Das Standardwerk bietet einen breiten empirischen Überblick über die Arbeits- und Lebensverhältnisse in Deutschland und
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German Pages LV, 1191 [1238] Year 2020
Table of contents :
Front Matter ....Pages I-LV
Sozialpolitik und soziale Lage (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 1-54
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 55-164
Einkommen (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 165-313
Arbeitsbeziehungen (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 315-382
Arbeit und Arbeitsmarkt (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 383-512
Qualifikation (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 513-582
Arbeit und Gesundheit (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 583-633
Gesundheit und Gesundheitssystem (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 635-761
Pflegebedürftigkeit und Pflege (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 763-835
Familie und Kinder (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 837-922
Alter (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 923-1085
Soziale Dienste (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 1087-1191
Gerhard Bäcker Gerhard Naegele Reinhard Bispinck
Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland Ein Handbuch 6. Auflage
Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland
Gerhard Bäcker · Gerhard Naegele · Reinhard Bispinck
Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland Ein Handbuch 6., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage
Gerhard Bäcker Universität Duisburg-Essen Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) Duisburg, Deutschland
Gerhard Naegele TU Dortmund Institut für Gerontologie Dortmund, Deutschland
Reinhard Bispinck Hans-Böckler-Stiftung Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut Düsseldorf, Deutschland
ISBN 978-3-658-06248-4 ISBN 978-3-658-06249-1 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-06249-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detail lierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 1980, 1989, 2000, 2008, 2010, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
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Im Jahr 1980 erschien die erste Auflage dieses Handbuches unter dem Titel „Sozialpolitik – Eine problemorientierte Einführung“. Damals hätte keiner von uns daran gedacht und geglaubt, dass wir 40 Jahre später die sechste Auflage vorlegen würden. In diesen vier Jahrzehnten sind wir zu engagierten Beobachtern der Sozialpolitik geworden – jeder auf seinen Schwerpunktthemen, aber immer das Ganze im Blick. Gerade die Unterschiede in den Themenfeldern, mit denen sich jeder Einzelne von uns in den vergangenen beiden Jahrzehnten beschäftigt hat, waren eine wesentliche Voraussetzung für die vollständige inhaltliche Überarbeitung, Erweiterung und Aktualisierung des Handbuchs. Dass uns dieser Kraftakt gelungen ist, freut uns sehr. Der Blick auf die sozialpolitische Entwicklung in dieser Zeit zeigt ruhige, aber eben auch turbulente Phasen mit heftigen Auseinandersetzungen. Wir konnten in vielen Bereichen Fortschritte verzeichnen, mussten aber auch Rückschritte und Kürzungen registrieren. Besonders einschneidend waren die Jahre seit der Jahrtausendwende, die von neoliberalem Denken geprägt waren. Der Staat allgemein, aber insbesondere der Sozialstaat mit seinen vermeintlich „überbordenden Sozialausgaben“, standen unter Beschuss. Zwar konnten viele Angriffe abgewehrt worden, aber es vollzog sich damals in zentralen Bereichen ein Paradigmenwechsel (Beispiel „Hartz IV“ und „Riester-Rente“), der bis heute fortwirkt. Doch nach wie vor besteht in der Bevölkerung eine breite Zustimmung zum Sozialstaat, insbesondere zur sozialen Sicherung durch die Arbeitslosen-, Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung als Säulen der solidarischen Sozialversicherung. Verlässliche soziale Sicherheit in allen Wechselfällen des Lebens, das zeigt sich gerade heute, ist eine wesentliche Voraussetzung für gesellschaftliche Stabilität und eine funktionierende Demokratie. Nach wie vor gilt: Wirtschaftlicher Fortschritt und ein ausgebauter Sozialstaat stehen nicht gegeneinander, sondern ergänzen und bedingen sich. In manchen Einzelfragen hat sich unsere inhaltliche Einschätzung gegenüber den früheren Auflagen (weiter) verändert. Das liegt auch daran, dass Sozialpolitik und Sozialstaat keine statischen Gebilde sind. Der gesellschaftliche, ökonomische und demografische Wandel führte und führt zu tiefgreifenden Veränderungen. Insbesondere die strukturellen Veränderungen in der globalisierten Wirtschaft, am Arbeitsmarkt V
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und in den Lebensformen der Menschen haben die Arbeits- und Lebensbedingungen insgesamt in einer Weise verändert, dass Anpassungen im sozialpolitischen Leistungsspektrum immer wieder notwendig wurden und auch künftig erforderlich sind. Nicht zuletzt nach der tiefgreifenden Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 hat der Sozialstaat wieder an allgemeiner Wertschätzung gewonnen. Seitdem lässt sich ein sozialer Fortschritt in kleineren und größeren Schritten beobachten. Allerdings ist trotz der vielfältigen Schutz- und Verteilungsmaßnahmen der Sozialpolitik nicht zu übersehen, dass die gesellschaftliche Ungleichheit deutlich zugenommen hat. Die Kluft in der Einkommens- und Vermögensverteilung hat sich vergrößert. Obgleich sich die Wirtschaft gut entwickelt und die Arbeitslosigkeit deutlich abgenommen hat, ist der Anteil der Menschen, die von Armutsrisiken betroffen sind, gestiegen. Soziale Spaltungen bestehen in Deutschland nicht nur (wenn auch abnehmend) zwischen Ost und West, sie zeigen sich auch zwischen Süd und Nordwest. Wirtschaftlich und sozial abgehängte Regionen, Städte und Stadtteile stellen zunehmend sozialpolitische Herausforderungen dar. Eine nachträgliche, ausgleichende Sozialpolitik gerät an ihre Grenzen, wenn es nicht gelingt, die ökonomischen Ursachen der ungleichen Verteilung von Einkommens- und Lebenslagen zu bekämpfen. Zum vorliegenden Handbuch: Was 1980 noch in einen Band mit sechs Kapitel auf rund 400 Seiten passte, ist mittlerweile auf zwölf Kapitel mit über 1 200 Seiten angewachsen. Wir haben den Umfang von Auflage zu Auflage erweitert, und zwar aus mehreren Gründen: Zum einen sind die vorliegende Empirie und der jeweilige Forschungsstand zur sozialen Lebenswelt, zu den sozialen Risiken und ihren Bestimmungsfaktoren sowie zur Wirkungsweise sozialpolitische Regulierungen und Leistungen heute weitaus umfassender, ja nahezu unüberschaubar, als zu Anfang unserer wissenschaftlichen Laufbahn. Zum andern sollte erkennbar werden, dass Sozialpolitik und Sozialstaat deutlich mehr sind, als nur Sozialversicherung und Grundsicherung. Das betrifft insbesondere die Bereiche „Qualifikation“, „Pflege“ und „Arbeitsbeziehungen“, die in dieser Auflage erstmals in eigenständigen Kapiteln abgehandelt werden. Wir haben uns zudem bemüht, stärker als in früheren Auflagen europäische Aspekte der Sozialpolitik zu berücksichtigen und die deutsche Sozialpolitik im Kontext internationaler Vergleiche zu analysieren. Was ist geblieben und was hat sich geändert ? Zunächst: Das grundlegende Konstruktionsprinzip, die Darstellung an den sozialen Problemen und Risiken der Bevölkerung zu orientieren und von dort aus zur Sozialpolitik mit ihrem vielfältigen Geflecht von Maßnahmen, Leistungen und Institutionen fortzuschreiten, haben wir – selbstverständlich – beibehalten. Leitlinie für die Beurteilung von sozialen Risiken und die Auswirkungen der Sozialpolitik bleibt für uns die materielle und immaterielle Lebenslage der Menschen. Auch die Berücksichtigung der nichtstaatlichen sozialpolitischen Aktivitäten ist aus unserer Sicht für das Verständnis der Sozialpolitik und ihrer Entwicklung nach wie vor unverzichtbar. Das gilt insbesondere für die Regelungen, wie sie zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden in Form von
Vorwort
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Tarifverträgen vereinbart werden. Eine gleichermaßen große Bedeutung kommt im Bereich der sozialen Dienstleistungen den Wohlfahrtsverbänden, der Familien- und Selbsthilfe sowie dem Ehrenamt zu. Wir haben versucht, die einzelnen Handlungs- und Regelungsfelder im Zusammenhang zu sehen, wechselseitige Abhängigkeiten deutlich zu machen und so das Verständnis für das komplexe Politikfeld der Sozialpolitik zu fördern. Dies erscheint uns umso dringlicher, als es große Defizite in der aktuellen sozialpolitikrelevanten Wissenschaft gibt: So weist die Forschung eine hohe Spezialisierung auf einzelne thematische Aspekte und Fragestellungen auf. Im Vordergrund steht die tiefe empirische Durchdringung von Einzelmaßnahmen und Teilsystemen. Aber es fehlt an Gesamtanalysen, sowohl für die Sozialpolitik in Deutschland selbst, als auch zu ihrer Einbettung in die Politik der Europäischen Union. Die von uns gewählte problemorientierte Herangehensweise hat zum Ziel, Einblick in und das Verständnis für die Vielfalt und Komplexität sozialpolitischer Maßnahmen und Einrichtungen und für das Dickicht sozialrechtlicher Gesetze und Vorschriften zu gewinnen und sie einzubetten in die jeweiligen lebensweltlichen Kontexte. Die Darstellung beginnt deshalb nicht – wie vielfach üblich – unmittelbar mit der Darstellung des sozialpolitischen Leistungssystems selbst, indem etwa die verschiedenen Institutionen, die Prinzipien und die Ausgestaltung der Leistungsgewährung im Vordergrund stehen. Ausgangspunkt sind vielmehr die vielfältigen und sich verändernden sozialen Risiken und die daraus erwachsenden sozialen Probleme, von denen die Menschen betroffen sein können und die erst den Anlass für sozialpolitische Aktivitäten geben. Das Handbuch greift nach zwei einführenden Kapiteln zu Grundlagen des Sozialstaats und seiner Finanzierung folgende sozialpolitische Risiko-, Problem- und Handlungsfelder in jeweils in sich geschlossenen Kapiteln auf: • • • • • • • • • •
Einkommen (Kap. III) Arbeitsbeziehungen (Kap. IV) Arbeit und Arbeitsmarkt (Kap. V) Qualifikation (Kap. VI) Arbeit und Gesundheit (Kap. VII) Gesundheit und Gesundheitssystem (Kap. VIII) Pflegebedürftigkeit und Pflege (Kap. IX) Familie und Kinder (Kap. X) Alter (Kap. XI) Soziale Dienste (Kap. XII)
Dieser Aufbau hat folgende Vorteile: •
Die Leser:innen erhalten zunächst einen Überblick über die jeweilige soziale Risiko- und Problemlage anhand einer detaillierten Beschreibung und Analyse
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der einzelnen sozialen Risiken und Probleme und ihre gesellschaftliche Bedingtheit. Sie können sich damit vorab ein Urteil darüber bilden, welches Ausmaß und welche innere Struktur die zur Diskussion stehenden sozialpolitischen Anknüpfungspunkte aufweisen. • Anschließend werden die verschiedenen, auf die Bearbeitung und Bewältigung dieser sozialen Risiken und Probleme gerichteten sozialpolitischen Strategien und Einzelmaßnahmen behandelt und bewertet. Auf dieser Basis lässt sich beurteilen, ob und in welchem Maße die Maßnahmen der Sozialpolitik der zugrunde liegenden Problematik gerecht werden. • Die Analyse der Leistungsfähigkeit aber auch der Defizite des Systems der sozialen Sicherung leitet schließlich über zur Diskussion über Reformbedarfe und Reformoptionen in den einzelnen Bereichen. Wenn unser Handbuch dazu beiträgt, ein kritisch-konstruktives Verhältnis zum deutschen Sozialstaat zu entwickeln und Verständnis für die Option einer reformorientierten Weiterentwicklung zu wecken, dann erfüllt es im Rahmen der aktuellen sozialpolitischen Diskussionen auch eine wichtige politische Funktion, die uns auch bei allen früheren Auflagen wichtig war. Über Anregungen und kritische Kommentare zu dem Handbuch freuen wir uns. Das Manuskript wurde Ende 2019 abgeschlossen und berücksichtigt – soweit möglich und verfügbar – den zu diesem Zeitpunkt gegebenen Daten-, Sach- und Forschungsstand. Doch kaum ein anderer Politikbereich unterliegt so starken Veränderungen wie die Sozialpolitik. Seit rund 20 Jahren liefert das Internetportal „Sozialpolitik aktuell“ unter www.sozialpolitik-aktuell.de ein umfangreiches Informationsangebot zur Sozialpolitik. Hier werden auch die im Handbuch enthaltenen Abbildungen und Tabellen laufend aktualisiert. Das Portal bietet auch Zugriff auf zahlreiche aktuelle Dokumente, Gutachten, Berichte zum gesamten Themenfeld der Sozialpolitik. Es wird seit vielen Jahren dankenswerter Weise durch die Hans-Böckler-Stiftung gefördert. Zu der vorliegenden 6. Auflage wäre es ohne die zahlreichen Rückmeldungen der Leser:innen nicht gekommen. Immer wieder sind wir gefragt und aufgefordert worden, eine überarbeitete und aktualisierte Fassung vorzulegen. Dafür bedanken wir uns herzlich und hoffen, dass wir die Erwartungen erfüllen können. Ein besonderer Dank gilt Dr. Jennifer Neubauer, die unsere Koautorin bei der 5. Auflage war. Einige Teile dieses Handbuchs gehen auf ihre damalige Mitarbeit zurück. Wir widmen dieses Handbuch unserem Kollegen Klaus Hofemann, der im Oktober 2013 viel zu früh verstorben ist. Klaus Hofemann war – als treibende Kraft – von Anfang an bis zur 5. Auflage dabei. Wir haben gemeinsam mit Klaus Hofemann bei unserem akademischen Lehrer Professor Otto Blume am Sozialpolitischen Seminar der Universität zu Köln studiert, gelernt und gearbeitet. Über viele Jahre hinweg waren wir danach in unterschiedlichen Funktionen tätig, sind aber immer in Freundschaft
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verbunden geblieben. Dieses Handbuch ist dabei stets unser gemeinsames Projekt und Herzensanliegen gewesen. Ein Nachtrag: Corona-Krise und Sozialpolitik Die weltweite Corona-Pandemie hat die ökonomische, gesellschaftliche und soziale Lage auch in Deutschland grundlegend geändert. Die daraus folgende tiefe wirtschaftliche Rezession hat weitreichende und kaum absehbare Folgen nicht zuletzt für den Arbeitsmarkt und die soziale Sicherung. In diesem Handbuch, das redaktionell Ende 2019 abgeschlossen wurde, konnten die Konsequenzen dieser Entwicklung nicht behandelt werden. Unter www.sozialpolitik-aktuell.de werden zentrale Daten zu allen Feldern der sozialen Lage und der Sozialpolitik fortlaufend aktualisiert und die gesetzlichen Neuregelungen im Rahmen der Sozialschutzpakete (Kurzarbeit/Kurzarbeitergeld, Grundsicherung, Kinderzuschlag, Elterngeld, Krankenhausfinanzierung usw.) dokumentiert. Gerhard Bäcker Reinhard Bispinck Gerhard Naegele
Inhaltsüberblick
Kapitel I: Sozialpolitik und soziale Lage . . . . . . . . . . . 1 Sozialpolitik und Sozialstaat als Antwort auf soziale Probleme 2 Gestaltung von Lebenslagen . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Interventionsformen und Wirkungen . . . . . . . . . . . 4 Interessen, Macht, Institutionen . . . . . . . . . . . . . . 5 Der normative Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Wohlfahrtsstaaten im internationalen Vergleich . . . . . . 7 Sozialpolitik in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Sozialpolitik der Europäischen Union . . . . . . . . . . . 9 Sozialstaat und soziale Gesellschaft . . . . . . . . . . . . 10 Sozialstaat zwischen Abbau, Umbau und Reform . . . . . 11 Reformperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 1 3 5 8 10 14 17 32 34 38 44 51
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Kapitel II: Ökonomische Grundlagen und Finanzierung . . . 1 Sozialpolitik in der Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . 2 Finanzielle Dimensionen: Das Sozialbudget . . . . . . . . . 3 Finanzierung der sozialen Sicherung . . . . . . . . . . . . . 4 Finanzierungsprobleme des Sozialstaats . . . . . . . . . . . 5 Bevölkerungsentwicklung und Finanzierung des Sozialstaates 6 Wechselwirkungen zwischen Sozialpolitik und ökonomischem System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Finanzierungsalternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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55 55 64 76 115 124
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137 149 163
Kapitel III: Einkommen . . . . . . . . . . 1 Einkommensrisiken und Sozialpolitik . 2 Einkommensverteilung . . . . . . . . 3 Steuern und Einkommensverteilung . .
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165 165 175 205
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Inhaltsüberblick
Existenzsicherung ohne Erwerbseinkommen Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . Grundsicherung . . . . . . . . . . . . . . Armut in der Wohlstandsgesellschaft . . . Reichtum: Spitzeneinkommen und Vermögen Reformoptionen . . . . . . . . . . . . . . Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . .
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212 224 246 281 299 302 311
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315 315 317 330 347 364 369 374 379
Kapitel V: Arbeit und Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . . . . . 1 Arbeit, Arbeitsmarkt, Arbeitsmarktpolitik . . . . . . . . . . 2 Strukturen und Entwicklungstrends der Erwerbsarbeit . . . . 3 Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Arbeitsmärkte: Dynamik, Segmentierung und Trends . . . . 5 Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit: Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Folgen von Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Arbeitsmarktpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Herausforderungen und Reformbedarfe . . . . . . . . . . . 10 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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383 383 388 401 418 432
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454 472 476 503 509
Kapitel VI: Qualifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Lebenslagen als Ergebnis von Qualifikation und Bildung . . 2 Das Bildungssystem im Überblick . . . . . . . . . . . . . 3 Qualifikation und Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . 4 Bildung und soziale Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . 5 Berufliche Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Betriebliche Berufsausbildung im dualen System . . . . . 7 Angebote für benachteiligte Jugendliche im Übergangssektor
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513 513 515 524 529 531 540 551
Kapitel IV: Arbeitsbeziehungen . . . . . . . . . . 1 Kapital, Arbeit und Staat . . . . . . . . . . . . . 2 Das deutsche Modell der Arbeitsbeziehungen . . 3 Tarifvertragssystem . . . . . . . . . . . . . . . 4 Regelungsbereiche und -inhalte von Tarifverträgen 5 Verbetrieblichung der Tarifpolitik . . . . . . . . 6 Betriebsräte und betriebliche Interessenvertretung 7 Arbeitsbeziehungen im Umbruch . . . . . . . . 8 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsüberblick
8 9 10 11 12
Soziale Sicherung während der Ausbildung Qualifikation und Erwerbsverläufe . . . . . Berufliche Weiterbildung . . . . . . . . . . Herausforderungen und Reformperspektiven Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . .
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555 562 570 576 580
Kapitel VII: Arbeit und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . 1 Gesundheitsgefährdungen in der Arbeitswelt . . . . . . . . 2 Arbeitsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall . . . . . . . . . . . . . 4 Gesetzliche Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . 5 Rehabilitation, Gesundheitsförderung und Wiedereingliederung Erkrankter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Arbeitsbedingungen und Gesundheit im Strukturwandel: Herausforderungen und Reformbedarfe . . . . . . . . . . . 7 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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583 583 602 615 620
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623
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627 630
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Kapitel VIII: Gesundheit und Gesundheitssystem . . . . . . . 1 Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Gesundheitszustand der Bevölkerung . . . . . . . . . . . . 3 Anforderungen und Handlungsfelder der Gesundheitspolitik 4 Das Gesundheitssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Ambulante ärztliche Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . 7 Arzneimittelversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Stationäre Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Versorgung psychisch Kranker . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Gesundheitssysteme in Europa . . . . . . . . . . . . . . . 12 Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung 13 Reformbedarfe und Reformalternativen . . . . . . . . . . . 14 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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635 635 637 649 656 671 699 712 718 729 735 740 743 752 758
Kapitel IX: Pflegebedürftigkeit und Pflege . . . . . . . . 1 Pflegebedürftigkeit – Abgrenzungen und Dimensionen . 2 Art und Orte der pflegerischen Versorgung . . . . . . . 3 Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflege . . . . . . 4 Alternative und innovative Wohn- und Versorgungsformen 5 Absicherung des Pflegerisikos durch die Pflegeversicherung
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763 763 771 777 781 784
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6 7 8 9 10 11 12
Inhaltsüberblick
Leistungen der Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . Angebotsstrukturen und Personalausstattung . . . . . . . . . Steuerung, Beratung, Vernetzung und Qualitätssicherung . . . Finanzierung und Finanzentwicklung der Pflegeversicherung . Stellung der Pflegeversicherung im System der sozialen Sicherung Herausforderungen und Reformbedarfe . . . . . . . . . . . . Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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789 802 807 815 820 824 833
Kapitel X: Familie und Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Familien und Familienpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Wandel der familiären Lebensformen und der Geschlechterrollen 3 Lebensformen und Familienstrukturen im Überblick . . . . . . 4 Geburtenziffern und Kinderlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . 5 Einkommens- und Lebenslagen von Familien . . . . . . . . . 6 Geldleistungen der Familienpolitik und Familienleistungsausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Vereinbarkeit von Beruf und Familie . . . . . . . . . . . . . . 8 Kinderbetreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Familiengerechte Gestaltung der Arbeitswelt . . . . . . . . . 10 Kinder- und Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Reformbedarfe und Reformoptionen . . . . . . . . . . . . . 12 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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837 837 842 847 858 865
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879 894 899 906 912 916 920
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923 923 926
Kapitel XI: Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Lebenslagen und soziale Ungleichheiten im Alter . . . . 2 Folgewirkungen des demografischen und sozialen Wandels 3 Das Altern der Gesellschaft als (sozial)politischer Gestaltungsauftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Alterserwerbstätigkeit und Altersübergänge . . . . . . . 5 Alterssicherung: Ziele, Gestaltungsformen und Systeme . 6 Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Regelsysteme neben der Rentenversicherung . . . . . . 8 Betriebliche und private Altersvorsorge . . . . . . . . . 9 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung . . 10 Einkommensverteilung im Alter und Altersarmut . . . . 11 Alterssicherung im europäischen Vergleich . . . . . . . 12 Finanzierung der Alterssicherung und demografische Belastungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Reformbedarfe und -optionen . . . . . . . . . . . . . . 14 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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939 942 952 967 1017 1025 1043 1050 1054
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Inhaltsüberblick
Kapitel XII: Soziale Dienste . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Hilfebedürftigkeit, soziale Probleme und soziale Dienste . . 2 Soziale Dienste: Grundlagen, Strukturen und Trends . . . . 3 Träger und Anbieter sozialer Dienste . . . . . . . . . . . . 4 Koordination, Wohlfahrtsmix und Sozialplanung als Aufgaben der kommunalen Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . 5 Finanzierung: Grundlagen, Strukturen und Verfahren . . . 6 Ökonomisierung des Sozialen . . . . . . . . . . . . . . . 7 Qualität und Qualitätssicherung . . . . . . . . . . . . . . 8 Nicht-professionelle Hilfe- und Unterstützungsleistungen . 9 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XV
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1087 1087 1091 1111
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Inhalt
Die Autoren . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Abbildungen . . . Verzeichnis der Tabellen . . . . . . Verzeichnis der Übersichten . . . .
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Kapitel I: Sozialpolitik und soziale Lage . . . . . . . . . . . 1 Sozialpolitik und Sozialstaat als Antwort auf soziale Probleme 2 Gestaltung von Lebenslagen . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Interventionsformen und Wirkungen . . . . . . . . . . . 4 Interessen, Macht, Institutionen . . . . . . . . . . . . . . 5 Der normative Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Freiheit, Gleichheit, Sicherheit . . . . . . . . . . . . 5.2 Leistungsgerechtigkeit und Bedarfsgerechtigkeit . . 5.3 Chancengerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit, Generationengerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . 6 Wohlfahrtsstaaten im internationalen Vergleich . . . . . . 7 Sozialpolitik in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Entstehungszusammenhang und Entwicklungslinien 7.2 Politikfelder und Strukturprinzipien . . . . . . . . . 7.3 Zuständigkeiten und Regelungskompetenzen . . . 7.4 Träger und Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Sozialpolitik der Europäischen Union . . . . . . . . . . . 9 Sozialstaat und soziale Gesellschaft . . . . . . . . . . . . 9.1 Sozialstaat und Grundgesetz . . . . . . . . . . . . 9.2 Soziales Engagement in Familie und Gesellschaft . . 10 Sozialstaat zwischen Abbau, Umbau und Reform . . . . . 10.1 Neoliberale Grundsatzkritik . . . . . . . . . . . . . 10.2 Umbau des deutschen Sozialstaats . . . . . . . . . 10.3 Revisionen des Sozialabbaus . . . . . . . . . . . .
