „Soziologie als B e r u f geschrieben ist. Wenn ich dieses Buch noch einmal schreiben müßte, würde ich eine Reihe von Beispielen bringen oder von „Meisterstükken", wenn man so sagen will, wie sie die Handwerker im Mittelalter gemacht haben. Als Beispiel für die Objektkonstruktion würde ich bringen, was im Homo academicus im Anhang steht, die Analyse einer literarischen Hitliste. Ich würde sagen: Da habt ihr das Material; ihr habt es vor der Nase, jeder kann

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es sehen. Warum ist es schlecht konstruiert? Was sagt euch dieser Fragebogen? Was würdet ihr daraus machen? Das zweite wäre der Anhang zu den Feinen Unterschieden, der „Das chinesische Spiel" heißt. Ich bin eines Tages auf eine Nummer der Zeitschrift Sondages gestoßen, die das IFOP 4 herausgibt, in der Statistiken über die Verteilung verschiedener Attribute veröffentlicht waren, die bestimmte Politiker (Giscard, Marchais, Chirac, Servan-Schreiber usw.) bei Umfragen bekommen hatten. Der Kommentar war eine bloße Paraphrasierung: Marchais beispielsweise wird mit einer Tanne verglichen. Man könnte den Studenten das Rohmaterial (also den Sondages-Artikel) geben und sie dann zur Übung fragen, was sie denn aus ihm herausholen, und ihnen dann zeigen, was man herausholen kann. In beiden Fällen geht es darum, die verborgenen Voraussetzungen der Konstruktion des prä-konstruierten Objekts aufzudekken, das diesen naiv präsentierten Ergebnissen zugrundeliegt. Im ersten Fall muß nach der Stichprobe gefragt werden: Wer sind die Juroren, deren Urteile zu dieser Hitliste geführt haben? Wie wurden sie ausgewählt? Ergibt sich nicht die Hitliste bereits aus der Liste der ausgewählten Juroren und ihrer Wahrnehmungskategorien? Im zweiten Fall muß man sich den Fragebogen ansehen. Man muß überhaupt immer die Fragebögen ansehen... Die Leute, die die Frage gestellt haben, haben unbewußte Denkkategorien hineingebracht (wie eben „Tanne": schwarz, düster, das Holz, aus dem die Särge gemacht werden, das an Tod erinnert usw.), und bei den Befragten haben sie damit ebenfalls Denkkategorien angesprochen, die so ziemlich dieselben sein dürften, und genauso unbewußt. Es gibt eine Kommunikation auf der Ebene des Unbewußten. Und eine idiotische Umfrage, deren wissenschaftlicher Gehalt gleich Null ist, kann ein ungeheuer spannendes wissenschaftliches Objekt abgeben, wenn man nur, statt ganz blöde die Ergebnisse zu lesen, die unbewußten Denkkategorien herausliest, die als Projektionen in die von ihnen erzeugten Ergebnisse eingegangen sind. In beiden Fällen geht es um bereits veröffentlichte Daten, die re-konstruiert werden müssen, und das ist oft so. Ich würde also, kurz gesagt, drei oder vier Beispiele von Extremfallen bringen, an denen man — vorausgesetzt, man wendet an, was in „Soziologie als Beruf theoretisch ausgeführt wird — ein Objekt hat, statt bloß ein Artefakt oder gar nichts; also lieber ein paar ausgewählte Stücke aus empirischen Arbeiten, und dazu ein paar Kommentare. Eine andere Sache, auf die ich mehr Gewicht legen würde, ist die Soziologie der Soziologie: Sie wird am Ende von „Soziologie als B e r u f erwähnt, aber nur ganz abstrakt. Diese ganze Seite hat sich seither stark entwickelt, vor allem mit dem Homo academicus. Aber abgesehen davon würde der wirklich große Unterschied in der Darstellungsweise liegen... Ich habe das jetzt nicht noch einmal gelesen..., aber ich glaube, daß ich mich heute sicher über vieles

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Institut Fran$ais d'Opinion Publique, ein französisches Institut f ü r M e i n u n g s f o r s c h u n g .

Pierre B o u r d i e u im Gespräch mit Beate K r a i s

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ärgern würde... Ich bin sicher, ich würde sagen: Was ist das arrogant! Man ist halt arrogant, wenn man jung ist, aus Unsicherheit... ß. K.: Gan% Anfang unseres Gesprächs habe ich dich gebeten, dieses Buch in seinem HntstehungsKontext verorten. Wenn du nun heute „Soziologie als Beruf Nummer %wei schreiben würdest, wie würdest du den Kontext beschreiben? In welchem Diskussions-Zusammenhang wäre es dann sehen? Und welche Probleme oder epistemologischen Hindernisse siehst du, die in der I:orschungsarbeit der letzten ^wan^ig Jahre ^utage getreten sind?

