Sozialstaat und Gesellschaft: Das deutsche Kaiserreich in Europa 9783666370342, 9783525370346, 9783647370347

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Sozialstaat und Gesellschaft: Das deutsche Kaiserreich in Europa
 9783666370342, 9783525370346, 9783647370347

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370346 — ISBN E-Book: 9783647370347

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Gunilla Budde, Dieter Gosewinkel, Paul Nolte, Alexander Nützenadel, Hans-Peter Ullmann

Frühere Herausgeber Helmut Berding, Hans-Ulrich Wehler (1972–2011) und Jürgen Kocka (1972–2013)

Band 214

Vandenhoeck & Ruprecht

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Sandrine Kott

Sozialstaat und Gesellschaft Das deutsche Kaiserreich in Europa

Aus dem Französischen von Marcel Streng

Vandenhoeck & Ruprecht

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Mit 7 Abbildungen und 13 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-37034-7 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Die Übersetzung wurde großzügig vom IGK Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive (re:work) /  Humboldt-Universität zu Berlin unterstützt. Umschlagabbildung: Liegekur im Frauen-Sanatorium der LVA Elsass-Lothringen, aus: L’Institut d’assurance sociale d’Alsace et de Lorraine et ses sanatoriums,   Strasbourg 1937, S. 12 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Druck und Bindung: e Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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In Erinnerung an meine Großeltern, Sarah Beinowitz und Joseph Kott, und ihre lange Irrfahrt durch Europa.

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Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Kapitel 1 Die ersten Sozialgesetze des Deutschen Reichs: Zwischen lokalen Traditionen und europäischen Debatten . . . . . . . . 23 1. Von der Armenfürsorge zur Arbeitergesetzgebung . . . . . . . . . . . . 26 1.1 Von der Armenpflege zur Gemeindeversicherung . . . . . . . . . 26 1.2 Die ersten Arbeitergesetze: eine Spielart der Fürsorgegesetze? . . 30 2. Die Arbeiterschaft: Objekt oder Subjekt der Sozialgesetzgebung? . . . 32 2.1 Von den Handwerkskassen zur Krankenversicherung . . . . . . . 32 2.2 Von der Gewerkschaftskasse zur gesetzlichen freien Hilfskasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.3 Die Gegenvorschläge der Arbeiterbewegung . . . . . . . . . . . . . 37 3. Die Industriellen: Motor oder Hemmschuh der Sozialgesetzgebung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3.1 Die Sozialpolitik der Industriellen: zwischen privater Initiative und öffentlicher Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3.2 Von den Fabrikkassen zu den Betriebskrankenkassen . . . . . . . 42 3.3 Die Arbeitgeber und die Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . 44 Epilog: Vom deutschen Sonderweg zum transnationalen Wissensaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Kapitel 2 Die Wende der 1890er Jahre: eine zwiespältige Modernisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 1. Die Invaliditäts- und Altersversicherung: die deutsche Antwort auf ein europäisches Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 1.1 Vom Arbeiter zum Invaliden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1.2 Die wachsende Bedeutung der Beamten in der Sozialpolitik . . . 58 2. Ausweitung und soziale Segmentierung der Arbeiterversicherung . . . 60 2.1 Begrenzte Öffnung der Versicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2.2 Die Angestelltenversicherung: Konstruktion einer neuen sozialen Gruppe . . . . . . . . . . . . . 62 7

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3. Die Arbeitsgesetzgebung nach 1890: eine gesamteuropäische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3.1 Die tragenden Kräfte des »Neuen Kurses« . . . . . . . . . . . . . . 65 3.2 Die Ziele der Sozialgesetzgebung: Verbesserung des Arbeiterschutzes und Ausbau der Fabrikinspektion . . . . . . 67 3.3 Flexibilität und Blockaden der Arbeitsgesetzgebung – Die Rolle der Arbeitsstatistiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Kapitel 3 Von der Sozialgesetzgebung zum Sozialrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 71 1. Die Unbeliebtheit der Sozialgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 1.1 Widerstände gegen die Arbeitergesetzgebung in den 1880er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 1.2 Die freie Hilfskasse: ein Ort des Widerstands? . . . . . . . . . . . 74 1.3 Das unbeliebte »Klebegesetz« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2. Einschränkung des Sozialrechts durch die Arbeitgeber . . . . . . . . . 78 2.1 Die Betriebskrankenkassen: Fortführung patriarchalischer Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2.2 Die Unfallversicherung: von den Arbeitgebern »privatisiert« . . . 82 3. Die Berufungsinstanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.1 Die umstrittene Rolle der lokalen Behörden . . . . . . . . . . . . . 84 3.2 Neue Fürsprecher: Fabrikinspektion und Arbeitssekretariate . . . 86 3.3 Die Entwicklung der gerichtlichen Konfliktregelung: Versicherung und Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Kapitel 4 Aufbau und Entfaltung einer sozialen Demokratie . . . . . . . . . . . . . 91 1. Der Kontext: zwischen Klassenkampf und Klassenkollaboration . . . 92 1.1 Koalitions- und Vereinsrecht: begrenzte Entfaltungsfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 1.2 Die Sozialdemokratie: zwischen Revolution und Reform . . . . . 94 1.3 Die Gewerkschaften: Kampf oder Verhandlung . . . . . . . . . . . 95 2. Das Konzept der industriellen Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2.1 Der Sozialliberalismus: zwischen Verein für Socialpolitik und Gesellschaft für soziale Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2.2 Die Wandlungen des christlichen Sozialismus . . . . . . . . . . . 100 3. Die Kassen und die soziale Selbstverwaltung: demokratische Teilhabe und ihre Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . 102 8

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3.1 Die Selbstverwaltung zwischen korporatistischen und demokratischen Leitbildern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3.2 Der Eintritt der Arbeiter in die Selbstverwaltung und ihre Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3.3 Selbstverwaltung unter Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4. »Industrielle Demokratie« in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 4.1 Die Arbeiterausschüsse: Orte betrieblicher Mitbestimmung? . . . 108 4.2 Zwischen Kollektivverhandlung und Schlichtungsverfahren . . . 111 4.3 Die Tarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Kapitel 5 Die Frauen – am Rand der Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 1. Die Widersprüche des gesetzlichen Arbeiterinnenschutzes . . . . . . . 118 1.1 Frauenerwerbstätigkeit: Realitäten und Repräsentationen in der sozialpolitischen Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1.2 Arbeiterinnenschutz? Erwerbstätige Frauen zwischen gesetzlichem Arbeitsschutz, Sozialversicherung und Armenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 2. Frauen als Akteure der Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2.1 Frauen in den sozialpolitischen Institutionen: eine untergeordnete und randständige Position . . . . . . . . . . . 125 2.2 Der Kampf der Frauen um ihre sozialen Rechte . . . . . . . . . . . 127 2.3 Frauen und die Sozialgesetzgebung in der Praxis . . . . . . . . . . 128 3. Frauen zwischen sozialrechtlicher Exklusion und Integration in die Sozialarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 3.1 Weibliche Wohlfahrtseinrichtungen – von Sozialwerken zum Munizipalsozialismus . . . . . . . . . . . . 131 3.2 Der städtische Sozialdienst: eine Chance für Frauen . . . . . . . . 132 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Kapitel 6 Sozialstaat und Staatsnation. Sozialpolitik und Nationalstaatsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 1. Die Nationalisierung der Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 1.1 Das Reichsversicherungsamt: eine nationale Regulierungsinstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 1.2 Zentralisierung ›von unten‹: Zusammenschlüsse und Gruppierungen der Versicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2. Die Institutionalisierung der Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 9

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2.1 Der Verwaltungsangestellte: Geburt eines Berufs . . . . . . . . . . 146 2.2 Das Aufkommen des Schalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 3. Die Regierung des Sozialen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3.1 Die Sozialpolitik in der Praxis: Nationalisierung der Gesellschaft »von unten« . . . . . . . . . . . 151 3.2 Identifizierung und Verwaltung der Versicherten . . . . . . . . . . 155 3.3 Kontrolle und Sanktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Epilog: Nationsbildung und Internationalisierung . . . . . . . . . . . . . . 160 Kapitel 7 Sozialpolitik und Lebenshygiene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 1. Von der Medikalisierung zur Sozialmedizin . . . . . . . . . . . . . . . 166 1.1 Die Medikalisierung der Versicherungen . . . . . . . . . . . . . . 167 1.2 Die Herausbildung der Sozialmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . 169 2. Von der Sozialmedizin zur sozialhygienischen Prophylaxe . . . . . . . 173 2.1 Hygiene und Sicherheit am Arbeitsplatz . . . . . . . . . . . . . . . 174 2.2 Sozialversicherung und öffentliche Gesundheitsvorsorge . . . . . 177 3. Ärzte und Versicherte: widerstreitende Bestrebungen . . . . . . . . . . 180 3.1 Die Ärzte: die Freiheit, sich der Gesundheitspolitik zu verweigern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 3.2 Die Selbstsorge der Arbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Epilog: Grenzen und Bedeutungen der Gesundheitspolitik . . . . . . . . . 189 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Tabellenanhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

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Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10: Tabelle 11: Tabelle 12: Tabelle 13:

Sinnbildliche Darstellung der Arbeiterversicherung als Eiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Die Quittungskarte von Jakob Speierer, Postagent in Griesbach (1906) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Liegekur im Frauen-Sanatorium der LVA Elsass-Lothringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Das Gebäude des RVA in Berlin, 1910 . . . . . . . . . . . . . 138 Das Gebäude der LVA Elsass-Lothringen . . . . . . . . . . . 149 Der Schalter der Krankenkasse Colmar-Land, 1918 . . . . . 149 Die Heilanstalt in Schirmeck im Elsass zwischen 1909–1911 von der LVA Elsass-Lothringen erbaut . . . . . . 173 Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Invalidenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Arbeiterschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Entwicklung der Sozialversicherungsmitgliedschaft . . . . . 222 Entwicklung der Sozialversicherungsbeiträge . . . . . . . . . 222 Entwicklung der Krankenversicherung nach Kassentypen und Versichertenzahlen 1885–1901 . . . . . . . 224 Ausgaben der Krankenkassen nach Art der Kassenleistung 1­ 885–1901 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Entwicklung der Versicherungsleistungen nach Krankheitsfällen und krankheitsbedingten Fehltagen 1885–1902 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Entwicklung der ersatzpflichtigen Krankheitsfälle und krankheitsbedingten Fehltage 1885–1902 . . . . . . . . . . . 231 Ausgaben der Invaliditätsversicherung 1891–1902 . . . . . . 232 Ausgaben der Unfallversicherung 1885–1902 . . . . . . . . . 234 Zahl der Betriebe und Arbeiter, die im Jahr 1912 von der Arbeitsinspektion in den verschiedenen deutschen Ländern überwacht wurden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238

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Einleitung Dieses Buch ist die Vollendung einer Reise durch die Sozialpolitik, die vor etwa dreißig Jahren begann. Es steht am Ende eines Weges, der mich vom Lokalen zum Globalen geführt hat, vom Elsass zur Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) in Genf. Am Anfang stand eine Dissertation über das Oberelsass zwischen 1830 und 1914.1 Diese Wahl ergab sich nicht aus der Suche nach irgendeiner Identität, sondern aufgrund von zwei methodologischen Vorentscheidungen. Als Sozialhistorikerin erwartete ich zum einen, dass eine Lokalstudie mir erlauben würde, Akteure, soziale Beziehungen und Praktiken präzise zu analysieren. Nur so, dachte ich damals, würde ich den Schlüssel zum Verständnis historischer Phänomene in die Hand bekommen.2 Zum anderen erschien mir das Elsass ideal geeignet für einen deutsch-französischen Vergleich von Praktiken der Philanthropie und der Sozialpolitik. In der Tradition Marc Blochs und der vergleichenden deutschen Sozialgeschichte betrachtete ich den Vergleich als eine Art Labor, als Instrument der verstehenden und zugleich erklärenden Geschichtsschreibung.3 Tatsächlich entpuppte sich das Elsass im Verlauf meiner Forschung allerdings weniger als Vergleichslabor denn als Ort der Dezentrierung und des Übergangs.4 Es erwies sich schrittweise als äußerst heterogener Zwischenraum: Zwischen Frankreich und Deutschland gelegen, existierten hier industrialisierte Landstriche wie die Täler der Vogesen neben Industriestädten wie Mülhausen, Thann und Guebwiller; hier fand ich sowohl die philanthropische Tradition der elsässischen Arbeitgeberschaft als auch den Einfluss der deutschen Sozialpolitik. So stieß ich an der Peripherie des neu entstandenen Kaiserreichs auf den deutschen Sozialstaat. Die Archive von Straßburg, Colmar, Mülhausen und anderen Industriestädten, aber auch Zeitungen und unzählige Broschüren zeugten von einer Spannung zwischen den Widerständen der Eliten gegen die Einführung der deutschen Gesetze auf der einen Seite und der zunächst versteckten, dann aber offen gezeigten Zufriedenheit der Arbeiterbevölkerung auf der anderen. Sich dem Sozialstaat von der Peripherie zu nähern, barg die Gefahr einer 1 Kott, Des philanthropies. 2 Es handelte sich eindeutig um eine sozialhistorische Dissertation, die zwar in der doppelten Tradition von Ernest Labrousse und der Annales stand, aber auch Fragestellungen und Perspektiven der »micro-histoire« aufnahm. Für eine Diskussion des immer noch aktuellen Beitrags der »Mikro-Sozialgeschichte« zu makro-sozialen Fragen, siehe Charle. 3 Literatur in: Kott u. Nadau, sowie spätere Publikationen aufnehmend: Kaelble, Vergleich. 4 Die in den letzten zwanzig Jahren durchgeführten Forschungen über Grenzräume haben den heuristischen Wert dieser Dimension herausgearbeitet. Für das Elsass siehe etwa: Harvey.

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gewissen materialbedingten Kurzsichtigkeit, doch ich verstand das als Chance. Denn zweifellos war das Elsass für den deutschen Sozialstaat ein Missionsgebiet und bot aus genau diesem Grund die Möglichkeit, wie unter einer Lupe beobachten zu können, wie sich die Sozialpolitik entfaltete, auf welche Probleme und Schwierigkeiten ihre Umsetzung stieß und welche Erwartungen sie weckte. Meine erste Begegnung mit dem Sozialstaat fand also in der konkreten Lebenswirklichkeit des Lokalen statt, bevor die nationalen, theoretischen und programmatischen Aspekte hinzukamen. Auf die deutsche Sozialpolitik stieß ich im Elsass bei fast jedem Schritt, denn sie verlangte einer nach paternalistischen Werten geordneten Gesellschaft tief greifende Veränderungen ab. In den Interaktionen und Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern traten neue Akteure auf: Arbeitsinspektoren, Arbeitersekretäre, Verwalter der Arbeiterversicherungskassen und andere. Die Arbeiter verhielten sich zunächst zurückhaltend, doch bald forderten sie immer mehr nach Ärzten und Medikamenten, immer mehr Arbeitsschutz und immer mehr Beteiligung. Während die Sozialwissenschaften die Sozialpolitik weiterhin aus der Perspektive des Zentralstaats betrachten und vor allem diejenigen zu Wort kommen lassen, die Gesetze ausarbeiten, diskutieren und verabschieden,5 war der Sozialstaat für mich zuerst eine lebendige lokale und soziale Wirklichkeit, bevor er sich als politisches Projekt offenbarte. Diese Dimension steht im Mittelpunkt dieses Buches und seiner Methodologie. Den Sozialstaat im Rahmen der sozialen Praxis am Ort zu entdecken, hieß allerdings nicht, dass mir der deutsche Zentralstaat entging, im Gegenteil. Ich lernte ihn nur anders kennen. Also setzte ich meine Reise nach Osten fort, nach Deutschland, und legte dabei den Weg zurück, den meine Großeltern etwa sechzig Jahre zuvor in umgekehrter Richtung gegangen waren. Ausgestattet mit den Hinweisen der elsässischen Quellen begann ich, in der Bibliothek des Bundesversicherungsamtes in Berlin zu arbeiten. Der Keller, indem die Bibliothek des ehemaligen Reichsversicherungsamtes (RVA) aufbewahrt wurde, hallte noch wider von den Diskussionen, die mit der Umsetzung der Sozialpolitik und der Versicherungen begannen. Die Zeitungen der vielen Verbände, die unzähligen von den Versicherungsträgern und Gewerbeaufsichtsbeamten herausgegebenen Berichte und Broschüren zeugten von dem Bewusstsein, an etwas völlig Neuem teilzuhaben. Jenseits der trockenen Verfahrensfragen und endlosen Zahlenreihen konnte ich einen Eindruck von den Schwierigkeiten und Kämpfen, aber auch von dem Überschwang gewinnen, den die Mitarbeit am großen Projekt Sozialpolitik hervorrief. Vor allem spürte ich den Stolz.6 Auf der Grundlage dieser doppelten Archivarbeit schrieb ich mein erstes Buch: L’État social

5 Allerdings gibt es einige Ausnahmen von dieser Tendenz, sogar bereits seit den 1970er Jahren, siehe insbesondere die Arbeiten von Tennstedt; siehe auch Conrad, C., Greis. 6 Allerdings habe ich die AVS in der Bibliothèque nationale in Paris durchgesehen. Die Sammlung war komplett, die einzelnen Bände ungeöffnet und sorgfältig konserviert.

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allemand, représentations et pratiques.7 Die vorliegende Untersuchung beruht zum großen Teil auf dieser Vorarbeit, geht aber in vielen Punkten darüber hinaus; ich komme darauf noch zurück. Das Problem war also, wie man die sozialpolitischen Erfahrungen im Elsass mit der Geschichte des Kaiserreichs zusammen denken beziehungsweise sie für ein anderes, besseres Verständnis des deutschen Sozialstaats nutzen konnte. Den modernen Staat zu definieren, ist fast unmöglich, so sehr variieren seine Organe und Kompetenzbereiche je nach der intellektuellen Tradition, die man befragt, oder mit den historischen Kontexten seiner Entstehung und Machtausübung. Im Fall des Kaiserreichs wird die Frage zusätzlich durch die konstitutionelle Schwäche – oder Beweglichkeit – des neuen Regimes und insbesondere die schlecht definierten Kompetenzbereiche und Konturen des Zentralstaats erschwert. Die Bundesstaaten traten zwar einige politische Handlungsbereiche an den Zentralstaat ab, blieben aber gleichzeitig für ihre Verwaltung zuständig.8 In diesem Sinn war die Sozialgesetzgebung zwar Sache der Reichsregierung, ihre Umsetzung und Verwaltung aber an die Länder delegiert. Die Zentralregierung, also Staatskanzlei und Reichsämter, war während der Bismarck’schen Periode überdies mit der des preußischen Staates weitgehend identisch. Sicher wuchs die Bürokratie mit dem Aufbau des modernen Staates, aber außer im Fall der Post – die allerdings in der vorliegenden Geschichte eine bedeutende Rolle spielt  – wuchs die Zahl der Beamten vor allem in den Verwaltungen der verschiedenen Bundesstaaten.9 Geht man davon aus, dass auch die Parlamente Teil des Staatsapparates sind, dann verkörperte in Deutschland nur der Reichstag wirklich den Nationalstaat. Tatsächlich waren die Urheber der Sozialgesetze zentralstaatliche Organe – Reichskanzlei, Reichsamt des Inneren (zu Beginn der 1890er Jahre noch: Preußisches Ministerium für Handel und Gewerbe)  und Reichstag. Die Akteure dieser Institutionen trugen wesentlich zur Vorbereitung, Redaktion und Diskussion der Gesetze bei. Die politischen Diskussionen, die die Vorbereitung und Umsetzung der Sozialgesetze begleiteten, nehmen in diesem Buch allerdings wenig Raum ein. Ebenso wenig handelt es von den politischen Intentionen der Abgeordneten, Stellungnahmen der politischen Parteien, Parlamentsdebatten und ihrem jeweiligen Einfluss auf die Gesetzestexte.10 Die Sozialgesetzgebung wird in der vorliegenden Untersuchung nicht aus einer zentralstaatlichen Perspektive analysiert und nicht als Werkzeug der Reichsleitung zur Herrschaftssicherung gegenüber der Reichsbevölkerung betrachtet, wie es ein Großteil der bisherigen Geschichtsschreibung getan hat.11 Der Staat ist in diesem Buch folg7 Kott, État. 8 Zur politischen und administrativen Konstruktion des Kaiserreichs, siehe Nipperdey, S. ­85–140, und Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 355–376. 9 Wunder, S. 69–86. 10 Diese im engeren Sinn politischen Diskurse sind hervorragend dokumentiert in: Quellensammlung. 11 Dazu Tennstedt, Sozialgeschichte der Sozialpolitik, S.135–190. Siehe Kap. 1.

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lich nicht der entscheidende Akteur, und doch kommt er überall vor, vervielfacht sich und richtet sich sogar im Herzen der Gesellschaft ein: Der Sozialstaat ist in meinen Augen sowohl das Terrain als auch die treibende Kraft eines zweiseitigen, dynamischen Prozesses der Verstaatlichung – oder eher Nationalisierung – der Gesellschaft und der Vergesellschaftung des Staates.12 Für die Adressaten war der Staat zunächst ein ferner, aber stabiler Bezugspunkt, eine Berufungsinstanz, denn selbst im Kaiserreich war der Sozialstaat zuerst ein Rechtsstaat; er verlieh immer weiteren Bevölkerungskreisen Rechte und stand für deren Garantie.13 Der Staat war in diesem Rahmen eine wohlwollende Figur, er bot einen Ausweg aus der patriarchalen Willkürherrschaft und Allmacht der ökonomischen und sozialen Eliten. Er rückte über eine Vielzahl materieller Objekte und kultureller Symbole ins Zentrum des Sozialen: Verzeichnisse, Karten, Papiere, Briefe, die Sprache (Hochdeutsch). Die Umsetzung der Sozialpolitik beruhte des Weiteren auf der Entfaltung von Sozialtechnologien und der Einrichtung von Verfahren zur Identifikation, Registrierung, Selektion und Kontrolle der Inhaber sozialer Rechte.14 Zwar wurden diese Verfahren nicht von staatlichen Akteuren eingesetzt, sie trugen aber dennoch zur besseren Kenntnis der Bevölkerung im gesamten Staatsgebiet bei. Die Umsetzung der Sozialpolitik war hier also an einen Mechanismus der Homogenisierung des Staatsgebiets und der Nationalisierung der Bevölkerung geknüpft. Auf lokaler Ebene verkörperten den Sozialstaat Akteure, die im eigentlichen Sinn keine staatliche Akteure waren: Gewerbeaufsichtsbeamte, Arbeitersekretäre oder Kassenangestellte. Sie alle wandten dasselbe Gesetz an und interpretierten es dabei doch unterschiedlich. Die Selbstverwaltung der Krankenkassen, die Teilnahme an ihren Generalversammlungen, die unablässig an den Staat gerichteten Berufungs- und Revisionsgesuche stellten im Alltag verankerte Instrumente bereit, mit deren Hilfe Demokratie15 gelernt werden konnte und die sich die Rechteinhaber aneigneten. Beruhte das alltägliche Funktionieren des Sozialstaats, ja, die Möglichkeit seines Erfolgs nicht grundsätzlich auf der Aneignung des rechtlichen Rahmens durch die Akteure des Sozialstaats? Auf dieser Vergesellschaftung des Staates? Die Analyse dieser doppelten Dynamik scheint mir wesentlich zu sein, wenn man den Erfolg des deutschen Sozialstaats verstehen möchte. Eine solche Analyse impliziert allerdings ganz allgemein, politische Herrschaft als relationalen Prozess zu denken, der eng mit sozialen Arrangements verknüpft ist.16 Wie man sieht, handelt es sich um einen weiten Begriff der Sozialpolitik: Sie ist die Summe der rechtlichen Regeln und der sozialen und politischen Prakti12 Damit knüpfe ich an Debatten über die neure französische Sozialgeschichte (»socio-­ histoire«) an. Siehe zu diesem Ansatz: Noiriel, Introduction; Déloye. 13 Zu dieser Diskussion, siehe Kaufmann, S. 49–56. 14 Siehe vor allem Kap. 6, das sehr von den Arbeiten der »socio-histoire« beeinflusst ist. 15 Siehe Kap. 4 sowie Ritter, G. A., Sozialstaat, S. 11. 16 Die vorliegende Arbeit steht auch in der Tradition der Arbeiten Michel Foucaults, vgl.­ Foucault, Surveiller, S. 35. Ders.t, société, S. 23–33, S. 241.

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ken, die das Soziale regulieren und eine nationale Schicksalsgemeinschaft konstituieren.17 Die Sozialpolitik wird hier als Antwort auf die Soziale Frage gedacht – wobei diese nicht auf Phänomene der Massenarmut reduziert, sondern im Sinn einer allgemein wachsenden Prekarität verstanden wird. Diese Prekarisierung begleitete von Beginn an die Ausweitung der Lohnabhängigkeit und ergab sich aus Mechanismen der Auflösung des Sozialen, die mit der Industrialisierung verknüpft waren.18 In Deutschland wie in den anderen industrialisierten Ländern wirkte und wirkt der Sozialstaat eher regulierend als schützend.19 Er knüpfte soziale Bindungen neu, garantierte die rechtliche Gleichheit auch der schwächsten20 Vertragspartner und sicherte die Kontinuität des Einkommens auch der verletzlichsten Lohnabhängigen. Akteure und Mittel dieser Regulation waren vielfältig und nicht notwendig staatlich. So existierte unbestreitbar eine Kontinuität zwischen der kommunalen Armenfürsorge und der staatlichen Sozialpolitik, die sich auch gegenseitig ergänzten.21 Die Gemeinden spielten überdies als zentrale Akteure des Sozialstaats22 eine wichtige Rolle in der Gesundheitspolitik, die sich am Rand der Sozialgesetzgebung entwickelte.23 Auch die Gewerkschaftsbewegung trug entscheidend zur Genese und zum Funktionieren des Sozialstaats bei.24 Dieses Buch thematisiert indes nicht die Gesamtheit der Akteure und Bereiche der sozialen Regulierung. So wird die Politik der Betreuung und Erziehung in Kindheit und Jugend, etwa in der Schule, nur am Rand behandelt, so wichtig sie auch war. Diese Entscheidung hängt sowohl mit meinen eigenen Interessen und Kompetenzen zusammen als auch mit einer Auswahl der Themen, deren Untersuchung die Routinen des Sozialstaats auf neue Weise zu erhellen versprechen. Das gilt besonders für die Rolle der Frauen.25 Ein weiter gefasster Begriff der Sozialpolitik ermöglicht darüber hinaus, die Besonderheit und Beispielhaftigkeit des deutschen Sozialstaats zu hinterfragen. In manchen Bereichen, insbesondere in der Regulierung der Arbeitsbedingungen, hat sich die deutsche Gesetzgebung parallel oder sogar später entwickelt als in anderen industrialisierten Ländern Europas.26 In der Arbeiterversicherung dagegen fiel Deutschland eine Vorreiterrolle zu, die es in einer bemerkens­ werten Verschiebung zu einem europäischen Gesellschaftsmodell werden ließ. 17 Siehe hierzu insbesondere Ritter, G. A., Sozialstaat, S. 1–18. 18 Castel, S. 347–371. 19 Ich übernehme diese Minimaldefinition von Ritter, G. A., Sozialstaat, S. 17–18. Für eine ausführliche Diskussion siehe Kaufmann, S. 9–68. 20 In Frankreich ist etwa die Soziologie Durkheims stark von der Notwendigkeit inspiriert, »Gesellschaft neu zu machen« (»refaire société«). Siehe Durkheim, S. 374–382. 21 Sachße u. Tennstedt, Geschichte, Bd. 1, S. 15–17, dies., Sozialpolitik, S. 205–222. 22 Zu diesem Punkt siehe Steinmetz. 23 Siehe Kap. 7. 24 Siehe neben anderen: Ayaß, Arbeiterbewegung, Ritter, G. A., Arbeiterbewegung, Tenfelde. 25 Siehe Kap. 5. 26 Siehe z. B. Berlepsch, H. J. u. Machtan.

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Die Suche nach den Gründen und Umständen dieser Verschiebung führte mich an das vorläufige Ende meiner Reise: nach Genf, in die Archive der IAO. Hier verfolgte ich ein weiteres historiographisches und methodologisches Anliegen: Ich forschte in den Archiven der IAO nach Möglichkeiten, die Globalgeschichte aus ihrer abgehobenen Stellung zu befreien und eine Sozialgeschichte des Globalen zu schreiben.27 Das Archiv und die Bibliothek der IAO wie ihrer Vorläuferorganisation, der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeitsschutz, erlaubten mir, über Internationalisierung als dynamisches Phänomen zu arbeiten, das sich in soziale Netzwerke einschrieb. Hier konnte ich auch untersuchen, worauf sich der internationale Ruf Deutschlands im Bereich der Sozialpolitik gründete und welche Bedeutung er für die Nationsbildung in Deutschland selbst hatte. Bismarck ließ zwar für ihn weitgehend schmeichelhafte Geschichte schreiben28, aber er war nicht der Einzige. Die ersten Beamten der Versicherungsträger wie Georg Zacher, Friedrich Zahn29 oder Juristen wie Heinrich Rosin und Fritz Stier-Somlo30 taten es ihm gleich. Sie trugen zur Verbreitung der Vorstellung bei, dass der deutsche Sozialstaat ein Element des großen Bismarck’schen Projekts der Konstitution, Festigung und Ausstrahlung des deutschen Nationalstaats gewesen sei. Eine der eindrücklichsten allegorischen Darstellungen der Sozialversicherung zeichnete sie als Eiche: die Wurzeln (Beiträge) versorgen die gesamte Gesellschaft unter Führung des Staates (Äste und Blätter). Dieses Bild fand während des Kaiserreichs in Deutschland und Europa weite Verbreitung (siehe Abb. 1). Diese Vorstellung zeugt auch davon, dass der deutsche Sozialstaat die Entstehung der Nation nicht nur begleitete, sondern auch einen nationalen »lieu de mémoire« darstellt.31 Um das zu verstehen, musste man Deutschland verlassen und den Sozialstaat von außen betrachten. Vor allem die Forschungen zu England32 und den USA33, aber auch zu Frankreich34 führten zu einer ersten Dezentrierung. Sie gaben Hinweise darauf, wie die Akteure anderer Nationen die deutschen Problemlösungen betrachteten und verstanden, welche Wirkungen sie in diesen Ländern entfalteten und wie diese dann wiederum, oft unterbewusst, die deutschen Akteure beeinflussten. Allerdings hatten ausländische Beobachter ebenfalls Vorstellungen von nationaler Größe und tendierten dazu,

27 Siehe die Literatur in: Kott, International. 28 Zu diesem Punkt, siehe Reidegeld, Schöpfermythen, S. 261–279. 29 Siehe vor allem Zacher; Das Reichsversicherungsamt; Lass u. a.. 30 Siehe z. B. Rosin; Stier-Somlo, S. 208–234. Die Rolle, die jüdische Juristen und Ärzte für die Umsetzung und den internationalen Ruf des deutschen Sozialstaats gespielt haben, müsste genauer untersucht werden, ebenso die Bedeutung dieses Engagements. Für die Ärzte siehe die Ansätze in: Tennstedt, Sozialismus, und ders.t, Familiengeschichte. 31 Kott, Sozialstaat. 32 Hennock, Reform. 33 Rodgers; Schniedewind. 34 Ders..

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Abb. 1: Sinnbildliche Darstellung der Arbeiterversicherung als Eiche (aus: Das Reichsversicherungsamt und die deutsche Arbeiterversicherung, S. 15)

die Unterschiede zwischen den Lösungen der einzelnen Länder festzuschreiben und zu nationalisieren. Auch auf den internationalen Kongressen und in den internationalen Vereinigungen und Organisationen überwog die Betonung der Unterschiede, ja, sie scheinen für die Vertreter der einzelnen Länder vor allem Gelegenheiten gewesen zu sein, ihre jeweilige Nation zu rühmen. Die Redner gefielen sich darin, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Nationen hervorzuheben. In dieser Hinsicht weisen bereits die Größe und Prominenz der deutschen Delegationen auf die Bedeutung hin, die der Sozialpolitik im Kaiserreich für die internationale Ausstrahlung Deutschlands beigemessen wurde, das als Akteur auf der internationalen Bühne noch neu war. Wenn man allerdings über die Reden und Resolutionen hinausgeht und die Sitzungsprotokolle und Archive der Kommissionen betrachtet, dann springt die Ähnlichkeit der Probleme und Sichtweisen ins Auge. Tatsächlich wurden die sozialen Probleme in den industrialisierten Ländern auf fast gleiche Weise formuliert. Die Lösungen 19

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unterschieden sich im Einzelnen kaum voneinander.35 Die Internationalen Organisationen eigneten sich also hervorragend für die Untersuchung der Frage, was die Besonderheit und den Vorsprung Deutschlands in der Sozialpolitik ausmachte. Im Kontext gemeinsamer Probleme und Diskussionen konnten die deutschen Akteure ihre Expertise verbreiten und die deutsche Sozialversicherung sich zu einem europäischen Modell entwickeln. Diese Expertise wurde jeweils von den Angestellten und Beamten der Versicherungsträger und von Juristen und Ärzten in ihrem Umfeld entwickelt. Und so erschien das deutsche Modell in diesem Rahmen eher als Frucht einer frühzeitigen Internationalisierung denn als Ausdruck einer nationalen Identität.36 Durch die lange Arbeit in den Archiven der internationalen Organisationen gewann ich einigen Abstand, der zum großen Teil die erheblichen Unterschiede zwischen dem vorliegenden Buch und seinem französischen Vorgänger von 1995 erklärt. Letzterer wandte sich überdies an ein französisches Publikum, was umfangreichere Erläuterungen notwendig machte. Auch wenn die vorliegende Monographie sich auf bereits 1995 veröffentlichte Forschungen bezieht, ist der Einfluss späterer historiographischer Erfahrungen nicht von der Hand zu weisen. In seiner Empfänglichkeit für die feinen Schwingungen des Sozialen ist das vorliegende Buch vor allem der »Sozialgeschichte des Politischen« verpflichtet, achtet es stärker auf die politischen Effekte sozialer Konfigurationen. Es ist zugleich analytischer und europäischer. Wer eine lineare Geschichte der deutschen Sozialpolitik sucht, den wird dieses Buch enttäuschen. Ich bin weder einer strikten Chronologie gefolgt, noch habe ich systematisch die einzelnen Zweige der Versicherung, der Sozialhilfe oder des Arbeitsschutzes dargestellt. Um dem Vorwurf zu begegnen, dass die deutsche Sozialpolitik zu kurz gekommen ist37, könnte man einwenden, dass der Sozialstaat hier vor allem als Ort aufgefasst wird, an dem die großen Fragen der Industriemoderne auftauchen und untersucht werden können.38 Es sind Fragen wie die Folgenden, die mich beim Schreiben begleiteten und auf die ich hoffe, Antworten gefunden zu haben: Wie sind industrielle Gesellschaften gegliedert und organisiert, nach welchen Prinzipien sind soziale Bindungen in industriellen Gesellschaften geknüpft? Wie gestalten sich die Beziehungen zwischen Mann und Frau in der bürgerlichen Gesellschaft und wie können Frauen Institutionen für ihre Zwecke nutzen, die sie an den Rand zu drängen scheinen? Was ist ein soziales Recht und wie wird es mit Inhalt gefüllt? Ist Demokratie zuerst ursprünglich politische und parlamentarische Demokratie oder kann sie unmittelbar in gesellschaftlichen Arrangements entstehen? Was sind die Be35 Kott¸ Transnational. 36 Siehe Kap. 1 und 6. 37 Die tabellarischen Übersichten zur Sozialgesetzgebung am Ende des Bandes vermögen diesen Einwand eventuell abzuschwächen. 38 Siehe erneut Ritter, G. A., Sozialstaat, S. 1, für den der Sozialstaat vor allem ein »zentrales und besonders kennzeichnendes Element moderner Industriegesellschaften« ist.

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dingungen für die Entstehung von sozialer Demokratie und welche Wirkungen entfaltet sie? Wie trägt der Staat zur Formierung der Nation bei und welche Rolle hat die Sozialpolitik in den Prozessen der Nationalisierung und Verstaatlichung der Gesellschaft gespielt? Wie entstehen und wandeln sich Expertenberufe, wie manifestiert sich Expertise? Und schließlich: was ist das Nationale an dieser Geschichte? Wenn der Sozialstaat Ausdruck und Spiegel der Nation ist, entsteht diese dann nicht vor allem in jenen Räumen, in denen lokale Gesellschaften und internationale Diskussionen und Modelle aufeinander treffen? Im Verlauf der Arbeit an diesem Buch habe ich viele Schulden angehäuft. Es ist unmöglich, alle zu nennen, die mich während all der Jahre begleitet, inspiriert und unterstützt haben. Zuerst möchte ich hervorheben, was dieses Buch den deutschen Sozialstaatshistorikern, der Lektüre ihrer Werke und dem Austausch mit ihnen, ihrer Offenheit und Großzügigkeit verdankt. Mein besonderer Dank gilt Wolfgang Ayaß, Christoph Conrad, Hans-Günther Hockerts, Hartmut Kaelble, Gerhard A. Ritter, Iris Schröder und Florian Tennstedt. Dieses Buch trägt auch die Spuren meiner langjährigen Sozialisation in den französischen Sozialwissenschaften. Wenn ich mich eher an Durkheim, Mauss, Foucault und Bourdieu als an Weber, Luhmann und Habermas orientiert habe, so hängt das damit zusammen, dass meine Laufbahn als Historikerin an der Universität Paris 7 unter der Leitung von Michel Perrot begann und ich lange Jahre in engem Kontakt mit Vertretern und Verfechtern der kritischen Sozialund Geisteswissenschaften in Frankreich stand. Ich möchte hier vor allem darauf hinweisen, wieviel ich den in der Zeitschrift Genèses geführten Debatten verdanke und den Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen, die ich hier traf. Gérard Noiriel, Michel Offerlé, Christian Topalov, Florence Weber und der leider viel zu früh verstorbene Alain Désrosières haben viele Passagen dieses Buches inspiriert. Danken möchte ich auch Gabriele Metzler, von der die Anregung stammt, dieses Buch auf Deutsch zu veröffentlichen. Ohne die Unterstützung von Andreas Eckert und des »Internationalen geisteswissenschaftlichen Kollegs Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive« an der Humboldt Universität Berlin wäre es allerdings nicht erschienen. Die beständige Ermutigung und die freundschaftlichen Ratschläge, die ich dabei von Jürgen Kocka und Alexander Nützenadel erhalten habe, waren außerordentlich wertvoll. Ohne Etienne François schließlich, der seit 1990 so viel für den intellektuellen Austausch zwischen Frankreich und Deutschland getan hat, wäre ich heute nicht die Historikerin, die ich bin. Ihm möchte ich hier für seine intellektuelle Offenheit und sein Wohlwollen herzlich danken.

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Kapitel 1 Die ersten Sozialgesetze des Deutschen Reichs: Zwischen lokalen Traditionen und europäischen Debatten

Zwischen 1871 und 1884 diskutierte und verabschiedete der Reichstag vier bedeutende Sozialgesetze. Zunächst regulierte im Jahr 1876 ein Gesetz die freien Hilfskassen. Zwei Jahre später, im Jahr 1878, änderte der Reichstag im Zuge der Novellierung der Gewerbeordnung (GO) die Vorschriften zum Arbeiterschutz und führte die obligatorische Fabrikinspektion ein. 1883 wurde das Krankenversicherungsgesetz (KVG) und im darauffolgenden Jahr, nach drei Anläufen, das Unfallversicherungsgesetz (UVG) verabschiedet. Die Literatur über den deutschen Wohlfahrts- und Sozialstaat widmet sich zu großen Teilen den intellektuellen Strömungen und politischen Traditionen, von denen diese Anfänge der Sozialgesetzgebung geprägt waren. Besonderheiten wie etwa die Tatsache, dass sie im europäischen Vergleich ihrer Zeit voraus waren, werden im allgemeinen auf »spezifisch deutsche« Traditionen zurückgeführt, die aus autoritären, von oben durchgesetzten Reformen erwachsen sind.1 Allerdings war die mit der Entwicklung der Lohnarbeiterschaft entstehende »soziale Frage« weder im Hinblick auf die realen Gegebenheiten noch bezüglich der Art und Weise ihrer Problematisierung ein ausschließlich deutsches Phänomen.2 Vielmehr wurden die zu ihrer »Lösung« entworfenen Maßnahmen und Politikansätze seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts im internationalen und europäischen Rahmen diskutiert3, auch wenn ihre Umsetzung auf die lokale und nationale Ebene begrenzt blieb.4 In allen Industrienationen Europas bildeten sich im Umfeld der Sozial­ reform vier verschiedene, an die großen intellektuellen Strömungen der Zeit angelehnte Leitlinien aus, die allerdings in den jeweiligen nationalen Kontexten unterschiedlich einflussreich waren. Als erste ist hier die christlich-soziale 1 Diese Sichtweise geht auf die Sonderwegsthese zurück, siehe dafür paradigmatisch die Behandlung der Sozialgesetzgebung in Wehler, Kaiserreich, S. 136–140. Sehr viel nuanciertere und auf genaueren Vergleichen beruhende Schlussfolgerungen zieht Ritter, G. A., Sozialstaat, S. 80–83. 2 Zur sozialen Frage als »Konstruktion« siehe in der Tradition Michel Foucaults Castel; Procacci; Donzelot. Siehe auch Pankoke, Arbeitsfrage. Eine interessante Diskussion findet sich in Steinmetz, S. 55–71. 3 Leonards u. Randeraad. 4 Ritter, G. A., Sozialstaat, S. 45–60.

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Denktradition zu nennen, die sich selbst noch einmal in katholische5 und protestantische6 Varianten gliederte, sowie als zweites eine ihr nahestehende sozialkonservative Strömung.7 Die dritte war die sozialliberale Denktradition; sie besaß in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts großes Gewicht, verlor allerdings im deutschen politischen Kontext durch die Gründung der Nationalliberalen Partei an Einfluss.8 Als viertes sind die sozialistischen Lösungsansätze zu nennen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden und die dann ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts durch Abgrenzung vom Linksliberalismus und mit der Gründung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei im Jahr 1875 schärfere Konturen gewannen. Jede der großen intellektuellen Strömungen wurde zunächst von einer Bewegung und schließlich auch von einer politischen Partei getragen und war in bestimmten sozialen Milieus verwurzelt, die sich einerseits aus den Akteuren (Arbeiter, Arbeitgeber) und andererseits aus den Beobachtern (Beamte, Hochschullehrer) der sozialen Frage zusammensetzten. Die Kräfte, die am Entstehungsprozess des Arbeiterversicherungs­systems direkt oder indirekt beteiligt waren, hat Walter Vogel bereits vor mehreren Jahrzehnten ausführlich untersucht.9 Vogel analysierte die Positionen der ökonomischen Akteure, der politischen Parteien, der Intellektuellen sowie der Kirchen und kam, ähnlich wie Henri Hatzfeld für den französischen Fall,10 zu dem Schluss, dass der Beitrag der Beamtenschaft zur Ausarbeitung der Sozialpolitik in der Bismarck’schen Periode von entscheidender Bedeutung war.11 Vor diesem Hintergrund geht es in diesem Kapitel nicht um eine Neuauflage dieser Fragestellungen. Vielmehr wird die erste deutsche Sozialgesetzgebung im Folgenden ausgehend von den gesetzlichen Vorschriften und rechtlichen Dispositionen untersucht. Im Mittelpunkt stehen dabei die zahlreichen unterschiedlichen Traditionen und Praktiken, an die sie anknüpften. Drei zentrale Punkte sind hier zu nennen: kommunale Hilfsleistungen, Arbeiterversicherungsvereine und unternehmerischer Paternalismus. Der hier verfolgte genealogische Ansatz folgt in seiner Beschreibung der Eigenlogik der Akteure, die an dem Entstehungsprozess der ersten Sozialgesetzgebung beteiligt waren. So bemühte sich etwa Theodor Lohmann, der im preußischen Reichsamt des Inneren für Sozialpolitik zuständig war, tatsächlich darum, die neuen Sozialgesetze mit bereits existierenden Einrichtungen und Praktiken zu verbinden.12 Hanisch; Moennig; Ritter, E.; Stegmann, Katholizismus. Kouri. Für die Anfänge des Sozialprotestantismus siehe Shanahan, German Protestants. Siehe vor allem Beck. Sheehan, Brentano; ders., German Liberalism, S.  20–34, und Droz, hier besonders die­ Gustav Mevissen gewidmeten Abschnitte, S. 265 f.; Kieseritzky. 9 Vogel. 10 Hatzfeld. 11 Zur Bedeutung der politischen »Technostruktur« für die Implementierung von Sozial­ politiken siehe grundlegend Rueschemeyer u. Skocpol. 12 Zu Theodor Lohmann siehe Rothfels, sowie die berechtigte Kritik an Rothfels’ Apologie in Machtan. 5 6 7 8

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Diese Herangehensweise beruht auf zwei methodologischen Postulaten. Erstens grenzen sich die folgenden Ausführungen dezidiert von in der Literatur geläufigen Interpretationen ab, in denen die Sozialgesetzgebung als »Zuckerbrot und Peitsche« betrachtet wird und auf ein politisches Kalkül des Kanzlers, ein staatspolitisches Instrument oder die Domestizierung der deutschen Arbeiterklasse reduziert wird.13 Hier soll dagegen gezeigt werden, dass die erste Sozialgesetzgebung jenseits der politischen Absichten Bismarcks sich eindeutig in die verschiedensten, je nach Region und Akteuren unterschiedlichen, sozialen und politischen Praktiken einschrieb. Immerhin wurden die von Bismarck initiierten Regierungsvorlagen bereits im Reichstag breit diskutiert und teilweise erheblich ergänzt. Die vom Reichstag verabschiedeten Gesetze sind deshalb als Kompromisse anzusehen, die den sozialen Ausgleich widerspiegeln, auf dem sie beruhten. Im Folgenden werden deshalb die Komplexität und der »hybride« Charakter der ersten deutschen Sozialgesetzgebung besonders betont.14 Dadurch wird nicht nur die Pluralität der sozialen Praktiken, welche die Wirklichkeit des deutschen Sozialstaats ausmachten, angemessen berücksichtigt. Auch die Rolle, die der Sozialstaat in den Transformationsprozessen der industriellen Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts spielte, wird so besser zu ver­stehen sein – eine Transformation, die ganz sicher über die ursprünglichen Regulierungsabsichten weit hinausging. Zweitens impliziert die hier gewählte genealogische und sozio-historische Perspektive keine nationalgeschichtliche Verengung des Blicks. Es wird vielmehr gezeigt, dass der deutsche Sozialstaat mit seinen beiden Grundpfeilern Arbeiter- und Sozialversicherungsgesetzgebung zwar in seinen Anfängen stark an lokale oder nationale Traditionen und Diskussionen anknüpfte, seine weitere Entwicklung jedoch zugleich in einen breiteren europäischen Kontext von sozialreformerischen Bestrebungen und transnationalen Diskussionszusammen­ hängen eingebunden war. Die verschiedenen deutschen Akteure, ganz besonders die Sozialpolitiker und die Praktiker, die an der Umsetzung der Sozialpolitik beteiligt waren, nahmen intensiv am diesbezüglichen Austausch von Ideen und praktischem Wissen teil. Die von ihnen vorgebrachten oder umgesetzten Lösungen entstanden deshalb nicht isoliert, sondern waren von den europäischen Entwicklungen und Diskussionen geprägt. Es wäre nun falsch, die charakteristischen Eigenheiten der deutschen Gesetzgebung völlig zu negieren. Die Idee eines »nationalen Modells« der Sozialpolitik jedoch ist entschieden zu hinterfragen, da es aus Gründen der Selbstvermarktung oder der Abgrenzung zu großen Teilen von den historischen Akteuren selbst konstruiert wurde. Auch umfassende Sozialstaatstypologien jüngeren Datums weisen noch die Tendenz 13 Ein rezentes Beispiel: Merrien u. a., S.  79 f. Eine begründete Zurückweisung dieser Sichtweise findet sich in Tennstedt, Peitsche. Für die neuere Diskussion siehe auch Kieseritzky, S. 88–92. 14 Siehe die literaturbasierte Diskussion dieses Punktes und eine ähnliche Feststellung bei Steinmetz, S. 6–8.

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auf, in einer Logik des »nationalen« Modells zu argumentieren und den deutschen Sozialstaat zum Zweck internationaler Vergleichbarkeit auf einen Idealtyp zu reduzieren.15

1. Von der Armenfürsorge zur Arbeitergesetzgebung In Deutschland wie im übrigen Europa knüpften die ersten Sozialgesetze an die Reform der Armenfürsorge an. Sowohl die in den Gesetzen definierten sozialen Zielgruppen als auch die vorgesehenen Leistungen und präventiven Maßnahmen leiteten sich sehr deutlich aus den bereits bestehenden Einrichtungen zur Fürsorge ab. Mehr als anderswo zeugt die Geschichte der Rechtsvorschriften in Deutschland allerdings von einer Unentschlossenheit zwischen konservativen und liberalen Orientierungen, von einer Grundspannung, von der die gesamte deutsche Sozialgesetzgebung dieser Jahre geprägt war. 1.1 Von der Armenpflege zur Gemeindeversicherung In der vorindustriellen Gesellschaft gab es die Institutionen Hospital und Hospiz, die Arme und Invalide zur (dauerhaften oder temporären) Versorgung aufnahmen, während die Institutionen der offenen Armenpflege wie etwa die allgemeinen Armenanstalten verschiedene Hilfsleistungen ausgaben. Letzteres finanzierte sich aus kommunalen Steuern, die vom wohlhabenden Teil der Bevölkerung gezahlt wurden. War die Sozialfürsorge in England noch in der Lage, eine minimale Grundsicherung zu leisten, waren die Unterstützungsleistungen etwa in Frankreich größtenteils nicht ausreichend, trotz der während der Französischen Revolution proklamierten Fürsorgepflicht des Staates (die allerdings nie wirklich umgesetzt wurde).16 Überall in Europa entstand die Sozial­ hilfe aus der Armenhilfe, und überall musste sie sich den neuen Formen sozialen Elends anpassen, welche die Industrialisierung mit sich brachte.17 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erhöhten die Bauernbefreiung und die fortschreitende Einführung der Gewerbefreiheit in ganz Deutschland die Mobilität und schwächten dadurch lokale Absicherungen, berufsbezogene Solidaritäten und 15 Siehe besonders Esping-Andersen, der aus dem deutschen Sozialstaat das Modell eines sozial­korporatistischen Staates gewinnt, »der stark an die Erhaltung der Familienwerte gebunden« sei. 16 Forrest. 17 Zur Kontinuität zwischen Armenhilfe und Sozialpolitik siehe Tennstedt, Sozialgeschichte der Sozialpolitik, S.165–174, und Sachße u. Tennstedt, Sozialpolitik. Für internationale Vergleiche siehe Ritter, G. A., Sozialstaat, S. 21–22 und 30–60. Für präzise Beispiele siehe besonders Hennock, Origin, S. 10–11, und 50–70; Martin; Tabin u. a., S. 19–55.

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traditionelle Schutzmechanismen.18 Das preußische Gesetz von 1842 über den Unterstützungswohnsitz, das Kommunen zu Hilfsleistungen für Arme zwang, wenn diese dort wenigstens drei Jahre ansässig gewesen waren (andernfalls wurde der Bedürftige von einer Bundeskasse unterstützt), war ein Versuch, die Traditionen kommunaler Armenpflege an die Folgen der steigenden Bevölkerungsmobilität anzupassen.19 Bereits vor dem Gesetz von 1842 hatten stärker industrialisierte Kommunen vor allem in Westpreußen wiederholt die Aufmerksamkeit des Gesetzgebers auf die wachsenden Schwierigkeiten gelenkt, die sich aus der ansteigenden Zahl der Mittellosen ergaben. Um die finanzielle Last der Armenpflege zu senken, hatten sie seit den 1820er Jahren versucht zu erreichen, dass alle Arbeiter regelmäßig in eine Kasse einzahlten, die ihnen im Fall von Arbeitslosigkeit oder Krankheit eine Entschädigung garantierte. Mit diesem Ansinnen scheiterten sie jedoch an der damals bestehenden Rechtslage. Im Jahr 1843 setzten rheinische Städte eine an die preußische Regierung adressierte Petition in Umlauf, weil sie die bei Inkrafttreten des Gesetzes von 1842 anfallenden Kosten fürchteten. Diese Petition stand Pate für das Gesetz von 1845, das erstmals einen Versicherungszwang einführte und den Kommunen das Recht einräumte, die Arbeiter der Handwerksbetriebe per Satzung zur Einzahlung in Hilfskassen zu zwingen, deren Kontrolle ihnen oblag.20 Diese zunächst auf Preußen begrenzte Maßnahme verbreitete sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ganz Norddeutschland.21 Sie weist auf eine entscheidende Entwicklung des Verständnisses von Armut und den daraus resultierenden Mitteln zu ihrer Bekämpfung hin. Wie in jedem von Industrialisierungsprozessen erfassten Land galt »der Arme« fortan weniger als mittelloses Individuum denn als erwerbsloser Arbeiter, das heißt als Arbeiter, der seinen Lebensunterhalt nur vorübergehend nicht selbst bestreiten konnte. Armut war damit nicht länger ein Zustand, sondern ein Unfall, für den durch eine Versicherung Vorsorge getroffen werden konnte. Die Selbsthilfe, die individuelle Daseinsvorsorge jedes Einzelnen, stand im Zentrum dieser sozial­liberalen Vorstellung. Die Gründung von Spar- und Hilfs­kassen war deshalb eine der Prioritäten des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, der seit seiner Gründung 1844 von liberalen Ideen ausgehende Maßnahmen im sozialen Bereich initiierte und koordinierte.22 Es war im Sinne der Liberalen, den Gemeinden im Rahmen der 1808 in Preußen eingeführten städtischen Selbstverwaltung23 die 18 Für Preußen siehe Koselleck. 19 Zum Gesetz von 1841 siehe Sachße u. Tennstedt, Geschichte, Bd. 1, S. 200 ff. 20 Siehe hierzu Frevert, Krankheit, S. 160–175. 21 Das den Kommunen eingeräumte Recht, die Mitgliedschaft in der örtlichen Hilfskasse zu erzwingen, wurde 1847/48 in Hannover, 1861 in Oldenburg, 1869 in Mecklenburg und 1870 in Schleswig-Holstein, Hamburg und Braunschweig umgesetzt. 22 Reulecke, Sozialer Frieden. 23 Siehe den kurzen Abriss in Sheehan, Liberalism and the City. Siehe auch die erhellenden Überlegungen zum liberalen Ideal der Selbstverwaltung und seiner sozialtheoretischen Implikationen von Pankoke, Selbstverwaltung.

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Entscheidung über den Versicherungszwang anzuvertrauen, und somit die Verantwortung und Sorge für die Probleme, die sich aus dem Anstieg der Armut ergaben, vom Staat hin zur bürgerlichen Gesellschaft zu verlagern. Um der Entwicklung der ökonomischen und sozialen Strukturen Rechnung tragen zu können, weitete das preußische Gesetz von 1849 den Kreis der Zwangsversicherten auf die Fabrikarbeiter aus und ermächtigte die Gemeinden, von den Arbeitgebern die Zahlung eines Drittels der Versicherungsbeiträge einzufordern. Diese Vorschrift stieß in den industrialisierten Gemeinden allerdings auf wenig Zustimmung. Deren Gemeinderäte wurden von Arbeitgebern beherrscht, denen wenig daran gelegen war, sich zusätzliche finanzielle Lasten aufzuerlegen: Zwischen 1849 und 1853 führten nur 26 Gemeinden Zwangsbeiträge ein. Die Verbindung des Konzepts der Selbsthilfe mit dem der Verantwortung des Arbeitgebers zeigt sich jedoch auch in der Weiterentwicklung der Versicherungsfunktion. Die Vorstellung von der Verantwortung des Arbeitgebers stand weniger in der liberalen Tradition, sie entstammte vielmehr einer konservativen Auffassung der Arbeitsbeziehungen, der zufolge die Verantwortung des »Herrn und Meisters« für seine Arbeiter ein wesentliches Element sozialer Stabilität war  – eine Verantwortung, die nur dann von den Behörden übernommen werden konnte, wenn der Arbeitgeber ihr nicht nachkam.24 Gemäß dieser Logik erlaubte das preußische Gesetz von 1854 den Bezirksbehörden als Wächtern des Gemeinwohls jenseits der Partikularinteressen, widerstrebenden Gemeinden eine lokale Satzung aufzuerlegen.25 Dieses Gesetz war ein Grund für die Konsolidierung der Krankenversicherung und den Anstieg der Zahl der Zwangskassen von 2.576 im Jahr 1853 (mit 254.420 Mitgliedern) auf 3.726 (mit 671.868 Mitgliedern) im Jahr 1868. Titel 8 der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes von 1869 gewährte ausschließlich den Kommunalbehörden das Recht, lokale Satzungen zu erlassen, aber stellte den Versicherungspflichtigen die Wahl ihrer Kasse frei. Diese neue Rechtslage begünstigte die Entwicklung der Gewerkschaftskassen, die sich im Verlauf der 1860er Jahre zu bilden begonnen hatten. Schätzungsweise die Hälfte der preußischen Bevölkerung, für die im Jahr 1883 der Krankenversicherungszwang galt, war bereits 1873 Mitglied einer Krankenkasse.26 Insofern sie den Einfluss des Staates begrenzte und der Zivilgesellschaft die Lösung sozialer Probleme übertrug (kommunale Selbstverwaltung, Gewerkschaftsorganisationen), kann an dieser Vorschrift ebenfalls der Einfluss der Liberalen auf die preußische Politik der 1860er Jahre und der ersten Hälfte der 1870er Jahre abgelesen werden.27 Das Reichsgesetz von 1876, das Titel 8 der Gewerbeordnung novellierte und die eingetragenen freien Hilfskassen regulierte, ohne jedoch den Versiche24 Beck, S. 15, 50–55, 67–74. 25 Siehe hierzu Asmuth, S. 46–47. 26 Zorn, S. 12. 27 Langewiesche, S. 85–111.

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rungszwang einzuführen, stellte den letzten ausgleichenden Schritt zwischen liberalen und konservativen Positionen dar. Mit dem Gesetz wurde zwar die Unabhängigkeit der Kassen erhalten, aber ihre Funktionsweise (Rolle der Generalversammlungen bzw. der Vorstände)  und Mindestleistungen (Krankengeld, medizinische Behandlung) genauer festgelegt. Es präzisierte die Aufgaben der Gemeinden bei der Verwaltung der Kassen, setzte eine Kontrollinstanz für die Fondsverwendung ein und traf eine klare Unterscheidung zwischen Gewerkschafts- und Kassengeldern.28 Das Reichsgesetz gewährte staatlichen Eingriffen größeren Raum und stellte einen Kompromiss zwischen verschiedenen Rechtslagen dar, die bis dato in den Ländern des neuen Reichsgebiets Gültigkeit besaßen. Die weniger industrialisierten Staaten Süddeutschlands hatten eine eigene Gesetzgebung entwickelt,29 die sich weitgehend an die öffentlich-rechtliche Armenpflege anlehnte. Das Bayerische Gesetz vom 24. April 1869 ist hierfür ein gutes Beispiel.30 Dieselbe Bezugnahme findet sich in den württembergischen und badischen Gesetzen von 1870 bzw. 1873. Die Gemeindeversicherung (KVG, §§ 4–15), eine Vorform der per Gesetz 1883 eingeführten Krankenversicherung, stand eindeutig in der Tradition dieser Reihe von Gesetzen der 1870er Jahre. Das liberale Prinzip der Selbstverwaltung der Kassen, die von den Gemeinden verwaltet wurden, galt für die Gemeindeversicherung jedoch nicht. Die Beiträge waren geringer und sollten 2 % des lokalen Durchschnittslohns nicht übersteigen. Dafür waren in ihr geringere Mindestleistungen vorgesehen, als in den anderen Kassentypen (Schwangerenhilfe und Entschädigungen bei Todesfall waren nicht abgedeckt). Der Anteil der in Gemeindeversicherungen Einzahlenden belief sich im Jahr 1885 auf 37,6 % aller Zwangsversicherten. Sie konzentrierten sich besonders stark in den ländlichen Regionen, etwa in Mecklenburg (ca. 60 % der Versicherten) und Süddeutschland (in Bayern waren 56,6 % der Versicherten Mitglied einer Gemeindekasse). Die Gemeindeversicherung zeugt deshalb auch vom Fortbestand der Tradition und des »Geistes« kommunaler Armenpflege, sowohl in der Sozialversicherungs- als auch in der Arbeitergesetzgebung.

28 RGB 1876, Nr. 9, S. 125–133. 29 Eine kurze Darstellung dieser Gesetzgebung findet sich in Kleeis, Geschichte, S. 74–75. 30 Die Unterstützung für bedürftige Kranke wurde von den Armenbüros geleistet, führte aber auch die ersten Formen von Krankenversicherung ein, da die Gemeinden die von dem Versicherungsgesetz abgedeckten Bevölkerungsteile zu regelmäßigen Abgaben zwingen konnten, die eine 13wöchige Unterstützung des Kranken garantierten. Allerdings hatten die Gemeinden auch die Möglichkeit, sich dieser Pflicht dadurch zu entledigen, dass sie die wichtigsten Arbeitgeber (solche, deren Betriebe mehr als fünfzig Arbeiter zählten) dazu zwangen, ihre kranken Arbeiter direkt oder vermittels einer Krankenkasse zu versorgen. Siehe dazu Hesse, H.

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1.2 Die ersten Arbeitergesetze: eine Spielart der Fürsorgegesetze? Die deutschen Sozialversicherungsgesetze vom Anfang der 1880er Jahre, das KVG von 1883 und das UVG von 1884, führten einen Versicherungszwang für bestimmte Arbeiterkategorien ein. Es handelte sich um Lohnarbeiter, die in den vom Gesetzestext explizit genannten Industrien arbeiteten: Bergwerke, Steinbrüche, Verkehrsbetriebe und Fabriken (KVG, UVG, § 1), und dies unabhängig von ihrem Einkommen. Für die Angestellten dieser Branchen dagegen war die Versicherung nur dann verpflichtend, wenn ihre Löhne eine bestimmte Summe nicht überstiegen – eine Bedingung, die einen Großteil der Angestellten vom Versicherungszwang befreite.31 Die Arbeiterversicherung unterschied sich folglich von der traditionellen Armenpflege darin, dass sie eine bestimmte soziale Gruppe zum Ziel hatte: die armen, durch ein niedriges Einkommen und die Prekarität ihrer Lebensbedingungen gekennzeichneten Arbeiter. Von der Unfallversicherung ausgeschlossene Arbeiter von Handwerksbetrieben unterlagen nur dann dem Krankenversicherungszwang, wenn der Meister nicht in der Lage war, für den kranken Gesellen zu sorgen, wie es im ständegesellschaftlichen Rahmen traditionell seine Pflicht war (KVG, § 3). Landarbeiter waren ebenfalls vom Versicherungszwang ausgenommen, da sie nach der Idee der traditionellen Fürsorge von dem Gutsbesitzer unterstützt werden sollten, auf dessen Land sie arbeiteten. Die neuen Gesetze fanden weder auf dem Gutshof noch im Handwerksbetrieb Anwendung, um die traditionelle Schutzbeziehung zwischen dem Meister und »seinen« Gesellen oder dem Großgrundbesitzer und »seinen« Landarbeitern nicht zu gefährden. Obwohl sie auf eine spezifische Berufsgruppe abzielten, unterschieden sich die Adressaten der Sozialversicherung während des gesamten 19. Jahrhunderts nur wenig von den Mittellosen, der ursprünglichen Zielgruppe der Fürsorge. Und doch gingen nach der Einführung der Versicherungsgesetze die Aufwendungen der Armenbüros keineswegs zurück.32 Die von den ersten Gesetzen vorgeschriebenen Leistungen waren tatsächlich meist sehr knapp bemessen und wurden erst nach teilweise langen Karenzzeiten ausgezahlt. Die Unfallversicherung von 1884 garantierte dem Arbeiter, dessen Erwerbsfähigkeit (und entsprechend das Einkommen) infolge eines Unfalls gemindert war, eine auf der Basis der letzten Löhne sowie des Invaliditätsgrades berechnete Rente (UVG, § 5) – dies allerdings erst nach einer Karenzfrist von 13 Wochen. Die bereits nach drei Tagen Karenzzeit bewilligten Finanzleistungen der Krankenversicherung beliefen sich lediglich auf die Hälfte des je nach Kassenart örtlichen oder branchenüblichen Durchschnittsgehalts (KVG, §§ 6, 20). Die täglichen Entschädigungszahlungen und die Invaliditätsrente können folglich zwar als minimales

31 Eine detaillierte Übersicht befindet sich am Ende des Bandes. 32 Siehe dazu Hennock, Origin, S. 62–66; Steinmetz, S. 149–188, und für das Beispiel Münchens Rudloff.

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Sicherheitsnetz betrachtet werden, erlaubten es den Betroffenen aber kaum, der Mittellosigkeit zu entkommen.33 Bestimmte Vorschriften der Versicherungsgesetze stammten unmittelbar aus der Fürsorgetradition und ihren moralischen Grundsätzen. Versicherten, deren Erkrankung Folge einer körperlichen Auseinandersetzung war, durch Alkoholismus hervorgerufen wurde oder in einer Geschlechtskrankheit bestand, konnte die Ausgleichszahlung ganz oder teilweise verweigert werden (KVG, §§ 6, 26). Dieselben moralistischen Prinzipien durchzogen die Arbeitergesetzgebung (GO, 7.  Abschnitt). Theodor Lohmann, der ihre Bedeutung für den Schutz der sozialen Ordnung hervorhob, insistierte insbesondere auf der Notwendigkeit, die Arbeitszeit der Frauen und Kinder zu verringern, um die Familie als die Keimzelle des christlichen Lebens zu schützen. Die Vorschriften des 1878 novellierten Gesetzes bezogen sich auf die Kinder- und Jugendarbeit34 und entsprechen einer europaweiten Tendenz.35 Durch die Neuerungen wurde das aus dem Jahr 1854 stammende Arbeitsverbot für Kinder unter zwölf Jahren verstärkt (GO, § 135) und außerdem versucht, die väterliche Autorität gegenüber arbeitenden Jugendlichen wiederherzustellen. Das 1867 abgeschaffte Arbeitsbuch wurde für Jugendliche unter 21 Jahren wieder eingeführt (GO, § 107), und jugendliche Fabrikarbeiter mussten mit einem vom Vater oder Vormund bei den Gemeindebehörden zu beantragenden Arbeitsausweis ausgestattet sein (GO, § 137). Zudem wurde der Arbeitgeber verpflichtet, die Verwendung der Jugendlichen als Bergwerksarbeiter anzuzeigen (GO, § 138). Die Liste der jungen Arbeiter, auf der Pausen und effektive Arbeitszeiten verzeichnet waren, sollte in den Werkstätten aushängen, um die Kontrolle durch den Fabrikinspektor zu erleichtern (GO, § 138). Für weibliche Angestellte wurde eine Schutzvorschrift eingeführt, die ihnen während der drei auf eine Geburt folgenden Wochen zu arbeiten untersagte (GO, § 135). Moralische und hygienische Gesichtspunkte veranlassten darüber hinaus den Bundesrat dazu, die Nachtarbeit sowie die Arbeit in bestimmten Branchen für Frauen gänzlich zu verbieten (GO, § 139a). In allen Fällen waren es – wie anderswo in Europa auch – weniger die Frauen als vielmehr die Funktionen der Mutter und Ehefrau, die geschützt wurden, und damit im weiteren Sinne die Familie, die als Stützpfeiler der sozialen Ordnung

33 Siehe auch die Regelungen zur Doppelversicherung (KVG § 26). Den Mitgliedern einer Zusatzkasse konnte die Leistung soweit gekürzt werden, dass die Entschädigungsgesamtsumme den lokalen Durchschnittslohn nicht überstieg. Der lag allerdings gerade für die bestbezahlten Arbeiter – und nur solche konnten sich eine Zusatzkasse überhaupt leisten – in jedem Fall sehr viel niedriger als ihr gewohntes Einkommen. 34 Es führte auch eine Begrenzung der Sonntagsarbeit ein, die der Arbeitgeber von seinen Arbeitern verlangen konnte (GO, 7.  Abschnitt, § 105) und untersagte die Naturalienentlohnung (GO, 7. Abschnitt, § 115). 35 Siehe den vergleichenden Überblick zur Entwicklung der Gesetzgebung in den Untersuchungen des International Labour Office (ILO): ILO, Protection, S. 1, und dass., Women; dass., Children, S. 1–9.

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betrachtet wurde.36 Mit der differenzierten Regelung der Kinderarbeit, durch welche die Autorität des Vaters wiederhergestellt werden sollte, und durch den Schutz klar definierter Bereiche der Mutterschaft zielte die Arbeitsgesetzgebung darauf ab, zur Konsolidierung der Familie beizutragen. Allerdings handelte es sich bei den ersten deutschen Sozialgesetzen auch nicht einfach um eine Fortführung der bisherigen öffentlich-rechtlichen Armenpflege. Der versicherte Arbeiter galt nicht in erster Linie als abhängiger Mittelloser, sondern das Gesetz eröffnete ihm vielmehr soziale Rechte ohne, wie die Armenpflege es tat, seine bürgerlichen Rechte zu beschneiden. Die ersten Sozialgesetze knüpften darüber hinaus an eine bestehende Praxis der Arbeiterselbsthilfe an.

2. Die Arbeiterschaft: Objekt oder Subjekt der Sozialgesetzgebung? Die frühe Reichssozialgesetzgebung war anfänglich vor allem auf die Fabrikarbeiter ausgerichtet, und sie ist oft als reines Repressionsinstrument interpretiert worden, dessen Hauptziel in der Disziplinierung und Entpolitisierung dieser »neuen gefährlichen Klasse« bestanden habe. Allerdings knüpften die Sozialgesetze jenseits der zweifellos mit ihnen verbundenen repressiven Absichten deutlich an Arbeitertraditionen aus Industrie und Handwerk an, die in den Gesetzen verstärkt und mit einem gesetzlichen Rahmen versehen wurden. Auch in diesem Spannungsverhältnis zeigt sich die einerseits liberale und andererseits konservative Inspiration dieser Gesetzgebung. 2.1 Von den Handwerkskassen zur Krankenversicherung Seit dem 18.  Jahrhundert wurden von den Gewerken Zunftkassen mit Beitragszwang gegründet, die den Einzahlenden das Ansparen einer bestimmten Summe für den Fall der Arbeitslosigkeit, den Todesfall oder zur Vorbereitung der Wanderjahre als Zugangsbedingung zur Meisterschaft ermöglichten.37 Nach der Aufhebung des Zunftzwangs in Preußen im Jahr 1807 und später in den anderen deutschen Staaten konnten diese Kassen, denen nun die Beiträge der Meister fehlten, sich kaum halten. Die meisten wandelten sich daraufhin in freie Hilfskassen um und wurden dabei von den Gemeindebehörden unterstützt, die in ihnen vor allem eine Möglichkeit erblickten, die Budgets der

36 Zum Vergleich siehe die verschiedenen Beiträge zu Frankreich und England in Auslander u. Zancarini-Fournel. 37 Zu Deutschland siehe Frevert, Krankheit, S. 246–250.

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Armenbüros zu schonen.38 Über diese Funktion hinaus stellten diese Kassen einen sozialen Ort zur Verfügung, in dem die Traditionen der Handwerksgesellen auch nach der Aufhebung der Zünfte im Rahmen einer freiwilligen und ritualisierten Geselligkeit weiter gepflegt wurden. Geringe Mitgliederzahlen begünstigten dieses Phänomen: Im Jahr 1874 hatten in Altona 27 von 136 Kassen weniger als dreißig und sieben weniger als zehn Mitglieder. Die geringe Beteiligung machte die Kassen zwar ökonomisch sehr verwundbar, sie belegte aber den Wunsch der Mitglieder nach sozialer Nähe, die freilich auch die gegenseitige Kontrolle und den Ausschluss von Simulanten begünstigte. Unterstützt wurde dieser Zusammenhalt durch häufige Versammlungen, etwa bei Beerdigungen oder Beitragsentrichtungen.39 Die preußischen Gesetze von 1845, 1849 und 1854 räumten den Gemeindeämtern das Recht ein, diese traditionell geprägten Institutionen einer engeren Kontrolle zu unterziehen, wenn sie sich in Ortskrankenkassen mit Beitrittszwang umwandelten.40 Unter diesen neuen rechtlichen Bedingungen veränderte sich allerdings ihre Funktionsweise. Insbesondere mussten sie ihre charakteristische, geschlechts- und berufsbezogene Exklusivität aufgeben, denn die in der jeweiligen Branche beschäftigten Frauen sollten ebenfalls Mitglieder werden können. Diese Umstrukturierungen entfernten die Kasse zusehends von ihren zünftigen Traditionen. Es kam deshalb vor, wie in Essen 1856 oder häufiger noch in kleinen Industriegemeinden, dass die Handwerksgesellen gegen den erzwungenen Zusammenschluss mit Fabrikarbeitern protestierten. Diese seltenen Konflikte sind ein Indiz für weiterreichende gesellschaftliche Wandlungsprozesse. Während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist eine Medikalisierung der Zunftkassen zu beobachten, die wahrscheinlich durch die Zirkulation von Modellsatzungen durch verschiedene freie und Zwangskassen begünstigt wurde. Die Kostenfreiheit der medizinischen Behandlung wurde auf diese Weise zur Regel: Im Jahr 1867 überließen es nur 16,6 % der in Preußen eingeschriebenen Handwerkskassen ihren Mitgliedern, die Kosten für die medizinische Behandlung gegen eine größere finanzielle Entschädigung selbst zu tragen. Vielmehr wurden die Kassenärzte zur Regel: Von nun an waren sie es, die über den Zustand des Kranken entschieden und nicht länger die Mitglieder des Vorstands. Das Gesetz von 1867, das die Minimalleistungen der eingeschriebenen Kassen festlegte, unterstützte diese Entwicklung, die mit dem Gesetz von 1883 einen vorläufigen Endpunkt erreichte, insofern es die Veränderungen in Wesen und Funktion dieser Kassen bündelte und ordnete. Denn tatsächlich fanden die Handwerkskassen, ob freiwillig oder verpflichtend, letzten Endes ganz reibungslos ihren Platz im Rahmen der neuen Gesetzgebung, indem sie

38 Verwaltungsbericht der Stadt Altona für die Jahre 1863–1900, zitiert bei Tennstedt, Errichtung, S. 297–338. 39 Reininghaus. 40 Für Düsseldorf siehe Asmuth, S. 46–47 und 51–56.