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XVII
XVIII
Inhalt
11 Reformperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Soziale Sicherheit, ökonomische Effizienz und Zusammenhalt der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Weiterentwicklung der Sozialversicherung und Gestaltung des Arbeitsmarkts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Vorsorge und sozialer Ausgleich . . . . . . . . . . . . . 11.4 Verlässliche Finanzierung und Stärkung der Akzeptanz . . 12 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel II: Ökonomische Grundlagen und Finanzierung . . 1 Sozialpolitik in der Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . 1.1 Sozialpolitische Interventionsebenen und -formen . 1.2 Interdependenzen zwischen Sozialpolitik und Marktprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Finanzielle Dimensionen: Das Sozialbudget . . . . . . . . 2.1 Institutionen und Funktionen des Systems der sozialen Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Sozialleistungsquote . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Einflussfaktoren der Ausgabenentwicklung . . . . . 2.4 Sozialleistungen im europäischen Vergleich . . . . . 3 Finanzierung der sozialen Sicherung . . . . . . . . . . . . 3.1 Sozialpolitik als Einkommensumverteilung . . . . . 3.2 Finanzierungsverfahren: Umlagefinanzierung und Kapitaldeckung . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Finanzierung der Sozialleistungen über Beiträge und Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Sozialversicherung und Beitragsfinanzierung . . . . 3.5 Steuerfinanzierte Sozialleistungen . . . . . . . . . 3.5.1 Sozialausgaben und öffentliche Haushalte . . . . . 3.5.2 Steuersystem und Steuerverteilung . . . . . . . . . 3.5.3 Finanzierung der Sozialleistungen im europäischen Vergleich . . . . . . . . . . . . . 3.6 Kommunale Sozialpolitik und ihre Finanzierung . . . 3.7 Belastung von Arbeitnehmer:innen und Unternehmen 3.7.1 Einkommensminderung durch Beiträge und Steuern 3.7.2 Belastung der Unternehmen durch Lohnnebenkosten 3.8 Kosten und Belastungen einer privaten Absicherung 4 Finanzierungsprobleme des Sozialstaats . . . . . . . . . . 4.1 Konjunktur- und Arbeitsmarktabhängigkeit der Sozialversicherungssysteme . . . . . . . . . .
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96 97 103 103 108 112 115
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Inhalt
XIX
4.2
5
6
7
8
Konjunktur- und Arbeitsmarktabhängigkeit der Steuerfinanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Arbeitslosigkeit: Sinkende Einnahmen und wachsende Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Finanzierungsprobleme der kommunalen Sozialpolitik . Bevölkerungsentwicklung und Finanzierung des Sozialstaates . 5.1 Bedingungen und Folgewirkungen des demografischen Umbruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Bevölkerungsvorausberechnungen und demografische Belastungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Bevölkerungsumbruch und wirtschaftliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Entwicklung von Erwerbsbeteiligung und Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Entwicklung von Sozialprodukt, Abgaben und verfügbarem Einkommen . . . . . . . . . . . . . . . . Wechselwirkungen zwischen Sozialpolitik und ökonomischem System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Sozialstaat in der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Sozialstaat und wirtschaftliche Dynamik . . . . . . . . 6.3 Sozialstaat, Arbeitskosten, Lohnnebenkosten und Arbeitsnachfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Soziale Sicherung und Arbeitsangebot . . . . . . . . . 6.5 Sozialstaat, internationaler Wettbewerb und Globalisierung Finanzierungsalternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Ausgabenentwicklung: Entscheidungen über Prioritäten 7.2 Stärkere Steuerfinanzierung der Sozialversicherung . . . 7.3 Bürgerversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Arbeitgeberbeiträge: Abschaffung oder Umstellung auf einen Wertschöpfungsbeitrag . . . . . . . . . . . . 7.5 Finanzierung der Krankenversicherung durch Kopfpauschalen . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Kapitaldeckungsverfahren statt Umlageverfahren . . . Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel III: Einkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Einkommensrisiken und Sozialpolitik . . . . . . . . . . 1.1 Einkommen und Lebenslage . . . . . . . . . . . 1.2 Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit und familiäre Unterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Sozialpolitik als Einkommensverteilungspolitik . .
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170 172
XX
2 Einkommensverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Grundfragen einer Verteilungsanalyse . . . . . . . 2.2 Gesamtwirtschaftliche Einkommensverteilung . . . 2.2.1 Bruttoinlandsprodukt und Volkseinkommen . . . . 2.2.2 Arbeits- und Kapitaleinkommen, Lohnquote . . . . 2.2.3 Durchschnittliche Brutto-, Netto- und Nettoreallöhne 2.3 Arbeitseinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Lohndifferenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Geschlechterhierarchie: Gender pay gap . . . . . . 2.3.3 Niedriglöhne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Mindestlöhne und Mindestausbildungsvergütung . 2.3.5 Einkommensverläufe . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit . . . . . . 2.5 Haushaltseinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Zusammentreffen von Erwerbseinkommen, Sozialeinkommen und Abgaben . . . . . . . . . . 2.5.2 Bedarfsgewichtete Pro-Kopf Einkommen: Nettoäquivalenzeinkommen . . . . . . . . . . . . 2.5.3 Verteilungswirkungen des Sozialstaats . . . . . . . 3 Steuern und Einkommensverteilung . . . . . . . . . . . . 3.1 Belastung durch direkte und indirekte Steuern . . . 3.2 Sozialpolitik durch Steuerpolitik . . . . . . . . . . . 4 Existenzsicherung ohne Erwerbseinkommen . . . . . . . 4.1 Private Vorsorge durch Vermögensbildung . . . . . 4.2 Private Vorsorge durch Privatversicherungen . . . . 4.3 Staatlich organisierte soziale Sicherung . . . . . . . 4.4 Ausformung der sozialen Sicherung im europäischen Vergleich . . . . . . . . . . . . . 5 Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Versicherungsschutz und Versicherungspflicht . . . 5.2 Leistungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . 5.3 Höhe, Bezugsdauer und Anpassung der Lohnersatzleistungen . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Organisation und Selbstverwaltung . . . . . . . . . 5.5 Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Solidarausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Versicherungsfremde Leistungen und steuerfinanzierte Zuschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8 Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . .
Inhalt
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Inhalt
XXI
6 Grundsicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Grundsicherung als letztes soziales Netz . . . . . . . 6.1.1 Grundsicherungssysteme und Leistungsprinzipien . . 6.1.2 Leistungshöhe: Regelbedarfe und Kosten der Unterkunft 6.1.3 Bedürftigkeitsprüfung und Einkommensanrechnung . 6.1.4 Bemessung und Anpassung der Regelbedarfe . . . . 6.1.5 Dunkelziffer der Nicht-Inanspruchnahme . . . . . . . 6.2 Grundsicherung für Arbeitsuchende . . . . . . . . . 6.2.1 Anspruchsberechtigter Personenkreis und Leistungen 6.2.2 Leistungsempfänger:innen und Bedarfsgemeinschaften 6.2.3 Fordern und Fördern . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Träger und Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung . 6.4 Sozialhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz . 6.6 Familienleistungsausgleich, Wohngeld . . . . . . . . 7 Armut in der Wohlstandsgesellschaft . . . . . . . . . . . . 7.1 Was ist Armut ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Relative Einkommensarmut . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Armutsrisikoquoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Bundesdurchschnitt und regionale Abweichungen . . 7.3.2 Armutsrisiken einzelner Personengruppen . . . . . . 7.4 Grundsicherung und Einkommensarmut . . . . . . . 7.5 Armutslagen in zeitlicher Dimension . . . . . . . . . 7.6 Armut in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Reichtum: Spitzeneinkommen und Vermögen . . . . . . . . 9 Reformoptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Bedingungsloses Grundeinkommen . . . . . . . . . 9.2 Bürgerversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel IV: Arbeitsbeziehungen . . . . . . . . . . . . 1 Kapital, Arbeit und Staat . . . . . . . . . . . . . . . 2 Das deutsche Modell der Arbeitsbeziehungen . . . . 2.1 Akteure und Verbände . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Arbeitgeber- und Unternehmensverbände . . 2.1.2 Gewerkschaften . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Betriebliche Mitbestimmung . . . . . . . . . 2.3 Unternehmensbezogene Mitbestimmung . . 2.4 Tarifautonomie und Tarifpolitik . . . . . . . . 2.5 Sozialversicherung, Berufsbildung und Kammern
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315 315 317 317 317 318 321 324 326 328
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3 Tarifvertragssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Rechtliche Bestimmungen, Struktur und Geltungsbereich 3.1.2 Arten von Tarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Ökonomische und soziale Funktionen von Tarifverträgen 3.3 Tarifvertragslandschaft und Tarifbindung . . . . . . . 3.4 Allgemeinverbindlicherklärung und Arbeitnehmerentsendegesetz . . . . . . . . . . . . 3.5 Ablauf einer Tarifrunde . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Streiks und Arbeitskämpfe . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Europäische Tarifpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Regelungsbereiche und -inhalte von Tarifverträgen . . . . . 4.1 Lohnniveau und -struktur . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Tarifliche Niedriglöhne und Mindestlöhne . . . . . . 4.3 Arbeitszeit und Arbeitszeitgestaltung . . . . . . . . . 4.4 Sozial- und arbeitsmarktpolitische Regulierung durch Tarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Verhältnis von Sozial- und Tarifpolitik . . . . . . . . . 4.4.2 Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall . . . . . . . . . 4.4.3 Beschäftigungssicherung und soziale Absicherung bei Unterbeschäftigung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4 Berufliche Aus- und Weiterbildung . . . . . . . . . . 4.4.5 Altersteilzeit, Lebensarbeitszeit . . . . . . . . . . . . 4.4.6 Altersvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Verbetrieblichung der Tarifpolitik . . . . . . . . . . . . . . 6 Betriebsräte und betriebliche Interessenvertretung . . . . . 6.1 Häufigkeit und Verteilung von Betriebsräten . . . . . 6.2 Inhalte der Betriebsratsarbeit . . . . . . . . . . . . . 6.3 Betriebsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . 7 Arbeitsbeziehungen im Umbruch . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Globalisierung, deutsche Einigung, Erosion . . . . . . 7.2 Restabilisierung des Tarifsystems als Herausforderung 8 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel V: Arbeit und Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . . . . . 1 Arbeit, Arbeitsmarkt, Arbeitsmarktpolitik . . . . . . . . . . 1.1 Erwerbsarbeit und Lebenslagen . . . . . . . . . . . . 1.2 Der Arbeitsmarkt – ein besonderer Markt . . . . . . . 1.3 Regulierung des Arbeitsmarktes und Arbeitsmarktpolitik
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383 383 383 384 386
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Inhalt
2 Strukturen und Entwicklungstrends der Erwerbsarbeit . 2.1 Erwerbsbeteiligung, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und Arbeitsvolumen . . . . . . . 2.2 Strukturen der Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . 2.2.1 Wirtschaftsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Frauenerwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Erwerbstätigkeit und Lebensalter . . . . . . . . 2.2.4 Erwerbstätigkeit von Ausländer:innen . . . . . . 3 Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Normalarbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . 3.2 Teilzeitarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Minijobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Befristete Beschäftigung . . . . . . . . . . . . 3.5 Leiharbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Werkvertragsbeschäftigung . . . . . . . . . . . 3.7 Selbstständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Arbeitsmärkte: Dynamik, Segmentierung und Trends . 4.1 Arbeitsmärkte in Bewegung . . . . . . . . . . . 4.1.1 Auf- und Abbau von Arbeitsstellen und Beschäftigungsverhältnissen . . . . . . . . . . 4.1.2 Beschäftigungskontinuität und Erwerbsverläufe 4.2 Teilarbeitsmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Entwicklung von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Arbeitskräfteangebot . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Arbeitskräftenachfrage . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Wirtschaftswachstum, Arbeitskräftenachfrage und Wirtschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Arbeitszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Definition und Entwicklung der Arbeitslosigkeit 5.2 Kurzarbeit und stille Reserve . . . . . . . . . . 5.3 Dynamik der Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . 5.3.1 Wege in die Arbeitslosigkeit: Zugangsrisiko . . . 5.3.2 Dauer der Arbeitslosigkeit: Verbleibsrisiko und Langzeitarbeitslosigkeit . . . . . . . . . . 5.3.3 Wege aus der Arbeitslosigkeit: Abgangschancen 5.4 Strukturierung der Arbeitslosigkeit . . . . . . . 5.4.1 Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Demografische Merkmale: Personengruppen . . 5.5 Fachkräftemangel trotz Arbeitslosigkeit ? . . . . 5.6 Arbeitslosigkeit im europäischen Vergleich . . .
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XXIV
6 Soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit: Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Arbeitslosenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Besonderheiten und Funktionen einer Arbeitslosenversicherung . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Arbeitslosengeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Zumutbarkeit und Sperrzeiten . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Organisation und Finanzierung der Arbeitslosenversicherung und der Leistungen nach dem SGB III . . . . . . . . . . . 6.3 Grundsicherung für Arbeitsuchende . . . . . . . . . . . 6.4 Erwerbstätigkeit und Leistungsbezug: Aufstocker . . . . . 6.5 Bedeutungsverlust der Arbeitslosenversicherung, Dominanz der Grundsicherung . . . . . . . . . . . . . . 7 Folgen von Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Einkommenslage der Arbeitslosen und fiskalische Kosten . 7.2 Soziale und gesundheitliche Folgen . . . . . . . . . . . . 8 Arbeitsmarktpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Zielsetzungen und Politikfeld . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Entwicklung der Arbeitsförderung und Wandel ihrer Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik . . . . . . . 8.3.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Beratung und Vermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.3 Aktivierung und berufliche Eingliederung . . . . . . . . . 8.3.4 Förderung der beruflichen Aus- und Weiterbildung . . . . 8.3.5 Aufnahme einer Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . 8.3.6 Verbleib in Beschäftigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.7 Arbeitsgelegenheiten und Förderung der Teilhabe am Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Wirkungen der arbeitsmarktpolitischen Instrumente . . . 8.5 Teilnehmerzahlen der Arbeitsförderung . . . . . . . . . . 8.6 Arbeitsmarktprogramme von EU, Bundesregierung und Bundesländern, Aktivitäten der Kommunen . . . . . 8.7 Beschäftigungsinitiativen . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Herausforderungen und Reformbedarfe . . . . . . . . . . . . . 9.1 Gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen und der Erfolg der „Hartz-Gesetze“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Arbeitsförderung und Arbeitslosenunterstützung . . . . . 9.3 Ordnung des Arbeitsmarkts und Zeitoptionen für die Beschäftigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Inhalt
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454 454 455
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455 458 461
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463 466 467
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469 472 472 474 476 476
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478 481 481 483 485 485 486 487
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489 491 494
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498 501 503
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503 505
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507 509
Inhalt
Kapitel VI: Qualifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Lebenslagen als Ergebnis von Qualifikation und Bildung . . . . 2 Das Bildungssystem im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Bildungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Bildungsbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Qualifikation und Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Schulabschlüsse nach Altersgruppen . . . . . . . . . . 3.2 Berufsabschlüsse nach Altersgruppen . . . . . . . . . . 3.3 Qualifikationsniveau und segmentierte Arbeitsmärkte . 4 Bildung und soziale Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Berufliche Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Charakteristik und Funktionen des Berufsbildungssystems . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Sektoren des beruflichen Ausbildungssystems . . . . . 5.3 Das Schulberufssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Hochschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Betriebliche Berufsausbildung im dualen System . . . . . . . 6.1 Charakteristika des dualen Systems . . . . . . . . . . . 6.2 Ausbildungsbeteiligung der Betriebe . . . . . . . . . . 6.3 Zahl der Auszubildenden . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Qualität der Ausbildung und Abbruchquoten . . . . . . 6.5 Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsstellenmarkt . . . . . . . . . . . . 7 Angebote für benachteiligte Jugendliche im Übergangssektor . 8 Soziale Sicherung während der Ausbildung . . . . . . . . . . 8.1 Finanzierung des Lebensunterhalts als sozialpolitische Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Ausbildungsvergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Ausbildungsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Berufsausbildungsbeihilfe . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Armutsrisiken bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen 9 Qualifikation und Erwerbsverläufe . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Übergänge in Beschäftigung . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Anerkennung ausländischer Abschlüsse und Fachkräfteeinwanderung . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Qualifikationsrisiken im Erwerbsverlauf . . . . . . . . . 9.4 Qualifikationsschutz im Sozialrecht . . . . . . . . . . . 10 Berufliche Weiterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Die Weiterbildungslandschaft . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Geförderte Weiterbildung nach SGB III und SGB II . . . . 10.3 Förderung einer beruflichen Aufstiegsfortbildung . . .
XXV
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513 513 515 515 520 524 524 525 527 529 531
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531 533 535 538 540 540 544 545 547
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548 551 555
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555 556 558 561 562 562 562
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565 567 569 570 570 571 576
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XXVI
11 Herausforderungen und Reformperspektiven . . . 11.1 Abbau der sozialen Selektion . . . . . . . . 11.2 Stärkung der beruflichen Bildung . . . . . . 11.3 Gesamtkonzept der beruflichen Weiterbildung 12 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . .
Inhalt
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576 576 578 578 580
Kapitel VII: Arbeit und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . 1 Gesundheitsgefährdungen in der Arbeitswelt . . . . . . . . . 1.1 Bestimmungsgrößen der Gesundheitsgefährdung . . . 1.1.1 Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeit . . . . . . . 1.1.2 Belastungen aus der Arbeitsumgebung und aus dem Arbeitsvollzug . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Art und Ausmaß der Gesundheitsgefährdungen . . . . 1.2.1 Arbeitsunfähigkeit und arbeitsbedingte Erkrankungen . 1.2.2 Belastungskumulation und Berufskrankheiten . . . . . 1.2.3 Arbeitsunfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4 Erwerbsminderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Arbeitsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Rechtliche Struktur des Arbeitsschutzsystems . . . . . . 2.1.1 Staatliches Arbeitsschutzrecht und Unfallverhütungsrecht 2.1.2 Aufbau und Entstehung von Arbeitsschutzvorschriften . 2.2 Inhalt und Struktur von Arbeitsschutzvorschriften . . . 2.2.1 Arbeitsschutzgesetz – Rahmenvorschriften . . . . . . . 2.2.2 Arbeitszeitgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Schutz einzelner Personengruppen . . . . . . . . . . . 2.2.4 Gefahrstoffverordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Arbeitsstättenverordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.6 Betrieblicher Arbeitsschutz: Arbeitssicherheitsgesetz . . 2.3 Durchsetzung und Kontrolle von Arbeitsschutzvorschriften 2.3.1 Aufsichtsdienste im Arbeitsschutz: Staatliche Gewerbeaufsicht und technische Aufsicht der Berufsgenossenschaften . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Betrieblicher Arbeitsschutz und Interessenvertretung . . 3 Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Ausgangslage und gesetzliche Grundlagen . . . . . . . 3.2 Erhöhter Krankenstand als Folge der Entgeltfortzahlung ? 4 Gesetzliche Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Aufgaben und Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Organisation und Finanzierung . . . . . . . . . . . . .
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583 583 585 587
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590 592 593 596 599 600 602 603 603 605 606 607 608 609 611 612 612 613
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613 614 615 615 618 620 620 623
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. . . . . . . .
Inhalt
5 Rehabilitation, Gesundheitsförderung und Wiedereingliederung Erkrankter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Betriebliches Eingliederungsmanagement . . . . . . 5.3 Betriebliches Gesundheitsmanagement und Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Arbeitsbedingungen und Gesundheit im Strukturwandel: Herausforderungen und Reformbedarfe . . . . . . . . . . . 6.1 Arbeitsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Alterns- und altersgerechte Arbeitsbedingungen . . . 6.3 Neue Beschäftigungsformen und Schutz selbstständiger Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Digitalisierung und flexible Arbeitsformen und -zeiten 7 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XXVII
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623 624 625
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626
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627 627 628
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629 629 630
Kapitel VIII: Gesundheit und Gesundheitssystem . . . . . . . . . . 1 Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Gesundheitszustand der Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Datengrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Dominanz chronischer und psychischer Erkrankungen . . . 2.3 Behinderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Gesundheit und soziale Ungleichheit . . . . . . . . . . . . 2.5 Verursachungszusammenhänge zwischen Gesundheitsrisiken und Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Anforderungen und Handlungsfelder der Gesundheitspolitik . . . 3.1 Gesundheitsförderung und Prävention . . . . . . . . . . . 3.2 Linderung von Erkrankungen, Wiederherstellung der Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Ökonomische und ethische Fragen des Einsatzes von Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Das Gesundheitssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Besonderheiten von Angebot und Nachfrage . . . . . . . . 4.2 Grundmodelle der Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . 4.3 Strukturmerkmale des Gesundheitssystems in Deutschland . 4.3.1 Rahmenregelung durch den Staat . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Verbandliche Steuerung, gemeinsamer Bundesausschuss . . 4.3.3 Akteurs- und Interessensvielfalt, sektorale Trennung . . . . 4.4 Eckdaten des Gesundheitssystems . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
635 635 637 637 639 643 644
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646 649 649
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653
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655 656 656 659 661 661 663 665 667
. . . . . . . . .
XXVIII
5 Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Gesetzliche Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Grundprinzipien und versicherter Personenkreis . . . . 5.1.2 Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.4 Zuzahlungen und Wahltarife . . . . . . . . . . . . . . 5.1.5 Organisation und Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . 5.1.6 Kassenwettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.7 Medizinischer Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Private Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Grundlagen und Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Risikoäquivalente Prämien und Altersrückstellungen . . 5.2.3 Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Versicherungswechsel und Kostenentwicklung . . . . . 5.3 Zwei Klassen-System ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Ambulante ärztliche Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Kassenärztliche Vereinigungen und Sicherstellungsauftrag 6.2 Vertragsärztliche Versorgung . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Angebotsstrukturen: Praxen, medizinische Versorgungszentren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Ablauf der ambulanten medizinischen Versorgung . . . 6.2.3 Besondere Formen der ambulanten Versorgung, Selektivverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Notfallversorgung und Rettungsdienst . . . . . . . . . 6.3 Bedarfsplanung und Kassenzulassung . . . . . . . . . 6.4 Honorierung und Ärzteeinkommen . . . . . . . . . . . 6.4.1 Morbiditätsbedingte und extrabudgetäre Gesamtvergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) . . . . . . . 6.4.3 Ärzteeinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Arzneimittelversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Die Bedeutung von Arzneimitteln . . . . . . . . . . . . 7.2 Zulassung und Preisbildung von Arzneimittel . . . . . . 7.2.1 Zulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Festbeträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Stationäre Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Strukturmerkmale und Eckdaten der Krankenhausversorgung . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Fallzahlen, Betten und Verweildauer . . . . . . . . . . 8.3 Steuerung und Finanzierung . . . . . . . . . . . . . .
Inhalt
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671 671 671 674 679 684 686 689 690 690 690 694 695 696 697 699 700 701
. . . . . . . .
702 703
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. . . .
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704 705 706 708
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708 710 711 712 712 715 715 716 718
. . . . . . . . . . . .
718 722 724
Inhalt
9
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14
XXIX
8.4 Qualitätssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Pflegequalität und Pflegepersonal . . . . . . . . . . Versorgung psychisch Kranker . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Ambulante Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Stationäre und teilstationäre Versorgung . . . . . . . 9.3 Rehabilitation und komplementäre Versorgung . . . . 9.4 Betreuungsrecht, zwangsweise Unterbringung . . . . Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Medizinische Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Leistungen zur Teilhabe . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Träger und Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Mängel in der Rehabilitationspraxis . . . . . . . . . . Gesundheitssysteme in Europa . . . . . . . . . . . . . . . Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung 12.1 Kostenexplosion ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Ausgabenentwicklung der GKV . . . . . . . . . . . . 12.3 Einnahmeentwicklung in der GKV . . . . . . . . . . . 12.4 Ausgabenbegrenzung durch Selbstbeteiligung und Wahltarife ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5 Phasen der Gesundheitspolitik: Kostendämpfung, Strukturveränderungen und Leistungsausweitungen . Reformbedarfe und Reformalternativen . . . . . . . . . . . 13.1 Normative Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Prävention und integrierte Versorgung . . . . . . . . 13.3 Bürgerversicherung oder Kopfpauschalen . . . . . . 13.4 Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel IX: Pflegebedürftigkeit und Pflege . . . . . . . . . 1 Pflegebedürftigkeit – Abgrenzungen und Dimensionen . . 1.1 Pflegebedürftigkeit als allgemeines Lebensrisiko . . 1.2 Pflegebedürftigkeit und Demenz . . . . . . . . . . 1.3 Prävalenzen und Strukturdaten . . . . . . . . . . . 2 Art und Orte der pflegerischen Versorgung . . . . . . . . 2.1 Häusliche Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Stationäre Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflege . . . . . . . 3.1 Anforderungen von Arbeitswelt und Pflege im Konflikt 3.2 Gesetzliche Regelungen zur leichteren Vereinbarkeit 4 Alternative und innovative Wohn- und Versorgungsformen
. . . . . . . . . . . . . . . . .