P. B.: Das Wesentliche hat sich gar nicht so sehr verändert. Das „positivistische" Paradigma ist weiter sehr stark. Es werden weiter empirische Untersuchungen ohne jede theoretische Phantasie gemacht, mit Problemstellungen, die viel mehr dem wissenschaftlichen common sense entspringen als einer wirklichen theoretischen Reflektion; und auf der anderen Seite gibt es, völlig losgelöst von der empirischen Forschung, die große Theorie, die ewige große Theorie. Beides verträgt sich übrigens ganz gut, das heißt, man kann positivistisch empirische Forschung machen und gleichzeitig theoretische Theorie. Was heute Theorie genannt wird, sind ja oft bloß Kommentare zu den Klassikern (wir haben heute in Deutschland, England und den USA viele dieser catch-all theories a la Parsons) oder umfassende trend-reports, produziert aus Anlaß irgendwelcher Vorlesungen (und oft auf der Grundlage der Mitschriften von Studenten...). Ich habe zufällig gerade zwei idealtypische Beispiele hierfür: einen Artikel von Robert Wuthnow und Marsha Witten mit dem Titel „New Directions in the Study of Culture", 5 und einen anderen von Judith R. Blau, „Study of the Arts: A Reappraisal"/' Der Stand der theoretischen Theorie dürfte sich dadurch erklären, daß diese ganz heterogenen und unzusammenhängenden Produkte einer Art akademischem fastreading, das oft mit nicht minder absurden akademischen Klassifizierungskategorien einhergeht, wie eine Gehirnwäsche wirken. Dieser Theorie, die als ein Spezialgebiet für sich angesehen wird, steht dann die „Methodologie" gegenüber, eine ganze Reihe von Rezepten oder Vorschriften, an die man sich halten muß, nicht, um das Objekt zu erkennen, sondern um als Kenner des Objekts anerkannt zu werden. Aber trotzdem haben sich die Verhältnisse doch sehr verändert, und ich würde jetzt ganz anders reden... Ich glaube, daß sich eine wichtige Fraktion der Soziologieproduzenten in den USA vom positivistischen Paradigma freigemacht hat. Es hat Bewegungen wie den Interaktionismus oder die Ethnomethodologie gegeben, die trotz allem positive Auswirkungen hatten, und die Dinge gesagt haben, die gar nicht so weit weg sind von dem, was in „Soziologie als B e r u f steht (zum Beispiel das Nachdenken über die Voraussetzungen, die folk theories usw.). Es hat auch die Entwicklung von „histori5 6

Annual Review of Sociology, 1988, 14, S. 4 9 - 9 6 . Annual Review of Sociology, 1988, 14, S. 2 6 9 - 2 9 2 .

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sehen" Richtungen gegeben, die wieder eine historische Dimension in die soziologische Analyse gebracht haben, vor allem in die Analyse des Staates. Und dann hat es Th. S. Kuhn gegeben, über den sich doch das eine oder andere aus der europäischen Tradition der Wissenschaftsphilosophie durchgesetzt hat, und der an Dinge erinnert, die den in „Soziologie als B e r u f behandelten Themen recht nahestehen: Wissenschaft konstruiert und ist selber sozial konstruiert usw. Ich glaube, heute ist eine Rezeption von „Soziologie als B e r u f möglich, während das damals hoffnungslos war; man wußte eigentlich nicht recht, wen in der weiten Welt so etwas überhaupt interessieren könnte. Deswegen wäre es sicher heute auch viel leichter, Texte aus der Hand von Soziologen zu finden, die unsere Themen belegen, während das damals sehr mühsam war. Ich glaube, vor allem in den USA hat es bedeutende Veränderungen gegeben: Neben der zentralen Orthodoxie, vertreten von der kapitolinischen Triade Parsons, Merton, Lazarsfeld, haben sich alle möglichen neuen Richtungen aufgetan. Es sind Untersuchungsformen entstanden, die viel kritischer — und vor allem selbstkritischer — sind (auch wenn dies in Europa, und insbesondere in Deutschland, wo der Dualismus von großer Theorie und positivistischer Empirie anhält, noch keiner gemerkt zu haben scheint; die Metropole verändert sich, während die kleinen Ableger des amerikanischen Kulturimperiums im alten Stil weiterarbeiten). Ansonsten führt jedoch die Kritik der Diskurs- oder Beobachtungs- und Interviewstrategien, wenn sie zum Selbstzweck wird, zu einer Art nihilistischer und im Grenzfall obskurantistischer Kapitulation, die in allen Punkten das Gegenteil der notwendigen vorgängigen Erkenntniskritik ist, die in „Soziologie als B e r u f vertreten wird und die ja zur weiteren Verwissenschaftlichung der Soziologie führen soll. Β. K.: Es hat sich ja nun auch wieder eine irrationalistische Strömung in den Humanwissenschaften bemerkbar gemacht, die den Aufklärungsanspruch der Wissenschaften negiert. Danach ist Wissenschaft nichts anderes als ein Mittel, sich den Lebensunterhalt %u sichern, ohne weiteren Sinn und Nutzen.

P. B.: Ja, das ist auch der Grund, warum die Wissenschaftstheorie immer so schwierig ist. Ich glaube, niemand möchte die soziale Welt so sehen, wie sie ist; es gibt viele Arten, sie zu verleugnen; es gibt die Kunst, natürlich. Aber es gibt auch eine Form von Soziologie, die dieses bemerkenswerte Ergebnis zustandebringt, nämlich von der sozialen Welt zu reden, als redete sie nicht von ihr: die formalistische Soziologie, die zwischen Forscher und Realität einen Schutzschild aus — meist schlecht konstruierten — Gleichungen errichtet. Auch das ist eine Form von Nihilismus. Die Verneinung im Freudschen Sinne ist eine Form von Eskapismus. Wenn man vor der Welt, wie sie ist, fliehen will, kann man Musiker werden, Philosoph, Mathematiker. Aber wie flieht man vor ihr, wenn man Soziologe ist? Es gibt Leute, die das schaffen. Man braucht nur mathematische Formeln zu schreiben, Spieltheo-

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rieübungen oder Computersimulationen durchzuexerzieren. Wenn man wirklich die Welt wenigstens ein bißchen so sehen und so über sie reden will, wie sie ist, dann muß man akzeptieren, daß man sich immer im Komplizierten, Unklaren, Unreinen, Unscharfen usw. und also im Widerspruch zu den gewöhnlichen Vorstellungen von strenger Wissenschaftlichkeit befindet.