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sich in besondere OKK umwandelten. Das war vor allem dort der Fall, wo lokale Satzungen zuvor die Ausweitung des Versicherungszwanges auf einen großen Teil der Bevölkerung sowie die Zusammenfassung der Versicherten in zentralisierten Berufskassen befördert hatten. In Berlin waren von 210.590 Personen, die nach dem Gesetz von 1883 in eine Krankenkasse eintreten mussten, bereits 153.502 versichert. In Düsseldorf wandelten sich sieben von acht Zwangsberufskrankenkassen mit leichten Änderungen ihrer Satzungen in besondere OKK um. In Frankfurt oder Stuttgart, wo diese Tradition fehlte, war man dagegen zum Aufbau eines völlig neuen Systems von OKK gezwungen.41 Der »Geist«, in dem das Gesetz angelegt war, begünstigte die Umwandlung der traditionellen Handwerkskassen in besondere OKK, denn grundsätzlich sollten diese nach dem berufsgenossenschaftlichen Prinzip organisiert werden. Mit diesem Grundsatz hatten die Hauptakteure der Konzeption der Versicherung zweierlei bezweckt: Auf der einen Seite sollte die Zusammenfassung der Versicherten nach Berufen eine relative Risikohomogenität innerhalb der jeweiligen Kasse garantieren. Diese berufsgenossenschaftliche Vorstellung von Gemeinwesen schloss Solidarität als Berechnungsgrundlage der Beiträge und Leistungen der Mitglieder kategorisch aus. Andererseits wurde die Berufsgruppe auch als ideales Mittel zur Ausübung gegenseitiger Kontrolle der Mitglieder untereinander betrachtet und sollte ermöglichen, Simulantentum einzuschränken.42 Das Gesetz selbst sah jedoch Ausnahmen von diesen Grundsätzen vor, insofern es die Einrichtung von allgemeinen OKK ermöglichte, wenn die Zahl der Versicherten zu gering war oder die Versicherten dies ausdrücklich forderten (KVG, § 16). Die Gemeinden vermieden es generell, Handwerker und Fabrikarbeiter in einer gemeinsamen Kasse zusammenzufassen. Unter den Arbeitern der Handwerksbetriebe stießen solche Zusammenschlüsse nur auf geringe Akzeptanz, weil sie deren individuell in jedem Berufsstand angelegten Solidaritätsmodelle missachteten. Sie zogen es oft vor, in freie Hilfskassen einzutreten, die ihrem Distinktionsbedürfnis besser entsprachen. Die freien Hilfskassen waren allerdings nicht nur Orte, an denen berufsständische Exklusivität verteidigt wurde: hier manifestierte sich auch eine autonome Arbeiterbewegung.43 2.2 Von der Gewerkschaftskasse zur gesetzlichen freien Hilfskasse Bereits vor der Revolution von 1848 stellten die Kassen ein zentrales Strukturelement der Arbeiterbewegung dar. In der folgenden Restaurationsphase blieben sie als einzige Arbeiterinstitution erhalten. Wie im Frankreich Napoleons

41 Ebd., S. 152–159. Für Berlin siehe Cayla, S. 41–46. 42 Zur Bedeutung dieses Grundsatzes für die Konzeption des Gesetzes siehe Freund. 43 Siehe den neueren und vergleichenden Überblick bei Eisenberg.

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III. (Gesetz vom 23. März 1852)44 unterlagen sie fortan einer verstärkten Kontrolle, die bis zur Auflösung gehen konnte. Anders allerdings als im kaiserlichen Frankreich, wo sie örtlichen Honoratioren unterstellt und lokal reorganisiert wurden, waren die Kassen in Deutschland ein wichtiger Ort für die Formierung der liberalen Arbeiterbewegung.45 Wie in den ab 1830 entstehenden Arbeiterbildungsvereinen46 und den ab 1850 gegründeten Sparkassen47 sahen die Linksliberalen in den freien Hilfskassen ein Element ihres Programms zur sozialen Bildung der Arbeiter. Während der 1860er Jahre gründeten zahlreiche Arbeiterbildungsvereine Krankenkassen, die manchmal auch Invalidität und Alter abdeckten.48 Die liberalen Gewerk­ vereine und ihr 1868/1869 unter Federführung von Max Hirsch und Hermann Duncker gegründeter Dachverband (Verband der deutschen Gewerkvereine) unterstützten diese Tradition.49 Die freien Gewerkschaftskassen sollten dazu beitragen, die Arbeiter in einflussreichen Gewerkschaften zu organisieren, die ihre unterlegene Position in den Arbeitsbeziehungen ausgleichen konnten. Als wichtiger Akteur der Sozialverhandlung mit dem Arbeitgeber sei die Gewerkschaft eine Antwort auf die soziale Frage, argumentierten die Sozialliberalen.50 Bereits vor Verabschiedung des Gesetzes von 1883 zählten einige dieser Hirsch-Dunkerschen Krankenkassen mehr als 10.000 Mitglieder, wie etwa die Handwerkerkranken- und Sterbekasse oder die Krankenkasse der Metallarbeiter und Mechaniker, und traten bald in Konkurrenz zu den Kassen der freien Gewerkschaftsbewegung. Während der 1860er Jahre bildeten sich ausgehend von den Handwerks­ kassen lokale Gewerkschaften neu, nachdem sie während der auf die Revolution von 1848 folgenden Reaktionsphase verboten worden waren. Wie die Gewerkvereine spielten diese Kassen eine zentrale Rolle in der Entstehung und Zentralisierung der Arbeiterbewegung in Berufsverbänden während der 1860er Jahre. Die Gründung des ersten Berufsverbands, des Deutschen Tabakarbeiter-Verbands in Leipzig im Jahr 1856, ergab sich aus der Notwendigkeit, Ortskassen zusammenzulegen, die zu den traditionellen Leistungsfällen Krankheit 44 Dreyfus, La Mutualité, S. 20–24, und ders., Liberté, S. 39–45. Eine ausgewogene Analyse des Gesetzes vom 26. März 1852 findet sich in Toucas. 45 Siehe hierzu Frevert, Krankheit, S. 302–314. 46 Die Arbeiterbildungsvereine machten sich die Verbreitung von Bildung und Moral in der Arbeiterklasse zur Aufgabe – vermittels der Organisation von Vorträgen, Kursen oder Bibliotheken. In Sachsen gab es 1841 245 lokale Vereine, die 7595 Mitglieder zählten und 57.000 Bücher verliehen. Der besonders dynamische Hamburger Kreis hatte im Jahr 1847 600 Mitglieder, siehe Birker, S. 30 und 38. 47 Zu dieser zentralen Form liberaler Gesellschaftsorganisation siehe Reulecke, Sozialer Frieden, S. 45–142. 48 Zur Geschichte des Sozialliberalismus bis in die 1860er Jahre siehe den Überblick in Rohr, hier besonders S. 131–181. Siehe auch Offermann, S. 250–254. 49 Zur Entwicklung der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine und die Rolle der Kassen siehe Goldschmidt. Siehe auch Fleck und Hirsch. 50 Zu Brentano siehe vor allem Sheehan, Brentano, hier S. 67–113.

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und Wanderschaft auch Unterstützungszahlungen im Fall von Arbeitslosigkeit hinzu nehmen wollten.51 Auch waren die Kassen ein Mittel zur Mitgliederwerbung für die Berufsverbände. Sie begünstigten die Organisationen der Arbeiterbewegung in starken Verbänden mit soliden Institutionen. Obwohl die Kassen also in der Tradition des Handwerks standen, wurden sie zu einem Modernisierungsinstrument der deutschen Arbeiterbewegung. Die Rolle der Hilfskassen im langwierigen Prozess der Formierung der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Von den ersten Jahren des Kaiserreichs an besaßen alle (freien oder freiheitlichen) Gewerkschaftsverbände Kassen, deren Gründung das Gesetz von 1869 erleichtert hatte. Der Anteil, den sie für traditionelle Hilfsleistungen aufbrachten, blieb allerdings hoch.52 Die Gewerkschaftskassen behielten außerdem die Exklusivität der Handwerksinstitutionen bei. Nur gesunde Arbeiter einer Berufsgruppe konnten Mitglied werden und dies auch nur dann, wenn sie eine echte Berufsqualifikation vorweisen konnten. Als Schule der Arbeiterselbstverwaltung war der Institution der Kasse als Aufgabe vor allem die Ausbildung einer Elite zugedacht, die entweder die Revolution vorbereiten (im Sinne der Sozialdemokraten) oder Bildung und Fortschrittsideale verbreiten sollte (im Sinne der Liberalen).53 Für die Gewerkschaftskassen stellte das Gesetz von 1876, das in seiner Tendenz dem französischen Gesetz von 1852 sehr nahe kam, eine Bedrohung dar, weil es die Kassen zwang, die organischen Verbindungen zu kappen, die sie mit den Gewerkschaften unterhielten. Ihre Zahl sank von 5.239 im Jahr 1876 auf 4.901 im Jahr 1880.54 Paragraph  75 des Gesetzes von 1883 hob allerdings die engen Vorschriften von 1876 auf und legalisierte »eingeschriebene Hilfskassen« beziehungsweise »aufgrund landesrechtlicher Vorschriften errichtete Hilfskassen« unter der Bedingung, dass sie die von den Gemeindekassen gesetzlich vorgesehenen Minima­leistungen garantierten.55 Bismarcks Vorbehalte gegenüber den Gewerkschaftskassen, die er als subversive Elemente betrachtete, waren offenbar durch die Einwände Theodor Lohmanns ausgeräumt worden.56 Letzterem zufolge musste das Gesetz von 1876 die Gewerkschaften, da es ihnen die Kassen nahm, notwendigerweise auf das Feld des politischen Protests führen – eine Einschätzung, die durch das französische Beispiel bestätigt wurde. Zwar ist die Beibehaltung der freien Hilfskassen in dem Gesetz von 1883 auch auf Lohmann und eine bestimmte Richtung des Sozialkonservativismus zurückzuführen, dennoch wurzelte die reale Entwicklung der Kassen während der 1880er Jahre 51 Siehe dazu Schönhoven, Gewerkschaften, S. 29. 52 Schönhoven, Selbsthilfe. 53 Zu den Kassen der freien Gewerkschaften und ihren Merkmalen siehe Stollberg, Hilfs­ kassen. 54 Zorn, S. 23. 55 Sie waren auch die vom Gesetz bevorzugten Institutionen für freiwillige Versicherungen. 56 Zitiert von Tennstedt, Geschichte, S. 19.

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vor allem in einer doppelten, liberalen und sozialistischen Tradition. Besonders in Süddeutschland57 ist die zahlenstarke Beitrittsbewegung zu den freien Kassen, die den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen nahestanden, den Bemühungen der Liberalen zuzuschreiben.58 Allerdings profitierten hauptsächlich die mit den freien Gewerkschaften verbundenen Kassen von den gesetzlichen Bestimmungen. In den norddeutschen Städten mit starker Arbeitertradition waren sie besonders einflussreich. So waren in Hamburg mehr als 70 % der Versicherten Mitglied einer freien Kasse.59 Die legalisierten freien Hilfskassen behielten den Charakter einer Arbeiterinstitution, auch weil die Arbeiter sie in Eigenregie finanzierten und verwalteten. Diese soziale Exklusivität ergab sich daraus, dass sie im Gegensatz zu den Zwangskassen ihre Mitglieder auswählen konnten. Hier galt zudem das Primat der Geldleistungen. Das Gesetz erlaubte ihnen, die für die anderen Kassen verpflichtende medizinische und medikamentöse Behandlung durch eine tägliche Entschädigungsleistung zu ersetzen, die mindestens zwei Drittel des lokalen Durchschnittslohns betragen musste.60 Alle diese Bestimmungen förderten die Legalisierung der bestehenden Kassen. Ende 1885 waren 17 % der Versicherten (870.501 Personen) Mitglieder einer freien Hilfskasse. Diese Weiterführung und Verstärkung der Arbeitertradition durch die erste Sozialgesetzgebung führt zu der Frage nach den diesbezüglichen politischen Stellungnahmen in der Arbeiterbewegung. 2.3 Die Gegenvorschläge der Arbeiterbewegung Die Sozialdemokraten und die liberalen Oppositionsparteien (Fortschrittspartei und Liberale Vereinigung) stimmten im Reichstag gegen die Sozialgesetze. Dennoch standen die Sozialdemokraten, ein Teil  der Fortschrittler um Max Hirsch und die um die Volkszeitung61 gruppierten Demokraten der Sozialpolitik und diesbezüglichen staatlichen Eingriffen nicht prinzipiell ablehnend gegenüber. Ihre Gegnerschaft bezog sich vielmehr auf eine Sozialgesetzgebung, deren Wesen und Funktion durch politische Instrumentalisierung geprägt waren. Ihre eigenen Vorschläge wiederum stellten eine Alternative dar, die um die

57 Siehe dazu die Synthese von Langewiesche. 58 AVS, Jg. 2, 1884, S. 237–238. 59 Sombart, Statistik, S. 649. 60 Für die Konsequenzen dieses Umstands siehe Zadek, Arbeiterversicherung. 61 Der Linksliberalismus ordnete sich ausgehend von sozialpolitischen Fragen in diesen Jahren neu. Im Jahr 1884 fusionierte die Fortschrittspartei mit der Liberalen Vereinigung zur Deutschen Freisinnigen Partei, die als entschiedene Gegnerin jeder staatlichen Intervention und des von ihr so genannten »Staatssozialismus« auftrat. Die Demokratische Partei, die sich 1885 abspaltete, verfolgte die sozialliberale Tradition weiter. Siehe Kieseritzky, S. ­291–294.

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Jahrhundertwende zu einer wichtigen Quelle für die Ideen und Konzepte zur Sozialversicherung werden sollte.62 Die ablehnende Haltung der Sozialliberalen und Sozialdemokraten gegenüber der bismarckschen Politik ging auf eine gemeinsame demokratische Tra­ ditionslinie zurück. Sie lehnten die Gesetze ab, weil sie innerhalb der Gesellschaft eine besondere Gruppe identifizierten, die Arbeiter, die als einzige von der Gesetzgebung profitieren sollten und so als eine Art vierter Stand konstituiert wurden. Dem Versicherungszwang im Rahmen öffentlich-rechtlicher Institutionen stellten sie die freiwillige Assoziation und das System der freien Hilfskassen gegenüber, die von ihren Mitgliedern selbständig organisiert und verwaltet werden sollten. Auch die Organisation der Unfallversicherung auf der Basis von Berufsgenossenschaften sowie die Einrichtung von Betriebskrankenkassen (BKK) lehnten sie strikt ab, da sie die Dominanz des Arbeitgebers im Unternehmen noch verstärkten. Ihre Gegenvorschläge zielten darauf ab, die Funktionsweise der Versicherung stärker auf das Prinzip der Selbstverwaltung zu gründen und den Arbeitern mehr Teilhabe zuzusichern – besonders in der Unfallversicherung. In diesem Sinne kämpften Fortschrittler und Sozialdemokraten auch für die 1845 aufgehobene Vereinsfreiheit.63 Während der 1860er Jahre war dies eine zentrale Forderung der liberalen Bewegung.64 Im Zusammenspiel mit Erziehungsmaßnahmen sollte das Recht auf Vereinsbildung Bedingungen schaffen, unter denen die Arbeiter ihren Platz im politischen Leben finden konnten.65 Den Vertretern dieser Position und besonders dem am britischen Beispiel orientierten Lujo Brentano66 galt die Vereinsfreiheit als grundsätzliche Alternative zur Ausweitung staatlicher Eingriffe.67 Vor demselben Hintergrund forderten die Linksliberalen die Einrichtung von Institutionen wie Schiedsgerichten oder Einigungsämtern, in denen die Gewerkschaft als voll akzeptierter Partner mitwirken können sollte.68 Am deutlichsten unterschieden sich fortschrittliche und sozialdemokratische Positionen in der Staatsfrage. Schon 1878 hatte August Bebel eine zentrale staatliche Versicherungsinstitution gefordert, bei der sich die Arbeiter versichern können sollten. Im Jahr 1879 sprach er sich darüber hinaus für eine Unfallversicherung aller Arbeiter aus. Die Fortschrittler lehnten dagegen jegliche staatliche Intervention in diesem Bereich ab.69 Der bayerische sozialdemokratische 62 Siehe dazu Ayaß, Arbeiterbewegung, und Seeber u. Fesser, und Kieseritzky, S.  202–218, ­274–291. 63 Born, Probleme und Engelhardt. 64 Schulze-Delitzsch, Arbeiterkatechismus, insbesondere S. 182–198; Conze; Trautmann. 65 Aldenhoff, Schulze-Delitzsch, S. 204–215. 66 Brentano, Arbeitergilden. Zu Brentano siehe Sheehan, Brentano, S. 22–46. 67 Schulze-Delitzsch, Reden, S.  497–500. Für die allgemeine Entwicklung des Liberalismus siehe Offermann. 68 Siehe dazu Reulecke, Anfänge; Brentano, Arbeitereinstellung und zur Gesamtproblematik Bruch, Streiks. 69 Siehe Müller, R.

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Abgeordnete Karl Grillenberger brachte 1882 im Reichstag eine Gesetzesvorlage ein, die den Zehnstundentag, ein Verbot der Sonntags- und Feiertagsarbeit und unter bestimmten Voraussetzungen auch ein Verbot der Frauenarbeit und die Kontrolle der Fabrikordnungen vorsah.70 Die Fortschrittler stellten sich ganz entschieden gegen eine allgemeine Regelung der Tagesarbeitszeit und befürworteten lediglich Regelungen zum Schutz von Frauen und Kindern, da diese auch von keinerlei anderen sozialen Institutionen repräsentiert wurden und nicht selbst für ihre Interessen eintreten konnten. In diesem engen Rahmen waren sie zwar bereit, die Idee der Zwangsfabrikinspektion zu akzeptieren, sahen in ihr allerdings auch eher ein Mittel, um günstige Bedingungen für den Dialog zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu schaffen. Sozialliberale wie Sozialdemokraten waren folglich den von den Sozial­ versicherungen vorgesehenen Ausgleichsmaßnahmen gegenüber kritisch eingestellt und zogen eine Politik der Prävention und Regulation vor, welche vor allem die Sozialdemokratie begünstigte.71

3. Die Industriellen: Motor oder Hemmschuh der Sozialgesetzgebung? Die frühe Sozialgesetzgebung nahm nicht nur Praktiken und Traditionen der Arbeiterschaft in sich auf. Auch von den Milieus der Großindustrie erhielt sie wichtige Impulse. Die Nationalliberale Partei, der einige Vertreter der Großindustrie angehörten, hatte im Reichstag den Gesetzen zugestimmt.72 Diese Unterstützung seitens eines Teils der Arbeitgeberschaft hatte einen widersprüchlichen Ursprung: Auf der einen Seite knüpfte sie an eine im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts entstandene Tradition des Rufs nach Staatseingriffen an. Andererseits ergab sich die Zustimmung der Industriellen aber auch aus dem Umstand, dass die erste Reichssozialgesetzgebung zu einem nicht unerheblichen Teil  von nichtstaatlichen Sozialmaßnahmen inspiriert war, die Industrielle in ihren eigenen Unternehmen umgesetzt und erprobt hatten.

70 Siehe dazu Benöhr, sowie Zur Fabrikgesetzgebung. 71 Siehe dazu Tennstedt, Sozialgeschichte, S.  190–194. Kleeis, Sozialpolitik, insbesondere S. 5–11. 72 Kieseritzky, S. 258–273.

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3.1 Die Sozialpolitik der Industriellen: zwischen privater Initiative und öffentlicher Hand Während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts plädierten in Deutschland wie im übrigen Europa industrielle Arbeitgeber für Staatsintervention, um die Folgen der sozialen Frage einzudämmen und den vermeintlichen Niedergang der Nation zu verhindern. Im Jahr 1837 stimmte der mehrheitlich liberale Landtag des Rheinlands auf Initiative des Industriellen Schuchard aus Barmen einer Vorlage zu, die eine Regulierung der Kinderarbeit verlangte und das preußische Gesetz von 1839 stark beeinflusste. Die Unternehmer Friedrich Harkort73 und Gustav Mevissen74 sprachen sich in den 1840er Jahren für entschiedene staatliche Eingriffe im Bildungswesen aus. Diese Fragen wurden im Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen erörtert, der von Unternehmern, liberalen Politikern und preußischen Beamten unter der Schirmherrschaft des Königs Friedrich Wilhelm gegründet wurde.75 Dem preußischen Beispiel folgend rief 1866 der liberale Bankier Eduard Pfeiffer unter der Schirmherrschaft von König Karl in Württemberg ebenfalls einen Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen ins Leben.76 Vereinigungen diesen Typs, in denen sich Industrielle, hohe Funktionäre und Vertreter des Bildungsbürgertums ausgehend von der sozialen Frage versammelten, entstanden in allen industrialisierten Ländern Europas.77 Sie waren zunächst eine unmittelbare Folge der ökonomischen Notwendigkeit, die Arbeiterschaft zugleich auszubilden und zu schützen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurde die Erhaltung oder die Vergrößerung der nationalen Arbeitskraft in diesen Milieus immer deutlicher als Staatsaufgabe definiert. Industrielle wie der fortschrittliche Reichstagsabgeordnete Richard Roesicke78 oder Wilhelm Oechselhäuser, der 1878 für die National­liberale Partei in den Reichstag einzog,79 traten für Gesetzesvorhaben ein, in denen die Arbeitszeit von Kindern und Frauen geregelt wurde,80 und bezweckten damit die Angleichung der unterschiedlichen Bedingungen im Staatsgebiet. Diese Industriellen, die über reiche internationale Erfahrungen verfügten81 (Oechselhäuser etwa war Mitgründer der deutschen Shakespeare-Gesellschaft), waren Teil einer breiten europäischen Strömung. Während die ersten Rufe nach Staatsinterventionen sich noch auf die Entwicklung einer den Arbeiterschutz regulierenden Gesetzgebung bezogen, setz-

73 Köllmann, S. 97. 74 Hansen, S. 106, 132, 162. 75 Reulecke, Sozialer Frieden; siehe auch ders., Anfänge. 76 Boelcke, S. 160–162, 174–175. 77 Paternalisme. 78 Siehe die Biographie von Escher. 79 Siehe die Biographie von Plaum. 80 Roesicke, insbesondere S. 17. 81 Zur internationalen Erfahrung des deutschen Unternehmertums, Kocka, Unternehmer.

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ten diese Milieus die Versicherungslösung auf die Tagesordnung.82 Im Jahr 1878 schlug der konservative saarländische Industrielle Carl Ferdinand StummHalberg dem Reichstag die Einrichtung von Zwangskassen zur Invaliditäts- und Altersversicherung vor. Der Bochumer Fabrikant und Handelskammervorsitzende Louis Baare verfasste 1880 eine Denkschrift, in der er sich für eine Unfallpflichtversicherung einsetzte, welche die Auswirkungen des Haftpflichtgesetzes von 1871 korrigieren sollte.83 Stumm-Halberg und Baare konnten dabei auf die Unterstützung des Centralverbands deutscher Industrieller84 (CDI) zählen, der auf diesem Weg seinen Einfluss auf die Regierung sicherstellen und insbesondere seine Interessen im Bereich der Zollgesetzgebung verteidigen wollte.85 Vor allem aber begrüßten die Industriellen die Zwangsversicherung, weil sie Bestimmungen und Sozialmaßnahmen in sich aufzunehmen versprach, die sie selbst bereits in ihren Unternehmen eingeführt hatten.86 Davon ausgehend schlug Stumm-Halberg 1878 die Verallgemeinerung der Knappschaftskassen vor, die einen eigenständigen Rentenfonds verwalteten. Die Industriellen plädierten damit für eine Sozialgesetzgebung, die ihre patriar­chalischen Privatinitiativen in allgemeingültige Institutionen des öffentlichen Rechts umgewandelt hätte. Ein wichtiges Forum für die Anhänger dieser patriarchalischen Tradition stellte die 1871 von Stumm-Halberg gegründete Zeitschrift Concordia dar. Nach drei Jahren Unterbrechung im Jahr 1879 von rheinischen, katholischen Industriellen wieder herausgegeben, ging ihr Einfluss schnell weit über diesen Kreis hinaus.87 In dieser Zeitschrift sowie im Arbeiter­ wohlverein, mit dem sie seit 1880 eng verknüpft war88, befürworteten Indus­ trielle vor allem private, nichtstaatliche Lösungen für die sozialen Probleme, die mit der Entstehung und Entwicklung der Großindustrie entstanden waren. Neben dem Unternehmen von Brandts, dem Präsidenten des Mönchengladbacher Arbeiterwohlvereins89, galt in diesen Kreisen zu Beginn der 1880er Jahre die christliche Fabrik von Léon Harmel im französischen Val-des-Bois als Paradebeispiel sozialer Intervention. Das moralische und materielle Leben der Arbeiter war dort im Rahmen von corporations organisiert.90 Soziale Maßnahmen der Arbeitgeber, die eine direkte, persönliche Beziehung zwischen ihnen und den Arbeitern instituierten, galten unter den Industriellen Europas als geeignetes Mittel zur Erhaltung des sozialen Friedens.91 Gemeinhin wurden sol82 Zur Unfallversicherung, siehe Moses. 83 Die Denkschrift ist abgedruckt in Quellensammlung, 1. Abteilung, 2. Bd., S. 161–170. 84 Breger, Anteil. 85 Siehe hierzu und zum folgenden: Ullmann, Industrielle Interessen. 86 Siehe hierzu und zum folgenden Breger, Haltung. 87 Die Zeitschrift hatte besonders in den protestantischen Industriellenmilieus großen Einfluss, siehe Shanahan, German Protestants, S. 388–397. 88 Siehe hierzu Ritter, E., S. 129–133, und Löhr, Arbeiterwohl. 89 Zu Brandts: ders., Fabrikordnung. 90 Trimouille. 91 In europäischer Perspektive siehe Gueslin.

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che privaten Maßnahmen als wirksamer angesehen als Eingriffe eines Staates, der von den konkreten lokalen Problemen zu weit entfernt war und deshalb für unfähig gehalten wurde, auf die einzelnen Situationen angemessen zu reagieren. Um staatliche Maßnahmen zu verhindern, machten die Arbeitgeberverbände im Übrigen reichlich Reklame mit den vermeintlichen Erfolgen ihrer privaten Sozialpolitik.92 Die Sozialgesetzgebung des Kaiserreichs entstand genau am Schnittpunkt dieser beiden widersprüchlichen Argumentationslinien: Der Staat erließ zwar Gesetze, räumte aber zugleich den Industriellen große Gestaltungsspielräume bei ihrer Umsetzung ein. Diese Spannung zeigt sich besonders im Blick auf zwei gesetzliche Regelungen: die Einrichtung der BKK im Rahmen der Kranken­ versicherung einerseits und die gesetzlichen Bestimmungen zur Unfallversicherung andererseits. 3.2 Von den Fabrikkassen zu den Betriebskrankenkassen Die Fabrikkassen standen zum Teil ebenfalls in der Tradition der Zusammenschlüsse von Handwerksgesellen. Sie lösten Kassen ab, die qualifizierte Arbeiter selbständig organisiert hatten, im Allgemeinen nur von einem Teil der Arbeiterschaft eines Unternehmens getragen wurden und sich außerdem für betriebsfremde Arbeiter öffnen konnten. Die Autonomie dieser Arbeiterkassen entsprach der privilegierten Stellung der qualifizierten Arbeiter, die aufgrund ihrer Fähigkeiten in der ersten Phase des Industriekapitalismus sehr gefragt waren. Die Arbeiterkasse wandelte sich zur Fabrikkasse, wenn der Arbeitgeber alle betriebsfremden Arbeiter ausschloss und einen Versicherungszwang mit obligatorischem Lohnabzug für alle in seiner Fabrik angestellten Arbeiter einführte. In der oftmals erfolgenden Verlegung der Verwaltung der Kasse von der Kneipe in die Fabrik bildete sich diese institutionelle Veränderung auch räumlich ab. Auch die Hilfskasse, deren wichtigste Funktion die Todesfallentschädigung blieb, tendierte zur Spezialisierung und wandelte sich zur Krankenkasse.93 Im industrialisierten Europa der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt die Kasse allgemein als erste von den Fabrikanten selbst geschaffene soziale Maßnahme. Friedrich Harkort gründete eine der ersten Fabrikkassen im Jahr 1820; Alfred Krupp richtete 1836 in seinem Unternehmen eine Kasse ein, als dort erst achtzig Arbeitnehmer beschäftigt waren.94 In Preußen trugen die Gesetze von 1849 und 1854 zur Vermehrung der Fabrikkassen bei; 1855 und 1871 wurden etwa in Mönchengladbach, einem im Westen des Ruhrgebiets gelegenen Zen92 Siehe dazu das elsässische Beispiel: Kott, Des philanthropies, insbesondere S. 499–504. 93 Zu den Fabrikkassen siehe das Beispiel der rheinischen Textilindustrie, Emsbach, S. ­577–595; zu den rheinisch-westfälischen Industriellen siehe Puppke, S. 82–166, und für Preußen insgesamt Frevert, Krankheit, S. 185–217. 94 Vossiek.

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trum der Textilindustrie, 35 Kassen gegründet. Anfang der 1870er Jahre verfügten alle großen Textilunternehmen des Rheinlands über eigene Fabrikkassen. 1877 waren im Kreis Bielefeld 77,5 % der Arbeiter Mitglied einer solchen Kasse. Allerdings war dieser Anteil in den Gebieten ohne Versicherungszwang deutlich geringer. Im Elsass, in dem das patriarchalische Modell seine vollkommenste Ausprägung fand, besaßen nur die großen Unternehmen eine Krankenkasse. Im Jahr 1883 ergab eine Untersuchung der deutschen Verwaltung, dass von den 2.460 inspizierten Fabriken des Ober-Elsass nur 49 überhaupt über soziale Einrichtungen verfügten.95 Organisation und Funktionsweise der Fabrikkassen blieben zwar der in­ dividuellen Initiative der Industriellen überlassen, bildeten aber zusammen eine Art »europäisches Modell«, das sich sehr stark von dem der Arbeiterkassen unterschied. Vor allem waren die Fabrikkassen Orte der Medikalisierung des Arbeiters. Der Arzt lieferte das Attest, das zum Erhalt von Medikamenten oder, im Fall von Invalidität, zur Auszahlung der täglichen Ersatzleistung berechtigte. Der Versicherte, der den Anordnungen des Arztes nicht genauestens Folge leistete, konnte seine Entschädigung auch wieder verlieren. Von manchen Kassen wurden zur Überwachung freiwillige Kontrolleure herangezogen, meist Arbeiter, die dem Leitungsausschuss angehörten. Der Anteil der für die medizinische Behandlung aufgebrachten Ausgaben war überall hoch. In der Krankenkasse der Fabrik Herzog bei Colmar lag diese Summe zwischen 1870 und 1876 regelmäßig höher als die der täglichen Ersatzleistungen. Die große Bedeutung, die der direkten medizinischen Funktion der Kassen von den Industriellen beigemessen wurde, erklärt auch den Umstand, dass sie den Arzt oft auf eigene Kosten selbst anstellten. Die Beiträge wurden meist als Prozentsatz vom Lohn kalkuliert und variierten von einer Industriebranche zur anderen. Lagen sie in der Textilindustrie bei 1 bis 1,5 %, konnten sie in der Metallindustrie leicht 2 bis 3 % erreichen. Wo die Gesetzgebung ihn nicht dazu zwang, enthielt sich der Arbeitgeber meist der Beitragszahlung. In der Bremer Juteindustrie waren nur die Arbeiter zur Abgabe von 1,5 % ihres Lohns verpflichtet.96 Im Elsass erklärten die Industriellen 1878, dass sie regelmäßig nur einen Betrag in die Krankenkassen einzahlten, der in der Höhe dem Bußgeld entsprach, das Arbeiter im Fall von Verstößen gegen die Kassensatzung zu zahlen hatten. Allerdings kamen im Elsass wie im übrigen Deutschland Spenden hinzu, die die Defizite ausglichen. Stets als freiwilliges Zeichen für das Wohlwollen des Arbeitgebers dargestellt, waren diese Spenden wichtig für die ökonomische Stabilität der Kasse. Im Unternehmen Herzog wuchsen die Spenden zwischen 1870 und 1876 unablässig und beliefen sich im Jahr 1876 auf ungefähr die Hälfte der regulären Kassenbeiträge. Die Fabrikkasse erfüllte folglich die doppelte Funktion, zugleich soziale Bindung zu erzeugen und die Arbeiterschaft zu kontrollieren. Zu Beginn der 95 AD BR AL 87.4430. 96 Siehe dazu über den elsässischen Fall Grad. Zu Bremen siehe Ellerkamp, S. 199–200.

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Industrialisierung konnte der Ausnahmecharakter dieser Kassen begehrte Facharbeiter anlocken. Dank der Einführung einer mehr oder weniger langen Karenzphase wirkten sie auch der Fluktuation der Arbeiterschaft entgegen. Die systematische ärztliche Musterung bei der Einstellung ermöglichte den Unternehmern eine Auslese unter den Arbeitern. Insbesondere in Wirtschaftskrisen konnte so auf die Medizinalakten der Fabrikkassen zurückgegriffen werden, um die am wenigsten robusten Arbeiter für die Entlassung auszuwählen. Auch dies erklärt, warum die Arbeitgeber sich jeder staatlichen Intervention in die Fabrikkassen heftig widersetzten und das Gesetz von 1883 generell begrüßten. Denn die von diesem Gesetz eingeführten Betriebskrankenkassen (BKK) lösten zwar die Fabrikkassen ab, übernahmen jedoch ihre wichtigsten Charakteristika. Der Arbeitgeber sollte allein über die Gründung einer Betriebskrankenkasse entscheiden, sollte ihre Verwaltung übernehmen und konnte ihr von Rechts wegen vorstehen (KVG, § 84, Abs. 1). Wenn eine solche Kasse existierte, mussten ihr alle Arbeiter des Unternehmens beitreten. Auch die hohe Priorität der medizinischen Behandlung blieb erhalten. Folglich hatten die meisten Fabrikkassen keine Probleme, die Erlaubnis zur Umwandlung in eine Betriebskrankenkasse zu erhalten. Dazu mussten sie ihre Satzungen in der Regel nur leicht verändern. Das war besonders dann einfach, wenn ihre früheren Satzungen Leistungen gewährten, welche die vom Gesetz vorgesehenen Minimalleistungen überschritten, wie etwa im Rheinland oder im Elsass.97 Das Gesetz von 1883 begünstigte die Einrichtung von BKK auch überall dort, wo vorher keine Fabrikkassen existiert hatten. Im Jahr 1884 wurden im ganzen Reich 3.300 BKK gezählt, denen 30 % der Versicherten angehörten.98 Besonders bedeutend waren sie jedoch in Regionen mit großen Industriebetrieben und starker patriarchalischer Tradition wie im Elsass, wo 1893 von 169 BKK fast 69 % aller Zwangsversicherten und 87 % der zwangsversicherten Frauen erfasst waren.99 3.3 Die Arbeitgeber und die Unfallversicherung Der Einfluss der Arbeitgeber auf die Sozialgesetzgebung war bei der Unfallversicherung am größten; das galt für ganz Europa.100 Im Deutschen Reich mussten Arbeitgeber nach dem Haftpflichtgesetz von 1871 einem verunglückten Arbeiter hohe Entschädigungen zahlen, wenn dieser vor Gericht den Beweis der Schuld des Arbeitgebers erbringen konnte. Umgehend machten die Industriellen auf die Nachteile aufmerksam, die ihnen aus dieser Gesetzeslage erwuchsen, 97 Siehe dazu Breger, Haltung, S. 51–74. 98 Statistik des deutschen Reiches. 99 AD BR AL 71.250. 100 Tennstedt u. Winter. Siehe auch Boyer, S. 27–35. Zum Vergleich mit England siehe Hennock, Origin, S. 86–119. Für Frankreich siehe Ewald, S. 229–321 und Moses, S. 219–239.

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insbesondere auf die großen finanziellen Lasten, von denen zum Teil private Versicherungsgesellschaften profitierten. Darüber hinaus entstanden durch die Gerichtsprozesse auch Situationen, in denen die Konflikte zwischen Arbeitern und Arbeitgebern offen zu Tage traten, weshalb sie als Gefahr für die soziale Ordnung galten. Auch die stigmatisierende Wirkung der Prozesse für die Arbeitgeber und die Gleichsetzung ganzer Industriebranchen als Gefahr für Leib und Leben der Arbeiter beklagten die Industriellen. In der oben bereits erwähnten Denkschrift Louis Baares über die Unfallversicherung aus dem Jahr 1880 ist also vor allem eine Reaktion gegen das Haftpflichtgesetz von 1871 zu sehen. Die Vorschläge der Großindustrie zielten in diesem Kontext darauf ab, den sozialen Frieden im Unternehmen und in der ganzen Gesellschaft zu sichern. Dieselben Gründe führten 1867 zur Gründung der Gesellschaft zur Verhütung von Fabrikunfällen in Mülhausen.101 Dieser Verein suchte Lösungen für die Schwierigkeiten, die aus der Anwendung von §§ 1382–1386 des französischen Code Civil entstanden, nach denen ein verunglückter Arbeiter im Rahmen eines Prozesses Entschädigung erreichen konnte. Im Jahr 1865 verurteilte das Gericht von Mülhausen zum ersten Mal einen Arbeitgeber zu Entschädigungszahlungen. Zwei Jahre später verurteilte es das Unternehmen Schlumberger fils et Cie infolge eines Unfalls zur Zahlung einer Jahresrente von 200 Francs. Die Gründung der Gesellschaft zur Verhütung von Fabrikunfällen nach britischem Vorbild war demnach eine Reaktion auf diese aus Sicht der Unternehmer ungünstige Entwicklung der Rechtsprechung. Ziel war es, technische Vorkehrungen gegen Unfälle zu finden, die im Wesentlichen als Betriebsstörung wahrgenommen wurden. Dafür beschäftigte die Gesellschaft einen Inspektor, der die Unfälle aufnahm, die in den zum Verein gehörenden Unternehmen vorkamen, ihre Ursachen untersuchte und Schutzvorkehrungen entwickelte: bauliche Maßnahmen, welche die von Maschinen ausgehenden Gefahren verringern sollten, Modelle für Betriebsordnungen und Ähnliches. Dem Verein von Mülhausen gelang es, ein positiv gefärbtes Bild seiner Aktivitäten und ihrer Ergebnisse zu verbreiten und damit in Frankreich und Deutschland zur Nachahmung anzuregen. Auf diesem Weg wurde die Gesellschaft zur Verhütung von Fabrikunfällen in den Diskussionen im Vorfeld der deutschen Sozialgesetzgebung zu einer maßgeblichen Referenz. Auf freiwilliger Basis von Industriellen ins Leben gerufen, boten solche Vereinigungen der staatlichen Verwaltung einige Vorteile. Für sie entstand kein finanzieller Aufwand, da die Kosten der Inspektion von den Industriellen getragen wurden. Zusätzliche Legitimation gewann diese private Fabrikinspektion dadurch, dass sie durch Unfallverhütung zur substantiellen Minderung der Kosten beitrug: Gingen die Unfälle zurück, verringerten sich auch die an die Opfer zu entrichtenden Entschädigungssummen. Schließlich konnten die Industriellen auch die Kompetenz eines Inspektors kaum in Zweifel ziehen, den sie 101 Zu dieser Gesellschaft siehe Kott, Des philanthropies, S. 175–179, 209–218; dies., De la philanthropie, S. 187–208. Siehe auch Compte-rendu.

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selbst ausgewählt und auf eigene Rechnung angestellt hatten. Die sächsische Regierung versuchte bis ins Jahr 1872, zusammen mit Vereinen nach dem Vorbild der Mülhausener Gesellschaft die Unfallgefahren in den Fabriken zu bekämpfen. Der erste Fabrikinspektor des Landes Baden unternahm eine Studienreise ins Elsass, bevor er seine Stelle antrat. Im Jahr 1876 wurden die Industriellen von Mülhausen aufgefordert, zur Novellierung des Arbeitergesetzes Stellung zu nehmen und ihr Präsident, Auguste Dollfus, reiste auf Einladung der Regierung nach Berlin, um an den vorbereitenden Diskussionen zum Unfallversicherungsgesetz von 1884 teilzunehmen. Die Idee, Fabrikinspektion und Unfallverhütung miteinander zu verknüpfen und sie den Berufsgenossenschaften zu überlassen, gab auch wichtige An­ regungen für die beiden ersten Regierungsvorlagen zur Unfallversicherung. Wäre es nur nach Bismarck gegangen, dann wären die Funktionen einer solchen Inspektion im Rahmen eines Gesetzes über Invaliditäts- und Altersversicherung auf die Erforschung und Prävention von Berufskrankheiten (also Hygiene) ausgedehnt worden.102 Doch dieses Vorhaben stieß im Reichstag mehrheitlich auf Widerstand.103 Den Fabrikinspektor mit den Kompetenzen eines technischen Delegierten der Berufsgenossenschaften auszustatten, hätte den Sinn der Inspektion tiefgreifend verändert und sie eines Großteils ihrer sozialen Funktion beraubt. Die Abhängigkeit des Inspektors von den Arbeitgebern hätte es diesem tendenziell unmöglich gemacht, die neutrale Rolle auszufüllen, die ihm das Gesetz von 1878 zugeschrieben hatte. Auf diese gegensätzlichen Vorstellungen von Funktion und Rolle des Inspektors ging das duale Inspektions­system zurück, mit dessen Einrichtung das Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen wurde. Denn die dritte und letzte Gesetzesvorlage zur Unfallversicherung sah zwar weiterhin einen Inspektor als Beauftragten der Berufsgenossenschaften vor, beschränkte seine Kompetenzen jedoch auf die Unfallverhütung. Obwohl das Verhältnis zwischen dem Inspektor, ab 1890 dem Gewerbeaufsichtsbeamten, und dem Beauftragten präzise geregelt war – letzterer war ersterem berichtspflichtig – entwickelten sich in den Beziehungen zwischen diesen beiden Instanzen zahlreiche Konflikte.104 Das Schicksal der Gesellschaft zur Verhütung von Fabrikunfällen illustriert die Schwierigkeiten sowohl des dualen Aufsichtssystems als auch jene der Aufrechterhaltung einer traditionellen, unternehmerischen Sozialpolitik gegenüber der staatlichen Gesetzgebung sehr gut. In einer ersten Phase konnten sich ihre Aktivitäten im gesetzlichen Rahmen bewegen, ohne Anstoß zu nehmen. Auf der Grundlage eines Abkommens mit den elsässischen Berufsgenossenschaften besorgte die Gesellschaft in dieser Phase die vom Gesetz von 1884 vorgesehenen Inspektionen. Doch die erstmalige Umsetzung der gesetzlich vorgeschrie-

102 Siehe zu diesen Diskussionen Eghigian, S. 25–67. 103 Poerschke, S. 90–104. 104 Siehe hierzu Simons.

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benen Zwangsinspektion im Jahr 1889 – den Industriellen war es gelungen, ihre Einführung im Reichsland zu verzögern – veränderte die Lage. Die Industriellen weigerten sich, den Forderungen des Inspektors nachzukommen, bezeichneten ihn als »Agenten« des preußischen Staates und bezichtigten ihn der Inkompetenz. Sie zogen es vor, sich an die Anordnungen und Empfehlungen des Beauftragten (und Inspektor der Gesellschaft zur Verhütung von Fabrikunfällen) zu halten. Der Konflikt gipfelte im Jahr 1896 und wurde teilweise erst durch die Auflösung der Gesellschaft beigelegt.105 Dass die Industriellen für die Einführung von Zwangsarbeiterversicherungen eingetreten sind106, ergab sich folglich aus ihren eigenen ökonomischen, sozialen und politischen Interessen. Freilich dämpften diese Interessen gleichzeitig auch ihren Ruf nach staatlicher Intervention. Dieselben Männer, die in den 1870er Jahren am lautstärksten für die Eingriffe des Gesetzgebers eintraten, konnten deshalb wenig überraschend in den 1890er Jahren zu seinen hartnäckigsten Gegnern zählen. Baare sprach im Jahr 1890 bei Bödiker, dem Präsidenten des RVA vor, und machte deutlich, dass der weitere Ausbau der Sozialgesetzgebung für die Industrie eine unerträgliche Belastung darstelle.107 Stumm-Halberg führte nach 1895 im Reichstag eine aggressive Kampagne gegen den Verein für Socialpolitik (VSP), den er als Hauptverbündeten der Sozialdemokratie in Misskredit zu bringen versuchte.108

Epilog: Vom deutschen Sonderweg zum transnationalen Wissensaustausch Die vorstehenden Ausführungen haben die tiefe Verwurzelung der ersten deutschen Sozialgesetzgebung in vielfältigen, teils traditionellen, teils örtlich abgegrenzten sozialen Praktiken aufgewiesen. Damit soll der innovative Charakter dieser Gesetzgebung keineswegs in Abrede gestellt werden. Die Einführung des Versicherungszwangs erlaubte es, bereits weithin verbreitete, aber im Einzelnen noch recht verstreute Praktiken neu zu ordnen und in einen allgemeineren, übergreifenden Zusammenhang zu stellen sowie neue Rechte zu übertragen. Weiter unten wird zu erkennen sein, auf welche Weise die Versicherungsgesetzgebung dem sozialen Aushandeln und der sozialen Demokratie Räume öffnete, die vorher gefehlt hatten. 105 Kott, De la philanthropie, S. 510–511. Zur Sicht des Inspektors in VAB, 1893, S. 43. Zur Sicht der Industriellen in BSIM, 1896, S. 95–97. 106 Viele Unternehmer, und insbesondere die kleineren haben sich auch gegen die Gesetzgebung ausgesprochen. Siehe Breger Die Haltung; Ullmann, Industrielle Interessen. Für das Elsass, Kott, De la philanthropie, S.488–496. 107 Zu Baare siehe Vogel, S. 42. 108 Er ging so weit, Adolph Wagner zum Duell zu fordern. Siehe Lindenlaub, S. 57–58.

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Allerdings haben britische Liberale und französische Republikaner als auswärtige Beobachter diese Dimension der deutschen Gesetzgebung meist vernachlässigt und stattdessen den Zwangsaspekt hervorgehoben. Auf diese Weise entstand die Vorstellung eines deutschen Sonderwegs in der Sozialgesetzgebung, der auf den preußischen Autoritarismus zurückgeführt wurde. Insgesamt schwankten die französischen Beobachter zwischen Bewunde­ rung, Besorgtheit und offener Feindschaft.109 Insbesondere Republikaner interpretierten die Sozialgesetze der 1880er Jahre jedoch dezidiert als Ausdruck einer autoritären und korporativen deutschen Gesellschaft. Im Jahr 1889 äußerte sich Emil Cheysson, Statistiker und ehemaliger Direktor der Stahlwerke von Le Creusot, Republikaner und überzeugter Mutualist, ganz in diesem Sinn: »Der germanischen Rasse die autoritäre Lösung auf Grundlage des Staatssozialismus, der lateinischen Rasse die liberale Lösung auf Grundlage des Teilens und der Freiheit.«110 Die republikanische Kritik an der deutschen Sozialversicherung bezog sich auch auf eine vermeintliche politische »Rückständigkeit« Deutschlands. Im Jahr 1890 konnte man anlässlich der Eröffnung der Internationalen Sozialpolitikkonferenz in Berlin in der liberalen Tageszeitung Le Temps lesen: »Der Staatssozialismus ist die jüngste Entwicklungsstufe des Feudalismus. Feudale Schutzrechte gehen vom Lehnsherrn auf das ergebene Volk über (…).«111 Mit ähnlich feindseligen Äußerungen bedachten auch britische Beobachter die Zwangsversicherung nach deutschem Vorbild.112 Dieselben stereotypen Vorstellungen haben in den Typologien des Sozialstaats bis heute überdauert. Natürlich unterschieden sich die Sozialgesetze im Hinblick auf ihre Merkmale und den Zeitpunkt ihrer Einführung mehr oder weniger deutlich.113 Obwohl oft der Vergleich mit England gezogen wurde, scheinen doch die Divergenzen zur Situation in Frankreich größer gewesen zu sein. In der Dritten Republik fiel die Entscheidung gegen die Versicherung und zugunsten der Ausarbeitung einer »republikanischen Sozialhilfe«, der assistance, deren drei Säulen die Gesetze von 1893 (ärztliche Hilfe), 1905 (Behindertenhilfe) und 1911 (Mutterschutz) bildeten. Sozialhilfe galt ihren Fürsprechern als die einzig republikanische Lösung, da alle französischen Bürger unabhängig von ihrem Beruf zugleich Beitragszahler und Leistungsempfänger waren. Flankiert wurde sie, als Ausdruck der individuellen Selbstbestimmung, von freiwilligen Gegenseitigkeitskassen (caisses mutuelles).114 Das erste französische Versicherungsgesetz, die »Arbeiter- und Bauernrente« (retraites ouvrières et paysannes), das im Jahr 1910 nach zehnjähriger Debatte verabschiedet und nie umgesetzt wurde, führte diese Besonderheit fort. Im Gegensatz zur deutschen Sozialgesetzgebung und 109 Mitchell, S. 64–67. 110 Cheysson. 111 Le Temps v. 16.3.1890, S. 2. 112 Hennock, Reform. 113 Siehe hierzu die Schlussfolgerungen von ders., Origin. 114 Siehe Bec.

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besonders gegenüber dem Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz (IVG) von 1889 begründete in Frankreich nicht die Erwerbsarbeit, sondern die Staatsbürgerschaft einen Anspruch auf Leistungen. Während im Mittelpunkt der deutschen Gesetzgebung die Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit stand, deckte das französische Recht nur das Alter (ab dem 65. Lebensjahr) mit Sozialleistungen ab.115 Diese Beispiele unterstreichen, dass die Divergenzen zwischen nationalen Sozialpolitiken jenseits der sozioökonomischen und politischen Realitäten auch auf unterschiedliche Vorstellungen von Staatsbürgerschaft, sozialer Bindung und Staatlichkeit zurückgehen.116 Diesbezüglich steht außer Zweifel, dass die (teilweise vom Pietismus beeinflusste)  kameralistische Tradition in Deutschland eine wichtige Rolle gespielt hat, eine Tradition der Reform »von oben«, auf die sich die Reformer seit Lorenz von Stein ausdrücklich beriefen.117 Jenseits dieser Divergenzen schrieb sich die deutsche Versicherungsgesetzgebung in die gemeinsame Entwicklung der großen europäischen Industrieländer ein, auch wenn sie hinsichtlich einiger Aspekte als Pionier betrachtet werden kann.118 Die in diesem Kapitel identifizierten Akteure: Gemeinden, Industrielle, Handwerker und Arbeiter119 entwickelten Lösungen, die angesichts gemeinsamer Probleme konvergierten. Überall organisierte sich die Armenfürsorge neu, entwickelten Industrielle Betriebspolitiken, die ihnen eine bessere Kontrolle der Arbeiterschaft erlaubten, verstärkten und verbreiteten Gewerkschaften auf gegenseitige Unterstützung gründende Praktiken.120 Im industrialisierten Europa bildeten diese verschiedenartigen Praktiken die Fundamente der zwar durchaus unterschiedlichen, aber letztlich doch konvergierenden Sozialgesetzgebung.121 Wenn also das französische Sozialhilfegesetz von 1893 in seinem inneren Aufbau mit dem deutschen Versicherungsgesetz von 1883 wenig gemein hat, wenn die Zahl der Berechtigten in Frankreich im Vergleich sehr niedrig war (2 Millionen Leistungsempfänger in Frankreich gegen 15 Millionen Versicherte in Deutschland im Jahr 1914), so hatte es doch im Zusammenwirken mit den »Gegenseitigkeitsgesellschaften« (mutuelles) Anteil an einem Prozess der Medikalisierung des einfachen Volkes, den im Deutschen Reich in ganz ähnlicher Weise das Krankenversicherungsgesetz in Gang setzte. Jenseits dieser systembedingten Konvergenzen ist auch auf die Bedeutung der transnationalen Zirkulation von Ideen und praktischem Wissen für diese 115 Schniedewind. 116 Kott, Gemeinschaft. 117 Siehe hierzu den kurzen, aber erhellenden Absatz in: Ritter, G. A., Sozialstaat, S. 67. Detaillierter dazu siehe Laborier. 118 Zum Vergleich der Versicherungssysteme in Europa siehe die zahlreichen Artikel in MIRE. 119 Für andere Länder wie Frankreich, England und die Schweiz müssen noch private Versicherer hinzugezählt werden. Für Frankreich siehe Gibaud. 120 Siehe hierzu Dreyfus u. a., Les bases. Siehe auch die Beiträge in ders. u. a., Démocratie. 121 Zur Frage der Konvergenzen generell: Bennett, sowie mit stärkerem Bezug auf das Soziale, Kaelble, Sozialmodell.

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Annäherungen hinzuweisen, die von mehreren Akteursgruppen getragen wurden. Der Sozialkatholizismus war bereits vor der päpstlichen Enzyklika Rerum Novarum von 1891 eine internationale Bewegung.122 Die protestantischen Netzwerke spielten, auch wenn sie weniger exponiert und institutionalisiert waren, für den Austausch zwischen Europa und den Vereinigten Staaten eine wichtige Rolle. Auch die Arbeiterbewegung begünstigte im Zuge ihrer Internationalisierung die Verbreitung gemeinsamer Praktiken.123 Schließlich waren es einige fortgeschrittene Industrielle, die sich, beunruhigt über die Risiken des Sozialdumpings, als erste für eine internationale Sozialgesetzgebung einsetzten. Der britische Industrielle Robert Owen und vor allem der Schweizer Daniel Legrand kämpften bereits in den 1840er Jahren für internationale Gesetze zur Regelung der Kinderarbeit.124 Ein von Rechts- oder Wirtschaftsprofessoren und Verwaltungsbeamten gebildetes Milieu von Analysten und »Sozialreformexperten« war die vorantreibende und zugleich verbindende Kraft dieses Austauschs.125 Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts reisten Beobachter und Reformer zu Studienzwecken ins Ausland. Noch bevor der Pauperismus auch in Deutschland eine nicht mehr zu übersehende Realität geworden war, gab es bereits eine von der englischen Lage inspirierte Literatur.126 Ab den 1840er Jahren trafen sich diese »Experten« regelmäßig zu Kongressen127, etwas später entstanden die großen internationalen sozialpolitischen Gesellschaften.128 Die Deutschen waren in diesem Bereich besonders aktiv, etwa Ernst Engel, seit 1860 Direktor des preußischen Statistikbüros und 1872 Mitbegründer des Vereins für Socialpolitik, der auf den sozialpolitischen Kongressen zwischen 1840 und 1880 zu den drei aktivsten Teilnehmern zählte. Der Verein für Socialpolitik ist für diese doppelte Bewegung der Verwissenschaftlichung und Internationalisierung des Sozialen geradezu emblematisch.129 Gegründet von Universitätsprofessoren und hohen Verwaltungsbeamten stritten sich hier von Beginn an zwei Lager über Sinn und Ausrichtung der Maßnahmen zur Lösung der sozialen Frage sowie über die Rolle, die dem Staat dabei zukommen sollte. Der Verein verzichtete auf direkte Interventionen auf Regierungsebene und wurde stattdessen zu einem Kreis des reflektierten Austausches, dessen Einfluss sich eher indirekt auf Regierungsentscheidun122 Misner, First World War, und ders., Historiography, 123 Eine internationale Perspektive auf die Einbeziehung der Arbeiterbewegung in die Versicherung von Krankheitsrisiken bietet: Steffen, S. 18 f. 124 Follows, S. 1–9, und Alcock, S. 5 f. 125 Zur Bedeutung der Expertise für die Sozialpolitik siehe Rueschemeyer u. Skocpol. Eine Soziographie dieses Milieus bietet: Topalov, insbesondere der Schlussaufsatz, S. 419–59. Aus nordamerikanischer Perspektive siehe Rodgers, Atlantic, S. 77–111. 126 Reulecke, Englische Sozialpolitik. 127 Leonards u. Randeraad. 128 Gregarek. 129 Lindenlaub, S. 1–7; Eisffeld, S. 17–23.

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gen auswirkte.130 Die jährlich in der Schriftenreihe des Vereins für Socialpolitik veröffentlichen Untersuchungen galten unumstritten als Standardwerke zur sozialen Frage und ihren vielen Facetten. Sie dienten den politischen Parteien bei der Ausarbeitung ihrer Programme und der Ministerialverwaltung bei der Umsetzung der Sozialpolitik als Grundlage. Theodor Lohmann, der als Referent im Reichsamt des Inneren die Regierungsvorlagen zur Kranken- und zur Unfallversicherung ausarbeitete, ist vermutlich durch die Schriften der beiden wichtigsten Ökonomen des Vereins beeinflusst worden, mit denen er in direktem Kontakt stand: Adolph Wagner und Gustav Schmoller. Bismarck schickte 1872 seinen engen Mitarbeiter Hermann Wagener zur Versammlung des Vereins für Socialpolitik in Eisenach.131 Neben seiner Bedeutung für Deutschland selbst spielte der Verein aber auch eine zentrale Rolle für den Austausch mit Sozialreformern im Ausland. Die Ökonomen Lujo Brentano und Gustav Schmoller standen in Kontakt mit den Mitgliedern der Fabian Society in London.132 Beziehungen bestanden außerdem zu den Sozialreformern des 1894 in Paris gegründeten Musée social, das wie der Verein für Socialpolitik ein Ort sowohl der Konstruktion sozialen Wissens als auch der Ausarbeitung von sozialpolitischen Programmen war.133 Die Veröffentlichungen des Vereins zeugen ebenfalls von dem Interesse, das seine Mitglieder der sozialen Wirklichkeit und den Reformerfahrungen anderer Länder – besonders Österreich, Frankreich und England – entgegenbrachten. Diese bilateralen Austauschbeziehungen internationalisierten sich schrittweise und bildeten Institutionen aus, wie etwa anlässlich der Sozialökonomischen Sektion der Weltausstellung von 1889. Die Gründung der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz im Jahr 1900 stellte den vorläufigen Höhe­punkt dieser Entwicklung dar. Ihre deutsche Sektion, die Gesellschaft für Sozial­reform (GSR), war die aktivste unter den nationalen Mitgliedsverbänden und ein wesentliches Instrument der internationalen Außenwirkung der deutschen Sozialpolitik.

130 Siehe hierzu Wittrock. Wahrscheinlich durch eigene Erfahrungen beeinflusst vertrat Witttrock die pessimistische These, dass die von Schmoller vorangetriebene Kompromiss­ politik verhindert habe, dass der VSP in der Ausarbeitung der Bismarckschen Sozialpolitik eine tragende Rolle spielen konnte. Insbesondere wies er darauf hin, dass keiner von Bismarcks Mitarbeitern auf dem Gebiet der Sozialpolitik Mitglied des Vereins gewesen sei. 131 Siehe hierzu Plessen, S. 83–87. 132 Rueschemeyer u. Van Rossem. 133 Zum Musée social, siehe Horne.

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Kapitel 2 Die Wende der 1890er Jahre: eine zwiespältige Modernisierung

Mit dem Gesetz von 1889 betrat die Sozialgesetzgebung Neuland. Während die Krankenversicherung und die Unfallversicherung in vielen Punkten an Vorläuferpraktiken anknüpften, stellten die nachfolgenden Versicherungsgesetze Innovationen dar und wiesen gemeinsame Merkmale auf, die für den Übergang zu einem vollständig umgesetzten Sozialstaat kennzeichnend sind: die Ausweitung des Kreises der Versicherten, wachsende Bürokratisierung und eine Verstärkung der staatlichen Regulierung. Diese Wende der Gesetzgebung ging zum großen Teil auf die Lehren und Erfahrungen zurück, welche die neuen professionellen Experten der Sozialpolitik in der Zusammenarbeit mit den verschiedenen sozialen Akteuren (vor allem Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden) inzwischen gesammelt hatten. Sie ergab sich aber auch aus politischen Entwicklungen an der Spitze des Staates, im Reichstag und in der Gesellschaft. Entscheidende Impulse wurden während der Phase des »neuen Kurses« gesetzt, deren Beginn mit der Amtsübernahme des Handelsministers Hans Freiherr von Berlepsch im Januar 1890 zusammenfiel. Die Politik des »neuen Kurses« fand im Reichstag die Unterstützung eines von Abgeordneten der Liberalen, der Sozialdemokraten und der Zentrumskatholiken gebildeten »Blocks«. Von Berlepsch sah sich jedoch seit 1893 insbesondere dem Widerstand des Centralverbands deutscher Industrieller (CDI) (»Ära Stumm«)1 ausgesetzt. Diese Blockade sowie der Wandel der politischen Bündnisse im Reichstag, der teilweise auf den Anstieg der Zahl der sozialdemokratischen Abgeordneten zurückging (von 35 auf 44)2, führten 1896 zu seinem Rücktritt. In der Folgezeit blieben soziale Reformen weitgehend aus, stattdessen wurden nun auf 1 Im Januar 1895 hielt der saarländische Industrielle Stumm-Halberg im Reichstag eine Rede, in der er die Sozialpolitiker heftig angriff und der Unterstützung der Sozialdemokratie bezichtigte. Im April 1896 attackierte er den VSP in einer Rede mit dem Titel »Kathedersozialisten und Straßensozialismus«. Der auch in der Presse ausgetragene Schlagabtausch nahm so heftige Formen an, dass Stumm-Halberg 1895 Adolph Wagner zum Duell forderte. 2 Bei den Reichstagswahlen von 1893 erhielt die SPD 23,2 % der Stimmen und wurde damit zur stärksten Partei, obwohl es den Konservativen und Nationalliberalen durch den Zuschnitt der Stimmbezirke gelungen war, jeweils 13 % der Stimmen zu erreichen und eine komfortable Menge an Sitzen zu behalten. Dieses Ergebnis wurde von den Gegnern der Sozialpolitik, insbesondere von Stumm-Halberg, als Beweis dafür gewertet, dass die Sozialpolitik als Gegenmittel zur Revolution wirkungslos blieb.

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parlamentarischer Ebene Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie heftig bekämpft. Die Reichsregierung brachte in dieser Phase insgesamt drei Vorlagen gegen streikende Arbeiter in den Reichstag ein. Mit der »Zuchthausvorlage« von 1899 fand diese Kampagne ihren Höhepunkt. Alle diese Vorlagen wurden vom Reichstag jedoch verworfen, und der »neue Kurs« wurde um die Jahrhundertwende vom neuen Innenminister wieder aufgenommen.3 Jenseits dieser politischen Entwicklungen war die Sozialgesetzgebung zu einem zentralen politischen Problem und zu einer wirklichen Gesellschaftsfrage geworden. Den neuen Gesetzen gingen meist lebhafte Reichstagsdebatten voraus. Ein erster Entwurf zum Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz (IVG) lag 1887 vor und wurde zwei Jahre später nach der dritten Lesung mit zwanzig Stimmen Mehrheit verabschiedet.4 Auch die Reichsversicherungsordnung (RVO) war heftig umstritten. Nachdem 1909 eine erste Vorlage gescheitert war, stimmte der Reichstag in dritter Lesung 1911 der zweiten Vorlage mehrheitlich zu. Auch die Zivilgesellschaft nahm an diesen Diskussionen regen Anteil. So kam die Angestelltenversicherung erst aufgrund ausdauernder Lobbyarbeit der Angestelltenvereinigungen zustande,5 und auch die Reichsversicherungsordnung (RVO) von 1911 war Gegenstand einer öffentlichen Debatte, an der nicht nur politische Parteien, sondern auch andere Instanzen der Zivilgesellschaft beteiligt waren. Die Sozialpolitik war zu einem politischen Thema ersten Ranges aufgerückt. Die Entwicklung der Sozialpolitik in Deutschland fügte sich auf direkte oder indirekte Weise in den allgemeineren Kontext der Entwicklungen in den großen Industrienationen ein, auch wenn das an den öffentlichen Auseinandersetzungen nicht immer deutlich zu erkennen ist. Diese Europäisierung des Problems konstituierte in Deutschland einen wichtigen Reformimpuls.

1. Die Invaliditäts- und Altersversicherung: die deutsche Antwort auf ein europäisches Problem Das am 22. Juni 1889 verabschiedete Gesetz trat 1891 in Kraft. Von Beginn an teilweise heftiger Kritik ausgesetzt, wurde es 1899 umfangreich novelliert.6 Zeitgenössische Beobachter betonten seine radikale Neuheit. Dennoch muss das Bild des »Sprungs ins Dunkel«, mit dem es so oft beschrieben wurde, hin3 Der Erfolg der Sozialdemokraten bei den Reichstagswahlen 1893 ließ darüber hinaus den Gedanken nicht mehr abwegig erscheinen, dass die Sozialpolitik der Sozialdemokratie eher nützte als schadete. Das führte mittelbar zur Sammlungspolitik Chlodwigs von HohenloheSchillingsfürst, der 1894 bis 1900 als Kanzler auf Caprivi folgte. 4 Zur Entwicklung des Gesetzes nach den Reichstagsdiskussionen siehe Landmann u. Rasp, S. 1–83. 5 Conrad, Greis, S. 257. 6 Zur Geschichte dieses Gesetzes siehe Haerendel. Siehe auch die exzellente Synthese eines Zeitgenossen: Keiner.

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terfragt werden. Alte Menschen und Invaliden waren in Europa traditionell die wichtigsten Kunden der Armenbüros, allerdings ohne in der allgemeinen Wahrnehmung eine gesonderte Kategorie darzustellen. Im Zuge der Industrialisierung wurden sie zunehmend als spezifische soziale Gruppe nicht anstellungsfähiger Personen identifiziert und ausgehend davon als spezifisches soziales Problem aufgefasst.7 Schon in den 1840er Jahren wurde in Preußen über die Einführung einer Alterspflichtversicherung diskutiert.8 Zu diesem Zeitpunkt kamen bestimmte Arbeiter, die im Dienst des Staates standen  – bei der Post, der Eisenbahn und vor allem im Bergbau – bereits in den Genuss von Altersrenten. Das garantierte dem Arbeitgeber die Loyalität seiner Arbeiter, erlaubte ihm aber auch, sie aus der Tätigkeit ausscheiden zu lassen, wenn mit zunehmendem Alter ihre Kräfte nachließen. Mit demselben Ziel hatten Industrielle in den 1870er Jahren Rentenfonds gegründet.9 Eine Untersuchung aus dem Jahre 1875 deutete allerdings darauf hin, dass zu diesem Zeitpunkt in ganz Deutschland nur 106 Alters- und Invaliditätskassen mit 39.166 Mitgliedern existierten. Diese Rentenfonds hatten oft eine unsichere finanzielle Grundlage, und die Zuteilung der Renten blieb willkürlich. Es muss deshalb festgehalten werden, dass es sich dabei nicht um ein Altersversicherungssystem handelte. Erich von Woedtke, Spezialist für Sozialpolitik im von Karl Heinrich von Boetticher geführten Reichsamt des Inneren, kann als tatsächlicher Urheber des Gesetzes von 1889 gelten. Beide waren stärker pragmatisch orientiert als Theodor Lohmann, der in der Versicherung in erster Linie ein Instrument zur Konsolidierung der Gesellschaft sah.10 Das Gesetz von 1889 erwies sich vor diesem Hintergrund anders als seine unmittelbaren Vorgänger eher als technische Lösung eines spezifischen Problems.11 Dieses dritte Gesetz unterschied sich folglich deutlich von den beiden älteren und markierte den Eintritt Deutschlands in die Ära der Sozialversicherung. 1.1 Vom Arbeiter zum Invaliden Ein erster Unterschied betraf den Kreis der Versicherten, der sich nun über die Fabrikarbeiter hinaus zunächst auf alle jene Lohnabhängigen (inklusive Angestellte) ausdehnte, deren Gehalt 2000 Mark nicht überstieg (§ 1), sowie nach einer Entscheidung des Bundesrates auf Kleinstunternehmer und unabhängige Arbeiter (§ 2), die sich sonst auch freiwillig selbst versichern konnten (§ 8). Diese Vorschrift verlieh der Alters- und Invaliditätsversicherung eine von Grund auf 7 Zu vergleichenden Aspekten siehe Conrad, Entstehung. 8 Siehe zur Entstehung des Gesetzes ders., Greis, S. 207–218 u. 234–255. Tennstedt, Napoleon. 9 Vgl. hierzu die beiden Beispiele in Conrad, Korpsgeist, und Kott, Alter. 10 Vogel, S. 114. 11 Hierin stimmen alle zeitgenössischen Beobachter überein. Siehe die Berichte der Arbeiter­ sekretariate und insbesondere Müller, A., S.  165. Zu den Verwaltungsbeamten siehe u. a. AVS, Jg. 27, 1895, S. 454–460.

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neue Bedeutung und Tragweite. Während in der Krankenversicherung die Unsicherheit der Arbeiterexistenz den Kreis der Versicherten definierte, legte das Gesetz von 1889 weiter gefasste Kriterien an: Schwache Sparkraft und die Ausübung eines Berufs, der mit hohem körperlichem Verschleiß einherging (spezifiziert vor allem für die unabhängigen Arbeiter), öffneten fortan den Zugang zur Versicherung. Der zukünftige Versicherte wurde vor allem deshalb als Arbeiter definiert, weil das Ziel der Versicherung zunächst die Entschädigung des Arbeitsunfähigen war, das heißt jedes Arbeiters, dessen Arbeitskräfte so sehr nachließen, dass es ihm nicht mehr gelang, ein für seinen Lebensunterhalt ausreichendes Einkommen zu erzielen (§ 9).12 Der letztlich verabschiedete Text sah die Entschädigung auch vorübergehender Arbeitsunfähigkeit vor, eine Möglichkeit, die 1899 noch weiter ausgebaut wurde.13 Die Einführung des Rechts auf eine Altersrente ab dem 70. Lebensjahr knüpfte an die Tradition der bereits existierenden Rentenfonds an und konnte somit auch diejenigen überzeugen, die dem Gesetz zunächst mit Ablehnung gegenüberstanden.14 Allerdings war diese Art der Entschädigung im Gesetz von 1889 zweitrangig. Der Bezug auf das Alter verschwand außerdem aus dem Titel der novellierten Fassung von 1899 – als sei das Alter in Wirklichkeit eine Art endgültige Arbeitsunfähigkeit. In der Praxis ging es meist um Invaliditätsrenten. Die Berechnung dieser Renten unterlag einer ganzen Reihe von Bedingungen, deren Komplexität nicht unerheblich zur Unbeliebtheit dieses Gesetzes beitrug. Im Gegensatz zu den anderen Versicherungen ergab sich ein Rentenanspruch nach einer Übergangsperiode (fünf Jahre für die Invalidität und dreißig Jahre für das Alter), deren Dauer durch die Novelle von 1899 verringert wurde (auf 26 Wochen für die Invalidität). Durch diese Übergangsperiode wurde es für den Versicherten sehr unwahrscheinlich, die Rentenbezüge tatsächlich zu erhalten. Um seinen Anspruch geltend zu machen, musste er bei den lokalen Behörden einen Antrag stellen und seine Quittungskarten vorlegen, auf denen die verschiedenen Arbeitgeber Wochenmarken aufgeklebt hatten (§§ 99–111) (siehe Abb. 2). Die Beiträge variierten mit der Lohnklasse (vier im Jahr 1889, fünf 1899) und wurden je zur Hälfte vom Arbeitgeber 12 Definition und Berechnungsweise des zum Lebensunterhalt notwendigen Einkommens waren im Reichstag umstritten. Die letztlich herangezogene Berechnungsgrundlage war folgende: als arbeitsunfähig galt, wer durch seine Arbeit kein Einkommen mehr erzielen konnte, das einem Sechstel des Durchschnittslohns der letzten fünf Jahre entsprach. Dieser Betrag wurde auch für die Berechnung der Versicherungsbeiträge zugrunde gelegt. Im Jahr 1899 wurde das Wort Arbeit durch Tätigkeit ersetzt. Diese Verschiebung unterstrich, dass die Lohnempfänger nicht die einzigen Begünstigten waren. Angesichts dieser Formel ist jedoch klar, dass der Arbeitsunfähige bereits deutlich in Armut geraten sein musste, bevor er eine Invaliditätsrente erhalten konnte. 13 Die Entschädigungszahlung begann mit der 27. Woche der völligen Arbeitsunfähigkeit und nicht erst nach einem vollen Jahr wie 1889. Siehe die tabellarischen Übersichten am Ende dieses Bandes. 14 Weymann, S. 39.