726 728 729 729 732 733 734 735 735 736 737 739 740 743 743 744 745
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747
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750 752 752 753 754 756 758
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763 763 763 766 767 771 772 776 777 778 780 781
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XXX
5 Absicherung des Pflegerisikos durch die Pflegeversicherung . 5.1 Ziele, Prinzipien und Konstruktionsmerkmale . . . . . 5.2 Soziale Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Private Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . 6 Leistungen der Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . 6.1 Leistungsbeträge und Pflegegrad . . . . . . . . . . . 6.2 Leistungen bei häuslicher Pflege . . . . . . . . . . . 6.3 Leistungen bei und Kosten der stationären Pflege . . . 6.4 Leistungsvergütungen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Verteilung auf Leistungsarten und Empfänger:innen . 7 Angebotsstrukturen und Personalausstattung . . . . . . . . 7.1 Ambulante Dienste und Pflegeheime . . . . . . . . . 7.2 Personalausstattung und -situation . . . . . . . . . . 8 Steuerung, Beratung, Vernetzung und Qualitätssicherung . . 8.1 Sicherstellungsauftrag der Pflegekassen . . . . . . . 8.2 Steuerung des Versorgungsgeschehens . . . . . . . . 8.3 Pflegeberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Pflegequalität und Qualitätssicherung . . . . . . . . 9 Finanzierung und Finanzentwicklung der Pflegeversicherung 9.1 Beitragsfinanzierung und -anpassung . . . . . . . . . 9.2 Entwicklung von Einnahmen und Ausgaben . . . . . 10 Stellung der Pflegeversicherung im System der sozialen Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Pflegeversicherung und Sozialhilfe . . . . . . . . . . 10.2 Pflegeversicherung und Krankenversicherung . . . . 11 Herausforderungen und Reformbedarfe . . . . . . . . . . . 11.1 Folgewirkungen des demografischen und sozialen Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Personalbedarf und Personalgewinnung . . . . . . . 11.3 Entlastung der Pflege durch Technikeinsatz und Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Stärkung der Finanzierungsbasis der Pflegeversicherung 11.5 Leistungsrechtliche Reformbedarfe . . . . . . . . . . 12 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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784 784 786 788 789 790 792 794 798 798 802 802 804 807 807 810 811 813 815 815 816
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820 820 822 824
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824 826
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828 829 831 833
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Inhalt
Kapitel X: Familie und Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Familien und Familienpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Familien und Familienfunktionen . . . . . . . . . . . . 1.2 Aufgaben von Familienpolitik . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Politik für Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Wandel der familiären Lebensformen und der Geschlechterrollen 3 Lebensformen und Familienstrukturen im Überblick . . . . . . 3.1 Lebensformen und Haushaltstypen . . . . . . . . . . . 3.2 Geburtenrate, Heirats- und Scheidungshäufigkeit . . . . 3.3 Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Familien und Kinder der ausländischen Bevölkerung . . 4 Geburtenziffern und Kinderlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Geburtenhäufigkeit und demografischer Wandel . . . . 4.2 Entscheidungen für oder gegen Kinder . . . . . . . . . 4.3 Leben mit Kindern in einer Markt- und Konkurrenzgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Kinderlose: Ein Leben auf Kosten der „Kinder der anderen“ ? 5 Einkommens- und Lebenslagen von Familien . . . . . . . . . 5.1 Steigende Ausgaben und sinkende Einkommen . . . . 5.2 Determinanten von Einkommen und Unterhaltskosten . 5.3 Einkommenslagen im Vergleich . . . . . . . . . . . . . 5.4 Familien und Kinder in Armut . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Familien und Kinder in der Grundsicherung . . . . . . . 5.6 Einkommens- und Lebenslage von Alleinerziehenden . 6 Geldleistungen der Familienpolitik und Familienleistungsausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Kinderbezogene Leistungen . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Zielsetzungen des Familienleistungsausgleichs . . . . . 6.1.2 Kindergeld und Kinderfreibeträge, . . . . . . . . . . . 6.1.3 Kinderzuschlag und Leistungen zur Bildung und Teilhabe 6.2 Elterngeld und ElterngeldPlus . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Ausbildungsfinanzierung und Ausbildungsförderung . . 6.4 Ehebezogene Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Abgeleitete soziale Sicherung in der Sozialversicherung 6.4.2 Ehegattensplitting im Steuerrecht . . . . . . . . . . . 6.5 Unterhaltsvorschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Die familienpolitischen Leistungen im Überblick . . . . 7 Vereinbarkeit von Beruf und Familie . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Phasenerwerbstätigkeit oder Parallelität von Beruf und Familie ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Erwerbstätigkeit von Müttern und Vätern . . . . . . . .
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837 837 837 838 841 842 847 847 853 855 857 858 858 859
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861 864 865 865 867 869 870 873 875
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879 880 881 884 886 887 889 889 889 890 891 892 894
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894 896
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8 Kinderbetreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Tageseinrichtungen für Kinder . . . . . . . . . . 8.2 Ergänzende Versorgungsangebote . . . . . . . . 9 Familiengerechte Gestaltung der Arbeitswelt . . . . . . 9.1 Anforderungen von Arbeitswelt und Kindererziehung 9.2 Elternzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Gestaltung von Teilzeitarbeit . . . . . . . . . . . 9.4 Freistellung bei Krankheit des Kindes oder bei einem Pflegefall . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Kinder- und Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe . . . . . 10.2 Hilfen zur Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . 11 Reformbedarfe und Reformoptionen . . . . . . . . . . 11.1 Neuordnung des Familienleistungsausgleichs: Kindergrundsicherung ? . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Elterngeld als Versicherungsleistung . . . . . . . 11.3 Abschaffung des Ehegattensplittings . . . . . . . 11.4 Vorrang für den Ausbau der familien- und kinderbezogenen Infrastruktur . . . . . . . . . . 12 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Inhalt
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899 899 905 906 906 909 911
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912 912 912 914 916
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Kapitel XI: Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Lebenslagen und soziale Ungleichheiten im Alter . . . . . . 2 Folgewirkungen des demografischen und sozialen Wandels . 2.1 Kollektives Altern in einer Gesellschaft des langen Lebens 2.2 Strukturwandel des Alter(n)s . . . . . . . . . . . . . 2.3 Generationensolidarität oder Generationenkonflikt ? . 2.3.1 Familiäre Generationenbeziehungen . . . . . . . . . 2.3.2 Ältere Menschen als ökonomische Belastung ? . . . . 3 Das Altern der Gesellschaft als (sozial)politischer Gestaltungsauftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Altenpolitik und Sozialpolitik für ältere Menschen . . . 3.2 Auf dem Weg zu neuen Altersrollen ? . . . . . . . . . 4 Alterserwerbstätigkeit und Altersübergänge . . . . . . . . . 4.1 Berufsaustritt und Altersgrenzen . . . . . . . . . . . 4.2 Paradigmenwechsel in der Alterserwerbstätigkeit . . . 4.3 Beschäftigung im rentennahen Alter . . . . . . . . . 4.4 Rentenzugänge und Übergangsentscheidungen . . . 4.5 Arbeit trotz Rente . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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923 923 926 926 929 932 932 936
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939 939 940 942 942 943 945 947 949
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Inhalt
5 Alterssicherung: Ziele, Gestaltungsformen und Systeme . . 5.1 Ziele der Alterssicherung . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Gestaltungsformen der Alterssicherung . . . . . . . 5.2.1 Familiäre Unterstützung . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Private Altersvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Betriebliche Altersvorsorge . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Staatlich organisierte Altersvorsorge: Gesetzliche Alterssicherungssysteme . . . . . . . . 5.3 Das deutsche Alterssicherungssystem im Überblick . 6 Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Versicherungsprinzip und Solidarausgleich . . . . . 6.2 Versicherte Personen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Leistungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Rentenarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Altersrenten, Altersgrenzen, Teilrenten und Abschläge 6.4.2 Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit . . . 6.4.3 Hinterbliebenenrenten . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Rentenberechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.1 Rentenformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2 Entgeltpunkte und Elemente des sozialen Ausgleichs 6.5.3 Der aktuelle Rentenwert . . . . . . . . . . . . . . 6.5.4 Rentenberechnung in den neuen Bundesländern . . 6.5.5 Rentenanpassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.6 Bruttorenten, Nettorenten und Rentenbesteuerung . 6.6 Höhe und Verteilung der Renten . . . . . . . . . . 6.6.1 Rentenniveau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.2 Durchschnittsrenten und Rentenschichtung . . . . 6.6.3 Ein Blick in die Zukunft: Zunahme von Niedrigrenten 6.7 Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7.1 Beitragseinnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7.2 Bundeszuschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7.3 Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7.4 Finanzierung im Umlageverfahren . . . . . . . . . 6.8 Finanzierungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . 6.9 Organisationsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Regelsysteme neben der Rentenversicherung . . . . . . . 7.1 Beamtenversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Alterssicherung der Landwirte . . . . . . . . . . . 7.3 Künstlersozialversicherung . . . . . . . . . . . . . 7.4 Berufsständische Versorgungswerke . . . . . . . .
XXXIII
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952 952 953 953 954 958
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960 964 967 967 970 972 974 974 977 981 984 984 985 989 990 991 994 995 996 998 1005 1008 1008 1010 1012 1013 1013 1016 1017 1017 1022 1023 1024
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XXXIV
8 Betriebliche und private Altersvorsorge . . . . . . . . . . . 8.1 Betriebliche Altersvorsorge . . . . . . . . . . . . . . 8.1.1 Ausgestaltungsformen und Durchführungswege . . . 8.1.2 Unverfallbarkeit, Insolvenzsicherung, Rentenanpassung 8.1.3 Entgeltumwandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.4 Verbreitung und Rentenhöhe . . . . . . . . . . . . . 8.1.5 Sozialpartnermodell . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.6 Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst . . . . . . . 8.2 Private Altersvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Staatliche Förderung (Riester-Rente) . . . . . . . . . 9 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung . . . . 9.1 Empfängerkreis, Bedarf und Bedürftigkeit . . . . . . . 9.2 Empfängerzahlen und -strukturen . . . . . . . . . . 9.3 Träger, Ausgaben und Finanzierung . . . . . . . . . . 9.4 Grundsicherungsbezug und Renten . . . . . . . . . . 10 Einkommensverteilung im Alter und Altersarmut . . . . . . 10.1 Einkommensquellen und Einkommensschichtung . . 10.2 Altersarmut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Alterssicherung im europäischen Vergleich . . . . . . . . . 11.1 Vielfalt der Systeme und der Sicherungsziele . . . . . 11.2 Länderbeispiele: Niederlande, Schweiz, Großbritannien, Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Finanzierung der Alterssicherung und demografische Belastungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Demografie und gesamtwirtschaftliche Entwicklung . 12.2 Benachteiligung der Jüngeren ? Renditen im Generationenvergleich . . . . . . . . . . 13 Reformbedarfe und -optionen . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1 Lebensstandardsicherung: Rentenversicherung oder Kapitalmarkt ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Vermeidung von Altersarmut . . . . . . . . . . . . . 13.3 Erwerbstätigenversicherung . . . . . . . . . . . . . 13.4 Weitere Heraufsetzung und Dynamisierung der Regelaltersgrenze ? . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5 Flexibel und gleitend in den Ruhestand ? . . . . . . . 14 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Inhalt
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Inhalt
Kapitel XII: Soziale Dienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Hilfebedürftigkeit, soziale Probleme und soziale Dienste . . . . . 1.1 Was sind soziale Dienste ? . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Soziale Dienste als Reaktion auf soziale Probleme . . . . . 2 Soziale Dienste: Grundlagen, Strukturen und Trends . . . . . . . 2.1 Charakteristika sozialer Dienstleistungen . . . . . . . . . 2.2 Soziale Dienste zwischen Staat und Markt . . . . . . . . . 2.3 Träger, Angebote und Beschäftigung im Überblick . . . . 2.4 Leistungsausweitung und -differenzierung . . . . . . . . 2.5 Die beschäftigungs- und gesellschaftspolitische Bedeutung sozialer Dienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Rechtliche Grundlagen sozialer Dienste . . . . . . . . . . 3 Träger und Anbieter sozialer Dienste . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Öffentliche Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Sozialversicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Kreisfreie Städte, (Land-)Kreise und Gemeinden . . . . . . 3.2 Freie Wohlfahrtspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die Wohlfahrtsverbände und ihre Bedeutung . . . . . . . 3.2.2 Gemeinnützigkeit und Subsidiaritätsprinzip . . . . . . . 3.2.3 Freie Wohlfahrtspflege unter Legitimationsund Anpassungsdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Koordination, Wohlfahrtsmix und Sozialplanung als Aufgaben der kommunalen Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Koordination sozialer Dienste . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Kommunale Sozialplanung . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Finanzierung: Grundlagen, Strukturen und Verfahren . . . . . . 5.1 Finanzierung der Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Öffentliche Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Freigemeinnützige Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Privat-gewerbliche Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Finanzierungsformen und -verfahren . . . . . . . . . . . 5.3 Finanzierung und Erbringung sozialer Dienste im „sozialwirtschaftlichen Dreieck“ . . . . . . . . . . . . 5.4 Wechsel von der Objekt- zur Subjektförderung: Persönliches Budget und Gutscheinvergabe . . . . . . . 6 Ökonomisierung des Sozialen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Privatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Höhere Effektivität und Effizienz der Leistungserfüllung durch marktförmige Steuerung ? . . . . . . . . . . . . .
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Technisierung und Digitalisierung sozialer Dienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Wettbewerbsdruck: Zu Lasten der Versorgung und des Personals ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Qualität und Qualitätssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Grundlagen und Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Interne und externe Qualitätssicherung, Qualitätsentwicklung und Nutzerbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Nicht-professionelle Hilfe- und Unterstützungsleistungen . . . . . 8.1 Individuelle Selbst- und Familienhilfe . . . . . . . . . . . . 8.2 Bürgerschaftliches Engagement . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Sozial-bürgerschaftliches Engagement . . . . . . . . . . . 8.3.1 Soziales Ehrenamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Soziale Hilfen im Nahraum und Unterstützung durch „kleine Netze“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.3 Soziale Selbsthilfegruppen, -projekte und Selbsthilfeinitiativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.4 Förderstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Alternative oder Ergänzung zu professionellen sozialen Diensten ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Inhalt
6.3
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Die Autoren
Gerhard Bäcker Geb. 1947, Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität zu Köln, Abschluss als Dipl. Volkswirt. 1973 bis 1977 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Sozialpolitik der Universität zu Köln (bei Prof. Dr. Otto Blume) und am Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik Köln. 1977 bis 1995 wissenschaftlicher Referent am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. 1981 Promotion an der Universität Bremen. 1995 bis 2002 Professor für Politik, insbesondere Sozialpolitik am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Niederrhein. 2002 bis 2012 Professor für Soziologie, insbesondere Soziologie des Sozialstaats, an der Universität Duisburg-Essen. 2005 bis 2011 Dekan der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften. Ab Sommersemester 2012 pensioniert und Senior Professor am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen und Senior Fellow der Hans-Böckler-Stiftung. Reinhard Bispinck Geb. 1951, Studium der Volkswirtschaftslehre, Soziologie und Sozialpolitik an der Universität zu Köln, Abschluss als Dipl. Volkswirt sozialwissenschaftlicher Richtung. 1976 bis 1979 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Sozialpolitik der Universität zu Köln (bei Prof. Dr. Otto Blume). 1977 bis 1979 Dozent für Sozialpolitik an der Sozialakademie in Dortmund. 1979 bis 2017 wissenschaftlicher Referent am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. 1987 Promotion an der Universität Bremen. Seit 1989 wissenschaftlicher Leiter des WSITarifarchivs, seit 2013 Abteilungsleiter des WSI. Seit Mai 2017 im Ruhestand.
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Die Autoren
Gerhard Naegele Geb. 1948, nach Ausbildung zum Industriekaufmann Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften mit Schwerpunkt Sozialpolitik an der Universität zu Köln. Abschlüsse als Dipl. Kaufmann und Dipl. Handelslehrer. 1972 bis 1975 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Sozialpolitik der Universität zu Köln (bei Prof. Dr. Otto Blume). 1976 Promotion zum Thema „Soziale Ungleichheit im Alter“. 1976 bis 1981 Geschäftsführer des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik e. V. Köln. 1981 bis 1992 Professor für Kommunale Sozialpolitik an der FH Dortmund. 1992 Habilitation an der Universität Kassel zum Thema „Zwischen Arbeit und Rente“. 1992 bis 2013 Inhaber des Lehrstuhls für Soziale Gerontologie der TU Dortmund; 1992 bis 2015 Direktor, seit 2015 wissenschaftlicher Berater des Instituts für Gerontologie an der TU Dortmund. Gastprofessuren am Department for Gerontology an der Akdeniz University Antalya (Türkei) und an der Medical University of Taipeh (Taiwan).
Verzeichnis der Abbildungen
Kapitel I: Sozialpolitik und soziale Lage Abbildung I.1 Sozialstaat Deutschland
. . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel II: Ökonomische Grundlagen und Finanzierung Abbildung II.1 Sozialpolitik in der Marktwirtschaft . . . . . . . . . Abbildung II.2 Sozialbudget: Struktur der Sozialleistungen nach Leistungsarten 2018 . . . . . . . . . . . . . Abbildung II.3 Sozialleistungsquote 1980 – 2018 . . . . . . . . . . Abbildung II.4 Finanzierung der Sozialpolitik im Wirtschaftskreislauf Abbildung II.5 Beitragsabzüge bei Mini- und Midijobs . . . . . . . Abbildung II.6 Ausgabenstruktur des Bundeshaushaltes 2019 . . . Abbildung II.7 Abgabenquoten 1995 – 2018 . . . . . . . . . . . . Abbildung II.8 Finanzierung der Sozialleistungen nach Arten in ausgewählten EU-Ländern 2017 . . . . . . . . . Abbildung II.9 Soziale Leistungen in den Kommunalhaushalten der Flächenländer 2017 . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung II.10 Beitrags- und Steuerabzüge bei Arbeitnehmer:innen im Einkommensbereich zwischen 450 und 6 800 Euro, 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung II.11 Durchschnittliche Nettolöhne, Bruttolöhne und Arbeitskosten je Arbeitnehmer:in im Monat, 1991 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung II.12 Lohn- bzw. Personalnebenkosten . . . . . . . . . . Abbildung II.13 Erwerbstätige und sozialversicherungspflichtig Beschäftigte 1992 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . Abbildung II.14 Zusammengefasste Geburtenziffer 1980 – 2018 . . . Abbildung II.15 Fernere Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren 1901 – 2060 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung II.16 Wanderungen zwischen Deutschland und dem Ausland 1992 – 2018 . . . . . . . . . . . . . .
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65 69 77 86 92 95
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107 108
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117 126
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XL
Abbildung II.17 Abbildung II.18
Verzeichnis der Abbildungen
Demografische Quotienten: Alten-, Jugendund Gesamtquotient 1990 – 2060 . . . . . . . . . . . . . Lohnstückkostenentwicklung im Euro-Raum, 2000 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel III: Einkommen Abbildung III.1 Einkommensarten . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung III.2 Entwicklung der Bruttolöhne/-gehälter sowie Unternehmens- und Vermögenseinkommen 1995 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung III.3 Durchschnittliche Bruttostundenverdienste in ausgewählten Hoch- und Niedriglohnbranchen 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung III.4 Durchschnittliche Bruttostundenverdienste nach Geschlecht in ausgewählten Branchen 2018 . . Abbildung III.5 Niedriglohnbeschäftigte 1995 – 2016 . . . . . . . . Abbildung III.6 Struktur der Niedriglohnbeschäftigten 2016 . . . . Abbildung III.7 Durchschnittliche Bruttoeinkommen und verfügbare Einkommen privater Haushalte 2017 . . Abbildung III.8 Schichtung der Bevölkerung nach relativer Einkommensposition 1985 – 2016 . . . . . . . . . . Abbildung III.9 Gini-Koeffizient der verfügbaren Haushaltseinkommen 1991 – 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung III.10 Entwicklung des durchschnittlichen verfügbaren Haushaltseinkommens nach Dezilen 1991 – 2016 . . Abbildung III.11 Einkommensungleichheit von Markteinkommen und verfügbarem Einkommen seit 1991 – 2015 . . . Abbildung III.12 Grenz- und Durchschnittssteuersätze 2019 . . . . . Abbildung III.13 Grundsicherungssysteme . . . . . . . . . . . . . . Abbildung III.14 Empfänger von Leistungen der Grundsicherung insgesamt, am Jahresende 2018 . . . . . . . . . . Abbildung III.15 Bedarfe der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach Bedarfsgemeinschaften 05/2019 . . . . . . . . . . Abbildung III.16 Leistungsempfänger:innen der Grundsicherung für Arbeitsuchende 2005 – 2018 . . . . . . . . . . . Abbildung III.17 Empfängerquoten von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende 2007 – 2018 . . . . . . . . . . . Abbildung III.18 Erwerbsfähige Leistungsempfänger:innen der Grundsicherung: Arbeitslose und Nichtarbeitslose, 2018 . . . . . . . . . . . . . . .
131 146
. . .
173
. . .
180
. . .
184
. . . . . . . . .
186 188 189
. . .
198
. . .
201
. . .
202
. . .
203
. . . . . . . . .
204 209 247
. . .
248
. . .
261
. . .
263
. . .
264
. . .
265
Verzeichnis der Abbildungen
Abbildung III.19 Empfängerquoten von Grundsicherung für Arbeitsuchende nach Typ der Bedarfsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . Abbildung III.20 Ausgaben für Leistungen nach dem SGB II 2010 – 2018 und Ausgabenarten 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung III.21 Bruttoausgaben der Sozialhilfe 1995 – 2018 . . . . . . . . Abbildung III.22 Empfänger von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz 1994 – 2018 . . . . . . . . . Abbildung III.23 Empfängerhaushalte von Wohngeld 2005 – 2018 . . . . . Abbildung III.24 Armutsgefährdungsquoten in % der Bevölkerung 2005 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung III.25 Armutsgefährdungsquoten in Großstädten mit über 500 000 Einwohnern 2018 . . . . . . . . . . . . . . Abbildung III.26 Armutsgefährdungsquoten von besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen 2018 . . . . . . . . . Abbildung III.27 Armutsgefährdungsquoten nach ausgewählten Merkmalen 2005 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung III.28 Empfängerquoten von Leistungen des SGB II in ausgewählten Städten/Kreisen 2018 . . . . . . . . . . Abbildung III.29 Armutsrisikoquoten in ausgewählten Ländern der EU 28, 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung III.30 Verteilung der individuellen Nettovermögen 2017 und der Nettovermögen der Haushalte 2013 . . . . . . . . .
Kapitel IV: Arbeitsbeziehungen Abbildung IV.1 Gewerkschaftlicher Organisationsgrad 1990 – 2018 . . . . Abbildung IV.2 Tarifbindung der Beschäftigten nach Branchen 2018 . . . Abbildung IV.3 Tarifbindung der Beschäftigten und Betriebe 1998 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung IV.4 Allgemeinverbindliche Tarifverträge 1991 – 2016 . . . . . Abbildung IV.5 Typisierter Ablauf einer Tarifrunde . . . . . . . . . . . . Abbildung IV.6 Streikende und Streiktage 2004 – 2018 . . . . . . . . . . Abbildung IV.7 Entwicklung der Tarifvergütungen in ausgewählten Branchen 2000 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung IV.8 Tarifvertragliche Entgeltgruppen und gesetzlicher Mindestlohn 2010 – 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung IV.9 Branchenmindestlöhne in Euro/Stunde 2019 . . . . . . . Abbildung IV.10 Tarifliche Wochenarbeitszeit 1984 – 2018 . . . . . . . . . Abbildung IV.11 Nutzung tariflicher Öffnungs- und Differenzierungsklauseln, Anteile der tarifgebundenen Betriebe . . . . . . . . . . Abbildung IV.12 Dezentralisierung der Tarifpolitik . . . . . . . . . . . . .
XLI
266 270 275 277 280 287 288 289 290 294 299 301
319 336 337 340 342 345 348 353 354 355 366 367
XLII
Verzeichnis der Abbildungen
Abbildung IV.13 Betriebe und Beschäftigte mit Betriebsrat nach Branchen 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung IV.14 Womit hat sich der Betriebsrat besonders beschäftigt ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung IV.15 Betriebsvereinbarungen nach ausgewählten Regelungsbereichen 2017 . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel V: Arbeit und Arbeitsmarkt Abbildung V.1 Struktur des Arbeitsmarktes im Überblick . . . . . . . . Abbildung V.2 Erwerbstätige und sozialversicherungspflichtig Beschäftigte 1992 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung V.3 Erwerbstätige nach Wirtschaftsbereichen 1991 – 2018 . . Abbildung V.4 Erwerbsquoten nach Geschlecht, alte und neue Länder 1991 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung V.5 Teilzeitbeschäftigung nach Geschlecht 2000 – 2018 . . . Abbildung V.6 Erwerbstätigenquoten Älterer nach Altersjahren 2012 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung V.7 Ausländische Bevölkerung und ausländische Erwerbspersonen 2000 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . Abbildung V.8 Abhängig Beschäftigte in Vollzeitarbeit und in atypischen Erwerbsformen 2000 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung V.9 Teilzeitquoten nach Lebensalter, Männer und Frauen 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung V.10 Beschäftigte in Minijobs 2003 – 2018, Nebenbeschäftigte und Hauptbeschäftigte . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung V.11 Überlassene Leiharbeitnehmer:innen 1994 – 2018 . . . . Abbildung V.12 Bruttoinlandsprodukt, Arbeitsproduktivität, Erwerbstätige, Arbeitsvolumen und Arbeitszeit, 1991 – 2018 . . . . . . Abbildung V.13 Arbeitslose und Arbeitslosenquoten 1975 – 2018 . . . . Abbildung V.14 Registrierte Arbeitslose und stille Reserve 1998 – 2016 . Abbildung V.15 Zugang in Arbeitslosigkeit nach Herkunftsstruktur 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung V.16 Langzeitarbeitslose 1993 – 2018 . . . . . . . . . . . . . Abbildung V.17 Abgang aus Arbeitslosigkeit nach Abgangsgründen 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung V.18 Ausgewählte Städte und Landkreise mit niedriger und hoher Arbeitslosigkeit, Arbeitslosenquoten und Zahl der Arbeitslosen, April 2019 . . . . . . . . . . . . Abbildung V.19 Arbeitslosenquoten ausgewählter Personengruppen 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung V.20 Ältere Arbeitslose 2001 – 2018 . . . . . . . . . . . . . .
371 372 374
.
389
. .
390 393
. .