Dezember 1988

Bibliographische Angaben zu den Textbeispielen Text Nr. 1 G. Canguilhem, „Sur une epistemologie concordataire", in: Hommage ä Bachelard, Etudes de philosophie et d'histoire des sciences, Paris: P. U. F., 1957, S. 4 - 1 1 . Übersetzt von Hella Beister. Text Nr. 2 G. Bachelard, Le rationalisme applique, Paris: P. U. F., 1949, S. 75, 77 — 80. Übersetzt von Hella Beister. Text Nr. 3 A. Kaplan, The Conduct of Inquiry, San Francisco: Chandler, 1954, S. 10—11. Übersetzt von Reinhard Blomert und Beate Krais. Text Nr. 4 E. Dürkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, hg. und eingeleitet von R. König, Neuwied: Luchterhand, 1961, S. 1 1 5 - 1 1 8 , 121 f., 128f. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Luchterhand Literaturverlag GmbH, Frankfurt/Main. Text Nr. 5 M. Mauss, „La priere", in: CEuvres, Bd. 1, Les fonctions sociales du sacre, Paris: Editions de Minuit, 1968, S. 3 8 5 - 3 8 7 , 4 0 1 - 4 0 2 . Übersetzt von Hella Beister. Text Nr. 6 J. H. Goldthorpe und D. Lockwood, „Affluence and the British Class Structure", The Sociological Review, 11 (1963) 2, S. 1 3 4 - 1 3 6 , 1 4 8 - 1 5 6 . Übersetzt von Reinhard Blomert und Beate Krais. Text Nr. 7 E. Dürkheim, Erziehung und Soziologie, übers, von R. Krisam, Düsseldorf: Schwann, 1972, S. 2 3 - 2 5 . Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Presses Universitaires de France, Paris. Text Nr. 8 E. Dürkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, hg. und eingeleitet von R. König, Neuwied: Luchterhand, 1961, S. 8 9 - 9 2 . Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Luchterhand Literaturverlag GmbH, Frankfurt/Main. Text Nr. 9 E. Dürkheim, „Sociologie et sciences sociales", in: De la methode dans les sciences, Paris: P. U. F., 1921, S. 2 6 0 - 2 6 7 . Übersetzt von Hella Beister.

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Bibliographische Angaben zu den Textbeispielen

Text Nr. 10 F. Simiand, „Methode historique et science sociale", Revue de synthese historique, 1903, S. 2 2 - 2 3 . Übersetzt von Hella Beister. Text Nr. 11 K. Marx, Das Elend der Philosophie, in: Marx-Engels- Werke, Bd. 4, Berlin: Dietz, 1964, S. 139-140. K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf 1857-1858), Berlin: Dietz, 1953, S. 5 - 9 . Text Nr. 12 E. Dürkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, hg. und eingeleitet von R. König, Neuwied: Luchterhand, 1961, S. 190-193. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Luchterhand Literaturverlag GmbH, Frankfurt/Main. Text Nr. 13 M. Weber, „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus", in: Gesammelte Aufsätze %ur Religionsso^iologie, Bd. I, Tübingen: Mohr, 1986, S. 4, 3 8 - 4 3 , 6 - 9 . Text Nr. 14 M. Chastaing, „Wittgenstein et le probleme de la connaissance d'autrui", Revue philosophique de la France et de l'etranger, 150 (1960), S. 297 — 303. Übersetzt von Hella Beister. Text Nr. 15 G. Canguilhem, La connaissance de la vie, 2. Aufl., Paris: Vrin, 1965, S. 48-49, 63-64, 22-23. Übersetzt von Hella Beister. G. Canguilhem, „Le tout et la partie dans la pensee biologique", in: Etudes d'histoire et de philosophie des sciences, 5. Aufl., Paris: Vrin, 1983, S. 330 — 333. Übersetzt von Hella Beister. Text Nr. 16 M. Weber, „Der Sinn der ,Wertfreiheit' der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften", in: Gesammelte Aufsätze %ur Wissenschaftslehre, Tübingen: Mohr, 1985, S. 497-498, 492-493. Text Nr. 17 Β. M. Berger, „Sociology and the Intellectuals: An Analysis of a Stereotype", Antioch Review, 17 (1957) 3, S. 281-288. Übersetzt von Reinhard Blomert. Text Nr. 18 G. Bachelard, Die Philosophie des Nein. Versuch einer Philosophie des neuen wissenschaftlichen Geistes, übers, von G. Schmidt und M. Tietz, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1980, S. 158-160 (vormals: Wiesbaden: Heymann, 1978). Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags, Frankfurt/Main.