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Abb. 2: Die Quittungskarte von Jakob Speierer, Postagent in Griesbach (1906) (ADHR 16.536)

und zur Hälfte durch Abzug vom Lohn des Versicherten bezahlt (§ 19). Hinzu kam ab 1889 ein jährlicher Beitrag des Staates in Höhe von fünfzig Mark. Wie im Fall der beiden Vorgängergesetze wurde die Rente so kalkuliert, dass damit ein lebensnotwendiges Einkommensminimum garantiert sein sollte. Die Sozialdemokraten kritisierten allerdings, dass dieser Betrag oft niedriger war als derjenige, den die Armenhilfe gewährte. Im Jahr 1905 wurden 739.985 Invaliditätsrenten und nur 145.466 Altersrenten ausgezahlt. Das Durchschnittsalter der Rentner lag zwischen 1895 und 1913 bei 56 bis 60 Jahren.15 Die Bedeutung der Invalidität im Gesetz von 1889/1899 sowie sein Finanzierungsmodus unterschieden das deutsche Gesetz deutlich von der britischen »Alterspension« (Old Age Pension) aus dem Jahr 190816 und dem französischen »Gesetz über die Arbeiter- und Bauernrente« (loi de retraite ouvrière et paysanne) von 191017. In beiden Fällen war der Rentner Nutznießer eines allumfassenden Systems öffentlicher Unterstützung, während im deutschen Fall der Arbeiter nach Verlust seiner Arbeitskraft als Invalide betrachtet und entschä15 Nach Berechungen von Conrad, Greis, S. 335–337, der auf die methodischen Schwierigkeiten hinweist. 16 Für einen Vergleich zwischen England und Deutschland siehe Hennock, Origin, S. 212–242. 17 Zum französischen Gesetz von 1910 siehe Dumons u. Pollet. Für eine breitere Kontextua­ lisierung siehe Renard; und für einen deutsch-französischen Vergleich siehe Schniedewind.

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digt wurde. Sicher waren diese Differenzen durch unterschiedliche ökonomische und politische Konjunkturen bedingt. Der im ersten Kapitel analysierte französische Fall legt jedoch nahe, dass sie auch auf tieferliegende gesellschaftliche Divergenzen zurückgingen: Während in Deutschland Arbeit ein zentrales Strukturelement des sozialen Lebens war, stand in der Dritten Republik die Staatsbürgerschaft im Mittelpunkt.18 1.2 Die wachsende Bedeutung der Beamten in der Sozialpolitik Noch ein weiterer Aspekt unterschied das Alters- und Invaliditätsversicherungsgesetz von den früheren Gesetzen: Die Selbstverwaltung trat zu Gunsten der staatlichen Verwaltung zurück. Wie im Fall des Gesetzes von 1884 waren Organisationsfragen in den Jahren 1887–1889 und 1897–1899 am heftigsten umstritten. Die erste Vorlage der Regierung betraute die Berufsgenossenschaften mit der Verwaltung der Invaliditätsversicherung. Einige Industrielle und besonders die katholischen Arbeitgeber favorisierten diese Lösung, die den Anschein einer gemeinschaftlichen Verwaltung aufrechterhielt und den Berufsgenossenschaften ein so großes Gewicht verlieh, dass sie fast als offizielle Vertretungsorgane der Industrie hätten gelten können.19 Dieses Vorhaben stieß allerdings bei den Sozialdemokraten, Liberalen und vor allem bei den Praktikern der Versicherung (die Berufsgenossenschaften selbst übrigens eingeschlossen) auf Ablehnung. Ihren Einwänden zufolge waren diese größtenteils von ehrenamtlicher Mitarbeit getragenen Körperschaften kaum in der Lage, bedeutende Summen einzusammeln und zu verwalten – geschweige denn die komplizierte Festsetzung der Invaliditätsrente zu meistern. Dasselbe galt für die Krankenkassen.20 Für die Verwaltung der neuen Versicherung richtete man also eine neue Institution ein: die Landesversicherungsanstalt (LVA) (§§ 41–45). Diese Institution war schon im Gesetz von 1884 vorgesehen worden, um den süddeutschen Staaten entgegenzukommen, die im Reichsversicherungsamt (RVA) eine zentralistische Institution sahen, die ihre Autonomie bedrohte. Die LVA hatten im Fall der Alters- und Invaliditätsversicherung große Einzugsgebiete (Gruppierungen mehrerer Gemeinden oder ein Land). Ihr Aufbau war Sache des jeweiligen Landes. Die Versicherung entfernte sich dadurch räumlich und sozial von den Versicherten: Die Renten wurden von Amtsmitarbeitern zugeteilt, welche mit den Beitragszahlern niemals persönlich in Kontakt gekommen waren. Um diese von den Versicherten beklagte Distanz zu verringern, überließen einige Staaten (insbesondere Sachsen) die Beitragserhebung zur Alters- und Invaliditätsversiche-

18 Kott, Gemeinschaft. 19 Siehe zu diesem Argument die Stellungnahme des Arbeiterwohlverbands in Arbeiterwohl, Jg. 7, 1887, H. 4, S. 61–79; Jg. 8, 1888, H. 1, S. 1–17 und Jg. 9, 1889, H. 1, S. 1–42. 20 Siehe die Diskussion dieses Punktes in AVS, Jg. 6, 1889, H. 1, S. 1–26.

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rung lokalen Kassen. Die Einführung von (fakultativen) lokalen Rentenstellen 1899 verfolgte ebenfalls dieses Ziel. Im selben Zug verstärkte die Novelle von 1899 allerdings auch die Zentralisierung der Versicherungen durch ein System des Finanzausgleichs unter den LVA. Dadurch sollte das chronische Defizit der Anstalten in den ländlichsten Regionen mit der ältesten Bevölkerung (vor allem Ostpreußen und Oberbayern) ausgeglichen werden. Bei den reichsten LVA traf dieses Unterfangen auf Ablehnung. Gegen den Finanzausgleich wandten sie ein, dass die Stadt nicht für das Land, die Reichen nicht für die Armen zahlen sollten. Diese Argumente belegen, wie fremd den Versicherungsbeamten die Idee der Solidarität war, die das Ausgleichssystem auf recht zurückhaltende Weise einführte.21 Diese Beamten spielten in der Invaliditätsversicherung eine wesentliche Rolle, denn sie bildeten den Vorstand (§§ 46–47) und legten die Höhe der Rentenbeträge fest. Die Beitragszahler waren also in die Verwaltung der Versicherung nicht eingebunden. Das Gesetz räumte ihnen aber ein auf drei Wegen auszuübendes Kontrollrecht ein. Zunächst konnten die Statuten der LVA eine Vertretung der Versicherten und der Arbeitgeber im Vorstand vorsehen; obwohl dies bis 1899 gängige Praxis war, waren sie selten in das Verfahren der Rentenfestsetzung involviert. Wenn die Beitragszahler nicht im Vorstand vertreten waren, wurde des Weiteren von den Krankenkassendirektoren ein paritätischer Kontrollausschuss gewählt22 (§ 48). Dieser spielte bei der Annahme der Statuten der LVA eine Rolle, bei ihrer Abänderung (§ 55) sowie bei der Überwachung der Buchführung. Schließlich erlaubten die paritätischen Schiedsgerichte, die von den Ausschussmitgliedern gewählt und von einem Landesbeamten geleitet wurden, eine Kontrolle in letzter Instanz, insofern sie bei Konflikten zwischen dem Versicherten und der LVA entscheiden sollten (§ 70–74). Das Gewicht der Beitragszahler wurde auch durch die Rolle des RVA begrenzt, dessen Bedeutung sich aus der direkten finanziellen Beteiligung des Staates ableitete. Das RVA war als Kontrollinstanz der LVA vorgesehen (§§ 131– 133); deren Statuten und Rentenberechnungen mussten von ihm genehmigt werden (§§ 89–90). Analog zur Unfallversicherung war es auch die Revisionsinstanz im Konfliktfall zwischen Versicherten und LVA (§ 80). Auf diesem Weg wurde eine Rechtsprechung etabliert, von der die Anwendung des Gesetzes stark beeinflusst wurde. Die starke Position, die der Staat in der Verwaltung der Invaliditäts- und Altersversicherung einnehmen sollte, war für einen Großteil der Zentrumsabgeordneten der Hauptgrund, dieses Modell abzulehnen. Sie beriefen sich auf Prinzipien der gesellschaftlichen Selbstorganisation auf gemeinschaftlicher Basis (vor allem Franz Hitze) und stimmten gegen das Gesetz (78 Stimmen gegen bei

21 Vgl. die Einschätzung einer ländlichen LVA in Passarge, S. 17–21. 22 Anders als im Fall der Krankenkassen konnten Frauen und Ausländer nicht in diese Ausschüsse gewählt werden.

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13 Stimmen für das Gesetz).23 Andererseits stimmten die konserva­tiven Abgeordneten (Deutschkonservative wie Reichspartei) nur im Namen ihrer Verbundenheit mit dem Reich für das Gesetz (aber elf stimmten doch dagegen). Die freisinnigen (mit einer Ausnahme)  und sozialdemokratischen Abgeordneten stimmten geschlossen dagegen. In dieser Gespaltenheit drücken sich die verschiedenen Spannungen innerhalb des Gesetzes aus.

2. Ausweitung und soziale Segmentierung der Arbeiterversicherung Durch schrittweises Hinzufügen weiterer Versichertenkategorien wurde der Kreis der Anspruchsberechtigten ausgeweitet. Dieser Prozess war auch eine Folge der Entwicklung der deutschen Gesellschaft hin zu einer »Klassengesellschaft«, in der sich die verschiedenen sozialen Gruppen organisierten, um ihre Interessen besser verteidigen zu können. Allerdings trug die Sozialversicherung wiederum auch selbst zur Konstitution der sozialen Klassen bei. Die Diskussionen, die mit der sukzessiven Ausweitung der Versichertenkreise einhergingen, zeigen nicht nur die Konflikte und die Tragweite dieser gesellschaftlichen Veränderungen. Sie geben auch Aufschluss darüber, wie schwierig es für einige soziale und politische Gruppen war, sich dazu zu positionieren. 2.1 Begrenzte Öffnung der Versicherung Die Einbeziehung weiterer Staatsangestellter (Soldaten, Eisenbahner) und der Seefahrt in die Unfall- und Krankenversicherung durch die Novellen von 1885 und 1887 war noch relativ unumstritten. Auch die Einführung einer Unfallversicherung für die Landarbeiter durch das Gesetz von 1885 stieß auf keine größeren Schwierigkeiten, da sie von Landwirtschaftsverbänden verwaltet werden sollte, deren Mitgliedern sie zahlreiche Vorteile bot und so die soziale und ökonomische Stabilität auf dem Land nicht zu beeinträchtigten schien.24 Sie setzte allerdings die Krankenversicherung der Landarbeiter voraus (die Krankenkassen übernahmen die Versorgung von Verletzten während der ersten 13 Wochen), der die großen Landbesitzer und besonders die von den Konservativen und dem Zentrum unterstützten ostelbischen Junker äußerst ablehnend gegenüberstanden. Ihnen zufolge garantierten die gegenseitige Hilfe in der Familie und der Nachbarschaft sowie der Schutz, den der Herr den auf seinem Besitz Arbeitenden angedeihen ließ, eine soziale Harmonie, welche die Krankenversicherung und insbesondere die mit ihr verbundene Selbstverwaltung zerstören 23 Zur Position des Zentrums siehe: Arbeiterwohl, Jg. 19, 1899, H. 10, S. 207–219. 24 Siehe dazu Woedtke.

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würde. Das Gesetz von 1886 behielt dementsprechend den fakultativen Charakter der Krankenversicherung für Landarbeiter bei. Die Gemeinde, der Bezirk oder das Land konnten allerdings, wenn die Lebensbedingungen eines kranken Arbeiters von der Gemeinschaft nicht garantiert wurden, durch ein lokales Statut den Krankenversicherungszwang einführen. Bis 1911 waren Landarbeiter und Haushaltspersonal folglich nicht der Krankenversicherungspflicht unterworfen. Zu diesem Zeitpunkt hatten allerdings die Städte Hamburg und Lübeck, zahlreiche Gemeinden in Sachsen sowie Baden, Württemberg und einige andere kleine Länder bereits den Versicherungszwang für das Haushaltspersonal, Sachsen, Baden, Württemberg und einige weitere kleine mitteldeutsche Länder den Versicherungszwang für Landarbeiter eingeführt. In Preußen waren allerdings nur 12 % der nach dem Gesetz von 1886 unfallversicherten Landarbeiter im Jahr 1911 auch krankenversichert.25 Die Ausweitung des Versicherungszwangs auf diese sozialen Gruppen wurde von Sozialisten und Linksliberalen mit dem Argument gefordert, dass sich die Lebensbedingungen und die Lebenserwartung der Landarbeiter von denen der Arbeiter in den Städten kaum unterschieden. Anders als der Anschein, der durch das romantische Bild des ländlichen Patriarchalismus aufrechterhalten werden sollte, waren die Landarbeiter in Wirklichkeit bereits Saisonarbeiter und keine mit dem Grundbesitz verbundenen Bauern mehr. Diese Arbeiter stellten ein ausgebeutetes ländliches Proletariat dar; die Arbeiter stammten auf den von Max Weber besonders genau beschriebenen Landgütern der östlichen Provinzen oft aus den benachbarten polnischen Gebieten.26 Im Fall der Forderungen bezüglich des Haushaltspersonals ging es im Wesentlichen um eine Besser­stellung der weiblichen Angestellten, insbesondere um eine bessere medi­ zinische Versorgung der Frauen nach der Geburt.27 Die RVO von 1911 kam diesen Forderungen teilweise nach. Für Haushaltspersonal und Landarbeiter galt fortan Versicherungszwang. Allerdings boten die Landkrankenkassen niedrigere Leistungen, auch funktionierten sie nicht nach dem Modell der Selbstverwaltung. Die bei diesen Kassen versicherten Arbeiterinnen bekamen nur während der vier auf die Geburt folgenden Wochen eine Mutterschaftsentschädigung. Darüber hinaus waren auf Antrag des Arbeitgebers Ausnahmen vom Versicherungszwang möglich. Schließlich wurden die Privilegien der Gutsbesitzer auch im Rahmen der Unfallversicherung bestätigt: Im Unterschied zu den Industriellen wurden sie nicht dazu angehalten, unfallverhütende Vorschriften zu erlassen. Der Schutz, den die Sonderinteressen der großen Gutsbesitzer genossen und der mit patriarchalischen Argumenten gerechtfertigt wurde, verlängerte die Sonderbehandlung der Landarbeiter

25 Siehe Kleeis, Geschichte, S. 111–117. 26 Weber, M. 27 Zur Position der Sozialdemokraten siehe Kleeis, Sozialpolitik, S. 29, und Tennstedt, Proleten, S. 508–514.

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bis zum Ende des Kaiserreichs.28 Diese Ausnahme belegt sehr gut den fortbestehenden Einfluss traditioneller sozialer Milieus in der deutschen Gesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert. Die Geschichte der 1911 eingeführten Angestelltenversicherung dagegen steht für die Konstruktion einer neuen sozialen Gruppe. 2.2 Die Angestelltenversicherung: Konstruktion einer neuen sozialen Gruppe Die Angestellten wurden bis 1911 schrittweise in die Kranken- und Unfallversicherungen integriert. Bereits im Jahr 1907 waren 70 % von ihnen von der Invaliditätsversicherung erfasst.29 Mit ihrer Forderung nach einer eigenständigen Versicherung ging es den Angestellten zunächst um die Anerkennung ihrer spezifischen sozialen Identität. In Deutschland wie im Rest der industrialisierten Welt konstituierten sie tatsächlich eine neue Gruppe, deren Umrisse durch statistische Kategorisierung30 und soziologische Untersuchungen31 immer schärfer hervortraten. In Deutschland verzeichnete die Statistik ein rasches Anwachsen dieser Gruppe; waren im Jahr 1880 nur 1,6 % der Erwerbstätigen Angestellte, wurden 1910 bereits 6,1 % gezählt. Sie konstituierten sich als eigenständige Gruppe, die sich sozial von den Arbeitern und insbesondere den Beamten abzugrenzen suchte, mit denen sie der lange gebräuchliche Begriff des »Privatbeamten« zu vermischen tendierte.32 Mehr als in anderen Ländern hoben sich die deutschen Angestellten tatsächlich durch ihre Organisationsfähigkeit von anderen Gruppen ab. Das zeigte sich in der Debatte über die Einrichtung einer eigenständigen Versicherung deutlich33. Bis zum Ende des 19.  Jahrhunderts hatten sich die gewerkschaftlichen Verbände, in denen Angestellte organisiert waren, eher gegen den Versicherungszwang ausgesprochen. Sie sahen darin eine unzulässige Gleichstellung mit dem Proletariat. Die Angestelltenverbände, die der Sozialdemokratie und den freien Gewerkschaften nahestanden, betonten dagegen seit den 1890er Jahren die Interessengemeinschaft zwischen Arbeitern und Angestellten und insis28 Zur ultrakonservativen Haltung der Gutsherren siehe die Beschlüsse der Konferenz der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften über die RVO in AVS, Jg. 25, 1908, S. 656 29 Im Jahr 1903 waren nach einer Anhebung des Betrags auf 3000 Mark 58 % der männlichen und 92 % der weiblichen Angestellten zwangsversichert und 10,7 % respektive 1,13 % machten Gebrauch von der Möglichkeit sich freiwillig zu versichern. 30 Zur Konstruktion sozialer Gruppen durch die Statistik siehe Desrosières u. Thévenot. Siehe für einen vergleichenden Ansatz Szreter. 31 Mangold. 32 Siehe dazu die Aufsätze in Kocka, Die Angestellten. Allerdings findet sich in einem Artikel, der das neue Gesetz vorstellte, immer noch der Ausdruck Privatbeamter, siehe Weltzing, Privatbeamtenversicherungsgesetz. 33 Dazu Kocka, Unternehmensverwaltung S. 513–519.

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tierten auf der Notwendigkeit, diese Gruppe in die Arbeiterversicherungen zu integrieren.34 Mehrheitlich folgten die Angestellten allerdings den Empfehlungen des Ausschusses für die Regelung der Pensions- und Hinterbliebenenversicherung der deutschen Privatangestellten, der sich im Dezember 1901 aus einem Zusammenschluss verschiedener, seit Ende der 1890er Jahre bestehender lokaler Vereinigungen gebildet hatte. Dem Beispiel einer 20 Jahre zuvor von österreichischen Verwaltungsangestellten initiierten Bewegung folgend kämpften sie für die Einführung einer speziellen Invaliditäts- und Alterspflichtversicherung. Dank unermüdlicher Lobbyarbeit bei den Reichstagsabgeordneten und den Ministerien erreichten sie 1908 die Vorlage eines Gesetzesentwurfs, der im Ausschuss und bei einem Großteil der Angestelltengewerkschaften auf Zustimmung stieß35  – trotz des Umstands, dass sich zahlreiche Sozialversicherungsexperten gegen die Einrichtung eines neuen Versicherungszweigs ausgesprochen hatten.36 Die der Sozialdemokratie nahestehenden Gewerkschaften unterstrichen ihrerseits »die Notwendigkeit einer ökonomischen und sozialen Solidarität zwischen Arbeitern und Angestellten und erheben sich gegen die Ansprüche, die die Angestellten der Arbeiterversicherung zu entziehen trachten.«37 Gegen diese Widerstände verabschiedete der Reichstag am 4. Dezember 1911 das Gesetz über die Angestelltenversicherung, deren Verwaltung einer eigenen Institution, dem Angestellten-Reichsversicherungsamt übertragen wurde. Fortan waren Angestellte, deren Jahreseinkommen unter einer Schwelle von 5000 Mark lag, dem Versicherungszwang unterworfen (etwa 1,9 Millionen Personen, davon etwa ein Viertel Frauen). Etwas höhere Beitragssätze (etwa 8 % vom Lohn), die je zur Hälfte vom Arbeitgeber und vom Angestellten gezahlt wurden, stellten ihnen Leistungen in Aussicht, die erheblich über diejenigen der Arbeiterversicherung hinausgingen. Ihre Renten lagen deutlich über dem lebensnotwendigen Minimum, weshalb der Staat sie nicht bezuschusste. Das Rentenalter wurde auf 65 Jahre festgesetzt. Witwen und Waisen genossen weitaus besseren Schutz. Vor allem konnten die Angestellten – im Unterschied zu den Arbeitern  – in den Genuss einer Berufsunfähigkeitsrente und nicht nur einer Erwerbsunfähigkeitsrente kommen. Diese Anerkennung beruflicher Kompetenzen unterstrich die Distinktionsbestrebungen der Angestellten. Die Regierung billigte auf diese Weise den Angestellten zu, was sie den Arbeitern während der Diskussionen über die RVO noch verwehrt hatte, und manifestierte so ihr Wohlwollen gegenüber einer sozialen Gruppe, die sie für besonders regierungstreu hielt. Aus den Reichstagswahlen von 1912 gingen jedoch mit 110 Sitzen und fast 35 % der Stimmen die Sozialdemokraten als stärkste Partei hervor, ein Zugewinn, der sich nur durch Stimmen aus der Mittelklasse, 34 Siehe zu diesem Punkt besonders Schmid, R. 35 Siehe hierzu Pierenkemper. 36 Siehe hierzu unter vielen anderen Stellungnahmen Düttmann, sowie Weltzing, Privatbeamtenversicherungsgesetz. 37 AVS, Jg. 25, 1908, S. 307.

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das heißt der Angestellten, erklären lässt. Dieses Ergebnis weist folglich auf die Grenzen einer solchen Klientelpolitik hin und belegt darüber hinaus, wie schwierig es war, die Sozialpolitik in der parteipolitischen Auseinandersetzung zu instrumentalisieren.

3. Die Arbeitsgesetzgebung nach 1890: eine gesamteuropäische Entwicklung Nicht nur im Hinblick auf die Sozialversicherung, auch für den Arbeiterschutz waren die 1890er Jahre ein Wendepunkt38. Die Gesetzgebung vom Beginn dieses Jahrzehnts zeichnet sich durch zwei Merkmale aus: Zum einen verstärkte sie den Schutz der Arbeiter, zum anderen errichtete sie Institutionen, die Konflikten vorbeugen und gleichzeitig Kollektivverhandlungen fördern sollten (s. u. Kap. 4). Die Sozialpolitik erhielt damit eine deutlich präventivere Ausrichtung. Gesichtspunkte der reparierenden Nachsorge traten demgegenüber in den Hintergrund. Überall in der industriellen Welt konstituierten Statistiker, Ökonomen und Sozialreformer die Lohnarbeit als soziales und politisches Problem gleichermaßen, die deutschen Reformer entsprachen mit ihrer Ausrichtung also einer allgemeinen Tendenz. Im Jahr 1869 gründete der US-Staat Massachusetts ein Bureau of Labor Statistics, das zunächst von dem Ökonomen Carroll Wright geleitet wurde, bevor er das 1885 im Federal Department of the Interior eingerichtete Bureau of Labor übernahm.39 Carroll Wrights Einfluss auf die Arbeit des 1886 in Großbritannien zum Zweck der statistischen Verdatung der Arbeitswelt gegründeten Labour Departments of the Board of Trade war ebenfalls beträchtlich. Diese und andere (schweizerische, österreichische) Erfahrungen wurden in Frankreich während der Parlamentsdebatten zitiert, die 1891 zur Einrichtung des Office du Travail führten.40 Auch die Gründung der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeitsschutz im Jahr 1900 mit Sitz in Basel, zu deren herausragenden Mitgliedern Hans Freiherr von Berlepsch zählte, bezeugt diese Internationalisierung von Fragen der Industriearbeit. Die deutsche Gesetzgebung war zwar sicherlich das Ergebnis nationaler Diskussionen mit ihren ganz eigenen Kontexten, doch sie ist ohne die Berücksichtigung dieser internationalen Konvergenzen und Verflechtungen nicht vollständig zu verstehen.

38 Dazu ausführlich Quellensammlung, 3. Abteilung, 3. Bd. 39 Brown u. Browne. 40 Siehe Lespinet-Moret, L’Office, hier besonders S. 47–50.

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3.1 Die tragenden Kräfte des »Neuen Kurses« In den 1880er Jahren waren sowohl in der politischen Debatte als auch in der auf soziale Fragen spezialisierten Literatur41 die Stimmen kaum noch zu überhören, die eine Weiterentwicklung der Arbeitsgesetzgebung forderten. Die Vorschläge stützten sich auf die Berichte der Gewerbeaufsichtsbeamten, die sich als wertvolle Quelle für Informationen über die tatsächliche Lage der Fabrikarbeiter erwiesen.42 Aber auch der Bezug auf Erfahrungen in anderen Ländern, in denen die Arbeitsgesetzgebung bereits weiter gediehen war, stellte ein wichtiges Arsenal an Argumenten dar. Ende der 1880er Jahre konstituierten drei Parteien eine Art »Block«, der sich für die Ausweitung der Arbeitsgesetzgebung einsetzte. Die Sozialisten erhoben entsprechende Forderungen seit der Verabschiedung ihres Gothaer Programms im Jahr 1875.43 Unter den Liberalen kam es zur Spaltung, als sich eine Gruppe von Sozialpolitikern sowohl vom anti-interventionistischen Credo der manchesterliberalen Linken absetzte als auch zu den Nationalliberalen auf Distanz ging, die den Großindustriellen nahestanden. Sie gründeten 1893 die Frei­sinnige Vereinigung. An die frühliberale Tradition anknüpfend sahen die Freisinnigen in sozialpolitischen Maßnahmen vor allem ein Mittel, Voraussetzungen für die Unabhängigkeit jedes Einzelnen zu schaffen und gleichzeitig die in der Gesellschaft entstehenden Konflikte zu regulieren. Sie waren folglich offen für die Einrichtung von Vermittlungsinstanzen zur Konfliktregulierung und rückten den Schutz »abhängiger« Personen – zunächst von Kindern, seit den 1880er Jahren auch von Frauen – in den Mittelpunkt ihrer Forderungen. Im Namen des sozialen Ausgleichs akzeptierten sie ein Verbot der Sonntagsarbeit. Generell bestanden sie allerdings auf der Notwendigkeit von Ausnahmen, um das wirtschaftliche Wachstum nicht zu gefährden, das ihrer Ansicht nach den Motor des sozialen Fortschritts bildete.44 Die sozialpolitisch engagierten Zentrumskatholiken wiederum forderten von der Arbeitsgesetzgebung hauptsächlich Flexibilität: Lokale »Gleichgewichte« sollten so wenig wie möglich beeinträchtigt werden. Der politische Gesamtkontext erlaubte schließlich den Beginn eines »neuen Kurses«.45 Im Juni 1888 wurde Wilhelm II. Kaiser. Stark beeinflusst von sozialkatholischen Milieus bekannte er sich zur Aussöhnung von Krone und Arbeiterschaft sowie allgemein zu den sozialen Pflichten der Monarchie. Der große Bergarbeiterstreik des Jahres 1889, in dessen Verlauf Wilhelm II. eine Abord41 Außer den bereits zitierten Artikeln siehe Elster; Cohn. 42 Poerschke, S. 120. 43 Das Gothaer Programm forderte die Festlegung eines Normalarbeitstages, die Begrenzung der Frauenarbeit und ein Verbot der Kinderarbeit, die Einrichtung einer Beaufsichtigung der Fabriken und der Heimarbeit. Zur begrifflichen Unbestimmtheit der Forderungen, siehe Marx u. Engels, S. 31 f. 44 Sieh hierzu Müller, R., S. 117–152. 45 Siehe hierzu Berlepsch, H. J., hier besonders S. 15–53.

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nung streikender Arbeiter empfing, festigte diese Vorstellungen noch. In offenem Widerspruch zu den Positionen seines Kanzlers Bismarck46 sprach er sich gegen eine Verschärfung des Sozialistengesetzes aus, das 1890 vom Reichstag nicht mehr verlängert wurde. Die beiden kaiserlichen Verordnungen vom 4. Februar 1890 kündigten eine Sozialpolitik an, die stärker am Arbeiterschutz sowie an gesellschaftlicher Aussöhnung und nationalpolitischen Gesichtspunkten ausgerichtet war.47 In derselben Perspektive ist Wilhelms Einladung von Vertretern europäischer Staaten zu einem internationalen Kongress über die Arbeitsgesetzgebung zu sehen, der vom 15. bis 29. März 1890 in Berlin stattfand und Abgesandte aus 14 Staaten versammelte. Dieser Kongress markierte letztlich auch den Beginn der politischen Vermarktung des »deutschen Modells« des Sozialstaats.48 Die auseinandergehenden Vorstellungen darüber, wie der soziale Friede aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen sei, trugen zur Entlassung Bismarcks am 19. März 1890 mit bei. Seine Ablösung durch Caprivi öffnete den Weg für den »neuen Kurs«; Freiherr von Berlepsch übernahm die Führung des Staatssekretariats für Industrie und Handel; auch Theodor Lohmann kehrte in die Regierungsverantwortung zurück, zunächst als Staatsrat, dann als Unterstaatssekretär im Innenministerium.49 Lohmann wurde erneut zur treibenden Kraft der Arbeitergesetzgebung, wovon im Übrigen die zahlreichen Ähnlichkeiten zwischen der von ihm ausgearbeiteten Vorlage von 1876 und der Novelle von 1891 zeugen. Im Reichstag konnte sich die Regierung seit den Wahlen von 1890 auf eine neue Mehrheit stützen. Konservative und Nationalliberale hatten zugunsten des Zentrums (von 98 auf 106 Sitze), der Linksliberalen (von 32 auf 66 Sitze) und der Sozialdemokraten (von 11 auf 35 Sitze) verloren. Der »neue Kurs« wurde von politischen Kräften und Denkströmungen getragen, deren Motivationen und Hintergründe stark divergierten. Während etwa Wilhelm II., beeinflusst von dem Ökonomen Adolph Wagner, in der Arbeitsgesetzgebung vor allem ein Instrument sah, mit dem die Arbeiterschaft an den Staat gebunden und die chaotische Entwicklung der Industrie reguliert werden sollte, verstanden die Liberalen sie eher als Voraussetzung für Unabhängigkeit und Gleichheit. Während Sozialpolitik für die einen als Schutz der sozialen Ordnung gegen die von der industriellen Entwicklung erzeugten Fliehkräfte gedacht wurde, stellte sie für die anderen das Feld dar, auf dem die mit der kapitalistischen Gesellschaftsform notwendig einhergehenden Konflikte ausgetragen und reguliert werden konnten.50 Für die Sozialdemokraten schließlich war die Sozialgesetzgebung hauptsächlich ein Mittel zur Verteidigung der

46 Born, Sozialpolitik, S. 20–33. 47 Siehe zu diesen Verordnungen Quellensammlung, Abteilung 2, Bd. 1, S. 511–513. 48 Zur »imperialistischen Dimension der Sozialpolitik Wilhelms II.« siehe Eley. 49 Rothfels, S. 114. 50 Barkin.

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Interessen jener sozialen Gruppe, als deren Fürsprecher sie sich verstanden: der Arbeiter. Alle diese widerstreitenden Vorstellungen gingen in die Gesetzgebung ein. 3.2 Die Ziele der Sozialgesetzgebung: Verbesserung des Arbeiterschutzes und Ausbau der Fabrikinspektion Die Ausweitung der Vorschriften von 1878 zum Arbeiterschutz war der zentrale Punkt der Novelle von 1891, die damit unmittelbar an die Empfehlungen des internationalen Kongresses in Berlin vom Vorjahr und an die Entwicklung der Gesetzgebung anderer europäischer Industrieländer anknüpfte. Das neue Gesetz wurde 1903 bezüglich der Kinderarbeit und 1908 bezüglich der Frauenarbeit noch einmal novelliert. Die Neuregelung von 1891 führte für Industrie- und Handwerksbetriebe ein Verbot der Sonntags- sowie der Feiertagsarbeit ein (GO, § 105b)  und weitete diese Vorschriften teilweise auf Handelsbetriebe aus, die nur während fünf Stunden am Vormittag arbeiteten. Des Weiteren schuf sie Rechtsgrundlagen für die Regelung der Frauenarbeit. Deren Tagesarbeitshöchstdauer wurde auf elf Stunden bzw. auf zehn Stunden vor Sonntagen und Feiertagen festgesetzt; die Novelle von 1908 reduzierte die Höchstarbeitszeit für Frauen weiter auf zehn Stunden und setzte das Arbeitsende an Tagen vor Sonn- und Feiertagen auf 17 Uhr fest. Nachtarbeit für Frauen wurde generell verboten. Für Mütter wurde eine Zwangspause von sechs Wochen nach der Geburt eingeführt; die Novelle von 1908 verlängerte den Mutterschutz noch um die zwei Wochen vor der Geburt. Die Mittagspause wurde geregelt (GO, § 137). Die Altersgrenze für Kinderarbeit wurde auf 13 Jahre festgelegt; Kinder unter 14 Jahren sollten nicht mehr als sechs Stunden am Tag arbeiten (GO, § 135). Diese Vorschriften dehnte die Novelle von 1903 auf die heimarbeitenden Kinder aus. Der Arbeitergeber sollte in seinen Werkshallen auf Gesundheit, Hygiene (Waschräume, Toiletten, Umkleideräume usw.) und Sittlichkeit achten (GO, § 120a, b, c und d). Schließlich sollten die Fabrikordnungen bestimmten Normen unterworfen sein (GO, § 134a, b). Im Gegensatz zu den Forderungen der Sozialdemokratie und des Zentrums aber wie die Regelungen in den meisten großen Industrieländern (mit Ausnahme Österreichs und Frankreichs Gesetz von 1908) schwieg sich das Gesetz allerdings über die Arbeitszeit der erwachsenen männlichen Arbeiter aus. Es sah lediglich die Möglichkeit vor, in einigen, im Nachhinein festzulegenden Branchen aus »hygienischen Gründen« eine Tageshöchstarbeitsdauer einzu­ führen (GO, § 120e). Wie in Frankreich stärkte das deutsche Gesetz die Rolle der Fabrikinspektion.51 In Gewerbeaufsichtsbeamter umgetauft, wurde das Aufgabenspektrum dieses Beamten stark ausgeweitet (GO, § 139b). Fortan sollte er die Einhaltung 51 Siehe Viet.

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der gesetzlichen Vorschriften zur Sonntagsruhe, zum Gesundheitsschutz und zur Sittlichkeit der Arbeiter und Arbeiterinnen auch in Handwerksbetrieben kontrollieren (nicht aber im Handel). Die Organisation der Aufsicht oblag zwar nach wie vor den verschiedenen Ländern, wurde in dieser Periode jedoch überall genauer definiert und deutlich ausgebaut.52 Im Jahr 1890 gab es in Preußen 18 Gewerbeaufsichtsbeamte und elf Assistenten, in Sachsen sieben Beamte und 18 Assistenten, in Bayern vier Beamte, in Württemberg zwei Beamte und zwei Assistenten, in Baden drei Beamte, in­ Elsass-Lothringen, Hamburg, Bremen, Waldeck und Pyrmont, Sachsen-Anhalt und Hessen je zwei Beamte; die übrigen Staaten beschäftigten nur je einen einzigen Beamten. Trotz der großen Fortschritte, welche die Gewerbeaufsicht seit 1878 gemacht hatte, erwies sich die Zahl der Aufsichtsbeamten als völlig unzureichend, um eine systematische Kontrolle der Betriebe zu gewährleisten. Der Inspektionsbezirk des Berliner Aufsichtsbeamten umfasste 4.315 Unternehmen. Je nach Staat wurden jährlich zwischen 22 % und 46 % der Betriebe vom zuständigen Beamten kontrolliert.53 Das Ergänzungsgesetz von 1891 versetzte der Fabrikinspektion deshalb entscheidende Impulse. Am Ende des Jahrhunderts verhalf außerdem die Erhöhung der Anzahl spezifischer Assistenten, die den Inspektor unterstützten (Frauen, Arbeiter und Ärzte), die Distanz der Gewerbeaufsichtsbeamten zu den Arbeitern und ihren Bedürfnissen zu verringern. Die Dienstvorschriften der verschiedenen Staaten sahen in den Gewerbeaufsichtsbeamten tatsächlich eher einen Berater und Vermittler als einen Polizisten. 3.3 Flexibilität und Blockaden der Arbeitsgesetzgebung – Die Rolle der Arbeitsstatistiken Die Novelle von 1891 behielt jedoch ganz im Sinn der Liberalen und Katholiken eine bemerkenswerte Flexibilität. Für viele Bereiche sah das Gesetz lediglich vor, dass kaiserliche Verordnungen oder Bundesratsentscheidungen den Geltungsbereich der Vorschriften genauer regeln sollten. Andererseits führte das Gesetz eine ganze Reihe von Ausnahmeregelungen mit entsprechenden Prüfverfahren ein, welche die Anpassung der Vorschriften an besondere Gegebenheiten er­lauben sollten. Damit war die Arbeitsgesetzgebung flexibel genug, um nicht in Widerspruch zu den Interessen der Arbeitgeber zu geraten. Diese Flexibilität war jedoch ein zweischneidiges Schwert: Diente sie in der bis 1896 anhaltenden Expansionsphase der Sozialpolitik dem Ausbau und der Weiterentwicklung der Rechtsvorschriften, entpuppte sie sich in der darauffolgenden Periode als Hindernis. Die Rolle der statistischen Untersuchungen spiegelt dies gut wider.

52 Siehe insbesondere die detaillierte Untersuchung des preußischen Falls von Karl, S. ­164–235. 53 Poerschke, S. 105–119; Schuler, Fabrikinspektion; Quarck, Fabrikinspektion.

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Nach langen Diskussionen entstand 1892 die Kommission für Arbeitsstatistik. Ein erster Vorschlag der Sozialisten hatte dazu bereits 1868 vorgelegen. Die Kommission setzte sich aus zunächst 12, später 14 Mitgliedern zusammen, die je zur Hälfte von Bundesrat und Reichstag gewählt wurden. Bis zu seiner Demission 1897 leitete Theodor Lohmann diese Kommission.54 Die Ergebnisse der statistischen Untersuchungen, die der Kanzler anforderte, trugen in Fragen, die von Entscheidungen des Bundesrates abhingen, zur Erweiterung oder Einschränkung der Rechtsvorschriften erheblich bei. Im Rahmen dieses Verfahrens wurde 1895 für Bäckereien und 1896 für Schneidereien eine Höchstgrenze für die Tagesarbeitszeit erlassen, die Geltung der entsprechenden Rechtsvorschrift also ausgeweitet. Bezüglich der Sonntagsruhe (seit 1895) und der Nachtarbeit von Frauen (seit 1892) wirkte sich die Arbeit der Kommission dagegen restriktiv aus. So ergab eine 1892 durchgeführte Untersuchung, dass von der Nachtarbeit vor allem Frauen in der oberschlesischen Stahlindustrie und der Zuckerindustrie betroffen waren; das waren etwa 13.000 der insgesamt 300.000 Beschäftigten in der deutschen Industrie. Auf Druck der einflussreichen Arbeitgeber dieser Branchen sowie auf Empfehlung der Kommission räumte der Bundesrat lange Übergangsfristen bis zur vollständigen Anwendung der neuen Vorschriften ein. Ähnliche Verfahren und Vorkehrungen verhinderten bis 1895 die allgemeine Durchsetzung der Sonntagsruhe. Die vielen Ausnahmeregelungen gaben Anlass zu heftiger Kritik und ließen berechtigte Zweifel an der Wirksamkeit des Gesetzes aufkommen. Außerdem konnten Bezirks- und Landesbehörden sowie der Bundesrat ihrerseits auf individuellen Antrag zeitlich begrenzte Ausnahmen gewähren. Solche Anträge wurden selbstredend selten abschlägig beschieden.

Zusammenfassung Die 1890er Jahre stellten in der Sozialpolitik des Kaiserreichs in jeder Hinsicht eine zwiespältige Wende dar. Einerseits wurde die Sozialpolitik breiter: Sie betraf weitaus größere Gruppen als zuvor. Mit den Diskussionen zur Alters- und Invalidenversicherung und der Entwicklung der Arbeitsgesetzgebung war der deutsche Sozialstaat Teil der gesamteuropäischen Entwicklung. Trotzdem enthüllt der Wendepunkt von 1890 einige Besonderheiten im Hinblick auf die Gesetzgebung wie auch der deutschen Gesellschaft, die sich in dieser Gesetzgebung widerspiegelt und gleichzeitig in ihr ein Organisationsprinzip findet. Zunächst wäre da das Erscheinen neuer Akteure zu nennen. Experten und Praktiker der Sozialpolitik hatten in den Diskussionen sowie in der Verwaltung der neuen Invalidenversicherung ein größeres Gewicht, was zu der 54 Vgl. hierzu Braun; Kaiserliches statistisches Amt, S. 180–182, und Zimmermann, S. 365–389.

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Ent­stehung einer neuen professionellen Gruppe der Versicherungsbeamten und einen Umorientierung der Praxis der Versicherung beitragen sollte. Die wachsende Rolle der Verwaltung, der Angestellten und Beamten ist übrigens charakteristisch für die gesamte deutsche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Die Sozialpolitik zeugt von der Fähigkeit dieser neuen Gruppe, einen Sonderstatus zu erlangen, der auf ihren organisatorischen Fähigkeiten beruhte. Auf der anderen Seite zeugen die Diskussionen über die Einbeziehung bestimmter sozialer Gruppen in das Versicherungssystem vom Einfluss konservativer Gruppen (ostelbische Junker, alter Mittelstand wie z. B. die Handwerker) auf die sozialen Vorstellungen und die politischen Entscheidungen der Regierung und einzelner Abgeordneter. Die Landarbeiter und Lehrlinge waren unter bestimmten, restriktiven Bedingungen in das Sozialversicherungssystem einbezogen, allerdings im Namen eines konservativen Gesellschaftsverständnisses, das den Gemeinschaftsgedanken betonte. Außerdem spielten die privaten Interessen der Großgrundbesitzer und der Handwerker eine Rolle. Der Fortbestand einer relativ großen Flexibilität in den gesetzlichen Bestimmungen war demnach die Folge eines spezifischen politischen und sozialen Kräfteverhältnisses, in dem konservative Gruppen, Privatinteressen und deren politische Instrumentalisierung eine wichtige Rolle spielten. Diese Tatsache erklärt zumindest teilweise die Schwierigkeiten, die bei der sozialrechtlichen Ausformung der gesetzlichen Vorschriften auftraten.

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Kapitel 3 Von der Sozialgesetzgebung zum Sozialrecht

Die ersten Sozialgesetze zeigten von Beginn an große Wirkung. Im Jahr 1886 versicherten 62 Berufsgenossenschaften 3.821.000 Personen, das heißt 8,1 % der Gesamtbevölkerung beziehungsweise 25 % der arbeitenden Bevölkerung des Deutschen Reichs. Im selben Jahr waren 4.944.212 Arbeiter (4.104.783 Männer und 839.429 Frauen) beziehungsweise 10,5 % der Reichsbevölkerung in 19.434 Krankenkassen zwangsversichert. Ab 1880 verfügten alle deutschen Staaten (außer Lübeck und Elsass-Lothringen) über mindestens einen Fabrikinspektor.1 Um die Jahrhundertwende hatte sich die Wirkung der Sozialgesetzgebung noch weiter verstärkt: Im Jahr 1902 zählte man 17,5 Millionen unfallversicherte (30 % der Gesamtbevölkerung) und 13,3 Millionen invaliditätsversicherte Personen (28 % der Gesamtbevölkerung);2 im Jahr 1911 waren außerdem 13,6 Millionen Personen krankenversichert.3 Diese trockenen Zahlen geben allerdings weder Aufschluss über den komplizierten Implementierungsprozess der Gesetze noch lassen sie die aus­ differenzierte soziale Wirklichkeit erahnen, an die sie im Alltag angepasst werden mussten. Durch einen Mangel an Kohärenz und Einheitlichkeit gestaltete sich die Umsetzung der ersten deutschen Sozialgesetze problematisch. So sollten beispielsweise die Krankenkassen in den ersten 13 Wochen die Behandlung verunglückter Arbeiter übernehmen, doch die beiden durch die Versicherung abgesicherten Bevölkerungsgruppen waren nicht deckungsgleich. Es entstand umgehend ein Wettbewerb zwischen den verschiedenen mit der Umsetzung der Sozialpolitik betrauten Institutionen. Die staatlichen Gewerbeaufsichtsbeamten und die von den Unfallversicherungen der Berufsgenossenschaften beschäftigten Inspektoren entwickelten im Hinblick auf den Arbeiterschutz stark divergierende Auffassungen.4 Die einzelnen Kranken­kassen waren in ihrer jeweiligen Entwicklung auf spezifische soziale und politische Kräfteverhältnisse angewiesen und mussten dennoch miteinander um Kundschaft konkurrieren, um ökonomisch überleben zu können. Die Schwierigkeiten bei der Umsetzung der ersten Sozialgesetze hingen zunächst mit der Umständlichkeit ihrer rechtlichen Konstruktion zusammen. Diese Komplexität war dem Umstand geschuldet, dass die Sozialgesetzgebung 1 2 3 4

Lübeck führte die Fabrikaufsicht 1886 ein, Elsass-Lothringen 1889. RAB, 1913, 12, S. 935 und Tabellen 5–7. RAB, 1904, S. 12 und Tabellen 11–12. Simons.

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keinen Bruch mit älteren Praktiken vollzog, sondern an sie anknüpfte. Einerseits hat diese Anknüpfung an alte Praktiken die schnelle und relativ einfache Umsetzung der Gesetzgebung erheblich erleichtert, aber das hat auch Widerstände begünstigt. Sie zeugen zum einen von den Spannungen, die eine sich rasch wandelnde Gesellschaft durchzogen, zum anderen resultieren sie aus Interessenkonflikten zwischen den verschiedenen, in die Sozialgesetzgebung und ihre Umsetzung einbezogenen Protagonisten: Arbeiter, Arbeitgeber, lokale Behörden und die neue Gruppe der Sozialpolitikexperten. Vor diesem Hintergrund versucht das folgende Kapitel zweierlei: Auf der einen Seite geht es um ein Verständnis dieser Widerstände und Blockaden, welche die Entwicklung und Entfaltung eines Sozialrechts bremsten, auf das sich die Leistungsberechtigten berufen konnten. Andererseits werden die Verfahren identifiziert, die es erlaubten, diese Hindernisse zu überwinden.

1. Die Unbeliebtheit der Sozialgesetze Die vollständige Anwendung der Sozialgesetze und ihrer Bestimmungen traf auf sich bisweilen wechselseitig verstärkenden Widerstand sowohl von Arbeitern als auch von Arbeitgebern, die darin eine Einmischung in bedrohte soziale und ökonomische Gleichgewichtsverhältnisse sahen und sich zur Wehr setzten. 1.1 Widerstände gegen die Arbeitergesetzgebung in den 1880er Jahren Auf die stärksten Widerstände traf bis zum Ende des Kaiserreichs die Arbeitergesetzgebung. Die Zahl der von den Fabrikinspektoren registrierten Verstöße blieb sehr hoch, so etwa in Sachsen, wo zwischen 1885 und 1889 rund 48.000 Verstöße gegen Sicherheitsvorschriften erfasst wurden. Generell verzeichneten die Aufsichtsbeamten eine starke Ablehnung auf Seiten der Arbeitgeber, die regional unterschiedlich ausgeprägt, aber stets vorhanden war. In den 1890er Jahren ging sie zwar zunächst etwas zurück, wie wenig sich an dieser Haltung allerdings grundsätzlich geändert hatte, zeigte sich in der Wirtschaftskrise um die Jahrhundertwende.5 Begründet wurde die Ablehnung von den Arbeitgebern meistens mit ökonomischen Argumenten: Die gesetzlichen Vorschriften ver­ursachten 5 Das zeigen die Berichte der Fabrikinspektion bzw. Gewerbeaufsicht, die vom Reichsamt des Innern (seit 1905 vom Statistischen Amt) mit unterschiedlichen Titeln veröffentlicht wurden: zwischen 1879 und 1891 als Amtliche Mitteilungen aus den Jahresberichten der mit der Beaufsichtigung der Fabriken betrauten Beamten, anschließend bis 1920 unter dem Titel­ Jahresberichte der Gewerbeaufsichtsbeamten und Bergbehörden. Anfänglich wurden die Berichte der einzelnen Inspektoren veröffentlicht, ab 1884 nur noch Synthesen, deren Verlässlichkeit nicht immer gegeben war. Siehe hierzu die Kritik in Quarck, Fabrikinspektion.

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hohe Kosten und wirkten sich negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie aus, da ihre Starrheit schnelle und notwendige Anpassungen an die Erfordernisse der Märkte unmöglich mache.6 Die elsässischen Industriellen warfen den staatlichen Fabrikinspektoren Unfähigkeit vor und argumentierten, dass sie selbst aufgrund ihrer größeren Nähe zur alltäglichen Realität der Betriebe viel besser in der Lage seien, über die richtige Anwendung der Gesetze zu entscheiden. Dieses Argument war von den Vertretern der Arbeitgeber bereits bei der Novellierung des Gesetzes von 1878 vorgebracht worden. Für eine flexiblere Umsetzung des Gesetzes hatten sie im Verlauf des Gesetzgebungs­ prozesses die Möglichkeit durchgesetzt, bei den lokalen Behörden Ausnahmeregelungen erwirken zu können. Bismarck und der Centralverband deutscher Industrieller hatten die Anpassungsfähigkeit der gesetzlichen Bestimmungen und die Nähe zwischen Arbeitergebern und »Vertretern des Gesetzes« im Übrigen für so wichtig erachtet, dass sie die Einführung der staatlichen Fabrikinspektion zu verhindern versucht und stattdessen für die Einführung eines von den Arbeitgebern beschäftigten und überwachten »Beauftragten« plädiert hatten.7 Häufig teilte die Arbeiterschaft die feindselige Einstellung der Arbeitgeber gegenüber den Schutzgesetzen. Gewerbeaufsichtsbeamte bemerkten immer wieder, dass bei ihrem Betreten der Werkstätten gepfiffen wurde, um illegal beschäftigte Jugendliche und Kinder zu warnen und diesen Gelegenheit zu geben, zu verschwinden. Einerseits drohte die Gesetzgebung, den Familien die Einkünfte einiger ihrer jüngeren Mitglieder zu nehmen. Neben diesem ökonomischen Aspekt gründete die Abwehrhaltung insbesondere von Vorarbeitern aber auch darin, dass die Vorschriften ihnen die Machtbefugnis über ihre Gehilfen streitig machten – oftmals ihre eigenen Kinder. So sahen sich etwa im Elsass die Arbeitgeber der Zeugdruckereien außerstande, die gesetzlichen Vorschriften in den Druckwerkstätten durchzusetzen, weil die Drucker ihre Gehilfen selbst anstellten und entlohnten. In den Spinnereien, in denen die Anknüpfer direkt den Spinnern unterstanden, herrschte dasselbe Problem.8 Die Widerstände der Vorarbeiter waren unmittelbar mit der Sorge um ihren durch die Mechanisierung bereits bedrohten Status und ihr Ansehen verbunden. Diese Sorge wurde noch dadurch verstärkt, dass mit der Funktion und der Autonomie des Vorarbeiters auch die Autorität, das Ansehen und das Bild des Vaters in Frage gestellt wurde, der seine Kinder an seinem Arbeitsplatz selbst ausbildete.9 Zwar waren der 6 Zu Baden siehe Bocks, S. 160–168. Zum Elsass siehe Kott, Des philanthropies, S. 505–512. 7 Siehe hierzu Poerschke, S. 59–104, und generell zu Bismarcks Ablehnung der Arbeitsgesetzgebung, siehe Ayaß, Arbeiterschutz, S. 400–426. 8 AD HR 25.864, AD BR AL 87.5039. 9 Noiriel, Longwy, S. 50 ff., hat gezeigt, dass das Prestige der qualifizierten Arbeiter zu einer Zeit, in der es noch keine Berufsausbildung gab, zum Großteil auf der Weitergabe ihres praktischen Wissens und von Handgriffen beruhte, deren Geheimnis nur sie selbst kannten. In den Eisenhütten ging dieses Wissen oft vom Vater auf den Sohn über. Diese auch in den Textil­druckereien von Mülhausen gängige Praxis stand am Ursprung von Erbberufen. Siehe hierzu auch Lequin, S. 222.

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Auto­nomieverlust des Vorarbeiters in der Fabrik und die Infragestellung seiner traditionellen Rolle in der Arbeiterfamilie in erster Linie eine Folge von Veränderungen der Produktionsabläufe in der Industrie. Aber die Arbeitergesetzgebung verstärkte die aufgrund dieser Veränderungen wachsenden Autonomieverluste des qualifizierten Arbeiters noch zusätzlich. 1.2 Die freie Hilfskasse: ein Ort des Widerstands? Die Entwicklung der freien Hilfskassen zeugt von ähnlichen Vorbehalten. Von Zeitgenossen und Historikern oft als eine Form der politischen Opposition aufgefasst,10 waren die Hilfskassen auf jeden Fall ein Ort, an dem die brüchig gewordene Unabhängigkeit qualifizierter Arbeiter bewahrt wurde. Diese Kassen waren besonders zahlreich in Städten wie Berlin11 und Regionen wie dem Ruhrgebiet12, in denen auch die Arbeiterbewegung stark war. Aber selbst in einer Stadt wie Hamburg, die vor der gesetzlichen Einführung der Zwangskrankenversicherung 1884 über kein lokales Statut verfügt hatte,13 verbreiteten sich diese Kassen. Dies ist vor allem als Ausdruck einer beruflichen und sozialen Identitätsbehauptung zu verstehen, die nicht immer mit einer bestimmten politischen Zugehörigkeit einherging.14 Auch in diesem Fall konnten die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitern konvergieren. So vermeldeten lokale Behörden in süddeutschen Staaten mit starker demokratischer Tradition wie Baden und Württemberg, dass die Arbeitgeber es vorzogen, Arbeiter zu beschäftigen, die bereits Mitglieder freier Kassen waren  – vor allem solcher, die den liberalen Gewerkschaften Hirsch-Dunckerscher Prägung nahestanden, um den Versicherungszwang zu umgehen.15 Auch in Regionen, die über keine ausgeprägte politische Tradition verfügten wie Mecklenburg16 oder Lippe (hier waren 79,5 % der Versicherten Mitglieder in freien Hilfskassen17), gab es zuweilen viele freie Hilfskassen. Das war hauptsächlich deshalb so, weil sie einerseits den Arbeitern erlaubten, das Sachleistungsprinzip zu umgehen,18 und andererseits den Besitzern kleinerer Betriebe die Möglichkeit boten, ihre Kassenbeiträge zu sparen und die oftmals aufwen-

10 Siehe vor allem Ayaß, Arbeiterbewegung. 11 Cayla, S. 49–50. 12 AVS, Jg. 5, 1886, S .75. 13 Tennstedt, Errichtung, S. 319. Im Jahr 1891 zahlten in Hamburg 72,9 % der Versicherten in freie Kassen ein. 14 Siehe hierzu Stollberg, Hilfskassen. Siehe für Leipzig auch AVS, Jg. 4, 1886, S. 336. Im Jahr 1885 zahlte ein Fünftel der freiwillig Versicherten in freie Kassen. 15 AVS, Jg. 2, 1884, S. 237. 16 AVS, Jg. 5, 1887, S. 381. 17 Lange, Statistik, S. 583. 18 Für den Kreis Pinneberg siehe AVS, Jg. 3, 1885, S. 408.

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digen Unterhandlungen mit der Verwaltung der Krankenkasse zu vermeiden.19 Der Umgang mit der Anmeldepflicht ist diesbezüglich erhellend: In Hamburg waren im Jahr 1885 von 15.000 meldepflichtigen Unternehmern nur 1.500 ordnungsgemäß gemeldet, und von diesen 1.500 zog sich die Hälfte wieder zurück, als sie erfuhren, dass mit der Anmeldung ein Beitragszwang verbunden war.20 1.3 Das unbeliebte »Klebegesetz« Mit der abwertenden Bezeichnung »Klebegesetz« brachten Arbeitgeber und Arbeiter ihre Ablehnung des Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetzes zum Ausdruck. Von Beginn an berichteten sowohl die LVA als auch die örtlichen Behörden, bei denen sich die Versicherten Quittungskarten besorgen mussten, über die Zurückhaltung der betroffenen Bevölkerung. Der Bürgermeister von Munster, einer von Textilindustrie geprägten Stadt im Elsass, registrierte beispielsweise im Jahr 1890 nur einen einzigen Arbeiter, der sich freiwillig zur Versicherung anmeldete.21 Die LVA Hannover berichtete 1891 über die besonderen Probleme, die mit der Versicherung der Landarbeiter verbunden waren: Die Kontrolleure mussten diese Arbeiter gezielt durch Besuche auf den Höfen aufspüren.22 Der Grund für diese schwierigen Anfänge wurde in der oftmals vollständigen Unkenntnis der gesetzlichen Vorschriften gesehen – auch bei den mit ihrer Umsetzung betrauten lokalen Behörden. Im Fall Hannovers oder Ostpreußens kam hinzu, dass soziale Strukturen und Mentalitäten dem regelmäßigen Kleben von Marken auf den Quittungskarten wenig Vorschub leisteten.23 Wie der Bürgermeister von Colmar im Jahr 1890 berichtete, ließen sich die Schwierigkeiten aber auch auf ausdrückliche Ablehnung zurückführen: »Die Arbeiter verhalten sich gegenüber der Versicherung recht kühl, da sie nicht einsehen, auch hierzu noch Beiträge zu leisten. Sie erwarten Leistungen ohne irgendetwas zahlen zu müssen.«24 So gering der Beitrag zur Invaliditäts- und Altersversicherung für sich genommen auch sein mochte, zusammen mit dem Beitrag zur Krankenversicherung stellte er praktisch eine deutliche Kürzung eines ohnehin schon geringen Arbeitslohns dar. Hinzu kam ein Legitimitätsproblem, denn während die Krankenversicherung an eigenständige Arbeitertraditionen anknüpfte, wurde die von ihnen geleisteten Invaliditäts- und Altersvorsorge von den elsässischen Industriellen als selbstloses Geschenk präsentiert. Sie stieß aber auch deshalb auf wenig Akzeptanz, weil höchst unsicher war, ob 19 Vgl. das Beispiel Sachsen in AVS, Jg. 3, 1885, S. 14. 20 Tennstedt, Errichtung, S. 319. 21 AD HR 16.520. 22 AVS, Jg. 10, 1892, S. 625–627. 23 Für Ostpreußen siehe Passarge, S. 5–7. 24 AD HR 16.520: Les ouvriers se comportent très froidement à l’égard de l’assurance car ils n’apprécient pas d’avoir à payer ici encore des cotisations et ils attendaient d’en recevoir le bienfait sans avoir à verser un sou.»

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die Beitragszahler jemals in den Genuss einer Rente kommen würden. Für den altersbedingten Renteneintritt war die perspektivisch lange Zeitspanne bis zu einer möglichen Auszahlung hinderlich für das Vertrauen der Arbeiter in die Versicherung, für eine Rente aufgrund von Arbeitsunfähigkeit wiederum waren die Kriterien äußerst eng gefasst, so dass diesbezüglich große Skepsis bestand. Hinzu kam noch, dass für die Auszahlung einer Rente weitere Voraussetzungen erfüllt sein mussten: Marken, welche die regelmäßige Einzahlung der Beiträge bestätigten, mussten auf Quittungskarten geklebt werden; die Quittungskarten mussten pünktlich ersetzt werden; die Antragsfristen für Entschädigungsleistungen waren sehr kurz. Bis zum Ersten Weltkrieg wurden tatsächlich zahlreiche Anträge allein aufgrund formaler Fehler abgelehnt. Die LVA von ElsassLothringen beschied am Vorabend des Ersten Weltkriegs noch 20 % der Anträge abschlägig; in den Anfangsjahren waren noch 30 % der Anträge allein aufgrund von Fristüberschreitungen abgelehnt worden. Schließlich war die nach der Dauer der Beitragszahlungen berechnete Rente oft so gering (zehn bis zwölf Mark im Monat), dass sie ein Überleben ohne Arbeit kaum ermöglichte. Viele, vor allem tuberkulöse Versicherte verzichteten deshalb auf ihre Rentenansprüche.25 Andere waren gezwungen, wieder Arbeit aufzunehmen.26 Die Anträge auf Beitragserstattung sind ein Zeichen für die Unbeliebtheit der Invaliditätsund Altersversicherung. Das Gesetz sah vor (§ 30), dass eine Frau ihre Versicherungsbeiträge zurückverlangen konnte, wenn sie heiratete und ihre Arbeit aufgab – unter der Bedingung freilich, dass sie mindestens fünf Jahre lang eingezahlt hatte. Sie konnte allerdings auch auf die Erstattung verzichten und versichert bleiben, indem sie einen sehr geringen Beitrag leistete. Tatsächlich wurde die Erstattung sehr oft eingefordert, obwohl sie von den zuständigen Beamten nicht unterstützt wurde (1,8 Millionen Fälle zwischen 1891 und 191027). Auch wenn trotz der geringen Höhe der erstatteten Summen (30 Mark im Durchschnitt) ökonomische Beweggründe zweifellos eine Rolle spielten, spricht diese Praxis doch vor allem für die Unbeliebtheit des Gesetzes und den Wunsch, sich der Verpflichtung zum »Kleben« zu entledigen.28 Unter den katholischen und freigewerkschaftlichen Arbeitersekretären sowie den Angestellten der Versicherungsträger war die Ablehnung dieser Erstattungsvorschrift weit verbreitet. Dass der Rentenanspruch für »einen Teller Linsengemüse«29 eingetauscht werden konnte, ließ den Eindruck entstehen, dass der Gesetzgeber selber die Versicherung für überflüssig hielt. Trotz vieler Hindernisse wurden fortwährend zahlreiche Erstattungsanträge gestellt. Zur Ablehnung der Arbeiter kam die der Arbeitgeber hinzu, die in dem Gesetz zwar eine Ursache für finanziellen Mehraufwand sahen, aber hauptsächlich den Verwaltungsaufwand kritisierten, den 25 Siehe hierzu Müller, A., S. 167. 26 Einige Fälle werden genannt in Landesversicherungsanstalt für Elsass-Lothringen, S. 56. 27 Weymann, S. 53. 28 Müller, A., S. 179–183. 29 Weymann, S. 53.

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das regelmäßige Kleben der Marken auf die Quittungskarten bedeutete, eine Kritik, die kaum verhohlen das »Klebegesetz« selbst betraf, da es in Form der Quittungskarten dem Staat Einlass in die Verwaltung der Fabrik gewährte.30 Der Widerstand von verschiedenen Seiten gegen das Gesetz bezog sich symbolisch auf die Quittungskarte und das Kleben. In dieser Prozedur manifestierte sich eine doppelte Spannung: Neben dem schwierigen Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Staat auf der einen Seite sorgte das Vorgehen andererseits auch für Konflikte zwischen den Beitragszahlern (Arbeitern und Arbeitgebern) untereinander. Trotz vieler Einzelvorschriften, mit denen das Gesetz Nachlässigkeiten der Unternehmer vorbaute (§§ 143, 147–149), verdächtigten die Beschäftigten häufig ihre Arbeitgeber, der Pflicht zum Einkleben der Marken nicht nachzukommen. In den ersten Jahren nach der Einführung der Versicherung wiesen die LVAs immer wieder auf die notwendige Regelmäßigkeit hin, mit der die Marken zu kleben waren. In Berichten der LVA Hannover ist über die vorbildliche Haltung sozialdemokratischer Arbeiter, die ihre Arbeitgeber diesbezüglich regelmäßig kontrollierten, zu lesen.31 Die Versicherten befürchteten außerdem, dass die Unternehmer die Quittungskarten als eine Art Arbeitsbuch benutzten und dort Bemerkungen eintrugen, die sich bei der Arbeitssuche negativ auswirkten. Um dieser Zweckentfremdung von vornherein entgegenzuwirken, hatten die sozialistischen Abgeordneten im Verlauf der Lesungen des Gesetzes im Reichstag durchgesetzt, dass die ursprünglich vorgesehenen Quittungsbücher, denen die gesamte Arbeitsvergangenheit eines Versicherten hätte entnommen werden können, durch Karten ersetzt wurden, die eine wesentlich kürzere Zeitspanne umfassten (maximal 47 Wochenmarken passten auf eine Karte).32 Das Gesetz sah außerdem Sanktionen für den Fall vor, dass ein Arbeitgeber Anmerkungen über den Versicherten auf der Karte eintrug; der entsprechende § 108 (193 ab 1899) wurde auf die Quittungskarten gedruckt.33 Die Berichte der Arbeitersekretäre belegen allerdings, dass es trotz dieser Vorkehrungen häufig zu Konflikten kam. Das Sozialrecht scheint an vielen Stellen eher ein Ergebnis von Ausgleichsbewegungen zwischen mehr oder weniger stark divergierenden Interessen dieser Akteure gewesen zu sein. Dieser Interessenausgleich war offensichtlich umso schwieriger zu erreichen, je weniger gesetzliche Garantien dafür in einzelnen Zweigen der Sozialversicherung bestanden.

30 Siehe hierzu vor allem AVS, Jg. 13, 1895, S. 455. 31 AVS, Jg. 12, 1894, S. 63, 269, 449, 465, 633 und 653 sowie AVS, Jg. 13, 1895, S. 454–460. 32 Benöhr. 33 Siehe die Abbildung der Quittungskarte auf S. 57.

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2. Einschränkung des Sozialrechts durch die Arbeitgeber Besonders die Betriebskrankenkassen und die Unfallversicherung bezeugen das Ungleichgewicht zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten und zeigen, auf welche Weise es den Industriellen gelang, ihre Interpretation des Gesetzes durchzusetzen und dabei die Durchsetzung der sozialen Rechte der Arbeiter zu gefährden. 2.1 Die Betriebskrankenkassen: Fortführung patriarchalischer Praktiken Aus der Betrachtung der BKK wird deutlich, wie die Arbeitgeber ihre eigenen Interessen in die gesetzliche Arbeiterversicherung durchsetzen konnten. Der Arbeitgeber entschied über die Opportunität ihrer Gründung, konnte durch den Erlass einer betriebsinternen Ordnung alle Arbeiter zur Mitgliedschaft zwingen und selbstverständlich die Leitung der Kasse übernehmen.34 Die gesetzlichen Vorschriften verpflichteten den Arbeitgeber zur Übernahme der Kassenverwaltung und begünstigten so die Vermischung der Angelegenheiten der Kasse mit denen des Betriebs.35 Die Dominanz der Arbeitgeber über die BKK wurde auch nicht durch direkte Kontrollbefugnisse der lokalen Behörden eingeschränkt, wie dies bei anderen Kassen der Fall war. Alle diese Bestimmungen machten die BKK de facto zu einer Arbeitgeberkasse. Trotz entsprechender Rechtsvorschriften war es um die Selbstverwaltung in den BKK eher schlecht bestellt. Im Elsass berichtete der mit ihrer Überwachung beauftragte Beamte, dass Generalversammlungen nur unregelmäßig oder überhaupt nicht stattfanden und dass die Leitungsausschüsse nicht erneuert wurden.36 Im Jahr 1896 stellte die Redaktion der Zeitschrift Soziale Praxis einen ähnlichen Fall in einem Braunschweiger Großbetrieb als gängige Praxis dar.37 Die Protokolle der Krankenkassenverwaltung eines weiteren Großbetriebs, der

34 Die Industriellen machten von diesem Recht überall Gebrauch. Für das Elsass siehe die Statuten der verschiedenen BKK, die von der Universitätsbibliothek Straßburg aufbewahrt werden (Abteilung Alsatica), sowie die Berichte der Kassen im AD HR 16.528–535. Für Bremen siehe Ellerkamp, S. 201–202. Siehe auch die folgenden Texte, die deutlich apologetische Züge tragen: Vossiek und Jahresbericht des Hauptverbands, 1910 und folgende Jahre, sowie Zum 25jährigen Bestehen. Siehe auch die Zeitschrift des Verbandes zur Wahrung der Interessen der deutschen Betriebskrankenkassen, die ab 1908 erschien. 35 In seinem Bericht für das Jahr 1888 stellte der mit der Inspektion der Kassen beauftragte Beamte fest, dass es in mehreren Betrieben nicht einmal Rechnungsbücher gab: AD BR AL 87.211. 36 AD BR AL 87.211. 37 SP, Jg. 2, 1896, S. 758.

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Société Alsacienne de Constructions Mécaniques (SACM),38 belegen, dass der Unternehmer, hier Léon Dardelle, die Arbeiterschaft bezüglich der Krankenversicherung in Schach halten konnte, auch wenn diese für ihre Kampfbereitschaft und Widerstandsfähigkeit bekannt war. Die Wahlprotokolle zeigen, dass die Meister im Leitungsausschuss der Kasse überrepräsentiert waren. In zahlreichen Betrieben zogen es die Vertreter der freien Gewerkschaften aus Furcht vor Repressalien vor, keine eigene Liste für die Wahlen aufzustellen.39 Der Sozialdemokratie nahestehende Arbeitersekretäre,40 Vertreter der OKK und liberale Sozialpolitiker kritisierten unablässig die »Entartung« des Gesetzes, auch wenn insbesondere letztere die BKK nicht prinzipiell ablehnten. Denn tatsächlich gab es auch positive Beispiele. So überließ etwa das Unternehmen Zeiss in Jena seinen Arbeitern die Geschäftsführung der BKK, die ihnen Leistungen gewährte, die weit über dem gesetzlich vorgeschriebenen Minimum lagen.41 Wenig erstaunlich mutet deshalb an, dass die BKK Gegenstand einer vorwiegend apologetischen Literatur aus Unternehmerkreisen waren.42 Vor allem zwei Argumente wurden hier zugunsten der BKK vorgebracht: Zum einen erlaubte sie ein stabileres Verhältnis zwischen Beitrags- und Leistungszahlungen als andere Kassen und schuf zugleich ideale Bedingungen, um gegen Simulation vorzugehen. Die BKK galt folglich als ökonomisch besonders vernünftig. Zum anderen konstituierte und festigte sie ein »ethisches Band«43 zwischen Arbeitern und Arbeitgebern und trug damit wesentlich zur gesellschaftlichen Stabilität bei. Weil sie eine übergeordnete ökonomische Rationalität mit gesellschafts­ stabilisierenden Wirkungen verknüpfte, müssten Staatsbeamte die Gründung von Betriebskassen unterstützt und begünstigt haben.44 Doch inwiefern stimmt dieses Bild mit der Realität überein? Der Reichtum der BKK ging zum einen auf die Guthaben der alten Fabrikkassen zurück, die sie gewissermaßen beerbten, und ergab sich zum anderen aus den Einsparungen, die aufgrund der Verwaltung durch die Betriebsleitung erzielt wurden. Das relative Vermögen der BKK war trotzdem nicht ausschließlich dem Wohlwollen der Unternehmer geschuldet, sondern hing auch damit zusammen, dass die in diesen Kassen versicherten Arbeiter über im Durchschnitt höhere Löhne verfügten als die bei den OKK versicherten Beschäftigten.45 Des38 Das ist im Elsass die einzige Kasse, deren Protokollregister vollständig überliefert vorgefunden wurde: AMM 18TT 4H4. 39 Tennstedt, Geschichte, S. 66. 40 Müller, A., S. 113–117. 41 SP, Jg. 6, 1900–1901, S. 917–920. 42 Genannt seien hier vor allem Behrens; Morenhoven; Vossiek; Jahresbericht der Betriebskrankenkasse, sowie Zum 25jährigen Bestehen. 43 Siehe hierzu den von Hitze stammenden Artikel im Arbeiterwohl, wiederabgedruckt in AVS, Jg. 2, 1884, S. 296–300. siehe hierzu auch AVS, Jg. 3, S 1885,. 64–65. 44 In Stuttgart verhielten sich die Behörden offenbar eher herausfordernd, siehe hierzu Tennstedt, Errichtung, S. 331. 45 Siehe hierzu vor allem den Artikel in SP, Jg. 6, 1896, S. 1366–1367.