394 395
.
397
.
398
.
403
.
405
. .
407 412
. . .
427 432 436
. .
439 442
.
444
.
445
. .
447 448
Verzeichnis der Abbildungen
Abbildung V.21 Abbildung V.22 Abbildung V.23 Abbildung V.24 Abbildung V.25 Abbildung V.26 Abbildung V.27 Abbildung V.28 Abbildung V.29 Abbildung V.30 Abbildung V.31 Abbildung V.32 Abbildung V.33 Abbildung V.34
Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten 1991 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitslose und gemeldete offene Arbeitsstellen 2000 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitslosenquoten in ausgewählten EU-Ländern 2000 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Durchschnittliche Zahlbeträge von Arbeitslosengeld, Männer und Frauen, 2005 – 2018 . . . . . . . . . . Sperrzeitenquoten 2004 – 2018 . . . . . . . . . . . Beitragseinnahmen der Bundesagentur für Arbeit und Beitragssätze 2004 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . Erwerbstätige ALG II-Empfänger 2007 – 2018 . . . . Arbeitslose im SGB III und SGBII 2018 . . . . . . . . Arbeitslose in den Rechtskreisen SGB II und SGB III, 2005 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegungen auf dem Arbeitsmarkt und Maßnahmen der Arbeitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . Teilnehmende an Maßnahmen der Arbeitsförderung 2006 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eingliederungszuschuss, SGB II, SGB III und insgesamt, 2006 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Förderung der Selbstständigkeit 2006 – 2018 . . . . Geförderte Personen in Arbeitsgelegenheiten 2006 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel VI: Qualifikation Abbildung VI.1 Das Bildungssystem in Deutschland . . . . . . . . Abbildung VI.2 Schüler:innen im 8. Schuljahr nach Schularten 1955 – 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VI.3 Studienberechtigtenquote nach Art der Hochschulreife 1970 – 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VI.4 Allgemeiner Schulabschluss der Bevölkerung 2018 nach Altersgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VI.5 Beruflicher Bildungsabschluss der Bevölkerung 2018 nach Altersgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VI.6 Personen mit hoher und mit geringer Bildung 2015 . Abbildung VI.7 Zusammenhang zwischen Elternhaus und Wahl der Schulart in Klasse 5 . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VI.8 Neuzugänge in die drei Sektoren des beruflichen Ausbildungssystems 2005 – 2017 . . . . . . . . . . Abbildung VI.9 Schüler:innen an beruflichen Schulen 2004 – 2018 .
XLIII
. . .
450
. . .
451
. . .
453
. . . . . .
460 463
. . . . . . . . .
465 467 470
. . .
471
. . .
483
. . .
495
. . . . . .
496 497
. . .
498
. . .
520
. . .
521
. . .
522
. . .
524
. . . . . .
525 526
. . .
530
. . . . . .
534 537
XLIV
Verzeichnis der Abbildungen
Abbildung VI.10 Ausbildungs- und Ausbildungsbetriebsquoten 1999 – 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VI.11 Auszubildende in den 10 am stärksten besetzten Ausbildungsberufen 2018 . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VI.12 Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsstellenmarkt 1992 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VI.13 Neuzugänge in den Übergangssektor 2005 – 2017 . . . Abbildung VI.14 Tarifliche Ausbildungsvergütung in ausgewählten Berufen 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VI.15 Arbeitslosenquoten Jüngerer 2000 – 2018 . . . . . . . . Abbildung VI.16 Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten 2000 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VI.17 Geförderte in der beruflichen Weiterbildung 1994 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel VII: Arbeit und Gesundheit Abbildung VII.1 Entwicklung des Krankenstands 1995 – 2018 . . . . . Abbildung VII.2 Arbeitsunfähigkeitsfälle und -dauer von AOK-Mitgliedern nach Lebensalter 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VII.3 Arbeitsunfähigkeitstage von AOK-Mitgliedern nach ausgewählten Berufsgruppen 2018 . . . . . . . Abbildung VII.4 Entwicklung der Berufskrankheiten 1995 – 2017 . . . . Abbildung VII.5 Meldepflichtige Arbeitsunfälle nach ausgewählten Bereichen 1990 – 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VII.6 Das Arbeitsschutzsystem in Deutschland . . . . . . . Abbildung VII.7 Beginn der Arbeitsunfähigkeit nach Wochentag 2018 . Abbildung VII.8 Arbeitsunfähigkeit nach Fällen und Tagen 2018 . . . .
Kapitel VIII: Gesundheit und Gesundheitssystem Abbildung VIII.1 Kranke nach Altersgruppen und Geschlecht 2017 . . . Abbildung VIII.2 Arbeitsunfähigkeit nach Krankheitsarten, AOK-Mitglieder 1999 und 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VIII.3 Neuzugänge in Erwerbsminderungsrenten nach Diagnosegruppen 1995 – 2018 . . . . . . . . . . Abbildung VIII.4 Todesursachen nach Krankheitsarten 2017 . . . . . . Abbildung VIII.5 Schwerbehinderte und Schwerbehindertenquote nach Altersgruppen 2017 . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VIII.6 Lebenserwartung bei Geburt und ab 65 Jahren nach Einkommensposition . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VIII.7 Gesundheitsausgaben nach Einrichtungen 2017 . . .
.
545
.
547
. .
550 554
. .
557 563
.
565
.
574
. .
594
. .
595
. . . .
596 598
. . . .
. . . .
600 603 619 620
. .
639
. .
641
. . . .
642 642
. .
644
. . . .
646 667
Verzeichnis der Abbildungen
Abbildung VIII.8 Abbildung VIII.9 Abbildung VIII.10 Abbildung VIII.11 Abbildung VIII.12 Abbildung VIII.13 Abbildung VIII.14 Abbildung VIII.15 Abbildung VIII.16 Abbildung VIII.17 Abbildung VIII.18 Abbildung VIII.19 Abbildung VIII.20 Abbildung VIII.21 Abbildung VIII.22 Abbildung VIII.23 Abbildung VIII.24
XLV
Gesundheitsausgaben nach Ausgabenträgern 2017 . . Beschäftigte im Gesundheitswesen 2017 . . . . . . . . Struktur der Ärzteschaft 2018 . . . . . . . . . . . . . . Ärzt:innen und Arztdichte 1995 – 2018 . . . . . . . . . Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung 2000 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung nach Leistungsarten 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen durch den Gesundheitsfonds 2019 . . . . . . . . . . . . . . Versicherte nach Kassenarten 2018 . . . . . . . . . . . An der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen 2018 . . . . . . Leistungs- und Vertragsbeziehungen in der ambulanten Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quartals Honorare je Vertragsarzt, 4. Quartal 2017 . . . Krankenhäuser und Betten nach Trägerschaft 1992 – 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ärztliches Personal und Pflegepersonal in Krankenhäusern 1991 – 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankenhausfälle nach Lebensalter 2017 . . . . . . . . Entwicklung der Krankenhausversorgung 1991 – 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beitragssatzentwicklung in der GKV und Anteil der GKV-Ausgaben am BIP 2000 – 2018 . . . . . . . . . Entwicklung von BIP, GKV-Ausgaben und beitragspflichtigen Einnahmen 1995 – 2018 . . . . . . .
Kapitel IX: Pflegebedürftigkeit und Pflege Abbildung IX.1 Leistungsempfänger:innen in der sozialen Pflegeversicherung 1995 – 2018 . . . . . . . . . . . . Abbildung IX.2 Pflegebedürftige und Pflegequote 1999 – 2017 . . . . Abbildung IX.3 Pflegebedürftige und Pflegequoten nach Altersgruppen 2017 am Jahresende . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung IX.4 Pflegebedürftige 2017 nach Art der pflegerischen Versorgung und nach Pflegegraden . . . . . . . . . Abbildung IX.5 Pflegebedürftige nach Art der Versorgung 1999 – 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung IX.6 Leistungen der Pflegeversicherung . . . . . . . . . . Abbildung IX.7 Eigenanteile bei einer Heimunterbringung nach Bundesländern 2019 . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
668 669 670 670
.
674
.
679
. .
681 688
.
701
. .
703 712
.
721
. .
722 723
.
724
.
746
.
747
. . . .
767 768
. .
769
. .
771
. . . .
775 789
. .
797
XLVI
Abbildung IX.8 Abbildung IX.9 Abbildung IX.10 Abbildung IX.11 Abbildung IX.12 Abbildung IX.13 Abbildung IX.14 Abbildung IX.15 Abbildung IX.16 Abbildung IX.17
Verzeichnis der Abbildungen
Leistungsempfänger:innen nach Pflegegraden, häusliche und stationäre Pflege 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungsempfänger:innen der sozialen Pflegeversicherung nach Leistungsarten 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungsempfänger:innen der sozialen Pflegeversicherung nach Leistungsarten 1996 – 2017 . . . . . . . . . . . . . Ambulante und stationäre Pflegedienste nach Trägern 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personal in der stationären und ambulanten Pflege 1999 – 2017 nach Beschäftigungsverhältnissen . . . . . . Leistungs- und Vertragsbeziehungen in der pflegerischen Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung nach Leistungsarten 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgabenentwicklung der sozialen Pflegeversicherung 1997 – 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finanzentwicklung der sozialen Pflegeversicherung 1997 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfänger:innen von Hilfe zur Pflege 1992 – 2018 . . . . .
Kapitel X: Familie und Kinder Abbildung X.1 Familien nach Familientyp 1996 – 2018 . . . . . . . . . Abbildung X.2 Lebensformen der Bevölkerung 1998 und 2018 . . . . . Abbildung X.3 Lebensformen der Bevölkerung nach Lebensalter 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung X.4 Kinder nach Zahl der ledigen Geschwister 1998 und 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung X.5 Anteil der Frauen ohne Kinder 2018 nach Geburtsjahrgängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung X.6 Armutsrisikoquoten von Kindern und in Haushalten mit Kindern 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung X.7 Armutsrisikoquoten familiärer Lebensformen 2005 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung X.8 Struktur der Bedarfsgemeinschaften mit Leistungen nach dem SGB II 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung X.9 Empfängerquoten der Grundsicherung für Arbeitsuchende 2005 – 2018 . . . . . . . . . . . . . Abbildung X.10 Empfängerquoten der Grundsicherung für Arbeitsuchende unter 18 Jahren 09/2019 in Nordrhein-Westfalen . . . . Abbildung X.11 Struktur der Alleinerziehenden 2018 . . . . . . . . . .
799 800 801 802 805 810 817 818 819 821
. .
850 851
.
853
.
856
.
861
.
871
.
872
.
874
.
874
. .
875 876
Verzeichnis der Abbildungen
Abbildung X.12 Abbildung X.13 Abbildung X.14 Abbildung X.15 Abbildung X.16 Abbildung X.17
XLVII
Erwerbstätigenquoten von Müttern und Vätern nach Alter des jüngsten Kindes 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . Erwerbstätigenquoten von Müttern nach Zahl der Kinder 2018, Voll-/Teilzeittätigkeit . . . . . . . . . Trägerschaft der Tageseinrichtungen für Kinder 2019 . . Betreuungsquoten von Kindern unter 3 Jahren 2007 – 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ganztagsbetreuungsquoten von Kindern 2018 . . . . . Ausgaben der Kinder- und Jugendhilfe 2001 – 2018 . . .
Kapitel XI: Alter Abbildung XI.1 Entwicklung von Bevölkerung und Altersstruktur 1960 – 2060 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.2 Bevölkerung im Alter 80 Jahre und älter 1950 – 2060 Abbildung XI.3 Bevölkerung nach Altersgruppen und Geschlecht Jahresende 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.4 Erwerbstätigenquoten Älterer nach Altersjahren und Geschlecht 2012 – 2018 . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.5 Sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im rentennahen Alter 2000 und 2018 . . . . . . . Abbildung XI.6 Zugänge von Altersrenten nach Rentenarten 1996 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.7 Erwerbstätige und Erwerbstätigenquote in der Altersgruppe 65 Jahre u. älter, 2000 – 2018 . . Abbildung XI.8 Schichten der Alterssicherung in Deutschland . . Abbildung XI.9 Rentenbestand nach Rentenarten 2018 . . . . . . Abbildung XI.10 Durchschnittliches Rentenzugangsalter und Rentenbezugsdauer 1980 – 2018 . . . . . . . Abbildung XI.11 Zugänge von Alters- und Erwerbsminderungsrenten 1996 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.12 Anpassung der Bruttorenten in den alten und neuen Bundesländern 1991 – 2019 . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.13 Entwicklung des Nettorentenniveaus vor Steuern 1990 – 2033 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.14 Durchschnittliche Monatsrenten im Bestand nach Rentenart und Geschlecht 2018 . . . . . . . Abbildung XI.15 Verteilung der monatlichen Altersrenten im Bestand 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.16 Verteilung der Witwenrenten und der Altersrenten von Frauen, monatliche Zahlbeträge 2018 . . . .
.
897
. .
898 901
. . .
902 903 915
. . . . . . .
927 928
. . . .
931
. . . .
946
. . . .
947
. . . .
948
. . . . . . . . . . . .
950 965 972
. . . .
973
. . . .
978
. . . .
993
. . . .
997
. . . .
999
. . . . 1001 . . . . 1002
XLVIII
Verzeichnis der Abbildungen
Abbildung XI.17 Verteilung der Erwerbsminderungsrenten im Zugang 2018, monatliche Zahlbeträge . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.18 Beitragssätze zur gesetzlichen Rentenversicherung und GRV-Anteil am BIP 1990 – 2019 . . . . . . . . . . Abbildung XI.19 Anzahl der aktiven Anwartschaften der betrieblichen Altersversorgung 2001 – 2015 . . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.20 Beschäftigte mit einer betrieblichen Altersvorsorge nach Betriebsgröße 2015 in der Privatwirtschaft . . . Abbildung XI.21 Verteilung der Betriebsrenten 2015 . . . . . . . . . . Abbildung XI.22 Geförderte private Altersvorsorge (Riester-Verträge) 2001 – 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.23 Empfänger:innen von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 2003 – 2018 . . . . . . . . . . Abbildung XI.24 Empfängerquoten von Grundsicherung im Alter 2003 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.25 Empfänger:innen von Grundsicherung und Rentenansprüche 2018 . . . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.26 Aufstockung von Alters- und Erwerbsminderungsrenten durch die Grundsicherung 2018 . . . . . . . . . . . Abbildung XI.27 Struktur der Gesamteinkommen der älteren Bevölkerung 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.28 Verteilung der Gesamteinkommen im Alter 2015 . . . Abbildung XI.29 Armutsrisikoquoten der älteren Bevölkerung, EU-28, 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel XII: Soziale Dienste Abbildung XII.1 Träger und Anbieter sozialer Dienste . . . . . . . Abbildung XII.2 Einrichtungen, Plätze und Beschäftigte in den Wohlfahrtsverbänden 1990 – 2016 . . . . . . . . Abbildung XII.3 Beschäftigungsfelder der Wohlfahrtsverbände 2016 Abbildung XII.4 Sozialwirtschaftliches Dreieck . . . . . . . . . . Abbildung XII.5 Neue Steuerung und Kontraktmanagement . . .
. . 1003 . . 1010 . . 1031 . . 1032 . . 1033 . . 1041 . . 1046 . . 1046 . . 1048 . . 1049 . . 1051 . . 1052 . . 1056
. . . . 1113 . . . . . . .
. . . .
. . . .
1128 1129 1152 1161
Verzeichnis der Tabellen
Kapitel II: Ökonomische Grundlagen und Finanzierung Tabelle II.1 Sozialbudget: Leistungen nach Institutionen 2018 . . . Tabelle II.2 Sozialschutzquoten in den 28 EU-Mitgliedsstaaten 2000 – 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle II.3 Einnahmen des (Sozial-)Staates . . . . . . . . . . . . Tabelle II.4 Beitragssätze, Grenzwerte und Rechengrößen der Sozialversicherung 2020 . . . . . . . . . . . . . . Tabelle II.5 Beitragssatzentwicklung in den Zweigen der Sozialversicherung 1990 – 2020 . . . . . . . . . . Tabelle II.6 Ausgaben des Bundes für soziale Sicherung 2010, 2015, 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle II.7 Aufkommen aus den wichtigsten Steuerarten 2010 – 2018 Tabelle II.8 Kommunale Einnahmen und Ausgaben 2010 – 2018 (alte Länder) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle II.9 Durchschnittliche Lohnabzugsquoten 1991 – 2018 . . . Tabelle II.10 Bevölkerung und demografische Belastungsquotienten 1960 – 2060 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel III: Einkommen Tabelle III.1 Entwicklung der Arbeitnehmereinkommen 1991 – 2018 Tabelle III.2 Nettoäquivalenzeinkommen der privaten Haushalte 1995 – 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle III.3 Eckwerte des Einkommensteuertarifs 2001 – 2019 . . Tabelle III.4 Regelbedarfe und Regelbedarfsstufen 2020 . . . . . Tabelle III.5 Entwicklung der Regelbedarfe der Grundsicherung im Vergleich zur Lohn- und Preisentwicklung 2005 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
66
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75 83
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85
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88
. . . . . . .
91 94
. . . . . . . .
101 104
. . . .
130
. . . .
182
. . . . . . . . . . . . . . .
200 207 252
. . . . .
258
XLIX
L
Verzeichnis der Tabellen
Kapitel IV: Arbeitsbeziehungen Tabelle IV.1 Die Gewerkschaften im DGB nach Mitgliederzahlen 2018 Tabelle IV.2 Tarifbindung der west- und ostdeutschen Beschäftigten und Betriebe 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle IV.3 Tarifbindung und Betriebsrat, Anteil der Beschäftigten Tabelle IV.4 Übertarifliche Entlohnung 2013 . . . . . . . . . . . . Tabelle IV.5 Tarifliche Einkommensbedingungen in ausgewählten Wirtschaftszweigen 2018 . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle IV.6 Befristete Verkürzung der tariflichen Wochenarbeitszeit Tabelle IV.7 Verbreitung von Betriebsräten nach Betriebsgröße 2018
. . .
320
. . . . . . . . . . . .
335 339 351
. . . . . . . . . . . .
352 361 371
Kapitel V: Arbeit und Arbeitsmarkt Tabelle V.1 Durchschnittliche jährliche Arbeitszeit und ihre Komponenten 2000– 2018 . . . . . . . . . . . . . .
431
Kapitel VI: Qualifikation Tabelle VI.1 Studierende und Studienanfänger 1957/1958 – 2018/2019 nach Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle VI.2 Studierende nach den wichtigsten Fächergruppen . . Tabelle VI.3 Auszubildende nach Ausbildungsbereichen 1998 – 2017 Tabelle VI.4 Nach BAföG geförderte Studierende 2006 – 2018 . . . .
. . . .
523 539 546 561
. . . . .
589
. . . . .
591
. . . . .
599
. . . . .
601
. . . . . . .
. . . .
687 691 714 720
. . . . .
731
Kapitel VII: Arbeit und Gesundheit Tabelle VII.1 Erwerbstätige nach Lage der Arbeitszeit 2017 . . . . Tabelle VII.2 Auftreten von körperlichen und psychischen Arbeitsbelastungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle VII.3 Angezeigte Verdachtsfälle und anerkannte Berufskrankheiten 2017 . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle VII.4 Rentenzugänge wegen verminderter Erwerbsfähigkeit 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel VIII: Gesundheit und Gesundheitssystem Tabelle VIII.1 GKV: Krankenkassen und Versicherte 2018 . . . . . . Tabelle VIII.2 Eckdaten der privaten Krankenversicherung 1991 – 2018 Tabelle VIII.3 Eckdaten der Arzneimittelversorgung 2000 – 2018 . . Tabelle VIII.4 Eckdaten der Krankenhausversorgung 2000 – 2017 . . Tabelle VIII.5 Vertragsversorgung der gesetzlich Krankenversicherten 1996 – 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
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Verzeichnis der Tabellen
LI
Tabelle VIII.6 Gesundheitsausgaben, ärztliche Versorgung und Krankenhausbetten, ausgewählte Staaten im Vergleich 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
742
Kapitel IX: Pflegebedürftigkeit und Pflege Tabelle IX.1 Soziale Pflegeversicherung und private Pflegepflichtversicherung im Vergleich 2018
. . . . . . . . . .
788
Kapitel X: Familie und Kinder Tabelle X.1 Haushalte und Lebensformen 2018 . . . . . . . . . . . . . . Tabelle X.2 Minderjährige Kinder nach Alter und Familienform 2018 . . . . Tabelle X.3 Höhe von Kindergeld und Kinderfreibeträgen 2000 – 2020 . . .
848 856 885
Kapitel XI: Alter Tabelle XI.1 Eckdaten der gesetzlichen Rentenversicherung 2018 . . . . . 966 Tabelle XI.2 Die Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung Jahresende 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 971 Tabelle XI.3 Einnahmen und Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1012
Kapitel XII: Soziale Dienste Tabelle XII.1 Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Bereich sozialer Dienstleistungen nach Berufen 2013 und 2017 . . . . 1102 Tabelle XII.2 Erwerbstätige und sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Bereich der Sozial- und Gesundheitswirtschaft 2018, 2013 und 2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1106
Verzeichnis der Übersichten
Kapitel I: Sozialpolitik und soziale Lage Übersicht I.1 Typen und Dimensionen des Wohlfahrtsstaats . . . . . . . Übersicht I.2 Zeittafel grundlegender sozialpolitischer Gesetze . . . . . Übersicht I.3 Sozialstaat und Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . .
16 22 36
Kapitel II: Ökonomische Grundlagen und Finanzierung Übersicht II.1 Finanzierungszuständigkeiten der Gebietskörperschaften in der Sozialpolitik, ausgewählte Beispiele . . . . . . . . . Übersicht II.2 Aufgaben der Kommunen . . . . . . . . . . . . . . . . .
81 98
Kapitel III: Einkommen Übersicht III.1 Verteilung des Sozialprodukts nach der Systematik der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung . . . . . . Übersicht III.2 Einkommenssicherung bei sozialen Risiken und Notlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht III.3 Die wichtigsten Geldleistungen der sozialen Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht III.4 Ausprägung der sozialen Sicherung (Geldleistungen) nach Wohlfahrtsstaatstypen . . . . . . . . . . . . . . . . .
. .
178
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212
. .
219
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222
Kapitel IV: Arbeitsbeziehungen Übersicht IV.1 Beteiligungsrechte des Betriebsrats . . . . . . . . . . . Übersicht IV.2 Ausgewählte Arbeitskämpfe . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht IV.3 Definition von Entgeltgruppen am Beispiel: Entgeltrahmentarifvertrag Metallindustrie Niedersachsen (2019) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht IV.4 Sanierungstarifvertrag bei Galeria Kaufhof Karstadt . . .
. .
322 344
. .
349 368 LIII
LIV
Verzeichnis der Übersichten
Kapitel V: Arbeit und Arbeitsmarkt Übersicht V.1 Gesetzliche Regelungen des Arbeitsverhältnisses: Überblick über ausgewählte Bereiche . . . . . . . . . . . Übersicht V.2 Unterschiede der ILO-Erwerbsstatistik und SGB-Arbeitsmarktstatistik im Überblick . . . . . . . . . . Übersicht V.3 Ausgewählte Wirkungen aktiver Arbeitsmarktpolitik . . . .
387 434 493
Kapitel VI: Qualifikation Übersicht VI.1 Das System berufsbildender Schulen und Bildungsgänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
535
Kapitel VII: Arbeit und Gesundheit Übersicht VII.1 Überblick über ausgewählte Bestimmungen des Arbeitsschutzsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht VII.2 Grundpflicht des Arbeitgebers nach § 3 ArbSchG . . . . . .
606 607
Kapitel VIII: Gesundheit und Gesundheitssystem Übersicht VIII.1 Ziele und Maßnahmen im Gesundheitswesen Übersicht VIII.2 Versicherungspflichtige in der gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . Übersicht VIII.3 Zuzahlungsregelungen im Überblick Stand 2020 Übersicht VIII.4 Zentrale Unterschiede zwischen GKV und PKV (Krankheitsvollversicherung) . . . . . . . . . Übersicht VIII.5 Ausgewählte Gesundheitsreformgesetze 1998 bis 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht VIII.6 Ausgewählte Gesundheitsreformgesetze 2015 bis 2019 . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
654
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672 684
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692
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751
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751
Kapitel IX: Pflegebedürftigkeit und Pflege Übersicht IX.1 Wer sind die Pflegebedürftigen und die Hauptpflegepersonen in privaten Haushalten ? . . . . . Übersicht IX.2 Häusliche Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht IX.3 Sach- und Geldleistungen in der Pflegeversicherung 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht IX.4 Beispiel: Pflegekostenrechnung 2019 für die stationäre Pflege, Pflegegrad III, Einzelzimmer, Arbeiterwohlfahrt Essen, Kurt-Schumacher-Zentrum . . . . . . . . . . . . . . . . .
773 773 791
795
Verzeichnis der Übersichten
LV
Kapitel X: Familie und Kinder Übersicht X.1 Ausgewählte familienpolitische Leistungen
. . . . . . . .