Bibliographische Angaben zu den Textbeispielen

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Text Nr. 19 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Robentwurf 1857-1858), Berlin: Dietz, 1953, S. 2 1 - 2 2 . Text Nr. 20 M. Weber, „Die ,Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis", in: Gesammelte Aufsätze %ur Wissenschaftslehre, Tübingen: Mohr, 1985, S. 170-178. Text Nr. 21 E. Dürkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, hg. und eingeleitet von R. König, Neuwied: Luchterhand, 1961, S.115-117, 126f., 89f. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Luchterhand Literaturverlag GmbH, Frankfurt/Main. Text Nr. 22 G. Bachelard, Der neue wissenschaftliche Geist, übers, von M. Bischoff, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988, S. 7 - 1 0 . Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags, Frankfurt/Main. Text Nr. 23 E. Katz, „The Two-Step Flow of Communication: An Up-to-Date Report on an Hypothesis", Public OpinionQuarterlej, 21 (1957) 1, S. 61 - 6 5 , 6 7 - 7 0 , 77 f. Übersetzt von Reinhard Blomert und Beate Krais. Text Nr. 24 F. Simiand, Statistique et experience: Remarques de methode, Paris: Riviere, 1922, S. 3 0 - 3 7 . Übersetzt von Hella Beister. Text Nr. 25 L. Schatzman und A. Strauss, „Social Class and Modes of Communication", American Journal of Sociology, 60 (1955) 4, S. 329 — 338. Übersetzt von Reinhard Blomert und Beate Krais. Text Nr. 26 J. H. Goldthorpe und D. Lockwood, „Affluence and the British Class Structure", The Sociological Review, 11 (1963) 2, S. 142-144. Übersetzt von Reinhard Blomert und Beate Krais. Text Nr. 27 C. Levi-Strauss, „Einleitung", in: M. Mauss, Soziologie und Anthropologie, übers, von H. Ritter, Bd. 1, München: Hanser, 1974, S. 3 1 - 3 2 . Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Hanser Verlags, München. Text Nr. 28 M. Mauss, „Introduction a l'analyse de quelques phenomenes religieux", in: CEuvres, Bd. 1, Les fonctions sociales du sacre, Paris: Editions de Minuit, 1968, S. 21. Übersetzt von Hella Beister.

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Bibliographische Angaben zu den Textbeispielen

Text Nr. 29 B. Malinowski, Argonauten des westlichen Pazifik, übers, von H. L. Herdt, Frankfurt/M.: Syndikat, 1979, S. 2 1 7 - 2 1 8 . Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Athenäum Verlags, Frankfurt/Main. Text Nr. 30 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Köln und Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 1964, S. 1 4 - 1 5 . M. Weber, „Die .Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis", in: Gesammelte Aufsätze %ur Wissenschaftslehre, Tübingen: Mohr, 1973, S. 1 9 0 - 1 9 5 . Text Nr. 31 E. Panofsky, Gothic Architecture and Scholasticism, Latrobe (Penn.): Archabbey Press, 1951, S. 2 3 - 2 8 . Übersetzt von Reinhard Blomert und Beate Krais. Text Nr. 32 P. Duhem, Ziel und Struktur der physikalischen Theorien, übers, von F. Adler, Hamburg: Meiner, 1978, S. 1 2 3 - 1 2 6 . Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Meiner Verlags, Hamburg. Text Nr. 33 N. R. Campbell, Foundations of Science: The Philosophy of Theory and Experiment, New York: Dover Publications, 1967, S. 129 — 132 (zuerst erschienen unter dem Titel Physics: The Elements, Cambridge: Cambridge University Press, 1920). Übersetzt von Reinhard Blomert und Beate Krais. Text Nr. 34 G. Canguilhem, La connaissance de la vie, 2. Aufl., Paris: Vrin, 1965, S. 47-50. Übersetzt von Hella Beister. G. Canguilhem, „Legons sur la methode", Vorlesungen an der nach Clermont-Ferrand ausgelagerten Faculte des Lettres der Universität Straßburg, 1941—42 (unveröffentlicht). Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Herrn G. Canguilhem. Übersetzt von Hella Beister. Text Nr. 35 C. Wright Mills, Kritik der soziologischen Denkweise, übers, von A. Kruse, Neuwied und Berlin: Luchterhand, 1963, S. 93 — 98. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Luchterhand Literaturverlag GmbH, Frankfurt/Main. Text Nr. 36 L. Hjelmslev: Die Sprache. Eine Einführung, aus dem Dänischen übers., für dt. Leser einger. und mit einem Nachwort vers, von O. Werner, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1968, S. 1 4 9 - 1 5 0 , 1 5 2 - 1 5 4 .

Bibliographische Angaben zu den Textbeispielen

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Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt. Text Nr. 37 E. Wind, „Über einige Berührungspunkte zwischen Naturwissenschaft und Geschichte", arcus — Architektur und Wissenschaft, (1988) 2, S. 34 — 36. Text Nr. 38 C. Darwin, Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder Die Erhaltung der bevorzugten Rassen im Kampfe ums Dasein, übers, von D. Haek, Leipzig: Reclam jun., 1895, S. 48 — 53. Text Nr. 39 G. Bachelard, Le rationalisme applique, Paris: P. U. F., 1949, S. 4 — 8. Übersetzt von Hella Beister. Text Nr. 40 G. Canguilhem, „Legons sur la methode", Vorlesungen an der nach Clermont-Ferrand ausgelagerten Faculte des Lettres der Universität Straßburg, 1941—42 (unveröffentlicht). Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Herrn G. Canguilhem. Übersetzt von Hella Beister. Text Nr. 41 E. Dürkheim, „La sociologie et son domaine scientifique", in: A. Cuvillier, Oü va la sociologie fran^aise} Paris: Riviere, 1953, S. 180 — 186. Übersetzt von Hella Beister. Text Nr. 42 G. Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, übers, von M. Bischoff, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1978, S. 6 0 - 6 3 , 6 6 - 7 4 . Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags, Frankfurt/Main. Text Nr. 43 M. Maget, Guide d'etude directe des comportements culturels, Paris: CNRS, 1953, Vorwort S. X X I - X X V I . Übersetzt von Hella Beister. Text Nr. 44 M. Polanyi, Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Philosophy, London: Routledge and Kegan Paul, 1958, S. 2 1 7 - 2 1 8 . Übersetzt von Reinhard Blomert und Beate Krais.

Weiterführende Literatur

Titel, die uns bei der Verwendung dieses Buches in der Lehre besonders nützlich schienen, sind mit einem oder zwei Sternchen gekennzeichnet.