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halb konnten die BKK im Vergleich zu anderen Kassen höhere Leistungen gewähren, als die gesetzlichen Bestimmungen vorschrieben.46 Im Jahr 1897 gewährten 61 der 173 im Elsass registrierten BKK ihren Versicherten mehr als die 13 gesetzlich vorgeschriebenen Wochen Genesungsurlaub; drei Kassen zahlten sogar zwei Drittel des Durchschnittslohns als Entschädigung (statt der gesetzlich vorgeschriebenen Hälfte). Zur gleichen Zeit garantierten nur drei der 19 OKK über die vorgeschriebenen 13 Wochen hinaus Entschädigungsleistungen, und keine einzige zahlte mehr als die Hälfte des Durchschnittslohns. Auch wenn angesichts der unterschiedlichen Statistiken Zurückhaltung gegenüber Vergleichen geboten ist, scheint doch soviel gesagt werden zu können: Die Leistungen waren im Durchschnitt pro Versichertem bei den BKK höher.47 Denn im Jahr 1897 lag in Elsass-Lothringen der Betrag der von den BKK täglich geleisteten Entschädigungszahlungen pro Krankenversichertem um 15 % über dem der OKK; bei den Kosten für medizinische Behandlung betrug die Differenz 38 %. Hatte der Anteil der Kassenbeiträge am Lohn zu Beginn bei den BKK noch höher gelegen, sank er bis zum Ersten Weltkrieg sogar unter den der OKK (1897 lag im Elsass der Anteil beider Kassenarten bei 2,6 %).48 Bei gleichem Beitragsanteil am Lohn waren die Einkünfte der BKK darum höher als die der OKK, weil die von ihnen versicherten Arbeiter besser qualifiziert und entlohnt waren. Hinter diesen Mittelwerten verbergen sich allerdings große Unterschiede, und abgesehen von einigen bekannten und als beispielhaft geltenden BKK begnügten sich zahlreiche andere mit den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestleistungen. Im Elsass, in Bremen49 oder in Berlin scheint der Umfang der Leistungen weder durch die Höhe der Beitragssummen noch die Größe der Betriebe bestimmt worden zu sein: Die vorteilhaftesten Bedingungen gewährten vielmehr solche Unternehmen, die sich auf die »philanthropische« Tradition beriefen. Je stärker sich der Unternehmer als Wohltäter der Kasse inszenierte, desto mehr konnte er sie als Auswahl- und Kontrollinstrument gegen die entschädigten Arbeiter einsetzen. Der Besitzer einer großen Textilfabrik in der unmittelbaren Umgebung von Colmar verlangte im Jahr 1895 vom Kreispräsidenten, die Kassenleistungen nach den Arbeitsleistungen der Arbeiter zu staffeln,50 ein Vorhaben, das geflissentlich darüber hinwegging, dass die Kasse eine Reihe von gesetzlichen Vorschriften einzuhalten hatte. In der Tat ließ das Gesetz jedoch 46 Siehe hierzu allgemein Behrens, besonders die Tabellen 3 (Dauer der Unterstützung), 7 (Höhe der täglichen Entschädigung) und 16 (Familienentschädigung). Eine kritische Analyse dieser Ergebnisse findet sich in SP, Jg. 2, 1896, S. 980–984. 47 Vergleiche sind allerdings mit großer Vorsicht zu ziehen, weil die betroffenen Gruppen höchst unterschiedlich waren. Siehe die Methodendiskussion anhand eines konkreten Beispiels in Cayla, S. 84–87. 48 AD BR AL 71.260. 49 Für Bremen siehe Ellerkamp, S. 206–207. 50 Diese Erlaubnis wurde ihm selbstredend vom Kreisdirektor verweigert, siehe AD HR 16.529.

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Raum für solche moralisierenden Interpretationen, insofern es Fälle vorsah, in denen Arbeitern die Entschädigungsleistungen aus moralischen Gründen verwehrt werden konnten (Alkoholismus, Schlägereien, Geschlechtskrankheiten). Sowohl Unternehmer in ihrer Funktion als Kassenvorsitzende als auch um Sparsamkeit bemühte Vorstände machten häufigen Gebrauch von den entsprechenden Vorschriften, vor allem von der Bestimmung, die Leistungsgewährung im Fall von Trunksucht ausschloss. Diese Praxis führte implizit ein moralisches Kriterium in die Entscheidung über die Leistungsgewährung ein;51 der Unternehmer wiederum konnte sich auf diese Weise auch »schlechter« Arbeiter entledigen. Dabei waren die Leistungen der BKK keineswegs nur vorgeblicher unternehmerischer Wohltätigkeit und Selbstlosigkeit zu verdanken. Das Wohlwollen des Unternehmers beruhte vielmehr darauf, dass die Kasse eine Auswahl unter den Versicherten traf, ja, sogar als regelrechtes Selektionsinstrument funktionierte. Die BKK erlaubten die Einführung einer allgemeinen ärztlichen Untersuchung bei der Neuanstellung und die Einrichtung von medizinischen Akten und Archiven. Arbeiter mit chronischen Gesundheitsschäden, allen voran die Tuberkulösen, wurden auf diese Weise aussortiert und landeten bei den OKK, die ihrerseits seit der Jahrhundertwende gegen diese »Selektion« scharf protestierten, da sie ihre Interessen verletzt sahen.52 Die Verteilung der Kassenleistungen gibt Aufschluss über die von den Industriellen in der betrieblichen Medizinalpolitik gesetzten Prioritäten. Im Elsass bevorzugten die BKK wie zuvor die Fabrikkassen die medizinische Behandlung, auf die 57 % der Leistungen entfielen, während sie bei den OKK 52 % ausmachte. Auf der anderen Seite wurden alle jene Leistungen streng begrenzt, die den Arbeiter vom Betrieb fernhielten und die Produktion störten. Die Zahl der entschädigten Krankentage lag in den BKK im Durchschnitt bei 15,8, während sie bei den OKK bei 17,7 lag.53 Arbeiter, die wegen einer Erkrankung zuhause blieben, wurden kurzerhand verdächtigt, sich Kassenleistungen zu erschleichen54; die Furcht, entlassen zu werden, sowie die geringe Höhe der gezahlten Krankengelder55 führten dazu, dass sie so schnell wie möglich an den Arbeitsplatz zurückkehrten.

51 Für mehrere elsässische Beispiele siehe AD HR 16.527 bis 16.532. 52 Siehe vor allem den Bericht über den Kongress der OKK in AVS, Jg. 26, 1908, S. 349–355. Die OKK von Mülhausen beschuldigte die Industriellen, sich vor allem in Krisen der schwachen und kranken Arbeiter zu entledigen, siehe OKM, 1900–1901. 53 St Hb 1902, S. 407. 54 In Konflikten zwischen Betriebskassendirektoren und Versicherten ging es immer um Krankengeld. Siehe hierzu AD HR 16.529 bis 16.535. 55 So wurde Philippe Geiss, Weber bei Herzog in Logelbach, nach dreimonatigem Krankenurlaub entlassen, siehe AD HR 16.529. Siehe des Weiteren die vielen Beispiele für das Elsass ebd. und für Bremen Ellerkamp, S. 218–220.

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2.2 Die Unfallversicherung: von den Arbeitgebern »privatisiert« Die Verwaltung der Unfallversicherung wurde im Rahmen von Berufsgenossenschaften organisiert, die Unternehmer derselben Branche (UVG, Art. 9) auf freiwilliger Basis (UFG, Art. 12) miteinander gründeten. Diese Art der Organisation sollte die Einteilung in berufsspezifische Risikoklassen erleichtern, hatte aber noch ein weiteres Ziel: Da die Berufsgenossenschaften von den Unternehmern selbst getragen wurden, blieben die Verwaltungskosten niedrig. Nur die Unternehmer zahlten Beiträge zur Unfallversicherung (gemäß der Risikoklasse, in die ihr Betrieb eingeordnet war) und waren folglich auch die Einzigen, die in den Verwaltungsorganen der Berufsgenossenschaften  – Generalversammlung (UVG, Art. 14) und Vorstand (UVG, Art. 22 und 23) – über Sitz und Stimme verfügten.56 Doch auf diese Weise konnte es auch geschehen, dass sich die Privatinteressen der Unternehmer mit den Interessen der Unfallversicherung vermischten. Das war der Fall, als im Oberelsass die Berufsgenossenschaften durch meistenteils ortsansässige Industrielle gegründet wurden und die Gesellschaft zur Verhütung von Fabrikunfällen mit der Unfallvorbeugung beauftragt wurde. Diese »Übernahme« ist im Fall der Sektion V der Berufsgenossenschaft Süddeutsche Eisen- und Stahlindustrie besonders eindrücklich, die von dem bereits erwähnten Mülhausener Großunternehmen SACM verwaltet wurde.57 Im Oberelsass wie im übrigen Deutschland wurde durch die tendenzielle Gleichsetzung der Versicherungsinteressen mit den Interessen der Industriellen eine ordentliche Anwendung des Gesetzes verhindert, was zur Folge hatte, dass die sozialen Rechte der Arbeiter nicht wie in dem Gesetz vorgesehen anerkannt wurden. Die Unfallmeldung stellte so für den Arbeiter die erste Etappe auf einem umständlichen und hindernisreichen Weg zur Entschädigung dar.58 Viele Unfälle wurden gar nicht erst aufgenommen, weil sich die Höhe der von den Unternehmern zu entrichtenden Beiträge nach der Anzahl der in ihrem Betrieb registrierten Unfälle richtete. Folglich hatten die Fabrikanten ein unmittelbares ökonomisches Interesse daran, die Zahl der gemeldeten Unfälle gering zu halten. Die zweite Etappe stellte die genaue Beschreibung des Unfalls, seiner Ursachen und Folgen dar. Dieser Schritt war von vornherein konfliktbehaftet59. Um gegenüber der uneingeschränkten Machtstellung der Unternehmer in den 56 Das Gesetz sah allerdings lediglich vor, dass Arbeitervertreter sich zu Sicherheitsverordnungen äußern konnten (UVG § 79). Arbeitervertreter saßen des Weiteren in den Schiedsgerichten, vor denen Arbeiter den ihnen zugemessenen Rentenbetrag anfechten konnten (UVG §§ 46–50). 57 AD BR AL 71.267. 58 Siehe hierzu besonders die jährlichen Artikel, die zunächst von Sombart, dann van der Borght und schließlich von Lange unter dem Titel »Die Statistik der Unfall- und Krankenversicherung im deutschen Reich für …« veröffentlicht wurden in: AfsG. Der erste Artikel erschien hier 1889. Dazu Eghigian, S. 67–117. 59

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Berufsgenossenschaften für ein Gegengewicht zu sorgen, sah das Gesetz zur Qualifizierung des Unfalls eine mit unterschiedlichen Akteuren besetzte Untersuchungskommission vor. Deren Mitglieder  – Arbeitgeber, Arbeiter, lokale Behörden und Gewerbeaufsichtsbeamte  – kamen häufig zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Eine Untersuchung, worin genau die Auswirkungen eines konkreten Unfalls auf den Gesundheitszustand eines Arbeiters bestanden, an dessen körperlicher Verfassung die langjährige Fabrikarbeit ohnehin Spuren hinterlassen hatte, musste fast zwangsläufig zu Streit führen. Im Gegensatz zu den Gewerbeaufsichtsbeamten tendierten die Unternehmer zu einer möglichst engen Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen. Hier erreichte das Verfahren die dritte Etappe: Die Unternehmer schlossen in der Regel aus der Berechnung der Invaliditätsrente alles aus, was als Langzeitfolge der beruflichen Tätigkeit, mithin als Berufskrankheit, gewertet werden konnte, deren Existenz sie schlicht leugneten.60 Sie vertraten den Standpunkt, dass die Rente ausschließlich von der durch den Unfall verursachten, genau zu spezifizierenden Arbeitsunfähigkeit abhängen und der Rentenbetrag dem mit dieser Arbeitsunfähigkeit verbundenen Einkommensverlust entsprechen sollte. Der Schaden, der zum Beispiel durch den Verlust eines Fingers oder eines Körperglieds entstand, wurde also im Verhältnis zu einem Erwerbsfähigkeitsideal bewertet und berechnet, das die spezielle Qualifikation des verunglückten Arbeiters gar nicht berücksichtigte. Die körperliche Beeinträchtigung bestimmte ein kassenärztliches Gutachten, das regelmäßig zu anderen Ergebnissen kam als das von der Berufsgenossenschaft in Auftrag gegebene Gegengutachten. Die Nachteile eines solchen Verfahrens vorausahnend hatte der Gesetzgeber die Möglichkeit einer Berufung bei Schiedsgerichten vorgesehen. Diese Berufungsinstanz war paritätisch mit Arbeiter- und Arbeitgeber-Vertretern besetzt und tagte unter dem Vorsitz eines Beamten. Das RVA war für solche Berufungsverfahren die letzte Instanz. In den ersten Jahren nach der Einführung des Gesetzes wurden die Schiedsgerichte allerdings selten angerufen; Berufungsverfahren, die bis an das RVA gelangten, waren noch seltener.61 Das lag vermutlich an der verbreiteten Unkenntnis dieser Möglichkeit oder auch an der Struktur der Berufungsmechanismen. In extremen Fällen wie dem der von der SACM in Mülhausen verwalteten Sektion V der süddeutschen Eisen- und Stahlindustrie wurden die von der Berufsgenossenschaft gewährten Invalidenrenten dem Präsidenten des Schiedsgerichts zufolge von den Arbeitern des Unternehmens nicht angefochten, weil sie in einem solchen Fall ihre Entlassung fürchteten.62 Trotzdem führte die weitere Entwicklung der Berufungsverfahren zu einer für die Arbeiter günstigeren Interpretation des Gesetzes.

60 Siehe hierzu Müller, A., S. 135–141. 61 Geschichte und Wirkungskreis, S. 126. 62 Bericht für 1889, siehe AD BR AL 71.276.

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3. Die Berufungsinstanzen 3.1 Die umstrittene Rolle der lokalen Behörden Die lokalen Behörden spielten bei der Umsetzung der Sozialgesetzgebung eine zentrale Rolle. Das KVG erlaubte ihnen, den Versicherungszwang durch den Erlass lokaler Satzungen auf Landarbeiter, Dienstboten, Apothekengehilfen und Heimarbeiter auszuweiten (KVG, § 2). Der Gesetzgeber ging davon aus, dass sie die örtlichen Bedingungen gut genug kannten, um die reelle Unterstützung bestimmter Gruppen von Lohnabhängigen durch die Familie, die Innungen oder die Großgrundbesitzer einschätzen zu können. Dieselben Gründe führten zur Einrichtung der OKK (KVG, § 23). Die lokalen Polizeibehörden (Bürgermeister oder Polizeidirektoren) waren für die Funktion der Unfallversicherung wichtig, da sie bei schweren Unfällen die Untersuchungskommission einberiefen (UVG, § 53), die den Unfall analysierte und so eine Grundlage für die Festlegung der Invaliditätsrenten schuf. Im Rahmen der Arbeitergesetzgebung stellten die Behörden Arbeitsbücher für jugendliche Arbeiter aus. Der Gewerbeaufsichtsbeamte, der selbst keinerlei exekutive Befugnisse hatte, hing in seiner Tätigkeit vollständig von den lokalen Behörden ab. Und schließlich waren die Behörden im Fall der Invaliditätsversicherung dafür zuständig, die Quittungskarten einzuziehen, wenn der Arbeitgeber sich weigerte, sie dem Arbeiter auszuhändigen, um ihn am Verlassen des Betriebs zu hindern, und ihm eine neue Quittungskarte auszustellen, wenn der Arbeitgeber auf ihr für den Arbeiter negative Eintragungen hinterlassen hatte. Allerdings schien ein Arbeiter in solchen Fällen nicht unbedingt auf die Unterstützung der Behörden zählen zu können. Im Gegenteil: Häufig weigerten sie sich, von den Arbeitgebern beschriftete Quittungskarten auszutauschen oder sich um die Herausgabe solcher Karten zu bemühen, die der Arbeitgeber einbehalten hatte.63 Die Verantwortlichen der OKK zeichneten in ihren Berichten kein wesentlich positiveres Bild. Sie hoben insbesondere hervor, dass die lokalen Behörden Handwerksmeistern Ausnahmen vom Versicherungszwang genehmigten, wenn diese ihre Arbeiter privat medizinisch behandeln lassen wollten. Den Kassenangestellten zufolge wurde die entsprechende gesetzliche Bestimmung häufig missbraucht, um einen Großteil der Handwerksgesellen dem Versicherungszwang zu entziehen.64 Die Gewerbeaufsichtsbeamten, die bei ihrer Tätigkeit stark auf die Mitwirkung der Behörden angewiesen waren,65 beklagten deren »Laschheit«. Sie würden ihre mit der Aufsicht verbun63 Jb AbM 1898–99, S. 8. 64 Kreis Lennep, AVS, Jg. 4, 1886, S. 171. 65 Die Gewerbeaufsichtsbeamten sollten jeden Betrieb mindestens im Jahr überprüfen, so § 138 der GO, und einen jährlichen Tätigkeitsbericht an den Kreisdirektor sowie den Aufsichtsbeamten schicken. Die Aufsichtsbeamten waren mit keinerlei Polizeibefugnissen aus-

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denen Aufgaben vernachlässigen, vor allem die Visite der in ihrem Bezirk gelegenen Industriebetriebe, den Beamten nur unvollständige statistische Informationen liefern und sich weigern, vom Gesetz vorgeschriebene Sanktionen zu verhängen. Brachte die Polizei Verstöße vor Gericht, waren die Strafen so gering (Strafzahlungen zwischen 3 und 10 Mark), dass sie keine abschreckende Wirkung ent­falteten.66 Wenn sie für junge Arbeiter Arbeitsbücher ausstellen sollten, untersuchten die zuständigen Beamten der Lokalverwaltung deren Familienverhältnisse nur sehr oberflächlich. Andererseits legten sie weniger Zurückhaltung an den Tag, wenn es darum ging, ortsansässigen Industriellen Ausnahmen zu bewilligen: In solchen Fällen überschritten sie regelmäßig ihre Befugnisse und unterließen es, entsprechende Anträge ordnungsgemäß an die entsprechenden höheren Verwaltungsstellen weiterzuleiten.67 Dieses verbreitete Kollusionsverhältnis zwischen Behörden und Industriellen wurde mitunter offen angeprangert – so etwa in einem elsässischen Dorf, in dem ein städtischer Angestellter regelmäßig die Liste der Frauen und Kinder erstellte, die im einzigen Industriebetrieb des Ortes illegal beschäftigt wurden, oder in einem anderen Ort, in dem ein Unternehmer als Bürgermeister amtierte, der sich selbst systematisch alle Ausnahmen bewilligte, die er benötigte68. Die Haltung der lokalen Behörden kann sicher teilweise auf die Unkenntnis der Gesetzestexte zurückgeführt werden. Allerdings ist anzunehmen, dass lokale Beamte viele dieser Vorschriften als Bedrohung eines sozialen Systems ansahen, in das sie selbst involviert waren. Ihre Abhängigkeit von örtlichen Honoratioren, oftmals Industrielle, führte ebenfalls zu zahlreichen Verstößen.69 Um diese Missstände zu beheben, riefen Gewerbeaufsichtsbeamte und Kassenangestellte die Arbeiter und Versicherten dazu auf, sich stärker an der Umsetzung der Sozialgesetzgebung zu beteiligen und Vermittlungsinstanzen zu schaffen. Auf diese Weise sollte die Entwicklung eines Sozialrechts unterstützt und gefördert werden, auf das sich die Arbeiter berufen konnten.

gestattet und waren für die Durchsetzung von Rechtsbestimmungen auf die Mitwirkung der Behörden angewiesen. Es waren vor allem die lokalen Polizeiämter, die nach von den Aufsichtsbeamten gemeldeten Verstößen Strafzahlungen erhoben oder Baugenehmigungen verweigerten. 66 Siehe den Artikel in SP, JG. 6, 1900–1901, S. 465–467. Der Autor hob hervor, dass die Gerichte gegen streikende Arbeiter wesentlich weniger Milde walten ließen. 67 Im Elsass berichtete der Aufsichtsbeamte unter anderen den Fall eines Bürgermeisters, der systematisch Ausnahme vom Verbot der Sonntagsarbeit genehmigte, siehe AVS, Jg. 14, 1896, S. 31. Siehe auch die zahlreichen Verwarnungen im Central und Bezirk-Amtsblatt für ElsaßLothringen. 68 VAB 1892, S. 31. 69 Siehe für das gesamte Reich den Aufsichtsbericht von Quarck, Fabrikinspektion, S. 355, und besonders das Beispiel des Köln/Koblenzer Inspektors. Für Baden siehe Bocks, S. 156. Dieser Punkt wurde von den Sozialpolitikern umfassend diskutiert, siehe vor allem Herkner, Kritik, S. 253.

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3.2 Neue Fürsprecher: Fabrikinspektion und Arbeitssekretariate Die Gewerbeaufsichtsbeamten setzten für diese Entwicklung wichtige Impulse. Aufgrund der mehr oder weniger großen Abstände zwischen den Zeitpunkten, zu denen sie die Betriebe aufsuchten, waren sie für ihre Einschätzung der alltäglichen Arbeitsbedingungen auf Informationen der Arbeiter angewiesen.70 Ihre Sprechstunden, die zur Jahrhundertwende hin zunehmend häufiger abgehalten wurden, boten eine geeignete Situation, um die Arbeiter zu ehrlichen und ausführlichen Berichten zu bewegen. Die große Beliebtheit der Sprechstunden ist ein Zeichen dafür, dass sie ein reales Bedürfnis der Arbeiterschaft aufgriffen. Bestand der Wert der Sprechstunden für die Gewerbeaufsichtsbeamten vor allem in der Informationsbeschaffung, so schätzten die Arbeiter sie, weil sie dort Antworten auf Fragen zu ihren eigenen Rechten bekamen, um sie anschließend besser durchsetzen zu können. Die steigende Zahl der (oft anonymen) Briefe, mit denen Arbeiter Aufklärung über bestimmte Fragen forderten, vor allem aber konkrete, für unrechtmäßig gehaltene Situationen anzeigten, weist in dieselbe Richtung. Die Stimme der Arbeiterschaft aufzunehmen, organisatorische Hilfestellung zu leisten und ihren Bestrebungen zur Geltung zu verhelfen, stellte um die Jahrhundertwende vor allem in Süddeutschland ein wichtiges Ziel der Gewerbeaufsichtsbeamten dar. Diesem Zweck diente auch die Aufnahme von Arbeiterassistenten in den Aufsichtsdienst, zuerst 1896 in Bayern, dann 1903 in Württemberg.71 Innerhalb der süddeutschen Arbeitermilieus wurden Vertrauenspersonen ernannt und Beschwerdekommissionen gebildet, die Klagen und Forderungen im Zusammenhang mit Verstößen gegen die Arbeitergesetzgebung sammelten und an den Gewerbeaufsichtsbeamten übergaben. Einerseits ermutigten diese Instanzen die Arbeiter zur Offenheit, andererseits ersparten sie dem Beamten ein Stück weit die während der Sprechstunden nötige Klärung der Informationen – auch wenn er ihre Quelle wie etwa im Elsass keinesfalls für neutral hielt. Vertrauensperson und Beschwerdekommission wurden zunächst von freien Gewerkschaften, dann von Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen gebildet. So wandelte sich die Gewerbeaufsicht in der Wahrnehmung der Arbeiter zu einer Art Rechtsschutz und wurde entsprechend genutzt. Der Erfolg dieser Kommissionen lässt darauf schließen, dass sie damit einem in der Arbeiterschaft verbreiteten Anliegen Ausdruck verliehen.72 Die erstmals von katholischen (Essen 1890) und dann in Süddeutschland von freien Gewerkschaften (Nürnberg 1894) gegründeten Rechtsauskunfts­stellen 70 Siehe hierzu Poerschke, S. 178–180, die Beispiele aus Baden in: Bocks, S. 168–189, sowie für das Elsass Kott, Des philanthropies, S. 644–648. 71 Sowie 1907 in Hessen, 1912 in Sachsen, später auch in Elsass-Lothringen, Bremen und Baden. In Preußen lehnte die Regierung Arbeiterassistenten ab. 72 Eine ganz ähnliche Entwicklung ist in Frankreich zu beobachten, siehe Viet, S. 347–362.

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verfolgten gleiche Ziele in einer etwas anderen Form.73 Im Jahr 1913 zählte man 129 Arbeitersekretariate und 232 Rechtsauskunftsstellen der freien Gewerkschaften, die insgesamt rund 725.000 Informationsgesuche bearbeitet hatten. Die 135 katholischen Volksbüros hatten zum selben Zeitpunkt 258.000 Anfragen beantwortet. Es gab außerdem 144 Gemeindebüros, in denen exakt 387.764 Personen eine Antwort auf ihre Fragen bekommen hatten.74 Die Auskunftsstellen der Gewerkschaften,75 in geringerem Umfang auch die der Kommunen,76 erhielten vor allem Anfragen zur Sozialgesetzgebung und insbesondere zu den Arbeiterversicherungen. Die Arbeitersekretariate spielten eine doppelte Rolle. Auf der einen Seite trugen sie zweifellos zur Ausbildung des Personals der Arbeiterbewegung bei, einem Arbeitersekretär stand der Weg zu höheren Funktionen in den Organisationen der Arbeiterbewegung offen. Ihre Mitglieder wie etwa die Gewerkschaftsvertreter im RVA rückten bis zum Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in verantwortliche Positionen innerhalb der Sozialdemokratie auf, einige zogen als Abgeordnete in den Reichstag ein. Das ist auch der Grund dafür, dass aus dieser Gruppe wichtige Protagonisten des reformistischen Flügels hervorgingen.77 Auf der anderen Seite stellten die Arbeitersekretariate unbestritten ein Instrument des »Empowerments« der Arbeiter dar, indem sie ihnen Informationen vermittelten und Unterstützung bei Vorsprachen in den Versicherungsinstitutionen boten. Sie prüften und übermittelten Renten- und Behandlungsanträge an die Versicherungen und formulierten Beschwerdebriefe, wenn sich die Versicherten betrogen wähnten. Ihre rasche Verbreitung, der Umfang ihrer Beratungstätigkeit und die wachsende Zahl der bearbeiteten Briefe belegen, dass das Sozialrecht für die Arbeiter eine ebenso konfliktreiche wie unsichere Wirklichkeit war.

73 Das erste Arbeitersekretariat der freien Gewerkschaften wurde 1894 in Nürnberg eingerichtet und löste ausdrücklich einen Ausschuss ab, der bis dahin die Fabrikaufsicht unterstützt hatte, siehe Kampffmeyer, S. 396. 74 Einige wenige Büros wurden auch von evangelischen Zirkeln, liberalen politischen Parteien sowie Unternehmern eingerichtet, siehe Die Rechtsberatung. 75 Die Zeitschrift Soziale Praxis, deren Redaktion in den Arbeitersekretariaten eine Instrument zur Verbesserung der sozialen Verhältnisse sah, veröffentlichte jedes Jahr ausführliche Berichte über die Arbeit dieser Einrichtungen, insbesondere über diejenigen, die von den freien Gewerkschaften unterhalten wurden. Zu diesen gibt es eine reichhaltige Bibliographie, siehe besonders Kampffmeyer; Müller, A.; Soudek; Martiny, S. 153 f. 76 Krabbe, Gründung. 77 Müller, A. und Tenfelde.

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3.3 Die Entwicklung der gerichtlichen Konfliktregelung: Versicherung und Arbeitsrecht Durch die Arbeitersekretariate kam es zu einem Anstieg der gesetzlich vorge­ sehenen Berufungsverfahren. Die Versicherten konnten Entscheidungen der LVA oder Berufsgenossenschaften anfechten, indem sie Berufung einlegten bei den paritätisch besetzten Schiedsgerichten, die seit der Novellierung von 1899 in Angelegenheiten der Invaliditäts- bzw. der Unfallversicherung zuständig waren. Die letzte Instanz bildete der Rekurs beim RVA.78 Während solche Verfahren zu Beginn relativ selten angestrengt wurden, ist um die Jahrhundertwende ein starker Anstieg zu verzeichnen. Die Zahl der vor den Schiedsgerichten verhandelten Berufungen stieg zwischen 1891 und 1912 um das Vierfache auf 424.000 und die der Rekurse vor dem RVA sogar um das Siebenfache auf 22.827.79 Zumindest teilweise geht das gestiegene Aufkommen auf eine Änderung der Verfahren zurück. Die Novelle von 1899 organisierte die Schiedsgerichte neu, indem es den Einfluss der Berufsgenossenschaften zurückdrängte und so die Hemmschwellen für die Arbeiter absenkte, Gerichtsverfahren anzustrengen. Die Arbeitersekretariate unterstützten Berufungen vor allem gegen Entscheidungen der Berufsgenossenschaften, die für ihre allzu einseitige Verteidigung der Arbeitgeberinteressen kritisiert wurden. Im Bereich der Arbeitsgesetzgebung nahm die Aktivität der Gewerbegerichte in dieser Periode ebenfalls stark zu. Die ersten, mit individuellen Konflikten zwischen Arbeitgebern und Angestellten befassten Gewerbegerichte wurden im Rheinland nach dem Vorbild der französischen Prud’hommes eingeführt.80 § 108 der Gewerbeordnung von 1869 legte die paritätische Besetzung dieser Gerichte fest, überließ es aber den Gemeinden, für ihren Aufbau und ihre Finanzierung zu sorgen. Die Gesetze von 1878 und 1890 fassten ihre Funktionsweise und Zuständigkeiten genauer, bewahrten aber ebenfalls den fakultativen Charakter. Erst im Jahr 1899 wurden Gemeinden mit mehr als 200.000 Einwohnern gesetzlich dazu verpflichtet, Gewerbegerichte einzurichten.81 Wie die Schiedsgerichte im Bereich der Versicherungen waren sie paritätisch besetzt, während ein Beamter den Vorsitz übernahm. Im Jahr 1913 wurden vor den 949 Gewerbegerichten des Reichs 110.259 Streitfälle verhandelt.82

78 Über die Organisation dieser Verfahren und ihren juristischen Wert informiert ausführlich Geschichte und Wirkungskreis, S. 104–136. 79 RAB 1914, S. 336–338. 80 Zu den Gewerbegerichten und zum Gesetz von 1890 siehe Berlepsch, H. J., S. 84–124, und Schmid, F., S. 157 und 191; Saldern, Gewerbegerichte. (Bei den conseils de prud’hommes, Gewerbesachverständigenräten, handelt es sich um Arbeits- und Gewerbegerichte, denen seit 1848 auch Arbeiter angehören, Anm. d. Ü.). 81 Bis zum Gesetz von 1890 hießen diese Gerichte Schiedsgerichte. 82 Siehe hierzu Statistik der Tätigkeit und die Monatlichen Beihefte der Sozialen Praxis: Das Gewerbegericht. Organ des Verbandes deutscher Gewerbegerichte.

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Zusammenfassung Die Arbeits- und Versicherungsgesetzgebung öffnete Verhandlungsräume, in denen die Gesetze nach und nach auf konkrete praktische Situationen angewandt wurden. Dieser Prozess ist ohne die Veränderung des sozialen Kontexts und der sozialen Kräfteverhältnisse nicht denkbar. In den 1880er Jahren war die Vorherrschaft der Arbeitgeber noch ungebrochen, die Arbeiterschaft oft noch traditionell hierarchisch gegliedert und politisch schlecht organisiert. In diesem Kontext erscheinen die Sozialgesetzgebung und vor allem die Gewerbeaufsichtsbeamten als ein Faktor der Destabilisierung der traditionellen Ordnung. Im Betrieb wie auch in kleineren Industriestädten oder auf dem Dorf gab es häufig Konflikte mit lokalen Autoritäten, die ja Repräsentanten und Garanten des sozialen Gleichgewichtes waren. Das Bestreben sowohl der Industriellen als auch der männlichen Facharbeiter, traditionelle Hierarchien zu bewahren, führte daher zu ungewöhnlichen Interessenkonvergenzen, wenn es um die Ablehnung der Sozialgesetzgebung ging, und zwar sowohl im Bereich der Arbeitsgesetze als auch im Bereich der Versicherung. Andererseits eröffnete die Sozialgesetzgebung, die den Arbeitern neue soziale Rechte garantierte, zunächst auch die Möglichkeit neuer Konflikte zwischen Unternehmern und Arbeitern. Diese Konflikte treten zum Beispiel deutlich bei der Unfallversicherung zutage, denn hier hing die Höhe der Versicherungsleistung entscheidend davon ab, ob der Arbeiter in der Lage war, seine Sichtweise des Unfallhergangs gegenüber seinem Arbeitgeber durchzusetzen. Man kann also folgern, dass die Sozial­ gesetzgebung, die im Allgemeinen als ein Instrument des Sozialen Friedens gedacht war, zunächst einmal soziale Antagonismen und Konflikte aufgedeckt und sogar verstärkt hat.  Dank der Einrichtung und der immer häufigeren Anrufung von Vermittlungsinstanzen (Arbeitersekretariate, Schiedsgerichte, RVA) hat die Sozialversicherung jedoch später dazu beigetragen, diese Konflikte zu kanalisieren und zu institutionalisieren. Die Sozialversicherung ermöglichte es somit, eine neue, auf Kompromiss und Verhandlung gestützte Form der sozialen Ordnung hervorzubringen. Erst nach und nach nahmen Arbeiter die Einspruchsmöglichkeiten wahr, die ihnen die Sozialgesetzgebung gewährte. Der starke Anstieg der Berufungsverfahren um die Jahrhundertwende weist zum einen darauf hin, dass die Arbeiter zunehmend von der Notwendigkeit überzeugt waren, zur Verteidigung ihrer Rechte selbst für die ordnungsgemäße Anwendung der Gesetze zu sorgen. Zum anderen ist an diesen Entwicklungen die allgemeine Tendenz hin zur immer umfassenderen vertraglichen Regelung der Arbeitsbeziehungen abzulesen, eine Tendenz, die sich zu dieser Zeit immer mehr beschleunigt. Die Ausweitung sozialer Rechte hatte zweifellos Anteil an einem breiteren gesellschaftlichen Demokratisierungs- und Modernisierungsprozess, der von der Sozialgesetzgebung maßgeblich gefördert wurde. 89

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Kapitel 4 Aufbau und Entfaltung einer sozialen Demokratie

In seiner berühmt gewordenen Vorlesung beschrieb Thomas H.  Marshall im Jahr 1949 die Entstehung einer demokratischen Gesellschaftsordnung als Ergebnis einer dreistufigen Entwicklung, die von der Erlangung bürgerlicher Freiheitsrechte im 18. Jahrhundert über politische Bürgerrechte im 19. Jahrhundert schließlich zu den sozialen Rechten im 20. Jahrhundert geführt habe. Der Triumph des umverteilenden Wohlfahrtsstaates nach dem Zweiten Weltkrieg, so Marshall, sei mit der Durchsetzung einer »sozialen Staatsbürgerschaft« einhergegangen, die allen Staatsangehörigen soziale und ökonomische Rechte gewährt und so die massive soziale Ungleichheit der Klassengesellschaft verringert habe.1 Historikerinnen und Historiker haben seither immer wieder darauf hingewiesen, wie sehr diese Vision dem konkreten Kontext verhaftet war, in dem Marshall seinen Vortrag verfasst hat. Neben der feministischen Kritik, dass Marshall sich an der Geschichte der männlichen weißen Arbeiter orientiere, sind vor allem der ausgeprägte Anglozentrismus und die Linearität seiner Argumentation bemängelt worden.2 Im Folgenden wird am deutschen Beispiel gezeigt, dass sich Marshalls Argumentation umkehren lässt: Die Sozialpolitik des Deutschen Reichs legte die gedankliche und praktische Grundlage für eine Form der Sozialdemokratie, die den Boden für die Erlangung politischer Bürgerrechte durch Frauen bereitete (dazu unten Kapitel 5). Aber vor allem bildete die Sozialpolitik das Feld schlechthin, auf dem sich die Frage der Demokratie und der demokratischen Rechte im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts stellte. Gerade hier wurden die Spannungen besonders deutlich artikuliert, die zwischen konservativen, patriarchalischen Vorstellungen der sozialen und politischen Beziehungen auf der einen Seite und liberalen, rechtsstaatlichen Vorstellungen auf der anderen Seite bestanden. Im deutschen Fall muss die Korrelation zwischen sozialer Demokratie und politischer Demokratie in zwei parallelen, aber eng verknüpften Vorgängen untersucht werden. Einerseits wurde in der Arbeiterversicherung, die 1883 die Selbstverwaltung in die Krankenkassen einführte, erstmals die Beteiligung der Arbeiter überhaupt institutionalisiert, und sie war der einzige Ort, an dem während des Kaiserreichs Frauen und Ausländer Wahlrecht besaßen. Andererseits wurde, wie im übrigen Europa, Demokratie in den Betrieben und jenen Institutionen gedacht und ansatzweise umgesetzt, die der 1 Der Vortrag ist abgedruckt in Marshall. 2 Siehe vor allem Harris.

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Kollektivverhandlung und dem Schiedswesen gewidmet waren  – als ein Element dessen, was Beatrice und Sidney Webb im Jahr 1897 »industrial democracy«3 nannten. Diese Entwicklung stand im Kontext der Entfaltung der Arbeiterbewegung, die um die Jahrhundertwende in allen industrialisierten Ländern zu einem unumgänglichen Verhandlungspartner wurde.

1. Der Kontext: zwischen Klassenkampf und Klassenkollaboration Im Juli 1889 fand in Paris der Gründungskongress der Zweiten Interna­tionale statt. 14 Jahre später, im Jahr 1903, richteten die europäischen und US-amerikanischen Gewerkschaften bei einem Treffen in Dublin ein Generalsekretariat mit Sitz in Berlin ein, um ihre Aktivitäten besser koordinieren zu können. In den beiden zwischen diesen Daten liegenden Jahrzehnten hatte eine neue Phase für die Arbeitsbeziehungen begonnen: In den europäischen Nationen entstanden mächtige Arbeiterorganisationen, die gemeinsame Forderungen formulierten; symbolisch dafür war der Kampf für den Acht-Stunden-Tag. Um die Jahrhundertwende waren die großen Industrienationen in Europa und die USA von mehreren großen Streikwellen betroffen. Sie bezeugen einerseits die Intensität der sozialen Antagonismen in der industriellen Welt, andererseits aber auch den Willen, in der kapitalistischen Gesellschaft Verbesserungen von innen heraus zu erreichen.4 Am Vorabend des Ersten Weltkriegs hatte die deutsche Arbeiterbewegung mit ihrer doppelte Ausrichtung als gewerkschaftliche und politische Organisation einen beträchtlichen Einfluss auf die internationale Arbeiterbewegung. Diese Ausstrahlung leitete sich von der Stärke ab, die auf nationaler Ebene erreicht worden war und die sich zu großen Teilen auf eine Praxis der politischen Reformen gründete. Die deutsche Arbeiterbewegung wurde von den konservativen Kräften zum inneren Feind ernannt und praktizierte eine Art »kämpferischen Reformismus«, mit dem es ihr gelang, einen wachsenden Einfluss auf die Funktionsweise der Institutionen des Kaiserreichs zu nehmen, insbesondere im Bereich der Sozialpolitik. So sind die spezifischen Umstände der Integration der Arbeiterbewegung in die Sozialpolitik zu erklären, die im Folgenden näher untersucht wird.

3 Webb u. Webb. 4 Siehe hierzu die vergleichende Untersuchung von Boll, Arbeitskämpfe und Gewerkschaften.

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1.1 Koalitions- und Vereinsrecht: begrenzte Entfaltungsfreiheiten In Deutschland fielen mit der Aufhebung der Sozialistengesetze im Januar 1890 Schranken, die bis dahin den Aufstieg der Gewerkschaften und der Arbeiter­ bewegung konsequent beschränkt hatten. Hindernisse für die volle Entfaltung der Arbeiterbewegung ergaben sich allerdings weiterhin aus dem Koalitionsund Vereinsrecht. Der Abgeordnete Hermann Schulze-Delitzsch hatte bereits 1872 ein nationales Vereinsrecht gefordert, das an die Stelle der in den deutschen Ländern geltenden, unterschiedlichen Regelungen treten sollte. Dazu kam es allerdings erst im Jahr 1908.5 Bis dahin existierte in den meisten Ländern des Reichs ein sehr restriktives Vereinsrecht. In Preußen, Bayern und Sachsen blieben Bestimmungen aus dem Jahr 1850 in Kraft, die vom Geist der Reaktion nach 1848 geprägt waren. Für Vereinsgründungen mussten eine Erlaubnis von den lokalen Polizeibehörden eingeholt und Mitgliederlisten vorgelegt werden, Versammlungen konnten jederzeit von Polizeibeamten besucht werden. Zusammenschlüsse zwischen Vereinen blieben auf lokaler Ebene verboten; Frauen und Jugendliche durften in politischen Vereinigungen nicht Mitglied sein. Auf Druck der Liberalen und Sozialdemokraten kam nach zwei gescheiterten Versuchen 1903 und 1906 im Jahr 1908 schließlich in dritter Lesung eine Gesetzesnovelle zustande, die das Vereinsrecht liberalisierte. Sie öffnete die Vereine für Frauen und Jugendliche über 16 Jahren und vereinfachte das Zulassungsverfahren (Mitgliederlisten mussten nicht mehr vorgelegt werden). Allerdings erhielt das neue Gesetz noch immer eine gewisse Kontrolle aufrecht. Versammlungen in geschlossenen Räumen bedurften weiterhin einer Erlaubnis, Polizisten konnten nach wie vor von Amts wegen an ihnen teilnehmen. Wieder einmal waren die Landarbeiter von Rechten ausgenommen, die den Industriearbeitern zugestanden wurden. Die Liberalen wähnten sich mit dem Gesetz von 1908 allerdings an einem Ziel angekommen, auf das sie seit den 1860er Jahren hingearbeitet hatten. Die Koalitionsfreiheit blieb dagegen während des gesamten Kaiserreichs stark eingeschränkt. Im Jahr 1872 hob zwar § 152 GO die Sanktionen gegen Koalitionen von Arbeitern und Arbeitgebern auf, aber das bedeutete kein formelles Zugeständnis der Koalitionsfreiheit. § 153 bedrohte Koalitionen mit Strafe (bis zu drei Monate Gefängnis), wenn sie Druck auf Kollegen ausübten (»Koa­ litionszwang«). Gerichte stützten sich in ihren Urteilen gegen streikende Arbeiter häufig auf diesen Paragrafen und begrenzten die Koalitionsfreiheit dadurch beträchtlich.6 Diese Rechtslage bildete den engen Rahmen, in dem sich die Arbeiterbewegung in Deutschland seit 1890 bewegte und entwickelte.

5 Hierzu mit weiterführender Literatur siehe Berlepsch, H. J., S. 338–390. 6 Saul.

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1.2 Die Sozialdemokratie: zwischen Revolution und Reform Auf dem Erfurter Kongress der Sozialisten im Jahr 1891 wurde die Sozialdemokratische Partei Deutschlands gegründet. Die SPD hatte sich die Revolution in ihr Programm geschrieben und forderte zugleich ein ganzes Bündel an sozialen Reformen, die vom Arbeitsschutz bis zu Sozialversicherungen reichten.7 Aus den Wahlen 1912 ging sie mit 34,8 % der abgegebenen Stimmen als stärkste Partei hervor; in Hamburg hatten 62,3 %, in Berlin sogar 75,6 % der Wähler für die Sozialdemokratie gestimmt (in den ländlichen Regionen Preußens allerdings weniger als 10 %). Die Stammwähler der Sozialdemokratie waren urban und protestantisch geprägt und kamen aus der Arbeiterklasse, auch wenn einerseits Katholiken und andererseits Minderheiten von Bildungsberufen, Kleinbürgern und Angestellten am Vorabend des Ersten Weltkriegs ebenfalls häufiger sozial­ demokratisch wählten. Trotz eines für die sozialdemokratischen Kandidaten ungünstigen Zuschnitts der Wahlkreise war die SPD 1912 mit 27,7 % der Abgeordneten die stärkste Partei im Reichstag. Zwischen 1890 und 1912 stieg die Zahl der sozialdemokratischen Abgeordneten um das Dreifache. Nach und nach entstand so innerhalb der Partei eine Gruppe von Berufspolitikern, die mit den parlamentarischen Abläufen und der politischen Verhandlungspraxis vertraut waren. Darüber hinaus waren die Sozialdemokraten in mehreren südwestdeutschen Gemeinden an der Führung der politischen Geschäfte beteiligt. Man kann deshalb durchaus davon sprechen, dass die Sozialdemokraten in die politischen Institutionen des Deutschen Reichs vollständig integriert waren. Mit mehr als einer Million Mitgliedern war die SPD im Jahr 1914 eine Massenpartei geworden, blieb aber zugleich eine Arbeiterpartei. Ihre Mitgliedschaft bestand größtenteils aus protestantischen Arbeitern, die über eine Ausbildung verfügten und kleineren Selbständigen in Handel und Gewerbe; nach 1908 traten verstärkt Frauen in die SPD ein, mit 175.000 Mitgliedern im Jahre 1914 blieben sie jedoch sehr stark in der Minderheit.8 Die SPD-Mitglieder waren in rund 5.000 Ortsvereinen organisiert und wählten ihre Vertreter von Ebene zu Ebene nach dem Prinzip einer sich nach oben verjüngenden Pyramide, die der Verwaltungsstruktur des Reichs nachgebildet war. August Bebel, der Parteivorsitzende, verfügte über eine enorme Beliebtheit, die sich zumindest teilweise aus den Heldenerzählungen über die Zeit der Verfolgung im Untergrund speiste. Im Alltag ruhte die Parteiarbeit auf etwa 4.000 Funktionären und einer Parteibürokratie, die deutlichen Einfluss auf den politischen Kurs nahm und die SPD reformistisch ausrichtete. Der Reformismus war innerhalb der Partei stark vertreten; so war die politische Arbeit Georg von Vollmars’ seit Beginn der 1890er Jahre reformistisch geprägt. Eduard Bernstein theorisierte seine Spielart des Revisionismus in den Jahren 1895–1896 in der Neuen Zeit. Und obwohl Bebel zusammen mit Kautsky und anderen auf dem Dresdener Parteitag 1903 den 7 Siehe Dowe u. Klotzbach, S. 187–192. 8 Saldern, SPD.

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Reformismus offiziell scharf verurteilte und für die Hochhaltung der sozial­ demokratisch-sozialistischen Prinzipien eintrat, trug die sozialdemokratische Arbeit in den Gemeinden, in den Gremien der Sozialversicherung, im Parlament und in den Gewerkschaften im wesentlichen reformistische Züge. Man kann also festhalten: Die SPD war eine der führenden politischen Kräfte im Deutschen Reich, die sich bei aller revolutionären Rhetorik loyal zu den Institutionen verhielt, in denen sie mitarbeitete. Doch auch wenn sie mit dem liberalen Bürgertum in einigen (vor allem südwestdeutschen) Kommunen Bündnisse einging, hielten konservative Kräfte sie weiterhin für einen inneren Feind. Im Jahr 1904 gründete der General und vormalige Gouverneur von DeutschOstafrika, Eduard von Liebert, den Reichsverband gegen die Sozialdemokratie, der 1912 221.000 Mitglieder zählte, darunter zahlreiche Vereine.9 1.3 Die Gewerkschaften: Kampf oder Verhandlung Das Jahr 1890 brachte auch für die sozialdemokratische Gewerkschaftsbewegung, die Freien Gewerkschaften, eine Wende. Sie bildeten die Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, die bis 1920 von Carl Legien geleitet wurde. Legien übernahm im Jahr 1913 auch die Führung des Internationalen Gewerkschaftsbunds, der das 1903 gegründete Generalsekretariat ablöste und die internationale Zusammenarbeit institutionalisierte. Ab Mitte der 1890er Jahre erhielten die allmächtigen Freien Gewerkschaften im Ruhrgebiet, im Rheinland, in Westfalen und im Elsass Konkurrenz durch die aufstrebenden Volksvereine für das katholische Deutschland, konfessionsübergreifende christliche Gewerkschaften, die aus der katholischen Arbeiterbewegung hervorgingen. Im Jahr 1899 wurde in Mainz ein Dachverband gegründet, ein Kongress in Frankfurt bestimmte die Ziele.10 Kurz vor dem Ersten Weltkrieg hatten die liberalen, christlichen und sozialdemokratischen Gewerkschaftsverbände zusammen 2,9 Millionen Mitglieder, davon allein die Freien Gewerkschaften 2,3 Millionen (zum selben Zeitpunkt zählten die britischen Gewerkschaften 4,3 Millionen Mitglieder). Die Gewerkschaften waren im Hinblick auf ihre Mitgliedschaft recht offen: Mit der Gründung von Branchengewerkschaften etwa in der Textilindustrie traten unqualifizierte Arbeiter massenweise in die Gewerkschaften ein und mit ihnen auch Frauen. Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg zählten Freie Gewerkschaften und Volksvereine jeweils rund 9 % Frauen unter ihren Mitgliedern.11 Diese Stärke erlaubte es den Gewerkschaften, eine Reihe von großen Arbeitskämpfen zu führen. Vor allem die Streiks der Hafenarbeiter von 1896/97, der Textilarbeiter von 1903/04, der Bergmänner von 1905 und die Aussperrung 9 Siehe ebd. und vor allem Ritter, G. A., Sozialdemokratie. 10 Zu den katholischen Gewerkschaften siehe Schneider, Gewerkschaften. 11 Hohorst u. a., S. 135–137.

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der Bauarbeiter von 1910 beeindruckten die Zeitgenossen. Die Bedeutung dieser Streiks lag nicht nur in der Zahl der mobilisierten Arbeiter (etwa 364.000 im Jahr 1905). Die Auseinandersetzungen zeichneten sich auf beiden Seiten auch durch eine erbitterte Feindseligkeit aus. Um den von starken Gewerkschaften organisierten Streiks etwas entgegensetzen oder sie von vornherein vermeiden zu können, gründeten die Arbeitgeber ihrerseits Organisationen, die ihre Macht zum Teil aus dem Kartellbildungsprozess der Industrie zogen, und griffen um die Jahrhundertwende immer öfter zum Mittel der Aussperrung.12 Im Jahr 1912 lag die Zahl der ausgesperrten über derjenigen der streikenden Arbeiter.13 Allerdings endete die Hälfte dieser Streiks und 80 % der Aussperrungen mit Teilniederlagen. Die Regierung ging gegen diese Konflikte zunächst vor, indem sie auf § 153 der Gewerbeordnung zurückgriff14; in den Jahren 1891, 1895 und 1899 brachte sie Gesetzesvorlagen in den Reichstag ein, mit denen der Paragraph verschärft werden sollte und sich die Repressionsmöglichkeiten ausweiten ließen. Doch jedes Mal wurde das Ansinnen durch eine Koalition der Liberalen und Sozialisten im Reichstag abgelehnt. Zuletzt erfuhr die Reichsleitung 1899 mit der sogenannten »Zuchthausvorlage« eine schlimme Niederlage, als der Reichstag sie gar nicht erst zur weiteren Beratung an die Kommission überwies. Diese nachhaltige und breite Ablehnung unterstrich die Unmöglichkeit einer ausschließlich repressiven Politik, die letztlich nur von den konservativen Parteien getragen wurde. Die Sozialpolitiker sahen ihrerseits in der Zuspitzung und der Ergebnis­ losigkeit der Arbeitskämpfe vor allem den volkswirtschaftlichen Schaden, aber auch ein schwerwiegendes Risiko für die Stabilität der Gesellschaft, ja, für den Fortbestand der Nation insgesamt. Auf der Suche nach Lösungen stießen sie auf den Umstand, dass die erbitterten Kämpfe vor allem im konservativen Preußen geführt wurden, während im Südwesten Deutschlands größere Harmonie zu herrschen schien, eine Harmonie, die auf die Wirkung von vertraglichen Bindungen und die Integration der Sozialdemokratie in den Alltag der politischen Institutionen zurückgeführt wurde.15 In dieser Kultur des Aushandelns sahen die Sozialpolitiker ein Modell, an das es anzuknüpfen galt.

12 Zur Aussperrung siehe Schneider, Aussperrung. 13 Siehe zur Streikgeschichte die Beiträge in Tenfelde u. Volkmann. Volkmann, Moderni­ sierung. 14 Saul. 15 Vgl. Boll, Arbeitskampf und Region.

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2. Das Konzept der industriellen Demokratie In der liberalen Bewegung wurde über die Notwendigkeit, Konflikte zwischen Arbeitern und Arbeitgebern durch kollektive Verhandlungen – mit oder ohne staatliche Beteiligung – zu regeln, bereits seit den 1860er Jahren nachgedacht. So hielt etwa Lujo Brentano den Aufbau von starken Gewerkschaften wie in Großbritannien für eine Grundbedingung für Kollektivverhandlungen. Die deutsche Debatte der 1890er Jahre war im Übrigen Teil einer breiteren europäischen und nordamerikanischen Diskussion, von der das große Interesse zeugt, das dem von Beatrice und Sidney Webb im Jahr 1897 verfassten Buch Industrial Democracy entgegengebracht wurde.16 Ausgehend vom britischen Beispiel stellten die Webbs Überlegungen über Verfahren an, mit denen die Kollektiv­ verhandlung neben der Arbeitsgesetzgebung für die Regelung von Arbeitskonflikten eingesetzt werden konnte. Sie regten an, über die Parallelen von sozialer und politischer Demokratie bezüglich der zu implementierenden Verfahren nachzudenken. Die Ernennung von Vertretern, die Aufstellung von Regeln für die Verhandlung und die Organisation kollektiven Handelns stellten die drei Pfeiler dar, auf denen sowohl die soziale als auch die politische Demokratie aufruhen sollte. Die besondere Dringlichkeit allerdings, mit der diese Debatte in Deutschland geführt wurde, weist auf Verschiebungen der Grenzen und Prioritäten hin, die sich in den Kreisen der Sozialpolitiker abspielten. 2.1 Der Sozialliberalismus: zwischen Verein für Socialpolitik und Gesellschaft für soziale Reform Der Verein für Socialpolitik (VSP) durchlief während der »Ära Stumm« einen Klärungs­prozess.17 Im Jahr 1895 verließ mit Henry Axel Bueck der Geschäftsführer des Centralverbands deutscher Industrieller (CDI) den Verein, ein Austritt, der den Bruch zwischen den Großindustriellen und dem VSP besiegelte. Die Lähmung der Sozialpolitik in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre wurde von immer weniger Mitgliedern hingenommen. Auch wenn der Verein die Regierung nicht offen kritisierte, bezogen einige Mitglieder doch deutlich Stellung für eine Liberalisierung des Streikrechts. So unterstützten Ferdinand Tönnies, Ignaz Jastrow, Heinrich Herkner und Otto Baumgarten die streikenden Hafenarbeiter im Jahr 1896/97. Sie standen emblematisch für eine neue Generation von Intellektuellen im VSP. Zusammen mit einigen anderen, namentlich Max und Alfred Weber, Gerhart von Schulze-Gaevernitz, Robert Wilbrand, Ferdinand Tönnies, Friedrich Naumann und Werner Sombart, trugen und erneuerten sie den liberalen Flügel, der seit den Anfängen des Vereins um Lujo 16 Webb u. Webb. 17 Über den VSP in dieser Phase siehe Conrad, E., vor allem Lindenlaub und außerdem Krüger.

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Brentano existiert hatte. Bei allen Differenzen gab es eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Intensiver als ihre Vorgänger setzten sich die jüngeren National­ ökonomen mit den marxistischen Kapitalismusanalysen und der Konfliktstruktur der Klassengesellschaft auseinander. Die Annahme, dass Konflikte einen Wesenszug der Klassengesellschaft darstellten, beeinflusste besonders Ferdinand Tönnies und Werner Sombart; sie wurde im VSP allerdings von allen Mitgliedern geteilt, auch wenn sie daraus jeweils unterschiedliche Schlussfolgerungen zogen.18 Die Brüder Max und Alfred Weber ergänzten dieses Bild um weitreichende Untersuchungen zur wachsenden Bürokratisierung des Staates und der Unternehmen im modernen, nach Kartellbildung strebenden Kapitalismus und untersuchten die Gefahren, die sich daraus für die Freiheitsrechte und die Demokratie ergaben. Zumindest teilweise knüpften die Sozialpolitiker der neuen Generation ihre programmatischen Vorschläge an diese Analysen. Die Forderung nach Koalitionsfreiheit rückte in den Mittelpunkt, weil sie über eine Stärkung der Gewerkschaftsposition zur Einrichtung paritätischer Gremien führen sollte, die sich in der Klassengesellschaft der Kollektivverhandlung und dem Schiedswesen widmen konnten. Dabei spielte auch ein genuin politischer Aspekt eine Rolle: Starke Gewerkschaften sollten die Arbeiterbewegung insgesamt vor Bürokratisierung schützen, die ihre Widerstandsfähigkeit bedrohte.19 Und schließlich galten Gewerkschaften hier als Gegengewicht zur Hegemonie der Großindustriellen, die sich mit der Kartellbildung ständig verstärkte.20 Mit dieser eindeutigen Stellungnahme für die Koalitionsfreiheit gingen die Liberalen auf Distanz zum konservativen Flügel um Gustav Schmoller und Adolf Wagner, die sich für Einschränkungen des Streikrechts aussprachen. Für sie bestand die Lösung der mit der Kartellbildung verbundenen sozialen Probleme im Ausbau staatlicher Kontrolltätigkeit – Adolf Wagner sprach sich gar für Teilverstaatlichungen aus.21 Die Frage des Streikrechts verschob die Debatte zwischen diesen beiden sozialpolitischen Lagern im VSP auf ein neues Feld. Für die Konservativen hatte die vom Gesetzgeber oktroyierte Sozialpolitik, das heißt im Wesentlichen Sozialversicherungen oder Arbeitsschutz, vor allem eine ethische und politische Funktion, nämlich den Bestand der nationalen Gemeinschaft zu sichern und sie unter Führung des Staates zu sammeln. Gerade darin sahen die Liberalen aber eine Gefahr der zunehmenden Machtkonzentration und Bürokratisierung des Staates, der Unternehmen, ja, des gesamten öffentlichen Lebens. Für die Liberalen stellte dies ein zusätzliches Hindernis für die Entfaltung der Freiheit, der Demokratie und der Nation dar.22 Nicht auf 18 Siehe hierzu besonders Aldenhoff, Kapitalismusanalyse. 19 Siehe die Ausführungen von Max Weber während der Mannheimer Vollversammlung des Vereins im Jahr 1905, in Schriften des Vereins für Socialpolitik, 116, 1906. 20 Siehe hierzu Weber, A., Bureaukratisierung. 21 Siehe die Debatten auf dem Mannheimer Vereinstag 1905, besonders zwischen Schmoller, der einen Bericht zur Frage vortrug, Friedrich Naumann und Max Weber, in Schriften des Vereins für Socialpolitik, 116, 1906. 22 Weber, A. Neuorientierung.

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»Zwang, Verboten und Geboten, Strafandrohungen« sollte Sozialpolitik beruhen, sondern »die Freiheit, die Mitbestimmung und die Einigung« ermöglichen und fördern.23 Sozialpolitik sollte also nicht als Waffe gegen die Sozialdemokratie gewendet, sondern vielmehr dazu benutzt werden, sie zu integrieren.24 Diese Spaltung bedingte den Rückzug des VSP auf seine Funktion als »think tank« und eine gewisse Marginalisierung in den zeitgenössischen Debatten. Die Gesellschaft für Soziale Reform (GSR), gegründet im Jahr 1901, übernahm die Funktion der »Agitation für die Sozialreform«, die der VSP in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens ausgefüllt hatte. Zusammen mit der Zeitschrift Soziale Praxis wurde die GSR zu einem Ort, an dem die neue Strömung Gestalt annahm. Die Zeitschrift ging 1895 aus einem Zusammenschluss des Sozialpolitischen Centralblatts, das dem Frankfurter Industriellen Wilhelm Merton gehörte, und den Blättern für Soziale Praxis hervor. Der Volkswirtschaftler Ignaz Jastrow war ihr erster Herausgeber; auf ihn folgte 1897 der Brentano-Schüler Ernst Francke. Außer Wissenschaftlern versammelte die Zeitschrift auch Verwaltungsbeamte wie Hans Freiherr von Berlepsch, sozialliberale Industrielle wie Richard Roe­ sicke sowie christlich-soziale Unternehmer wie Franz Brandts oder den Verleger Carl Geibel. Ernst Francke war außerdem zunächst Geschäftsführer der GSR, im Jahr 1921 übernahm er von Hans von Berlepsch deren Vorsitz. Zeitschrift und Verein unterstützten ihrem Selbstverständnis zufolge direkt die Sozial­politik des Reichs und bezogen sich auf die Verordnungen von 1881 und 1890. Tatsächlich betonten die Gründungsprogramme beider Initiativen die Bedeutung der Sozialversicherungen und die Notwendigkeit ihrer Ausweitung. Besonders positiv wurden jedoch die Wirkungen des regulierenden und präventiven Arbeiterschutzes beurteilt.25 Die GSR hatte im Übrigen großen Anteil an der internationalen Sozialreformbewegung, insofern sie die deutsche Sektion der 1900 gegründeten Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeitsschutz bildete.26 Wie im Fall ihrer internationalen Partnerorganisation war die Mitgliedschaft der GSR heterogen: Wirtschaftswissenschaftler wie Lujo Brentano, Gerhart von Schulze-Gaevernitz, Werner Sombart und Ferdinand Tönnies (seit 1902), die wie gesehen zugleich auch im VSP mitwirkten, trafen hier auf In­dustrielle und Reichstagsabgeordnete (der liberalen Parteien und des Zentrums), liberale trafen auf christlich-sozial gesinnte Mitglieder – selbst Gewerkschaftler traten vor dem Ersten Weltkrieg der GSR bei. Möglich wurde dies vor allem durch die Entwicklung des christlichen Sozialismus.

23 Zitiert nach Tönnies, siehe auch Sombart, Ideale. 24 Zu diesem Punkt siehe Ratz, sowie die Position von Fricke; vgl. auch Bruch, Sozialreform. 25 Das Programm der Zeitschrift ist in der ersten Ausgabe der neuen Folge abgedruckt: Aufgaben und Ziele der Sozialen Praxis, in: SP, Jg. 7, 1897–1898, S. 3–5. Für das Programm der GSR siehe Berlepsch, H. H. 26 Zur GSR, siehe Ratz.

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2.2 Die Wandlungen des christlichen Sozialismus Die sozialkatholische Lehre und auch der Sozialprotestantismus waren ursprünglich in Abgrenzung zum Liberalismus entstanden. Seine Protagonisten, der Mainzer Erzbischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler27 und der Münste­ raner Theologe und Reichstagsabgeordnete Franz Hitze28 auf der einen, der preußische Jurist Hermann Wagener29 auf der anderen Seite, betrachteten den liberalen Individualismus als Unheil, der nichts als soziales Chaos stiftete, weil er die organisch gewachsenen Gemeinschaften auflöste und durch künstliche Vertragsbeziehungen ersetzte. Sozialpolitik hatte für sie vor allem die Aufgabe, diesem »Verfall« entgegenzuwirken, indem sie die organischen Bindungen in der Familie, in den traditionellen Sozialverbänden und zwischen Arbeitern und Arbeitgebern schützte beziehungsweise wiederherstellte. Die beiden Konfes­ sionen unterschieden sich grundsätzlich bezüglich der Rolle, die sie dem Staat zuschrieben: Während die Protestanten einen »christlichen Staat« anstrebten, waren die Sozialkatholiken davon überzeugt, dass man die soziale Frage vor allem durch die Erneuerung der traditionellen sozialen Bindungen lösen sollte. Die Beibehaltung »ständischen« Denkens im Rahmen der sozialkatholischen Lehre fand ihren Ausdruck in der systematischen Verwendung des Wortes Arbeiterstand, wo liberale Linke und Gewerkschafter von Arbeiterklasse sprachen. Der Weg, den die Volksvereine für das katholische Deutschland einschlugen30, zeigt allerdings, dass dieses Denken nicht gänzlich unverändert blieb. Im Jahr 1890 von Franz Brandts in Mainz gegründet, verstanden ihre Präsidenten, die Reichstagsabgeordneten Carl Trimborn und Franz von Galen, die Volksvereine als »Inseln christlichen Lebens«, von denen die geistige Erneuerung der Gesellschaft ausgehen sollte. Ihre Initiative erhielt die Unterstützung von Papst Leo XIII. und wurde durch die Enzyklika Rerum Novarum 1891 bestätigt. Nach 1893 entwickelten sich die Volksvereine in Süd- und Westdeutschland allerdings unterschiedlich. Die Honoratioren aus dem örtlichen Bürgertum, die in den von Priestern geführten Vereinen mitwirken sollten, waren von der alltäglichen Vereinsarbeit de facto meist ausgeschlossen.31 Die Arbeiterzirkel boten mit ihrem Vereinshaus Räume für zwanglose Treffen; hier organisierten sie eine ganze Reihe sozialer und kultureller Aktivitäten zum Zweck der Standeserziehung, der geistigen und materiellen »Hebung« der Arbeiter. Auf diese Weise trugen sie zur Herausbildung einer spezifischen Arbeiterkultur bei, auf deren Grundlage sich ein Bewusstsein für gemeinsame Interessen einstellte.32 In In27 Die Literatur zu Ketteler ist umfangreich, siehe vor allem Hogan; Iserloh und Lenhart. 28 Hitze, Sociale Frage, besonders S. 23–48, und ders., Kapital und Arbeit; zum frühen Sozialkatholizismus siehe Stegmann, Sozialreform. 29 Zur Bedeutung Hermann Wageners siehe besonders Blasius und Beck, S. 101–122. 30 Zu den Volksvereinen siehe Ritter, E. 31 Siehe hierzu Mooser. 32 Für das Ruhrgebiet siehe Brandt, für das Elsass Kott, Des philanthropies, S. 359–368.

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dustrieregionen mit großem Arbeiteranteil an der Bevölkerung wie im Elsass oder im Ruhrgebiet wurden die katholischen Volksvereine zu Orten, an denen Arbeiter ihre spezifischen Forderungen formulierten und von denen ausgehend ab Mitte der 1890er Jahre christliche Gewerkschaften entstanden.33 Sie lehnten zwar den Klassenkampf ab, schlossen aber den Streik für den Fall nicht aus, dass die Arbeitgeber sich nicht gesprächsbereit zeigten. Einige Abgeordnete des Zentrums wie Carl Trimborn, Franz Hitze und vor allem Johann Giesberts, der erste katholische Abgeordnete aus der Arbeiterbewegung, unterstützten deshalb im Reichstag die Einführung von Arbeiterausschüssen und Arbeits- oder Arbeiterkammern in den Betrieben – Institutionen, in denen Arbeiter ihre Interessen legal vertreten können sollten.34 Diesen Ansätzen zur Lösung der sozialen Frage ging freilich erst einmal die Anerkennung der Existenz von Konflikten sowie die Einsicht in die Notwendigkeit ihrer Austragung voraus – eine Haltung, die um die Jahrhundertwende besonders in den sozialkatholischen Milieus Preußens auf heftigen Widerstand traf. Nachdem mit Kardinal Georg von Kopp und Papst Pius X. im Jahr 1914 zwei entschiedene Gegner dieser Haltung gestorben waren, gingen diese Spannungen etwas zurück, ohne sich freilich völlig aufzulösen. Ebenfalls im Jahr 1890 riefen protestantische Theologen (Adolf Stoecker, Friedrich Naumann, Adolf von Harnack, Otto Baumgarten) und Wirtschaftswissenschaftler, von denen einige (Adolf Wagner, Gustav Schmoller, Max­ Weber) auch im VSP organisiert waren, mit dem Evangelisch-Sozialen Kongress (ESK) eine weitere Bewegung ins Leben, die sich der sozialen Frage widmete.35 Analog zu den katholischen Volksvereinen wollte Adolf Stoecker den ESK zu einer Massenbewegung ausgestalten. Nach dem Rückzug Stoeckers im Jahr 1896 wandelte sich der Kongress jedoch zu einem Zirkel für theoretische Debatten, während die Organisation der Arbeiter an der Basis den bis zu diesem Zeitpunkt mit dem ESK verbundenen evangelischen Arbeitervereinen über­lassen wurde. Die ersten Jahre des ESK waren durch den vom Erfurter Reichstagsabgeordneten Moritz Nobbe geführten konservativen Flügel geprägt. Das soziale Engagement des Protestantismus basierte auf der karitativen Tradition der Kirche und hielt am Konzept der »Sozialmonarchie« fest, das Adolph Wagner un­ablässig verteidigte. Nach 1898 diskutierte der ESK dennoch verstärkt über die Bedeutung von Institutionen für die Interessenvertretung der Arbeiter, die Rolle von Gewerkschaften, und er empfahl die Einrichtung von Arbeitskammern. Diese Tendenz konnte sich 1912 mit der Wahl des Theologen Otto Baumgarten an die Spitze des ESK durchsetzen, eine Wahl, die den ESK in die Nähe der GSR rücken ließ. Der Weg, den Friedrich Naumann zurücklegte, der die Haltung des ESK maßgeblich beeinflusste, ist für den Wandel der Soziallehre

33 Zur Geschichte der katholischen Gewerkschaften siehe Schneider, Gewerkschaften. 34 Stegmann, Katholizismus, S. 114–131. 35 Über den ESK siehe Kretschmar.

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der christlichen Konfessionen um die Jahrhundertwende symptomatisch.36 Unter der Ägide von Johann Hinrich Wichern und der Inneren Mission zur sozialen Frage gekommen, begründete Naumann seine ersten Positionen in der Debatte mit der Notwendigkeit, die Sozialdemokratie zu bekämpfen; seine Vorstellungen waren stark von einem konservativen, ständischen Antikapitalismus geprägt.37 Der Nationalsoziale Verein, den er 1896 gründete und dessen Ideen in der Zeitschrift Die Hilfe publiziert wurden, bezeugt eine Weiterentwicklung seiner Konzeptionen zur Lösung der sozialen Frage. Der Verein wollte zunächst eine Brücke zwischen »Sozialmonarchie« und Arbeiterbewegung schlagen.38 Im Zuge einer Neubewertung der Rolle, welche die Arbeiterbewegung für das soziale Gleichgewicht in Deutschland spielte, gaben Naumann und sein Verein das sozialmonarchische Projekt jedoch auf, und Naumann beteiligte sich am Aufbau einer großen linksliberalen Partei, der Fortschrittlichen Volkspartei, die sich für Wahlbündnisse mit der Sozialdemokratie öffnete. Am Ende dieses Weges hatte sich Naumann dem liberalen Flügel des VSP um Lujo Brentano und der GSR angenähert.39 Alle diese unterschiedlichen Tendenzen und Strömungen der Sozialreformbewegung erkannten und akzeptierten die gesellschaftliche Entwicklung und die Notwendigkeit, die zu einer mächtigen Instanz aufgestiegene Arbeiter­ bewegung in das öffentlich-politische Leben zu integrieren. Die Selbstverwaltung der Versicherungen stellte diesbezüglich eine Art Schule der sozialen Demokratie dar.

3. Die Kassen und die soziale Selbstverwaltung: demokratische Teilhabe und ihre Grenzen 3.1 Die Selbstverwaltung zwischen korporatistischen und demokratischen Leitbildern Außer der Gemeindeversicherung, die als Überbleibsel der früheren Armenpflege bald verschwinden sollte,40 gründete der Gesetzgeber die Krankenversicherung und die Unfallversicherung auf dem Prinzip der Selbstverwaltung. Arbeitgeber und Arbeiter verwalteten die Krankenversicherung gemeinsam und waren in den Entscheidungsgremien vertreten: in der Generalversamm36 Die äußerst umfangreiche Literatur zu Friedrich Naumann wurde von Shanahan als »Spiegel des wilhelminischen Deutschland« bezeichnet. Für die sozialpolitischen Vorstellungen und Aktivitäten Naumanns siehe Theiner und Krüger, S. 43–47. 37 Siehe den 1889 von Naumann verfassten »Arbeiterkatechismus«, in Naumann, S. 1–63. 38 Siehe besonders »Nationale Sozialpolitik«, in: ebd., S. 233–251. 39 Sheehan, Brentano, S. 143–153. 40 Zur Entwicklung der Versichertenzahlen der Gemeindeversicherung siehe die Tabelle 7 im Anhang.