Kapitel XI: Alter Übersicht XI.1 Heraufsetzung der Regelaltersgrenze . . . Übersicht XI.2 Vorgezogene Altersrenten . . . . . . . . . Übersicht XI.3 Beispiele für die Berechnung einer Altersrente Übersicht XI.4 Begrenzung der Rentenanpassung . . . . . Übersicht XI.5 Rentenanpassungsformel, Stand 2017 . . . Übersicht XI.6 Grundlagen der Riester-Förderung . . . . . Übersicht XI.7 Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht XI.8 Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht XI.9 Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . Übersicht XI.10 Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel XII: Soziale Dienste Übersicht XII.1 Anlässe, Zielgruppen und Handlungsformen sozialer Dienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht XII.2 Güter und Dienstleistungen und ihre Eigenschaften Übersicht XII.3 Ausgewählte soziale Dienste und Einrichtungen . Übersicht XII.4 Diakonisches Werk . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht XII.5 Caritas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht XII.6 Deutsches Rotes Kreuz . . . . . . . . . . . . . . Übersicht XII.7 Arbeiterwohlfahrt . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht XII.8 Der Paritätische . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht XII.9 Zentralwohlfahrtsstelle der Juden . . . . . . . . Übersicht XII.10 Finanzierung freier Träger: Beispiel: Volksverein Mönchengladbach . . . . . Übersicht XII.11 Formen der Privatisierung sozialer Dienste . . . . Übersicht XII.12 Selbsthilfegruppen und Initiativen in Düsseldorf .
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893
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975 976 989 993 994 1040 1057 1058 1059 1060
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1088 1097 1100 1124 1125 1125 1126 1126 1127
. . . . . 1145 . . . . . 1158 . . . . . 1185
I
Sozialpolitik und soziale Lage
1
Sozialpolitik und Sozialstaat als Antwort auf soziale Probleme
Sozialpolitik reagiert auf soziale Risiken und Probleme. Diese betreffen im Verlauf des Lebens jeden Menschen. In modernen, hoch differenzierten und arbeitsteiligen Gesellschaften sind jedoch die Möglichkeiten begrenzt, die Probleme aus eigener Kraft zu lösen. Weder die Unterstützung durch Familie und soziale Netzwerke noch die private Vorsorge durch Sparen oder Abschluss von Versicherungsverträgen reichen zur Problemlösung aus. Je nach Art, Schwere, Dringlichkeit und Dauer der Probleme sind deshalb Maßnahmen der Sozialpolitik erforderlich. Nur mit ihnen lässt sich vermeiden, dass beispielsweise Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit, Invalidität oder familiäre Krisen bis hin zur Armut und zur gesellschaftlichen Ausgrenzung führen. Sozialpolitik lässt sich dabei wie folgt definieren: Es handelt sich insbesondere um all jene öffentlich erbrachten und/oder regulierten Maßnahmen, Leistungen und Dienste, die darauf abzielen, • • • •
dem Entstehen sozialer Risiken und Probleme vorzubeugen, die Lebenslage einzelner Personen oder Personengruppen zu sichern und zu verbessern, die Folgewirkungen sozialer Probleme auszugleichen und soziale Ungleichheiten zu vermindern.
In Deutschland, wie auch in allen anderen Ländern mit einer ausgebauten Sozialpolitik, nimmt nahezu die gesamte Bevölkerung Leistungen der Sozialpolitik in Anspruch: So ist der weit überwiegende Teil der Bürgerinnen und Bürger durch die gesetzliche Krankenversicherung und die gesetzliche Rentenversicherung abgesichert. Viele Menschen sind auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen oder beziehen Sozialtransfers wie Wohngeld oder Kindergeld. Hinzu kommen soziale Dienste und Einrichtungen als unverzichtbarer Teil der Daseinsvorsorge. Die Maßnahmen, Leistungen und Einrichtungen der Sozialpolitik beeinflussen damit sehr nachhaltig die Lebenslage der Bürgerinnen und Bürger. Zugleich haben sie eine große volkswirt© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Bäcker et al., Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06249-1_1
1
2
Sozialpolitik und soziale Lage
schaftliche Bedeutung: Zusammen genommen machen sie in ihrer finanziellen Dimension etwa ein Drittel des Sozialproduktes aus. Sozialpolitik setzt sich aus einer Vielzahl von Maßnahmen, Leistungen und Diensten zusammen, die durch unterschiedliche Institutionen, Einrichtungen und Akteure bereitgestellt bzw. angeboten werden. Dieser Gesamtkomplex lässt sich auch als Sozialstaat oder (weitgehend synonym) als Wohlfahrtsstaat bezeichnen. Der Begriff Sozialstaat ist Ausdruck für die aktive, gestaltende Rolle, die der demokratische Staat im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben einnimmt, und kennzeichnet zugleich einen historisch-konkreten Gesellschaftstyp, der eine entwickelte marktwirtschaftlich-kapitalistische Ökonomie mit dem Prinzip des sozialen Ausgleichs verbindet. Die Strukturelemente des Sozialstaates greifen insofern weit über einzelne Maßnahmen der Sozialpolitik und das System der sozialen Sicherung hinaus: Sie reichen von den rechtlichen Regelungen von Arbeitsmarkt, Arbeitsverhältnis und Arbeitsbedingungen bis hin zur allgemeinen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, der Kinderbetreuung, der schulischen und beruflichen Ausbildung bis hin zur Betriebsund Unternehmensverfassung und zum Tarifvertragswesen, vom Gesundheitswesen und der Versorgung der Bevölkerung mit sozialen Diensten und Einrichtungen auf der kommunalen Ebene bis hin zur Ausgestaltung des Steuerrechts. Die Bandbreite sozialer Risiken und Probleme, die Anlass für sozialpolitisches Handeln geben, ist groß: Arbeitslosigkeit, Krankheit und Pflegebedürftigkeit, Einkommensverlust, Armut, soziale Ausgrenzung, Behinderung – damit sind nur einige Beispiele benannt. Eine Vielzahl dieser Risiken und Probleme lässt sich auf die Grundstruktur der Marktökonomie zurückführen. Dies gilt insbesondere in Bezug auf den Arbeitsmarkt, die Arbeitsbedingungen und die so genannten Standardrisiken des Erwerbslebens wie Arbeitslosigkeit, arbeitsbedingte Erkrankungen, Arbeitsunfälle oder Invalidität, die sich für abhängig Beschäftigte existenzgefährdend auswirken und als Arbeitnehmerrisiken bezeichnen werden können. Die mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft und den sozialen Folgewirkungen der kapitalistischen Ökonomie verknüpften Arbeitnehmerrisiken haben historisch den Ausgangspunkt für die Herausbildung und den Ausbau der Sozialpolitik gesetzt. Die Industrialisierung war verbunden mit elenden Arbeits-, Wohnund Lebensbedingungen der Lohnarbeiter und ihren Familien („Arbeiterfrage“). Zu den Triebkräften der erforderlich werdenden sozialpolitischen Interventionen des Staates zählen damit einhergehend auch die Auflösung traditioneller Sozialstrukturen, die Verstädterung sowie der Bedeutungsrückgang der bisherigen, nicht-staatlichen Unterstützungssysteme, so insbesondere der Familie und kirchlich-karitativer Hilfen. Auch die demografische Entwicklung, d. h. die Wanderungsbewegungen und der anhaltende Anstieg der Lebenserwartung, haben infolge der Überlastung der alten Unterstützungssysteme zu Sicherungslücken geführt und den Problem- und Handlungsdruck verschärft. Der Markt war und ist zur Schließung der Lücken allein nicht in der Lage, denn er löst aus sich heraus keine sozialen Probleme, sondern schafft und verschärft diese vielmehr. Staatliche Interventionen werden also funktio-
Gestaltung von Lebenslagen
3
nal nötig, auf der anderen Seite infolge der hohen wirtschaftlichen Leistungskraft der Marktökonomie auch finanziell erst möglich. Neben die typischen Arbeitnehmerrisiken treten im Verlauf der sozio-ökonomischen Entwicklung solche Risiken und Probleme, die sich unabhängig von den Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen ergeben, jeden Menschen betreffen können und als allgemeine Lebensrisiken zu bezeichnen sind. Dies gilt, um ein Beispiel zu nennen, für die Risiken Krankheit und Pflegebedürftigkeit. Auch wenn gesundheitliche Beeinträchtigungen und Erkrankungen in vielen Fällen eine Folge belastender Arbeitsbedingungen sind, ist damit über die Ursachen der Erkrankungen insgesamt, insbesondere bei dem großen Teil der nicht erwerbstätigen Bevölkerung, wenig ausgesagt. Allgemeine Lebensrisiken entstehen in der Regel weder naturgegeben noch betreffen sie in ihrem Ausmaß und in ihren Folgen die gesamte Bevölkerung im gleichen Maße. Die Empirie zeigt, dass sich ihr Auftreten und Umschlagen in soziale Probleme nicht zufällig vollzieht, sondern nach bestimmten Mechanismen und Strukturmerkmalen erfolgt und insbesondere mit dem sozio-ökonomischen Status, dem Geschlecht, dem sozio-kulturellen Hintergrund sowie nicht zuletzt mit der familiären Situation und dem jeweiligen Stadium im Lebenslauf variiert. Bei aller Differenziertheit von Lebenslagen und trotz des Trends zur Individualisierung und Pluralisierung von Lebensformen, der moderne Gesellschaften prägt, ist immer noch zutreffend, dass von sozialen Risiken und Problemen überproportional vor allem jene Bevölkerungsgruppen bedroht bzw. betroffen sind, die aufgrund ihrer Berufs-, Qualifikations- und Einkommenssituation ohnehin zu den Benachteiligten in der Gesellschaft zählen und zugleich auch über geringere Bewältigungs- und Verarbeitungspotenziale verfügen. Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen sind sozialen Risiken unterschiedlich stark ausgesetzt und von sozialen Problemen unterschiedlich stark betroffen. Darin spiegelt sich ein komplexes Bündel ökonomischer und sozialer Bedingungsfaktoren wider, mithin eine gesellschaftliche Grundstruktur, die auf Ursache, Wirksamwerden und personelle Verteilung sozialer Risiken und Probleme maßgeblichen Einfluss hat und ungleiche Lebens- und Teilhabechancen produziert. Solche sozialen Ungleichheiten sind mitnichten überwunden. Die Konzentration von sozialen Risiken auf Angehörige der unteren sozialen Schichten zeigt, dass der Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung und von wirtschaftlichem Wachstum und Wohlstandszuwachs keinesfalls zu einer sozialen Entstrukturierung der Gesellschaft geführt hat.
2
Gestaltung von Lebenslagen
Zur Beschreibung und Beurteilung von sozialpolitisch relevanten sozialen Risiken und Problemen und zur Ableitung geeigneter Konzepte, Maßnahmen und Einrichtungen eignet sich das aus der Ungleichheitsforschung stammende Lebenslagekon-
4
Sozialpolitik und soziale Lage
zept. Es hebt auf Beeinträchtigungen in den materiellen wie immateriellen Lebensbedingungen Einzelner oder von Gruppen ab. Lebenslagen werden maßgeblich bestimmt durch die Beziehung zwischen „Verhältnissen“ und „Verhalten“. Sie werden dabei ebenso als Ausgangsbedingungen menschlichen Handelns wie auch als Produkt dieses Handelns verstanden, die sich aus den jeweiligen konkreten ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Lebensbedingungen von Menschen im Ablauf ihres Lebens ergeben. Unter der Lebenslage eines Menschen kann der (Handlungs-)Spielraum verstanden werden, den ein Mensch hat, sich bei einem gegebenen Entwicklungsstand einer Gesellschaft zu entfalten und seine Interessen zu befriedigen. Lebenslagen sind dabei jeweils abhängig von bestimmten historisch gewachsenen wie ökonomischen und sozialen Versorgungs- und Entwicklungsniveaus, die der Einzelne kaum beeinflussen kann. Wichtige Bereiche sind Erwerbstätigkeit, Einkommen, Bildung, Gesundheit und Wohnen. Der Begriff der Handlungsspielräume verweist auf die Möglichkeiten und Grenzen, die Lebenslage im gewissen Rahmen durch eigenes Handeln selbst zu beeinflussen. Zur besseren analytischen und inhaltlichen Abgrenzung von Handlungsspielräumen werden im Lebenslagekonzept insbesondere die folgenden sechs Dimensionen unterschieden: • ökonomische Lage, d. h. Einkommens- und Vermögenssituation; • Versorgung mit sozialkulturellen Gütern und Diensten, so vor allem im Bereich des Wohnens, des Bildungs- und Gesundheitswesens, der sozial-pflegerischen Dienste; • persönliche Kontakte, Kooperationsbezüge und andere soziale Aktivitäten auch im außerberuflichen Bereich; • Lern- und Erfahrungsspielraum, vor allem die Möglichkeiten der Entfaltung der Interessen, die durch Sozialisation, schulische und berufliche Bildung, Erfahrungen in der Arbeitswelt sowie durch das Ausmaß sozialer und räumlicher Mobilität sowie der jeweiligen Wohn-Umweltbedingungen beeinflusst sind; • Dispositions- und Partizipationsspielraum, insbesondere Art und Ausmaß sozialer Teilhabe, Mitbestimmung und Mitgestaltung; • Gesundheitszustand, Muße- und Regenerationsmöglichkeiten. Je nach Personengruppe kann dabei einzelnen Dimensionen der Lebenslage in ihrem Zusammenwirken mit anderen ein unterschiedlich starkes Gewicht zukommen. Aus sozialpolitischer Sicht gelten Lebenslagen immer dann als prekär, d. h. gefährdet, wenn innerhalb einzelner und/oder mehrerer der genannten Dimensionen bestimmte Interessen („Grundanliegen“) der Menschen nicht erfüllt sind oder die dafür jeweils erforderlichen Gestaltungs- und Veränderungspotenziale nicht oder nur unzureichend vorhanden sind.
Interventionsformen und Wirkungen
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Es ist aus analytischen Gründen wie auch zur Entwicklung sozialpolitischer Konzepte und Maßnahmen sinnvoll, das Lebenslagekonzept mit der Lebensverlaufsanalyse zu verknüpfen. Viele soziale Risiken und Probleme lassen sich ohne Bezug auf die spezifischen Lebensbedingungen in bestimmen Lebensphasen nicht hinreichend erklären und erfordern deshalb lebensphasenspezifische Lösungen. Dies gilt vor allem für soziale Risiken und Probleme von Kindern, Jugendlichen, jungen Eltern, Alleinerziehenden oder älteren und hochaltrigen Menschen. Zugleich lässt sich zeigen, dass sich viele soziale Risiken und Probleme im Lebenslauf entwickeln und/oder in ihren Wirkungen kumulieren können. Es handelt sich dabei um Risiko- und Problemketten, die ihren Beginn jeweils in bestimmten Situationen und Ereignissen in früheren Lebensphasen haben: So lassen sich z. B. viele chronische Krankheiten bei Erwachsenen wie bei älteren Menschen auf bestimmte Krankheitsrisiken in Kindheit und Jugend zurückführen. Das Risiko der Langzeitarbeitslosigkeit wiederum ist entscheidend abhängig vom Grad der schulischen und beruflichen Ausbildung. Geringe Einkommen und Armut im Alter (vor allem bei Frauen) sind Ausdruck von Einkommensbenachteiligungen während der aktiven Erwerbsphase.
3
Interventionsformen und Wirkungen
Um das Entstehen sozialer Risiken zu verhindern, ihre Folgen auszugleichen und um Lebenslagen zu verbessern, greift Sozialpolitik in vielfältiger Weise in Wirtschaft und Gesellschaft ein und bewirkt eine Korrektur und Überformung von Markt- und Gesellschaftsprozessen. Im Grundsatz lassen sich drei idealtypische Eingriffsformen unterscheiden, die sich in der Praxis überlagern und ergänzen können: •
Regulative Politik: Durch rechtliche Ge- und Verbote wird das Verhalten von Menschen, Institutionen und Unternehmen normiert und gesteuert. Die Handlungsund Vertragsfreiheit wird insofern sozialpolitisch beschränkt. Diese Regulierung bezieht sich insbesondere auf den Arbeitsmarkt, aber auch auf sog. Wohlfahrtsmärkte, dazu zählen u. a. Versicherungsmärkte, Gesundheitsmärkte und der Wohnungsmarkt. Ziel der Interventionen auf dem Arbeitsmarkt ist es, soziale Risiken und Probleme, die durch ein ungehemmtes Wirken der Marktkräfte entstehen, zu mindern und auszugleichen. Die Rechtsstellung und soziale Lage der abhängig Beschäftigten soll verbessert und gesichert sowie das Machtungleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit ausgeglichen werden. Die Liste der Beispiele ist lang: Kündigungsschutz, gesetzlicher Mindestlohn, Entgeltfortzahlung, Elternzeit – um nur einige Regelungen zu benennen. Wohlfahrtsmärkte zeichnen sich dadurch aus, dass privatwirtschaftliche Anbieter soziale Leistungen, z. B. Kranken- oder Lebensversicherungen, gegen Entgelt anbieten oder dass Unternehmen Arzneimittel und Medizinprodukte verkau-
6
Sozialpolitik und soziale Lage
fen. Regulative Rahmensetzungen sollen dafür sorgen, dass Standards hinsichtlich Qualität, Sicherheit, Preisgestaltung und Verbraucherschutz eingehalten werden. • Distributive Politik: Die marktliche Einkommensverteilung wird korrigiert. Durch die Zahlung von Sozialtransfers erhalten auch jene Menschen ein Einkommen, die wegen des Eintretens sozialer Risiken, also bei Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Invalidität, Behinderung oder im Alter nicht (mehr) erwerbstätig sein können und deswegen im Prozess der Einkommensentstehung und -verteilung auf dem Arbeitsmarkt leer ausgehen. Oder aber Sozialtransfers dienen dazu, ein zu geringes Markt- oder Lohnersatzeinkommen aufzustocken. Die erforderlichen Mittel für diese nicht marktförmige Existenzsicherung müssen durch Steuer- und Beitragsabzüge von den Markteinkommen oder durch die Besteuerung des Konsums finanziert werden. Ziel ist es, die strenge Verbindung zwischen Erwerbsbeteiligung und Einkommenserzielung zu lockern und in den Wechselfällen des (Arbeits)Lebens ein bestimmtes Maß an Einkommenssicherheit zu gewährleisten und auf jeden Fall das sozial-kulturelle Existenzminimum zu garantieren. • Infrastruktur- und Dienstleistungspolitik: In bestimmten Bedarfsfeldern werden durch Sozialpolitik Einrichtungen und Dienste bereitgestellt, die (weitgehend) kostenlos in Anspruch genommen werden können. Dies betrifft u. a. das Gesundheits- und Sozialwesen, die Bildung und Weiterbildung sowie die kommunale Daseinsvorsorge. Angebot und Nachfrage stehen hier außerhalb des marktwirtschaftlichen Prinzips ihrer Steuerung über Kosten und Profite bzw. Einkommen und Preise. Maßgebendes Kriterium für die Inanspruchnahme der Einrichtungen und Dienste ist der Bedarf. Die Finanzierung erfolgt durch den Staat. Der Staat muss die Einrichtungen und Dienste aber nicht zwingend in eigener Regie betreiben, sondern kann damit auch Private (non profit oder profit-Unternehmen) beauftragen und sich auf die Gewährleistungs- und Finanzierungsfunktion beschränken. Ziel ist es, eine ausreichende, bedarfsbezogene Versorgung in jenen Bereichen sicherzustellen, die der Markt überhaupt nicht oder nicht in der gesellschaftlich erwünschten Weise abdeckt, insbesondere nicht in der erwünschten Quantität und Qualität, Zugänglichkeit, Verlässlichkeit und Erschwinglichkeit. Sozialpolitik wirkt durch ihre Maßnahmen und Leistungen auf die Rahmenbedingungen ein, unter denen Menschen sich entwickeln und entfalten können und verändert damit die Sozialstruktur einer Gesellschaft. Je nach Reichweite, Ausrichtung und Ausgestaltung der Sozialpolitik werden Abhängigkeiten und soziale Ungleichheiten verringert und Möglichkeiten für eine autonome Lebensführung eröffnet. Zugleich werden Anforderungen und Handlungsnormen gesetzt, die mit neuen Abhängigkeiten sowie mit Kontrollen durch Sozialbürokratien verbunden sein können. Diese Normen zielen auf die Verallgemeinerung der Lohnarbeit, auf die Arbeitsverhältnisse wie auf den Lebensverlauf insgesamt. Durch die Fixierung von Alters-
Interventionsformen und Wirkungen
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grenzen und die Abfolge von Ausbildung, Erwerbstätigkeit und Ruhestand wird der Lebenslauf strukturiert. „Jugend“ und „Alter“ konstituieren sich als eigenständige Lebensphasen. Die Einkommensverteilung wird modifiziert, direkt durch die Geldleistungen und die bedarfsbezogene Bereitstellung von Sach- und Dienstleistungen, indirekt durch die Maßnahmen der regulativen Politik. Da die Finanzierung über Abzüge vom Markteinkommen erfolgt, stehen den Begünstigten immer auch Zahlende gegenüber. Welche Verteilungswirkungen von der Gesamtheit des sozialstaatlichen Arrangements ausgehen, lässt sich aber nur schwer feststellen, da die Interventionsziele und -wirkungen widersprüchlich sein können. Je nach Ausgestaltung der Sozialleistungen kann es zur Herausbildung auch neuer Ungleichheiten kommen, wenn etwa trotz gleicher Bedarfslagen einzelne Beschäftigten- und Bevölkerungsgruppen unterschiedlich behandelt werden. Sozialpolitik ist also einerseits Ergebnis von sozio-ökonomischen Umbrüchen, führt andererseits aber auch zu Veränderungen der Gesellschaft. Sie reagiert auf die Herausbildung veränderter Lebensverhältnisse und fördert diese wiederum. Und sie reagiert auf die sozialen Verwerfungen des Wirtschaftssystems, ist aber zugleich darauf angewiesen, dass durch Produktivitätsfortschritte und Wirtschaftswachstum ausreichende Finanzressourcen zur Verfügung stehen. Konflikte um die Sozialpolitik sind unvermeidbar. Vor allem die an den Risiken des Erwerbslebens ausgerichtete Funktionsbestimmung der Sozialpolitik stößt auf Widerstände: Regulierungen auf dem Arbeitsmarkt begrenzen die Nutzbarkeit und Verwertbarkeit der Arbeitskraft und beschneiden die Gewinnmöglichkeiten der Unternehmen. Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten und der Gewerkschaften werden aus dieser Sicht als Eingriff in die Handlungsautonomie wahrgenommen. Und die marktexterne Existenzsicherung entkoppelt die Verfügung über Einkommen zumindest partiell von der Erwerbsbeteiligung. Der mit Abhängigkeit und Unsicherheit verbundene unbedingte Angebotszwang der Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt lockert sich. Die Machtposition der Unternehmen auf dem Arbeitsmarkt wird begrenzt, die Kosten steigen und die Konkurrenzfähigkeit erscheint gefährdet. Dieser strukturelle Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit wird vor allem dann virulent, wenn die Sozialpolitik expandiert und/oder wenn Konjunktur- und Strukturkrisen eintreten. Sozialpolitik hebt die Funktionsprinzipien einer marktwirtschaftlich-kapitalistischen Wirtschaftsordnung jedoch nicht auf. Ihre Bedeutung liegt gerade darin, dass durch sozialpolitische Interventionen, die auf eine langfristige Perspektive angelegt sind und gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Belange berücksichtigen, erst die Voraussetzungen für die Stabilität, Entwicklungsdynamik und politische Akzeptanz der Marktökonomie geschaffen und gesichert werden. Sozialpolitik zielt auf • •
den Schutz der Arbeitskraft gegen vorzeitigen Verschleiß (Schutzfunktion), die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit und der qualifikatorischen Leistungsfähigkeit (Beschäftigungsfunktion),
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Sozialpolitik und soziale Lage
• •
die Förderung von Leistungsfähigkeit und -bereitschaft (Produktivitätsfunktion), die Abfederung des wirtschaftlichen Strukturwandels und die Begleitung ökonomischer und gesellschaftlicher Transformation (Innovationsfunktion), die Begrenzung sozialer und politischer Konflikte in Wirtschaft und Gesellschaft und damit auf die Sicherung des „sozialen Friedens“ (Integrationsfunktion).