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Weiterführende Literatur

291

— « Le tout et la partie dans la pensee biologique », Les etudes philosophiques, nouvelle serie 21, 1966, 1, S. 13—16. R. Carnap, *Der logische Aufbau der Welt. 4. Aufl., Hamburg: Meiner 1974 (1. Aufl. 1928). — « Les concepts psychologiques et les concepts physiques sont-ils foncierement differents? », Revue de synthese, X, 1935, 5, S. 43 — 53. — "Empirism, Semantics and Ontology", Revue Internationale de Philosophie, 1950, IV. — Testability and Meaning, New Haven, Conn.: Yale University Press 1950 (zuerst 1936/37). Ε. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bde. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1987-1990 (zuerst 1923-1929). — *An Essay on Man, New Haven, Conn.: Yale University Press 1944 (dt.: Versuch über den Menschen, Frankfurt/M.: S. Fischer 1990). — "The Influence of Language upon the Development of Scientific Thought", The Journal of Philosophy, 33, 1936, S. 3 0 9 - 3 2 7 . — « Le langage et la construction du monde des objets », Journal de psychologie normale et pathologique, 30, 1933, S. 18 — 44. M. R. Cohen, Studies in Philosophy and Science, New York: Holt 1949. M. R. Cohen und Ε. Nagel, An Introduction to Logic and Scientific Method, London: Routledge and Kegan Paul 1934. P. S. Cohen, "Models", The British Journal of Sociology, 17, 1966, 1, S. 7 0 78. A. Comte, Cours de philosophie positive, 2 Bde. Paris: Gamier freres 1926 (1. Aufl. 1830 und 1835). Α. Cournot, Essai sur les fondements de nos connaissances et sur les caracteres de la critique philosophique, Paris: Hachette 1912 (1. Aufl. 1851). — Considerations sur la marche des idees et des evenements dans les temps modernes, 2 Bde. Paris: Hachette 1872. P. Duhem, La theorie physique: son objet, sa structure, 2. Aufl., Paris: Riviere 1914 (dt.: Ziel und Struktur der physikalischen Theorien, Hamburg: Meiner 1978). E. Dürkheim, *De la division du travail social, Paris: Alcan 1893 (dt.: Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977). — *Le suicide, etude de sociologie, Paris: Alcan 1897 (dt.: Der Selbstmord, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983). — *Les regies de la methode sociologique, 2. erw. Aufl. Paris: Alcan 1901 (dt.: Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984). — Les formes elementaires de la vie religieuse. Le systeme totemique en Australie, Paris: Alcan 1912 (dt.: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981).

292

Weiterführende Literatur

— Education et sociologie, Paris: P.U.F. 1966 (1. Aufl. 1922; dt.: Erziehung und Soziologie, Düsseldorf: Schwann 1972). — Sociologie et philosophie, Paris: Alcan 1924 (dt.: Soziologie und Philosophie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985). — Lesons de sociologie. Physique des moeurs et du droit, Paris: P.U.F. 1950. — « La sociologie et son domaine scientifique », Rivista Italiana di Sociologia, IV, 1900, S. 127 — 159 (wieder abgedruckt in A. Cuvillier, Oü va la sociologie fran^aise?, Paris: Riviere 1953, S. 177 — 208). — « La sociologie », in La science fran^aise (Exposition Universelle et Internationale de San Francisco), Paris: Larousse 1915, Bd. I, S. 39 — 49. — « Sociologie et sciences sociales », in De la methode dans les sciences, Paris: Alcan 1921. P. Fauconnet und M. Mauss, **« Sociologie», in La Grande Encyclopedic, Societe anonyme de la Grande Encyclopedic, Bd. X X X , S. 165 — 176, Paris. H. Feigl und H. Brodbeck (Hg.), Readings in the Philosophy of Science, New York: Holt, Rinehart, and Winston 1961. L. Festinger und D. Katz (Hg.), Research Methods in the Behavioral Sciences, New York: Holt, Rinehart, and Winston 1953. P. Gardiner, The Nature of Historical Explanation, Oxford: Oxford University Press 1952. B. Gonseth, Les fondements des mathematiques, De la geometrie d'Euclide a la relativite generale et ä l'intuitionnisme, Paris: Blanchard 1926. L. Gross (Hg.), Symposium on Sociological Theory, London und Evanston, Ν. Y.: Harper & Row 1959. P. E. Hammond (Hg.), Sociologists at Work. Essays on the Craft of Social Research, New York: Basic Books 1964. R. Kahl (Hg.), Studies in Explanation: A Reader in the Philosophy of Science, Englewood Cliffs, N. J.: Prentice-Hall 1963. A. Kaplan, *The Conduct of Inquiry, Methodology for Behavorial Science, San Francisco: Chandler 1964. P. L. Kendall und P. F. Lazarsfeld, "Problems of Survey Analysis", in R. K. Merton und P. F. Lazarsfeld (Hg.), Continuities in Social Research, Studies in the Scope and Method of "The American Soldier", Glencoe, 111.: Free Press 1950, S. 133-167. A. Koyre, Etudes d'histoire de la pensee scientifique, Paris: P.U.F. 1966. P. F. Lazarsfeld und Μ. Rosenberg, *The Language of Social Research: A Reader in the Methodology of Social Research, Glencoe, 111.: Free Press 1955. P. F. Lazarsfeld und R. K. Merton (Hg.), ^Continuities in Social Research, Studies in the Scope and Method of "The American Soldier", Glencoe, 111.: Free Press 1950. C. Levi-Strauss, *Race et Histoire, Paris: Unesco 1952 (dt.: Rasse und Geschichte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972).