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lung (in Kassen, die mehr als fünfhundert Mitglieder hatten, wählten die Versicherten Vertreter in die Generalversammlung, KVG, § 37) und im Vorstand der Kassen (im Verhältnis zu ihrer finanziellen Beteiligung). Aufgrund ihres weitaus größeren Beitrags zur Finanzierung der Krankenversicherung verfügten die Arbeiter hier über eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Stimmen; die Arbeitergeber, die nur für ein Drittel der Kosten aufkamen, hielten den Rest der Sitze (KVG, §§ 36–38). Andererseits waren letztere, da ausschließlich sie für die Unfallversicherung aufkamen, hier allein für die Verwaltung zuständig. Die Arbeiter ihrerseits waren je zur Hälfte in den Schiedsgerichten vertreten, bei denen sie Rentenbeschlüsse anfechten konnten (UVG, § 62). Darüber hinaus waren Arbeitervertreter an Entscheidungen beteiligt, welche die Unfallverhütung betrafen (UVG, § 79), insofern als dass sie sich den gleichen Strafzahlungen aussetzten wie die Arbeitgeber, wenn sie die Vorschriften missachteten (UVG, § 78). Die Einführung der Selbstverwaltung mit den ersten Versicherungsgesetzen stellte zunächst eine Antwort auf ganz praktische Erfordernisse dar. Das Prinzip selbst war jedoch auch Gegenstand lebhafter Diskussionen, die sich aus unterschiedlichen Konzeptionen des Sozialen ergaben. So knüpfte die Selbstverwaltung in der Krankenversicherung zwar an bestehende Praktiken an, war aber zugleich Ergebnis eines Kompromisses. Zentrumsmitglieder und Liberale wollten mit der Selbstverwaltung die staatliche Einmischung zurückdrängen, verknüpften damit aber gegensätzliche Erwartungen: Konservative und Sozialkatholiken sahen in der Selbstverwaltung eine Möglichkeit der Begegnung und des Ausgleichs zwischen Arbeitern und Arbeitgebern, für die Liberalen war sie hauptsächlich eine Instanz zur Artikulation gegensätzlicher Interessen, während die Sozialdemokraten sie als Instrument zur Verteidigung der Arbeiterinteressen betrachteten. Auch die großen Debatten über die Einrichtung der Berufsgenossenschaften zeugen von den Spannungen zwischen den unterschiedlichen Positionen. Die Zentrumskatholiken unterstützten die Berufsgenossenschaften. Sie sahen im Beitrag der Arbeitergeber und in dem Umstand, dass die Versicherung von ihnen auf berufsständischer Grundlage verwaltet wurde, einen Ausdruck des unternehmerischen Wohlwollens, das die Arbeiter durch Dankbarkeit binden und das soziale Gleichgewicht im Betrieb gewährleisten sollte. Dieses patriarchalische Verständnis der Berufsgenossenschaften und des Selbstverwaltungsprinzips wurde auch von dem konservativen Großindustriellen Stumm-Halberg geteilt, der für die Reichspartei sprach. Bismarck selbst schätzte die Berufsgenossenschaften ebenfalls, seine Auffassung von der Rolle dieser Körperschaften ging über Erwägungen ihres praktischen Beitrags zur Versicherungsverwaltung allerdings weit hinaus. Für Bismarck waren sie Vertretungsorgane einer ständisch organisierten Gesellschaft und sollten den politischen Parteien im Reichstag Konkurrenz machen, denen er die Legitimität absprach. Im Jahr 1880 hatte er die Idee eines Volkswirtschaftsrates erwogen, der die unterschiedlichen Wirtschaftsakteure vertreten sollte. Ausgehend von Preußen hätten dessen Kompetenzen schrittweise auf das ganze Reichsgebiet ausgedehnt werden 103

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und am Ende den Reichstag ablösen sollen.41 Man kann im Konzept der Berufsgenossenschaften, vor allem in der Version der zweiten Regierungsvorlage des IVG, durchaus eine Wiederaufnahme dieser Vorstellung sehen. Albert Schäffle, von dem die Idee stammte, und Adolf Wagner, der ihr wohlwollend gegenüberstand, sahen in den Berufsgenossenschaften eine Möglichkeit, Politik und Gesellschaft des Reichs auf neue Grundlagen zu stellen.42 Im Jahr 1887 versprach man sich von der Verwaltung der Invaliditätsversicherung durch Berufsgenossenschaften eine Stärkung dieser Körperschaften. Die Selbstverwaltung der Versicherungen wurde also von konservativen Akteuren mit ständischen und gemeinschaftlichen Argumenten begründet und unterstützt. In dem Maße jedoch, wie sich Arbeiter ihrer bemächtigten, wurde sie zu einem Ort demokratischer Interessenvermittlung. 3.2 Der Eintritt der Arbeiter in die Selbstverwaltung und ihre Transformation Selbst unter den Arbeitern stark industrialisierter Regionen scheint zunächst eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber den Möglichkeiten geherrscht zu haben, die durch die Selbstverwaltungsgremien geboten waren. Das legen zumindest die Teilnehmerzahlen der ersten Generalversammlungen der OKK und besonders die Beteiligung an den Wahlen der Arbeitervertreter nahe, die oft unter 10 % lag. Die Vertreter der Versicherten in den Leitungsausschüssen wurden deshalb oft von lokalen Behörden ernannt, denen die Aufsicht über die Kassen oblag (außer im Fall der Fabrikkassen). Meistens übernahmen Arbeitgeber die Leitung der Kassen.43 Die Zurückhaltung der Arbeiter ist einerseits sicher auf die verbreitete Unkenntnis der vom Gesetz vorgesehenen Mechanismen zurückzuführen. In Chemnitz beispielsweise waren jene General­versammlungen bestens besucht, zu denen die Mitglieder schriftlich eingeladen worden waren. Andererseits klafften die Vorstellungen des Gesetzgebers und die konkreten Gegebenheiten am Ort oft weit auseinander. So merkten die Verwalter von Kassen in Breslau oder im Bezirk Osnabrück an, dass die Selbstverwaltung der OKK eigentlich die unmittelbare Nachbarschaft der Versicherten erfordere, eine in den großen Städten illusorische Bedingung.44 Tatsächlich war die Zahl der Teilnehmer an den Generalversammlungen der Fabrikkassen, wo diese Nachbarschaft gegeben war, höher. Im Unterschied zu den Arbeitern kamen die Arbeitgeber ihren Verwaltungsaufgaben in der Unfallversicherung von Beginn 41 Siehe hierzu Marzisch. 42 Siehe die Analyse von Weber, A., Entwicklung. 43 Beispiele hierfür aus Chemnitz und Lübeck in Tennstedt, Geschichte, S. 327 f.; für das Elsass siehe Kott, Des philanthropies, S. 548–551. Einen allgemeinen Überblick bietet Tennstedt, Geschichte, S. 48–49. 44 Kaul und AVS, Jg. 4, 1886, S. 21.

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an mit großem Eifer nach, auch wenn sie wiederholt auf die hohen Belastungen hinwiesen, die ihnen daraus erwuchsen. Seit Ende der 1880er Jahre beteiligten sie sich zudem an den paritätischen Verwaltungsgremien der Krankenversicherung.45 Die Arbeiter begannen erst um die Jahrhundertwende und auf dem Umweg über ihre Gewerkschaften, sich in den Selbstverwaltungsorganen der Versicherungen stärker zu engagieren. Die steigende Beteiligung an den Wahlen ihrer Vertreter in den Krankenkassen oder den Schiedsgerichten belegt das, auch wenn diese noch 1913 nur knapp 30 % betrug. In manchen Städten und Regionen wurden diese Wahlen durch ausgiebige Presseberichterstattung zu lokalen Großereignissen. Die Wählerlisten wurden genau auf eventuelle Täuschungen kontrolliert, in einigen Fällen waren die Wahlbüros dem Ansturm nicht gewachsen.46 Dieses Interesse war unter anderem eine Folge der Politisierung dieser Wahlen, die auf den wachsenden Einfluss der Sozialdemokratie und der freien Gewerkschaften einerseits und auf die sich deutlicher artikulierende Opposition der katholischen Parteien und Gewerkschaften auf der anderen Seite zurückgeführt wurde. So erklärten sich zumindest Zeitgenossen die Bedeutung der Wahlen – nicht zuletzt, um ihre jeweilige Anhängerschaft zu mobilisieren.47 Das mag für große Industriestädte tatsächlich zutreffen. Ein Blick in länd­lichere Regionen wie das Elsass zeigt allerdings, dass die Beteiligung an General­ versammlungen und Vertreterwahlen der Krankenkassen in kleinen Gemeinden abseits der Hochburgen der Arbeiterbewegung regelmäßiger gewesen zu sein scheint. Die Versicherten legten offensichtlich großen Wert auf die Möglichkeit, die Geschäfte »ihrer Kasse« zu überwachen. Im Elsass sind zahlreiche Spaltungen auf diesen Willen zur genauen Kontrolle der Leitungsausschüsse zurückzuführen. Das Engagement der Versicherten bezeugt die hohe Wertschätzung, die sie den Kassenleistungen entgegenbrachten. Die wachsende Bedeutung der Selbstverwaltung sollte deshalb nicht ausschließlich auf den Eintritt der Sozialdemokratie in die Vorstände zurückgeführt werden, auch wenn sich ihr Einfluss in allen paritätischen Gremien um die Jahrhundertwende zweifellos verstärkte. Im Jahr 1913 wurden zwei Drittel der Arbeitervertreter der OKK von den freien Gewerkschaften gestellt.48 Aber waren die Kassen deshalb zu einer Plattform des Klassenkampfs geworden, wie ihre Kritiker behaupteten? In einer Befragung, die das preußische Handels- und Industrieministerium anlässlich der Novellierung des Gesetzes von 1883 durchführte, gaben die Lokalbehörden für den Zeitraum zwischen 1892 und 1900 insgesamt nur 28 meist unbedeutende Streitfälle an. Der Bezirk Düsseldorf war der einzige, in dem sich die Arbeitgeber aus mehrheitlich sozialdemokratisch be45 Siehe vor allem Tennstedt, Geschichte, S. 39–65, und die oben zitierten historischen Darstellungen der verschiedenen Kassen. 46 Vgl. Tennstedt, Geschichte, und Kott, Des philanthropies, S. 641–644 sowie S. 35. 47 Siehe hierzu besonders Möller. 48 Kleeis, Gewerkschaften, S. 198.

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setzten Leitungsausschüssen zurückzogen. Insgesamt betonten Vertreter beider Seiten das gute Einvernehmen zwischen Arbeitern und Arbeitgebern in den paritätischen Gremien und bekundeten die Absicht, dies auch beibehalten zu wollen, um gegen ihre »gemeinsamen Feinde« – Verwaltungsbeamte und vor allem Ärzte  – vorgehen zu können.49 Aus dem Kreis der Ärzte verlauteten tatsächlich die meisten Klagen über sozialdemokratische Kassenverwalter. Die Angst vor der Sozialdemokratie wurde von ihnen in Konflikten instrumentalisiert, die sich keineswegs nur auf die Opposition zu den Sozialdemokraten zurück­ führen ließen.50 3.3 Selbstverwaltung unter Kontrolle Die Selbstverwaltung der Krankenkassen geriet zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts immer stärker in die Kritik. Von Seiten der Ärzte hieß es, die Sozialdemokratie hätte sich dieses Instruments bemächtigt. In diesem Sinn äußerte sich auch Reichskanzler von Bülow 1905 im Reichstag. Auf der anderen Seite stellten Vertreter der Arbeiter die Selbstverwaltung in den Berufsgenossenschaften mit dem Argument in Frage, dass sie den Industriellen die Durchsetzung ihrer Standpunkte unverhältnismäßig erleichtere. Der erste Entwurf der RVO nahm die Kritik auf und führte Maßnahmen zur Einschränkung der Selbstverwaltung ein. Die Aufgabe, die Konflikte zu entschärfen, übernahmen die neu gegründeten Versicherungsämter, das heißt öffentliche Behörden. In den Krankenkassen sollte die Wahl des Kassenvorsitzenden durch die beiden Wahlkollegien bestätigt werden; falls das nicht geschah, bestimmte mit dem Präsidenten der Versicherungsämter ein Beamter einen Vorsitzenden. Diese »Bürokratisierung« wirkte sich in der Invaliditätsversicherung besonders stark aus. Die Vertreter der Arbeitgeber und Arbeiter verloren ihre gemeinsame Entscheidungsvollmacht im Bereich der Festlegung und Revision der Renten und Pflegeleistungen, mit anderen Worten in besonders umstrittenen Fällen.51 Auch in der Angestelltenversicherung war der Einfluss der Bürokratie sehr groß, obwohl der Staat hier gar keine finanzielle Unterstützung leistete.52 Die Unfallversicherung dagegen blieb von diesem Prozess weitgehend verschont; die uneingeschränkte Herrschaft der Arbeitgeber ließ hier allerdings auch kaum Konflikte entstehen. 49 Vgl. vor allem die Kongresse des Centralverbands der Ortskrankenkassen. Im Jahr 1901 hoben die Vertreter der Versicherten hervor, dass Arbeitgeber und Arbeiter bei den Wahlen nicht systematisch in Opposition zueinander gerieten. Für den Verband der badenschen OKK siehe AVS, Jg. 19, 1901, S. 54–57. 50 Siehe hierzu Möller, sowie die Literatur, die sich am Ende des Jahrhunderts mit der »Arztfrage« beschäftigte. Vor allem Ärztlicher Lokalverein. 51 Siehe die Stellungnahmen der Versichertenvertreter in: Protokoll der Konferenz, S. 62–64. 52 Jahn.

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Mit der Einschränkung der Unabhängigkeit in Form einer stärkeren Kontrolle der Selbstverwaltungsgremien verfolgte die RVO eindeutig ein politisches Ziel. Die Reichsverwaltung erhielt entscheidende Befugnisse in der Geschäftsführung der Kassen. Der ganze Vorgang zeigt übrigens, wie mit Konflikten umgegangen werden sollte: Wenn die Unvereinbarkeit der Interessen festgestellt und keine Einigung erzielt werden konnte, unterdrückte man mit der Selbstverwaltung einfach die organisatorische Plattform der Konfliktaustragung. In Wirklichkeit förderte die alltägliche Mitwirkung der Gewerkschaftler und Sozialdemokraten in den paritätischen Gremien und in der Verwaltung der Kassen die Verbreitung reformistischer Praktiken und Ansätze in der Arbeiterbewegung, ja, letztlich ihre Integration in die Nation.53 Die Integrationsstrategie der Liberalen war also durchaus erfolgreich, doch gleichzeitig veränderte sich die Bedeutung der Selbstverwaltung entscheidend. Zunächst als Mittel zur Regelung gemeinsam wahrgenommener Aufgaben gedacht, boten sie bald den Raum, um die in der Gesellschaft wirkenden Konflikte zu artikulieren und zu lösen. Linksliberale und Sozialdemokraten betrachteten die Selbstverwaltung als eine Art Volksschule der Demokratie, als Instrument zur Konfliktregulierung und gehörten deshalb zu den entschiedensten Fürsprechern einer Ausweitung der Selbstverwaltung.54 Dazu gehörte auch die Praxis des Aushandelns, die in England als Basis der industrial democracy gesehen wurde.

4. »Industrielle Demokratie« in der Praxis In industrial democracy55 wurde auch die Situation in England beschrieben, wo Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände seit den 1840er Jahren Praktiken und Verfahren der Tarifverhandlung (collective bargaining) entwickelt hatten. In anderen industrialisierten Ländern war nach und nach der Gesetzgeber an die Stelle schwach oder gar nicht organisierter Sozialpartner getreten. Dabei waren Institutionen entstanden, die sich der Vermittlung und Moderation widmeten – hauptsächlich mit dem Ziel, soziale Konflikte zu schlichten, Arbeitskämpfe ganz zu vermeiden oder zumindest zu begrenzen. In Belgien führte ein Gesetz von 1887 Vermittlungsausschüsse auf lokaler Ebene ein; in Österreich entstanden 1888 per Gesetz Branchenkommissionen; in Frankreich beteiligte ein Gesetz von 1892 den örtlichen Friedensrichter (juge de paix) an der Vermittlung in sozialen Konflikten. In Neuseeland sah ein Gesetz von 1894 gar die Möglichkeit einer Zwangsschlichtung unter Führung der öffentlichen Behörden vor.56 Auch wenn die in Deutschland implementierten Lösungen zweifellos aus53 Siehe zu diesem Punkt Ritter, G. A., Sozialdemokratie S. 302. 54 Siehe besonders den Artikel von Frankenberg. 55 Webb u. Webb. 56 Fortunet.

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geprägte Besonderheiten aufwiesen, sind sie gleichwohl als spezifische Ausprägung einer globalen Entwicklung zu betrachten. Ansätze zur »industriellen Demokratie« entfalteten sich hier auf zwei unterschiedlichen Ebenen: einerseits in den Betrieben, in denen Arbeiterausschüsse entstanden – Vorläufer der späteren betrieblichen Mitbestimmung; andererseits auf der Ebene von Betriebszusammenschlüssen beziehungsweise Industriebranchen. 4.1 Die Arbeiterausschüsse: Orte betrieblicher Mitbestimmung? Die im Zuge der Novellierung der GO 1891 eingeführte Möglichkeit, von Arbeitern gebildete Arbeiterausschüsse in den Unternehmen anerkennen zu lassen, war von demselben, zwischen Liberalismus und Neokorporatismus oszillierenden Geist sozialer Aussöhnung inspiriert wie die Selbstverwaltung.57 Arbeiterausschüsse wurden erstmals in den Schriften des Politikers und Staatsrechtlers Robert von Mohl erwähnt und stellten zunächst eine politische Forderung einiger liberaler und demokratischer Abgeordneter in der Frankfurter National­versammlung von 1848 dar. Die ersten Arbeiterausschüsse wurden dennoch von Industriellen eingeführt, die dem Sozialkatholizismus nahestanden: von Franz Brandts in Mönchen-Gladbach 187358 und – auf Anregung des Düsseldorfer Regierungspräsidenten Hans Freiherr von Berlepsch – von anderen linksrheinischen Textilindustriellen, die sich im Linksrheinischen Verein für Gemeinwohl zusammenschlossen. Die breite Unterstützung, die Betriebsausschüsse durch sozialkatholische Milieus in den 1880er Jahren erfuhren,59 ergab sich daraus, dass sie mit ihnen eine sozialmoralische Mission verbanden. Da er Arbeiter und Arbeitgeber einander näherbrachte, betrachteten sie den Betriebsausschuss als Instrument zur Aufrechterhaltung der Sozialordnung. Die meist von den Unternehmern ernannten Mitglieder der Arbeiterausschüsse beteiligten sich an der Verwaltung der sozialen Einrichtungen und sollten über die Sittlichkeit ihrer Arbeitskameraden wachen – vor allem über die als der »Gefahr des Sittenverfalls« besonders ausgesetzt geltenden Jugendlichen und Frauen. Diese Funktion war im Kotzenauer Stahlwerk Marienhütte in Schlesien außerordentlich ausgeprägt. Hier unterlag jeder Schritt, den ein Arbeiter in seinem Privatleben unternahm (Heirat, Familienplanung), der Zustimmung durch den Betriebsausschuss, der so zu einem Instrument der Moralisierung und Re­ christianisierung der Arbeiterklasse werden sollte. 57 Siehe Teuteberg, S. 213–312. 58 Die Literatur zu Brandts ist umfangreich, siehe etwa Arbeiterwohl, 1883, V, S. 89–92 und 1892, I, S. 70–74, . 59 Siehe vor allem Koch, Arbeiterausschüsse, S. 13–19, und die Artikel in Arbeiterwohl, 1890, VII, S.  197–199, IX, 226–231, 1891, VI, p.128–131. Siehe auch Stegmann, Katholizismus, S. 68–97.

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Ganz anders sah das Konzept Heinrich Freeses aus, Inhaber der Hamburg-Berliner Jalousienfabrik60, der 1884 in seinem Unternehmen durch eine Generalversammlung der Arbeiter einen Betriebsausschuss wählen ließ. Der Linksliberale Freese sah in der Entwicklung der Arbeiterausschüsse einen Weg, die Arbeiter an den sozialen Angelegenheiten des Unternehmens zu beteiligen und ihnen Rechte zu übertragen. In Freeses Fabrik begnügte sich der Arbeiterausschuss nicht mit der Verwaltung der sozialen Einrichtungen, sondern spielte darüber hinaus eine wichtige Rolle bei der Ausarbeitung der Fabrikordnung, der Arbeitszeitregelungen, der Festlegung und Auszahlung der Löhne. Dieses Modell, das von den Liberalen gefördert wurde, blieb allerdings die Ausnahme. Die meisten Industriellen und Sozialreformer, die Arbeiterausschüsse unterstützten  – acht lokale Unternehmerverbände, Sozialpolitiker wie Gustav Schmoller und Max Sering61 – sahen in ihnen hauptsächlich ein probates Mittel, den Betriebsfrieden zu wahren und die Sozialdemokratie zu bekämpfen. Dies wird deutlich in den Erklärungen des Dessauer Industriellen Wilhelm Oechselhäuser, der 1887 den Verein der anhaltischen Arbeitgeber gründete und Fabrikausschüsse propagierte.62 Auch Wilhelm II. definierte sie in seinem Erlass vom 4. Februar 1890 an den Minister für öffentliche Arbeiten Albert von Maybach und den Handelsminister Hans Freiherr von Berlepsch in diesem Sinn.63 Vor diesem Hintergrund mussten die Arbeiterausschüsse den Sozialdemokraten fast zwangsläufig wie ein Konkurrenzunternehmen zu den traditionellen Arbeiterorganisationen erscheinen. Ihre Ablehnung wurde noch verstärkt durch den Umstand, dass die Gewerbeordnungsnovelle von 1891 nicht von Lockerungen des restriktiven Vereinsrechts begleitet wurde, sondern dass  – im Gegenteil – von Berlepsch noch im selben Jahr den § 153 der GO verschärfen wollte. Der Sozialdemokrat Max Schippel, der sich allerdings später dem Bernsteinschen Revisionismus anschloss und für die sozialdemokratische Übernahme der Arbeiterausschüsse einsetzte, argumentierte im Jahr 1893, dass die Befugnisse und Funktionen dieser Institution durch die Logik der kapitalistischen Gesellschaftsordnung notwendig begrenzt seien und dass Meinungsund Redefreiheit des Arbeiters in Privatunternehmen generell undenkbar sei. Doch unter den im CDI versammelten Großunternehmern waren die zwangsweise eingerichteten Arbeiterausschüsse genauso unbeliebt  – freilich aus entgegensetzten Gründen64: Sie widersprachen ihrer Auffassung vom Machtgefüge im Unternehmen, in dem der Eigentümer seine Autorität uneingeschränkt ausüben können sollte. Diesen »Herr-im-Hause-Standpunkt« vertraten vor allem großindustrielle Patriarchen wie Alfred Krupp und sein Geschäftsführer 60 Zu Freeses Gesellschaftsvorstellungen siehe Freese, S. 4–19. 61 Schmoller. Für Schmoller hatten die Ausschüsse einen doppelten Effekt: einerseits waren sie Verhandlungsgremien und förderten den sozialen Frieden, andererseits zwangen sie die Arbeiterorganisationen (vor allem die Sozialdemokratie) in das Spiel der Verhandlungen. 62 Zu den Gesellschaftskonzepten Oechselhäusers siehe Oechselhäuser. 63 Quellensammlung, II, 1, S. 513. 64 Büren, Bd.1, S. 60–75.

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Hanns Jencke oder der saarländische Montanindustrielle Carl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg. Nach der Aufhebung der Sozialistengesetze fürchteten die Industriellen deshalb umso mehr, dass die Arbeiterausschüsse den Sozial­demokraten in die Hände fallen und sich als Waffe gegen sie richten könnten – in ihren eigenen Betrieben. Die Fassung des § 134 der Gewerbeordnungsnovelle von 1891 ist ein Ergebnis dieser Spannungen. Die veränderte Vorschrift bestimmte, dass Fabrik­ ordnungsentwürfe für Betriebe mit mehr als fünfzig Beschäftigten einem Betriebsausschuss vorgelegt werden mussten. Gleichzeitig wurden die Unternehmer allerdings nicht verpflichtet, solche Arbeiterausschüsse anzuerkennen. Für den Fall, dass ein solcher Ausschuss nicht existierte, sollte an seiner Stelle der Vorstand der BKK die Prüfung übernehmen – wenn es eine solche Kasse gab. Die Widersprüchlichkeit der Regelung hemmte die weitere Entwicklung der Arbeiterausschüsse.65 Die Ablehnung sowohl der Arbeitgeber als auch der Sozialdemokraten sowie das Gewicht der traditionellen Machtstrukturen in den Betrieben erklären den relativen Misserfolg dieser Institution. Im Jahr 1905 gab es nur in rund 10 % der Betriebe mit mehr als zwanzig Beschäftigten Arbeiterausschüsse, deren Funktion überdies meist sehr begrenzt war. Während sie im Nordosten Preußens völlig unterrepräsentiert waren, kamen sie im Regierungsbezirk Düsseldorf und in Württemberg relativ häufig vor. Dieser Befund zeigt den Zusammenhang der Entwicklung mit der sozialkatholischen Tradition auf der einen und der liberal-konstitutionellen Tradition auf der anderen Seite. Die sozialkatholischen Arbeitgeber des Rheinlands und ein Großteil der patriarchalischen Industriellen nutzten die Arbeiter­ausschüsse, um ihre Politik der Annäherung zwischen Arbeitern und Arbeitgebern voranzutreiben; sie sollten soziale Bindungen konsolidieren, die mit der wachsenden Bürokratisierung der industriellen Großbetriebe zu verloren gehen drohten. Aus denselben Gründen waren die Befugnisse der Ausschüsse genau festgeschrieben und – neben den gesetzlichen Vorschriften bezüglich der Fabrikordnung  – in der Regel auf die Wohlfahrtseinrichtungen des Unternehmens begrenzt.66 Das konstitutionelle Modell der liberalen Unternehmer beruhte dagegen stärker auf dem Willen, die Rechtsstellung der Arbeiter und Arbeitgeber einander anzugleichen; in diesem Modell erstreckten sich die Befugnisse der Arbeiterausschüsse in der Regel auch auf Fragen der betrieblichen Arbeitsorganisation.67 Freeses Berliner Jalousienfabrik oder das Zeiss-Werk in Jena waren diesbezüglich zwar vorbildlich, aber seltene Ausnahmen. Letztlich konnten auch Zahl und Funktionsweise der Arbeiterausschüsse um die Jahrhundertwende von den Forderungen der Arbeiter und dem lokalen Machtverhältnis abhängen. So ging ihre Einrichtung im Elsass, wo ihre Aus-

65 Siehe hierzu besonders Koch, Arbeiterausschüsse, S. 19–31. 66 Zu dieser Sichtweise siehe ebd. S. 74–80, und ders., Aufgaben und Organisation, S. 93–101. 67 Freese; Fischer, W. und Teuteberg, S. 254–272.

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breitung durch starke Widerstände der Arbeitgeber behindert wurde,68 auf entsprechend nachhaltige Forderungen der Arbeiter voran. Der Gewerbeaufsichtsbeamte berichtete 1906 über die Tätigkeit der ersten Arbeiterausschüsse und merkte an, dass drei von ihnen nach der Streikbewegung des Jahres 1906 eingerichtet worden waren.69 Insgesamt ist festzustellen, dass die Arbeiterausschüsse nicht wirklich eine Plattform für gleichberechtigte Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern boten. Der Bergbau, in dem seit 1905 eigene Regelungen galten, war hier eine gewisse Ausnahme. Auf die Schwierigkeiten, die mit der Einrichtung eines Gremiums im Industriebetrieb verbunden waren, das sich auf vertraglicher Basis der Konfliktprävention widmete, hatte die liberale Bewegung immer hingewiesen. Im Übrigen trug die fortschreitende Kartellbildung ebenfalls dazu bei, die Wirksamkeit kleinräumiger Regelungsmechanismen zu begrenzen. Sozialpolitiker und Gewerkschaftler sprachen sich deshalb für außerbetriebliche Institutionen und Verfahren der Konfliktaustragung und Kollektivverhandlung aus, die zugleich über mehr Breitenwirksamkeit und größere Autonomie verfügen sollten. 4.2 Zwischen Kollektivverhandlung und Schlichtungsverfahren Die Arbeitskammer, die einen Gesetzentwurf von 1908 konzipierte, wäre ein solcher Ort für Kollektivverhandlungen gewesen.70 Der konservative Volkswirtschaftler Gustav von Schönberg hatte seit 1871 für die Einführung von Arbeitsämtern zur Lösung für soziale Konflikte geworben. Schönbergs Konzept sah von Beamten geleitete, paritätisch besetzte Institutionen vor, in denen unter Führung des Staates Bedingungen für eine Annäherung von Arbeitern und Arbeitgebern geschaffen und auf diese Weise Konflikte vermieden werden sollten. Die Idee einer permanenten Einrichtung, in der Arbeitnehmer und Arbeitgeber der Industrie zu gleichen Teilen vertreten sein sollten, wurde bis zum Ende des Jahrhunderts in der einen oder anderen Form zwar von allen politischen Strömungen aufgenommen, ihre Bedeutung verschob sich jedoch erheblich. Für sozialkatholische Sozialreformer wie Franz Hitze und vor allem für liberale Mitglieder der GSR handelte es sich weniger um Institutionen, in denen unter Anleitung des Staates ein harmonischer Ausgleich hergestellt werden sollte, als vielmehr um einen Ort für die Artikulation gegensätzlicher Interessen der Sozialpartner.71 Diese Bedeutungsverschiebung machte die Arbeitskammern für Konservative erst recht unannehmbar, wie Carl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg 1899 betonte. Den entscheidenden Vorteil dieser paritäti68 VAB 1892, S. 35, und 1902, S. 35. 69 AD BR AL 27.226. 70 Harms. 71 Schriften.

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schen Vertretungsorgane sahen Katholiken wie Liberale aber vor allem in der Möglichkeit, Konflikte dadurch eindämmen zu können, dass die Bedingungen für Arbeitsverträge kollektiv ausgehandelt und festgelegt wurden. Diese Auffassung von den Arbeitskammern als Regulationsinstanzen wurde von den Sozialdemokraten nicht geteilt. Im Gegenteil: sie interpretierten sie analog zu den französischen Bourses du Travail einerseits und den Industrie- und Handelskammern andererseits als genuine Vertretungsorgane der Arbeiterschaft.72 Für sie stellten sie also eher Orte der Forderungsverlautbarung als solche der Konfliktregelung dar. Hinter der um die Jahrhundertwende geführten Debatte über Arbeitskammern vs. Arbeiterkammern verbargen sich folglich erheblich größere Divergenzen als die semantische Abweichung vermuten lässt. Da in diesen Punkten keine Einigung erzielt werden konnte, scheiterte der Gesetzesvorschlag aus dem Jahr 1908. Das Fehlen einer Regulationsinstanz, die Konflikte bereits in der Frühphase vermied und ihre Eskalation verhinderte, führte zu einer Neuorientierung, insbesondere zu Überlegungen, Verhandlungen als alternative Form der Konfliktaustragung zum Streik aufzuwerten.73 Unter dem Eindruck der großen Streiks des Jahres 1905 ging Lujo Brentano sogar so weit, für die Arbeiter der Großindustrie Organisationszwang vorzuschlagen und ihn mit einem Verhandlungszwang zu koppeln.74 Diese Äußerungen, die Brentanos gewöhnlich liberale Haltung in Frage stellten, sind vor dem Hintergrund der beschleunigten Kartellbildungsprozesse in der deutschen Industrie zu betrachten, die allgemein als Bedrohung wahrgenommen wurden. Obwohl der Staat bereits im Jahr 1910 punktuell als Schlichtungsinstanz in Arbeitskonflikte eingriff, konnte sich die Idee eines zentralen, institutionalisierten Schlichtungsverfahrens, wie es sich christliche Gewerkschaften und die GSR am Vorabend des Ersten Weltkriegs vorstellten, erst in der Weimarer Republik durchsetzen. Brentanos radikaler Pessimismus wurde von den wenigsten Sozialpolitikern geteilt. Insgesamt standen sie paritätischen Vermittlungsinstanzen offen gegenüber und gründeten große Hoffnungen auf die Einigungsfunktion der 1890 eingesetzten Gewerbegerichte. Tatsächlich sah § 3 des Gesetzes über die Gewerbegerichte von 1890 die Möglichkeit vor, zur Schlichtung von kollektiven Arbeitskonflikten die in den Gewerbegerichten eingerichteten Einigungsämter anzurufen. Diese bedeutsame Neuerung war kaum umstritten. In der Praxis der Gerichte, deren Zahl in den 1890er Jahren kontinuierlich anstieg (von 97 im Jahr 1889 auf 292 im Jahr 1899), war die Einigungsfunktion zweitrangig. In den Jahren 1900 und 1901 schlugen die Abgeordneten des Zentrums und der Nationalliberalen deshalb vor, die Einigungsämter der Gewerbegerichte systematisch auszubauen. Das Gesetz von 1901, das die Einführung von Gewerbegerichten in allen Kommunen vorschrieb, die mehr als 20.000 Einwoh72 Schöttler, S. 116–117. 73 Hierzu siehe Neuhaus. 74 Sheehan, Brentano, S. 160–165.

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ner hatten, ging darauf zurück. Die Schlichtungsfunktion der Gewerbegerichte wurde allerdings zwischen 1899 und 1913 nur in 4,3 % der Konflikte in Anspruch genommen. Trotzdem konnten die mit den Verfahren betrauten Juristen nach und nach Konzepte und Praktiken entwickeln und in der Zeitschrift Soziale Praxis diskutieren, die vom Verband deutscher Gewerbegerichte mit herausgegeben wurde. Ihre Rolle entwickelte sich mit der Ausbreitung von Tarifverträgen erheblich weiter, da Vertragsbrüche egal welcher Partei vor das Einigungsamt gebracht werden konnten. Im Übrigen förderten die Juristen der Einigungsämter das Tarifvertragswesen und begleiteten es mit ihrer Expertise. 4.3 Die Tarifverträge Die ersten Gruppen von Arbeitern, die bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Tarifverträge gegen ihre Dienstherren durchsetzen konnten, waren die Schriftsetzer. Doch erst seit den 1890er Jahren sind Tarifverträge dank der Einigungsämter besser dokumentiert. Vor dem Ersten Weltkrieg wurden 13 % der Industriearbeiter auf Grundlage eines Tarifvertrags beschäftigt und entlohnt. In den allermeisten Fällen (77 % im Jahr 1914) handelte es sich um Verträge, die nur in einem einzigen Betrieb galten, in Unternehmen mit relativ wenigen Beschäftigten und Branchen handwerklicher Tradition: Im Jahr 1913 gab es nur in 11,2 % der Betriebe mit mehr als fünfzig Beschäftigten Tarifverträge, davon waren nur 14 % aller von Tarifverträgen erfassten Arbeiter betroffen.75 Die relativ geringe Zahl tarifvertraglich geregelter Beschäftigungsverhältnisse war die Folge ausgeprägter Spannungen zwischen Fürsprechern und Gegnern des Tarifvertrags. Die liberalen und die christlichen Gewerkschaften befürworteten Tarifverträge, da es sich mit ihrem Selbstverständnis vereinbaren ließ, die Arbeiterinteressen im Rahmen der kapitalistischen Gewerkschaft zu vertreten. So warben die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine seit 1871 für Tarifverträge; die christlichen Gewerkschaften stellten die Forderung nach Tarifverträgen gar in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit. Das Erstarken reformistischer Strömungen in den Freien Gewerkschaften führte seit 1899 auch hier zu einer positiveren Haltung gegenüber Tarifverträgen, die spätestens in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg sogar als Mittel zur Stärkung der Freien Gewerkschaften betrachtet und entsprechend gefördert wurden. Dieser Positionswandel sollte 1918 die Gründung der zwischen Hugo Stinnes und Carl Legien ausgehandelten Zentralarbeitsgemeinschaft erleichtern. Bis 1914 lehnten die im CDI organisierten Unternehmer Tarifverträge allerdings ab, weil sie einerseits kein Interesse daran hatten, die Rolle der Gewerk75 Zu den Tarifverträgen siehe die Sammlung von Quellen der katholischen Gewerkschaften von Imle, Friedensdokumente; dies., Tarifverträge. Einen Überblick bietet Ullmann, Tarifverträge. Zu den Zahlenangaben siehe Rudischhauser. Siehe auch zusammenfassend Reidegeld, Staatliche, S. 263–267.

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schaften als Verhandlungspartner zu institutionalisieren, und andererseits um ihre Entscheidungsfreiheit im Unternehmen fürchteten. Allerdings zeichnete sich allgemein in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine gewisse Öffnung ab, insofern Tarifverträge nun auch als Mittel zur Konfliktprävention und zur Verbesserung der Wettbewerbsordnung in den Industriebranchen betrachtet wurden. Dieser Sinneswandel ging mit einer räumlichen Ausweitung des Geltungsbereichs der Tarifverträge einher. Im Jahr 1914 gab es in zehn Berufszweigen Tarifverträge mit reichsweiter Geltung; der Tarifvertrag der Schriftsetzer erfasste 700.000 Beschäftigte. Gerade dieser Umstand beschleunigte dann den Geltungsverlust einer bestimmten, patriarchalischen Herrschaftsweise im Betrieb, die auf dem fiktiven Bild persönlicher Bindungen zwischen dem Unternehmer und »seinen« Arbeitern beruhte. In den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg veränderten sich Tarifverträge auch inhaltlich, über die Festlegung von Löhnen und Arbeitszeiten hinaus konnten auch geringfügigere Hygiene- und Sicherheitsbedingungen aufgenommen werden, wie etwa im Fall des Tarifvertrags innerhalb der Bauindustrie. Trotz zahlreicher Diskussionen sowohl in juristischen Kreisen als auch zwischen Sozialpolitikern blieb der juristische Status von Tarifverträgen ebenso unsicher wie die rechtliche Position der Gewerkschaften bei solchen Abschlüssen. Ob sich die Tarifpartner an die Verträge hielten, hing eng mit ihrer Dialogfähigkeit und dem jeweiligen Kräfteverhältnis zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften zusammen.76

Zusammenfassung Verglichen mit England steckte die soziale Demokratie im Jahr 1914 in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Die Gewerkschaftsquote war niedrig, die Praxis der Kollektivverhandlung kaum ausgeprägt, Zahl und Geltungsbereich der Tarifverträge waren sehr begrenzt. Weder rechtlich noch institutionell war die »industrielle Demokratie« bis zum Ersten Weltkrieg in der deutschen Gesellschaft verankert. Im Vergleich mit der Situation in Frankreich wirkt die deutsche Entwicklung dagegen normal, ja, fast fortschrittlich. Im demokratischen Frankreich der Dritten Republik war die gewerkschaftliche Koalitionsfreiheit erst 1884 eingeführt worden, die Gewerkschaftsquote lag unter 2 % und war wesentlich niedriger als in Deutschland. Praktiken der Kollektivverhandlung wurden zwar ausgiebig diskutiert und zwischen 1899 und 1902 von Handelsminister Alexandre Millerand, einem gemäßigten Sozialisten, unterstützt. Sie konnten sich jedoch ebenso wenig durchsetzen77 wie vertragsrechtlich oder durch Absprachen garantierte Tarifabschlüsse. Der Anteil der von ihnen pro-

76 Ebd. 77 Rousselier, S. 103–117.

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fitierenden Arbeiter lag mit 5 % folglich ebenfalls niedriger als in Deutschland.78 In gewisser Weise betrachteten ihre französischen Fürsprecher die Kollektivverhandlung als Übertragung von parlamentarischen Beratungspraktiken und Entscheidungsverfahren aus der Politik in die Sphäre der Industrie. Millerand sprach in diesem Sinn von »industriellem Parlamentarismus« (parlamentarisme industriel). Das Beispiel Frankreichs zeigt, dass politische und soziale Demokratie nicht immer notwendig miteinander gekoppelt waren. Diese Kopplung gelang paradoxerweise im konservativen deutschen Kaiserreich eher: Hier entstanden Strukturen und Orte, an denen entsprechende Lernprozesse einsetzen konnten. Die Selbstverwaltung in den verschiedenen Versicherungszweigen ermutigte – allen Einschränkungen und Unzulänglichkeiten zum Trotz – Arbeiter dazu, sich zu organisieren, ihre Rechte wahrzunehmen und sie zu verteidigen.79 Auch die Kommunen und vor allem die Arbeiterorganisationen selbst waren solche Orte. Insgesamt war die Endphase des Kaiserreichs zugleich eine Phase intensiver Diskussionen über die Praktiken sozialer Demokratie. In den Jahren 1918–1920 konnte so in einem für den reformistischen Flügel der Arbeiterbewegung stellenweise günstigen Kontext der Grundstein für die Institutionen dieser »industriellen Demokratie« gelegt werden, auf dem die erste deutsche Republik später aufbaute.

78 Die Zahlen nach Rudischhauser. 79 Dieselbe Argumentation zugunsten einer paritätischen Sozialversicherung und gegen ein Universalsystem (social security) vertrat der Leiter der Sozialversicherungsabteilung der IAO, Osvald Stein, im Jahr 1942: »social insurance can and must remain an institution for civic education, the image and instrument of democracy in action«, siehe Stein, S. 274.

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Kapitel 5 Die Frauen – am Rand der Sozialpolitik

Die gender studies haben seit den 1980er Jahren zu einer Revision der Geschichtsschreibung über den europäischen Wohlfahrtstaat und darüber hinaus zu einer Erneuerung der Fragestellung beigetragen.1 Historische Arbeiten konnten aufzeigen, dass die Sozialgesetzgebung in den ihr zugrundeliegenden Gesellschaftsvorstellungen, in den konkreten Regelungsinhalten und in den aus ihr hervorgehenden Praktiken geschlechterspezifische Dimensionen aufwies. Im Hinblick auf die Wirkung der Sozialgesetze wurde von einigen die These vertreten, dass die der Sozialpolitik impliziten patriarchalischen Vorstellungen von sozialer Ordnung die Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern in der Arbeitswelt eher noch verstärkten. Tatsächlich waren die anlässlich der Vorbereitung und Verabschiedung von Sozialgesetzen überall in Europa geführten Diskussionen durch zwei sich ergänzende, aufeinander verweisende Elemente geprägt: durch das nahezu ungebrochen vorherrschende Modell des Mannes als Alleinverdiener auf der einen und dem Bild der Frau als Ehefrau und Mutter auf der anderen Seite. Nicht als Erwerbstätige, nicht als Arbeiterinnen sollten Frauen Schutz vor den gesundheitlichen und moralischen Risiken der industriellen Arbeitswelt genießen, sondern als Trägerinnen von Funktionen, die ihnen in der Reproduktionsarbeit, der Kindererziehung und Haushaltsführung zugeschrieben wurden.2 Deshalb, so das Argument, seien die zum Schutz der Frauen eingeführten sozialpolitischen Maßnahmen ein deutliches Zeichen für den Ausschluss von Frauen aus bestimmten, männlich konnotierten Berufen und Tätigkeitsfeldern. Die Maßnahmen hätten diese Tendenz sogar noch verstärkt und so die Frauen in der Gesellschaft weiterhin in untergeordneten, als spezifisch weiblich betrachteten Stellungen festgehalten. Ausgehend von den sozialpolitischen Debatten, den konkreten Regelungsinhalten und der Umsetzung der deutschen Sozialgesetzgebung wird im Folgenden zunächst dieses Argument diskutiert – insbesondere die Frage nach den Voraussetzungen und den Folgen des gesetzlichen Frauenschutzes. Es wäre allerdings von vornherein verfehlt, Frauen lediglich als Objekte der Sozialpolitik zu betrachten, waren sie doch an ihrer Umsetzung als Mitwir1 Siehe die Pionierstudie von Wilson; zur Diskussion der feministischen Geschichtsschreibung in den 1980er Jahren siehe Gordon, What does, Cloven u. Piven und Gordon, Women, S. 9–35. Auslander u. Zancarini-Fournel. 2 Siehe den grundlegenden Artikel von Koven u. Michel, sowie die Monographien Pedersen und Frader.

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kende und Klientinnen aktiv beteiligt. Im zweiten Abschnitt steht deshalb die Frage im Mittelpunkt, inwiefern die Sozialgesetzgebung den Frauen Räume öffnete, in denen sie ihre Stimme überhaupt erst erheben und sich nachdrücklich Gehör verschaffen konnten. Allerdings gilt es, genau hinzuhören, um heraus­ arbeiten zu können, auf welche Weise Frauen sich der ihnen nur unvollständig gewährten sozialen Rechte bemächtigten, um die Sozialgesetze zu ihren Gunsten entweder zu nutzen oder zu umgehen.3 In der Forschung wird seit den 1990er Jahren über die Rolle der sozialen Tätigkeiten für die Integration der Frauen in den Bereich der betrieblich organisierten Erwerbsarbeit diskutiert. Auf der Grundlage der ihnen in der Haushaltsführung zuerkannten Kompetenzen und in Fortführung von Formen des traditionellen karitativen Engagements konnten Frauen aktiven Anteil an der am Ende des 19. Jahrhunderts wachsenden Professionalisierung sozialer Berufe haben und somit einen weiteren Bereich der Erwerbstätigkeit für sich erschließen. Wo und wie genau solche Prozesse stattfanden, ist der Gegenstand des letzten Abschnitts dieses Kapitels.4

1. Die Widersprüche des gesetzlichen Arbeiterinnenschutzes 1.1 Frauenerwerbstätigkeit: Realitäten und Repräsentationen in der sozialpolitischen Debatte Zwischen 1885 und 1902 stieg der Anteil von Frauen an der Gesamtzahl der Krankenversicherten von 17 auf 22,2 %. Zu dieser Entwicklung trug zwar auch die schrittweise Ausweitung der Krankenversicherung auf neue Gruppen bei, sie ist aber vor allem auf die wachsende Erwerbstätigkeit von Frauen zurückzuführen. Diese stieg zwischen 1882 und 1907, also etwa im selben Zeitraum, von 18,5 auf 26,4 %.5 Verhältnismäßig oft waren Frauen in der Landwirtschaft und im Dienstleistungsbereich beschäftigt. So arbeiteten im Jahr 1907 allein 40 % der erwerbstätigen Frauen in der Landwirtschaft (meist im Rahmen der familiären Mitarbeit). Ihr Anteil an den Beschäftigten des Dienstleistungsbereichs lag 1907 bei 15 %, hatte sich hier allerdings seit 1882 halbiert. Diese Zahlen und Tendenzen belegen, dass und wie Frauen in das Erwerbsleben integriert waren: in meist gering geachteten, untergeordneten Tätigkeiten sowie in Bereichen, in denen sie so gut wie keine Sozialschutzmaßnahme erreichte. In der Industrie stieg ihr Anteil zwischen 1882 und 1907 dagegen leicht an (von 17,6 auf 18,6 %). Die wachsende Mechanisierung der Produktionsprozesse 3 Siehe das diesbezüglich vorbildliche Werk von Ellerkamp, S. 163–222. 4 Siehe zu diesem letzten Punkt sowie für weiterführende Literatur Walkowitz. Für die Entwicklung in Frankreich, vgl. Diebolt. 5 Für die Angaben siehe Simon; Plössl.

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bei gleichzeitiger Entqualifizierung von Teilen der Industriearbeit begünstigte in diesem Zeitraum eine Zunahme der Frauenerwerbsarbeit in einigen Branchen wie der Tabakindustrie, der Konfektion und der Weberei, in denen im Jahr 1907 mehr als die Hälfte der Beschäftigten weiblich waren. Der steigende Anteil an Frauen ging mit einem gleichzeitigen Absenken des Qualifikationsniveaus einher. Zwischen 1895 und 1907 stieg der Anteil der ungelernten Arbeiterinnen an den Industriearbeitern von 5,4 auf 7,1 %, während sich diese Tendenz für ihre männlichen Kollegen umkehrte. Das relativ niedrige Qualifikationsniveau der Arbeit und die entsprechend geringeren Löhne der Frauen ergaben sich nicht zuletzt aus dem Umstand, dass Frauenerwerbstätigkeit als Ausnahmefall oder Zuverdienst gesehen wurde. Denn ob Frauen bezahlte Arbeit aufnahmen oder nicht, hing in den meisten Fällen vom Bedarf des Familienhaushalts ab: Ihr Arbeitslohn galt als – oft notwendige – Ergänzung des Familieneinkommens, das zum größten Teil von den männlichen Familienmitgliedern verdient wurde (Vater, Ehemann und Sohn). Im Fall von deren Arbeitslosigkeit oder anderen Notlagen ersetzte er ihn jedoch ganz. Alleinstehende Frauen und Witwen waren für ein Einkommen unweigerlich auf eigene Erwerbstätigkeit angewiesen.6 Auch wenn die Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen noch die Ausnahme war, nahm sie tendenziell zu. Zwischen 1882 und 1907 stieg der Anteil der Frauen, die nach aufeinander­folgenden Geburten in die Lohnarbeit zurückkehrten, von 13,2 auf 21,3 %.7 Einer Untersuchung aus dem Jahr 1899 zufolge arbeiteten damals in Industriebetrieben 229.334 verheiratete Frauen. Obwohl verheiratete Frauen also eine vergleichsweise kleine Gruppe der Erwerbsarbeiterschaft bildeten, konzentrierten sich die Anstrengungen der So­ zialreformer vor allem auf sie. Für wichtige Vertreter der Nationalökonomie und der europäischen Sozialreform stand die Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen in skandalösem Widerspruch zu den ihrer Ansicht nach natürlichen Aufgaben der Frau als tugendhafte Ehegattin und treusorgende Mutter.8 Als Verteidiger einer traditionellen Familienordnung lehnten die deutschen Konservativen wie auch sozial engagierte Katholiken während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts9 die Lohnarbeit von Ehefrauen deshalb kategorisch ab.10 Sie waren indes nicht die einzigen. Auch einige Sozialisten sahen die Aufgaben der Frau vor allem darin, sich um die Betreuung der Kinder zu kümmern, die 6 Das ergab eine von Gewerbeaufsichtsbeamten im Jahr 1899 über die Lage verheirateter Arbeiterinnen durchgeführte Untersuchung. Ergebnisse dieser Untersuchung wurden vorgestellt in SP, Jg. 10, 1900–1901, S. 715–718; zum Hamburger Beispiel finden sich Ergebnisse in SP, Jg. 9, 1899–1900, S. 1264. 7 Für einen kritischen Literaturüberblick, siehe den fundierten Artikel von Canning, hier S. 748–751. 8 Vgl. zu dieser Thematik allgemein die Analysen in Tilly u. Scott; Scott. 9 Schmitt, S. 19–79. 10 Für die Position der Katholiken siehe die zahlreichen Artikel in der Zeitschrift Arbeiterwohl, z. B. 1884, S. 1–14; 1886, S. 17–37; 1892, S. 37–40; 1901, S. 129–200.

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Ordnung der Familie zu erhalten und für die Reproduktion der Arbeitskraft des Ehemanns zu sorgen.11 In den Gewerkschaften überwogen indes ökonomische Argumente. Gewerkschafter betrachteten weibliche Erwerbstätige vor allem als Konkurrentinnen der männlichen Arbeiter und verurteilten Frauenerwerbstätigkeit generell mit dem Argument, dass sie deren Löhne unter Druck setze. Sie befürworteten stattdessen das Familieneinkommen nach britischem Vorbild, das es dem Mann erlaubte, den Familienunterhalt allein zu verdienen.12 In allen Milieus der Sozialreform wurden schließlich hygienische und moralische Argumente gegen die Fabrikarbeit verheirateter Frauen ins Feld geführt. Trotz dieser breiten Kritik wurde ein Verbot der Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen nie ernsthaft ins Auge gefasst, Industrielle lehnten ein solches Verbot schon aus ökonomischen Gründen ab. In allen europäischen Ländern setzte sich stattdessen eine andere Lösung durch. Sie bestand darin, den Arbeiterinnen besonderen Schutz angedeihen zu lassen, um die Widersprüche zwischen der sozialen und ökonomischen Notwendigkeit der Lohnarbeit auf der einen und den »natürlichen« Aufgaben der Frau auf der anderen Seite zu verringern oder ganz aufzulösen. Dieser Ansatz stieß unter den männlichen Vordenkern und Praktikern der Sozialreform, aber auch in den verschiedenen Fraktionen der Frauenbewegung auf breite Zustimmung.13 Die christlichen Sozialreformer sahen in den Schutzbestimmungen allerdings eher einen ersten Schritt auf dem Weg zum Verbot der Erwerbsarbeit verheirateter Frauen, eine Auffassung, die auch Heinrich Herkner, Professor für Nationalökonomie und zukünftiger Vorsitzender des Vereins für Socialpolitik, vertrat. In einem Artikel aus dem Jahr 1890 unterstützte er die Schutzmaßnahmen für Arbeiterinnern, erklärte aber zugleich: »Als Ziel wird freilich immer der Ausschluss derjenigen Frauen, die Mutterpflichten zu erfüllen haben, vorschweben müssen«.14 Liberale Sozialreformer beriefen sich nicht auf moralische, sondern auf rechtliche Argumente. Sie hoben hervor, dass die Arbeiterin sich in einer Lage doppelter Unmündigkeit befand: Auf der einen Seite verfüge sie mangels Geschäftsfähigkeit nicht über das Recht, Arbeitsverträge zu unterzeichnen und Arbeitsverhältnisse einzugehen, auf der anderen Seite dürfe sie (das galt zumindest bis 1908) auch am politischen Leben nicht teilhaben, sei in der Arbeiter­ bewegung kaum vertreten und deshalb auch nicht in der Lage, eigenständige Forderungen zu erheben.15 Der Staat müsse eingreifen, um die Frauen – ähnlich wie die Kinder – zu schützen und ihre rechtliche und politische Unmündigkeit auszugleichen. Auf der Basis dieser Argumentation traten die Liberalen für die 11 Fischer. 12 Vgl. die Untersuchung des Berliner Falls in Nolan. Diese Argumentation findet man des Weiteren in Hitze, Sociale Frage, S.  70: Hier wird die Lassalle’sche Analyse des »ehernen Lohngesetzes« aufgenommen. 13 Quataert, Source Analysis. 14 Herkner, Kritik, S. 229. 15 Brentano, Fabrikgesetzgebung, S. 18.

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Verrechtlichung der Frauenarbeit insgesamt und unabhängig von der familiären Situation der Frau ein.16 Unter den Sozialdemokraten setzte sich die Option für eine Sondergesetzgebung durch. August Bebel betrachtete 1879 in »Die Frau und der Sozialismus« Frauenerwerbstätigkeit beziehungsweise die finanzielle Unabhängigkeit, die sie implizierte, als Grundbedingung für die Gleichheit von Mann und Frau. An diese Vorstellung anknüpfend erklärte Clara Zetkin 1889 in ihrer Rede »Für die Befreiung der Frau« vor der Sozialistischen Internationale ihre Ablehnung jeglicher Maßnahmen, die Frauen unter dem Vorwand, sie schützen zu wollen, in Abhängigkeitsverhältnisse zwang. Sie führte aus: »Wie der Arbeiter vom Kapitalisten unterjocht wird, so die Frau vom Manne; und sie wird unterjocht bleiben, so lange sie nicht wirtschaftlich unabhängig dasteht. Die unerläßliche Bedingung für diese ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit ist die Arbeit. Will man die Frauen zu freien menschlichen Wesen, zu gleichberechtigten Mitgliedern der Gesellschaft machen wie die Männer, nun, so braucht man die Frauenarbeit weder abzuschaffen noch zu beschränken, außer in gewissen, ganz vereinzelten Ausnahmefällen… Nur eine einzige Ausnahme lassen wir zugunsten schwangerer Frauen zu, deren Zustand besondere Schutzmaßregeln im Interesse der Frau selbst und der Nachkommenschaft erheischt.«17 Zwar nahmen die Sozialdemokraten die Forderung nach Schutzbestimmungen für weibliche Arbeiter im Jahr 1875 in ihr Gothaer Programm auf, doch im Erfurter Programm von 1891 fehlten sie. In der Praxis schlossen sich die Sozialdemokraten dennoch zunehmend der Forderung nach speziellen Schutzbestimmungen für arbeitende Frauen an – auch Clara Zetkin und der sozialistische Flügel der Frauenbewegung. Letztere gaben in den 1890er Jahren die noch im vorangegangenen Jahrzehnt stark vertretene Gleichheitsforderung zugunsten eines realpolitischen Kompromisses auf – sie übernahmen die Forderungen der Arbeiterinnen nach besonderen Schutzbestimmungen (z.B. begrenzte Arbeitszeit), dafür sollten die Frauen ihre Männer besser im Kampf unterstützen können.18 Um die Jahrhundertwende vertraten Sozialdemokratinnen schließlich selbst differenzialistische Forderungen, etwa nach der Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs und vor allem nach der Halbtagsarbeit. Dieses Modell galt als die beste Möglichkeit, die häuslichen Pflichten mit der Erwerbsarbeit zu vereinbaren. Dahinter stand die Idee, den Frauen, die sich zu Hause aufopferten, um den Männern für das Engagement in der Arbeiterbewegung den Rücken freizuhalten, das Elend der Doppelbelastung zu ersparen: Definitiv war zu diesem Zeitpunkt die von Clara Zetkin 1889 betonte Autonomie der Frau einer engen Abhängigkeit der Frau vom Mann und der Familie gewichen.19 16 Müller, R. 17 Zetkin, S. 3–11. 18 Zu den Schwierigkeiten der Sozialdemokraten, die spezifischen Probleme der Frauen zu denken, siehe Evans, sowie Quataert, Feminists. 19 Schmitt, S. 76–79.

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Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Beweggründe und Argumente wurde in den 1890er Jahren die Sondergesetzgebung für den Arbeiterinnenschutz entwickelt. Die Industriellen trugen diese Lösung mit, da so ein Verbot der Lohnarbeit verheirateter Frauen und vor allem eine Diskussion über die Arbeitszeit aller erwachsenen männlichen Arbeiter vermieden werden konnte. Dieser Punkt ist bedeutsam: denn während die differenzialistische Sondergesetzgebung die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen verstärkte, begrenzte sie zugleich ganz allgemein den Bereich, der von den Sozialgesetzen überhaupt erfasst wurde. 1.2 Arbeiterinnenschutz? Erwerbstätige Frauen zwischen gesetzlichem Arbeitsschutz, Sozialversicherung und Armenhilfe Die gesetzlichen Arbeitsschutzbestimmungen für Frauen waren von den unterschiedlichen Vorstellungen geprägt, die sich im Verlauf der Debatten artikulierten  – insbesondere jedoch von einer patriarchalischen Vorstellung der Geschlechterverhältnisse. So ist es nur logisch, dass sie die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen in der Arbeitswelt nur verstärken konnten. Die Arbeitsgesetze betrafen zunächst Mütter und zukünftige Mütter. Seit 1878 war ein unbezahlter Mutterschaftsurlaub von zunächst vier Wochen vorgesehen, der 1891 auf sechs und 1908 auf acht Wochen (davon zwei vor der Geburt) ausgedehnt wurde. Die Krankenversicherung flankierte diese Gesetzgebung, in dem sie Wöchnerinnen seit 1883 mindestens drei Wochen, ab 1892 vier Wochen lang ein Mutterschaftsgeld gewährte. Des Weiteren galt die Verringerung der Tagesarbeitszeit auf zunächst elf (bzw. zehn an Samstagen und am Tag vor freien Festtagen), ab 1908 auf zehn Stunden nicht nur, wie vom Zentrum vorgeschlagen, für verheiratete Frauen, sondern auch für unverheiratete – mithin für alle Frauen. Den stärksten Widerstand gegen diese Sonderregelung leisteten die Arbeitgeber, da sie die Umsetzung von Sonder- und Ausnahmeregelungen für zu kompliziert hielten. Allerdings konnten »Arbeiterinnen, die ein Hauswesen zu besorgen haben«, die Mittagspause um eine halbe Stunde verlängern (auf eineinhalb Stunden). Vor allem hygienische und moralische Bedenken dienten zur Begründung sowohl von speziellen Arbeitsschutzbestimmungen20 für Frauen auf der einen als auch von Einschränkungen von Rechten auf der anderen Seite. So sah beispielsweise das »Gesetz über die Unfall- und Krankenversicherung der in landund forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigten Personen« von 1886 vor, unverheirateten Schwangeren und Wöchnerinnen die Auszahlung der Versicherungsleistungen während der Mutterschutzzeit zu verweigern (§ 135) und befand sich damit im offenen Gegensatz zu den Vorschriften der Krankenver20 So etwa das Nachtarbeitsverbot (zwischen 20:30 und 5:30 Uhr).

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sicherung. In ihrer Praxis verstärkten auch die Gewerbeaufsichtsbeamten diese moralische Dimension der Gesetzgebung, indem sie besonders darauf achteten, vermeintliche Anreize und günstige Rahmenbedingungen für »lasterhafte Ausschweifungen« zu unterbinden. Ihre Sorge um die peinlich genaue Einhaltung der Geschlechtertrennung in den Werkshallen, den Toiletten und Umkleiden (seit 1891 gesetzlich vorgeschrieben) sowie die Einführung von nach Geschlecht getrennten Aufenthaltsräumen sind Beispiele, die deutlich das Verständnis der Beamten für ihre Tätigkeit »zugunsten der Frauen« zeigen. Die zum Schutz der Arbeiterinnen erlassenen Gesetze sind allerdings auch, vielleicht sogar vor allem, ein deutlicher Hinweis auf die Marginalisierung der erwerbstätigen Frauen. Die Bestimmungen des Gesetzes von 1891 bezogen sich nur auf die Fabrikarbeiter, das heißt auf jene, die in Betrieben mit mehr als zehn Arbeitern beschäftigt waren. Der große Teil der erwerbstätigen Frauen arbeitete allerdings in Kleinstbetrieben und in Heimarbeit. Ungefähr ein Fünftel von ihnen arbeitete in Betrieben mit weniger als zehn Beschäftigten, was gegen Ende des 19.  Jahrhunderts auf die Mehrheit etwa der Betriebe in der Konfektionsbranche zutraf. Ein Großteil der Arbeiterinnen wurde folglich vom gesetzlichen Arbeitsschutz gar nicht erfasst, sondern litt sogar unter besonders harten Arbeitsbedingungen bei gleichzeitig sehr niedrigen Löhnen. Ein Streik von etwa 40.000 Konfektionsarbeiterinnen im Jahr 1896 wirft ein Schlaglicht auf diese randständige Lage. Zwar konnten sich die Arbeiterinnen mit ihren Lohnforderungen nicht durchsetzen, doch die schrittweise per Verordnung ausgeweitete Geltung der Arbeitsschutzbestimmungen auf kleinere Betriebe ließ eine wachsende Zahl von Frauen in den Genuss sozialgesetzlicher Garantien kommen. Heimarbeiterinnen blieben von dieser Ausweitung allerdings nach wie vor ausgeschlossen, ja, die Unternehmer der Textilindustrie griffen daraufhin sogar vermehrt auf Heimarbeit zurück, um den gesetzlichen Arbeitsschutz zu umgehen. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs befand sich deshalb noch ein bedeutender Teil der weiblichen Erwerbstätigen außerhalb des Gültigkeitsbereichs der Arbeitsgesetzgebung, was ihre Marginalität noch einmal unterstreicht. Dasselbe lässt sich für die Arbeiterversicherungen feststellen. Im Jahr 1901 waren 75 % der männlichen Arbeiter krankenversichert, aber nur 39,6 % der Arbeiterinnen. Für einen Großteil der erwerbstätigen Frauen, insbesondere für Landarbeiterinnen, Heimarbeiterinnen oder Haushaltsbedienstete, galt keine Versicherungspflicht, abgesehen von einigen seltenen lokalen Statuten. Der Versicherungsschutz vieler Frauen wurde vielmehr von der Gemeindeversicherung übernommen, die von der Organisation und vom Selbstverständnis her eher an die traditionelle Armenhilfe angelehnt war, für die Zeit während und nach der Niederkunft aber keine Leistungen gewährte. Allerdings konnten Frauen, die mit Leistungsberechtigten verheiratet waren, unter bestimmten Bedingungen in den Genuss von Krankenversicherungsleistungen kommen. Diese Inklusion der Ehefrau in den Kreis der Leistungsberechtigten setzte allerdings voraus, dass die mehrheitlich männlich besetzte Generalversammlung der jeweiligen Krankenkasse eine Erhöhung der Beitragssätze beschloss. In solchen Fällen 123

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wurden die Kosten für Arztbesuch und Medikamente von der Krankenkasse übernommen (KVG, § 21, Abs. 5). Die OKK Frankfurt am Main war 1886 eine der ersten, die dies ermöglichte21, gefolgt von weiteren großen OKK in Leipzig, Dresden, Köln und Bremen.22 Da diese Praxis statistisch kaum dokumentiert ist, lässt sich ihre Verbreitung nur schwer abschätzen. Das elsässische Beispiel legt immerhin die Vermutung nahe, dass sie auf die größten Krankenkassen beschränkt und relativ selten blieb.23 Auch von den Leistungen der Krankenkassen blieben die Frauen also bis zum Ersten Weltkrieg weitgehend ausgeschlossen. In der Alters- und Invaliditätsversicherung nahm die Exklusion andere Formen an. Im Jahr 1901 zahlten 81,6 % der erwerbstätigen Männer und 76,9 % der erwerbstätigen Frauen Versicherungsbeiträge, der Unterschied fiel in diesem Fall also geringer aus. Allerdings ließen sich die oft von zahlreichen, mehr oder weniger langen Unterbrechungen gekennzeichneten Erwerbsbiografien von Frauen nur schwer mit der Notwendigkeit regelmäßiger Beitragszahlungen vereinbaren, ohne die kein Rentenanspruch bestand. Des Weiteren machten Frauen rege von der gesetzlich eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, sich bereits gezahlte Beiträge zurückerstatten zu lassen. Es kann also nicht verwundern, dass sie unter den Empfängern von Altersrenten nur eine kleine Minderheit darstellten. In Elsass-Lothringen bekamen im Jahr 1913 Frauen nur 8,9 % der insgesamt an ehemalige Arbeiter ausgezahlten Altersrenten, während sich ihr Anteil an den Versicherten auf 20 % belief.24 Stärker als Männer waren Frauen im Alter deshalb auf die Armenhilfe angewiesen. Von den in Berlin lebenden Frauen im Alter von 70 bis 79 Jahren bezogen im Zeitraum 1907 bis 1910 nur 12 % eine Rente (unter den Männern lag der Anteil mit 37,6 % mehr als dreimal so hoch), während 33,8 % vom städtischen Armenbüro abhängig waren (gegenüber 19 % der Männer). Im gesamten Untersuchungszeitraum lag in Deutschland der Anteil der Frauen an den über sechzigjährigen Empfängern städtischer Unterstützungsleistungen durchgehend bei etwa drei Vierteln. Einer weitgehend maskulinisierten Versicherung stand also eine überwiegend feminisierte Armenhilfe gegenüber. Oft näherten sich die städtischen »Almosen« in der Höhe den ausgezahlten Renten an, weshalb die Vermutung naheliegt, dass das Niveau der städtischen Unterstützungsleistungen an das der Renten angepasst wurde.25 In beiden Fällen reichten die ausgezahlten Summen allerdings kaum für den Lebensunterhalt. Zudem war die Invaliditätsrente ein Rechtsanspruch, sie wirkte integrierend; auf die Armenhilfe angewiesen zu sein bedeutete hingegen, dass sich die soziale Stigmatisierung verstärkte. 21 AVS, Jg. 4, 1886, S. 142. 22 Zur Praxis einiger Krankenkassen, siehe die Beispiele in AVS, Jg. 26, 1908, S. 102–105. 23 Im Jahr 1913 hatten lediglich drei OKK des Ober-Elsass diese Möglichkeit eingeführt, zudem nicht einmal vollständig. Die großen Unternehmen der Maschinenbauindustrie dachten im Jahr 1910 über die Einführung nach, ohne auf großen Widerspruch zu stoßen. 24 Bericht des Vorstandes, S. 17. 25 Conrad, Greis, S. 289–344.

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Abschließend lässt sich festhalten, dass die Versicherungsgesetzgebung vorhandene Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern sowie die soziale Exklusion der Frau ebenso betonte, wenn nicht gar verstärkte wie die Arbeitsgesetzgebung. Dennoch öffneten die Sozialgesetze für Frauen auch Räume politischer Teilhabe, von der sie lange ausgeschlossen waren.

2. Frauen als Akteure der Sozialpolitik Die sozialrechtliche Realität der Frauen war höchst prekär, in jedem Fall deutlich prekärer als die der Männer.26 Diese Prekarität ergab sich sowohl aus ihrer doppelt beherrschten Lage in den sozialen und den Geschlechterbeziehungen als auch aus ihrer marginalen Position in den Führungsgremien der Versicherungen und in den Institutionen der Gewerbeaufsicht. 2.1 Frauen in den sozialpolitischen Institutionen: eine untergeordnete und randständige Position Anders als in England, Frankreich oder den USA kamen Frauen in Deutschland erst vergleichsweise spät zur Gewerbeaufsicht. Versuche von Frauen, aktiv an der Aufsicht mitzuwirken, stießen hier zunächst auf heftige Ablehnung, und so konnten sie lediglich untergeordnete Positionen einnehmen. Seit 1884 hatten Arbeiterinnenvereine die Notwendigkeit betont, Frauen an der Fabrikinspektion mitwirken zu lassen, um eine bessere Durchsetzung der sie betreffenden Vorschriften zu erreichen. Zwar unterstützte die Sozialdemokratie diese Forderung seit Beginn der 1890er Jahre, doch die parlamentarische Diskussion setzte erst mit einer Petition ein, die der Bund deutscher Frauenvereine im Jahr 1894 an den Bundesrat, den Reichstag und die verschiedenen Landtage richtete.27 Im folgenden Jahr trat in Hessen die erste Frau in den Dienst des Gewerbeaufsichtsamtes.28 Im Jahr 1912 arbeiteten bereits dreißig Frauen in der Gewerbeaufsicht, davon 14 in Preußen, sechs in Sachsen, fünf in Bayern, drei in Württemberg, jeweils eine in Baden und den anderen Ländern. Diese Entwicklung hing eng mit der Ausweitung des Geltungsbereichs der Arbeitsschutzbestimmungen auf die Konfektionsbetriebe im Jahr 1897 sowie auf die in der Heimarbeit beschäftigten Kinder im Jahr 1903 zusammen: Frauen in der Gewerbeaufsicht waren vor allem mit den hygienischen und moralischen Problemen der Frauen- und Kinder26 Vgl. zum folgenden: Kott, Des philanthropies, S.  556–563 und S.  659–662; Ellerkamp, S. 164–222, Schmitt, S. 76–79, und vor allem Reichsamt des Innern, Jahresberichte, 1892– 1920, besonders die Berichte für das Jahr 1899. 27 Vgl. für eine Analyse dieser Debatte: Schröder, S. 91–101. 28 Siehe dazu: Schmitt, S. 140–149, sowie Jaffé-Richthofen, S. 50–64.

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arbeit betraut. Die Gewerbeaufsichtsämter führten ihre weiblichen Mitarbeiter allerdings in der Regel als Assistentinnen der männlichen Aufsichtsbeamten, also auf untergeordneten Positionen. Das badische Gewerbeaufsichtsamt stellte diesbezüglich eine Ausnahme dar, denn hier versah mit Else von Richthofen die erste deutsche Gewerbeaufsichtsbeamtin ihren Dienst – eine Stellung, die zumindest teilweise auf die Intervention ihres Doktorvaters Max Weber zurückzuführen ist. In der preußischen Gewerbeaufsicht waren die Mitarbeiterinnen nicht verbeamtet und verfügten über eine weitaus schlechtere Ausbildung als ihre männlichen Kollegen. Da sie selbst keine eigenständigen Berichte verfassten, sind fundierte Aussagen über ihre Tätigkeit und ihre Beziehungen mit den Arbeiterinnen nur schwer möglich.29 Auch in den Leitungsgremien der Arbeiterversicherungen nahmen Frauen in der Regel nur untergeordnete Positionen ein. Anders als von den Sozialisten und den Linksliberalen gefordert, schloss das IVG von 1889 Frauen (ebenso wie Ausländer) von den Wahlen zu den Leitungsausschüssen der LVA (IVG § 50) und den Schiedsgerichten (IVG § 71) aus. Nach dem Gewerbegerichtsgesetz (GGG) von 1890 waren sie zu den Wahlen der Vertreter bei den Gewerbegerichten ebenfalls nicht zugelassen (GGG § 10, i. V. m. Gerichtsverfassungsgesetz §§ 31–32; GGG § 13). Erst die RVO aus dem Jahr 1911 gestand ihnen das aktive Wahlrecht zu, hielt aber den Ausschluss von den Verwaltungsgremien aufrecht. In den Krankenkassen war das von vornherein anders: Hier nahmen Frauen als Kassenmitglieder an den Generalversammlungen teil, wählten Vertreter für die Vorstandswahlen oder den Vorstand der Kassen mit und konnten sich auch passiv wählen lassen (KVG §§ 34 und 37). In diesem Fall verfügten sie also über echte »sozialstaatsbürgerliche« Rechte. Bei der Berücksichtigung sozialer Rechte von Frauen zeichnet sich in diesem Bereich folglich eine Verschiebung ab: Während die ersten Sozialgesetze vom Beginn der 1880er Jahre Frauen in eher gemeinschaftlich verwaltete Institutionen integrierten, schloss das um 1890 verabschiedete zweite Bündel an Sozialgesetzen sie von der Teilhabe weitgehend aus – weil sie aus verfassungsmäßigen Bürgerrechten abgeleitet wurden, die Frauen nicht besaßen. In der Praxis war dieser Unterschied weniger deutlich ausgeprägt. Auch wenn Frauen das (aktive und passive)  Wahlrecht hatten, wurden sie selten selbst in Generalversammlungen gewählt und noch seltener in die Vorstände der Kassen entsandt.30 Die Kasse des Bandwebereiunternehmens Bary Mérian im kleinen elsässischen Ort Guebwiller zählte im Jahr 1888 573 weibliche und 286 männliche Mitglieder; unter den 19 Mitgliedern der Generalversammlung waren sieben Frauen, die von Werkshallen mit ausschließlich weiblicher Belegschaft gewählt wurden; unter den fünf Vorstandsmitgliedern war schließlich

29 Siehe Karl, S. 240–272. 30 Siehe hierzu den Bericht von Friedeberg auf der Versammlung des Kassenverbands in Stuttgart im Jahr 1901, AVS, Jg. 19, 1901, S. 550.