•
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Interessen, Macht, Institutionen
„Die“ Sozialpolitik und „den“ Wohlfahrtsstaat gibt es ebenso wenig wie „den“ Kapitalismus. Zwar ist der Sozial- oder Wohlfahrtsstaat ein universelles Merkmal entwickelter kapitalistischer Marktgesellschaften. Aber selbst für jene Staaten der Europäischen Union, die in ihrer Geschichte eine vergleichbare sozial-ökonomische Entwicklung aufweisen und deren wirtschaftliche Leistungskraft in etwa gleich stark ist, gilt, dass trotz aller Gemeinsamkeiten auch große Unterschiede bestehen. Es zeichnen sich zwar Konvergenzen ab, wenn man nur die quantitativen Dimensionen (Anteil der Sozialausgaben am Sozialprodukt) berücksichtigt, aber dies ändert wenig an den unterschiedlichen Strukturen und Prinzipien sozial- und wohlfahrtsstaatlicher Gestaltung. Es unterscheiden sich u. a. die Ausformung der Arbeitsbeziehungen, die institutionellen Ausgestaltungsmerkmale von Leistungssystemen, der Kreis der geschützten Personen, die abgedeckten Risiken und Problemfelder, die Regulierungs- und Finanzierungsprinzipien sowie die Leistungsniveaus und -voraussetzungen. Insofern lässt sich nicht von einem einheitlichen „europäischen Sozialstaatsmodell“ sprechen. Je nach Ausdehnung und Ausformung von Sozialpolitik und Sozialstaatlichkeit verändert sich auch die Ausformung einer marktwirtschaftlich-kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Im internationalen Vergleich wird sichtbar, dass nicht nur zwischen einzelnen Typen von Sozial- und Wohlfahrtsstaaten, sondern auch zwischen Varianten des Kapitalismus unterschieden werden muss. Diese Divergenzen können mit der rein funktionalistischen Analyse der Entstehungsgeschichte und Entwicklungsdynamik der Sozialpolitik (Sozialpolitik als Antwort auf die sozialen Folgewirkungen der kapitalistischen Ökonomie und auf den Bedeutungsverlust traditionaler Hilfssysteme) nicht erklärt werden. Offensichtlich werden funktionale Herausforderungen in den jeweiligen nationalen Kontexten unterschiedlich gelöst. Es wird im politischen Prozess darüber befunden, welche Probleme wie bearbeitet werden sollen. Was soll der Markt regeln, was ist Privatangelegenheit, wofür ist der Staat zuständig, wie sollen die Regelungen aussehen ? Die Antwort auf diese Fragen hängt vor allem von der Artikulations- und Durchsetzungsfähigkeit der Betroffenen und ihrer Interessenverbände ab. Es kommt auf die jeweiligen Problemdeutungen, Werthaltungen, Interessen und vor allem auf die Durchsetzungsmacht an. Historisch gesehen haben hierbei die Konflikte und Kompromisse in der Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit und die Stärke der politischen und ge-
Interessen, Macht, Institutionen
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werkschaftlichen Arbeiterbewegung eine besondere Bedeutung. Zugleich hängt die Ausgestaltung der Sozialpolitik davon ab, welche politische Orientierung und welches (Wahl)Verhalten die Mittelschichten aufweisen. Es kommt also auch auf Macht, Einfluss und Programmatik konservativer und liberaler Parteien und der entsprechenden politischen Strömungen an. Von hohem Gewicht sind darüber hinaus der Einfluss von Kirchen und Religionsgemeinschaften sowie jene Argumentations- und Deutungsmuster der Wissenschaft bzw. von Wissenschaftler:innen, die die öffentliche Meinung beeinflussen und handlungswirksam werden können. Nicht zuletzt spielt es eine entscheidende Rolle, auf welche kulturellen Traditionen die Zivilgesellschaften zurückgreifen können und welche politischen Ereignisse die Geschichte eines Landes prägen. Vor allem die beiden Weltkriege haben in den Ländern Europas, auch und gerade in Deutschland, einen weitreichenden sozialpolitischen Handlungsdruck erzeugt. Kriegsvorbereitung, Kriegsführung und vor allem die Kriegsfolgen lassen sich als starke Triebkräfte für die Ausweitung der Sozialpolitik auf neue Felder und Personengruppen identifizieren. Dies gilt u. a. für die materielle und gesundheitliche Versorgung von Kriegsopfern, Behinderten und Flüchtlingen sowie für den Wohnungsbau, das Gesundheitswesen und die Familienpolitik. Die gesetzliche Ausformung sozialpolitischer Regelungen, Leistungen und Bürokratien ist insofern ein Ergebnis von politischen Auseinandersetzungen, Koalitionen und Kompromissen. Es entwickeln sich institutionelle Arrangements und administrative Strukturen des Sozialstaates einschließlich der Arbeitsbeziehungen, die wiederum eingebunden sind in die Struktur der Staatlichkeit insgesamt (Zentralstaat oder föderaler Staat, Autonomiegrad der Kommunen, Demokratieform, Wahlsystem), in das Rechtssystem (Verfassung, Gesetzgebungsverfahren und Rechtsprechung) sowie in das Verhältnis von Staat zu Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und Tarifparteien. Die so entstehenden institutionellen Komplementaritäten sind komplex: Zwischen der Ordnung von Arbeitsmarkt und Arbeitsverhältnissen, dem System der Arbeitsbeziehungen auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene, dem System der sozialen Sicherung, dem System der schulischen und beruflichen Ausbildung sowie dem Produktionsregime bestehen Wechselbeziehungen Einmal getroffene Grundentscheidungen hinsichtlich der Leistungs- und Finanzierungsprinzipien sowie der Organisationsform des Systems der sozialen Sicherung haben eine prägende Wirkung für die Weiterentwicklung der Sozialpolitik. Sie wirken im Sinne einer „Pfadabhängigkeit“ fort, da auch die Institutionen, z. B. die Versicherungsträger, Eigeninteressen entwickeln und selbst zu eigenständigen Akteuren werden. Grundlegende Richtungsänderungen, die einen radikalen Systemwechsel einleiten, sind schon wegen ihrer unübersehbaren administrativen und finanziellen Folgen schwer durchsetzbar. Eher kommt es zu jenen Veränderungen im Sinne eines Paradigmenwechsels, die von „innen“ her erfolgen, indem in die bestehenden Systeme neue Elemente eingebaut werden, die schrittweise deren Charakter und Funktionsweise verändern. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn Leistungen der So-
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Sozialpolitik und soziale Lage
zialversicherung eingeschränkt werden und private Sicherungsformen oder auch Fürsorgeleistungen die Versorgungslücken schließen sollen.
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Der normative Hintergrund
5.1
Freiheit, Gleichheit, Sicherheit
Die konkrete Ausgestaltung von Sozialpolitik ist immer auch Ausdruck von Leitbildern und Wertvorstellungen. Soziale Probleme sind nicht per se vorhanden, sondern sie werden sozial konstruiert und konstituiert, d. h. sie werden erst in einem politischen Prozess entdeckt und definiert. Anlass und Gegenstand dieses politischen Diskussions- und Verhandlungsprozesses sind jeweils sowohl quantitative (z. B. Zahlen, Wirkungen) wie qualitative Argumente (z. B. Wertentscheidungen, öffentliches Problembewusstsein, Einschätzung marktlicher Sicherungsformen oder von individuellen bzw. familiären Hilfepotenzialen). Mit anderen Worten: Welcher Hilfe- und Unterstützungsbedarf für welchen Lebenslagenbereich, wie und in welcher Form letztlich durch Sozialpolitik abgedeckt wird, hängt nicht allein von „objektiven“ Bedarfslagen und sozioökonomischen Verhältnissen ab. Vielmehr entscheiden gesellschaftliche und weltanschauliche Normen sowie übergeordnete politische und soziokulturelle Vorstellungen darüber, ob und welche sozialen Risiken und Probleme überhaupt als solche anerkannt sowie welche Maßnahmen und Einrichtungen dann auch angeboten und finanziert werden. Die Frage, was als gesellschaftliches Problem und Risiko anerkannt und als veränderungsbedürftig betrachtet wird und was als privates Problem angesehen wird und in Eigenverantwortung oder über den Markt gelöst werden muss, ist deshalb zutiefst politischer und damit normativer Natur. Die theoretisch möglichen wie praktisch umgesetzten Antworten auf diese Frage fallen oftmals sehr unterschiedlich aus. Eine zentrale Rolle spielen dabei die jeweiligen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit. Auch wenn die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit beständiger Begleiter sozialpolitischer Debatten ist, so ist doch offensichtlich, dass es keinen Konsens darüber gibt, was darunter konkret zu verstehen ist. Soziale Gerechtigkeit wird ganz unterschiedlich definiert. Es geht um normative Grundentscheidungen, wenn über den Umfang, die Zielrichtung und Gestaltung sozialpolitischer Arrangements verhandelt und entschieden wird. Die Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit unterscheidet sich vor allem darin, welches Gewicht den drei zentralen normativen Zielen von Sozialpolitik, nämlich Freiheit, Sicherheit und Gleichheit, zugemessen wird. Je nach Priorität lassen sich dann verschiedene Grundmuster sozialer Gerechtigkeit bestimmen: Wird Freiheit – insbesondere die Bedeutung der Eigenverantwortlichkeit der wohlfahrtsstaatlichen Adressaten – betont, handelt es sich um einen liberalen Begriff sozialer Gerechtigkeit. Wird das Ziel Sicherheit – z. B. als Schutz bestehender Familien- und Sozialstruktu-
Der normative Hintergrund
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ren – in den Vordergrund gestellt, ist der Begriff sozialer Gerechtigkeit vorwiegend sozialkonservativ geprägt. Liegt die Betonung dagegen auf Gleichheit als Ziel des Sozialstaats, so haben wir es mit einem sozialistisch oder sozialdemokratisch orientierten Begriff von sozialer Gerechtigkeit zu tun. Die Frage ist, ob es einen grundsätzlichen Zielkonflikt insbesondere zwischen Freiheit auf der einen und Sicherheit bzw. Gleichheit auf der anderen Seite gibt. Schaut man genauer hin, schließen sich die drei Kernziele einander nicht zwingend aus. Es kann sich auch um komplementäre Zielvorstellungen handeln – das eine Ziel ist ohne das andere nicht denkbar und erreichbar, Freiheit nicht ohne Sicherheit und nicht ohne ein gewisses Maß an realisierter sozialer Gleichheit. Umstritten allerdings ist, welches Maß an Gleichheiten als erwünscht oder notwendig angesehen wird bzw. welche Minderung von Ungleichheit angestrebt werden soll. Die Gerechtigkeitsvorstellung der absoluten Gleichheit hat zum Ziel, dass in einer demokratischen Gesellschaft alle Menschen die gleichen individuellen bürgerlichen, politischen und auch sozialen Rechte haben. Gleichheit in den Lebens- und Einkommenslagen kann es hingegen nicht geben, da dies weder Rücksicht auf die individuelle Leistung noch auf die tatsächlichen Bedarfe nimmt. Statt absoluter prägt deshalb die Idee relativer Gleichheit den Großteil der Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit. Diese Gerechtigkeitsidee geht grundlegend von einer sozialen Ungleichverteilung der Lebenslagen aus und betrachtet diese – bei Vorliegen spezifischer Gründe – auch als legitim und gerecht. 5.2
Leistungsgerechtigkeit und Bedarfsgerechtigkeit
Ungleichheit gilt dann als gerecht, wenn sie das Ergebnis von Unterschieden in der Leistung ist. Dieses Konzept der Leistungsgerechtigkeit liegt z. B. dem bekannten Prinzip „gleiche Leistung, gleiches Einkommen“ zugrunde. Es ist jedoch auch hier von gesellschaftlichen Definitionen abhängig, was als Leistung verstanden und wie Leistung gemessen und schließlich bewertet werden soll. Wenn Leistungsgerechtigkeit mit der Vorstellung verbunden ist, dass der Markt automatisch eine leistungsgerechte Verteilung der Arbeitseinkommen erzeugt, dann bleibt unberücksichtigt, dass auch andere Faktoren die Entlohnung bestimmen, dies gilt insbesondere für die Machtund Knappheitsverhältnisse am Arbeitsmarkt. Die These, niedrige Verdienste seien ein Ausdruck niedriger Leistungen und hohe Verdienste seien auf hohe Leistungen zurückzuführen, basiert auf einer fragwürdigen Unterstellung. Denn wenn die Leistungsunterschiede ihrerseits wieder an den Einkommensunterschieden bemessen werden, liegt ein klassischer Zirkelschluss vor, der Einkommen an Leistung und Leistung wiederum an Einkommen misst. Die Forderung nach „mehr Leistungsgerechtigkeit“ bei der Entlohnung begleitet die Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern. Wie soll die „Leistung“ einzelner Personengruppen, unterschieden nach Qualifikation, Berufen
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Sozialpolitik und soziale Lage
und Branchen, bewertet werden ? Welche Werturteile fließen ein, wenn die Bezahlung einer Krankenschwester mit einem Elektriker oder gar einem Fluglotsen verglichen wird ? In welchem Verhältnis steht das Lohnniveau zu den Gewinnen der Unternehmen ? Kontrovers geht es auch zu, wenn über den Leistungsbezug von Sozialeinkommen verhandelt wird: Sollen sich die Sozialeinkommen derjenigen Menschen, die wegen Arbeitslosigkeit, Invalidität, Krankheit oder Alter kein Erwerbseinkommen beziehen, an der vormaligen Einkommensposition orientieren und wenn ja in welchem Maße ? Diese Hinweise zeigen, dass das Konzept der Leistungsgerechtigkeit keine abschließende Aussage darüber zulässt, welches Ausmaß an Ungleichheit in der Einkommensverteilung wirklich den individuellen Leistungen entspricht oder ob Korrekturen vorgenommen werden müssen. Das ist nicht zuletzt ein Streitpunkt bei der Finanzierung der Sozialpolitik: Wer soll wie stark durch Steuern und Beiträge belastet werden ? Wenn Bedarfsgerechtigkeit eingefordert wird, dann soll sichergestellt werden, dass der jeweilige Bedarf der Gesellschaftsmitglieder an Gütern und Dienstleistungen gedeckt ist. Begründet wird die Notwendigkeit einer bedarfsgerechten Verteilung der Produktionsergebnisse mit dem Verweis, dass nur eine Bedarfsdeckung die Geltung materieller Freiheit gewährleistet. Erst durch eine „angemessene“ oder „ausreichende“ Ressourcenausstattung aller Bürgerinnen und Bürger sind diese in der Lage, ihre formellen Freiheitsrechte auch zu realisieren und zu nutzen. Auch beim Konzept der Bedarfsgerechtigkeit muss definiert werden, was als Bedarf verstanden, wie Bedarf gemessen und wessen Bedarf berücksichtigt werden soll. Eine leistungs- und einkommensunabhängige, bedarfsorientierte Verteilung eines Teils des Sozialprodukts liegt insbesondere der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung sowie dem Angebot von sozialen Diensten zugrunde. Hier werden die Bedarfe absolut definiert, d. h. als gesellschaftlich anerkannte Bedarfe, die u. a. dem jeweils fachlich Notwendigen entsprechen. Bedarfsgerechtigkeit spielt darüber hinaus eine zentrale Rolle bei der der Sicherung des Existenzminimums. Soziale Ungleichheit soll nicht dazu führen, dass einzelne Mitglieder der Gesellschaft in Gefahr geraten, unterhalb eines Existenzminimums zu leben. Wiederum offen bleibt jedoch auch hier, welche Arten von Bedürfnissen berücksichtigt werden sollen, wie eine „angemessene“ Höhe der Leistung aussehen soll und unter welchen Bedingungen Anspruch auf eine existenzsichernde Sozialleistung besteht. Dass hier ein gesellschaftlicher Konsens gefunden wird, ist keineswegs selbstverständlich.
Der normative Hintergrund
5.3
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Chancengerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit, Generationengerechtigkeit
Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit sind Maßstäbe einer ergebnisbezogenen Verteilungsgerechtigkeit. Dem gegenüber steht die Gruppe von prozessbezogenen Maßstäben, die die Rechte der gesellschaftlichen Teilnahme und Teilhabe thematisieren. Im Mittelpunkt steht hier die Forderung nach Chancengerechtigkeit: Allen Menschen sollen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft gleiche Ausgangsbedingungen gewährleistet werden. Dies ist ein Thema vor allem in der Bildungspolitik. Das Einkommens- und Bildungsniveau der Eltern soll keinen Einfluss auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen haben. Offen bleibt, wie Benachteiligungen in der Ressourcenausstattung ausgeglichen werden und auf welchen Stufen des Bildungs- und Lebensverlaufs Fördermaßnahmen (erneut) greifen sollen. Umfassender, aber noch unbestimmter, ist das Postulat einer Teilhabegerechtigkeit, das die ungehinderte Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger am gesellschaftlichen und sozialen Leben insgesamt und am Arbeitsmarkt im Besonderen in den Blick nimmt. Nicht die Ergebnisse, sondern die Befähigung und die Möglichkeit zum Handeln stehen hier im Vordergrund. Der Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt in Form von Arbeitslosigkeit steht deshalb im Widerspruch zur Teilhabegerechtigkeit, die Eingliederung in Beschäftigung hat höchste Priorität. Unbeantwortet bleibt dabei allerdings, welche Qualität die Teilhabe aufweisen soll: Geht es beispielsweise um eine Integration in den Arbeitsmarkt auch um den Preis von Niedriglöhnen, oder muss doch die Einkommensverteilung berücksichtigt werden, da in einer Marktgesellschaft die soziale und gesellschaftliche Teilhabe von einem ausreichenden Einkommen abhängt ? Das Konzept der Teilhabegerechtigkeit ist Teil eines Inklusionsideals moderner Gesellschaften, wonach jedes Mitglied unabhängig von ethnischer Herkunft, Religion, Alter, Behinderungen, Geschlecht und sexueller Orientierung in die gesellschaftlichen Teilsysteme einbezogen ist. Inklusion ist dabei mehr als Integration und Verbot von Diskriminierung. Während die Integration davon ausgeht, dass eine Gesellschaft aus einer relativ homogenen Mehrheitsgruppe und einer kleineren Außengruppe besteht, die in das bestehende System integriert werden muss, betrachtet Inklusion alle Menschen als gleichberechtigte Individuen, die von vornherein und unabhängig von persönlichen Merkmalen oder Voraussetzungen Teil des Ganzen sind. Hier müssen sich nicht die Außenstehenden dem System anpassen, sondern die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen müssen so flexibel gestaltet sein, dass sie jedem Einzelnen eine Teilhabe ermöglichen. Relativ neu ist die Forderung nach einer Generationengerechtigkeit. Hier geht es nicht nur darum, die durch den Sozialstaat geformten Einkommens- und Lebensbedingungen zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Altersgruppen, konkret zwischen Jung und Alt, zu vergleichen und wenn erforderlich auszugleichen. Unter dem Eindruck des demografischen Umbruchs wird befürchtet, dass die nachrückenden jüngeren, aber schwächer besetzten Jahrgänge (Kohorten) benachteiligt werden,
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Sozialpolitik und soziale Lage
da sie finanziell immer stärker belastet werden, um die Einkommen der stärker besetzten älteren Jahrgänge zu finanzieren. Fraglich ist allerdings, ob es sich hier tatsächlich um ein allgemeines Gerechtigkeitsproblem handelt, da es im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung eine „Gleichheit“ von Kohorten hinsichtlich kritischer Lebensereignisse, ihrer Lebens- und Einkommensbedingungen sowie ihrer Behandlung durch den Sozialstaat überhaupt nicht geben kann. Die Maßstäbe und Kriterien sozialer Gerechtigkeit stehen in keinem ausschließenden Verhältnis zueinander. Die Praxis und Geschichte der Sozialpolitik zeigt, dass ein wesentliches Moment des Sozialstaats seine Widersprüchlichkeit ist. So wird in einem Politikfeld die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gefördert, während in einem anderen Politikfeld Regelungen implementiert oder erhalten werden, die diesem Ziel eher entgegenstehen. Diese strukturelle Widersprüchlichkeit ist zum einen der Komplexität sozialer Wirklichkeit geschuldet und zum anderen Ergebnis des erwähnten Umstands, dass Sozialpolitik abhängig ist von unterschiedlichen Interessen und von Kompromissen im politischen Aushandlungsprozess bei sich wandelnden Kräfteverhältnissen.
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Wohlfahrtsstaaten im internationalen Vergleich
Um die Vielfalt sozialstaatlicher Arrangements bzw. Regime der einzelnen Staaten zu systematisieren, kann versucht werden, Typologien im Sinne von Idealtypen zu entwickeln, um dadurch die grundlegenden Unterschiede und Strukturelemente von Wohlfahrtsstaaten zu erkennen und zu erklären. Der bekannte Typisierungsansatz von Esping-Andersen schlägt folgende drei Kriterien für die Unterschiede zwischen den Wohlfahrtsstaaten vor: •
das Mischungsverhältnis zwischen öffentlicher, staatlicher Sicherung, familiären Hilfs- und Unterstützungsleistungen und marktlicher Wohlfahrtsproduktion; • der Grad der marktunabhängigen Existenzsicherung und der Einschränkung des Warencharakters der Arbeitskraft („De-Kommodifizierung“), d. h. die Stärke der Entkopplung von Einkommen und sozialer Sicherheit vom (Arbeits)Markt hinsichtlich Zugangsvoraussetzungen, Anspruchsrechten sowie Leistungshöhe; • die Aus- und Rückwirkungen sozialpolitischer Einkommens- und Dienstleistungen auf die Sozialstruktur der Gesellschaft und die Ausprägung bzw. Reduzierung sozialer Ungleichheiten. Entlang dieser Kriterien lassen sich drei Wohlfahrtsstaatregime typisieren (vgl. Übersicht I.1): •
Der liberale Typus setzt auf die Marktkonformität bei Organisation, Gestaltung und Ausmaß sozialpolitischer Leistungen und auf einen geringen Einfluss des
Wohlfahrtsstaaten im internationalen Vergleich
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Staates. Er verlangt von den Bürger:innen die Übernahme von Eigenverantwortung, da die öffentlich bereitgestellten Sozialleistungen niedrig ausfallen und obendrein vielfach einer Bedürftigkeitsprüfung unterliegen. Entsprechend stark verbreitet sind marktliche Angebote und die (notwendige und ergänzende) Rolle der und die Unterstützung durch die Familie. Das Maß der sozialen Ungleichheit bleibt hoch und ist marktbestimmt. • Der konservative Typus ist durch einen paternalistischen Interventionsstaat und den Einfluss der Kirchen charakterisiert. Die soziale Sicherung basiert auf der beitragsfinanzierten Sozialversicherung, deren Zugang an die Lohnarbeit gebunden ist. Die Leistungen aus der Sozialversicherung hängen in ihrer Höhe und Qualität von der Position auf dem Arbeitsmarkt ab. Ehefrauen werden über ihren Mann abgesichert. Andere Nicht-Erwerbstätige werden subsidiär auf die Familie oder auf Fürsorgeleistungen verwiesen. Die soziale Sicherung ist also stark an Klasse und Beruf gebunden, so dass Statusunterschiede reproduziert werden. • Der skandinavische, sozialdemokratische Typus zielt auf eine universalistische Wohlfahrtsverantwortung des Staates. Die soziale Sicherung ist im starken Maße markt- und statusunabhängig gestaltet, Anspruchsgrundlage bilden die allgemeinen Bürgerrechte. Die Absicherung von Frauen ist eigenständig und beruht auf der Teilnahme am Arbeitsmarkt. Das Sozialleistungsniveau ist hoch, die Sicherungsfunktion der Familie gering. Die Einkommensumverteilung fällt umfassend aus, der Wohlfahrtsstaat begrenzt die Klassen- und Statusunterschiede. Die einzelnen Staaten lassen sich nicht eindeutig einem der drei Idealtypen zuordnen. In der Praxis finden sich in der Regel eher Mischverhältnisse. Gleichwohl lassen sich Trendaussagen treffen: Für den liberalen Typus stehen vor allem die USA und in Europa Großbritannien und Irland, der konservative Typus ist für Länder wie Deutschland, Österreich und Frankreich charakteristisch und der skandinavische Typus wird durch Länder wie Schweden, Norwegen und Dänemark repräsentiert. Unberücksichtigt bleiben in dieser Typologie die südeuropäischen Staaten, die sich wie Spanien, Portugal und Griechenland als nachholende Wohlfahrtsstaaten bezeichnen lassen und in denen traditionelle Sozialstrukturen und Sicherungsinstitutionen, so insbesondere die Familie, eine große, aber schwindende Bedeutung haben. Unberücksichtigt bleiben des Weiteren die Staaten aus Mittel- und Osteuropa, die den Transformationsprozess von der sozialistischen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft zu bewältigen hatten. Sie gestalten auch ihr Sozialsystem um, ohne dass einheitliche Strukturmerkmale zu erkennen sind. Die Typologisierung sieht sich darüber hinaus mit dem Problem konfrontiert, dass im Kern nur die sozialpolitischen Geldleistungen im Blickfeld stehen und andere, aber wesentliche Elemente von Wohlfahrtsstaaten wie die Arbeitsbeziehungen, das Gesundheitswesen und die sozialen Dienste weitgehend unbeachtet bleiben. Zudem sind die Regimezuordnungen nicht statisch, gelten also nicht auf Dauer. Was Anfang der 1990er Jahren von Esping-Andersen diagnostiziert wurde, sieht 30 Jah-
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Sozialpolitik und soziale Lage
re später womöglich anders aus. So zeigen sich in den einzelnen Staaten sehr unterschiedliche Entwicklungsverläufe der Sozialpolitik, die den Mix zwischen den liberalen, konservativen und skandinavischen Elementen des Sozialstaats verändern. Dazu einige Beispiele: So lässt sich insgesamt eine Ausweitung der Privatisierung der sozialen Sicherung und der marktlichen Wohlfahrtsproduktion erkennen. Zugleich kommt es zu einer Abschwächung der De-Kommodifizierung. Es ist aber auch sichtbar, dass in einzelnen skandinavischen Ländern (so Schweden) die soziale Sicherung in Richtung einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung umgebaut worden ist. In Deutschland wiederum gewinnen durch die Förderung der privaten Altersvorsorge die marktlichen Elemente und durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe die fürsorgeförmigen Elemente an Gewicht.