Weiterführende Literatur

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— * Anthropologie structurale, Paris: Plön 1958 (dt.: Strukturale Anthropologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1967). — «Introduction a l'Oeuvre de Marcel Mauss », in M. Mauss, Sociologie et anthropologie, Paris: P.U.F. 1950, S. I —LI1 (dt.: „Einleitung in das Werk von Marcel Mauss", in: M. Mauss, Soziologie und Anthropologie, 2 Bde., München: Hanser 1974, S. 7 - 4 1 ) . R. Linton, The Study of Man, London: Owen 1965 (1. Aufl. 1935). S. M. Lipset und N. J. Smelser (Hg.), Sociology: The Progress of a Decade, Englewood Cliffs, N. J.: Prentice-Hall 1961. M. Maget, *Guide d'etude directe des comportements culturels, Paris: CNRS 1953. — « Remarques sur le village comme cadre de recherches anthropologiques », Bulletin de Psychologie, VIII, 1955, Nr. 7/8, S. 3 7 5 - 3 8 2 . B. Malinowski, Argonauts of the Western Pacific, London: Routledge and Kegan Paul 1922 (dt.: Argonauten des westlichen Pazifik, Frankfurt/M.: Syndikat 1979). K. Marx, **Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf 1857-1858), Berlin: Dietz 1953. — Das Kapital, 3 Bde. Marx-Engels-Werke Bd. 23, 24, 25. Berlin: Dietz. M. Mauss, *Sociologie et anthropologie, Paris: P.U.F. 1950 (dt.: Soziologie und Anthropologie, 2 Bde. München: Hanser 1974). — *(Euvres, 3 Bde. Paris: Minuit 1968-1969. R. K. Merton, * Social Theory and Social Structure, New York: Free Press 1968 (3. erw. Auflage). C. W. Mills, The Sociological Imagination, New York: Oxford University Press 1959 (dt.: Kritik der soziologischen Denkweise, Neuwied und Berlin: Luchterhand 1963). E. Nagel, Logic without Metaphysics, New York: Free Press 1956. — The Structure of Science: Problems in the Logic of Scientific Explanation, New York: Harcourt, Brace and World 1961. — "Verifiability, Truth and Verification", Journal of Philosophy, XXXI, 1934. Ε. Nagel und C. G. Hempel, "Problems of Concepts and Theory in the Social Sciences", Symposium, in: Language, Science and Human Rights, Papers of the American Philosophical Association, Eastern Division, I, Boston: University of Pennsylvania Press 1952. J. Piaget (Hg.), Logique et connaissance scientifique, Paris: Gallimard 1967. H. Poincare, La science et l'hypothese, Paris: Flammarion 1902. G. Polya, Mathematics and Plausible Reasoning, Princeton, N. J.: Princeton University Press 1954. K. R. Popper, Logik der Forschung, Tübingen: Mohr (Siebeck) 1989 (1. Aufl. 1935). E. Sapir, Culture, Language and Personality, Berkeley und Los Angeles: University of California Press 1956.

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Weiterführende Literatur

F. de Saussure, Cours de Linguistique generale, Paris: Payot 1962 (1. Aufl. 1916; dt.: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1931). F. Simiand, *Statistique et experience. Remarques de methode, Paris: Riviere 1922. — Le salaire, revolution sociale et la monnaie, 2 Bde. Paris: Alcan 1932. M. Weber, **Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen: Mohr (Siebeck) 1985 (1. Aufl. 1922). — Essays in Sociology, New York: Oxford University Press 1958 (enthält u. a. die Aufsätze „Politik als Beruf", „Wissenschaft als Beruf", Aufsätze zur Religionssoziologie und Auszüge aus Wirtschaft und Gesellschaft). — Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen: Mohr (Siebeck) 1986 (1. Aufl. 1920), S. 1 7 - 2 0 6 . — Wirtschaft und Gesellschaft, 3 Bde. Tübingen: Mohr (Siebeck) 1976 (1. Aufl. 1922). Α. N. Whitehead, Science and the Modern World, London: Macmillan 1925 (dt.: Wissenschaft und moderne Welt, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984). L.Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1963. — Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977. H. L. Zetterberg, On Theory and Verification in Sociology, Stockholm: Almqvist und Wikseil und New York: Tressler 1954.

Namensregister

Kursiv gesetzte Seitenzahlen verweisen auf in diesem Buch abgedruckte Texte. Adorno, Th. W., 270, 273. Albert, H., 57 Fn. 91. Althusser, L., 275. Aristoteles, 33 Fn. 49, 40, 150, 173. Bachelard, G., 4, 10, 11, 12 Fn. 16, 14, 18 Fn. 26, 28, 28 Fn. 43, 3 0 - 3 1 , 32 Fn. 46, 34, 40, 55, 58 Fn. 92, 71 Fn. 116, 73, 73 Fn. 118, 75, 79, 80 Fn. 126, 88 Fn. 133, 9 3 - 9 9 , 107, 107 Fn., 271, 100-103, 159f., 171-173, 239- 242, 253- 260. Bacon, 1, 40, 58, 108, 110, 144, 173, 222. Barber, Β., 87 Fn. 131. Barbut, Μ., 62. Barton, Α. Η., 39, 39 Fn. 62, 45 Fn. 70, 51 Fn. 81, 52 Fn. 83, 78 Fn. 125. Beiaval, Y., 27, 27 Fn. 41. Benedict, R., 77 Fn. 125. Bentham, J., 274. Benveniste, E., 14 Fn. 20. Berger, Β. M., 154, 156-159. Bergson, H., 7 Fn. 6, 99. Bernard, C., 1 Fn. 1, 13 Fn. 19, 18 Fn. 27, 56, 57 Fn. 89, 152, 152 Fn. 1, 153, 153 Fn. 3, 154. Bierstedt, R., 53 Fn. 84. Blau, J. R., 281. Boas, F., 61. Bohr, N., 96, 159, 160. Bourdieu, P., 22 Fn. 33, 42 Fn. 67, 48 Fn. 74, 54 Fn. 87. Braithwaite, R. B., 57, 57 Fn. 91. Brunschvicg, L., 24, 69 Fn. 110, 70, 70 Fn. 113, 93, 94, 219, 219 Fn. 2. Campbell, N. R., 12, 12 Fn. 17, 70, 71 Fn. 115, 212, 213-216. Canguilhem, G., 1 Fn. 1, 26 Fn. 39, 61, 61 Fn. 98, 69, 69 Fn. I l l , 271, 93 - 99, 149154, 217-224, 242-247. Cassirer, E., 25 Fn. 37, 184 Fn. 1. Cat, 61. Chastaing, M., 25 Fn. 38, 49, 49 Fn. 77, 144- 149. Chomsky, N., 27 Fn. 40, 67, 68 Fn. 106. Cohen, M. R., 212 Fn.