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nur noch eine einzige Frau.31 Im Jahr 1901 zählte der Vorstand der bedeutenden Frankfurter OKK ebenfalls nur eine einzige Frau zu seinen Mitgliedern. 2.2 Der Kampf der Frauen um ihre sozialen Rechte Da Frauen schlecht vertreten waren, hatten sie große Mühe, ihre Rechte zu verteidigen und Forderungen durchzusetzen. Nicht selten kam es zum Beispiel vor, dass schwangere oder neu verheiratete Frauen – diese aufgrund zukünftig erwarteter Schwangerschaften  – entlassen wurden, obwohl dies gesetzlich verboten war.32 Zwar war diese Praxis in Phasen konjunktureller Abschwünge vor allem im Interesse der Arbeitgeber, aber auch die Vorstände der Kranken­ kassen befürworteten oder duldeten diese Praxis, da sie im Muttergeld vor allem eine Belastung der Kassenfinanzen erblickten. Im Übrigen zahlten die Kassen das Muttergeld selten über die gesetzlich vorgeschriebene Zeit hinaus, so dass Frauen nach der Entbindung eines Kindes die von der GO vorgeschriebene Erholungszeit selten in Anspruch nehmen konnten.33 Die zwei Wochen Differenz zwischen den entsprechenden Vorschriften der GO und denjenigen der Versicherungsgesetze zwang einen Großteil der Frauen bereits zum früheren Zeitpunkt zurück an den Arbeitsplatz. Die Situation unverheirateter Mütter war noch schwieriger, da sie nicht ohne weiteres mit der Auszahlung des Muttergelds rechnen konnten. In den ersten Jahren nach Verabschiedung des Gesetzes verlangten Kassenvorstände in solchen Fällen des Öfteren die Abschaffung dieser Leistung, obwohl dies gesetzlich gar nicht vorgesehen war.34 Generell waren Frauen als Mitglieder von den Kassen nicht gern gesehen. Neben den durch Schwangerschaften und Geburten verursachten Kosten beschuldigte man sie pauschal des übermäßigen Medikamentenverbrauchs und der Verschwendung von Beitragsgeldern für belanglose, etwa kosmetische­ Zwecke.35 Die freien Kassen hielten Frauen mit solchen Argumenten erfolgreich auf Distanz. In den 1880er Jahren betrug ihr Anteil an der Mitgliedschaft hier nur 10 %.36 31 Stadtarchiv (Archives municipales) Guebwiller Q IV 23. 32 Vgl. die Darstellung zum Beispiel Barmen in AVS, Jg. 14, 1896, S. 440. Diese Praktiken waren allerdings stark konjunkturabhängig. 33 Die GO sah sechswöchigen Mutterschaftsurlaub vor (in Ausnahmefällen vier Wochen), während die Krankenkassen gesetzlich lediglich dazu verpflichtet waren, vier Wochen lang Muttergeld zu zahlen (in Ausnahmefällen auch sechs Wochen lang). Diese Fristen wurden auf acht (1908) bzw. sechs (1903) Wochen angehoben. Erst die RVO harmonisierte diese unterschiedlichen Bestimmungen und schrieb die Unterstützungsdauer für Wöchnerinnen auf acht Wochen fest. 34 AVS, Jg. 2, 1884, S. 378 und S. 397, sowie für Rheinland-Westphalen, Jg. 4, 1886, S. 330. 35 Vgl. den interessanten Wortwechsel zwischen Dr. Friedeberg und Gräf, Mitglied des Vorstands der Frankfurter OKK, auf der Versammlung des Kassenverbands 1901 in Stuttgart, dokumentiert in AVS, Jg. 19, 1901, S. 550 f. 36 Stollberg, Hilfskassen, S. 339–369.

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Einer genaueren Prüfung hielten diese Argumente freilich nicht stand. Die Reichsstatistik belegt vielmehr, dass Häufigkeit und Dauer der kassenversicherten Fehlzeiten bei Frauen geringer waren als bei Männern.37 Auch stellten die Ausgaben für Schwangerschaften und Geburten in der Statistik der Kassenleistungen den kleinsten Posten dar. In den 1880er Jahren beliefen sie sich auf durchschnittlich 1,5 %, stiegen allerdings bis zur Jahrhundertwende auf 10 %. Diese Entwicklung spiegelt jedoch eher den wachsenden Anteil der Frauen und besonders der verheirateten Frauen an der Gesamtzahl der Versicherten wider. Aufgrund ihrer weitgehenden Marginalisierung in den männlich dominierten Gewerkschaften und der vielfältigen Hindernisse, auf die Frauen bei der Durchsetzung ihrer Rechte innerhalb der Betriebe stießen, wandten sie sich in Industriebezirken häufig an außerbetriebliche Vermittlungsinstanzen. In Mülhausen etwa stammten um die Jahrhundertwende drei Fünftel der an das Auskunftsbureau gerichteten Gesuche von Frauen.38 Auch die Sprechstunden der Gewerbeaufsichtsassistentinnen in den Industrierevieren von Dresden und Mönchen-Gladbach wurden von einer stetig wachsenden Zahl von Arbeiterinnen aufgesucht, die hauptsächlich über Verstöße gegen gesetzliche Vorschriften klagten und nicht etwa, wie Gesetzgeber und Sozialpolitiker ursprünglich erwartet hatten, über unzüchtiges Verhalten oder Belästigungen durch ihre männlichen Kollegen.39 Man kann deshalb durchaus der Auffassung sein, dass die Sozialgesetze den Arbeiterinnen – trotz (oder gerade wegen) der vielen Einschränkungen ihrer Rechte – die Möglichkeit boten, aus ihrer traditionellen Rolle herauszutreten und den Umgang mit einer Form von sozialer Staatsbürgerschaft zu lernen, von deren politischer Dimension sie nach wie vor ausgeschlossen blieben.40 Allerdings trifft dies vor allem auf die in den großen Industriebezirken beschäftigten Frauen zu. Arbeiterinnen in den ländlichen Gebieten waren Else von Richthofen zufolge im Umgang mit dem Gewerbeaufsichtsbeamten eher passiv und distanziert.41 2.3 Frauen und die Sozialgesetzgebung in der Praxis Außerhäusliche Lohnarbeit wahrzunehmen und gleichzeitig alleinverantwortlich die Führung des Familienhaushalts bewältigen zu müssen, war und blieb für die meisten Frauen (und nicht nur die verheirateten Frauen) ein großes Pro37 RAB, 1904, S. 24. Die Ergebnisse einiger Ortskassen hielt man in Berlin allerdings für einen Hinweis darauf, dass sich die Entwicklung umkehrte, vgl. Cayla, S. 96–102. 38 Jahresbericht des Auskunftsbureaus von Mülhausen, 1898–99, S. 1. 39 Für das Elsass, s. VAB, 1906, S. 23; 1908, S. 25. Vor allem die Beziehungen mit den Arbeitgebern waren schwierig, siehe auch Jaffé-Richthofen, S. 58. 40 Zu Aspekten dieser Diskussion, siehe Gordon, What does, S. 627–630. 41 Jaffé-Richthofen, S. 60. Das ist auch die – meines Erachtens überzogene – Schlussfolgerung von Schmitt, S. 147–149.

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blem. Im Jahr 1899 zeichnete Crépin, der Gewerbeaufsichtsbeamte des Ober­ elsass, ein düsteres Bild der elenden Lage, die sich aus dieser Doppelbelastung ergab.42 Vier Jahre später stellte Hans Hermann Freiherr von Berlepsch ebenfalls fest, dass »das Leben der lohnarbeitenden Frau, die einen Haushalt, insbesondere einen Haushalt mit Kindern zu versorgen hat, … zu den traurigsten Erscheinungen unserer Zeit [gehört].« Seine Beschreibung des typischen Tages­ ablaufs einer Arbeiterin schloss mit den Worten: »Von früh 5 bis abends 10, 17 Stunden also lebt die arbeitende Frau in angestrengter Tätigkeit ohne einige Zeit der Ruhe… kaum Zeit, um die Kinder einige Minuten auf den Schoß zu nehmen… viel weniger Zeit, mit dem Manne ihre Gedanken auch nur kurze Minuten hindurch zu erheben«.43 Trotz dieser Einsichten wurden diese Zusammenhänge weiterhin als ein Problem wahrgenommen, von dem ausschließlich Frauen betroffen waren, und Lösungen dafür nicht ernsthaft erwogen.44 Die Doppelbelastung blieb Ausdruck einer grundlegenden Ungleichheit zwischen Männern und Frauen, so sehr ihre Minderung auch immer wieder gefordert wurde. Sie führte aber auch dazu, dass Arbeiterinnen Möglichkeiten fanden, die Sozialgesetzgebung für ihre Belange zu nutzen. Im Allgemeinen begrüßten sie die gesetzliche Reduzierung der Arbeitszeit, da ihnen so mehr Zeit für die häuslichen Arbeiten zur Verfügung stand. In Bremen etwa fand der Wegfall von Arbeitsstunden am Samstagabend großen Zuspruch von Seiten der Arbeiterinnen, bei ihren männlichen Kollegen hingegen entstand zunächst Ablehnung; sie verstanden den Wegfall als Kürzung und sahen darin den Hauptgrund für eine nicht unwesentliche Verringerung ihres Lohns. Oft allerdings nutzten  – im Gegensatz zu den Männern  – gerade Frauen die gesetzlich garantierte Möglichkeit überhaupt nicht, die einstündige Mittagspause um eine halbe Stunde zu verlängern, auch weil sich die zwischen Wohnort und Arbeitsplatz zurückzulegende Strecke um die Jahrhundertwende tendenziell verlängerte. Das führte so weit, dass sich, wie in Bremen geschehen, Arbeiterinnen mit Industriellen zusammentaten, um sich gemeinsam für die Beibehaltung der Nachtarbeit einzusetzen, denn so konnten Hausarbeit und Erwerbstätigkeit zumindest organisatorisch leichter miteinander vereinbart werden.45 Im Bestreben, mehr Zeit für die Arbeit im Haushalt zur Verfügung zu haben, ließen Frauen sich sogar darauf ein, Arbeit mit nach Hause zu nehmen, um dafür die Fabrik früher verlassen zu können. Der ober­ elsässische Gewerbeaufsichtsbeamte führte bittere Klagen darüber, wie es den 42 VAB, 1899, S. 93. 43 Berlepsch, H. H.; Mein Arbeitstag; Die Berichte von Arbeiterinnen sind von Alf Lüdtke neu herausgegeben worden, s. Lüdtke. 44 Im Gegenteil: einige Gewerbeaufsichtsbeamten schlugen sogar verpflichtende Haushaltungskurse zusätzlich zur Fabrikarbeit vor, siehe insbesondere die Antworten des Bremer Beamten zur Untersuchung aus dem Jahr 1899. Eine Zusammenfassung findet sich in: SP, Jg. 9, 1899–1900, S .901. 45 Vgl. Schmitt, S. 157–165.

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Abb. 3: Liegekur im Frauen-Sanatorium der LVA Elsass-Lothringen (aus: L’institut, S. 12)

Arbeitgebern der Seidenindustrie gelang, die gesetzlichen Bestimmungen zu umgehen – mit Einverständnis der Arbeiterinnen.46 Auch zögerten Frauen sehr viel stärker als Männer, Kassenleistungen zu beanspruchen und sich längere Zeit in Krankenhäusern oder Sanatorien behandeln zu lassen, weil dies auch eine Trennung von ihren Familien bedeutet hätte. In einem langen Lehrstück über eine lungenkranke Mülhauser Arbeiterin, das im Katholischen Vereinsblatt erschien, konnte die Protagonistin nur deshalb in ein Sanatorium gehen, weil sich die Nachbarin bereiterklärte, in dieser Zeit die Versorgung der Kinder zu übernehmen. In den Frauensanatorien der LVA der Hansestädte lag der Anteil verheirateter Frauen unter den Patientinnen bei lediglich 14 %.47 Der Vorstand der LVA Elsass-Lothringen beklagte immer wieder, dass Frauen zur Versorgung erkrankter Kinder oder Ehemänner ihre Kur unterbrechen mussten.48 Dies sind nur einige Beispiele dafür, wie Frauen die So­zialgesetzgebung in Anspruch nahmen, aber sie zeigen, dass sich die Bestrebungen der Frauen von denen ihrer männlichen Kollegen deutlich unterschieden. Außerdem stellen sie auch die Arbeit der organisierten Frauenbewegung infrage, die sich am Ende unseres Untersuchungszeitraums gerade für eine Verlängerung der Arbeitspausen und den verstärkten Ausbau der stationären Behandlung einsetzte. 46 Siehe die Berichte des Gewerbeaufsichtsbeamten: VAB, 1912, S. 58; 1913, S. 46. 47 Zwanzig Jahre, S. 117. 48 Bericht des Vorstandes, 1912, S. 48. Siehe Abb. 3.

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Obwohl sie also weder ihren Hauptanliegen und noch ihren Bedürfnissen Rechnung trug, gewannen die Frauen der Sozialgesetzgebung in der Praxis einiges ab. Die Untersuchung einiger Berliner OKK zeigt für die ersten Jahre nach der Einführung der Krankenversicherung, dass Frauen weniger zum Arzt gingen als Männer. Dennoch scheinen sie die Hauptträger jenes Medikalisierungsprozesses gewesen zu sein, der die Kassen um die Jahrhundertwende erfasste.49 Vor allem aber eroberten sie am Rand der staatlichen Sozialpolitik eine Rolle, die ihnen ansonsten verwehrt blieb.

3. Frauen zwischen sozialrechtlicher Exklusion und Integration in die Sozialarbeit Der Beitrag der geschlechtergeschichtlichen Perspektive besteht unter anderem darin, dass sie einen dezentrierten Blick auf den Sozialstaat eröffnet. Zwar waren Frauen dadurch benachteiligt, dass der Sozialstaat und seine Organisationen auf der Figur des männlichen Arbeiters aufbauten. Neben diesen neuen Strukturen existierten allerdings traditionellere Räume und Instanzen der Sozialpolitik wie die Gemeinden und Sozialwerke, in denen die Mitarbeit von Frauen relativ unumstritten war. Geschlechtergeschichtlich betrachtet, stellt sich der Sozialstaat deshalb eher als polymorphes Ensemble aus staatlicher Gesetzgebung, Gemeindeaktivitäten und privater Wohlfahrt dar, mit dem der vielfältigen Nachfrage von Sozialleistungen auf unterschiedlichen Ebenen begegnet wurde.50 Der folgende Abschnitt weist vor allem am elsässischen Beispiel auf die große Bedeutung hin, welche die lokale Ebene und private Initiativen für die Stellung der Frauen in der Sozialpolitik hatten. 3.1 Weibliche Wohlfahrtseinrichtungen – von Sozialwerken zum Munizipalsozialismus In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden Sozialwerke, die sich speziell der problematischen Stellung der Frauen zwischen Fabrikarbeit und ihrer »natürlichen Rolle« als Hausfrau und Mutter widmeten. In den oberelsässischen Gemeinden, in denen weibliche Wohltätigkeit traditionell durch konfessionelle Konkurrenz befeuert wurde, existierten vielfältige von Frauen getragene Initiativen zugunsten der Arbeiterinnen. Nähstuben boten Näh- und Kochkurse an, um Arbeiterinnen auf ihre Tätigkeiten in der Hausfrauenrolle vorzubereiten. Kinderbewahranstalten und -krippen erlaubten Frauen zu arbeiten, ohne 49 Cayla, S. 96–102. 50 Siehe zum Folgenden die sehr gute Zusammenfassung in Schröder, S.  9–27, mit ausführlichen Zitaten aus der Literatur.

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ihre Kinder entweder zum Arbeitsplatz mitnehmen oder sich selbst überlassen zu müssen. Um die Jahrhundertwende lehrte man Frauen in Einrichtungen, die kostenlos Milch für Neugeborene abgaben (»Goutte de lait«), die Grundsätze der Säuglingspflege. In den 1880er Jahren existierten allein in Mülhausen mehrere Nähstuben und neun Kinderbewahranstalten, die von den Frauen protestantischer Unternehmer geführt wurden. Kleinkinderpflegeeinrichtungen, Kindergärten und Müttervereine standen eher  – aber nicht ausschließlich – mit katholischen Vereinigungen in Verbindung. Die erste »Goutte de lait« nach französischem Vorbild wurde 1900 in Guebwiller von Jacques Schlumberger ins Leben gerufen und von den Frauen seiner Familie geleitet. Der Zugang zu diesen Sozialwerken und ihren Leistungen war allerdings durch Sittlichkeitskriterien eingeschränkt. In Colmar etwa verweigerte der Mütterverein unverheirateten Müttern seine Unterstützung, obwohl gerade sie auf einen Verdienst aus Lohnarbeit am meisten angewiesen waren. Ökonomische Aspekte wirkten sich nicht weniger deutlich aus: Die Zugänglichkeit der Kinderbewahranstalten war in Mülhausen eng an den Bedarf der Betriebe an weiblichen Arbeitskräften geknüpft.51 Mit dem Strukturwandel der städtischen Sozialpolitik gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden private Sozialwerke schrittweise in die Politik der öffentlichen Hand überführt. In diesem Prozess veränderten sich auch die von Frauen betriebenen sozialen Einrichtungen. Besonders prägnant ist die Zusammenarbeit zwischen Stadtverwaltung und privaten Einrichtungen im Bereich der Kinderbetreuung und vor allem der Kleinkindpflege zu beobachten, in dem die von Frauen getragenen Initiativen fast über eine Monopolstellung verfügten.52 In Mülhausen behielten die Kinderbewahranstalten, Kinderkrippen und Familienhäuser nach der Wahl eines sozialistischen Stadtrats und im Zuge der Umsetzung seines Munizipalisierungsprogramms im Jahr 1906 zwar formal ihre Unabhängigkeit. Allerdings erhielten sie nun Zuschüsse von der Stadtverwaltung und mussten ihre Zulassungskriterien, insbesondere die Sittlichkeitsnormen, einer Revision unterziehen. Diese spezifische Form der Zusammenarbeit von privaten Initiativen und öffentlicher Hand beruhte auf der Vorstellung, dass Frauen aufgrund ihrer besonderen, weiblichen Eigenschaften als Träger besser geeignet waren als offizielle Stellen. 3.2 Der städtische Sozialdienst: eine Chance für Frauen Diese Vorstellung lag auch Forderungen des »bürgerlichen Flügels« der Frauen­ bewegung zugrunde, der sich 1896 im Bund deutscher Frauen organisierte.53 Die gemäßigte Mehrheit dieses Bundes kämpfte nicht für die Gleichstellung von 51 Kott, Des Philanthropies, S. 431–433. 52 Einen guten Einblick in diese Thematik vermittelt: Lindemann u. a., S. 177–182. 53 Frevert, Frauengeschichte, S. 104–128.

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Mann und Frau, sondern für die Anerkennung spezifisch weiblicher und an die Mutterschaft geknüpfter Fähigkeiten. Helene Lange, Gertrud Bäumer und Alice Salomon, während des Kaiserreichs führende Persönlichkeiten der Bewegung, begründeten mit ihrer Ansicht von der Mutterschaft ableitbaren Kompetenzen die besondere Eignung von Frauen für Tätigkeiten im sozialen Bereich.54 Die Mutterschaft wurde in diesen Kreisen generell als Modell einer solidarischen Gesellschaftsordnung betrachtet, auf dem eine vernünftige Organisation der Sozialarbeit aufbauen sollte. Dieser Anspruch konkretisierte sich im Jahr 1893 mit der Gründung von Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit, die ihre karitative Tätigkeit in Berlin und Umgebung ausübten. Die Vereine boten Frauen ein Ausbildungsprogramm, das darauf ausgerichtet war, die Wirksamkeit ihrer sozialen Tätigkeit zu steigern. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs existierten in mehreren großen Städten (Hannover, Berlin, Elberfeld, Leipzig, Heidelberg u. a.) von Frauenvereinen betriebene Schulen, die dem Modell der 1908 in Berlin unter der Ägide von Alice Salomon gegründeten »sozialen Frauenschule« folgten und Frauen aus dem Bürgertum eine geregelte Ausbildung zur Sozialarbei­terin boten. Diesen Ansätzen zur Professionalisierung der sozialen Tätigkeit von Frauen ging die Forderung nach ihrer verstärkten Integration in den ehrenamtlichen städtischen Sozialdienst voraus, die von einigen namhaften Sozialpolitikern wie Gustav Schmoller, Max Sering, Ignaz Jastrow und Max Weber unterstützt wurde. Im Jahr 1896 empfahl die Centralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen die Hinzuziehung von Frauen auf der Grundlage der sogenannten »Mutter­tugenden« und nutzte dieses Argument sogar zu Werbezwecken: Die Frau, aufgrund ihrer Natur dazu berufen, sich um andere zu kümmern, sei im Sozialdienst am richtigen Ort.55 Ab 1874 nahm die Stadtverwaltung von Ratibor Frauen in die Organisation der städtischen Armenhilfe auf; seit 1894 griff eine wachsende Zahl von Gemeinden insbesondere im sozialpolitischen Feld der Kinderbetreuung ebenfalls auf Frauen zurück.56 Die elsässische Stadt Mülhausen beispielsweise, deren Stadtrat zwischen 1902 und 1906 von Sozial­ demokraten dominiert wurde, entwickelte eine umfangreiche Sozialpolitik, die – darin dem »Frankfurter Modell«57 ähnlich – auf der gegenseitigen Ergänzung von privatem und öffentlichem Sektor beruhte und auf dieser Grundlage eine umfangreiche Integration von Frauen in den städtischen Sozialdienst erlaubte. Im Jahr 1906 standen 89 Armenpflegerinnen und 83 Armenpfleger im Dienst der Stadt.58 Der Frauenverein wurde mit der Einrichtung eines Kinder-

54 Sachße, S. 105–148, Hong, S. 233–251, und vor allem Schröder, S. 225–272. 55 Weibliche Hüllfskräfte, S. 57–105. 56 SP, Jg. 6, 1896, S. 395. 57 Weitensteiner; Palmowski. 58 VbM, 1905, S. 728–732.

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betreuungsdienstes betraut;59 ein Damenkomitee verteilte Suppe60 an Schüler aus bedürftigen Familien; auch an der Organisation von Ferienlagern für kränkliche Kinder waren die Frauen beteiligt. Ihre ehrenamtliche Tätigkeit war eng mit den Stadtbehörden abgestimmt, die sie zugleich finanzierten und anleiteten. Die Integration der Frauen in den städtischen Sozialdienst traf jedoch auch auf Widerstand von Seiten der Männer. In Berlin drohten die Armenpfleger im Jahr 1906 mit ihrem Rückzug, sollte die Stadt ihre Ankündigung wahrmachen und Frauen einstellen. Vier Jahre zuvor hatten sich Armenpfleger in Leipzig ebenfalls der Einstellung von Frauen widersetzt. In beiden Fällen hatten die Männer mit dem Widerspruch zwischen der »natürlichen Zerbrechlichkeit« der Frau und dem »erschütternden Spektakel des Elends« argumentiert und den Frauen ihre fehlende Ausbildung vorgeworfen. Vor allem aber beriefen sie sich darauf, dass verheiratete Frauen nicht geschäftsfähig waren und ihnen dieser Rechtsstatus die Übernahme öffentlicher Ämter verbot.61 Aus heutiger Sicht ist die Heftigkeit des Widerstandes durch den Umstand zu erklären, dass die Frauen mit ihrem Eintritt in den ehrenamtlichen sozialen Dienst zugleich in einen der Räume einzogen, der für die Konstitution der männlich geprägten Zivilgesellschaft zentral war. Gegen alle Widerstände war es gerade der städtische Sozialdienst, in dem Frauen für sich eine Stellung und letztlich sogar ein Berufsfeld eroberten. In anderen Bereichen blieb ihnen dies nach wie vor verwehrt.62

Zusammenfassung Obwohl die Sozialgesetzgebung zum Schutz der Frau von einer differentialistischen Sicht der Geschlechterverhältnisse geprägt war und bestehende Ungleichheiten verstärkte, bot sie zugleich Anlass für vielfältige Diskussionen, in denen die untergeordnete Stellung der erwerbstätigen Frauen im Allgemeinen und die elende Lage der Arbeiterinnen im Besonderen deutlich sichtbar wurden. Die Sozialgesetzgebung öffnete Räume, in denen Frauen sich trotz ihrer marginalisierten und beherrschten Lage Gehör verschaffen und eine Stellung erobern konnten, die sie ohne diese Gesetzgebung wohl nicht erreicht hätten. Und schließlich ermöglichte die ehrenamtliche Sozialarbeit es bürgerlichen Frauen, gleichsam von den Rändern des Sozialstaats her in die männlich dominierte Zivilgesellschaft vorzudringen und dort gegen Ende des Jahrhunderts sogar mit den sozialen Berufen eine professionelle Sphäre für sich zu erobern. 59 Ebd., S. 696. 60 Ebd., 1905, S. 700. 61 Schröder, S. 145–150. 62 Ebd., S. 279–298.

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Kapitel 6 Sozialstaat und Staatsnation. Sozialpolitik und Nationalstaatsbildung

Lorenz von Stein (1815–1890) gilt als der deutsche Vordenker des Sozialstaats. Seiner Schrift über das »Königtum der sozialen Reform« zufolge hatte der »sociale Staat« die Pflicht, die neuen, mit der Industrialisierung verbundenen Formen der Armut zu mildern, um sowohl die Entstehung allzu großer sozialer Ungleichheiten und Ungleichgewichte zu verhindern als auch seine eigene politische Stabilität zu sichern.1 Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Preußen entstandene Idee des »Socialstaats« wurde während des Kaiserreichs in eine Sozial­ politik übersetzt, deren Anfänge gemeinhin auf die Sozialgesetze der 1880er Jahre datiert werden. Der Umstand, dass die Entstehung des Sozialstaats und der Beginn der Nationalstaatsbildung etwa in dieselbe Zeit fielen, hat in der deutschen Geschichtsschreibung lange dazu beigetragen, die Arbeiterversicherungsgesetzgebung als ein Werkzeug zu betrachten, das Bismarck zur stärkeren Bindung der Arbeiter an den Staat2 und an eine noch in der Entstehung begriffene Nation erfand.3 Die Umsetzung der ersten Sozialgesetze des Kaiserreichs fand allerdings kaum auf national- beziehungsweise zentralstaatlicher Ebene statt. Ihre Funktionen wurden vielmehr von einer Vielzahl von weitgehend autonomen Institutionen getragen, die von lokalen Behörden kontrolliert wurden. Um die Beziehung zu verstehen, die in Deutschland zwischen der Entstehung des Sozialstaats und der Konstruktion des Nationalstaats bestand, ist eine doppelte Verschiebung der Perspektive notwendig: Anstatt sich auf die Intentionen Bismarcks und hoher Beamter des Kaiserreichs zu konzentrieren, müssen die politischen, administrativen und sozialen Praktiken in den Mittelpunkt gerückt werden, von denen die Umsetzung der Sozialgesetzgebung begleitet wurde. Öffnet man die »black box« der lokalen (Krankenkassen, Berufsgenossenschaften, LVA, Gewerbeaufsicht) aber auch nationalen Institutionen, wird erkennbar, auf welche Weise die Sozialpolitik Mechanismen der Nationalstaatsbildung unterstützte und verstärkte. Diese Perspektivenveränderung hin zu den Praktiken führt zu einer weiteren Verschiebung, nämlich einer Neubetrachtung der Nationalstaatsbildung 1 Zur Bedeutung Steins, siehe Kaufmann, S. 15–18. 2 Nach dem Modell des »Sozialkönigtums«, das von den »völkischen« Konservativen wie Karl Rodbertus oder Hermann Wagener vertreten wurde, s. Beck, S. 93–122. 3 Reidegeld Schöpfermythen; Kähler.

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an sich. Diese wird nicht mehr als das Ergebnis bewusster Aktivitäten auf der zentralstaatlichen Ebene betrachtet, sondern als ein Prozess, in dem auch lokale Akteure an der Peripherie eine Hauptrolle spielten. Anders als »top down«Modelle trägt eine solche »bottom up«-Perspektive vor allem der Funktionsweise der Sozialpolitik Rechnung und nicht vorrangig den Zwecken, die mit ihr verbunden wurden. Sie fokussiert die »bürokratischen Alltagsroutinen«4 und analysiert die Mechanismen der Nationalisierung und Staatsbildung von ihren praktischen Formen und Grenzen her. In diesem Kapitel zeigt sich, welches Gewicht die fortschreitende Institutionalisierung der Sozialpolitik und die mit ihrer Umsetzung betrauten Beamten in den Prozessen der Nationsbildung entfalteten.5 Die doppelte Verschiebung der Perspektive erlaubt es dabei, »die Regierung des Sozialen« zu beschreiben: die Art und Weise, wie die Verwaltung mithilfe spezifischer Verfahren der Identifizierung und Kontrolle die deutsche Gesellschaft zu formieren suchte und damit zur Konstruktion der Nation beitrug.

1. Die Nationalisierung der Sozialpolitik Die Sozialgesetze des Kaiserreichs setzten einen Rahmen, der im ganzen Reichsgebiet Geltung hatte. Sie definierten die Gruppen der Leistungsberechtigen, setzten Minimalleistungen fest und bestimmten die Regeln, nach denen die Umsetzung der gesetzlichen Richtlinien erfolgen sollte. Das Reich war jedoch zunächst am Prozess der Umsetzung seltsam unbeteiligt: Die Versicherungen wurden von einer Vielzahl, noch weitgehend unabhängiger lokaler Institutionen verwaltet; die Anwendung der Arbeitsgesetzgebung oblag den Einzelstaaten6, die schließlich zusammen mit den Bezirken7 in der Aufsicht und Umsetzung der Gesetze insgesamt eine wesentliche Rolle spielten. Diese starke 4 Offerlé. S. 29. 5 Diesbezüglich stütze ich mich vorwiegend auf die von den Versicherungsträgern heraus­ gegebene Zeitschrift Die Arbeiterversorgung (AVS). 6 Im Rahmen der Unfallversicherung genehmigten die Länder die Gründung von Berufsgenossenschaften (§§ 12, 15). Die süddeutschen Länder hatten bezüglich der Unfallversicherung die Einrichtung von Landesversicherungsämtern durchgesetzt, die das Gewicht des RVA ausgleichen sollten. Die Länder Bayern, Sachsen und Württemberg führten Landesversicherungsämter für die Versicherung von Industrieunfällen ein, Baden, Hessen, Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz Landesversicherungsämter für die Versicherung in landwirtschaftlichen Betrieben. Vgl.Geschichte und Wirkungskreis, S. 27. 7 Die Bezirksbehörden hatten eine Aufsichts- und Vermittlungsfunktion (alle Statuten mussten ihnen vorgelegt werden). Zudem entschieden sie (§ 47) bzw. die Vorsitzenden der Schiedsgerichte (§ 47) in Konflikten zwischen Versicherten und Krankenkassendirektion (§ 58). Wenn die Selbstverwaltung nicht funktionierte, konnten sie sich an ihre Stelle setzen und die Kassenverwalter ernennen, wenn die Vollversammlungen nicht ausreichend besucht waren (§ 39).

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dezentrale Umsetzung der Sozialpolitik wurde jedoch durch die wachsende Rolle des Reichsversicherungsamts reguliert und gelenkt. Gerade dieser schwierige und mühsame Prozess der Lenkung und Regulierung der lokalen Mächte steht beispielhaft für die deutsche Nationsbildung insgesamt. Sozialpolitik und RVA haben dazu beigetragen. 1.1 Das Reichsversicherungsamt: eine nationale Regulierungsinstanz Einzig das Reichsversicherungsamt (RVA) verkörperte in der Sozialpolitik zunächst den Nationalstaat. Eingerichtet auf der Grundlage des UVG und dem Reichsamt des Inneren unterstellt, wurde das RVA finanziell vom Reich getragen.8 Im Wesentlichen mit Schieds- und Aufsichtsaufgaben betraut, weitete sich sein Tätigkeitsfeld mit Inkrafttreten der gesetzlichen Invaliditäts- und Altersversicherung im Jahr 1891 bzw. der Reichsversicherungsordnung (RVO) im Jahr 1913 noch einmal deutlich aus. Insbesondere die RVO führte ein für alle drei Versicherungszweige gültiges Berufungs- und Kontrollverfahren ein, das sich auf die Hierarchie aus Versicherungsämtern, Oberversicherungsämtern und RVA stützte. Das RVA stellte zunächst eine Berufungsinstanz in Konflikten dar, die zwischen den verschiedenen Akteuren der Sozialversicherung auftraten.9 Der Schiedsgerichtshof war mit Beamten des RVA sowie Vertretern der Arbeitnehmer und Arbeitgeber besetzt. Die Novellierung des Invaliditätsversicherungsgesetzes im Jahr 1899 verstärkte diese Funktion des RVA, indem sie den Schiedsgerichtshof in eine Art paritätisch besetzten Senat umwandelte, dem die Prüfung der Revisionen übertragen wurde. In dem Maße, in dem die Berufungsverfahren zunahmen  – eine Zunahme, die nicht zuletzt auf den Einfluss der Arbeitersekretäre zurückzuführen ist  – entstand mit der steigenden Anzahl der Entscheidungen des RVA eine eigenständige Rechtsprechung, die zur reichsweiten Definition der Gültigkeitsgrenzen und Praktiken der Sozial­ versicherung beitrug. Auf diese Weise legte das RVA den Grundstein für ein nationales Sozialrecht. Darüber hinaus erfüllte das RVA Aufsichtsfunktionen gegenüber den Versicherungsträgern. In dieser Hinsicht hätte es durchaus einer »sozialeren« Interpretation der Versicherungszwecke Vorschub leisten können. Einfluss und Wirkung des RVA hingen indes stark von seinem jeweiligen Präsidenten sowie den allgemeinen Richtlinien der staatlichen Sozialpolitik ab. Vor allem während der Präsidentschaft Tonio Bödikers (1884–1897), aber auch in der Ära des Katholiken Paul Kaufmann (1906–1923) entwickelte sich die Rechtsprechung des RVA stark zugunsten der Versicherten, während sich zugleich die Politik des 8 Quellensammlung, II, 2 (2). 9 Bödiker.

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Abb. 4: Das Gebäude des RVA in Berlin, 1910 (aus: Das Reichsversicherungsamt und die deutsche Arbeiterversicherung, S. 1)

RVA stärker an der Unfallverhütung und der Sozialhygiene orientierte.10 In der Amtszeit Otto Gaebels (1897–1906) dagegen, die in die Phase der Blockade sozial­politischer Reformen fiel, legte das RVA die bestehenden Gesetze enger aus.11 Im Zeichen der Sparsamkeit12 stieg die Zahl der zuungunsten von Versicherten ausfallenden Entscheidungen an.13 Als Abteilung des Reichsamtes des Inneren rangierte das RVA in der Hierarchie der staatlichen Verwaltungsinstitutionen während des gesamten Kaiserreichs in einer untergeordneten Position. Sowohl Tonio Bödiker als auch die Milieus der Sozialreform waren dagegen der Ansicht, dass das Feld der Sozial­ politik in der administrativen Architektur einen Platz einnehmen sollte, der seiner besonderen politischen und sozialen Bedeutung besser entsprach.14 Zahlreiche Sozialpolitiker, Abgeordnete der Sozialdemokratie und des Zentrums sprachen sich seit den 1880er Jahren für die Schaffung eines Arbeitsamtes aus und verwiesen unter anderem darauf, das ein solches Amt bereits in den meis10 Siehe dazu für die Bödicker-Phase: Quellensammlung, II, 2 (2). 11 Tennstedt, Reichsversicherungsamt, S.  47–82. Siehe auch die Biographien Hainbuch u. Tennstedt, S. 17–18, 56, 83. 12 AVS, Jg. 19, 1901, S. 698–706. 13 SP, Jg. 9, 1899–1900, S. 695. 14 AVS, Jg. 15, 1897, S. 433–436.

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ten industrialisierten Ländern existierte (in den USA seit 1888, in Frankreich seit 1906). Die Einrichtung einer mit der Sammlung von Daten über die Arbeitsfrage und, auf Anordnung des Reichsamtes des Inneren, mit der Durchführung von Untersuchungen beauftragten Abteilung für Arbeiterstatistik im Kaiserlichen Statistischen Amt im Jahr 1902 war diesbezüglich zunächst nur eine Notlösung.15 Tatsächlich wurde das seit den 1880er Jahren geforderte Reichsarbeitsamt erst 1917 gegründet und wenig später, im Jahr 1919, in das Reichsarbeitsministerium umgewandelt.16 Das »große Land der Sozialpolitik« war in dieser Hinsicht also überholt worden – von Frankreich, das im Jahr 1906 ein Arbeitsministerium eingerichtet hatte, und von den USA, wo während der Präsidentschaft William Howard Tafts im Jahr 1913 das Department of Labor gegründet worden war. Auch wenn die Institutionalisierung der Arbeitsfragen auf zentralstaatlicher Ebene in Deutschland etwas später vollzogen worden zu sein scheint, entfalteten die mit Fragen des Sozialschutzes beschäftigten Stellen im Kaiserreich nach und nach erhebliche Wirkung. Im Jahr 1894 bezog das RVA ein eigenes Gebäude in der Berliner Königin-Augusta-Straße.17 Im Jahr 1884 arbeiteten hier drei vom Kaiser ernannte Beamte, 1891 waren es bereits zwölf, und 1908 war ihre Zahl auf 52 angestiegen. Zu diesem Zeitpunkt bestand der Stab aus zwei Direktoren, 23 Senatsmitgliedern, welche die Rekurse und Revisionen prüften, sowie vierzig anderen Beamten und einer großen Zahl an Büroangestellten. Ab dem Jahr 1900 entsandte der Bundesrat sechs (und nicht mehr vier) Mitglieder für vier Jahre in den Senat. Die Zahl der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter sowie ihrer für die gleiche Zeitspanne gewählten Delegierten nahm ebenfalls beträchtlich zu: Von 38 im Jahr 1884 stieg sie auf über 200 im Jahr 1908. Entsprechend erhöhten sich die laufenden Kosten, für die das Reichsamt des Inneren aufkam, von ursprünglich 164.620 Mark (1885) auf 2.535.374 Mark (1910). Das RVA nahm eindeutig Funktionen der Vereinheitlichung, Repräsentation und Förderung der deutschen Sozialpolitik wahr. Das imposante Gebäude in der Königin-Augusta-Straße zeugt von der hohen Bedeutung, die der Sozial­ politik im neuen deutschen Staat beigemessen wurde. Die Beamten des RVA warben mit Feuereifer für die Wohltaten der Sozialpolitik des Reichs, etwa anlässlich der Weltausstellungen in Paris 190018, in Saint-Louis 190419 oder in 15 Zimmermann. Für Quellenmaterial, s. das monatlich erscheinende Reichsarbeitsblatt (RAB), herausgegeben vom Kaiserlichen statistischen Amt, Abteilung für Arbeiterstatistik seit 1903. Hier erschienenen ab 1905 auch die Berichte der Fabrikaufseher. Siehe auch Kaiserliches statistisches Amt, S. 182–199. 16 Für die Entstehung des Reichsarbeitsministeriums, siehe Deutsche Sozialpolitik, S. 12–23. 17 Vgl. zu diesen Punkten vor allem Christmann u. Schönholz. In diesem Gebäude residierte das RVA bis 1945. S. Abb. 4. Heute gehört dieses Gebäude dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. 18 Zur Kritik an der Überrepräsentierung des RVA bezüglich der lokalen Versicherungsorgane, s. SP, 1899–1900, 27, S. 695. 19 Lass u. a.

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Dresden 191120, auf denen das deutsche Gesellschaftsmodell als Ausdruck der Größe der deutschen Nation präsentiert wurde. Paul Kaufmann, der eine Vorliebe für diese Repräsentationsaufgaben pflegte, erinnerte sich im Jahr 1941 daran, dass er zahlreiche Vertreter anderer Nationen empfing, die neugierig die deutschen Sozialversicherungen in Augenschein nahmen, darunter im Jahr 1911 auch Lloyd George.21 Die RVA-Beamten bevorzugten diese nationale Interpretation der Sozialgesetzgebung.22 Beauftragt mit der Aufsicht über die Berufsgenossenschaften und LVA konnten sie der Politik der Prävention und Hygiene Impulse verleihen, die sich nach der Novellierung der Invaliditätsversicherung im Jahr 1899 beziehungsweise der Unfallversicherung im Jahr 1900 entwickelte. Einfluss nahm das RVA auf die Politik der LVA und der Berufsgenossenschaften über die regelmäßige Abstimmung mit Industriellenvertretern oder den LVA-Präsidenten, die sich seit 1901 jedes Jahr in Berlin versammelten. Die Direktoren des RVA unterhielten enge Kontakte mit Industriellenzirkeln. Tonio Bödiker etwa wechselte nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des RVA-Präsidenten in den Vorstandsvorsitz bei Siemens & Halske in Berlin. Aus dem RVA ging eine ganze Reihe von bedeutenden Spezialisten und Praktikern der Sozialpolitik hervor.23 Führende Beamte veröffentlichten Kommentare und Interpretationen der Versicherungsgesetzgebung, und auch regelmäßig wiedergewählte Vertreter der Arbeitgeber24 und Arbeitnehmer stiegen hier zu Spezialisten der sozialen Frage auf. Insbesondere für letztere, die zum großen Teil der Sozialdemokratie angehörten, war das RVA ein Ort der Bildung und der Integration in die deutsche Gesellschaft. Beispielhaft dafür ist die Biographie Julius Fräßdorfs: Töpfer und Ofensetzer von Beruf, im Jahr 1889 wegen Streikvergehen verurteilt, stieg er 1895 zum Vorstand der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) Dresden und 1903 zum Vorsitzenden des Centralverbands Deutscher Ortskrankenkassen auf. Im selben Jahr wurde er als Vertreter der Arbeitnehmer in das RVA und als Abgeordneter der Sozialdemokratie in den Reichstag gewählt.25 Im RVA trafen gleichsam an höchster Stelle sozialpolitische Akteure aus ganz Deutschland und aus sehr verschiedenen sozialen Milieus aufeinander. Das RVA unterstützte die Bildung des Nationalbewusstseins auch durch die Förderung von Zusammenschlüssen örtlicher Versicherungsinstitutionen, die bei leitenden RVA-Beamten unter anderem wegen ihrer »Kirchturmpolitik« und ihrem lokalpolitischen Egoismus in der Kritik standen. 20 Klein, S. 1–25. 21 Zit. in: Tennstedt, Reichsversicherungsamt, S. 58. 22 Siehe hierzu: Geschichte und Wirkungskreis, S. 32–136. 23 Siehe besonders die Liste der RVA-Mitglieder im Jahr 1910, in: Das Reichsversicherungsamt, S. 19–28. Zu nennen sind insbesondere Georg Zacher 1890–1905 beim RVA und Hugo­ Hanow. 24 Richard Roesicke war Mitglied des RVA bis zu seinem Tod im Jahr 1903. 25 Tennstedt, Reichsversicherungsamt, S. 60–72.

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1.2 Zentralisierung ›von unten‹: Zusammenschlüsse und Gruppierungen der Versicherungen Über die richtige Größe der Krankenkassen und Berufsgenossenschaften wurde seit der Gründung der Sozialversicherungen heftig gestritten. Das berufsgenossenschaftliche Prinzip, auf dem die ersten Versicherungsgesetze aufbauten, geriet hier in Konflikt mit den Prinzipien der ökonomischen Vernunft. Nach Ansicht des Gesetzgebers sicherten die nach Tätigkeiten organisierten Kassen der Krankenversicherung und die Berufsgenossenschaften der Unfallversicherung sowohl eine adäquatere Risikoverteilung als auch eine wirksamere Überwachung durch die gegenseitige Kontrolle der Mitglieder. Das Gesetz von 1884 förderte die Gründung vergleichsweise kleiner Kassen, indem es die Schwelle sehr niedrig setzte: 100 Mitglieder reichten für die Einrichtung einer OKK, fünfzig für die einer BKK; diese Mindestzahlen konnten überdies noch abgesenkt werden (KVG § 18). Diese Bestimmungen waren zunächst Ausdruck praktischer Erfordernisse: Die Versicherten mussten sich ohne viel Aufwand zum Sitz der Kasse begeben können, und durch die räumliche Nähe aller Versicherten sollte ein Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen. Davon versprach man sich bessere gegenseitige Kontrolle der Kassenmitglieder vor allem hinsichtlich der Simulation. Die Versicherten ihrerseits zeigten sich »ihrer« Kasse verbundener, wenn sie als Ausdruck lokaler oder beruflicher Identitäten wahrgenommen wurde. Davon zeugt die große Zahl der Kassen in Berlin, von denen die kleinste, die Berufsgenossenschaft der Schornsteinfegermeister in Berlin, im Jahr 1888 gerade einmal 59 Mitglieder hatte. Im Elsass wollte jedes Dorf über seine eigene OKK verfügen. Im Jahr 1911 zählte das Reichsland 502 Kassen, von denen jede im Durchschnitt 717 Personen versicherte.26 Die Berufsgenossenschaften wiederum folgten in ihrer Struktur dem organisatorischen Aufbau der deutschen Industrie mit ihren lokalen und nationalen Verbänden und stellten gewissermaßen ein institutionelles Forum der Industrie dar.27 Allerdings bemühten sich die Industriellen seit der Einrichtung der Versicherung darum, ihre Betriebskosten zu optimieren. Die beste Berufsgenossenschaft war in diesem Sinn diejenige, die am wenigsten Kosten verursachte.28 Die Berufsgenossenschaften der Metall- oder Textilindustrie, die sich auf regionaler Ebene an große Unternehmen anlehnten, stellten diesbezüglich Modelle dar. Andere Berufsgenossenschaften, in denen die Angehörigen zahlreicher, über das ganze Reichsgebiet verteilter kleiner Betriebe gruppiert waren, galten dagegen als ökonomisch nicht rational.29 Der Effizienzimperativ drängte diese Versicherun26 St. Jb, 1914. 27 Vgl. hierzu das Protokoll der ersten Versammlung der elsässischen Berufsgenossenschaften in: AVS, Jg. 5, 1887, S. 335. Vgl. auch: Die Berufsgenossenschaft, S. 50. 28 Zu diesem Punkt s. den Artikel von Sombart, Statistik, S. 639–652. 29 Siehe die Liste der Berufsgenossenschaften. aus dem Jahr 1892 im Anhang. Die Berufsgenossenschaft der Schornsteinfegermeister des Deutschen Reichs hatte 5.635 Versicherte in ganz Deutschland.

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gen zum Zusammenschluss nach Industriebranchen unter Berücksichtigung lokaler Solidaritäten. In diesem Sinn begleitete und begünstigte die Entwicklung der Berufsgenossenschaften auch die Veränderungen in der deutschen Großindustrie. Dieselben ökonomischen Gesichtspunkte setzten sich bald in der Krankenversicherung durch. Im Jahr 1889 gab es im gesamten Reich 20.822 Krankenkassen mit durchschnittlich etwa 300 Mitgliedern. Auch hier wurde diese Situation von den Kassenverwaltern als nicht rational betrachtet. Um der Entwicklung entgegenzuwirken, verzichteten einige Regionen von Beginn an auf die Einrichtung von Krankenassen auf der Basis von Berufsgruppen und förderten, wie etwa in Elsass-Lothringen, die Bildung von OKK, die sich vor allem in den Großstädten des Kaiserreichs rasch entwickelten. Dieser Prozess blieb allerdings nicht ohne Konflikte. Die Breslauer Kommunal-Betriebs-Krankenkasse, die alle Fabrikarbeiter versicherte, die nicht Mitglied einer BKK waren, und im Jahr 1886 4.362 Mitglieder verzeichnete, wurde zweimal von anderen OKK, die ihre Auflösung forderten, vor Gericht verklagt.30 Zu ihrer Verteidigung führten die Verwalter der Breslauer Krankenkasse an, dass sich das berufsgenossenschaftliche Prinzip nicht nur ökonomisch schädlich auswirke, sondern auch auf einer Gesellschaftsvorstellung beruhe, die in den Großstädten der Wirklichkeit nicht mehr entspreche: Es gebe die gesellige Nähe nicht mehr, in der die Arbeiter eines Berufsstands in den Zünften miteinander verbunden gewesen seien. Damit stellten sie die korporativistischen Grundlagen der Versicherungsorganisation insgesamt in Frage: die Prinzipien sowohl der Risikoverteilung als auch der Mitgliederkontrolle. Mit ähnlichen Argumenten wurde in den 1880er Jahren die Gruppierung der Kassen auf territorialer Basis vorangetrieben. Diese Entwicklung setzte mit der Gründung der Gemeinsamen Ortskrankenkasse für Leipzig und Umgegend ein.31 Im Jahr 1885 schlossen sich die nach Berufsgruppen organisierten Kassen der Stadt mit den Krankenkassen von 42 Gemeinden der Umgebung in einer gemeinsamen Krankenkasse zusammen. Stolz bezeichnete sie sich im Jahr 1887 mit 63.000 Mitgliedern als größte deutsche Krankenkasse.32 In Dresden fand der Zusammenschluss im Jahr 1886 statt: Die neue OKK umfasste sieben vormalige Branchenkassen und zählte 24.363 Mitglieder.33 Diese OKK bildeten ihrerseits Verbände, um Informationen austauschen und Druck auf den Ge-

30 AVS, Jg. 8, 1890, S. 108–110. 31 AVS, Jg. 7, 1889, S. 83. Zu Leipzig s. auch: Geschäftsbericht der Ortskrankenkasse. 32 AVS, Jg. 7, 1889, S. 123. Allerdings behauptete im Jahr 1889 auch die Berliner Krankenkasse, die größte Krankenasse Deutschlands zu sein. Sie gab 67.551 Mitglieder an (die Leipziger zählte zum selben Zeitpunkt angeblich mehr als 69.000 Mitglieder). Dieser Streit um Zahlen mag lächerlich erscheinen, aber er verdeutlicht, dass sich das Bild der Krankenkasse fundamental wandelte: es ging nun um die (vermeintliche) Macht, die mit der Mitgliederzahl verbunden war, nicht mehr die Nachbarschaft der Versicherten. 33 Hesse G., S. 15.

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setzgeber ausüben zu können,34 so in Sachsen im November 1884,35 in Rheinland-Westfalen im Jahr 1885,36 in Württemberg 188637 und in Baden, wo der Ortsverband Krankenkassen unterschiedlichen Typs vereinigte.38 Die Gründungsversammlungen dieser Verbände scheinen sehr gut besucht worden zu sein. Als im Jahr 1886 der westfälische Kassenverband zur ersten Versammlung lud, wurden 200 Personen erwartet, aber schließlich drängten sich 800 Menschen, darunter zahlreiche Kassenangestellte, in einem viel zu kleinen Saal und stritten sich um das Rednerpult.39 Oftmals ergriffen die Kassenangestellten die Initiative zur Gründung größerer Verbände. Die LVA bildeten zunächst regionale Zusammenschlüsse und gründeten schließlich im Vorlauf der Gesetzesänderung von 1899 einen nationalen Verband, um ihren Standpunkten Gehör zu verschaffen. Tonio Bödiker, der erste Direktor des RVA, förderte von Beginn an den Zusammenschluss von Berufsgenossenschaften zu einem Zentralverband, von dem er sich Impulse für eine landesweit einheitlichere Auslegung der Gesetzgebung und sozialrechtlichen Praxis erhoffte. Im Jahr 1887 schlossen sich unter Führung des Industriellen Richard Roesicke 43 Berufsgenossenschaften zum Verband der deutschen Berufsgenossenschaften zusammen. Tonio Bödiker war auf dem Gründungskongress ebenso wie bei den folgenden Versammlungen anwesend und betonte wie Roesicke die Notwendigkeit einer Unfallverhütungspolitik.40 Während der Präsidentschaft Roesickes förderte der Verband unfallvorbeugende Maßnahmen und entwickelte die hygienische und soziale Dimension der Versicherung.41 Der Verband fungierte eher als Sprachrohr der berufsgenossenschaftlich organisierten Versicherungen und der Industriellenkreise  – jenseits der Spaltungen und Konkurrenzen innerhalb und zwischen den einzelnen Branchen. Er beteiligte sich mit eigenen Gesetzesvorschlägen an den Diskussionen, die die Novellierungsprozesse der verschiedenen Versicherungsgesetze begleiteten. Nach dem Rückzug Bödikers im Jahr 1897 und dem Tod Roesickes im 34 Zu Osnabrück, siehe AVS, Jg. 4, 1886; für den Kreis Lennep, siehe ebd., S. 171. 35 AVS, Jg. 3, 1885, S. 310–316. 36 AVS, Jg. 4, 1886, S. 58. 37 AVS, Jg. 5, 1887, S. 14. 38 Siehe AVS, Jg. 13, 1895, S.  58; Jg. 14, 1896, S.  9–11; Jg. 19, 1901, S.  52–56. Diese letzte Versammlung ist besonders interessant, weil hier ein Konflikt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern offen zutage trat, der schließlich im CDI zugunsten letzterer entschieden werden konnte. 39 AVS, Jg. 4, 1886, S.  58. Siehe auch das Protokoll der Gründungsversammlung des ersten dieser Verbände, der in Sachsen auf Initiative der Dresdener Kasse zustande kam: AVS, Jg. 3, 1885, S. 312. 40 Siehe hierzu: Protokolle des Verbandtages, 1887–1891, dann: Jahresbericht des Hauptverbands der gewerblichen Berufsgenossenschaften. Die Protokolle der Verbandskongresse finden sich in AVS, Jg. 5, 1887, S.  334–337 für den ersten Kongress sowie in seiner Verbandszeitschrift: Die Berufsgenossenschaft, Organ für die deutschen Berufsgenossenschaften, 1886–1979. 75 Jahre Hauptverband. 41 Siehe vor allem: Die Berufsgenossenschaft, 1894, S. 18–20.

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Jahr 1903 wandelte sich der Verband der Berufsgenossenschaften vollends zu einer Lobbygruppe der Industrie, die gegen die Weiterentwicklung der Sozialpolitik durch die Regierung und um die Jahrhundertwende auch gegen die Sozialdemokratie opponierte, der sie unterstellte, die Arbeiter gegen die Berufsgenossenschaften und die Unternehmer aufzuwiegeln. Unter dem Einfluss Bödikers und Roesickes mit dem Ziel ins Leben gerufen, eine extensive Auslegung der Sozialgesetzgebung zu befördern, scheint der Verband am Vorabend des Ersten Weltkriegs diesbezüglich vor allem wie ein Hemmschuh gewirkt zu haben. Dieser Umstand vermag vielleicht zu erklären, warum das RVA zu dieser Zeit die Bildung lokaler Zusammenschlüsse der Berufsgenossenschaften unterstützte.42 Die Zentralverbände der Krankenkassen befanden sich ebenfalls in diesem Zwiespalt zwischen Fortschrittsorientierung und Korporativismus.43 So gründeten im Jahr 1894 ausschließlich Vertreter der OKK den Centralverband der Ortskrankenkassen des Deutschen Reichs. Das kritisierten zwar süddeutsche Verbände (Baden, Wiesbaden, Hessen), doch für die Verfechter dieser Lösung, allen voran die großen Leipziger und Dresdner Kassen, verkörperten ausschließlich die OKK den Geist der Krankenversicherung, während BKK und IKK hauptsächlich den Unternehmerinteressen dienten.44 Die Vertretung der Arbeitgeber im Centralverband war deshalb umstritten und setzte sich nur knapp durch. So wie der Verband der deutschen Berufsgenossenschaften wie ein Zentralverband zur Verteidigung der Arbeitgeberinteressen auftrat,45 entwickelte sich der von freien Gewerkschaften und Sozialdemokraten dominierte Central­verband der deutschen Ortskrankenkassen zu einer Organisation, die Arbeiter reichsweit organisieren und ihre Interessen im Rahmen der Versicherungspolitik vertreten konnte. In diesem Sinn jedenfalls verstanden die Behörden in Preußen und Sachsen diese neue Organisation. Dem Centralverband gegenüber waren sie ablehnend eingestellt und untersagten den Delegierten der OKK, Mittel der Versicherung für Reisen zu den Kongressen zu verwenden.46 Gemessen an den Zahlen behinderten diese Maßnahmen die Entwicklung des Central­verbands der deutschen OKK allerdings kaum: Im Jahr 1911 waren 329 OKK Mitglied, die insgesamt 4,7 Millionen Versicherte vertraten. Der Centralverband nahm mit einer Vielzahl an Stellungnahmen und Vorschlägen Einfluss auf Regierung und Reichstag und verbreitete zahlreiche Ratgeber zu Fragen der Sozialhygiene. Zweifellos trug der Verband zur Vertiefung und Ausweitung der Versicherungspolitik und ihrer Felder,47 insbesondere aber zur 42 Jahresbericht der freien Vereinigung im Rheinlande, 1910 ff.; Jahresbericht der freien Vereinigung der in Baden und Elsaß-Lothringen, 1912 ff.; Jahresbericht der freien Vereinigung westfälischer, 1913 ff. 43 Für eine Darstellung dieser Verbände, siehe Tennstedt, Geschichte, S. 83–92. 44 AVS, Jg. 13, 1895. 13, S. 42–47. 45 Siehe besonders: Die Berufsgenossenschaft, S. 49. 46 Siehe AVS, Jg. 14, 1896, S. 535. 47 Das versuchte der erste Präsident des CDI zu beweisen, siehe Gräf.

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natio­nalen Vereinheitlichung der Versicherungspraxis, ja, sogar zur internationalen Verbreitung des deutschen Gesellschaftsmodells bei. So wurde Helmut Lehmann, zunächst Sekretär und zwischen 1914 und 1933 Vorstand des Centralverbands, im Jahr 1927 Vizepräsident der ersten, unter Federführung des Internationalen Arbeitsamts (IAA) gegründeten Internationalen Vereinigung für Sozialversicherung. Zwischen 1930 und 1933 war er außerdem Mitglied der IAAExpertenkommission für Sozialversicherung.48 Ab dem Jahr 1903 widmete sich der Centralverband der Ortskranken­kassen des Deutschen Reichs unter Führung von Julius Fräßdorf verstärkt der Vertretung von Sonderinteressen der OKK, insbesondere (aber nicht ausschließlich49) gegenüber den BKK und IKK. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts forderte der Centralverband die Auflösung der BKK, ja, die Sozialdemokraten drängten darauf, die OKK zur Basis des gesamten Versicherungssystems zu machen.50 Um diesen Bestrebungen entgegenzutreten, gründeten Industrielle unter maßgeblicher Beteiligung der Kruppschen Unternehmensleitung den Verband zur Wahrung der Interessen der deutschen Betriebskrankenkassen.51 Die Nationalliberalen und das Zentrum riefen ihrerseits im Jahr 1912 den Gesamtverband deutscher Krankenkassen ins Leben, der sich selbst als Gegengewicht zum Leipziger Centralverband der deutschen Ortskrankenkassen sah und Unterstützung von den christlichen Gewerkschaften und den Hirsch-Dunkerschen Gewerkvereinen52 erhielt. Die Auseinandersetzungen zwischen diesen Verbänden, die sich mit den Diskussionen über die RVO seit 1908 noch einmal deutlich verschärften, waren in gewisser Weise Ausdruck der sozialen und politischen Spannungen und tiefen vertikalen Risse, welche die deutsche Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts durchzogen. Doch gleichzeitig standen das RVA und die verschiedenen Verbände unbestreitbar für eine nationale Interpretation der Sozialpolitik, zu deren Rationalisierung und Bürokratisierung sie beitrugen.

48 Kott, communauté, S. 34. 49 Seit den 1880er Jahren opponierten Vertreter der OKK gegen die freien Kassen, denen sie unlauteren Wettbewerb vorwarfen, weil sie ihre Mitglieder wählen konnten und nicht zu Sachleistungen verpflichtet waren. Die Novelle von 1892 gab ihnen teilweise Recht. Die RVO führte den Prozess zu Ende, indem sie die freien Kassen in Zusatzkassen transformierte. 50 Siehe die Debatte in AVS, Jg. 13, 1895, S. 21; Jg. 14, 1896, 2, S. 27; Jg. 29, 1911, S. ­637–638. 51 Siehe besonders: Die Berufsgenossenschaft, 1907, S. 132 und die Kongressprotokolle der Verbände der BKK und Berufsgenossenschaften in: AVS, Jg. 26, 1908, S. 448–450, Jg. 28, 1910, S. 350–352; Jg. 29, 1911, S. 427–428. Vgl. auch die monatlich erscheinende Zeitschrift: Die Betriebskrankenkasse, 1908 ff. 52 Geschäftsbericht des Gesamtverbandes 1913, S. 1–7.

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2. Die Institutionalisierung der Sozialpolitik Max Weber hat die Bedeutung bürokratischer Rationalisierung für die Ent­ stehung des modernen Staates hervorgehoben. Die Sozialversicherungen und der Arbeitsschutz sind gute Beispiele für diesen Prozess. Durch sie entstanden neue Berufsgruppen, die durch ihre Praxis die Spielregeln des Verwaltens festlegten und Bürokraten und Kunden mussten in einem gemeinsamen Lern­ prozess die dabei geltenden Rollenverteilungen erst noch entwickeln. 2.1 Der Verwaltungsangestellte: Geburt eines Berufs In den Versicherungsgesetzen von 1883 und 1884 wurden die Angestellten der Kassen noch nicht erwähnt. Das geschah erstmals im Gesetz von 1889, das ihnen bedeutende Aufgaben in den LVA übertrug. Nach 1891 beschäftigten die 31 LVA 658 Angestellte und 239 Kontrolleure. Unter den 149 Direktoriumsmitgliedern waren damals 72 Angestellte. Die explizite Nennung der Angestellten im Gesetzestext erfolgte zusammen mit der sukzessiven Ausweitung ihrer Verwaltungsaufgaben, die nach dem ersten KVG noch von den Versicherten und den Arbeitgebern (im Fall der Unfallversicherung nur von letzteren) ehrenamtlich bewältigt werden sollten.53 Die Konzentration der Kassen54 und die Vervielfältigung der Aufgaben, denen sich die Arbeitgeber in der Verwaltung der Unfallversicherung gegenübersahen,55 führten zur stetigen Vermehrung der Angestellten sowohl in den Krankenkassen als auch in den Berufsgenossenschaften. Im Jahr 1906 beschäftigten die Krankenkassen mindestens 25.000 Angestellte, die Berufsgenossenschaften etwa 20.000 und die LVA 28.000.56 Seit Ende der 1880er Jahre erschienen in der Arbeiterversorgung, der Zeitschrift der Angestellten der Arbeiterversicherungen, Stellenangebote und -gesuche, die von der Entstehung eines regelrechten Arbeitsmarkts im Bereich der Sozialversicherung zeugen. Die Kassenangestellten kamen meist aus dem Dienst der Stadtverwaltungen und hatten in den seltensten Fällen – zumindest galt dies für die gering Qualifizierten – eine spezielle Ausbildung erhalten. Sie hatten zuvor so unterschiedliche Tätigkeiten ausgeführt wie Verwalter, Sekretär, Kassenführer, Buchführer, Amtsgehilfe, Aufseher. Mit dem sozialen Dienst verbanden sie eine Möglichkeit zu sozialem Aufstieg und geographischer Mobilität. Um die Jahr53 Siehe hierzu: Breithaupt, S. 16–17. 54 Siehe Tennstedt, Geschichte, S. 41. 55 Eine Darstellung dieser Entwicklung findet sich in: Geschichte und Wirkungskreis, S. ­165–169. 56 Nach Weltzing, Ausbildung, S.  749–751. Die OKK Mülhausen zählte im Jahr 1897 sechs Angestellte auf 7.735 Mitglieder; in Leipzig kamen im Jahr 1896 57 Angestellte auf etwa 100.000 Versicherte. Die größeren Kassen scheinen im Allgemeinen an den Verwaltungskosten gespart zu haben (besonders am Gehalt der Angestellten).

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hundertwende wählten einige große Kassen wie die Dresdner ihre Angestellten mithilfe eines Auswahlsystems, das es erlaubte, die offenen Stellen mit den besten Bewerbern zu besetzen.57 Gleichzeitig trug dieses System zur Gruppierung der Versicherungsbeschäftigten bei, für die am Vorabend des Ersten Weltkriegs die ersten spezialisierten Ausbildungsgänge eingerichtet wurden.58 Eine ähnliche Tendenz zur Professionalisierung ist in der Gewerbeaufsicht zu erkennen. Die Zunahme der Angestellten ging in diesem Bereich auf die Einrichtung neuer Bezirke (in Preußen stieg die Zahl der Bezirke zwischen 1891 und 1912 von 19 auf 33) und die Einstellung von neuen Gewerbeaufsichtsbeamten und zusätzlichen Assistenten und Assistentinnen zurück. Dennoch hielt die personelle Ausstattung kaum Schritt mit der Entwicklung der Aufgaben. Jenseits der länderspezifischen Organisation der Gewerbeaufsicht zeichnete sich zunehmend ein einheitlicheres Berufsbild des Gewerbeaufsichtsbeamten ab.59 In Preußen wurde die erforderliche Ausbildung im Jahr 1897 per Verordnung festgelegt.60 Dort ebenso wie in Sachsen stellten technische Kompetenzen das alleinige Einstellungskriterium dar. Die preußischen Aufseher waren mehrheitlich diplomierte Chemiker und Bauingenieure im öffentlichen Dienst. Die süddeutschen Länder stellten dagegen eher Ärzte oder sozial ausgebildete Personen ein. Des Weiteren wurde die Stellung der Gewerbeaufsichtsbeamten in der Organisation der Verwaltung besser definiert, was ihnen zu mehr Unabhängigkeit gegenüber den Industriellen und den lokalen Behörden verhalf, selbst wenn sie für die Durchsetzung von Sanktionen auf letztere angewiesen blieben. Schließlich trugen regelmäßige Treffen auf Länderebene dazu bei, die Praxis der Gewerbeaufsichtsbeamten in den einzelnen Ländern zu vereinheitlichen. Innerhalb des Versicherungsdienstes führte das Bewusstsein, eine besondere Berufsgruppe zu bilden, zur Gründung des Verbands der Verwaltungsbeamten der Krankenkassen und Berufsgenossenschaften Deutschlands, der sich im Jahr 1908 zum Verband der deutschen Versicherungsbeamten umbenannte und den freien Gewerkschaften nahestand. Dieser Verband war ein Ort des Erfahrungsaustausches und der Verbreitung einer sozialversicherungsspezifischen Verwaltungspraxis. Unter Berufung auf ihre besonderen Kompetenzen wählten die Angestellten nicht nur Delegierte zu den Versammlungen der örtlichen Kassenverbände.61 Sie bestanden auch darauf, in den Diskussionen über Änderungen der großen Versicherungsgesetze anerkannt und gehört zu werden.62 Be57 AVS, Jg, 19, 1901, S. 341. Tennstedt, Sozialgeschichte der Sozialversicherung, S. 390. 58 Siehe die Anzeigen in AVS, besonders Jg. 28, 1910, S. 469. 59 Schuler, Grundsätze, S. 503–512. 60 Siehe hierzu Poerschke, S. 128–157. Für Preußen, siehe Karl, S. 162–177, und Quarck, Reorganisation, S. 207–227. Für Baden, siehe Bocks, S. 40–49. 61 Das war vor allem in Elsass-Lothringen der Fall. Bei der Versammlung im Jahr 1910 ließen sich 33 Kassen von 84 Delegierten vertreten (darunter 21 Arbeitgeber, 40 Versicherte und 23 Kassenangestellte). Landesversicherungsamt für Elsass-Lothringen, 1910. 62 Vgl. hierzu die exemplarische Laufbahn von Friedrich Kleeis, dargestellt von Florian Tennstedt in: Kleeis, Geschichte, S. V–XXIII.

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sonders aktiv traten sie in den Debatten auf, die zwischen den Jahren 1908 und 1911 über die RVO geführt wurden. Diesbezüglich formulierten die Versicherungsangestellten zwei Hauptanliegen, Beschäftigungssicherheit und Gewährung einer Altersrente. Beide zielten darauf ab, ihre Arbeitsbedingungen an die der Beamten anzugleichen.63 Diese Ziele wurden zwar 1911 erreicht, doch mit der Anerkennung der Kategorie des Kassenbeamten, dem wie allen anderen Beamten politische Neutralität abverlangt wurde, gaben sie zugleich ein Stück ihrer Handlungsfreiheit auf. Die neuen, von der RVO eingeführten Versicherungsämter hatten auch den Auftrag, die Einhaltung dieser besonderen wie aller übrigen Bestimmungen zu überwachen, welche die Versicherungsangestellten betrafen. Traten Konflikte zwischen Vertretern der Versicherten und der Arbeitgeber auf, ernannten die Versicherungsämter stellvertretend die Angestellten. Lediglich im Fall der BKK blieben die Arbeitergeber souverän.64 Zweifellos versuchten die politischen Behörden, die Sozialversicherungsbürokratie als Gegengewicht zur Selbstverwaltung und zur Politisierung der Krankenkassen zu instrumentalisieren. 2.2 Das Aufkommen des Schalters65 In den ersten Jahren nach Einführung der Sozialversicherung, in denen das berufsgenossenschaftliche Prinzip uneingeschränkt galt, waren die Aufgaben der Kassenangestellten noch nicht klar definiert, sie stellten vielmehr ein Element des sozialen Netzes dar, an das die Gesetzgebung anknüpfte. Die Angestellten der OKK Hannover etwa nutzten ihre gute Kenntnis der lokalen Milieus in der ländlichen Umgebung, um auf jedem Hof die Landarbeiter aufzuspüren, die der Versicherungspflicht unterlagen. Von der Dresdner Krankenkasse ist bekannt, dass die von ihr zur Erhebung der Beiträge beschäftigten »Sammler« aufgrund von Trunkenheit im Dienst nicht immer zuverlässig arbeiteten. Die Aufseher der LVA Ostpreußen waren sogar in den lokalen Milieus so sehr verhaftet, dass sie selbst von Vorgesetzten beaufsichtigt werden mussten, die aus anderen Landesteilen kamen.66 Das änderte sich im Verlauf der 1890er Jahre, als Tätigkeit und Verhalten der Angestellten in allen Zweigen der Sozialpolitik genauer geregelt wurden. Die regelmäßige Veröffentlichung gedruckter Berichte, die Einführung von Besuchszeiten, die Einrichtung eines Arbeitsraumes, in dem jedem ein Platz zugewiesen und der Versicherungsangestellte räumlich vom Kunden getrennt war, zeigen die materielle Übersetzung der fortschreitenden Bürokratisierung der Sozial63 AVS, Jg. 13, 1895, S. 538–541. 64 Siehe die Kritik dieser Bestimmung in: Die Eingriffe des Einführungsgesetzes zur RVO in die Rechte der Kassenangestellten, in: AVS, Jg. 29, 1911, S. 217–220. 65 Diese Überschrift ist inspiriert von: Dubois. 66 Passarge, S. 1–25.

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Abb. 5: Das Gebäude der LVA Elsass-Lothringen (aus: L’Institut, S. 1)

Abb. 6: Der Schalter der Krankenkasse Colmar-Land, 1918 (aus: La caisse locale, S. 1)

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politik. Während in den Anfangsjahren die Wohnstätte des Kassensekretärs nicht selten auch als Büro gedient hatte, entstanden nun eigene Gebäude. Die Bauten der LVA waren oft imposant und wiesen im ganzen Kaiserreich einen einheitlichen Architekturstil auf. Proportionen und Linien entsprachen der »modernen Renaissance«, dem Nationalstil des wilhelminischen Deutschland (Abb. 5). Die Anordnung der Büroräume im Inneren folgte strikt der Verwaltungshierarchie, sowohl hinsichtlich der Verteilung der Räume auf den einzelnen Etagen als auch im Hinblick auf die Gesamtheit der Stockwerke. Äußerlich wurde sie durch die Gestaltung der horizontalen Fassadengliederung kenntlich gemacht. Doch die Raumorganisation in den neuen Gebäuden der großen Krankenkassen und LVA diente nicht nur dazu, die Hierarchie unter den Verwaltungsangestellten zu verdeutlichen. Sie unterstrich auch die zunehmende Ausdifferenzierung und Distanz zwischen den Versicherungsangestellten und den Versicherungskunden. Die Angestellten der Leipziger Krankenkasse, die im Jahr 1905 im Karteisaal fotografiert wurden, trugen alle ein weißes Hemd mit Krawatte oder Fliege und eine Weste.67 Auch diese Kleidung hob sie deutlich von der Kundschaft ab, die größtenteils aus der Arbeiterklasse stammte.68 Die Büros waren von den Räumen getrennt, in denen der Kundenverkehr stattfand.69 Doch auch in diesen trennte letztlich der Schalter die Angestellten der Verwaltung von ihren Kunden: Er kodifizierte gleichsam ihre administrative Beziehung (Abb. 6). Das von Max Weber beschriebene Phänomen der Bürokratisierung ist sicherlich eine idealtypische Konstruktion. Die persönliche Beziehung hatte auch im Schalterverkehr weiterhin ihre Bedeutung. Besonders wichtig war sie im Deutschland des ausgehenden 19.  Jahrhunderts im Fall der Krankenversicherung. Die Versicherten begaben sich persönlich zum Sitz ihrer Krankenkasse, um den Krankenschein abzugeben und die tägliche Versicherungsleistung zu erhalten. Das machte die Einrichtung von örtlichen Zweigstellen erforderlich. Die Leipziger OKK verfügte im Jahr 1896 über sieben Zweigstellen, die Dres­dener über fünf.70 Arbeiter und vor allem Arbeiterinnen aus den Tälern der ­Vogesen legten viele Kilometer zurück, um aus den Händen des Gewerbeaufsichtsbeamten den Zettel entgegenzunehmen, auf dem ihre gesetzlich verbrieften und in ihren Fabriken oft unbekannten Rechte notiert waren. Der Verwaltungsangestellte der Versicherung ebenso wie der Gewerbeaufsichtsbeamte befanden sich folglich an der Schnittstelle zwischen Staat und Be67 Die OKK Leipzig ließ 1895 ein neues Gebäude errichten, siehe AVS, Jg. 14, 1896, S. 60. Die OKK Dresden folgte im Jahr 1897, siehe Hesse, G., S. 44. Die OKK Mülhausen konnte 1910 mit einem Kredit der LVA ebenfalls ein neues Gebäude bauen, siehe OKM, 1910, S. 27. 68 Geschäftsbericht der Ortskrankenkasse, 1905. 69 Siehe als Beispiel hierfür die LVA Sachsen in: Invaliden und Altersversicherung im Königreich Sachsen. Amtliches Organ des Vorstandes des Versicherungsamts für das Königreich Sachsen, Dresden 1893, 4, S. 24–30, das beigefügte Dokument. 70 AVS, Jg. 14, 1896, S. 383.