Übersicht I.1 Typen und Dimensionen des Wohlfahrtsstaats Variablen
liberal
konservativ
skandinavisch
De-Kommodifizierung (Voraussetzungen und Höhe einer arbeitsmarktexternen Einkommenssicherung)
schwach
mittel
stark
Regulierung des Arbeitsmarktes (Reichweite arbeitsrechtliche Beschränkungen)
schwach
stark
stark
Residualismus (Bedeutung von Fürsorgeleistungen)
stark
schwach
schwach
Privatisierung (Ausgaben für marktliche Vorsorge- und Versicherungsleistungen)
stark
schwach
schwach
Statusbezug/Korporatismus (Differenzierung der sozialen Sicherung nach Berufsgruppen)
schwach
stark
schwach
Umverteilungswirkungen (Leistungshöhe von Transfers und Ausgestaltung des Steuersystems)
schwach
mittel
stark
Beschäftigungspolitik (Maßnahmen der aktiven Beschäftigungspolitik)
schwach
stark
stark
Quelle: In Anlehnung an: Kohl, J., Der Wohlfahrtsstaat in vergleichender Perspektive. Anmerkungen zu Esping-Andersen’s ‚Three Worlds of Welfare Capitalism‘, in: Zeitschrift für Sozialreform, 2/1993, S. 67.
Sozialpolitik in Deutschland
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Sozialpolitik in Deutschland
7.1
Entstehungszusammenhang und Entwicklungslinien
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Die spezifischen Ausprägungen, institutionellen Formen und Prinzipien des deutschen Sozialsystems lassen sich nur im historischen Kontext verstehen. Der Beginn staatlicher Sozialpolitik ist untrennbar mit dem Übergang zur kapitalistischen Produktionsweise verbunden. Bis dahin prägten familiäre Unterstützung, kommunale Armenfürsorge und ständische Sicherungseinrichtungen der Zünfte das Bild der mittelalterlichen und spätfeudalen Gesellschaft bis ins 19. Jahrhundert. Die gesellschaftliche Umwälzung infolge der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise bewirkte einen tiefgreifenden Strukturwandel der sozialen Risiken selbst und entzog zugleich den traditionellen Sicherungsformen rasch und nachhaltig die soziale und ökonomische Grundlage. Insbesondere die Industrialisierung und die damit einhergehende Einbeziehung wachsender Teile der Bevölkerung in das System lohnabhängiger Erwerbsarbeit schuf eine von Grund auf neue Sozialstruktur und damit verbundene soziale Probleme. Es waren vor allem die Arbeiterschaft und ihre politischen und gewerkschaftlichen Organisationen, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit sozialpolitischen Forderungen an den Staat wandten. Diese richteten sich zunächst vornehmlich auf direkte staatliche Eingriffe in den Produktionsprozess etwa durch zeitliche Beschränkung des Arbeitstages, Verbot der Kinderarbeit und sonstige Arbeitsschutzvorschriften. Der Staat reagierte auf diesen sozialen Druck mit einer im Grundsatz kompensatorischen Befriedungsstrategie, die in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in der Sozialversicherungspolitik unter Bismarck zum Ausdruck kam. Demgegenüber fand die Forderung nach präventiven, die Verfügungsgewalt des Kapitals über die menschliche Arbeitskraft einschränkenden sozialpolitischen Interventionen zunächst kaum Berücksichtigung. Doch trug der paternalistische, spätfeudale Staat durch die Einrichtung von Sozialversicherungsinstitutionen dem Tatbestand Rechnung, dass die Reproduktion der abhängig Beschäftigten und ihrer Angehörigen nicht von selbst durch marktvermitteltes Einkommen gewährleistet ist, sondern einer kollektiven Regelung bedarf. Neben diesem zentralstaatlich initiierten und regulierten Versicherungssystem, das an den Risiken der Lohnarbeit ansetzte (Arbeiterpolitik), kam der auf kommunaler Ebene angesiedelten Armenfürsorge erhebliche Bedeutung zu. Während sie in der Industrialisierungsphase den Prozess der Proletarisierung aktiv abstützte, entwickelte sie sich im Zuge des Ausbaus der Sozialversicherung immer mehr zur letzten Sicherung für diejenigen, denen die (dauerhafte) Eingliederung in das System der lohnabhängigen Erwerbsarbeit nicht gelang und ein Rückgriff auf die Familie nicht möglich war. Die Arbeiterversicherungspolitik und die Armenpolitik bildeten so zwei gegensätzlich konstruierte, aber sachlich eng miteinander verknüpfte Systeme staatlicher Sozialpolitik.
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Sozialpolitik und soziale Lage
Die staatliche Sozialpolitik in Deutschland hat bis zum Ende des 2. Weltkriegs – beginnend im Kaiserreich über die Weimarer Republik bis zum Nationalsozialismus – einen wechselvollen Verlauf genommen. Die Entwicklung nach dem 1. Weltkrieg, gekennzeichnet durch Novemberrevolution 1918 und die Gründung der Weimarer Republik, stellte einen wichtigen Wendepunkt in der Entwicklung der sozialstaatlichen Strukturen in Deutschland dar. In die Weimarer Reichsverfassung wurde die Soziale Sicherung erstmals als Staatsziel aufgenommen. Die Gewerkschaften wurden von den Arbeitgeberverbänden als Vertreter der Arbeiterschaft und Tarifverträge als Instrument zur Regelung der Arbeitsbedingungen anerkannt. Betriebsräte wirkten als Interessenvertretungen und erhielten erste Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte. Insgesamt lässt sich in dieser Zeitspanne ein eher zögerlicher Ausbau feststellen, der sich primär auf die Arbeitnehmerrisiken, d. h. die soziale Sicherung der abhängig Beschäftigten und ihre Familienangehörigen, erstreckte. Die Entwicklung wurde zudem von teilweise dramatischen Rückschlägen unterbrochen: Inflation, Weltwirtschaftskrise, nationalsozialistische Machtübernahme. Insgesamt blieb – aus heutiger Sicht betrachtet – das Leistungsniveau notdürftig und das Leistungsspektrum auf wenige Risiken und Bevölkerungsgruppen beschränkt. Erst in der Nachkriegszeit, mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, kam es zur eigentlichen Expansion der Sozialpolitik. Zwar wurde an bestehende Vorkriegsstrukturen und -institutionen angeknüpft, durch ihren umfassenden quantitativen Ausbau erreichte die Sozialpolitik jedoch eine neue Qualität. Besonders zu erwähnen sind der Ausbau der Versorgungsstandards im Gesundheitswesen, die Betonung von Prävention und Rehabilitation, die Bereitstellung eines breiten Spektrums professioneller sozialer Dienste und Einrichtungen, die Einleitung einer aktiven Arbeitsmarkt- und Qualifizierungspolitik, die Forcierung einer auf Chancengleichheit orientierten Bildungspolitik, die Ansätze zur Humanisierung der Arbeitswelt sowie die Einführung des Familienleistungsausgleichs. Die bestehenden Sozialversicherungszweige wurden in Bezug auf ihren Deckungsgrad, die Art der geschützten Risiken, den erfassten Personenkreis und die Höhe des Leistungsniveaus weiterentwickelt, und durch die Einführung der dynamischen Rente im Jahr 1957 kam das Prinzip der Lebensstandardsicherung zum Durchbruch. Insgesamt verstärkte sich die Dominanz des Sozialversicherungsprinzips im System der sozialen Sicherung. Auf der anderen Seite wurde durch die Sozialhilfe eine Form der Grundsicherung geschaffen, die zwar von der Sozialversicherung abgeschottet blieb, die traditionellen Elemente der Armenfürsorge allerdings stark einschränkte und die Bedeutung individueller sozialer Hilfen unterstrich. Auch Fragen der Arbeitsbeziehungen und der Mitbestimmung spielten in der Nachkriegszeit und den ersten Jahren der Bundesrepublik eine zentrale Rolle. Das Tarifvertragsgesetz (1949) bildete den rechtlichen Rahmen für das entstehende dichte Netz von Tarifverträgen. Die paritätische Mitbestimmung in der Montanindustrie
Sozialpolitik in Deutschland
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(1951) und das Betriebsverfassungsgesetz (1952) sicherten den Arbeitnehmervertretungen Einflussmöglichkeiten auf Betriebs- und Unternehmensebene. Die Ausbauphase der Sozialpolitik, die in den Jahren der großen Koalition (1966 – 1969) und der sozial-liberalen Koalition (1969 – 1982) ihren Höhepunkt fand, wurde gegen Ende der 1970er Jahre durch eine fiskalisch motivierte Politik von Leistungsänderungen und -kürzungen abgelöst, denen aber auch einzelne Leistungsausweitungen und -verbesserungen gegenüberstanden (so vor allem im Bereich der Familienpolitik, der Kinder- und Jugendhilfe und der sozialen Dienste und Einrichtungen). Trotz der Einschnitte blieben die Grundlagen des Systems insgesamt erhalten. Auch die Spar- Kürzungspolitik der konservativ-liberalen Koalition (1982 – 1998) bewegte sich im Wesentlichen im Rahmen der vorhandenen und akzeptierten Strukturen, durch die Einführung der Pflegeversicherung als nunmehr fünfter Zweig der Sozialversicherung kam es Mitte der 1990er Jahre sogar noch zu einer weiteren Ausdehnung des Sozialversicherungsprinzips. Einen massiven Bedeutungszuwachs erlebte die Sozialpolitik durch den Prozess der deutschen Einigung ab 1998. Binnen kürzester Zeit wurde das gesamte westdeutsche Wirtschafts- und auch Sozialsystem auf die neuen Bundesländer übertragen. Der Sozialpolitik fiel die gesellschaftspolitisch wichtige Aufgabe zu, den ökonomischen Transformationsprozess von der sozialistischen Plan- zur kapitalistischen Marktwirtschaft abzufedern. Durch einen außerordentlich hohen sozialpolitischen Mitteleinsatz – und zwar insbesondere im Bereich der Arbeitsmarktpolitik – gelang es, die sozialen Folgeprobleme des Systemwechsels, der zu einem Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft führte, zu begrenzen und zu kanalisieren. Zugleich kam es zu erheblichen Verbesserungen im Versorgungs- und Leistungsniveau; vor allem die ältere Generation zählt zu den Gewinnern des Vereinigungsprozesses. Die Finanzierung dieser expansiven Sozialpolitik erfolgte in erster Linie durch Transfers aus den alten Bundesländern mit der Folge steil ansteigender Steuer- und vor allem Beitragsbelastungen. Unumstritten war der Ausbau des Systems der sozialen Sicherung nie. Insbesondere Menschen, die keiner staatlichen Absicherung bedürfen, um in Sicherheit zu leben, stehen einer ausgebauten Sozialpolitik und der Schmälerung ihrer Einkommen durch Steuer- und Beitragsabzüge oftmals kritisch gegenüber; das gleiche gilt für Unternehmen, die sich in ihrer einzelwirtschaftlichen Logik gegen die Einschränkung des Warencharakters der Arbeitskraft, die Regulierung des Arbeitsmarktes und ihren Finanzierungsbeitrag zur Sozialpolitik wenden. Allerdings kommt die Kritik an Reform- und Expansionsmaßnahmen nicht nur aus den Reihen von „Reichen“ und „Arbeitgebern“. Zustimmung oder Ablehnung hängen nicht zuletzt davon ab, wer in welchem Umfang im sozialpolitischen Verteilungskonflikt nicht (hinzu-)gewinnt – und dies kann auch die Arbeiterschaft oder die Mittelschicht sein. Daher waren auch in der sozialpolitischen Ausbauphase Reformen teilweise hart umstritten.
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Sozialpolitik und soziale Lage
Obgleich also Sozialpolitik als ein konfliktreiches Politikfeld gelten kann, ist für die Sozialpolitik in der Bundesrepublik bis etwa 2000 eher ein sozialer Grundkonsens typisch. Diese „Große Koalition der Sozialpolitik“ umfasste alle zentralen Akteure: neben den großen Volksparteien in erster Linie die Gewerkschaften, die Kirchen, die Wohlfahrtsverbände und auch die Arbeitgeberverbände. Die korporatistische Form der Sozialpolitik – dies betrifft vor allem die von den Gewerkschaften und Arbeitgebern paritätisch besetzte Selbstverwaltung in der Sozialversicherung sowie die Einbindung der privaten Anbieter von medizinischen und sozialen Leistungen in das System von Krankenversicherung und kommunaler Sozialpolitik – trug zu dieser Stabilität maßgeblich bei. „Sozialpartnerschaft“ und „Wohlfahrtskorporatismus“ sind die Charakteristika dieser Periode. Die Nähe zwischen SPD und CDU, was die Sozialpolitik betrifft, macht auch verständlich, warum die großen sozialpolitischen Reformen – von der Rentenreform 1957 über das Bundessozialhilfegesetz von 1961, das Arbeitsförderungsgesetz von 1968, die Rentenreform von 1992, die Einführung der Pflegeversicherung von 1995 bis hin zur sozialpolitischen Integration der neuen Bundesländer – von den beiden großen Parteien gemeinsam beschlossen worden sind, auch wenn andere Koalitionen im Deutschen Bundestag die Regierung gestellt haben. Hinzu kommt, dass im föderalen System der Bundesrepublik ein Zwang zum Konsens auch deswegen besteht, weil die meisten sozialpolitischen Gesetze und Reformvorhaben der Zustimmung des Bundesrates, der Länderkammer, benötigen und sehr häufig die jeweilige Opposition im Bundestag die Mehrheit im Bundesrat stellte. Der sozialpolitische Grundkonsens, der in der Leitformel von der sozialen Marktwirtschaft popularisiert wurde, vollzog sich auf der Grundlage des beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwungs in der Nachkriegszeit, der zu einer raschen Steigerung des allgemeinen Wohlstands geführt und die Finanzierbarkeit von neuen Leistungen und Leistungsverbesserungen erleichtert hat. Hinzu kommen aber auch die spezifischen politischen Verhältnisse in Deutschland: Nach den Erfahrungen von Faschismus und Krieg war klar, dass mit einer „reinen“ Marktwirtschaft keine stabile demokratische Gesellschaft aufgebaut werden konnte, da gelebte Demokratie nicht nur formalrechtliche Gleichheit voraussetzt, sondern auf sozialen Bürgerrechten und sozialer Gerechtigkeit aufbaut. Die Weimarer Republik hatte gelehrt, dass eine blinde Unterwerfung von Gesellschaft und Ökonomie unter die Kräfte des Marktes und die Hinnahme von Massenarbeitslosigkeit, sozialer Unsicherheit und Armut politischen Extremismus und Gewalt fördert. Zu berücksichtigen ist darüber hinaus, dass das Deutschland der Nachkriegszeit an der Nahtstelle der Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus lag. In der Auseinandersetzung mit der DDR galt es für die Bundesrepublik nachzuweisen, dass ein kapitalistisches Wirtschaftssystem nicht nur ökonomisch effizient ist und ein hohes Einkommens- und Konsumniveau garantiert, sondern durch die Verknüpfung mit sozialstaatlichen Strukturen zugleich für soziale Sicherheit und sozialen Ausgleich sorgen kann.
Sozialpolitik in Deutschland
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Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die langanhaltende ökonomische Prosperitätsphase, der damit verbundene materielle Reichtum der bundesdeutschen Gesellschaft und nicht zuletzt der Ausbau der Sozialpolitik untrennbar mit einem tief greifenden gesellschaftlichen und sozialen Strukturwandel in Deutschland verbunden sind. Steigender Wohlstand und eine erheblich verbesserte soziale Absicherung haben eine Emanzipation von traditionellen Abhängigkeiten bewirkt, die zwar die ökonomischen Zwänge nicht beseitigt, aber doch gelockert hat. Sie hat Voraussetzungen für reale Freiheitsspielräume geschaffen und eine individuelle Lebensplanung überhaupt erst in relevantem Ausmaß möglich gemacht. Die Entfaltung von individuellen Bedürfnissen und deren Verwirklichung in einer persönlichen Lebensperspektive sind so auch für Arbeitnehmer:innen und ihre Familien in den Bereich des Realisierbaren geraten. Verfolgt man die Entwicklung der Sozialpolitik seit der Jahrtausendwende, so lässt sich ein Kontinuitätsbruch erkennen (vgl. Pkt. 10 dieses Kapitels). Nach dem Ende der Vereinigungskonjunktur, dem Anschwellen der Massenarbeitslosigkeit in den neuen wie auch in den alten Bundesländern, der Entfesselung der internationalen Finanzmärkte und der Dominanz neoliberaler Theorien in der Wissenschaft, den Parteien und den Medien kommt es zu einer Grundsatzkritik an der Sozialpolitik überhaupt. Bis etwa 2014 beherrschen tiefgreifende Einschnitte in das soziale Leistungssystem das Bild, die sich als eine Kombination von Abbau und Umbau des deutschen Sozialstaats bezeichnen lassen. Derartige Paradigmenwechsel kennzeichnen vor allem die Veränderungen in der Alterssicherung und in der Arbeitsmarktpolitik. In den Jahren nach 2014 – bis hin zum aktuellen Rand – setzt hingegen eine erneute Verschiebung ein: Es kommt zu einer Stabilisierung, verbunden mit Revisionen von einzelnen Leistungskürzungen und auch Leistungsverbesserungen. Versucht man diesen Entwicklungsverlauf der Sozialpolitik in einer Zeittafel zu systematisieren (vgl. Übersicht I.2), lassen sich – grob gefasst – folgende Phasen unterscheiden: • • • • • • • •
1939 – 1871: 1871 – 1918: 1918 – 1933: 1933 – 1945: 1949 – 1990: 1991 – 2000: 2000 – 2014: Ab 2014:
Anfänge der Arbeitsschutzpolitik Einführung und Ausbau der Sozialversicherung im Kaiserreich Sozialpolitik in der Weimarer Republik Sozialpolitik im Nationalsozialismus Sozialpolitik in der Bundesrepublik (alte Bundesländer) Sozialpolitik nach der Wiedervereinigung Sozialpolitik im Ab- und Umbau Stabilisierung
1918 – 1933
1871 – 1918
1839 – 1871
Übersicht I.2
1923: Arbeitszeitverordnung
1918: Anordnung über die Regelung der Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter (Achtstundentag)
1903: Kinderarbeitschutzgesetz
1891: Arbeiterschutzgesetz (Gewerbeordnung)
1878: Frauenarbeitsschutzgesetz (Gewerbeordnung)
1853: Gesetz über Fabrikinspektoren
1845: Preuß. Gewerbeordnung
1839: Preußisches Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in den Fabriken
Arbeitsrecht, Arbeitsschutz
1920: Betriebsrätegesetz
1918: Verordnung über Tarifverträge
1916: Hilfsdienstgesetz
Arbeitsbeziehungen
1927: Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung
Arbeitsmarktpolitik
Zeittafel grundlegender sozialpolitischer Gesetze
1923: Reichsknappschaftsgesetz
1911: Sozialversicherung für Angestellte
1889: Gesetz betr. die Invaliditäts- und Alterssicherung
1884: Unfallversicherungsgesetz
1883: Gesetz betr. die Krankenversicherung der Arbeiter
Sozialversicherung
1924: Reichsfürsorgeverordnung
1922: Jugendwohlfahrtsgesetz
1842: Erste gesetzliche Regelungen zur Armenhilfe in Preußen
Fürsorge/Sozialhilfe
Familienpolitik
22 Sozialpolitik und soziale Lage
1949 – 1990
1933 – 1945
1951: Montanmitbestimmungsgesetz
1952: Betriebsverfassungsgesetz
1955: Personalvertretungsgesetz
1976: Mitbestimmungsgesetz
1952: Mutterschutzgesetz
1960: Jugendarbeitsschutzgesetz
1969: Lohnfortzahlungsgesetz
1973: Arbeitssicherheitsgesetz
1975: Arbeitsstättenverordnung
1949: Tarifvertragsgesetz
1933: Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit
Arbeitsbeziehungen
1951: Kündigungsschutzgesetz
1938: Arbeitszeitordnung
1935: Gesetz über die Wochenhilfe
Arbeitsrecht, Arbeitsschutz
1985: Beschäftigungsförderungsgesetz
1969: Berufsbildungsgesetz
1969: Arbeitsförderungsgesetz
1934: Gesetz zur Regelung des Arbeitseinsatzes
1933: Gesetz über Treuhänder der Arbeit
Arbeitsmarktpolitik
1989: Rentenreformgesetz
1988: Gesundheitsreformgesetz
1981: Künstlersozialversicherungsgesetz
1971: SchülerStudenten- und Kindergartenunfallversicherung
1957: Alterssicherung für Landwirte
1957: Neuregelung der Rentenversicherung
1955: Kassenarztrecht
1938: Gesetz über die Altersversorgung für das deutsche Handwerk
1933: Gesetz über den Aufbau der Sozialversicherung
Sozialversicherung
1974: Schwerbehindertengesetz
1961: Jugendwohlfahrtsgesetz
1961: Bundessozialhilfegesetz
1938: Jugendschutzgesetz
Fürsorge/Sozialhilfe
1990: Kinder- und Jugendhilfegesetz/ SGB VIII
1985: Erziehungsgeldgesetz
1954: Kindergeldgesetz
1935: Verordnung über die Gewährung von Kinderbeihilfen an kinderreiche Familien
Familienpolitik
Sozialpolitik in Deutschland 23
2000 –2014
1991 – 2000
2001: Reform des Betriebsverfassungsgesetzes
1995: Entgeltfortzahlungsgesetz
2003: 1. und 2. Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz 1 und 2)
2000: Teilzeit- und Befristungsgesetz
1996: Arbeitnehmerentsendegesetz
1996: Arbeitsschutzgesetz
1996: Europäisches Betriebsrätegesetz
Arbeitsbeziehungen
1994: Arbeitszeitgesetz
Arbeitsrecht, Arbeitsschutz
2011: SGB III Instrumentenreform
2004: Hartz 4: = SGB II/Grundsicherung für Arbeitsuchende
2004: Hartz 3
2003: 1. und 2. Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz 1 und 2)
1997: 3. Buch des SGB: Arbeitsförderung
1996: Altersteilzeitgesetz
Arbeitsmarktpolitik
2012: Pflegeneuausrichtungsgesetz
2007: GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz
2007: RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz
2004: RV-Nachhaltigkeitsgesetz
2004: Alterseinkünftegesetz
2004: SGB XII/Sozialhilfegesetz
2004: SGB II/Grundsicherung für Arbeitsuchende
2001: Altersvermögensgesetz und Altersvermögensergänzungsgesetz 2003: GKV-Modernisierungsgesetz
2001: Bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter
1995: Sozialhilfereformgesetz
1993: Asylbewerberleistungsgesetz
Sozialhilfe/Grundsicherung
2000: Reform der Renten wegen Erwerbsminderung
1997: Rentenreformgesetz
1994: Pflegeversicherung/SGB XI
1992: Gesundheitsstrukturgesetz
1991: Rentenüberleitungsgesetz
Sozialversicherung
2011: Familienpflegezeitgesetz
2008: Pflegezeitgesetz
2008: Kinderförderungsgesetz
2006: Elterngeldgesetz
2004: Tagesbetreuungsausbaugesetz
2004: Elternzeitgesetz
1995: Neuordnung des Familienleistungsausgleichs
Familienpolitik
24 Sozialpolitik und soziale Lage
2014 – 2019
2014: Tarifautonomiestärkungsgesetz = Einführung Mindestlohn
Arbeitsrecht, Arbeitsschutz
2014: Tarifautonomiestärkungsgesetz = Einführung Mindestlohn
Arbeitsbeziehungen
2014: GKV-Finanzstruktur- und Qualitätsentwicklungsgesetz
2019: Gesetz zur Modernisierung und Stärkung der beruflichen Bildung
2018: RV-Leistungsverbesserungs- und Stabilisierungsgesetz
2017: Rentenüberleitungsabschlussgesetz
2017: Betriebsrentenstärkungsgesetz
2017: EM-Leistungsverbesserungsgesetz
2016: Flexi-Rentengesetz
2015: Pflegestärkungsgesetz II
2015: Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung u. der Prävention
2014: Pflegestärkungsgesetz I
2014: RV-Leistungsverbesserungsgesetz
Sozialversicherung
2018: Qualifizierungschancengesetz
Arbeitsmarktpolitik
2018: Teilhabechancengesetz
2016: Bundesteilhabegesetz
2016: Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen
Sozialhilfe/Grundsicherung
2019: Starke FamilienGesetz
2018: Gute Kita-Gesetz
2014: Elterngeld Plus
Familienpolitik
Sozialpolitik in Deutschland 25
26
Sozialpolitik und soziale Lage
7.2
Politikfelder und Strukturprinzipien
Sozialpolitik in Deutschland setzt sich aus einem breiten Spektrum unterschiedlicher Politikfelder, Regelungsbereiche und Institutionen zusammen, die sich weder eindeutig bestimmen lassen noch scharf voneinander abgegrenzt sind. Dazu zählen vor allem die folgenden Bereiche (vgl. Abbildung I.1): • • • • • • • • • • •
Sozialversicherung (Renten-, Kranken-, Pflege-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung), Grundsicherung (Grundsicherung für Arbeitsuchende/SGB II, Grundsicherung im Alter, Sozialhilfe, Asylbewerberleistungen, Wohngeld), steuerfinanzierte Transfers (u. a. Kindergeld, Elterngeld, BAföG), Beamtenversorgung (Pensionen, Beihilfen) und Sondersysteme der Alterssicherung, Gesundheitswesen (ambulante und stationäre medizinische Versorgung, Versorgung mit Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln, Rehabilitation), Sozialwesen, soziale Dienste (vor allem ambulante, teilstationäre und stationäre Versorgung von Pflegebedürftigen; Hilfen für Menschen mit Behinderungen, Tageseinrichtungen für Kinder), Tarifvertragswesen, Betriebsverfassung, Mitbestimmung, Arbeitsrecht, Arbeitsschutz, Arbeitsförderung, Arbeitsmarktpolitik, Kinder-, Jugend- und Familienpolitik.