Comte, Α., 1, 1 Fn. 1, 68 Fn. 107, 85 Fn. 110, 129 f., 139, 152, 219, 242, 243 Fn. 1 - 3 , 245. Conant, J. B., 71 Fn. 115. Cook, S. W., 52 Fn. 83. Cournot, J. B., 61, 61 Fn. 99. Darwin, Ch., 235- 238. Descartes, R., 1, 110, 149, 259. Deutsch, Μ., 52 Fn. 83. Dewey, J., 53, 53 Fn. 85. Dilthey, W., 8, 233 f., 233 Fn. 2. Dodd, S. C., 40 Fn. 63. Duhem, P., 27, 28 Fn. 42, 60, 73, 73 Fn. 119, 75, 75 Fn. 121, 86 Fn. 130, 217 Fn., 222, 210 - 212. Dürkheim, Ε., 5, 9 Fn. 11, 15 f., 16 Fn. 21, 18 Fn. 2 4 - 2 6 , 19 Fn. 28, 20 Fn. 30, 23, 38, 38 Fn. 58, 41, 59, 59 Fn. 94, 60 Fn. 95, 89, 89 Fn. 135, 92, 107, 131 Fn., 137 Fn., 273, 107-110, 124f., 126-128, 129- 131, 137- 140, 168- 170,247- 251. Fauconnet, P., 16 Fn. 21, 17 Fn. 23. Feyerabend, P. K., 10, 10 Fn. 12. Fisher, L. H., 46 Fn. 72. Freud, S., 6, 10, 68, 68 Fn. 107. Galilei, G., 38, 42 Fn. 68, 57, 57 Fn. 90, 278. Goffmann, E., 59 Fn. 93. Goldthorpe, J. H., 114-123, 196J. Goussier, 32 Fn. 46. Granet, M., 131 Fn. Gurvitch, G., 33, 34. Hammond, P. E., 7 Fn. 6. Hanson, N. R., 72 Fn. 117. Hayek, F. A. von, 9, 9 Fn. 9 u. 10. Hegel, G. W. F., 156, 161 f. Hempel, C. G., 7 Fn. 6, 10, 10 Fn. 13, 40 Fn. 63, 70 Fn. 112. Hjelmslev, L., 148 Fn. 15, 228- 231. Husserl, E., 57, 57 Fn. 90, 278.

296

Namensregister

Jahoda, Μ., 113 Fn. James, W., 26, 171. Jevons, S., 34, 34 Fn. 51. Jung, C. G., 19 Fn. 29.

Nagel, E., 212 Fn. Needham, R., 3 Fn. 3. Newton, I., 17, 223, 256, 259. Nietzsche, F., 30, 30 Fn. 44, 42, 70.

Kant, I., 74, 156. Kaplan, Α., 3 Fn. 4, 11, 56 Fn. 88, 75 Fn. 122, 235, 235 Fn., 105f. Katz, E., 44, 44 Fn. 70, 45, 46 Fn. 71, 173, 173_ 179, Kelvin, Lord, 60, 210. Kerr, C., 46 Fn. 72. Keynes, J. M., 36, 36 Fn. 53. Komarovsky, M., 46 Fn. 72. Kopernikus, 108. Koyre, Α., 42, 42 Fn. 68, 57, 57 Fn. 90, 271, 278. Kuhn, T. S., 72 Fn. 117, 87 Fn. 132, 271,

Panofsky, E., 32, 32 Fn. 47, 63, 68, 68 Fn. 108, 74, 74 Fn. 120, 207-210. Pareto, V., 23, 54, 54 Fn. 86. Parsons, Τ., 32, 33 Fn. 48, 34, 281, 282. Passeron, J.-C., 42 Fn. 67, 54 Fn. 87, 269. Peirce, Ch. S., 233, 233 Fn. 3. Planck, M., 45, 68, 69 Fn. 109, 220, 246, 246 Fn. 5. Poincare, H., 42, 81. Polanyi, M., 36, 36 Fn. 55, 88, 266f. Politzer, G., 33 Fn. 49, 76 Fn. 123. Polya, G., 59 Fn. 94. Popper, K. R., 7 Fn. 6,40 Fn. 64, 69 Fn. 110. Przeworski, Α., 275.

282.