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völkerung: In dieser alltäglichen administrativen Beziehung fanden die Prozesse der allmählichen staatlichen Durchdringung und der Nationalisierung der Gesellschaft statt.

3. Die Regierung des Sozialen 3.1 Die Sozialpolitik in der Praxis: Nationalisierung der Gesellschaft »von unten« Von der Sozialgesetzgebung waren zunächst soziale Gruppen betroffen, die am Rand der neuen, national definierten Gesellschaft standen und nur schwach ausgeprägte Beziehungen zum Staat hatten. Die Gesetze bewirkten eine Intensivierung dieser Beziehungen und beeinflussten damit zugleich lokale Kräfteverhältnisse, durch die diese sozialen Gruppen bislang gegen den staatlichen Zugriff abgeschirmt worden waren. Besonders in Randgebieten des Kaiserreichs wie etwa dem erst kurz vor der Verabschiedung der ersten Sozialgesetze annektierten Elsass-Lothringen stellten die Gesetze deshalb wirkungsvolle Instrumente der territorialen Integration und der Nationalisierung der Gesellschaft von unten dar.71 Die Stellung der Beamten oder Angestellten der sozialpolitischen Institutionen und die Verbreitung behördlicher Dokumente, die sich Zug um Zug standardisierten, spielten diesbezüglich eine wichtige Rolle. In einer ländlichen Gesellschaft, die noch stark von lokalen Dialekten geprägt war, trugen sie zur Verbreitung des Hochdeutschen als einziger Amtssprache bei. Trotz der dezentralisierten Verwaltung der Versicherung zierte der kaiserliche Adler als politisches Emblem und Symbol der nationalen Einheit die persönlichen Dokumente der Versicherten. Die Postverwaltung72, die im Fall der Unfall- und Invaliditätsversicherung mit der Auszahlung der Renten betraut war, machte auf den Schriftstücken der Versicherten von ihrem ebenfalls mit dem Adler geschmückten Stempel reichlich Gebrauch. Auch die Marken auf den Versicherten-Quittungskarten der LVA Reichsland trugen den Reichsadler. Diese Quittungskarten waren ein mächtiges Symbol: Von den Versicherten sorgfältig in einer Schublade aufbewahrt, stehen sie für das Vordringen des Zentralstaates in jeden Arbeiterhaushalt des Kaiserreichs.73 71 Die Problematik der »Nationalisierung« der Gesellschaft vermittels der Versicherung ist im Fall des französischen Gesetzes über die Arbeiter- und Bauernrente von 1910 untersucht worden in: Noiriel, Etat-Providence, S. 99–112. 72 In Deutschland war die Post mit Ausnahme der Länder Bayern und Württemberg zentra­ lisiert; letztere verfügten über eine eigenständige Postverwaltung. Zur Rolle der Post für die Praxis der Versicherungen, siehe Geschichte und Wirkungskreis, S. 162–165. 73 Zur Rolle administrativer Dokumente in einfachen Familien unterer Gesellschaftsschichten, siehe Dardy.

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Vor allem aber »störte« die Sozialpolitik eine vermeintliche lokale oder regionale Balance, die sich gegen den oder jenseits des Zentralstaates etabliert hatte. Diese Befürchtung hatten die süddeutschen Länder (vor allem Bayern) während der Diskussion über die Unfallversicherung geäußert und die Einrichtung der vom RVA unabhängigen LVA durchgesetzt.74 Das elsässische Beispiel ist hier besonders aussagekräftig, denn im Reichsland diente die Umsetzung der Sozialversicherungsgesetzgebung dezidiert dem Zweck einer Germanisierung »von unten«. Seit den 1830er Jahren hatten elsässische Industrielle in den von ihnen geführten Unternehmen oder Gemeinden Sozialwerke entwickelt. Die Société industrielle de Mulhouse (SIM), der mit Dollfus, Mieg, Schlumberger, Kestner und anderen die großen Industriellen des Departements Haut-Rhin angehörten, sorgte für die Verbreitung des elsässischen Modells, das seinen Verfechtern zufolge den sozialen Frieden sicherte ohne auf den Staat rekurrieren zu müssen.75 Nach der Annektierung konnten die Industriellen durchsetzen, dass Abschnitt sieben der Gewerbeordnung im Elsass zunächst nicht in Kraft trat.76 Zur wohltätigen Reputation der Industriellen kamen in diesem Fall gewichtige politische Beweggründe: Die Sachwalter des Kaiserreichs im Reichsland hofften so, die örtlichen protestantischen Eliten, die über eine katholische Arbeiterklasse herrschten, als Verbündete gewinnen zu können.77 Die Wahlen des Jahres 1887 belegten indes die Beharrlichkeit der gegnerischen Kräfte, die vom katholischen Klerus und den großen liberalen und frankophilen Industriellen am Leben gehalten wurden. Nachdem ihre Politik der Integration der elsässischen Bevölkerung »von oben« gescheitert war, versuchten die deutschen Behörden, die Arbeiterbevölkerung zu erreichen. Das Erscheinen des Werks Die oberelsässische Baumwollindustrie und ihre Arbeiter von Heinrich Herkner, Schüler von Lujo Brentano und seit 1886 Professor in Straßburg, war für diese Richtung bereits ein Anzeichen.78 Herkner beschrieb darin im Jahr 1887 schlechte Arbeitsbedingungen in den Textilfabriken, lange Arbeitstage, unhygienische Produktionsstätten und Hungerlöhne. Er griff auch den Mythos des »elsässischen Sozialmodells« an, das seiner Meinung nach die Arbeiter weitaus schlechter stellte als die Modelle, die im Reichsinneren umgesetzt wurden. Herkner hielt die Stabilität des sozialen Kräfteverhältnisses im Elsass für prekär und sagte eine Explosion voraus. Die große Streikbewegung des Jahres 1890, die erste dieser Größenordnung im Elsass, sollte ihm Recht geben.

74 Zu diesem Punkt siehe Bödiker, S. 537. 75 Kott, Enjeux. 76 Siehe Quellensammlung, I, 3, S. 363–373. 77 Siehe den besonders bedeutenden Bericht eines im Jahr 1872 mit der Untersuchung der Lage im Elsass beauftragten Bergbauingenieurs, in: AD BR AL 87.5026. Vgl., mit Vorbehalten, auch: Lohren, S. 78–88. 78 Herkner, Baumwollindustrie.

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Im Dezember 1887 beschloss der Reichstag die Inkraftsetzung der GO in­ Elsass-Lothringen ab Januar 1889.79 Im selben Jahr nahm der erste deutsche Gewerbeaufsichtsbeamte in Straßburg seinen Dienst auf. Ab 1893 kamen zwei weitere Beamte hinzu, Crépin im Oberelsass80 und Rick in Lothringen.81 Im stark industrialisierten Oberelsass war Crépin damit beauftragt, das Gesetz in allen seinen Konsequenzen umzusetzen82, stieß jedoch von Beginn an auf den Widerstand der Industriellen, die in ihm vor allem einen Agenten des Deutschtums und einen Totengräber ihrer Freiheiten sahen. Damit blieben ihm nur die Ar­beiter als mögliche Ansprechpartner. Nachdem er mit seinen regelmäßigen Inspektionsreisen wenig erreicht hatte,83 nahm er an den ersten öffentlichen Veranstaltungen der katholischen und sozialdemokratischen Arbeiterorgani­ sationen teil. Infolge einer öffentlichen Versammlung der Sozialdemokraten in Mülhausen im Jahr 1895, auf der die hygienischen Bedingungen in den Fabriken heftig kritisiert wurden, führte Crépin eine Untersuchung durch, welche die Industriellen der Stadt endgültig dazu veranlasste, sich von ihm zu distanzieren.84 Seine Abberufung konnten sie allerdings nicht durchsetzen, weil er von den Bezirks- und Landesbehörden Rückendeckung erhielt. Die Bezirksvorstände im Oberelsass ließen sich stets von Crépin beraten, bevor sie über Anträge von Arbeitnehmern auf Ausnahmeregelungen entschieden.85 Um die Jahrhundertwende forderte das Reichsamt des Inneren die Bezirksvorstände dazu auf, mehr Härte walten zu lassen und Strafzahlungen zu erheben, die auf die Indus­ triellen wirklich abschreckende Wirkung hätten.86 Mit der konsequenten Umsetzung der Arbeitsgesetzgebung durch die Oberbehörden und die Regierung des Reichslandes zielten die deutschen Beamten eindeutig auf die ihnen feindlich gesonnenen elsässischen Honoratioren. Bemerkenswerterweise stützten sie sich dabei auch auf jene Gruppen, die sie im alten Reichsgebiet bekämpften: Katholiken und Sozialdemokraten wurden im Reichsland bei der »Nationalisierung« der Arbeiterbevölkerung zu ihren Verbündeten. Die Beibehaltung des direkten allgemeinen Männerwahlrechts bei den Kommunalwahlen im Reichsland führte im Jahr 1891 in Mülhausen zu einer katholischen Ratsmehrheit. Im Jahr 1896 kamen zwei Sozialdemokraten hinzu. 79 RGB, 1888, S. 57. 80 Ab 1901 kam ein weiterer Inspektor in Mülhausen hinzu, ab 1906 auch eine Assistentin, die sich den Arbeiterinnen zur Verfügung hielt, siehe AD HR 25.879. 81 AD BR AL 25.864. 82 Siehe hierzu: SP, Jg. 6, 1895–1896, S. 1127. 83 VAB, Jg. 12, 1894, S. 30. 84 Von 23 inspizierten Betrieben waren nur drei mit einer ausreichenden Zahl an Toiletten ausgestattet, sechs verfügten über keine einzige; ein einziger Betrieb hatte Umkleiden und Waschräume eingeführt, die den Vorschriften entsprachen, 14 hatten überhaupt keine Einrichtungen dieser Art, siehe AD HR 25.870. 85 AD HR 16.514. 86 AD HR 25.879.

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Im Oktober desselben Jahres beschloss der Stadtrat die Einrichtung eines Auskunftsbureaus, das im Februar 1897 eröffnet wurde und sich als äußerst erfolgreich erwies.87 Das Auskunftsbureau trug dazu bei, Rolle und Tätigkeit des Gewerbeaufsichtsbeamten weithin bekannt zu machen. Die Sprechzeiten seines ab 1897 zunächst in Colmar, ab 1900 in Mülhausen angesiedelten Büros waren regelmäßig gut besucht.88 Crépin beklagte, dass die Öffnungszeiten seines Büros es nicht zuließen, alle zu empfangen, die vorstellig wurden89, oder dass einige vor verschlossener Tür standen, weil sie die genauen Sprechzeiten nicht kannten.90 Allerdings stellte er zufrieden fest, dass er nicht nur von Arbeitern aus Colmar und Mülhausen aufgesucht wurde, sondern sich auch Arbeiter aus den entlegenen Gebieten der Vogesen mit dem Zug auf den Weg zu seiner Dienststelle machten.91 Auch die Zahl der schriftlichen Auskunftsgesuche stieg kontinuierlich an. Oftmals handelte es sich dabei um Anzeigen, die auf Missbrauch oder Gesetzesverstöße aufmerksam machten. Die Arbeiter hofften, dass ihre häufig anonymen Briefe92 eine Inspektion nach sich zogen und zu einer Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen führten. Der Wunsch, ein schriftliches Zeugnis ihrer Unterredung mit dem Inspektor mitnehmen und bei Bedarf in ihrer Fabrik vorzeigen zu können, zeugt ebenfalls von der Wirkungsmacht, die seiner Tätigkeit zugeschrieben wurde. Das städtische Auskunftsbureau von Mülhausen ermunterte zudem Versicherte, gegen Entscheidungen der in Mülhausen ansässigen Berufsgenossenschaft der Textil- und Schwerindustrie am RVA in Berlin in Berufung zu gehen. Dieser Rechtsweg eröffnete den Arbeitern eine Möglichkeit, sich dem Einfluss des unternehmerischen Paternalismus zu entziehen, der sich in den örtlichen Schiedsgerichten stark auswirkte.93 Vor allem aber verwandelte er den fernen Zentralstaat in eine wohlwollende Berufungsinstanz und verortete die elsässischen Arbeiter in der Geographie der deutschen Nation. Sicher steckte diese Entwicklung in den entlegenen Dörfern, in denen die Honoratioren und Unternehmer weiterhin das politische Leben und die Verwal87 Jahresbericht des städtischen Auskunftsbureaus, 1898, S. 1. Im Jahr 1898 überstieg die Zahl der Auskunftsgesuche diejenige der 30 in anderen deutschen Städten angesiedelten Auskunftsbüros, die zum Teil bereits seit Jahren existierten, siehe Jb AbM, 1898–99, S. 5. 88 VAB, 1900, S. 29. 89 VAB, 1902, S. 22. Diese Forderung unterstützten sowohl die sozialistische als auch die katholische Arbeiterbewegung. 90 VAB, 1898, S. 29; 1900, S. 29; 1905, S. 23. 91 VAB, 1900, S. 21. 92 VAB, 1904, S. 29. 93 Die Schiedsgerichte, die in erster Instanz entschieden, waren je zur Hälfte mit Vertretern der Arbeitgeber und der Arbeiter besetzt. Bei letzteren, die von den Direktionskomitees der Krankenkassen ausgewählt wurden, handelte es sich meistens um Werksmeister, die eher zur Unterstützung der Arbeitgeber neigten. Auch der Vorsitzende des Gerichts, ein ernannter Beamter, stimmte oft mit den Arbeitgebern überein. Zu diesen Punkten, siehe AD BR AL 71.267.

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tung dominierten, um 1900 noch in den Anfängen.94 Dennoch vermag das elsässische Beispiel zu verdeutlichen, dass die Sozialpolitik einen entscheidenden Beitrag dazu leistete, die Arbeiter aus der Abhängigkeit von den lokalen Hono­ ratioren zu lösen, an den Staat zu binden und zugleich in der deutschen Nation zu verankern. Dieser Prozess der ›Verstaatlichung‹ und ›Nationalisierung‹ der Arbeiterbevölkerung beruhte allerdings auch auf der fortschreitenden Fixierung der administrativen Verfahren. 3.2 Identifizierung und Verwaltung der Versicherten Technologien der Identifizierung und Erfassung der Bevölkerung stellen das Grundgerüst des modernen Staates dar, seine Existenz ist an die Möglichkeit geknüpft, die auf seinem Gebiet lebenden Individuen klassifizieren, mobilisieren, zusammenrufen oder teilweise ausschließen zu können.95 Da die Sozialgesetzgebung individuelle Rechtsansprüche verlieh, verlangte sie nach einer sorgfältigen Erfassung der Leistungsberechtigten. Das erforderte die Entwicklung von Techniken des Verwaltens und die Ausbildung eines praktischen Verwaltungswissens; beides trug zur Staatsbildung bei. In den ersten Jahren nach Einführung der Krankenversicherung begaben sich die Arbeitgeber, die für die pflichtgemäße Anmeldung ihrer Belegschaft verantwortlich waren, persönlich zum Sitz der Krankenkasse, oftmals die Wohnung des Sekretärs der Krankenkasse, um ihre Arbeiter anzumelden. Die Arbeitnehmer wurden in Verzeichnisse eingetragen, aus denen man sie wieder strich, wenn sie das Unternehmen verließen. Streitereien und Raufereien waren während der erstmaligen Einschreibung keine Seltenheit, zahlreiche Fehler die Folge. Oft wurden einige Beschäftigte mehrmals gemeldet, andere dagegen vergessen. Viele Arbeitgeber vor allem der Kleinstbetriebe verweigerten die Anmeldung ihrer Beschäftigten oder zögerten sie hinaus, weil sie diese als Bedrohung empfanden.96 Das Verwaltungsgericht des Landes Baden urteilte im Jahr 1899 im Fall eines Gutsbesitzers, der die Spannungen und Schwierigkeiten sehr gut verdeutlicht, die bei der Erstanmeldung auftraten: Nachdem er sich mehrmals geweigert hatte, seinen Arbeiter N. anzumelden, begab sich X. schließlich zur Wohnung des Kassensekretärs und erklärte, er wolle doch für N. bezahlen. Obwohl es von dieser Zusage keinerlei schriftliches Zeugnis gab, hielt das Ge94 Zur Weiterführung der paternalistischen Traditionen im Rahmen der Sozialpolitik, s. Kott, paternalisme, S. 50–61. 95 Siehe zu diesem Punkt insbesondere die anregenden Überlegungen des Dossiers in: Genèses 13, sowie Noiriel, L’identification, und Caplan u. Torpey, S. 1–6. 96 Siehe hierzu das Beispiel Hamburg: Von 15.000 Arbeitgebern hatten im Januar 1885 nur 1.500 ihre Arbeitnehmer angemeldet, von denen sich mehr als die Hälfte wieder zurückzog, nachdem sie erfahren hatten, dass sie Beiträge entrichten sollten, siehe Tennstedt, Errichtung, S. 297–338.

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richt diese Erklärung für einen ausreichenden Beweis seiner Aufrichtigkeit.97 Der Fall wurde in einer Diskussion aufgegriffen, in deren Verlauf die Kassenverwalter auf die Grenzen eines solchen Verfahrens hinwiesen und die Einführung stärker geregelter administrativer Praktiken anregten, wie die Erstellung und Benutzung eines »Anmeldeformulars«. Die Aufrichtigkeit des Arbeitgebers, für den lediglich seine örtliche Reputation bürgte, konnte ihnen zufolge nicht ausreichen, um die Rechtsansprüche der Versicherten zu garantieren. Die formal einwandfreie Registrierung des Versicherten sollte zur notwendigen Voraussetzung dafür werden, dass dieser überhaupt Rechtsansprüche erheben konnte. Im Jahr 1904 empfahl der Verband der Verwaltungsbeamten der Krankenkassen und Berufsgenossenschaften offiziell die Verwendung des Anmeldeformulars.98 Trotzdem stießen die Kassenangestellten bei der Identifizierung der Versicherten auf erhebliche Schwierigkeiten. Die Schreibung von Eigennamen erfuhr im Verlauf des 19. Jahrhunderts deutliche Veränderungen, welche die administrativen Verfahren bei der Einführung der Krankenversicherung deutlich komplizierten. Eine weitere Schwierigkeit lag in dem Umstand, dass es viele gleichlautende Nachnamen gab; das machte den Rückgriff auf weitere Nachweise wie Auszüge aus den Geburtsregistern erforderlich – Schriftstücke, die zu besorgen sich die Arbeiter schwer taten. Die auf gutem Glauben beruhende Bestätigung des Arbeitgebers oder eines Arbeitskollegen blieb häufig als einziges Kriterium übrig, mit dem der Versicherte identifiziert werden konnte. Auch die Bestimmung des Berufsstands, an die manche Rechtsansprüche geknüpft waren, erwies sich oft als schwierig. Die ersten Sozialversicherungsgesetze wie die Arbeitsgesetzgebung bezogen sich zunächst auf »Fabrikarbeiter«.99 Die Definition dieser Gruppe blieb allerdings ungenau.100 Im Jahr 1907 hob ein Urteil die vom Fabrikinspektor verhängte Strafzahlung gegen einen Goldziselierbetrieb auf, mit der Begründung, dass die dort Beschäftigten sich nicht als Fabrikarbeiter, sondern als Künstler verstanden.101 Ob es sich um den Eigennamen oder den Berufstand handelte, die subjektive Einschätzung des Versicherten oder des Arbeitgebers hatte noch lange Vorrang gegenüber der genauen gesetzlichen Identifizierung. Bis zur Jahrhundertwende gelang es der So97 AVS, Jg. 19, 1901, S. 367. 98 AVS, Jg, 22, S 1904, 156. 99 Die Texte der Versicherungsgesetze von 1883 und 1884 zählten in ihren ersten Paragrafen zu den Leistungsberechtigten lohnabhängige Arbeiter in Bergbauunternehmen, Steinbrüchen, Transportbetrieben und Fabriken sowie Angestellte dieser Branchen, wenn ihre Gehalt eine bestimmte Grenze unterschritt (2.000 Mark/Jahr in der Unfallversicherung, 6,66 Mark/Tag in der Krankenversicherung). Das schloss den größten Teil von ihnen von der Versicherung aus. 100 Der Text des UVG bestimmte lediglich, dass es sich um Betriebe handelte, die dauerhaft mehr als zehn lohnabhängig Beschäftigte in der Fertigung von Industrieprodukten einsetzte. Die Rechtstexte zur Krankenversicherung oder Arbeitssicherheit definierten die Fabrik gar nicht. 101 Die Berufsgenossenschaft, 1907, S. 202.

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zialgesetzgebung oftmals nicht, präzise Kategorien und Identitätsmerkmale durchzusetzen. Diesbezüglich kam die Umstellung von Mitgliederverzeichnissen auf Personenkarteien, in denen die individuellen Akten der Versicherten alphabetisch geordnet waren, einer administrativen Revolution gleich. Auf Anregung der Angestelltenverbände führten zunächst die großen Krankenkassen diese Umstellung durch.102 Auf der genauen Identifikation des Versicherten aufbauend hatte die Akte überdies nach Ansicht ihrer Verfechter den Vorteil, dass mehr Informationen gespeichert werden konnten. Sie bot nicht nur die Möglichkeit, den individuellen Fall jedes Versicherten genau zu »verfolgen«, sondern erlaubte auch, die Behandlung besser auf seinen speziellen Fall abzustimmen.103 Diese Diskussion weist auf Verschiebungen in der Bedeutung der Versicherung hin, die zunehmend als Instrument zur Gesundheitsförderung betrachtet wurde. Zu den eifrigsten Fürsprechern der Einführung von Personenakten gehörten im Übrigen die der Sozialdemokratie nahestehenden Verwaltungsangestellten. Um eine große Anzahl an Personen und ihre Akten optimal verwalten zu können, erwies sich umgehend auch die Standardisierung der Informationen als unabdingbar. So hielten Formulare Einzug in die Versicherung. Der Krankenschein, der als Bindeglied zwischen der Krankenkassenverwaltung, dem Versicherten und dem Arzt fungierte, stellt gewissermaßen ihren Archetypus dar.104 Die an die Versicherten gerichteten Formulare unterschieden sich im Schrifttyp und sogar in der Farbe, um die Informationen einfacher auslesen zu können; der Umfang der schriftlichen Eintragungen der Versicherten wurde auf ein Minimum reduziert.105 Auf diese Weise trugen die Versicherungen, deren Mitglieder sich vorrangig aus wenig alphabetisierten Bevölkerungsteilen rekrutierten, zweifellos auch zur Verbreitung des Schreibens und zur Erlernung administrativer Praktiken bei. Allerdings zielten diese Praktiken auch auf eine verbesserte Überwachung der Versicherten. 3.3 Kontrolle und Sanktion Kontrollverfahren zur Betrugsvermeidung gab es etwa in den BKK bereits seit der Jahrhundertmitte. Seit Mitte der 1880er Jahre erschienen in der AVS Artikel, die auf die Notwendigkeit abhoben, die Versicherten ernsthaft zu kontrollieren, um die Verschwendung des von allen eingezahlten Geldes zugunsten einiger weniger verhindern zu können. Im Jahr 1886 führte die Osnabrücker Zentralkrankenkasse, deren Verwalter einen Mangel an Gemeinschaftsgefühl unter den Mitgliedern feststellten, eine Generalüberwachung für jedes Stadt102 AVS, Jg. 14, 1896, S. 246. 103 Siehe den Artikel von Kleeis, Mitgliederverzeichnis, S. 132. 104 Ein Beispiel gibt Jaffé, S. 99–101. 105 AVS, Jg. 13, 1895, S. 393.

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viertel ein. Die von der Generalversammlung gewählten Kontrolleure sollten in den Vierteln wohnen und darauf achten, dass die Kranken, die in den Genuss von Krankengeld kamen, nicht simulierten und sich an die Verschreibungen des Arztes hielten.106 Die Berliner Krankenkassen stellten im Jahr 1887 fest, dass das berufsgenossenschaftliche Prinzip gegen Simulanten machtlos sei, und zogen es vor, die Kontrolle an Stadtgebiete zu knüpfen und Kassen zusammenzuschließen.107 In Osnabrück und in Berlin wurden bezahlte Kontrolleure angestellt, was jedoch die Arbeit ehrenamtlicher Aufseher nicht ausschloss. So beschäftigte die OKK Leipzig und Umgegend 1887 zehn »professionelle« und 31 ehrenamtliche Kontrolleure. Insbesondere letztere, die als Verteidiger der Kasseninteressen  – und in diesem Sinn ihrer eigenen Interessen  – auftraten, wurden als besonders streng und schamlos wahrgenommen. Im Hinblick auf die Art der Anschuldigungen und Meldungen ist eine rasche Verschiebung zu beobachten. Vermehrt wurden Klagen darüber laut, dass die Versicherung kontraproduktive Folgen zeitigte. So staunte der Direktor der Stuttgarter Krankenkassen im Jahr 1885 darüber, dass in den ersten sieben Monaten des Jahres 32 % der Versicherten Anträge auf Leistungsgewährung gestellt hatten. Für ihn handelte es sich dabei um ein Zeichen für die Verweichlichung des Arbeiters und der Deutschen allgemein.108 Das Versprechen einer Rente oder eines Krankengelds schwächte in seinen Augen gewissermaßen die Abwehrkräfte des Individuums und des Volkskörpers. Ähnlich lautende Klagen wurden um die Jahrhundertwende immer häufiger vorgetragen. Die Gegner der Versicherung sprachen von der Entwicklung eines neuen Krankheits­bildes: Manche Versicherte seien buchstäblich von einer »Rentensucht« besessen, sie sprachen von Symptomen wie »Rentenhysterie« oder »Unfallneurose«.109 Die Kontrolle der Versicherten verfolgte mithin zwei Ziele: Auf der einen Seite sollte die Ausbeutung der Versicherungen durch skrupellose Mitglieder unterbunden, auf der anderen Seite aber auch der Verweichlichung als neuer sozialer Krankheit vorgebeugt werden. Die von den Krankenkassen beschäftigten Berufskontrolleure erfüllten diese doppelte Aufgabe, indem sie einerseits Simulanten fassten und Verstöße gegen die Kassenordnung feststellten (Ausgang außerhalb der festgelegten Uhr­zeiten, Kneipenbesuche etc.) und andererseits die Versicherten im Sinn der Volksgesundheit moralisierten. Die von ihnen eingetriebenen Strafzahlungen glichen außerdem die Kassenhaushalte aus. Im Jahr 1913 führten die Berufskontrolleure der OKK Leipzig und Umgegend 264.819 Hausbesuche durch, stellten 10.551 Verstöße fest und erhoben 8.407 Strafzahlungen, die zusammen eine Summe von 20.313 Mark ergaben. Auch die Vertrauensärzte der Kassen trugen 106 AVS, Jg. 4, 1886, S. 21 und S. 50. 107 AVS, Jg. 4, 1886, S. 118, für Württemberg, AVS Jg. 5, 1887, S. 89. 108 AVS, Jg. 5, 1885, S. 347–349. 109 Diese Argumente wurden systematisch entwickelt in: Friedenburg, S. 33–34, und vor allem in: Bernhard, S. 47–75.

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zur Kontrolle der Versicherten bei. So wurden im Jahr 1913 15.022 Versicherte von den Vertrauensärzten der Leipziger OKK untersucht, fast die Hälfte von ihnen für gesund erklärt und infolgedessen das von ihnen beantragte Krankengeld nicht ausgezahlt. Diese »Simulantenhysterie« drückte sich auch in dem besonderen Misstrauen aus, das die Ärzte umgab. Sie wurden pauschal beschuldigt, Simulanten zu unterstützen, um ihren Klientenstamm zu erweitern, oder unmäßig Medikamente zu verschreiben, um ein hypochondrisches Publikum zufrieden zu stellen.110 Obwohl das KVG dies ursprünglich nicht vorsah, gingen die Krankenkassen dazu über, einige Ärzte vertraglich zu binden, an die sich die Versicherten wenden mussten.111 Die Novelle des Jahres 1892 übernahm diese Praxis zwar ins Gesetz (KVG §§ 6a und 26, 2b), machte sie allerdings nicht zur Pflicht. In den kleineren Kassen hatten die Versicherten oft keine andere Wahl als sich an den einzigen Kassenarzt zu wenden, während die großen Kassen wie die Dresdener oft in jedem Stadtviertel mit einem Arzt zusammenarbeiteten. Die Notwendigkeit, mehrere Ärzte zu beschäftigen, eröffnete den Versicherten somit in einem begrenzten Rahmen freie Arztwahl. In dem Maß, in dem die Krankenkassen wuchsen und eine größere Zahl an Ärzten für sich arbeiten ließen, erhielten auch die Kassenmitglieder mehr Wahlfreiheit. Kassen, die ihren Mitgliedern bei der Wahl ihres Arztes vollständig freie Hand ließen, waren allerdings sehr selten. Diese Praktiken stellten Patient und Arzt unter einen Generalverdacht. Von Arbeitersekretären und Sozialhygienikern wie Raphael Friedeberg oder Ignaz Zadek wurde dies als bürokratische Perversion der Versicherung heftig kri­ tisiert.112 Andere Sozialdemokraten wie der Versicherungsbeamte Julius Fräßdorf oder der Vertrauensarzt Friedrich Landmann betrachteten dagegen dieses System als Grundlage einer guten Kassenverwaltung und als Voraussetzung für eine Politik der Sozialhygiene.113 In anderen Zweigen der Versicherung, in denen der Einfluss der Versicherten schwächer war, waren die Kontrollverfahren noch strenger. Die Berufsgenossenschaften erkannten die »Rentenhysterie« als Nervenkrankheit an, die nicht etwa auf einen erlittenen Schaden zurückgeführt wurde, sondern auf den Willen, ihn ersetzt zu bekommen. Eine entsprechende Diagnose beraubte den Versicherten aller Leistungen. Die Festlegung der Invaliditätsrente, die im gesamten hier betrachteten Zeitraum extrem niedrig ausfiel, war ein hoch umstrittener Vorgang.114 Über die Tatsache oder den Grad der Invalidität befanden 110 Vgl. die Zusammenfassung der Argumente in: Jaffé, S. 147. 111 Verträge dieser Art wurden in der AVS ab 1885 erwähnt. Siehe insbesondere zum Fall Gelsenkirchen in: AVS, Jg. 16, S. 305. 112 Centralverband von Ortskrankenkassen, 1899, S. 17 und 1904, S. 23–25. Siehe auch: Zadek, Arbeiterversicherung, S. 35–37. 113 Vgl. zu dieser Kontroverse in der Sozialdemokratie: Neuhaus, S. 272–273. 114 Zu dieser Schwierigkeit, insbesondere bezüglich der Nervenkrankheiten, siehe Windscheid, S. 111–114. Allgemeiner dazu: Eghigian, S. 75–85.

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die Vertrauensärzte der Versicherungsträger (seit 1899). Über die Parteilichkeit dieser Experten und vor allem derjenigen, die für die Berufsgenossenschaften arbeiteten, gab es unzählige Klagen.115 Invaliden sahen sich ständig dem Verdacht der Simulation ausgesetzt und mussten in der Lage sein, ihre Beeinträchtigung jederzeit nachweisen zu können. Die LVA und insbesondere diejenigen, die mit großen finanziellen Schwierigkeiten kämpften, führten sehr früh Verfahren ein, die Rentner einer unablässigen Kontrolle unterwarfen.116 Die Berufsgenossenschaften nahmen sich das Recht, die zugestandene Rente zu reduzieren, wenn der durch den Unfall entstandene finanzielle Schaden sich verringerte. Sie hoben auf die Anpassungsfähigkeiten des Arbeiters ab und argumentierten, dass dieser seine körperliche Beeinträchtigung ausgleichen, einen Teil seiner Erwerbsfähigkeit und damit auch seines Einkommens wiedererlangen könnte, wenn er seine Fähigkeiten ausbaute oder sich eine neue Arbeit suchte, bei der seine körperliche Beeinträchtigung nicht so stark ins Gewicht fiel.117 Spezialzeitschriften sammelten bald Beispiele von Arbeitsinvaliden, denen es nach einer Umschulung gelungen war, mit Rente und Lohn ein höheres Einkommen zu erzielen als vor ihrem Unfall. Die Versicherung wurde auf diese Weise zu einem Instrument dessen, was Michel Foucault als Biomacht bezeichnet hat: eine Regierung der Körper, die mit dem Aufkommen neuer Regierungstechnologien einherging und den modernen Staat transformierte.118

Epilog: Nationsbildung und Internationalisierung Sicherlich war die Sozialpolitik gegen Ende des Kaiserreichs noch sehr uneinheitlich. Die Länder hielten an ihren Vorrechten fest, die verschiedenen Versicherungsträger unterschieden sich untereinander stark und schützten mächtige soziale und politische Identitäten. Hinzu kamen die zahlreichen lokalen Besonderheiten und die Widersprüche zwischen den ländlichen und den industriellen Gebieten des deutschen Kaiserreichs. Alle diese Elemente bremsten die Bemühungen des RVA, der Verwaltungsangestellten und des Gesetzgebers, die Sozialpolitik zu vereinheitlichen und zu zentralisieren. Der RVO gelang es im Jahr 1911 zwar mit der Einrichtung der Arbeitsämter, den Einfluss der lokalen Behörden auszugleichen; auch stärkte sie mit der Einführung der Allgemeinen 115 Ein solcher Fall ist dokumentiert in: AVS, Jg. 26, 1908, S. 509–511. Die Invaliditätseinstufung beruhte auf dem Gutachten eines Arztes, der ein medico-mechanisches Institut leitete, das direkt von einer Berufsgenossenschaft abhing. Siehe hierzu Eghigian, S. 67–117. 116 Die LVA Ostpreußen beglückwünschte sich selbst zu substanziellen Einsparungen, siehe Passarge, S. 30–31. 117 Industrielle unterstützen sogar die Bildung von Stiftungen, die diesen Invaliden bzw. ehemaligen Invaliden Arbeit verschaffen sollten, siehe Die Berufsgenossenschaft, 1901, S. 236. 118 Zur Biomacht, siehe die Definition, die Michel Foucault selbst gab: Foucault, Dits, S. 818– 824, S. 1012–1013.

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Ortskrankenkasse (AOK) die Bedeutung des Ortes als Strukturprinzip der Versicherung, aber sie löste weder die BKK noch die IKK auf. Auch die RVO konnte die Versicherung letztlich nicht vereinheitlichen, so dass man sie durchaus auch als Ausdruck des Scheiterns aller Bemühungen um die Nationalisierung und Verstaatlichung der deutschen Sozialpolitik betrachten könnte. Dennoch war es eben diese Uneinheitlichkeit der Sozialpolitik, die zur Nationalisierung beitrug. Die Zersplitterung verhinderte keineswegs, sondern speiste vielmehr einen zweiseitigen Prozess der Nationalisierung und Verstaatlichung der deutschen Gesellschaft, der auf drei verschiedenen Logiken aufruhte. Obwohl ein Arbeitsministerium fehlte und eine Vielzahl dazu komplemen­ tärer Einrichtungen existierte, ist erstens ein Prozess der fortschreitenden Zentralisierung der Sozialpolitik zu beobachten, der sowohl »von oben« beeinflusst als auch »von unten« gefördert wurde. Einerseits institutionalisierte und verstärkte das RVA seinen Einfluss, andererseits schlossen sich örtliche Versicherungsträger zusammen und gründeten Zentralverbände. Diese Tendenz zur Zentralisierung unterstütze zweitens einen Prozess der Vereinheitlichung der Praktiken. Das RVA konnte eine landesweit gültige Rechtsprechung entwickeln und wurde darin von den Arbeitersekretären auf lokaler Ebene unterstützt. Das Amt förderte eine extensive Auslegung der Versicherungsgesetze und konnte sich dabei auf ein neu entstehendes Milieu von sozialpolitischen Experten und Praktikern stützen, die in den lokalen Institutionen ausgebildet wurden. Diese wiederum entwickelten  – drittens  – administrative Techniken zur Erfassung, Identifizierung, Klassifizierung und Überwachung der Individuen, die zur Konstruktion des modernen Zentralstaates beitrugen. Diese Verwaltungspraktiken ermöglichten die Menschenführung in face-to-face-Interaktionen vor Ort und hatten zugleich an der Verbreitung von Normen und Regeln teil, die sowohl zur Nationalisierung der Gesellschaft als auch zur Konstruktion der deutschen Nation beitrugen. Der deutsche Sozialstaat entstand in diesem Wechselspiel zwischen lokaler Interaktion und zentralstaatlicher Führung. Aber auch die Beziehungen zu anderen Nationalstaaten trugen zu seiner Entstehung bei, ja, die Dynamiken der Internationalisierung waren in diesem Prozess der Nationalstaatsbildung im Kaiserreich sogar ein wesentliches Element. An der Werbung für das deutsche Modell der Sozialpolitik im Ausland bzw. für das deutsche Kaiserreich vermittels seiner sozialpolitischen Errungenschaften beteiligten sich vier verschiedene Gruppen von Akteuren: politische Repräsentanten, Sozialpartner  – hier insbesondere die sozialdemokratischen Gewerkschaften – Gelehrtenmilieus sowie Verwaltungsbeamte und professionelle Sozialpolitiker. Sie alle bewegten sich in einer internationalen Gemeinschaft, deren institutionelle Strukturen gerade erst entstanden und nutzten vor allem internationale Kongresse und Vereinigungen, um offensiv für das deutsche Gesellschaftsmodell zu werben. Die internationale Arbeitsschutzkonferenz, die auf Einladung Wilhelms II. 1890 in Berlin stattfand, war gewissermaßen die Apotheose dieses Modells. Da sie bewusst geplant einer ähnlichen Schweizer Initiative zuvorkam, wurde sie 161

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weithin als Element der Weltpolitik des neuen Kaisers wahrgenommen.119 Die Öffentlichkeitsarbeit für das deutsche Modell ging über dieses kaiserliche Projekt jedoch weit hinaus. An ihr beteiligten sich engagierte Nationalökonomen ebenso wie Versicherungsangestellte und ganz allgemein die Verwaltungsfachleute der Sozialpolitik. Beamte des RVA veröffentlichten – oft auch in Übersetzung – zahlreiche Bücher und Broschüren120, in denen sie die Errungenschaften des ersten Arbeiterversicherungssystems darstellten. Alle waren in den internationalen sozialpolitischen Vereinigungen aktiv: Ständiger Ausschuss für Unfall­ verhütung, Internationales Komitee für Sozialversicherung (1889), Internationale Vereinigung für Arbeiterschutz (1900–1901) und Internationale Vereinigung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit (1901).121 Im Rahmen dieser Vereinigungen war ihr Eintreten für den Vorbildcharakter der deutschen Sozialpolitik so massiv, dass der Franzose Max Lazard, Gründungsmitglied der Internationalen Vereinigung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, im Jahr 1937 feststellen konnte: »In diesen drei Bewegungen, das ist an dieser Stelle hervorzuheben, spielten die Vertreter der deutschen Wissenschaft und Verwaltung eine bedeutende Rolle. Das gilt besonders für das Internationale Komitee für Sozialversicherung, dessen Aktivität vor allem darin bestand, das Vorbild der deutschen Institutionen zu kommentieren und für es zu werben«.122 Die Internationale Vereinigung für gesetzlichen Arbeitsschutz, die von den Mitgliedern der Gesellschaft für Sozialreform123 dominiert wurde, war unter diesen internationalen Gesellschaften sicherlich die mächtigste und zugleich diejenige, die am stärksten als Resonanzboden für die Darstellung der deutschen Sozialpolitik wirkte.124 Sowohl im Vorstand der Vereinigung als auch anlässlich der Kongresse stellte Deutschland stets die an der Mitgliederzahl gemessen stärksten Delegationen – selbst noch nach dem Ersten Weltkrieg. Ihnen gehörten Politiker, Professoren, An­gestellte 119 Die internationale Konferenz von 1890 ist von Zeitgenossen und Historikern in der Regel als reine Werbemaßnahme für die deutsche Sozialpolitik betrachtet worden, die keine weiter reichenden Folgen für die Ausarbeitung einer internationalen Sozialpolitik gehabt habe. Vgl. zum Beispiel Rasmussen, travail, S. 120–121, und Herren, formation, S. ­411–412. Für eine Einordnung der Konferenz in den Kontext der deutschen Politik und hier insbesondere des Konflikts zwischen Bismarck und Wilhelm II., siehe Berlepsch H. J., S. ­15–53. 120 Siehe Zacher. Dieses Buch hatte eine Erstauflage von 500.000 Exemplaren und wurde ins Englische, Französische, Spanische und Dänische übersetzt. Zacher war zunächst ab 1893 Regierungsrat im RVA, dann zwischen 1905 und 1918 Senatsvorsitzender und Direktor der Abteilung für Arbeiterstatistik (1905–1918). Zwischen 1915 und 1923 war er erster stellvertretender Vorsitzender des Wehrvereins. 121 Zu diesen internationalen Vereinigungen, siehe Gregarek. 122 »Dans les trois mouvements, il est intéressant de le souligner ici, les représentants de la­ science et de l’administration allemande jouaient un rôle important. C’était spécialement vrai du Comite des Assurances dont l’activité consistait avant tout à commenter et à propager l’exemple des institutions allemandes«, siehe Lazard, S. 6. 123 Ratz, S. 238–247. 124 Herren, Politik.

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der sozialen Institutionen aber auch Gewerkschafter an.125 Die Vereinigung, deren Sitz sich in Bern befand, wurde von dem österreichischen Nationalökonomen Stephan Bauer geleitet.126 Deutsch war folglich stärker als Französisch oder Englisch (seit 1906) die bevorzugte Arbeitssprache. Schließlich muss in diesem Rahmen auch die Arbeiterbewegung und insbesondere ihre sozialdemokratische Abteilung Erwähnung finden, denn sie spielte in der internationalen Werbung für die deutsche Sozialpolitik eine Hauptrolle. Im Jahr 1903 übernahm der Gewerkschaftsfunktionär Carl ­Legien die Leitung des Internationalen Gewerkschaftsbunds, dessen Berliner Büro im Jahr 1914 bereits zwölf Angestellte beschäftigte.127 Die deutschen Sozialver­ sicherungen galten auch in der seit 1904 von der deutschen Sozialdemokratie dominierten internationalen Arbeiterbewegung als vorbildlich.128 Unmittelbar nach dem Krieg, im Jahr 1919, rechtfertigte neben der Wirtschaftskraft Deutschlands auch die internationale Rolle der deutschen Gewerkschaften den frühzeitigen Beitritt Deutschlands zum Internationalen Arbeitsamt (IAA). Diese in Genf angesiedelte Organisation konnte aus einem großen Reservoir deutscher Sozialversicherungs- und Sozialhgyiene-Experten schöpfen. Die großen internationalen Sozialversicherungsabkommen der Zwischenkriegszeit knüpften folglich stark an die Erfahrungen der deutschen Politik an. Im Kontext der »nationalen Schmach« nach Kriegsende garantierten die Beamten des neuen Reichsarbeitsministeriums sowie die Angestellten der verschiedenen Versicherungsträger sowohl die Präsenz Deutschlands auf der Weltbühne als auch die internationale Außenwirkung der deutschen Nation.129

125 Kott, Transnational. 126 Bergen. 127 Führer, S. 155–167. 128 Congrès socialiste, S. 134–135. 129 Siehe hierzu: Kott, Dynamiques.

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Kapitel 7 Sozialpolitik und Lebenshygiene

Die Hygiene, das breite Spektrum der Maßnahmen, die Krankheiten vorbeugen und die Ausbreitung von Epidemien unterbinden sollten, war eines der zentralen Probleme des 19.  Jahrhunderts.1 Sicher hatte eine verstärkte Beschäftigung mit der Körperhygiene und der Sauberkeit des öffentlichen Raums überall in Europa bereits während der Aufklärung begonnen, doch erst im 19.  Jahrhundert wurden der europäische und der amerikanische Kontinent von einem wahren Hygiene-Eifer erfasst. Hygiene gilt als eines der ersten internationalen Diskussionsthemen überhaupt. Davon zeugen die seit den 1850er Jahren regelmäßig stattfindenden internationalen Kongresse und Konferenzen, auf denen sich eine Art »Internationale« der Hygieniker formierte, die sich aus Gelehrten und Praktikern, Ärzten und Verwaltungsbeamten zusammensetzte.2 Als Dis­ ziplin und Praxis konstituierte sich das Feld der Hygiene in der Begegnung von Wissenschaftlern und Politikern: Sie war Teil dessen, was Michel Foucault als Biopolitik bezeichnete. Mit der Entdeckung der Bazillen durch Robert Koch, der »Pasteur’schen Revolution« und der Entstehung der Mikrobiologie erhielt die Hygiene am Ende des 19. Jahrhunderts eine wissenschaftliche Grundlage. Über Hygiene und Gesundheit wurde auch auf den ersten internationalen Sozialpolitik-Kongressen diskutiert, die um die Jahrhundertwende stattfanden. Sie war eine wesentliche Dimension jener »Verwissenschaftlichung des Sozialen«, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Entwicklung der Sozial­ politik beitrug.3 Während französische Wissenschaftler bei der Verbreitung des Hygienegedankens eine wichtige Rolle spielten, fanden seine wichtigsten Umsetzungen und Anwendungen am Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland statt. Dieser Vorsprung ist im Wesentlichen auf die Macht der sozialen Institutionen zurückzuführen, die mit dem Aufbau des Sozialstaats entstanden. Davon zeugt die hervorgehobene Rolle, die deutsche Sozialhygieniker in der Zwischenkriegszeit spielten. Im Jahr 1927 organisierte die Hygiene-Sektion des Völkerbunds mit Hilfe der Rockefeller Foundation zusammen mit der Sozialversicherungssektion des IAA ein gemeinsames Komitee, das die Rolle untersuchen sollte, die Versicherungsinstitutionen und sozialpolitische Interventionen allgemein bei der Begründung öffentlicher Gesundheitspolitik spielen könnten. Die Arbeiten dieses 1 Für eine internationale Langzeitperspektive, vgl. Bourdelais. 2 Rasmussen, L’hygiène, Vigilante. 3 Raphael,Verwissenschaftlichung.

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Komitees fanden ihren Niederschlag in zwei wichtigen Büchern. Beide wurden von deutschen Ärzten verfasst, die dem Milieu der Sozialpolitik entstammten oder ihm nahe standen.4 So veröffentlichte das IAA im Jahr 1928 Benefits of the German Sickness Insurance System from the Point of View of Social Hygiene. In ihrem Vorwort rechtfertigten die Beamten die Publikation einer Monographie über Deutschland, indem sie auf seine Vorbildfunktion verwiesen.5 Zudem fungierte der deutsche Gewerbeaufsichtsbeamte Friedrich Ritzmann als einer der Leiter des arbeitshygienischen Dienstes des IAA.6 Die hohe Wertschätzung, die deutsche Experten in der internationalen Sozial­hygiene-Bewegung genossen, führt zu der Frage, welchen besonderen Beitrag die deutsche Sozialpolitik zur Konstitution von Hygiene und Gesundheit als Politikfeld und den damit zusammenhängenden Praktiken leistete. In diesem Kapitel geht es zunächst um die Entwicklung der medizinischen Behandlung in den Institutionen der Sozialhilfe. Im zweiten Schritt wird danach gefragt, welche im engeren Sinn hygienischen und gesundheitspolitischen Praktiken von den Versicherungsträgern und der Sozialpolitik unterstützt wurden. Abschließend wird der Fokus von den Institutionen auf andere Akteure der Sozialpolitik verschoben und die Stellung und Funktion von Ärzten und Versicherten in dieser sozialhygienischen Bewegung untersucht.

1. Von der Medikalisierung zur Sozialmedizin Einer der Hauptzwecke der ersten Versicherungsgesetze war der Kampf gegen die Armut. Folglich boten sie im Versicherungsfall vor allem Geldleistungen. Kostenlose medizinische Behandlung und Medikamentenabgabe waren zwar von Beginn an als Krankenversicherungsleistungen vorgesehen, aber noch 1883 waren die freien Kassen dazu nicht verpflichtet. Auch stellte die von den ersten drei Versicherungsgesetzen vorgesehene Krankenhausbehandlung weder einen Rechtsanspruch des Versicherten noch ein Heilungsversprechen dar. Vielmehr sollte der Versicherte durch den Krankenhausaufenthalt einem Milieu entzogen werden, dem man für seine Heilung abträgliche Wirkungen zuschrieb. Im Fall von Schwangerschaften oder Geschlechtskrankheiten überwogen moralische Gesichtspunkte gegenüber medizinischen Zwecken zunächst sogar in besonderem Maße.

4 Goldmann u. Grotjahn; Pryll. Zur Bedeutung der Deutschen in den internationalen Milieus der Sozialhygiene, siehe Borowy. 5 Goldmann u. Grotjahn, S. V. 6 IAA-Archiv P 1051. Lespinet-Moret, Hygiène, S. 63.

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1.1 Die Medikalisierung der Versicherungen Die aufeinanderfolgenden Novellierungen des KVG verstärkten die im engeren Sinn medizinische Funktion der Versicherungen. Die Novelle von 1892 machte das Sachleistungsprinzip für alle Arten von Krankenkassen verpflichtend. Alle Krankenkassen und nicht nur OKK und BKK konnten fortan auch die Familie der Versicherten in den Genuss einer Krankenhausbehandlung kommen lassen. Die Berufsgenossenschaften wurden angehalten, verunglückte Versicherte in den ersten 13 Wochen nach dem Unfall medizinisch zu versorgen, um ihnen so früh wie möglich die ihrem Zustand angemessene Behandlung angedeihen zu lassen. Ab dem Jahr 1903 konnte die Familie eines Versicherten, der in einer Pflegeeinrichtung behandelt wurde, den ganzen Tagessatz der Entschädigung beziehen (und nicht mehr nur die Hälfte wie zuvor). Diese Neuerung förderte die Krankenhausbehandlung ebenfalls. Im Jahr 1899 führte die Novelle des Invalidenrentengesetzes von den LVA bezahlte Renten für Versicherte ein, die im Krankenhaus behandelt wurden. Und schließlich gestanden die Gesetzes­ änderung des Jahres 1903 und die RVO im Jahr 1911 an Syphilis Erkrankten und Alkoholikern die medizinische Behandlung zu, die ihnen zuvor aus moralischen Gründen verwehrt geblieben war. Unverheiratete Landarbeiterinnen im Wochenbett kamen ab 1911 in den Genuss derselben von den Krankenkassen gewährten medizinischen Pflegeleistungen sowie des Muttergelds wie alle anderen Frauen. Die Entwicklung wies folglich in Richtung einer Ausweitung und Verallgemeinerung des Zugangs zu medizinischen und Pflegeleistungen. Das RVA und die großen Kassenverbände unterstützten diesen Medikalisierungsprozess.7 In diesem Sinn forderte das RVA die LVA auf, die Kosten für langfristige Kurbehandlungen zu übernehmen und den Bau geeigneter Einrichtungen zu finanzieren. Auch sollten die Berufsgenossenschaften dem RVA zufolge bereits in den ersten auf den Unfall folgenden Wochen für die Behandlung der Unfallopfer aufkommen. Unter dem Einfluss seines Vorsitzenden Roesicke hob der Verband der deutschen Berufsgenossenschaften gegenüber seinen Mitgliedern die Notwendigkeit hervor, die Gesundheitsausgaben zu erhöhen und warb wiederholt für die Einrichtung spezieller Anstalten für die Pflege oder Umschulung verunglückter Arbeiter.8 Der Centralverband der deutschen Ortskrankenkassen verfolgte dieselbe Politik.9 Diese rechtlichen Entwicklungen und die verschiedenen Initiativen, die sie begleiteten, förderten einen Prozess der Medikalisierung der Versicherung. Der Anstieg der Ausgaben für medizinische Leistungen in den verschiedenen Ver7 Siehe hierzu insbesondere: Geschichte und Wirkungskreis, S. 242–243 und 251–252. 8 Siehe zu diesem Punkt die Rede von Roesicke auf dem 8. Kongress des Verbands der Berufsgenossenschaften im Jahr 1894. Die Berufsgenossenschaft, 1894, 14, S. 126; siehe aus demselben Jahr auch den Artikel: Dr. Kries, Regierungsrat im RVA, Die Berufsgenossenschaft, 1894, 9, S. 84–94, sowie den Artikel von Tonio Bödiker, RVA-Präsident, in: Die Berufsgenossenschaft, 1894, 19, S. 187–189. 9 Tennstedt, Sozialgeschichte der Sozialversicherung, S. 391–393.

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sicherungsbranchen spricht eine deutliche Sprache.10 Ihr Anteil an der Summe der Krankenkassenleistungen stieg zwischen 1885 und 1901 von 40 auf 46 %, während der Anteil an Verwaltungskosten und der täglichen Ersatzleistungen abnahm (letztere gingen im gleichen Zeitraum von 44,3 auf 41,8 % zurück).11 Im Zeitraum zwischen 1891 und 1911 ist gar eine Verdopplung der jährlichen Pro-Kopf-Ausgaben für medizinische Leistungen zu beobachten (von 7,62 auf 14,09 Mark). Eine parallele Entwicklung zeichnete sich in der Unfallversicherung ab, deren Gesundheitsausgaben zwischen 1887 und 1902 um das Elffache stiegen (von etwa 600.000 auf mehr als 6,5 Millionen Mark). Ihr Anteil an der Summe der Leistungen blieb allerdings stabil. In der Invalidenversicherung ist die Entwicklung deutlicher ausgeprägt. Hier stieg der Anteil der medizinischen Leistungen von 0,3 % im Jahr 1892 kontinuierlich auf 6,8 % im Jahr 1902. Die Gesamtsumme nahm um das 83fache zu, von 110.000 auf mehr als 9 Millionen Mark. Nicht berücksichtigt wurden hier im Übrigen die Kosten, die der Bau von Pflegeeinrichtungen verursachte.12 Der Medikalisierungsprozess folgte allerdings nicht in allen Zweigen der Versicherung dem gleichen Rhythmus. Die Explosion der Gesundheitsausgaben von Krankenkassen großer Industriestädte wie Leipzig oder Dresden oder der LVA besonders stark urbanisierter Regionen wie etwa der Hansestädte deutet auf eine relative medizinische Überversorgung der Städte hin. Die Verallgemeinerung der Familienversicherung in den größten OKK,13 aber auch der vergleichsweise leichte Zugang zu medizinischen Dienstleistungen in Groß­ städten könnten dieses Phänomen teilweise erklären. Eine genauere Untersuchung einzelner Regionen zeigt indes, dass der Stadt/Land-Gegensatz das Phänomen der ungleichen Entwicklung des Konsums medizinischer Dienstleistungen nicht vollständig zu erklären vermag.14 Das Beispiel des Oberelsass etwa deutet darauf hin, dass die Art der ökonomischen Aktivität, die Organisationsform der örtlichen Gesellschaft und das Gewicht der Tradition ebenso zur Erklärung beitragen können wie das tatsächliche Angebot an medizinischen Dienstleistungen.15 Die Verteilung der Gesundheitsausgaben gibt Hinweise darauf, welche Art von Medizin die Versicherungen unterstützten und förderten. Die spektakulärste Entwicklung nahmen die Ausgaben für Krankenhausaufenthalte, deren Anteil an den Gesamtausgaben zwischen 1885 und 1901 von 8,87 auf 11,96 % anstieg: Die Kosten vervierfachten sich. Diese Tendenz zur Krankenhaus­ behandlung war in den beiden anderen Versicherungszweigen noch ausgeprägter. Trotz gegenteiliger Beteuerungen der Krankenkassenverwalter lag der An10 Vgl. die Übersicht zur Ausgabenentwicklung der verschiedenen Kassen im Anhang.. 11 RAB, 1904, S. 17. 12 Ebd., S. 17–21. 13 Siehe den in AVS, Jg. 29, 1911, S. 242–244, zitierten Artikel. 14 Siehe hierzu einen Einblick in die parallele Entwicklung in Frankreich: Faure, S. 224–239. 15 Kott, Attitudes, S. 109–128.

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teil der Ausgaben für Medikamente in diesem Zeitraum relativ stabil bei 14 %, auch wenn die Kosten real anstiegen: Danach erhielt jeder Versicherte im Jahr 1885 für 1,8 Mark und im Jahr 1901 für 2,8 Mark Medikamente. Diese ausgeprägte Tendenz zur Medikalisierung ist auf die Entwicklung der medizinischen Praktiken in den Arbeiterversicherungen zurückzuführen. 1.2 Die Herausbildung der Sozialmedizin Der unablässig wiederholte Vorsatz, vor allem günstige medizinische Leistungen anzubieten, war für die Versicherungsinstitutionen charakteristisch. In dieser Hinsicht führten sie die Tradition der Armenmedizin fort, aus der sie hervorgegangen waren. Die Medikamentenphobie und das Misstrauen gegen die Ärzte, welche die Verwalter nicht im selben Maß kontrollieren konnten wie die Krankenhausbehandlung, gingen auf diesen Vorsatz zurück.16 Die von den Kassen beschäftigten Ärzte mussten sich vertraglich dazu verpflichten, kostengünstige Medizin zu praktizieren und die jeweils günstigsten Medikamente sparsam zu verschreiben. Manche chemischen Substanzen oder für den Kranken zwar angenehmere, aber auch teurere Behandlungen wurden systematisch untersagt.17 Um darüber wachen zu können, dass die Kosten auf einem niedrigen Niveau verblieben, richteten die Krankenkassen bald Verfahren ein, in denen die Verschreibungen der Ärzte  – im Fall der großen OKK: von ihnen bezahlte Vertrauensärzte – kontrolliert wurden. Der seit 1892 für die OKK Remscheid und ab 1894 für die OKK Barmen tätige, sozialistische Arzt Friedrich Landmann war einer der ersten Vertrauensärzte.18 Im Jahr 1896 gratulierte er sich selbst: Dank seiner Tätigkeit konnten die Ausgaben für medizinische Leistungen der OKK Barmen um 58 % und die der OKK Remscheid sogar um 89 % gesenkt werden.19 Um die Jahrhundertwende beschäftigten alle größeren Kassen mindestens einen Vertrauensarzt. Für Friedrich Landmann erfüllte die Kontrolle der medizinischen Leistungen eine wichtige soziale Funktion: Gesundheitserziehung konnte Krankheiten vorbeugen und sollte so zur Begrenzung der medikamentösen Behandlung beitragen, von der vor allem die pharmazeutische Industrie profitierte. Diese Politik der Kostenreduzierung ermöglichte wiederum die Öffnung der Versicherung für weitere Bevölkerungskreise.20 Auf diese Weise konnte die Sozialversicherung die Entwicklung einer Sozialmedizin unterstützen und fördern, die auf vorbeugenden Maßnahmen und der Demokratisierung medizinischer Pflege beruhte. 16 Siehe dazu ein Beispiel in : Passarge, S. 8. 17 Jaffé, S. 138–139. 18 Zu Landmann, siehe Tennstedt, Sozialismus, S. 210–214. 19 AVS, Jg. 14, 1896, S. 173. 20 Siehe den Beitrag von Landmann in: AVS, Jg. 14, 1896, S. 173 ff. Vgl. die in diesem Punkt sehr ähnliche Analyse von Raphael Friedeberg in: AVS, Jg. 19, 1901, S. 550, und Tennstedt¸ Sozialismus.

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Tatsächlich ist eine Verbesserung der Rahmenbedingungen medizinischer Behandlung zu beobachten; insbesondere stieg die Zahl der von den Kassen beschäftigten Ärzte an. Die OKK Leipzig und Umgegend beschäftigte im Jahr 1889 142 und neun Jahre später bereits 226 Ärzte (davon 46 bzw. 73 Fachärzte). In der Kruppschen BKK konnten 38.792 Versicherte um die Jahrhundertwende 81 Ärzte aufsuchen, von denen 28 Fachärzte waren. In beiden Fällen kam etwa ein Arzt auf durchschnittlich 500 Versicherte, eine Quote, die offenbar alle großen Krankenkassen erreichten. Mehr noch als der generell erleichterte Zugang zu ärztlicher Behandlung stellte die Möglichkeit, Fachärzte aufsuchen zu können, eine Neuerung dar.21 Unter diesen waren vor allem Hals-Nasen-OhrenÄrzte, Dermatologen, Gynäkologen, Neurologen und Chirurgen. Die Kassen der verschiedenen Versicherungsbranchen passten sich damit an die unter ihren Mitgliedern jeweils am häufigsten anzutreffenden Krankheiten an. Die stationäre Behandlung in Anstalten war ein Merkmal dieser Sozialmedizin.22 Auf der einen Seite erfüllte sie politische Zwecke: Sozialistische Ärzte, von denen es unter den Kassenärzten viele gab, sahen darin eine Vorstufe zur Entwicklung einer öffentlichen Medizin, die allen zugänglich sein sollte.23 Andererseits spielten institutionelle Beweggründe ebenfalls eine große Rolle. So sahen die Verwalter der Versicherungen in der Verallgemeinerung der Behandlung in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern ein Mittel, um die Kosten und die Art der Behandlung selbst kontrollieren zu können. Die zunehmende Menge an Bildern von versicherungseigenen Pflegeanstalten in den Berichten der verschiedenen Abteilungen der Arbeiterversicherung zeugt zudem von dem Prestige dieser Form der Gesundheitspolitik und ihrer Bedeutung für die Öffentlichkeitsarbeit ihrer Betreiber. Jede Versicherungsbranche spezialisierte sich im Rahmen ihres besonderen Tätigkeitsfeldes auf eine bestimmte Form von Anstalt. So ließen die Krankenkassen, die für die Versorgung von akuten Krankheitsfällen zuständig waren, vor allem Kliniken bauen. Im Jahr 1913 verfügten zwanzig BKK und 32 OKK oder Zentralverbände von OKK über ihr eigenes Krankenhaus.24 In den BKK knüpfte die Einrichtung von eigenen Kliniken deutlich an die paternalistische Tradition an,25 während es für die OKK eher darum ging, einen örtlichen Versorgungsmangel auszugleichen, die Versorgung an die besondere Kundschaft der Versicherungen anzupassen und vor allem die Leistungen und Tarife zu vereinheitlichen, deren Umfang immer wieder Anlass zu Konflikten mit Versicherten war. Auch die Berufsgenossenschaften begründeten in den 1890er Jahren die Einrichtung der ersten Rehabilitationszentren für Arbeitsinvaliden mit ökonomischen Argumenten 21 Siehe hierzu Huerkamp, S. 177–185. 22 Siehe insbesondere den Redebeitrag Raphael Friedebergs auf dem Kongress des Central­ verbands der deutschen Krankenkassen im Jahr 1901, in: AVS, Jg. 19, 1901, S. 549–554. 23 Labisch, Krankenhaus, S. 126–152. 24 Für diese und die folgenden Zahlenangaben siehe RAB, 1914, XII, 12, S. 1001–1006. 25 Vgl. besonders zum Fall Krupp: Vossiek.

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(das erste wurde 1892 eröffnet). Die Verwalter der Berufsgenossenschaften hofften, mit diesen Anstalten die Zahl der Invaliditätsfälle reduzieren, ja, durch Unfälle verursachte körperliche Beeinträchtigungen vollständig aufheben zu können, um die als Renten anfallenden Ausgaben einzusparen. Allerdings gab es im Jahr 1913 erst vier Anstalten dieses Typs: Die Berufsgenossenschaften zogen es aus Sparsamkeitsgründen vor, auf bereits existierende Einrichtungen zurückzugreifen. Am weitesten gingen in dieser Richtung die LVA. Im Jahr 1913 besaßen die 32 LVA insgesamt 84 Pflegeanstalten für chronisch Kranke, darunter 42 Sanatorien.26 Da sie außerdem über die größten Finanzmittel verfügten, bewilligten sie karitativen Vereinen günstige Kredite, um den Bau von Pflegeeinrichtungen zu fördern, in denen sie Betten reservierten. Auch dieses Vorgehen wurde mit dem Wunsch gerechtfertigt, die Invaliditätsrentenquote zu senken, indem den Versicherten ermöglicht wurde, ihre Erwerbsfähigkeit zurückzuerlangen. Sanatorien und Erholungsheime (»Heilstätten«) dienten überdies hygienischen Zwecken: Sie entzogen den Kranken seinem Alltagsmilieu, das die Ärzte und Versicherungsverwalter für hochgradig pathogen hielten. Das erste Erholungsheim wurde 1887 in Berlin eröffnet.27 Im Jahr 1909 verfügten die verschiedenen Versicherungsträger über insgesamt 25 Anstalten dieses Typs.28 Neben den hygienischen Zwecken erfüllten besonders die Sanatorien eine Erziehungsfunktion. Das Rote Kreuz und der Bund deutscher Frauen regten im Jahr 1892 den Bau von Volksheilstätten an, und im Jahr 1895 finanzierte die LVA Hannover erstmals den Bau einer solchen Einrichtung. Beeinflusst und unterstützt von dem im Jahr 1896 gegründeten Deutschen Zentralkomitee zur Errichtung von Heilstätten, das sich 1906 in Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose umbenannte, vervielfältigten die LVA zu Beginn des 20. Jahrhunderts diese Einrichtungen. Im Jahr 1914 besaß etwa die LVA von Elsass-Lothringen drei Sanatorien: Das 1903 eröffnete Leopoldinenheim war für Frauen reserviert; Tannenberg (1906) und Schirmeck (1911) verfügten über Plätze für 142 bzw. 120 Männer.29 Diese Sanatorien waren allerdings bei weitem nicht ausreichend, um den Bedarf der LVA zu decken, die im Jahr 1913 für die Langzeit­versorgung von 3.780 Invaliden aufkam. Im engeren Sinn medizinische Behandlung fand in diesen Anstalten kaum statt. Sie bestand im Wesentlichen aus der Verabreichung verschiedener Duschen und Bäder (Sole, Schwefel, Kohlensäure usw.). Das nahm im Tagesablauf nur eine Stunde in Anspruch, und ihr Anteil an den Gesamtkosten belief sich etwa in Tannenberg lediglich auf 1,2 bis 1,7 %. Der Leiter der Einrichtung, ein Arzt, hob im Jahr 1912 hervor, dass er eine gesunde Lebensweise der teuren medizinischen Behandlung vorzog.30 Diese Lebensweise beruhte auf der Einhaltung eines rigiden Tagesablaufs, in dem sich Mahlzeiten 26 Siehe Abb: 7. 27 AVS, Jg. 5, 1887, S. 325–330. 28 Geschichte und Wirkungskreis, S. 248. 29 Vgl. Landesversicherungsamt für Elsass-Lothringen. 30 Ebd., 1912, S. 41.

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und Imbisse mit längeren Ruhezeiten abwechselten. Besonders geachtet wurde auf gesunde und ausgewogene Nahrung. Alkoholkonsum wurde streng überwacht. Die Einhaltung dieser Regeln und Vorschriften wurde genauestens kontrolliert, und Verstöße konnten zur Entlassung führen. Im Jahr 1908 wurden in Tannenberg 5,6 % der Patienten wegen Trunkenheit entlassen. Vertrauensleute wie in Tannenberg und Schirmeck sowie die Insassen selbst wachten über die Einhaltung der Vorschriften. Das Sanatorium und das Erholungsheim waren Orte, an denen man in einer prophylaktischen Perspektive hauptsächlich lernen sollte, ein gesundes und gutes Leben zu führen. Auch das sorgfältig zusammengestellte Freizeitangebot entsprach diesem Zweck. Lektüre und der Besuch erzieherischer Vorträge wurden unterstützt und gefördert. So bezog etwa das Tannenberger Sanatorium zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften und unterhielt eine Bibliothek. Mit Theater- oder Musikvorführungen zu Weihnachten oder Ausflügen wurden besondere Fähigkeiten und Talente der Insassen angesprochen und gefördert. Allerdings wurden bald Klagen darüber laut, dass die in diesen Anstalten herrschende Atmosphäre von Faulheit und Müßiggang den besten Arbeiter verderben musste. So führte man in Tannenberg 1910 die Möglichkeit ein, kleinere Tätigkeiten zu übernehmen – allerdings eher im Sinn einer Belohnung für »gute Führung«. Garten- und Schreinerarbeiten verbesserten die Umgebung und dienten allen: So unterstrichen sie die erlösende Wirkung, die der für das Gemeinwohl unabdingbare Arbeit für das Individuum zugeschrieben wurde. Die Organisation der elsass-lothringischen Sanatorien kann im Hinblick auf die deutsche Anstaltslandschaft insgesamt durchaus als exemplarisch gelten. So waren die Berichte der LVA der Hansestädte, die acht Pflegeanstalten und darunter zwei große Sanatorien unterhielt, mit den Rapporten der reichsländischen LVA fast austauschbar.31 Im Übrigen könnte das auch für die französischen Sanatorien gelten.32 Im deutschen Kaiserreich wurde diese Einheitlichkeit der Funktionsweise der von den LVA betriebenen Einrichtungen vom RVA unterstützt, das ab 1899 ihre Kontrolle übernahm. Das RVA verbreitete Empfehlungen, die ab 1901 in Versammlungen mit den Anstaltsdirektoren ausgearbeitet wurden. Neben hygienischen Hinweisen zu gesunder Ernährung und Nüchternheit ging es darin vor allem um die zentrale Funktion, die der Arbeit im Genesungsprozess der Kranken zugemessen werden sollte.33 Das Sanatorium geriet auf diese Weise zu einer idealen Gesellschaft, deren Ordnung ein Gegengewicht zu den schlechten Lebensgewohnheiten der Stadt bildete.34 So freuten sich die Verwalter der OKK von Mülhausen über den guten Ruf, den die Pflegeanstalt Luppach genoss. Sie führten ihn auf die gute Betreuung der Patienten und vor allem auf die »strenge sittliche Lebensweise« zurück, die ihnen 31 Zwanzig Jahre. 32 Zum Vergleich mit Frankreich, siehe Dessertine u. Faure. 33 RAB, 1914, 12, S. 1005. 34 Siehe zu diesen Punkten: Geschichte und Wirkungskreis, S. 250–252.

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Abb. 7: Die Heilanstalt in Schirmeck im Elsass zwischen 1909–1911 von der LVA Elsass-Lothringen erbaut (aus: L’Institut, S. 16)

dort vermittelt wurde.35 Die Sorge um diese therapeutischen Tugenden des Sanatoriums ließ die Verwalter sogar überlegen, ob die aufzunehmenden Patienten nicht nach moralischen Kriterien ausgewählt werden könnten. Das Ziel, auf die Lebensweise der Versicherten einzuwirken, verband die Sanatorien und Erholungsheime der verschiedenen Versicherungsträger mit der Fabrikaufsicht. Diese Institutionen waren Elemente des großen sozialhygienischen Projekts, das am Ende des 19. Jahrhunderts in ganz Europa vorangetrieben wurde.

2. Von der Sozialmedizin zur sozialhygienischen Prophylaxe Für die Hygieniker unter den Sozialreformern war Krankheit nur der oberflächliche Ausdruck eines Übels, das tief in den Lebensbedingungen der Arbeiter verwurzelt war. Am häufigsten führten sie Baufälligkeit und Unsauberkeit der Wohnstätten und Fabrikräume, übermäßigen Alkoholkonsum, schlechte Ernährungsgewohnheiten und Vernachlässigung der Körperpflege an. Gesundheitspolitik sollte die Ursachen des physischen Elends bekämpfen und so einem Übel vorbeugen, das nach seinem Auftreten oft nicht mehr zu heilen war. Um diesen Begriff der Vorbeugung, der sich vom Konzept der Heilung grundlegend unterschied, konstituierte sich im Wilhelminischen Reich das Netzwerk der 35 OKM, 1901, S. 40.

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Sozialhygieniker, das keineswegs auf die Milieus der öffentlichen Sozialpolitik begrenzt war. In Deutschland begünstigte die Entwicklung der Sozialpolitik mit ihren Institutionen zweifellos die Ausarbeitung und Implementierung der Gesundheitspolitik. Sicherlich kam sie dem Auftrag der Gewerbeaufsichtsbeamten und Versicherungsträger (vor allem den LVA) entgegen, doch sie sahen darin auch eine Möglichkeit, den Einfluss ihrer Institutionen auszuweiten. Einigen Kassenärzten wie insbesondere den Vertrauensärzten bot sie überdies Gelegenheit, innerhalb ihres Berufsstandes, der sie zu marginalisieren drohte, ihre Besonderheit herauszustellen.36 Dennoch lässt sich das Anliegen der Sozialhygiene nicht auf ausschließlich institutionelle Strategien zurückführen. Insbesondere der reformistische Flügel der Sozialdemokratie entwickelte ein hygienistisches Programm, das die Arbeiterexistenz im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft verbessern sollte.37 In biopolitischer Perspektive hatten Hygienemaßnahmen allerdings auch den Zweck, die Sicherheit und Produktivität der Unternehmen zu steigern. 2.1 Hygiene und Sicherheit am Arbeitsplatz Im 19.  Jahrhundert erschien die Fabrik als rundum gefährlicher Ort. Der Werksunfall war gewissermaßen nur eine skandalöse Manifestation dieser Gefahren. Nach dem UVG von 1884 blieb es dem Gutdünken der Berufsgenossenschaften überlassen, in den Mitgliedsbetrieben unfallverhütende Maßnahmen und Vorschriften einzuführen. Für deren Überwachung beschäftigten sie Beauftragte und technische Aufsichtsbeamte. Diese Politik der fakultativen Unfallverhütung brachte freilich kaum nennenswerte Ergebnisse. Im Jahr 1887 hatten nur 32 der 62 Berufsgenossenschaften in ihren Mitgliedsbetrieben solche Vorkehrungen getroffen. Eine gemeinsame Initiative des RVA-Direktors Bödiker und des Präsidenten des Verbands der deutschen Berufsgenossenschaften Roesicke führte im Jahr 1896 zur Ausarbeitung einer Liste mit Mindestvorschriften, die zwar Modellcharakter hatten, aber nicht zwingend umgesetzt werden mussten. Erst die Novelle des Jahres 1900 führte zu einer wirklichen Präventionspolitik, indem sie die Industrieverbände zur Einführung unfallverhütender Maßnahmen anregte und die Überwachung der Betriebe den »Technischen Aufsichtsbeamten« übertrug. Im Jahr 1911 hatten bereits 66 der industriellen Berufsgenossenschaften Vorschriften zur Unfallprävention eingeführt, und alle bis auf drei hatten die technischen Aufsichtsbeamten damit beauf-

36 In dieser Zeit ist eine Vervielfältigung sozialmedizinischer Veröffentlichungen zu be­ obachten, vgl. insbesondere Fürst, Fürst u. Windscheid, Fürst; Gottstein u. Tugendreich, Wengler. 37 Labisch, Vorstellungen, S. 326–370.