Labriola, Α., 18 Fn. 25. Lazarsfeld, P. F., 2 Fn. 2, 39, 39 Fn. 62, 45 Fn. 70, 51 Fn. 81, 52 Fn. 83, 78 Fn. 125, 269 f., 273, 282. Lebret, Pater, 273. Leibniz, G. W., 24 Fn. 35, 62 f., 152. Lerner, D., 48, 49 Fn. 76, 183. Levi-Strauss, C., 19 Fn. 29, 23, 23 Fn. 34, 41, 41 Fn. 66, 62 Fn. 100, 84 Fn. 129, 265, 198f. Lockwood, D., 114-123, 196f. Maget, M. 50, 50 Fn. 79, 51 Fn. 80, 261265. Malinowski, B., 200f. Mannheim, K., 85. Marivetz, Baron de, 32 Fn. 46. Marx, K., 5, 18, 18 Fn. 26, 21, 21 Fn. 31, 23, 31, 31 Fn. 45, 37, 37 Fn. 56, 62, 133136, 161 f . Mauss, M., 16 Fn. 21, 17 Fn. 23, 19 Fn. 29, 59, 198, 110-113, 199f. Mayo, E., 46 Fn. 72. Merton, R. K., 16 Fn. 21, 17, 17 Fn. 22, 34, 116, 116 Fn. 2, 282. Meyerson, E., 93, 99, 246. Michelson, 31, 221. Mill, J. St., 8, 136. Mills, C. Wright, 29, 81 Fn. 127, 158 Fn. 2 u. 3, 184 Fn. 1, 224-228. Mises, L. von, 23, 24 Fn. 35. Morley, 31.

Regnier, Α., 12 Fn. 15. Reichenbach, H., 75, 243. Ritchie, A. D., 12, 12 Fn. 16. Rickert, H., 231. Riesman, D., 158 Fn. 1, 183, 183 Fn. Rousseau, J.-J., 62, 134. Rüschemeyer, D., 11 Fn. 14. Russell, B., 62, 62 Fn. 101, 70, 70 Fn. 114. Saint-Martin, Μ. de, 54 Fn. 87. Salomon, F., 275. Saussure, F. de, 14, 37 f., 145 Fn. 2, 228 f. Schatzman, L., 184- 195. Scheuch, Ε. K., 11 Fn. 14. Seignobos, L., 131. Selltiz, C., 52 Fn. 83. Simiand, F., 46, 46 Fn. 73, 77 Fn. 124, 132, 180- 183. Skinner, Β. F., 27 Fn. 40. Sombart, W., 140, 140 Fn. Spencer, H., 20 Fn. 30, 137, 139. Steiner, G. Α., 35 Fn. 52. Strauss, Α., 184- 195. Thomas von Aquin, 63, 208 Fn. 1, 209 Fn. 3, 210 Fn. 5. Tylor, E., 19 Fn. 29. Uwarow, K., 71 f. Vaucanson, 60. Villard de Honnecourt, 74, 209.

Namensregister Weber, Μ., 5, 7, 8 Fn. 8, 18, 18 Fn. 26, 37, 37 Fn. 57, 46, 47, 57 f., 106, 106 Fn. 1, 158, 158 Fn. 4, 159, 227, 140-144, /54/., 163- 168, 202-207. Whitehead, Α. Ν., 32, 34, 34 Fn. 50. Wind, E„ 231-234.

297 Windelband, W., 231 Fn. 1. Witten, M., 281. Wittgenstein, L., 25, 25 Fn. 36 u. 38, 26, 144-149, 243 f. Wuthnow, R., 281.

Karl Η. Bette

Körperspuren Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit 15,5 χ 23 cm. VIII, 277 Seiten. 1989. Kartoniert.

ISBN 3-11-012058-5

Hansgünter Meyer (Herausgeber)

Intelligenz, Wissenschaft und Forschung in der DDR 15,5 χ 23 cm. XIV, 250 Seiten. 1990. Kartoniert.

ISBN 3-11-012616-8

Jörg R. Bergmann

Klatsch Zur Sozialform der diskreten Indiskretion 12 χ 18 cm. VIII, 293 Seiten. 1987. Kartoniert.

ISBN 3-11-011236-1

Johannes Boettner

Himmlisches Babylon Zur Kultur der verstädterten Gesellschaft 13,5 χ 20,5 cm. VI, 220 Seiten. 1989. Kartoniert.

ISBN 3-11-012175-1

Lars Clausen

Produktive Arbeit, destruktive Arbeit Soziologische Grundlagen 12 χ 18 cm. VIII, 169 Seiten. 1988. Kartoniert.

ISBN 3-11-011814-9

Jan Spurk

Gemeinschaft und Modernisierung Entwurf einer soziologischen Gedankenführung 15,5 χ 23 cm. X, 171 Seiten. 1990. Gebunden. ISBN 3-11-012399-1 (Tönnies im Gespräch, Studien und Entwürfe 1)

Paul Ekman

Weshalb Lügen kurze Beine haben Über Täuschungen und deren Aufdeckung im privaten und öffentlichen Leben Aus dem Amerikanischen von Ska Wiltschek Mit einem Vorwort von Alois Hahn 15,5 χ 23 cm. XIV, 227 Seiten. 1989. Kartoniert.

ISBN 3-11-011733-9

Doris Janshen, Hedwig Rudolph et al.

Ingenieurinnen Frauen für die Zukunft 14 χ 21 cm. XIV, 381 Seiten. 1987. Kartoniert.

ISBN 3-11-011381-3

Walter de Gruyter · Berlin · New York de Gruyter & Co., Genthiner Str. 13, D-1000 Berlin 30, Tel. (0 30) 2 60 05-0, Telefax (0 30) 2 60 05-2 51 de Gruyter, Inc., 200 Saw Mill River Road, Hawthorne, Ν. Υ. 10532, Tel. (914) 747-0110, Telefax (914) 747-1326