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tragt, die Einhaltung der entsprechenden Vorschriften zu kontrollieren. Zwischen 1886 und 1902 stieg der Anteil der zur Unfallverhütung verwendeten Gelder an den Ausgaben der Unfallversicherungen von 1,3 % auf 7 %.38 Allerdings hatte noch 1913 keine einzige der 48 landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften solche präventionspolitischen Maßnahmen ergriffen. Die berufsgenossenschaftlichen Vorschriften zur Unfallverhütung sind deutlich von dem Unfallverständnis des Unternehmers geprägt: Unfälle waren entweder auf technisches Versagen der Maschinen zurückzuführen39 oder die Folge falscher Bedienung durch die Arbeiter.40 Die Politik der Unfallverhütung, deren programmatische Grundzüge in den Veröffentlichungen über die Unfallverhütungsvorschriften der verschiedenen Berufsgenossenschaften dargelegt wurden, zielte deshalb auf zwei Bereiche: das Verhalten der Arbeiter und die Konzeption der Maschinen. Ein Großteil der präventionspolitischen Maßnahmen betraf die Sicherheit der Maschinen: Abdeckung der frei schwingenden und drehenden Teile und vor allem der Zahnriemen und Übertragungsbänder. Die technischen Aufsichtsbeamten empfahlen solche Vorkehrungen und verbreiteten minutiös ausgearbeitete Pläne dieser Schutzsysteme. Darüber hinaus zielten die Maßnahmen darauf, die Bewegungsabläufe der Arbeiter besser zu führen. Viele Vorschriften stellten eine strikte Trennung der Arbeiten auf, um gefährliche Gänge durch die Werkshalle soweit wie möglich zu unterbinden. Auch das Äußere der Arbeiter wurde vorgeschrieben: Die Arbeitskleidung sollte eng anliegen, Frauen sollten ihre Haare binden. Für den Fall, dass Arbeiter sich nicht an diese Vorschriften hielten, sah das Gesetz Geldstrafen vor, die sich auf bis zu 6 Mark belaufen konnten. Schließlich verschrieben sich die Berufsgenossenschaften und Fabrikaufseher dem Kampf gegen den Alkoholismus – Ende des 19.  Jahrhunderts eines der Hauptanliegen der Sozialhygieniker.41 Diese Politik war umso erfolgreicher, als sie an bereits ältere paternalistische Prak­ tiken anknüpfen konnte. Unternehmer verteilten alkoholfreie Getränke in den Werkshallen oder finanzierten, wie etwa in Mülhausen, auf dem Weg zur Fabrik gelegene Milchhäuschen. In diesen Vorschriften drückte sich auch die zunehmend empfundene Notwendigkeit aus, die Arbeitsabläufe zu rationalisieren. Die Festschreibung der Bewegungsabläufe, der Kampf gegen den Alkoholismus und die den Maschinen entgegengebrachte Sorgfalt begleiteten auch die Entstehung neuer, ratio­neller aufgebauter und produktiverer Fabriken.42 Dieser Zusammenhang zwischen Prävention und industrieller Effizienz wird durch die ungleiche Entwicklung der Vorschriften bezeugt. Dabei waren die Mitgliedsbetriebe jener Berufsgenos38 Siehe hierzu Poerschke, S. 100–104, und Simons, S. 159–175. 39 Zu dieser technischen Sicht des Unfalls, siehe Lange, Ursachen, S. 143–160. 40 Zur Frage der individuellen Fehler siehe die vom RVA herausgegebenen Unfallstatistiken in: Amtliche Nachrichten des RVA, 2 Beihefte, 1900. 41 Siehe besonders: Die Berufsgenossenschaft, 1904, S. 99–101 und 121. 42 Siehe Kott, De la philanthropie patronale, S. 187–208.

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senschaften, welche die größten Summen für die Unfallverhütung ausgaben, nicht notwendig häufiger von Unfällen betroffen als andere. Wie das Beispiel der Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie verdeutlicht,43 bestand eher ein Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Dynamik bestimmter Industriebranchen oder -regionen und dem Ausbau der präventionspolitischen Maßnahmen. Diese Merkmale weisen zugleich auf die Grenzen der im Rahmen der Berufsgenossenschaften betriebenen Gesundheitspolitik hin. Zahlreiche der von ihnen erlassenen Vorschriften waren weniger streng als die im Jahr 1896 vom RVA herausgegebenen Empfehlungen, die immerhin als Mindestvorkehrungen galten. Noch deutlicher wird die Begrenztheit der berufsgenossenschaftlichen Bemühungen, wenn man sie mit den Forderungen vergleicht, die die Fabrikinspektoren erhoben. Nach § 120a-e der GO von 1891 damit beauftragt, für die Unfallverhütung zu sorgen, entwickelten die Beamten eine alternative Vorstellung des Unfalls, die zu Konflikten mit den Berufsgenossenschaften führte.44 Aus den Berichten der Inspektoren ging hervor, dass Unfälle nicht nur auf Maschinen­versagen oder Disziplinlosigkeit der Arbeiter zurückzuführen waren, wie die Arbeitgeber gewöhnlich behaupteten, sondern oft auch von den Arbeitsbedingungen selbst mit verursacht wurden. Die Länge der Arbeitszeiten sowie fehlende oder schlecht angeordnete Pausen führten insbesondere bei jungen Arbeitern zu Erschöpfung und begünstigten so Havarien. Gefahr ging auch von dem Umstand aus, dass sich die Arbeiter aufgrund der Platzverhältnisse in den Werkshallen und wegen fehlender Umkleide- oder Waschräume unmittelbar neben den Maschinen umzogen. Für die Aufsichtsbeamten hatte der Kampf gegen die Unfälle also nicht nur eine technische Seite, sondern auch eine soziale und hygienische Dimension. Um eine neue Raumaufteilung in den Werkshallen, eine andere Organisation der Arbeitszeit und bessere hygienische Bedingungen durchzusetzen, konnten sich die Beamten auf die Gesetze und lokale Statuten stützen, deren Einhaltung sie überwachen sollten. Insbesondere setzten sie sich dafür ein, die hygienischen Bedingungen für die Arbeiter durch die Lüftung der Werkshallen und die Einrichtung von Waschräumen, Toiletten, Umkleideräumen sowie Aufenthalts- und Pausenräumen zu verbessern. Beispiele aus dem Elsass und aus Baden deuten indes darauf hin, dass es dem Beamten auch nur dann gelang, Veränderungen zu erreichen, wenn er beweisen konnte, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen sich wirtschaftlich »rentierten«. So waren Arbeitgeber zur Reduzierung der Arbeitszeiten bereit, wenn es dem Inspektor gelang, sie davon zu überzeugen, dass sie dadurch nicht nur die Produktivität steigerten, sondern auch Produktionskosten sparten. Arbeitgeber, die Waschräume und Umkleiden einrichteten, beglückwünschten sich zu einer 43 Die Zahlen der Berufsgenossenschaften wurden publiziert in: Die Berufsgenossenschaft, 1894, S. 6. Siehe auch die Übersicht im Anhang. 44 Dafür gibt es in der Literatur zahlreiche Beispiele. Für eine Synthese, siehe Poerschke, S. 196–211.

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rationelleren Nutzung des Raums. Duschen wurden empfohlen, um Hautkrankheiten vorzubeugen und so die Ausgaben der BKK zu senken. Die Sprache der ökonomischen Vernunft rechtfertigte und begrenzte zugleich die Durchführung gesundheitspolitischer Maßnahmen in den Fabriken. An diesem Gesichtspunkt scheiterte auch die Anerkennung von Berufskrankheiten. Die Berufsgenossenschaften legten das Gesetz von 1884 diesbezüglich eng aus, ignorierten Berufskrankheiten und erklärten sich für nicht zuständig.45 Als mangelhaft definierte und registrierte Erkrankungen blieben Berufskrankheiten im gesamten 19. Jahrhundert der öffentlichen Gesundheitspolitik überlassen. 2.2 Sozialversicherung und öffentliche Gesundheitsvorsorge Die Versicherungsträger verfügten im Bereich der öffentlichen Gesundheitspolitik über zwei Trümpfe: Zum einen verwalteten sie bedeutende Kapitalien (vor allem die LVA), zum anderen hatten sie Zugang zu Informationen über die Lebensbedingungen der Kranken und Invaliden, die sie versorgten. Diesbezüglich hatten die Kontrolleure eine kaum zu unterschätzende Bedeutung. Hatten zunächst Kassenmitglieder ehrenamtlich zur Überwachung der ausgezahlten Leistungen und zur Entdeckung von Simulanten beigetragen, beschäftigten die Kassen bald Berufskontrolleure, von denen zunehmend mehr Kompetenzen erwartet wurden. Mit seiner Tätigkeit, die im Sammeln von Daten über die Lebensumstände der Versicherten bestand, die er in ihren Wohnungen aufsuchte, wurde der Berufskontrolleur zur treibenden Kraft der Gesundheits­ politik. Der Centralverband der deutschen OKK unterstützte diese Praxis, um die Wohnumstände verbessern und den Alkoholismus bekämpfen zu können.46 Im späten Kaiserreich taten sich von Sozialdemokraten geführte OKK wie die in Dresden (Julius Fräßdorf) oder Berlin (Albert Kohn) nicht zuletzt durch ihre sozialhygienischen Bemühungen hervor.47 Der Kampf gegen die Gesundheitsschädlichkeit der Wohnungen stellte eine wichtige Tätigkeit der Versicherungsträger dar. Der schlechte Zustand der Wohnquartiere galt als Hauptursache der Tuberkuloseepidemie, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts für mehr als die Hälfte der zwanzig- bis dreißigjährigen Invaliden verantwortlich war.48 Für die Versicherungen war es folglich 45 Siehe hierzu die Beiträge von Heinz Barta (S. 143–154); Werner Schimanski (S. 155–190), Monika Sniegs (S. 191–218) und Dietrich Milles (S. 218–250) in Milles. 46 Protokolle der Jahresversammlungen, 1901, hier die Rede von Friedeberg und der Beschluss zur Wohnsituation; zum Alkoholismus s. Protokolle der Jahresversammlungen, 1902, S. 12; zu den Kontrolleuren, siehe Protokolle der Jahresversammlungen, 1904, S. 23. 47 Siehe Tennstedt u. a., S. 810–815; Kleeis, Geschichte, ders.s, Aus- und Umbau. 48 Zu einer Einschätzung des Problems unter vielen anderen, siehe Geschichte und Wirkungskreis, S. 264. Zahlenangaben in: Gottstein u. Tugendreich, S. 179.

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eine sowohl ökonomische als auch humanitäre Notwendigkeit, sich für die Ver­ besserung dieser Zustände einzusetzen. Die Krankenkassen und LVA knüpften Bündnisse mit karitativen Vereinen oder Gemeinden, um Maßnahmen in diesem Bereich durchzuführen. Andernorts wirkten auch die Fürsorgestellen karitativer Einrichtungen mit, die selbst Hausbesuche und Untersuchungen über die hygienischen Zustände der Wohnungen durchführten. Die Wirksamkeit dieser Sanierungspolitik hing jedoch stark von der Unterstützung der Gemeindebehörden ab, die mit Klagen der Hausbesitzer rechnen mussten. Sie führten Desinfektionsmaßnahmen durch und forderten Renovierungen, wenn ein lokales Statut dies erlaubte.49 Die LVA boten niedrig verzinste Kredite (2,5 bis 3,75 %) auf ihr Kapital, mit deren Hilfe Sozialwohnungen gebaut werden konnten. Das Gesetz von 1899 förderte diese Initiativen, indem sie den LVA gestattete, bis zur Hälfte ihrer Rücklagen (zuvor ein Drittel) für solche Zwecke zu verwenden. Um das Verfahren zu erleichtern, war nun das RVA für die Bewilligung zuständig und nicht mehr die Gemeinden, die im Verdacht standen, zu viel Rücksicht auf Privatinteressen zu nehmen. Allerdings war die Tätigkeit der LVA in diesem Bereich nicht überall gleich ausgeprägt. Auf der einen Seite entsprach sie einem Bedarf, der in den Großstädten höher war; andererseits hing ihre Aktivität auch von privaten oder kommunalen Initiativen am Ort ab. In der Provinz Westfalen etwa wurde die Aktivität der LVA durch einen 1902 gegründeten Verein zur Förderung des Kleinwohnungswesens unterstützt, der vom Oberpräsidenten der Provinz Westfalen geleitet wurde. Im Jahr 1904 bewilligte die LVA Westfalen Wohnungsbaukredite für zwölf Gemeinden, drei Sparkassen, 59 Baugenossenschaften und sechzig Versicherte, die sich insgesamt auf eine Höhe von 8,5 Millionen Mark beliefen.50 Sieben Jahre später hatte sich diese Summe bereits auf 33,5 Millionen erhöht. Die LVA Westfalen wurde nur von LVA in stark industrialisierten Regionen wie dem Rheinland (etwa 56 Millionen Mark) und Hannover übertroffen. In weitgehend ländlich geprägten Regionen Niederbayerns oder Mecklenburgs dagegen blieb die Aktivität der LVA in diesem Bereich sehr schwach (178.000 bzw. 120.000 Mark).51 Am Ende des 19. Jahrhunderts weitete sich das Feld der Gesundheits­politik auf die Vorbeugung von Geschlechtskrankheiten und Alkoholismus aus, die neben der Tuberkulose als Volkskrankheiten galten.52 Die Institutionen der Versicherung, das RVA, die LVA, Krankenkassen und Berufsgenossenschaften wirkten in diesem Bereich vor allem aufklärend und beratend, indem sie Broschüren verbreiteten, Vorträge organisierten oder private Hilfswerke finan-

49 Zur kommunalen Wohnungsbaupolitik und die Problematik der lokalen Statuten, siehe Krabbe, Kommunalpolitik.. 50 Landesversicherungsanstalt Westfalen, S. 21–24. 51 Amtliche Nachrichten des RVA, S. 322–325. 52 Siehe besonders Gottstein u. Tugendreich, S. 227–250

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ziell unterstützten, wie den Deutschen Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke, der in »Fürsorgestellen für Trinker« Alkoholiker betreute.53 Diese Präventionspolitik beruhte zum großen Teil  auf dem Engagement von Ärzten. Sie arbeiteten die Fragebögen für die Untersuchungen der Wohnumstände aus,54 identifizierten Krankheiten und ordneten Desinfektionen an. Sie arbeiteten in den verschiedenen Fürsorgestellen und hielten im Auftrag der Krankenkassen und LVA Vorträge vor Versicherten. Vertrauensärzte spielten für die Verbreitung von Hygieneregeln eine zentrale Rolle, auch wenn sie sich davon vor allem eine Senkung der Kassenausgaben erwarteten. Sie warben für die Verschreibung von Milch, die als nahrhaftes und reinigendes Lebens­mittel galt,55 oder empfahlen Bäder, um Hautkrankheiten vorzubeugen und Regeln der Körperhygiene56 zu lernen, während sie allerdings der »lateinischen Küche« der Pharmazeuten tiefes Misstrauen entgegenbrachten. Ein solcher Begriff von Hygiene und Gesundheit, der in gewisser Weise auf eine Rückkehr zur Tugend der Natürlichkeit hinauslief, rückte die Vorstände der OKK in die Nähe der Naturheilkunde und ihres Milieus. Die Natur­heilkunde als therapeutische Praxis erfuhr seit den 1880er Jahren eine rasche Entwicklung. Sie untersagte jede Behandlung mit chemischen Präpa­ raten und baute stattdessen systematisch auf Wasserkuren, Sonnenbäder und Diä­ tetik. Ihre therapeutische Technik beruhte folglich auf einer »Lebenshygiene«.57 Diese Bewegung, die sich gegen die schädlichen Einflüsse der industriellen Gesellschaft wandte, war in jenen Gebieten am stärksten, in denen diese Effekte am deutlichsten spürbar waren. Seit den 1880er Jahren gestatteten manche OKK in Sachsen ihren Versicherten Besuche bei Naturheilpraktikern, unter der Bedingung, dass diese approbiert waren. Im Jahr 1895 forderte die Freie Vereinigung sächsischer Ortskrankenkassen in einer Petition an die Ständekammern die Einrichtung eines Lehrstuhls für Naturheilkunde an der Universität Leipzig, um Forderungen ihrer Versicherten nachzukommen.58 Die Dresdener OKK beschäftigte im Jahr 1901 zwei Homöopathen und acht Naturheilkundler.59 Diese Praxis breitete sich in den norddeutschen Industrie­

53 Geschichte und Wirkungskreis, S. 266–268. Ein Beispiel für die Verbreitung von Broschüren: Amtliche Nachrichten der Landesversicherungsanstalt Schlesien, 1907, 10, S. 63–64, Passarge, S. 39. Die LVA der Hansestädte beteiligte sich im Jahr 1911 an der Einrichtung von vier dieser Fürsorgestellen dieser Art, siehe ebd., S. 202. 54 In Berlin waren die Fragebögen von Zadek, Blaschko und Friedeberg erstellt worden, siehe Tennstedt, Blaschko. 55 Siehe die Diskussion in: AVS, Jg. 8, 1890, 18. 56 Siehe die bereits in den Fußnoten zitierten Kassenberichte. Vgl. auch die besondere Bedeutung der Seebäder für die LVA der Hansestädte, Zwanzig Jahre, S. 156–151. 57 Siehe hierzu: Stollberg, Naturheilvereine; ders., Volk, S. 247–256, und zur Position der naturwissenschaftlichen Medizin: Huerkamp. 58 AVS, Jg. 13, 1895, S. 386. 59 Hesse, G., S. 60.

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revieren aus – trotz der Feindseligkeit, mit der ihr die Vertreter der Schulmedizin begegneten.60 Beziehungen zwischen Naturheilkunde und Krankenkassen gab es im Übrigen auf höchster Ebene. Der Apotheker Willmar Schwabe, Mitgründer und zwischen 1892 und 1904 Direktor der OKK für Leipzig und Umgegend sowie zwischen 1895 und 1903 Vorsitzender des Centralverbands von Ortskrankenkassen im Deutschen Reich, war zugleich Inhaber eines Unternehmens, das homöopathische Medikamente herstellte. Die Haltung der sozialdemokratischen Ärzte und der Hygieniker allgemein zu Naturheilverfahren war eher ambivalent. Aufgrund ihrer Ablehnung der Industriegesellschaft und des Kapitalismus standen sie dieser alternativen Medizin von vornherein nahe. Einige unter ihnen wie Friedrich Landmann schlossen sich der Bewegung sogar an. Der sozialdemokratische Arzt Ignaz Zadek kritisierte zwar die Naturheilkunde heftig, erkannte aber an, dass sie zur Verbreitung der richtigen Hygieneregeln und Praktiken beitrug.61 Die Führung der sozialdemokratischen Partei dagegen, die sich einem strengen Szientismus verschrieben hatte, lehnte die Naturheilkunde im Allgemeinen ab, was die Parteimitglieder allerdings nicht daran hinderte, Heilpraktiker aufzusuchen. Im Elsass schließlich waren Sozialdemokraten im Milieu der Naturheilkundler tief involviert.

3. Ärzte und Versicherte: widerstreitende Bestrebungen Die von Verwaltungsfachleuten betriebene Gesundheitspolitik war weitgehend von administrativen und institutionellen Beweggründen geprägt. In diesem Sinn trug sie weder grundsätzlich den Erwartungen der Ärzte Rechnung, von deren Mitwirkung sie allerdings abhing, noch berücksichtigte sie notwendigerweise die Wünsche der Versicherten. Diese beiden Gruppen erhoben jedoch immer deutlichere Forderungen, die zur Neuorientierung der Politik der Versicherungsträger beitrugen. 3.1 Die Ärzte: die Freiheit, sich der Gesundheitspolitik zu verweigern Wie besprochen hingen Sozialmedizin und Sozialhygiene stark von der Mit­ wirkung und dem Engagement der Ärzte ab. Mit der Gründung der Gesellschaft für sociale Medizin, Hygiene und Medicinalstatistik im Jahr 1905 hob die Gruppe der in diese gesundheitspolitischen Aktivitäten involvierten Ärzte ihre Eigenständigkeit hervor. Die Gesellschaft setzte sich zum Ziel, die Beziehun60 Jaffé, S. 70–71. 61 Zadek, Sozialdemokratie.

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gen zwischen Krankheit, Invalidität und Lebens- und Arbeitsbedingungen genauer zu studieren, um Krankheiten vorbeugen oder heilen zu können, die in einem pathogenen Umfeld entstanden.62 Die Mitglieder der Gesellschaft wurden zu eifrigen Verfechtern der Sozialmedizin, deren Besonderheit und Bedeutung sie unablässig betonten. Sozialdemokratische Ärzte wie Ignaz Zadek, Alfred Blaschko, Raphael Friedeberg, Alfred Grotjahn oder Karl Kollwitz, die sich im Jahr 1913 im Verein sozialdemokratischer Ärzte zusammenschlossen, taten sich in der sozialmedizinischen Bewegung besonders hervor.63 Allerdings waren es nicht nur Sozialisten, die sich im Bereich der Sozialhygiene engagierten. Auch zahlreiche Liberale wie Gustav Tugendreich, Otto Mugdan, Adolf Gottstein, Arthur Schlossmann, Karl Jaffé oder Moritz Fürst waren Teil dieser Bewegung. Während erstere in den Krankenkassen die Orte sahen, an denen die Gesundheitspolitik ansetzen sollte,64 stützten sich ihre liberalen Kollegen auf andere Institutionen: private oder städtische Kliniken und Sanatorien oder Rehabilitationszentren der anderen Versicherungsbranchen. Auch wenn die sozialdemokratischen Ärzte in den Arbeiterversicherungen die besseren Möglichkeiten sahen, um die Entwicklung der Sozialmedizin voranzutreiben65, hoben sie doch die Probleme hervor, die sich aus den not­ wendigen Anpassungen der Ausübung ihres Berufs an dieses Umfeld ergaben.66 Tatsächlich waren die meisten Ärzte ratlos, wie mit den neuen Entwicklungen umzugehen sei.67 Drei Aspekte des Problems können identifiziert werden: Erstens erforderte die Praxis der Sozialmedizin im Hinblick auf die ärztliche Praxis im engeren Sinn eine gute Kenntnis von sozialen Milieus, die den Ärzten in der Regel vollkommen fremd waren. Zweitens veränderten die Arbeiterversicherungen die Existenzbedingungen des Arztberufs grundlegend. Der Arzt musste neue Verwaltungstechniken lernen und beherrschen, die von den Versicherungsträgern eingeführt wurden und die den Arzt in eine häufig unbequeme Dreiecksbeziehung mit den Versicherten und den Verwaltungsfachleuten der Versicherung brachte. Der Zwang, zwischen den Erwartungen der Patienten und den Sparsamkeitsforderungen der Versicherungsverwalter vermitteln zu müssen, führte immer wieder zu Konflikten. Drittens schließlich veränderte sich der Status des Arztes. Auch wenn er weiterhin seine individuelle Praxis betrieb, musste er fortan mit mächtigen Institutionen verhandeln, die sein Gehalt und seine Arbeitsbedingungen nach ihrem Ermessen festlegten. Diese drei Probleme mündeten in der »Ärztefrage« und führten zu einer grundlegenden Neuordnung des Arztberufs. 62 Siehe z. B. Windscheid; eine allgemeine Annäherung an diese Frage in: Dodier, S. 121–188. 63 Die meisten dieser Ärzte gehörten der jüdischen Minderheit an. Siehe Bock u. Tennstedt, Tennstedt, Blaschko, Tennstedt Ärzte, Tennstedt, Familiengeschichte, Nadav. 64 Siehe vor allem: Grotjahn; Zadek Arbeiterversicherung. 65 Siehe den Redebeitrag von Friedeberg in: Centralverband; für Zadeks Position, siehe Zadek, Arbeiterversicherung, S. 34–35. 66 Zadek, Ärzteverein. 67 Dafür ein Beispiel in: Ärztlicher Lokalverein Augsburg, S. 10–27.

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Ein großer Teil  der Ärzteschaft hatte von Beginn an Vorbehalte gegen das KVG. Sie befürchteten unter anderem, dass sie mit diesem Gesetz um private Kundschaft gebracht und so ihre ökonomischen Interessen verletzt würden. Der seit 1873 bestehende Deutsche Ärztevereinsbund, dem 1901 fast 70 % der Ärzte angehörten, äußerte sich immer wieder ablehnend zur Ausweitung der Versicherung auf neue Bevölkerungsgruppen.68 Diese Ärzte sahen in der Arbeiterversicherung aber auch eine Bedrohung für die medizinische Behandlung selbst. Wenn der Arzt zu einer Art Experte im Dienst der Versicherung werde, sei es nicht mehr möglich, zum Patienten das Vertrauensverhältnis aufzubauen, das für eine erfolgreiche Behandlung unabdingbar sei.69 Vor allem aber empfanden die Ärzte die Beschäftigung durch die Krankenkassen als sozialen Abstieg  – dies nicht nur hinsichtlich der deutlichen Gehaltseinbußen, sondern auch aufgrund des Verlusts der Unabhängigkeit.70 Ein Arzt, der sich vertraglich an eine Krankenkasse band, war zur Behandlung der bei dieser Kasse Versicherten verpflichtet. Hinzu kam die Behandlung der Familie des Versicherten, wenn die Kassen diese Leistung vorsahen (Novelle des KVG von 1892, §§ 7 und 21 Abs. 5). Die Krankenkasse als seine Arbeitgeberin zahlte ihm im Gegenzug ein Gehalt. Nun hatten die Krankenkassen aufgrund ihrer Machtposition recht schnell ein System von Pauschalbeträgen für die Abrechnung der kassenärztlichen Leistungen durchsetzen können.71 Eine im Jahr 1886 vom Deutschen Ärztevereinsbund bei 1.600 Krankenkassen (mit 850.000 Mitgliedern) durchgeführte Untersuchung ergab, dass eine Mehrheit von 60 % dieses System praktizierte. Die Pauschalbeträge von ein bis drei Mark pro behandeltem Versicherten lagen weit unter den 1884 von den Ärzten geforderten zwei bis vier Mark. Dieses System der Entlohnung zwang den Arzt, so viele Kranke wie möglich zu behandeln, um ein akzeptables Gehalt zu erzielen, und machte ihn in seinen Augen zu einer Art »Söldner«. Folglich hielten die Ärzte ihre Forderung nach Honoraren aufrecht, die ihnen ein besseres Einkommen sichern sollten.72 Angesichts des umkämpften Arbeitsmarktes ist allerdings keineswegs gewiss, dass die Zahlung von Honoraren das Einkommen der Ärzte verbessert hätte.73 In Wirklichkeit drückte sich in der Ablehnung der Pauschalvergütung vor allem der Wunsch der Ärzte aus, im Rahmen des KVG von ihrem Status als liberale Profession zu profitieren. Ihren Statusverlust empfanden die Kassenärzte als umso schmerzlicher, als sie nun von Personen ab-

68 Siehe hierzu: Huerkamp, S. 208–209. 69 Ärtzlicher Lokalverein Augsburg, S. 10–27. 70 Grätzer. 71 Dieses System wurde in der AVS ab 1887 empfohlen, vgl. AVS, Jg. 5, 1887, S. 459. 72 Siehe besonders: Jaffé, S. 66. 73 Claudia Huerkamp hat gezeigt, dass der Rückgang der Einkommen seine Ursache weniger in der neuen Gesetzgebung hatte, sondern in einem Arbeitsmarkt, auf dem immer mehr Ärzte miteinander konkurrierten.

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hängig waren, die sie als in der sozialen Hierarchie weit unter ihnen stehend betrachteten.74 Als der Einfluss der Sozialdemokratie auf die Direktion der Krankenkassen zunahm, wurde dieser Klassengegensatz auch in politischen Begriffen formuliert, wie insbesondere das Buch des Arztes Wilhelm Möller aus dem Jahr 1910 belegt.75 Allerdings standen sozialdemokratische Milieus den Forderungen der Ärzte nicht per se ablehnend gegenüber,76 und auch die Arbeitersekretäre setzten sich durchaus für Gehaltserhöhungen der Ärzte ein.77 Außerdem war die Stellung der Ärzte in von Arbeitgebern dominierten Versicherungen wie den BKK und Berufsgenossenschaften oft sogar schlechter als in den OKK.78 Die Angriffe der Ärzteschaft waren folglich vor allem von poli­ tischen und sozialen Vorurteilen geleitet. Interessanterweise brachte diese Situation die Ärzte dazu, die Aktions­ formen der politischen Parteien und sozialen Gruppen zu übernehmen, von denen sie sich abgrenzen wollten. Dem im Jahr 1900 in Leipzig gegründeten Verband der Ärzte Deutschlands zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen, kurz: Leipziger Verband, gehörten im Jahr 1912 zwei Drittel der deutschen Ärzte an. Er machte die freie Arztwahl zu seiner Hauptforderung und organisierte für ihre Durchsetzung Massenstreiks. Der erste fand, von einer sorgsam gepflegten Streikkasse unterstützt, im Jahr 1904 in Köln statt. Die gute Organisation der Ärzteschaft in Ortsvereinen machte es zudem möglich, Listen mit Krankenkassen zu erstellen, die boykottiert werden sollten. Streiks und Boykotte zwangen die Krankenkassen, die zur medizinischen Versorgung der Versicherten gesetzlich verpflichtet waren, an den Verhandlungstisch. In 921 von 1.022 Konflikten zwischen 1900 und 1911 konnten sich die Ärzte mit Unterstützung der örtlichen Behörden durchsetzen. Der Ärztestreik, der im April und Mai 1904 in Leipzig stattfand, und gegen die Direktion der größten deutschen OKK gerichtet war, kann in dieser Hinsicht als emblematisch gelten. Nach einem sechswöchigen Generalstreik der Ärzteschaft war die Kasse zu Zugeständnissen gezwungen: Sie erhöhte die Pauschaltarife und führte die freie Arztwahl ein.79 In der Sozialdemokratie gab es zur freien Arztwahl unterschiedliche Auffassungen. Diese Kontroverse vermittelt zudem einen Eindruck von der Art der Probleme, die in den Konflikten zwischen Ärzteschaft und Krankenversicherungen auf dem Spiel standen. Verwaltungsfachleute der Versicherungen wie

74 Siehe die empörte Besprechung des Buchs von Dr. J. Grätzer, in: AVS, Jg. 5, 1887, S. ­411–412; vgl. auch den Artikel von Paul Knobloch in: AVS, Jg. 19, 1901, S.  18, der die Mitglieder der Kassendirektionskomitees als »ungebildete und sozial niedriger stehende Männer« be­zeichnete. 75 Möller. 76 Fräßdorf, Die Krankenkassen. 77 Müller, A., S. 131. 78 Ein Beispiel dafür in: AVS, Jg. 26, 1908, S. 744. 79 Vgl. zur Geschichte dieses Streiks: Huerkamp, S. 290–295

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Julius Fräßdorf80 oder Vertrauensärzte wie Friedrich Landmann81 lehnten die freie Arztwahl ab. Neben ökonomischen Gründen führten sie das Argument an, dass der Kassenarzt mit bestimmten Bevölkerungskreisen besser vertraut sei als andere Ärzte und folglich eine besser angepasste medizinische Praxis entwickeln könne.82 Auf der anderen Seite sprachen sich sozialistische Ärzte wie Ignaz Zadek oder Karl Kollwitz83, aber auch der Münchner Arbeitersekretär Johannes Timm84 für die freie Arztwahl aus, weil sie im Interesse der Patienten sei und die Qualität der medizinischen Versorgung verbessere. In Frage stand aber auch der Platz der Ärzte in der institutionellen Architektur der Versicherungen. Während Versicherungsverwalter wie Julius Fräßdorf die Ärzteschaft für ihren Korporatismus kritisierten, vertraten Zadek, Blaschko, Timm oder Curt Freudenberg85 die Auffassung, dass die Ärzte wie alle abhängig Beschäftigten das Recht hätten, sich zusammenzuschließen um ihren Forderungen Gehör zu verschaffen.86 Zadek und andere sozialistische Ärzte zeigten sich erfreut über die Organisationsfähigkeit der Ärzte und forderten ihre institutionelle Einbindung in die Entscheidungen der Versicherungen. Da die RVO im Jahr 1911 diese Frage nicht klärte, drohte die Ärzteschaft im Jahr 1913 mit einem Generalstreik, der die Kassen zu Verhandlungen zwang. Das in Berlin zwischen den verschiedenen Beteiligten ausgehandelte Abkommen sah die Einsetzung einer paritätischen Kommission vor, durch welche die Arbeitsbedingungen der Ärzte geregelt werden sollten und diese so in die Entscheidungen der Versicherungen eingebunden wurden. Den Ärzten gelang es auf diesem Weg, einen Teil ihrer Freiheit und ihres Einflusses zurückzugewinnen, der ihnen von den Verwaltungsfachleuten der Versicherungen streitig gemacht worden war. Allerdings behinderte diese Freiheit auch die weitere Entfaltung der Gesundheitspolitik, auf deren Entwicklung wiederum die Macht der Medizin am Ende des 19. Jahrhunderts zu einem großen Teil beruhte. 3.2 Die Selbstsorge der Arbeiter Im Zuge der Entfaltung der okzidentalen Selbstkultur entwickelten sich um die Jahrhundertwende auch eine neue Sicht und ein neuer Bezug der Arbeiter zu ihrem Körper. Deutlicher äußerten sie nun den Wunsch, ihre Arbeitskraft 80 Fräßdorf, Ärzte und Krankenkassen, und ders., Die Krankenkassen 81 Tennstedt, Ärzte, S. 13–27. 82 Diese Ansichten teilten auch nicht-sozialistische Kassenärzte, z. B. Dr. Kayser aus Breslau, siehe AVS, Jg. 5, 1887, S. 459. Siehe auch Wengler sowie Fürst. Jenseits der Interessenvertretung manifestierte sich hier auch die Forderung, die Besonderheiten des Kassenarztes anzuerkennen. 83 Kollwitz. 84 Timm. 85 Freudenberg. 86 Kollwitz.

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zu schonen, sich auszuruhen und zu entspannen.87 Die am Ende des 19. Jahrhunderts erhobenen sozialen Forderungen können deshalb durchaus als Ausdehnung und Verschiebung der historischen Selbstkultur betrachtet werden. Die Zahl der Streiks für kürzere Arbeitszeiten stieg in dieser Phase an.88 Obwohl von den Gewerkschaften initiiert und in Form gebracht, gaben diese Forderungen die Bestrebungen und Wünsche der Arbeiter direkt wieder, worauf die Arbeitsinspektoren ausdrücklich hinwiesen. Um die Jahrhundertwende beobachteten sie, dass die Arbeitgeber bisweilen große Schwierigkeiten hatten, die Arbeiter über die gesetzlich begrenzten Arbeitszeiten hinaus arbeiten zu lassen.89 Einige wiesen sogar darauf hin, dass die Verkürzung der Arbeitszeit für die Arbeiter zu einem der wichtigsten Anliegen wurde.90 Diese Entwicklung kann zum einen auf das generell gestiegene Existenzniveau zurückgeführt werden, ergibt sich aber zum anderen auch daraus, dass den Arbeitern die pathogenen Aspekte der Industriearbeit zunehmend bewusst wurden. Wie ein fernes Echo der hygienistischen Diskurse über die Industriestadt als gefährlichen Ort erklangen fortan Klagen der Arbeiter über die Gefahren der Arbeit in den Fabrikhallen der Industrie. Die Hygienemaßnahmen in den Werkshallen waren folglich nicht nur Ausdruck biopolitischer Strategien, sondern nahmen auch ein zentrales Anliegen der Arbeiterschaft auf. Im Oberelsass registrierte der Gewerbeaufsichtsbeamte und Arbeitsinspektor Crépin eine wachsende Zahl an Klagen über kaputte Lüftungsanlagen, Feuchtigkeit, Trockenheit oder starke Hitze in den Fabrikhallen. Fehlende oder mangelhafte Toiletten, Waschräume und Umkleideräume wurden um die Jahrhundertwende zum Thema einer Kampagne in der sozialdemokratischen Presse. Arbeiter beklagten die Unsauberkeit und den Schmutz in diesen Räumlichkeiten und interpretierten sie als Achtlosigkeit, ja, als Geringschätzung, die ihnen entgegengebracht wurde. Die Forderung nach Achtung der persönlichen Würde wurde eine zentrale Forderung der Arbeiterbewegung. Seit den 1880er Jahren hatten Katholiken im Namen der christlichen Moral eine dem »Recht der ersten Nacht« ähnliche Praxis verurteilt, die in manchen Fabriken üblich war.91 Sozialisten ihrerseits empörten sich über die schlechte Behandlung, die Beschimpfungen und körperlichen

87 Léonard. Corbin, S. 251–258. Mir scheint, dass beide Haltungen durchaus nebenein­a nder existieren konnten. Allerdings führte die Sozialpolitik eindeutig dazu, dass die Sorge um die Erhaltung des Körpers wuchs und nicht mehr nur dem Körper als Arbeitskraft galt. 88 Zu dieser Entwicklung, siehe Schneider; Ullmann, Tarifverträge, S. 102. 89 Am 26.4.1899 erkannte das Unternehmen Kiener im Kreis Colmar, dass auf Überstunden verzichtet werden musste: Nur wenige Arbeiter hatten sich dazu bereit erklärt, diesem Vorschlag zu folgen. Weitere Fälle in: AD HR 16.514. Der Fabrikinspektor wies ebenfalls auf mehrere Fälle dieser Art hin und besonderes unter den Frauen, vor allem wenn diese sich »um den Haushalt kümmern« mussten, s. VAB, 1899, S. 79 und 1906, S. 27. 90 Für das Jahr 1905, s. RAB, 1905, S. 949. 91 Siehe hierzu Cetty, S. 144.

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Übergriffe der Meister92 und Betriebsleiter gegenüber den Arbeitern und vor allem den Kindern, die in manchen Betrieben zur Tagesordnung gehörten. Im Elsass, in Bremen oder in Baden schenkten die Arbeitsinspektoren diesen moralischen und hygienischen Problemen besondere Aufmerksamkeit.93 Am Ende des Jahrhunderts verurteilte der Inspektor des Oberelsass das »Recht der ersten Nacht« deutlich, nachdem seine Assistentin in Mülhausen diesbezügliche Berichte von Arbeiterinnen erhalten hatte.94 Außerdem trugen die zahlreichen Belege für den gefährlichen und erschöpfenden Charakter der Industriearbeit dazu bei, dass sich der Begriff der Berufskrankheit nach und nach in der Gesetzgebung durchsetzte.95 Die Steigerung der Gesundheitsausgaben in den verschiedenen Zweigen der Versicherung sollte deshalb nicht ausschließlich als Ergebnis der Medikalisierungs- und Kontrollstrategien der Verwaltungsfachleute betrachtet werden. Sie entsprach auch den Wünschen der Versicherten und führte immer wieder zu Konflikten mit den Sparsamkeitsimperativen der Verwalter.96 Die Krankenkassen boten den Raum, in dem die Versicherten ihre Forderungen äußern konnten, denn über die Ausweitung der medizinischen Behandlung auf die Familienangehörigen, die Einstellung neuer Ärzte oder den Bau von Pflegeanstalten wurde in der Vollversammlung der Versicherten durch Abstimmung entschieden. Das elsässische Beispiel scheint zu belegen, dass die Versicherten in allen diesen Fragen eher für eine Ausweitung der medizinischen Behandlung waren, selbst wenn dies Konflikte mit den Direktoren der BKK oder eine Erhöhung der Kassenbeiträge nach sich zog. So forderten die Arbeiter der Spinnerei Kiener in Turkheim und Gunsbach den Kreisvorstand im Jahr 1895 auf, sich bei der Kassendirektion dafür einzusetzen, die Versicherungsleistung der medizinischen Behandlung auf die Familienmitglieder auszuweiten.97 Im Jahr 1912 erhob die Vollversammlung der BKK der Immer-Klein’schen Werke in Sondernach die gleiche Forderung, obwohl sich der Kassendirektor, der zugleich ihr Arbeitgeber war, gegen diese Ausweitung ausgesprochen hatte.98 Die BKK 92 Der Gewerbeaufsichtsbeamte hatte seit 1894 die absolute Macht kritisiert, die die Werksmeister gegenüber den Arbeitern hatten und die sie missbrauchten, siehe VAB, 1894, S. 45. 93 Zum Beispiel des Staubs in der Bremer Juteindustrie, siehe Ellerkamp, S. 94–95; vgl. auch das Beispiel der Toiletten und Umkleiden im Oberelsass, siehe Kott, Des philanthropies, S. ­652–653. 94 In einer Fabrik klagten die Arbeiterinnen gegen das unsittliche Verhalten des Direktors, siehe VAB, 1902, S. 28. Im Jahr 1906 wurde ein 63jähriger Werksmeister zu einer Strafe von zwanzig Mark und vier Tagen Gefängnis verurteilt, weil er seit sieben Jahren Mädchen und junge Frauen im Alter von 14 bis 27 Jahren missbraucht hatte, die seiner Aufsicht unterstanden, siehe VAB, 1906, S. 32 und VAB, 1909, S. 37. 95 Im Jahr 1912 startete das Reichsamt des Inneren eine Untersuchung zu Berufskrankheiten, an der Gewerbeaufsichtsbeamten, Krankenkassen und Ärzte teilnehmen mussten. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse in: RAB, 1913, S. 682, 777, 838, 923. 96 Siehe zu diesem Punkt den Artikel: Kleeis, Inanspruchnahme, S. 690–694. 97 AD HR 16.535. 98 AD HR 16.531.

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der Société alsacienne de constructions mécaniques bewilligte im Jahr 1908 zwar nach einer entsprechenden Forderung der Arbeiter die Familienmitversicherung, hob aber gleichzeitig und mit Zustimmung der Versicherten die als Lohnabzüge einbehaltenen Kassenbeiträge um 0,66 %99 an. Die Arbeiter von Schwinderhammer in Turkheim akzeptierten im Jahr 1890 ebenfalls eine Erhöhung der Beiträge (um 0,20 Pfennig), um ihre Ehefrauen ebenfalls in die medizinischen Versicherungsleistungen miteinzuschließen. Als sie im Jahr 1894 das wachsende Defizit der Krankenkasse zwang, ihre Entscheidung zu überdenken, willigten sie eher in eine weitere Erhöhung der Beiträge ein als die Mitversicherung der Ehefrauen wieder zu streichen.100 Das städtische Auskunftsbureau von Mülhausen bedauerte im Jahr 1898, dass die Versicherten die Behandlungsmöglichkeiten kaum in Anspruch nahmen, welche die Pflegeanstalten der LVA boten. Sechs Jahre später übermittelte es immerhin 148 Pflegeanträge an die LVA (sowie 356 Rentenanträge). Der Anstieg war in den folgenden Jahren allerdings so stark, dass im Jahr 1913 von den 5.321 in ganz Elsass-Lothringen gestellten Anträgen nur 3.780 bewilligt werden konnten. Auf diese Antragsflut reagierten die LVA mit dem Hinweis, dass die Anstaltsbehandlung nicht verpflichtend sei und nur bewilligt werden könnte, wenn begründete Aussicht auf Heilung bestünde. Die LVA richteten deshalb Beobachtungsstationen für Tuberkulosekranke ein, die einen Antrag auf Aufnahme in ein Sanatorium gestellt hatten, und ließen die Heilungsaussichten individuell beurteilen. Vom Ergebnis dieser Untersuchung wurde die Annahme des Antrags abhängig gemacht.101 Unheilbar und/oder von ihren Familien aufgegebene Kranke, die bei dieser Selektion ausschieden, konnten in speziellen Anstalten aufgenommen werden, von den Versicherten als »Sterbehäuser« bezeichnet, verloren dadurch aber ihre Rente. Die Berufsgenossenschaften nahmen eine ähnliche Selektion vor. Zahlreiche Anträge von Invaliden auf Behandlung wurden mit der Begründung abgelehnt, dass selbst für geringe Heilungsfortschritte kaum Hoffnung bestand.102 Dabei stützten sie sich auf vom RVA ausgearbeitete statistische Modelle, welche die Behandlung im Hinblick auf ihre Langzeitwirkung evaluierten, das heißt hinsichtlich der Möglichkeit des Versicherten, seine normale Erwerbsfähigkeit zurück zu gewinnen. Im Zentrum der Versicherungsleistung stand zweifellos die Arbeitskraft, nicht die Person des Arbeiters.103 Es war diese Logik, gegen die sich die Arbeiter zunehmend zur Wehr setzten. Die Zahl der Behandlungsanträge nahm zu, und diese Tendenz wurde von den Arbeitersekretären, der Sozialdemokratie, aber auch den Arbeitgeber- und 99 AMM 18TT 4H4. 100 AD HR 16.530. 101 Ein Beispiel in: Zwanzig Jahre, S. 10. 102 Vgl. insbesondere von Müller gesammelten Berichte der Arbeitersekretäre, siehe Müller, A., S. 146–149. 103 Geschichte und Wirkungskreis, S. 261.

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Arbeitnehmervertretern in den LVA unterstützt.104 Diese Forderungen belegen eine tiefgreifende Verschiebung im allgemeinen Verständnis der Arbeiterversicherungen. Nicht mehr die Arbeitskraft als Objekt, sondern das ganze Individuum als Subjekt trat zunehmend in den Mittelpunkt der Versicherung. Diese beiden gegensätzlichen Auffassungen führten zu Konflikten zwischen den Versicherten auf der einen und den LVA bzw. Berufsgenossenschaften auf der anderen Seite. Nach dem Gesetz durfte sich ein verunglückter Arbeiter einer Behandlung nicht entziehen, deren erklärtes Ziel es war, den Grad seiner körperlichen Beeinträchtigung und die mit ihm verbundene Rente zu verringern oder ganz aufzuheben, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, seine Rente ganz zu verlieren. Nun hatten aber die im Rahmen der Unfallversicherung vorgesehenen ris­kanten Operationen und Behandlungsweisen oft einen sehr schlechten Ruf.105 Die Versicherten nannten die mit den Berufsgenossenschaften verbundenen medico-mechanischen Institute »Rentenquetscher«106. Der sozialdemokratische Arzt Ignaz Zadek beschrieb sie als wahre »Folterkammern«.107 Das Misstrauen gegenüber diesen Einrichtungen entsprang jedoch nicht nur der Angst, die Rente zu verlieren. Vielmehr manifestierte sich in ihm auch das Bestreben, eine Behandlung frei wählen zu können, die es ohne hohes Risiko erlauben sollte, eine wirkliche Verbesserung des Gesundheitszustands des Versicherten herbeizuführen. Dieser Wunsch stand zum Teil auch hinter der verbreiteten Ablehnung der Universitätskliniken. In Bonn etwa weigerten sich Versicherte aus Angst, dort zu Versuchsobjekten zu werden. Trotz im Allgemeinen günstiger Tarife konnte nur die OKK Heidelberg im Jahr 1889 einen Vertrag mit dem dortigen Universitätsklinikum schließen.108 Doch diese Ablehnung kann nicht nur auf antiwissenschaftliche Vorbehalte zurückgeführt werden. Sie ist auch dadurch zu erklären, dass diese Kliniken stark mit der Armenbehandlung assoziiert wurden.109 Die Versicherten der OKK Mülhausen wehrten sich deshalb heftig gegen das Ansinnen der Direktion, sie aus Kostengründen in Krankenhäuser der umliegenden Gemeinden zu schicken. Diese verlangten zwar einen niedrigeren Tagessatz, standen aber auch im Ruf, qualitativ geringwertigere Behandlungen anzubieten.110 104 Protokoll der Konferenz, S. 67. 105 Siehe dazu den ausführlichen Artikel in: Die Berufsgenossenschaft, 1894, 9, S. 84–86, und 10, S. 92–94. Siehe auch: Eghigian, S. 120–159. 106 Müller A., S. 146–147. 107 Zadek, Arbeiterversicherung, S. 41. 108 AVS, Jg. 7, 1889, S. 541–542. 109 Die Polykliniken hatten die Pflicht, bedürftige Kranke kostenlos zu behandeln. Mit der Entrichtung seines Versicherungsbeitrags hatte der Versicherte in seinen eigenen Augen auch das Recht erlangt, eine bessere medizinische Behandlung als diese zu erhalten, s. Jaffé, S. 131. 110 OKM, 1900, S. 6.

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Auch klagten die Versicherten generell über Geringschätzung und schlechte Behandlung, die sie durch die Ärzte erfuhren. Das Universitätsklinikum der Charité in Berlin wurde 1893 von den Mitgliedern der Berliner Krankenkassen boykottiert, nachdem Patienten über rücksichtslose Behandlung geklagt hatten.111 Immer wieder beschwerten sich Versicherte über die herablassende Haltung und Taktlosigkeit von Ärzten.112 Auch wenn diese Klagen lediglich ein weiteres Kapitel der langen Geschichte der Beziehungen zwischen Ärzten und Patienten darstellen, so sind doch auch tiefer liegende Veränderungen zu erkennen. In diesen und ähnlichen Klagen der Versicherten manifestierte sich eine »Selbstsorge«, die sich überdies auf das Bewusstsein stützte, über Rechte zu verfügen.113 Die Beliebtheit der Naturheilkundler bei der Arbeiterbevölkerung der Großstädte ist auch damit zu erklären, dass sie den Patienten mehr Respekt entgegenbrachten und auf ihre Anliegen stärker eingingen. Auch die Begeisterung für Ausflüge in die Landschaft der Umgebung, ob mit Fahrrad oder zu Fuß, und die wachsende Zahl der Arbeitergärten sind Anzeichen für die neue Aufmerksamkeit, die körperlich wohltuenden Betätigungen entgegengebracht wurde. Alles dies weist auf eine komplexe Haltung der Versicherten gegenüber Medizin und Hygiene hin: Als Mittel der Selbstsorge und des Schutzes gegen die Auswüchse der Industriegesellschaft wurden sie akzeptiert, ja, sogar eingefordert, ihre disziplinären, herabsetzenden und mit Zwang verbundenen Aspekte dagegen abgelehnt.

Epilog: Grenzen und Bedeutungen der Gesundheitspolitik Im späten Kaiserreich enthielten die Veröffentlichungen der verschiedenen Versicherungsträger und der amtlichen Arbeitsinspektion zahlreiche Ausführungen über die Errungenschaften der Sozialhygiene und Gesundheitspolitik. Unbestreitbar warben die Versicherungen mit diesen Veröffentlichungen auch für sich selbst und für die Nation, wie im Fall des RVA. Dieser Umstand gemahnt zur Vorsicht bei der Beurteilung der tatsächlichen Ergebnisse dieser Politik. Die gesundheitspolitischen Bemühungen waren nicht in allen Bereichen gleich stark ausgeprägt und wurden oft von Versicherungsverwaltern aus ökonomischen Gründen blockiert. So wies Ignaz Zadek darauf hin, dass viele Institutionen von Schließung bedroht seien, weil für die Verwalter Sparsamkeit gegenüber sozialhygienischen Maßnahmen Vorrang hatte.114 Des Weiteren wirkte sich die starke 111 Tennstedt, Blaschko, S. 604–605. 112 Diese Forderungen erhoben Versicherte in ihren Briefen an die für die Kassen verantwortlichen Verwaltungsbehörden, bei denen nach § 56 der Gesetzesnovelle von 1892 Versicherte eine bessere Versorgung mit Medikamenten verlangen konnten. 113 Neben vielen anderen, siehe den Artikel AVS, Jg. 9, 1891, S. 293. 114 Zadek, Arbeiterversicherung, S. 31–37.

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Segmentierung der Versicherung gerade in den ärmsten Regionen ungünstig aus. Die Lebens-, Arbeits- und Wohnbedingungen waren in ländlichen Gebieten nicht unbedingt besser als in den Städten. Hygienemaßnahmen wurden hier aber aufgrund einer romantischen Vision des Landlebens mit seinen sozialen Beziehungen und nicht zuletzt aus finanziellen Gründen weitgehend vernachlässigt. Die LVA Ostpreußen war wegen ihrer großen finanziellen Schwierigkeiten bis zur Jahrhundertwende gezwungen, die medizinischen Leistungen für ihre Versicherten stark einzuschränken.115 Auch wenn des Weiteren die Sozialpolitik allgemein und die Versicherungen im Besonderen zur Entwicklung der Hygienebewegung beigetragen haben, galt dies nicht für alle Institutionen gleichermaßen. Politische Beweggründe konnten wie im Fall der preußischen Fabrikinspektion verhindern, dass in größerem Umfang Hygienemaßnahmen in den Fabriken durchgeführt wurden. Die Logik der Anpassung an örtliche Bedingungen und Interessen, die der Organisation der Sozialpolitik zugrunde lag, konnte, wie im Fall der Berufsgenossenschaften, ihre Entfaltung bremsen. Im Allgemeinen hing der Erfolg der von den Versicherungen betriebenen Gesundheitspolitik von den sozialen Praktiken paternalistischer Privatinitiativen oder, wie im Fall des Roten Kreuzes, halb-öffentlicher Träger ab. Schließlich spielten auch die Gemeinden, die im Sinn des Selbstverwaltungsprinzips ein Gegengewicht zur staatlichen Sozialpolitik und ihren Nationalisierungstendenzen bildeten, in der Entfaltung der Sozialpolitik eine Hauptrolle, sei es im Kampf gegen die Tuberkulose, sei es durch den Bau von Wohnungen. Hygiene und Gesundheitspolitik waren umgeben von einem komplexen Geflecht unterschiedlicher Beweggründe. Die Verwalter der Sozialversicherung rechtfertigten ihre Politik mit ökonomischen Argumenten, und in diesem Sinn war Vorbeugen besser als Heilen. Sie erscheint in mancher Hinsicht aber auch als Reaktion auf die negativen Folgen der kapitalistischen Industriegesellschaft. Daraus ergab sich nicht zuletzt auch eine Nähe zur Naturheilkunde und ihren Milieus. Die von den Hygienikern verfolgte Präventionsstrategie manifestierte sich in Praktiken der Erziehung und Überwachung gegenüber jenen Bevölkerungsteilen, die im Verdacht standen, durch ihren Lebenswandel die Krankheiten selbst zu verursachen, an denen sie litten. Die Art und Weise, wie Hygieniker ihre Tätigkeit darstellten  – die zahllosen Vorträge, Broschüren, Hausbesuche, die Durchsetzung der Arbeiterviertel mit einem Netz an Fürsorgestellen, die strikte Einhaltung der in den Sanatorien gepredigten Lebensweise  –, sind Gegenstand einer Geisteshaltung, die in diesen Maßnahmen den Ausdruck eines Willens zur Disziplin und Kontrolle der Bevölkerung erblickte.116 Zweifellos war die Gesundheitspolitik einer der Wege, auf denen Hygieniker in die Intimsphäre der einfachen Leute vordrangen und dort ihre eigenen Verhaltens­normen 115 Siehe zu diesem Punkt den bereits zitierten ernüchternden Bericht der LVA Ostpreußen. 116 Für eine vertiefte Diskussion, siehe Faure.

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verbreiteten. Demgegenüber ist es wichtig, sich auch die Heterogenität der Ziele und Weltbilder bewusst zu machen, die ihr zugrunde lagen. Auch die Arbeiter selbst erhoben ihre Stimme und veränderten zumindest teilweise die Bedingungen des Zugangs zu Pflegeleistungen, der von den buchhalterischen Vorbehalten der Versicherungsverwalter beschränkt wurde. Dabei konnten sie sich bisweilen auf Ärzte stützen, die sich mit den besonderen Pathologien der Industriegesellschaft intensiv auseinandersetzten und sich zu uneigennützigen Missionaren der Hygiene wandelten. Der größte Teil der Ärzteschaft war allerdings damit beschäftigt, ihre von den Sozialversicherungen bedrohte soziale Stellung zu verteidigen. Deshalb lässt sich abschließend sagen, dass es letztlich wohl nur eine kleine Gruppe von praktischen Ärzten war, die sich auf das sozialhygienische und gesundheitspolitische Projekt der Sozialversicherungen einließ.

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Schluss Die Bundestagsrede Mut zum Frieden und zur Veränderung, mit der Gerhard Schröder am 14. März 2003 die Agenda 2010 ankündigte, endete mit den Worten: »Wir Deutsche können stolz sein auf […] die Stärke unserer Nation wie auch auf die sozialen Traditionen unseres Landes«. Nachdem er radikale Reformen angekündigt hatte, die den Sozialstaat bis in seine intellektuellen Grundlagen hinein verändern sollten, berief sich Schröder auf die Sozialpolitik als eines der wesentlichen Elemente der nationalen deutschen Identität. Zwar kann man sicherlich »drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit«1 ausmachen, doch angesichts der Brüche der deutschen Geschichte vermag die auch von Gerhard Schröder beschworene Kontinuität des Sozialstaats in Erstaunen zu versetzen. Jenseits der chaotischen und oft tragischen Geschichte Deutschlands im zwanzigsten Jahrhundert haben die im ausgehenden 19. Jahrhundert errichteten institutionellen Grundpfeiler und Organisationsmodelle des Sozialstaats bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts überdauert. Der Sozialstaat wurde ausgehend von der im Kaiserreich ausgearbeiteten Matrix entwickelt, verfassungsrechtlich begründet, ausgeweitet und allgemeinverbindlich gemacht. Zwar wurde der Sozialstaat erst in der Weimarer Republik zu einem Rechtsstaat, wurden die Arbeitsbeziehungen erst in dieser Periode verrechtlicht, doch die Weimarer Republik institutionalisierte damit lediglich Praktiken, die bereits im Kaiserreich entstanden waren. Auch die Ausdehnung des Versicherungsschutzes auf immer neue soziale Gruppen in der Weimarer Zeit und in der Bundesrepublik hatte der Tendenz nach bereits im Kaiserreich eingesetzt. Die Einführung der Arbeitslosenversicherung im Jahr 1927 sowie der dynamischen Rente im Jahr 1957 – beides Schlüsselmomente des Ausbaus und der Erweiterung des Sozialstaats – gingen ebenfalls auf Initiativen, Überlegungen und Forderungen zurück, die wesentlich älter waren. Im Nationalsozialismus wurden Selbstverwaltung und Mitbestimmung zwar aufgehoben, doch Robert Ley gelang es nicht, seinen umfassenden Sozialschutzplan umzusetzen.2 Die Alliierten ihrerseits mussten die Idee fallen lassen, das Sozialversicherungssystem zu »entbismarckisieren«.3 Selbst in der DDR, in der ganze Abteilungen des alten Sozialstaats neu geordnet wurden, blieben manche aus der deutschen Arbeiterbewegung, der Sozialmedizin und der Sozialhygienebewegung hervorgegangenen Traditionsbestände nicht nur erhalten, sondern erfuhren sogar Erweiterungen. Das gilt etwa für die präventivmedizinische 1 Hockerts, Wege, S. 7. 2 Teppe. 3 Hockerts, Sozialpolitische, S. 21–85.

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Fallbehandlung in Ärztehäusern4 oder die Betreuung kleiner Kinder in kollektiven Einrichtungen, beides Maßnahmen, die mit sowjetischer Einflussnahme nichts zu tun hatten.5 Selbstverwaltung6 und Mitbestimmung waren mithin die zentralen Prinzipien, nach denen der Sozialstaat bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts organisiert blieb. Die AOK, LVA und Berufsgenossenschaften sind noch heute die Versicherungsträger. Das Bundesversicherungsamt, in der Bundesrepublik ergänzt durch das Bundessozialgericht, residierte bis ins Jahr 1999 im Gebäude des ehemaligen RVA in Berlin. Diese Beharrungskraft lässt sich teilweise mit den Widerständen der sozialpolitischen Akteure und mit spezifischen Pfadabhängigkeiten erklären. Allerdings gibt es starke Tendenzen, diese institutionelle Interpretation zu ergänzen beziehungsweise aufzugeben und die Kontinuität auf die zentrale Rolle zurückzuführen, die der Sozialstaat seit Ende des 19.  Jahrhunderts für die Formierung der deutschen Nation gespielt hat. Hier stoßen wir auf eine Frage, die bereits in der Einleitung aufgeworfen wurde: Welche Einsichten ermöglicht die Geschichte des Sozialstaats hinsichtlich der Beziehungen zwischen Staat, Gesellschaft und Nation in Deutschland? Das vorliegende Buch zeigt, dass der Sozialstaat keine Schöpfung des Zentralstaats war und der Gesellschaft nicht von Außen gleichsam übergestülpt wurde. Der deutsche Sozialstaat ging vielmehr aus der Gesellschaft selbst hervor, er verwirklichte sich in der Gesellschaft. Er entstand ausgehend von älteren Privatinitiativen und eröffnete sicherlich soziale Rechte, doch diese wurden nur dann wirksam, wenn die Rechtsinhaber sie mit Inhalten füllten und sich auf sie beriefen. Zu diesem Zweck wussten sie die Instrumente zu nutzen und zu mobilisieren, die ihnen Gewerkschaften, Gemeindebehörden oder andere Institutionen an die Hand gaben. Die sozialen Rechte wurden folglich nicht oktroyiert, sondern angeeignet. Die rasche Entwicklung der Rechtsprechung des RVA, welche die politische Führung des Kaiserreichs übrigens zu bremsen versuchte, ging auf die wachsende Zahl der Berufungen und Revisionsgesuche zurück, die Versicherte an das Amt richteten. Sie ist auf die zunehmende Einbindung der Versicherten in den Sozialstaat zurückzuführen. Die Vervielfachung der Inspektionsdienste, die Beschäftigung einer wachsenden Zahl von Assistenten und schließlich Assistentinnen war eine Reaktion auf die steigende Flut an Klagen, die von den Beschwerdekommissionen und den Arbeitern selbst erhoben wurden. Gleichfalls war die Entwicklung des medizinischen Angebots nicht Ausdruck autoritärer Strategien der Medikalisierung oder Hygienisierung, sondern vielmehr eine Antwort auf die immer stärkere Nachfrage seitens der Versicherten. Die Bürokratisierungsphänomene schließlich, die am Ende des 19. Jahrhunderts zu beobachten sind, waren ebenfalls kein Ergebnis zentral gesteuerter Prozesse, sondern entstanden im Rahmen der fortschreitenden Professionalisierung der Versicherungsangestellten. Deren 4 Süss, S. 68. 5 Kott, Kinderkrippe. 6 Tennsstedt, Geschichte.

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Zahl wiederum nahm proportional zu den Erwartungen zu, die von den Versicherten an die Träger gerichtet wurden. Schon im 19. Jahrhundert tendierte die Bürokratie dazu, die Macht der Versicherten und die Geltung des Selbstverwaltungsprinzips zu beschneiden. Doch auch wenn dieser Prozess sicherlich eine politische Dimension hatte, so wurde er ebenso von der systemischen Rationalität des Sozialstaats selbst angetrieben. Seine Einrichtung und Entfaltung war untrennbar mit der Hervorbringung spezifischer Expertise und immer komplexerer Sozialtechnologien verbunden. Vertreter der Sozialdemokratie, vor allem Gewerkschaftler, trugen übrigens zur Entwicklung dieser Expertise ebenfalls bei, auch wenn sie bisweilen politisch gegen sie vorgingen.7 Weder herrschte sich der Staat also der Gesellschaft gleichsam mittels des Sozialstaats auf, noch war letzterer der Grund für die Spannungen, die diese Gesellschaft durchzogen. Die Streitigkeiten zwischen Unternehmern und Arbeitern über die Berechnung der Renten oder die Arbeitsbedingungen knüpften vielmehr an tiefer liegende und weiter reichende Konflikte an, zu deren Kanalisierung der Sozialstaat eher beitrug, als dass er sie verstärkte. Die Auseinandersetzungen mit der Ärzteschaft waren gleichfalls eher Ausdruck des sich wandelnden Status freier Berufe in der industriellen Moderne: Der Sozialstaat nahm diesen Wandel zweifellos vorweg, aber er war nicht seine Ursache. Man kann also festhalten, dass der Sozialstaat bereits in der Gesellschaft vorhandene Konflikte aktualisierte oder manifest werden ließ, etwa indem er Gruppen eine Stimme verlieh, die sonst nicht gehört wurden – besonders den Frauen. Andere drängte er dazu, sich zusammenzuschließen und ihre Bestrebungen oder Forderungen öffentlich zu artikulieren wie die Angestellten oder Ärzte. In diesem Sinn war der Sozialstaat mit seiner intrinsischen Konfliktbeladenheit auch der Ort, an dem sich eine soziale Demokratie entfaltete, die in Deutschland parallel zur politischen Demokratie entstand oder ihr sogar vorausging. Als Spiegel der Nation und Ort seiner Konstruktion war der Sozialstaat auch ein Raum, in dem Ausschließungsprozesse stattfanden, ja, er konnte selbst zum Instrument nationaler und sozialer Exklusion werden. Im 19. Jahrhundert wurden die isolierten und in der Abhängigkeit von den Gutsherren stehenden Landarbeiter erst spät in den Sozialstaat integriert. Den Frauen, vor allem wenn sie nicht verheiratet waren, blieben soziale Rechte weitgehend verwehrt. Bereits während des Kaiserreichs entwickelte der Sozialstaat administrative Verfahren, auf deren Grundlage diejenigen Personengruppen identifiziert und selektiert wurden, die keine Sozialleistungen erhalten sollten. Die Bewilligung von Pflegeleistungen für Invaliden und Unfallopfer hing in diesem Sinn entscheidend von deren Fähigkeit ab, ihre Arbeitskraft wiederzuerlangen. Hygienemaßnahmen, die am Rand der Sozialpolitik entwickelt wurden, dienten Zwecken der Selektion, lange bevor sich die Einflüsse der Eugenik bemerkbar machten. Während der Weimarer Republik entwickelten sich mit der Ausdehnung des Versicherungsschutzes und der staatlichen Eingriffsbereiche auch die Kontroll- und 7 Raphael, Experten, S. 233.

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Ausschlussverfahren weiter, ein Wandel, der sich im Zuge der Weltwirtschaftskrise noch einmal beschleunigte und von der Beschränkung der Selbstverwaltung über den Ausbau der Aufsichtsfunktionen des RVA8 zur Mobilisierung der Arbeitslosen und zur Einrichtung des Reichsarbeitsdienstes führte.9 Der Nationalsozialismus spitzte diese Prozesse zu. Die Einführung des Führerprinzips in der Sozialversicherung, die Konfiszierung der Arbeitervertretung durch die Deutsche Arbeitsfront (DAF) und die Aufhebung der Mitbestimmung verstärkten zunächst die Bürokratisierung des Sozialstaats.10 Er wurde für eine Politik der Mobilisierung und Selektion der Arbeiter in Dienst genommen, zunächst in Deutschland11, ab 1938 in ganz Europa.12 Auf diese Weise wurde der Sozialstaat zu einem Werkzeug imperialistischer Politik, mit dessen Hilfe die Arbeitskräfte der besetzten Gebiete einerseits verführt und andererseits verwaltet wurden. Führende Mitglieder der DAF versuchten sogar, die 1940 nach Montreal abgewanderte IAO durch eine nationalsozialistische Institution zu ersetzen.13 Die Funktionäre des Reichsarbeitsministeriums fanden ihrerseits Gelegenheit, die geballte soziale Expertise zu nutzen und zu verbreiten, ohne internationale Organisationen zu bemühen. Die Internationalisierung des deutschen Sozialstaats trug nun Züge eines Sozialimperialismus: Er stand im Dienst der systematischen Vernichtung weiter Teile der deutschen und europäischen Bevölkerung. Nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings wurde der Sozialstaat erneut zum Symbol des »guten Deutschland«. Wie bereits unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg nahm die IAO die Bundesrepublik Deutschland bereits 1951 wieder als Mitglied auf, obwohl das Land von der internationalen Gemeinschaft in anderen Hinsichten noch geächtet war. David Morse, Generaldirektor der IAO, gedachte im Jahr 1953 bei der Eröffnung des IAO-Zweigamtes in Bonn mit Nachdruck alles dessen, was die internationale Gemeinschaft der deutschen Sozialstaatsexpertise verdankte. An der Zeremonie nahmen der Vizekanzler und fünf Minister teil, eine massive Präsenz politischer Prominenz, die Morse selbst überraschte und ihn erneut die Rolle Deutschlands als eines internationalen Vorreiters der Sozialpolitik und Großmacht der Sozialstaatlichkeit betonen ließ. Die Bundesrepublik betrieb im Übrigen bis 1973 in der IAO eine systematische Ausgrenzungspolitik gegenüber der DDR. Interessanterweise wird der internationale Bezug seit den 1980er und vor allem seit den 1990er Jahren in einem genau entgegengesetzten Sinn verwendet. Unter Verweis auf die Globalisierung wird die Weiterentwicklung des Sozialstaats blockiert, weil er angeblich die internationale Wettbewerbsfähigkeit be8 Sachße u. Tennstedt, Wohlfahrtsstaat, S. 45–81. 9 Patel. 10 Hachtmann, Regelung, ders., Industriearbeit. 11 Süss. 12 Roth. 13 Kott, Dynamiques, Linne.

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einträchtigt.14 Die bench marking-Analysen der großen internationalen Organisationen reihen Zahlen um Zahlen aneinander, um die relative Wirksamkeit der unterschiedlichen Sozialleistungen zu messen. Auf die Frage, inwiefern der Sozialstaat den gesellschaftlichen Zusammenhalt sichert, geben sie freilich keine Antwort – wie könnten sie auch. Wie die Entstehungsgeschichte des deutschen Sozialstaats zeigt, war er allerdings ein zentraler Raum und ein wichtiges Instrument zur »Herstellung von Gesellschaft« in Deutschland.

14 Die Literatur ist uferlos, siehe Kaufmann, S. 97–98.

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Abkürzungen

AD BR Archives du Bas-Rhin AD HR Archives du Haut-Rhin AfS Archiv für Sozialgeschichte AfsG Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik AHR The American Historical Review AMM Archives municipales de Mulhouse AOK Allgemeine Ortskrankenkasse AVS Die Arbeiterversorgung Bg Berufsgenossenschaft BauKK Baukrankenkasse BKK Betriebskrankenkasse BR Bundesrat BSIM Bulletin de la société industrielle de Mulhouse CDI Centralverband der deutschen Industriellen CEH Central European History ESK Evangelischer Sozialer Kongress GAB Gewerbeaufsichtsbeamte GG Geschichte und Gesellschaft GK Gemeindekasse GO Gewerbeordnung GSR Gesellschaft für Sozialreform GV Generalversammlung HK Hilfskasse HZ Historische Zeitschrift IAA Internationales Arbeitsamt IAO Internationale Arbeitsorganisation IKK Innungskrankenkasse ILO International Labour Organisation IVG Invaliditäts-und Altersversicherungsgesetz IWK Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung Jb AbM Jahresbericht des Auskunftsbureaus von Mülhausen KG Krankengeld KK Knappschaftskasse KVG Krankenversicherungsgesetz LKK Landwirtschaftliche Krankenkasse LVA Landesversicherungsanstalt OKK Ortskrankenkasse OKM Bericht der Ortskrankenkasse von Mülhausen-Stadt OTL Ortsüblicher Tagelohn

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RAB Reichsarbeitsblatt RGB Reichsgesetzblatt RhVjbll Rheinische Vierteljahrsblätter RK Risikoklasse RT Reichstag RVA Reichsversicherungsamt RVO Reichsversicherungsordnung SACM Société alsacienne de constructions mécaniques Sg Schiedsgericht SM Socialistische Monatshefte (auch: Sozialistische Monatshefte) SP Soziale Praxis St Hb Statistisches Handbuch für Elsass-Lothringen St. Jb Statistisches Jahrbuch Elsass-Lothringen UVG Unfallversicherungsgesetz VAB Verwaltungsbericht des Aufsichtsbeamten für die gewerblichen Anlagen in Elsass-Lothringen VbM Verwaltungsbericht der Stadt Mülhausen VSP Verein für Socialpolitik ZSR Zeitschrift für Sozialreform

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Tabellenanhang

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Tabelle 1: Krankenversicherung* Gesetze

Betroffene

Finanzierung

Gesetz vom 15.6.1883, Inkrafttreten am 1.12.1884

––Versicherungspflicht für: ––Bergarbeiter, Eisenbahnarbeiter, Arbeiter, die in Betrieben beschäftigt sind, die Dampf oder Gas als Antrieb einsetzen ––Angestellte mit einem Jahreseinkommen