Noch nicht berücksichtigt sind hierbei die sozialpolitischen Aktivitäten von nichtstaatlichen Trägern, so die betriebliche Sozialpolitik, berufsständische Sicherungssysteme und die privaten Vorsorge- und Versicherungseinrichtungen. Da der Staat diese Bereiche in zunehmendem Maße gesetzlich reguliert und zugleich über monetäre Anreize (Steuererleichterungen) fördert, nehmen sie eine Zwischenstellung zwischen der staatlich-öffentlichen Sozialpolitik und einer rein marktförmigen Absicherung ein. Wenn von Sozialstaat oder Wohlfahrtsstaat die Rede ist, so ist das Feld noch breiter und umfasst weitere Bereiche, so insbesondere • • • •
das Steuersystem, die kommunale Daseinsvorsorge, das schulische und berufliche Bildungssystem, den Wohnungsbau und das Mietrecht.
Das vorliegende Handbuch gliedert sich in seinen Kapiteln nicht an diesen Politikfeldern, Institutionen und Regelungsbereichen, sondern an übergreifenden sozialen
Sozialpolitik in Deutschland
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Abbildung I.1 Sozialstaat Deutschland
Sozialstaat Deutschland Bildungs‐ system
Sozialpolitik
System der sozialen Sicherung
Sozialversicherung
Arbeitsförderung
Grundsicherung
Gesundheitssystem, Pflege
Soziale Dienste, Sozialwesen
Transfers
Familienpolitik
Beamtenversorgung
Wohnungsbau, Mietrecht
Arbeitsrecht, Arbeitsschutz
Steuer‐ system
Tarifvertragswesen
Kommunale Daseins‐ vorsorge
Betriebsverfassung, Mitbestimmung
Betriebliche Altersvorsorge Private Altersvorsorge Private Kranken- u. Pflegeversicherung Berufsständische Versorgungssysteme
Risiken und Problemlagen, die jeweils unterschiedlichen sozialpolitischen Bearbeitungsformen unterliegen. So wird sichtbar, dass sich mehrere Institutionen und auch Politikfelder auf die gleichen Risiken und Probleme beziehen: • • • • • • • • •
Einkommen, Arbeit und Arbeitsmarkt, Arbeitsbeziehungen, Qualifikation, Arbeit und Gesundheit, Gesundheit und Gesundheitssystem, Pflegebedürftigkeit und Pflege, Familie und Kinder Alter.
Quer dazu stehen die Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“ und „Soziale Dienste“. Der Blick auf das breite Spektrum der Sozialpolitik lässt erkennen, dass keineswegs von einem sorgfältig geplanten, in seinen einzelnen Elementen und Wirkungen aufeinander abgestimmten System sozialpolitischer Institutionen, Maßnahmen und Leistungen die Rede sein kann. Das unübersichtliche, teilweise in sich widersprüch-
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Sozialpolitik und soziale Lage
liche Gebäude der Sozialpolitik ist – um im Bild zu bleiben – im Laufe der historischen Entwicklung vielfach erweitert und nach Teileinstürzen wiederaufgebaut worden. Diese Unübersichtlichkeit ist nicht zuletzt eine Konsequenz der bereits erwähnten Tatsache, dass sich dieser Auf- und Ausbau- aber auch Umbau- und Abbauprozess nicht planmäßig entwickelt hat, sondern aus einer langen Kette sozialer Auseinandersetzungen und Konflikte resultiert mit der Folge einer Vielfalt von Trägern, Rechtsgrundlagen, Finanzierungsverfahren, Leistungsarten und -voraussetzungen. Gleichwohl lassen sich grundlegende Strukturen und Prinzipien erkennen: •
•
•
•
•
Es dominiert die beitragsfinanzierte Sozialversicherung, die keine universelle Volks- oder Bürgerversicherung ist, sondern sich auf die abhängig Beschäftigten („Lohnarbeitszentrierung“) konzentriert. Sie lässt sich als eine spezifische Verbindung von Versicherungsprinzip und Solidarprinzip charakterisieren. Das Solidarprinzip mit entsprechenden interpersonellen Umverteilungswirkungen kommt insbesondere in der gesetzlichen Krankenversicherung zum Ausdruck; jedoch begrenzt sich die Solidarität, also das füreinander Einstehen im Falle von sozialen Problemen, auf die jeweilige Versichertengemeinschaft. Für die Besserverdienenden besteht die Option, sich dem Solidarverbund durch Wechsel in eine private Krankenversicherung zu entziehen. Die Lohnarbeitszentrierung wird ergänzt durch die Ehezentrierung der Sozialversicherung: Nicht oder nur geringfügig erwerbstätige Ehepartner werden abgleitet über ihren erwerbstätigen Ehepartner abgesichert, durch die Hinterbliebenenrente oder durch die kostenfreie Mitversicherung in der Krankenversicherung. Dadurch setzt die Sozialpolitik in Deutschland – verstärkt durch das Steuerrecht – Anreize für Ehefrauen, ihre Erwerbstätigkeit einzuschränken oder für eine längere Zeit ganz aufzugeben. Die Träger der Sozialversicherung sind keine staatlichen Einrichtungen, sondern rechtlich selbstständige Körperschaften des öffentlichen Rechts mit eigenen Haushalten. Verwaltet werden sie durch die Selbstverwaltung von Versicherten und Arbeitgebern, die hälftig auch die Beiträge entrichten. Selbstverwaltungs- und Paritätsprinzip legen die Grundlage für den korporatistischen Charakter zentraler Bereiche der deutschen Sozialpolitik. Das Sicherungsziel der Geldleistungen der Sozialversicherung bezieht sich seit der Rentenreform von 1957 auf die auf den Erwerbsstatus bezogene Lebensstandardsicherung. Dazu gehört nicht die Armutsvermeidung der Bevölkerung. Dies ist Aufgabe der fürsorgerechtlichen Sozialhilfe bzw. der Grundsicherung. Hier gilt das Subsidiaritätsprinzip. Geleistet wird erst bei Bedürftigkeit und im Nachrang zu familiären Unterhaltsleistungen. Das Subsidiaritätsprinzip prägt im Sinne einer institutionellen Rangordnung auch die Angebote an sozialen Diensten und Einrichtungen auf der kommunalen Ebene. Es kommt zu einem Vorrang der Wohlfahrtsverbände, Kirchen und anderer
Sozialpolitik in Deutschland
•
29
privater Träger gegenüber den Kommunen, die erst nachrangig tätig werden, denen aber der Gewährleistungs- und Finanzierungsauftrag zukommt. Das Arbeits- und Sozialsystem ist durch ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Akteure gekennzeichnet: Die Arbeitsbeziehungen werden von betrieblicher und überbetrieblicher Mitbestimmung geprägt, die Tarifvertragsparteien legen auf Basis der grundgesetzlichen garantierten Tarifautonomie in Tarifverträgen die wesentlichen Arbeits- und Einkommensbedingungen fest. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind am System der beruflichen Ausbildung beteiligt und sind anerkannte Träger der Selbstverwaltung der Sozialversicherung. Auch bei der Sozial- und Arbeitsgerichtsbarkeit wirken die Vertreter von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite mit. Die Interessen der Wirtschaft, vertreten durch Industrie- und Wirtschaftsverbände, fließen zudem über ein ausdifferenziertes Kammersystem (Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern) in den Prozess der Ausgestaltung der Sozialpolitik mit ein.
7.3
Zuständigkeiten und Regelungskompetenzen
Bund, Länder und Gemeinden Wie für andere Bereiche staatlichen Handelns in Deutschland gilt auch für die Sozialpolitik das Prinzip des Föderalismus, d. h. die Verteilung der Gesetzgebungs- und Regelungskompetenzen auf die unterschiedlichen staatlichen Ebenen mit jeweils eigenen verfassungsrechtlich geschützten Zuständigkeiten: Der Bund hat die Gesetzgebungskompetenz für alle Aufgaben, bei denen es um die Einheitlichkeit bzw. Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse geht. Die gilt vor allem für das Arbeitsrecht, den Arbeitsschutz, die Betriebs- und Unternehmensverfassung, die Arbeitsförderung sowie für die Sozialversicherung. Zugleich ist der Bund zuständig für die öffentliche Fürsorge, die aufgrund von Entwicklungen in der Praxis wie der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Richtung auf Versorgung und allgemeine soziale Angelegenheiten ausgeweitet worden ist. Der Fürsorgeauftrag bezieht sich u. a. auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende, die Grundsicherung für Ältere, die Sozialhilfe, das Wohngeld, die Kinder- und Jugendhilfe sowie auf familienpolitische Leistungen. Die Länder können in einzelnen Bereichen gesetzgeberisch tätig werden; die Abgrenzung der jeweiligen Kompetenzen von Bund und Ländern ist im Rahmen der Bestimmungen zur konkurrierenden Gesetzgebung im Grundgesetz festgelegt. Insgesamt sind die sozialpolitischen Zuständigkeiten der Länder begrenzt, sie beziehen sich vor allem auf ausgewählte Felder des Gesundheits- und Sozialwesens. Die sozialpolitische Zuständigkeit der Kommunen, d. h. der kreisfreien Städte, der (Land)Kreise und der kreisangehörigen Städte und Gemeinden, erstreckt sich auf alle sozialen „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“ (Art. 28, Abs. 2 GG). Ihnen obliegt darüber hinaus die „Daseinsvorsorge“. Dazu zählen u. a. die Bereitstellung von
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Sozialpolitik und soziale Lage
öffentlichen Einrichtungen und Diensten für die Bevölkerung, also Verkehrs- und Beförderungswesen, Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung, Müllabfuhr, Abwasserbeseitigung, Bildungs- und Kultureinrichtungen, Friedhöfe, Schwimmbäder, Feuerwehr usw. (Infrastruktur). Die Kommunen haben bei diesen Aufgaben einen großen Entscheidungs- und Handlungsspielraum. Diese betreffen insbesondere die so genannten freiwilligen Leistungen. Von den freiwilligen Leistungen der Kommunen sind die durch Bundes- oder Landesrecht vorgegebenen Pflichtaufgaben zu unterscheiden. Selbstverwaltung Das Angebot an sozialpolitischen Maßnahmen, Einrichtungen und Dienstleistungen im Rahmen des Sozialversicherungsrechts (Sozialgesetzbuch) oder spezieller Leistungsgesetze wird in den Gesetzen in vielen Fällen nur im Grundsatz vorgegeben, die konkrete Bestimmung von Mengen, Leistungsarten, Qualitäten und auch Preisen bzw. Honoraren erfolgt durch Verhandlungen und Verträge zwischen Leistungserbringern und Kostenträgern. Im Sozialversicherungssystem, insbesondere bei der Kranken- und Pflegeversicherung, fällt der Selbstverwaltung insofern die Aufgabe zu, die staatliche Rahmengesetzgebung auszufüllen (Steuerung auf der mittleren Ebene). Tarifautonomie Im Bereich der Arbeitsbeziehungen werden zentrale Problemfelder in weitgehender Autonomie von den Tarifvertragsparteien autonom geregelt. Dazu gehören die Festlegung des Entgelts, von Arbeitszeiten, Urlaub, betrieblichen Sozialleistungen, Rationalisierungs- und Kündigungsschutz und vieles andere mehr. Gesetzliche Vorschriften legen die Rahmenbedingungen für autonome Vereinbarungen fest (z. B. Tarifvertragsgesetz, Betriebsverfassungsgesetz, Arbeitnehmerentsendegesetz) oder setzen Mindestnormen (so z. B. durch das Arbeitszeitgesetz, das Urlaubsgesetz oder das Mindestlohngesetz). 7.4
Träger und Akteure
In Deutschland erfolgt die praktische Durchführung sozialpolitischer Maßnahmen durch eine Vielzahl von Trägern und Akteuren mit jeweils spezifischen Aufgaben und Interessen. Typisch für den deutschen Sozialstaat ist dabei, dass die Erbringung von Geldzahlungen ebenso wie von Sachleistungen, medizinischen, pflegerischen und übrigen sozialen Diensten nicht primär durch (zentral-)staatliche Institutionen erfolgt. Charakteristisch ist vielmehr eine dezentrale Leistungsstruktur bei gleichzeitiger Dominanz intermediärer Instanzen sowie in zunehmendem Maße auch privater und privatwirtschaftlicher Leistungsanbieter. Folgende Grundstruktur lässt sich erkennen: Für die Durchführung der sozialversicherungsrechtlich organisierten Sozialleistungen sind die nach den großen Sicherungsrisiken sowie intern nach regionalen
Sozialpolitik in Deutschland
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Kriterien gegliederten und durch Selbstverwaltung charakterisierten Sozialversicherungsträger zuständig. Dabei handelt es sich • • • • •
in der gesetzlichen Rentenversicherung um die Deutsche Rentenversicherung mit ihren regionalen Gliederungen, in der gesetzlichen Krankenversicherung um die einzelnen Krankenkassen, in der gesetzlichen Pflegeversicherung um die unter dem Dach der Krankenkassen angesiedelten Pflegekassen, in der gesetzlichen Unfallversicherung um die Berufsgenossenschaften und in der Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderung um die Bundesagentur für Arbeit mit ihren regionalen und örtlichen Gliederungen.
Die Erstellung und Erbringung der von den Sozialversicherungen garantierten Sachund Dienstleistungen erfolgt jedoch nur ganz selten in eigener Regie. Vielmehr findet sie in den weit überwiegenden Fällen durch private und privatwirtschaftliche Anbieter statt. Dieses auf Vertragsbeziehungen zwischen Versicherungen und Leistungsanbietern beruhende Sachleistungsprinzip ist insbesondere für die Krankenversicherung typisch, wobei sich hier die Leistungsanbieter zu Verbänden zusammengeschlossen haben (z. T. verbunden mit einem öffentlich-rechtlichen Status) und für die Sicherstellung des Angebotes (mit-)verantwortlich sind. Anders dagegen erfolgt die Erbringung der von Bund und Ländern in Sozialleistungsgesetzen garantierten Leistungen und Angebote, so für Leistungen des staatlichen Fürsorgeauftrags (z. B. Wohngeld, Ausbildungsförderung, Sozialhilfe und Jugendhilfe). Deren jeweilige Durchführung erfolgt nicht durch Bundes- und Landesbehörden, sondern ist auf die kommunale Ebene delegiert. Für Städte, (Land-) Kreise und Gemeinden als örtliche Träger handelt es sich dabei um Pflichtaufgaben, deren konkrete Ausgestaltung (das „Wie“) den Kommunen aber nicht im Einzelnen vorgegeben ist. In diesem Delegationsverfahren beteiligen die Kommunen (gemäß dem Subsidiaritätsprinzip) wiederum private Träger bzw. Anbieter, die sich in freigemeinnützige oder privat-erwerbswirtschaftliche Anbieter unterscheiden lassen. Zu den wichtigsten privaten Trägen gehören die Verbände der freien Wohlfahrtspflege. Dazu zählen insgesamt sechs Spitzenverbände: die Arbeiterwohlfahrt, der Deutsche Caritasverband, das Diakonische Werk, das Deutsche Rote Kreuz, der Paritätische Wohlfahrtsverband sowie die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Im Zuge der Einführung der Pflegeversicherung und entsprechender Regelungen im Sozial- und Jugendhilferecht sind aber auch zunehmend privat-gewerbliche Unternehmen bzw. Freiberufler an der Erbringung sozialer Angebote beteiligt. Wieder andere Akteure gibt es im Bereich der sozialpolitischen Gesetze und Maßnahmen, welche im weitesten Sinne die Gestaltung der Arbeitsbedingungen betreffen. Als Instanzen, die die korrekte Anwendung der Arbeitsschutz- und Arbeitszeitregelungen kontrollieren, dienen die staatlichen Gewerbeaufsichtsämter bzw. die
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Sozialpolitik und soziale Lage
Ämter für Arbeitsschutz sowie die Berufsgenossenschaften. Die Inanspruchnahme von Rechten erfolgt durch die berechtigten Arbeitnehmer:innen; Informations- und Aufklärungsaufgaben übernehmen die Personalabteilungen, die betrieblichen Interessensvertretungsorgane (Betriebs- und Personalräte) sowie die Tarifparteien.
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Sozialpolitik der Europäischen Union
Die EU ist bis heute in ihrem Kern eine Wirtschaftsgemeinschaft, aber keine Sozialgemeinschaft. In den europäischen Verträgen ist eindeutig festgelegt, dass Maßnahmen der EU in die sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedsstaaten allenfalls nachrangig eingreifen dürfen. Es gilt der Grundsatz der Subsidiarität. Zwar sind im Verlauf der europäischen Einigung auch soziale bzw. sozialpolitische Ziele in die Gemeinschaftsverträge aufgenommen bzw. in besonderen Erklärungen beschlossen worden, so u. a. die 1997 vom Europäischen Rat und vom Europäischen Parlament verabschiedete Europäische Säule Sozialer Recht (ESSR), doch sind die Formulierungen sehr allgemein gehalten und nicht verbindlich. Die gemeinschaftsrechtlichen Zuständigkeiten der Organe der EU – Kommission, Rat und Parlament – beziehen sich insofern auf nur wenige Felder der Sozialpolitik und leiten sich im Wesentlichen aus dem Auftrag ab, die wirtschaftlichen Grundfreiheiten, nämlich freier Warenverkehr, Dienstleistungsfreiheit, freier Kapital- und Zahlungsverkehr, Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit, sicherzustellen und Wettbewerbsbeschränkungen auszuschalten. Beispielhaft dafür ist das EU-Gemeinschaftsrecht zur Sicherstellung des Grundsatzes der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Es handelt sich hierbei um Regelungen hinsichtlich insbesondere •
der sozialen Sicherheit der Wanderarbeitnehmer:innen durch Abstimmung bzw. Anrechnung der Sicherungsansprüche aus den nationalen Sicherungssystemen bei grenzüberschreitender Beschäftigung; • der Gleichbehandlung von Männern und Frauen am Arbeitsplatz, insbesondere in Bezug auf die Verhinderung von Entgeltdiskriminierung; • des Arbeitsschutzes und der Arbeitsbedingungen, um durch die Festlegung von Mindestnormen Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. In diesen Feldern einer den Binnenmarkt flankierenden Sozialpolitik greift die EU mit einer regulativen Politik ein. Sie erlässt Verordnungen oder Richtlinien, die dann zum nationalen Recht werden. Verordnungen sind mit Gesetzen vergleichbar und wirken unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat. Richtlinien hingegen sehen verbindliche Ziele vor, überlassen die konkrete Umsetzung in nationale Gesetze jedoch den Mitgliedsstaaten. Zu den wichtigsten in den letzten Jahren verabschiedeten Richtlinien gehören die Entsenderichtlinie, die Dienstleistungsrichtlinie und die Arbeitszeitrichtlinie.
Sozialpolitik der Europäischen Union
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Es zählen jedoch nicht nur die erlassenen Normen. Zu berücksichtigen ist außerdem ein beträchtliches Maß an Richterrecht. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat wiederholt nationale Regelungen vor allem des Arbeitsrechts als mit den Gemeinschaftsverträgen als nicht vereinbar erklärt. Durch Urteile des EuGH ist auch die Gleichstellungspolitik vielfach konkretisiert worden. Zudem ergeben sich aus den gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen (freier Waren- und Dienstleistungsverkehr) mittelbare Auswirkungen auf die Gesundheits- und Sozialsysteme der einzelnen Staaten. So haben nach Rechtsprechung des EuGH die Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen das Recht, Dienstleistungen (ärztliche Behandlung) und Waren (Arznei-, Heil- und Hilfsmittel) von Anbietern aus anderen EU-Ländern in Anspruch zu nehmen und die Kosten erstattet zu bekommen. Auch über eine eigenständige Beschäftigungspolitik und ein entsprechendes Instrumentarium verfügt die EU nicht. Ihre vertraglich fixierte Aufgabe ist es, die einzelstaatlichen Politiken zu unterstützen und zu koordinieren. Die Schwerpunkte liegen hierbei auf den Themen Förderung der Beschäftigungsfähigkeit, Qualifizierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte. Eine wichtige Funktion hat hierbei der EUSozialfonds als einer der vier EU-Strukturfonds. Die Mittel aus dem Sozialfonds (kofinanziert durch nationale Mittel) fließen in Programme und Projekte der Mitgliedsstaaten zur Qualifizierung und Beschäftigung und haben das Ziel, strukturschwache Regionen zu fördern. Trotz aller Einschränkungen lässt sich nicht übersehen, dass die EU seit geraumer Zeit versucht, einen stärkeren Einfluss auf die nationalen Politiken zu nehmen. Deutlich wird dies durch die in ihren Zielen und Maßnahmen schon konkreteren „Weißbücher“ und „sozialpolitischen Agenden“, die die EU-Kommission (z. T. auch gemeinsam mit dem Rat) regelmäßig vorlegt. Zu einer Politikbeeinflussung in den Mitgliedsstaaten der EU führt auch die so genannte „Methode der offenen Koordinierung“. Dieses in der Beschäftigungspolitik entwickelte Koordinierungsverfahren ist schrittweise auf andere Felder der Sozialpolitik ausgeweitet worden, zum Beispiel auf die Bekämpfung von Ausgrenzung und Armut, die Alterssicherung, die Gesundheitspolitik und die Familienpolitik. Hiernach beschließt der Europäische Rat über Leitlinien und Ziele für die einzelnen Politikfelder und legt ein Set von empirisch überprüfbaren Indikatoren fest, um in einem Vergleich der Ergebnisse der nationalen Systeme über ergriffene Maßnahmen, die Folgen und den Grad der Zielerreichung Auskunft geben zu können. Es handelt sich also um ein Benchmarking- und Evaluationsverfahren, das auf die sozialpolitische Entwicklung in den Mitgliedsstaaten einwirken soll. Die Erwartung ist, dass es über das Aufgreifen von Best Practice-Beispielen und ein öffentlichkeitswirksames VoneinanderLernen zu einer Konvergenz, d. h. einer schrittweisen Angleichung der Sozialpolitik, kommt. Einen mittelbaren, aber sehr viel stärkeren Einfluss auf die nationale Sozialpolitik haben allerdings die Bestrebungen einer makroökonomischen Koordinierung der Mitgliedsländer. Im Gefolge der Finanz- und Verschuldungskrise greift die EU immer
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Sozialpolitik und soziale Lage
stärker in die Wirtschafts- und Haushaltspolitik der Länder (insbesondere im EuroRaum) ein. Da ein Großteil der nationalen Haushalte für Sozialausgaben eingesetzt wird, zielen Vorgaben zu einer Begrenzung der öffentlichen Ausgaben immer auch auf die Sozialpolitik. Um eine Zuspitzung oder Wiederholung der Haushaltsprobleme in den Euro-Ländern zu vermeiden und die dahinterstehenden wirtschaftspolitischen Ungleichgewichte zwischen den Ländern (Preise und Exportstärke, Leistungsbilanzüberschüsse und -defizite, Wettbewerbsvor- und -nachteile, Inflations- und Deflationstrends) auszugleichen, kommt ein Instrumentarium zur wirtschafts- und haushaltspolitischen Koordinierung zur Anwendung. Dieser sog. Fiskalpakt beinhaltet im Wesentlichen die folgenden Elemente: • Verankerung ausgeglichener Haushalte in den nationalen Verfassungen, • Festlegung mittelfristiger Haushaltsziele für jedes Land, • Annäherung an ein Haushaltsdefizit von 0,5 Prozent des BIP, • Berichterstattungspflichten gegenüber Rat und Kommission, • Überwachung durch Rat und Kommission, • Sanktionen bei Nicht-Erfüllung
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Sozialstaat und soziale Gesellschaft
9.1
Sozialstaat und Grundgesetz
Die staatliche Sozialpolitik hat sich von ihren Anfängen im 19. Jahrhundert bis heute in zahlreiche Teilbereiche ausdifferenziert. Im Ergebnis ist ein – bei allen Defiziten, die in diesem Handbuch im Detail beschrieben und analysiert werden – weit ausgreifendes System der sozialen Sicherung entstanden, das nicht erst bei existenzbedrohenden Notlagen und bei Bedürftigkeit eingreift, sondern Einkommens-, Versorgungs- und Lebenslagen umfassend sichert. Die Ausgestaltung einer bis weit in die Mittelschichten hineinreichenden Sozialpolitik ist ein zentraler Faktor für die hohe Zustimmung, die nach empirischen Befunden der Sozialstaat in der Bevölkerung genießt. Dies gilt insbesondere für die Zweige der Sozialversicherung. Da die Leistungen der Sozialversicherung auf durch Beitragszahlungen erworbenen Rechtsansprüchen beruhen, kommen die Bürgerinnen und Bürger nicht als Bittstellende zum Staat und brauchen sich auch keiner Bedürftigkeitsprüfung zu unterziehen. Die spezielle Gestalt von Sozialpolitik und Sozialstaat ist Ergebnis einer langen Kette von sozialen Auseinandersetzungen, politischen Konflikten und Kompromissen. Das bedeutet, dass es keine automatische und lineare Entwicklung in der Gestaltung des Sozialstaates gibt: Wie ein Blick auf die Geschichte, aber auch auf die Gegenwart zeigt, können Phasen des quantitativen oder qualitativen Ausbaus durch Phasen
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des Um- und Abbaus sozialpolitischer Leistungen abgelöst werden. Das Grundgesetz lässt jedoch keinen weitgehenden Abbau oder gar eine Eliminierung des Sozialstaates zu: Es verpflichtet auf die Schaffung und Bewahrung einer sozialen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung. „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ heißt es in Art. 20 Abs. 1 GG. Und nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 des GG muss die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern „den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes entsprechen.“ Das hier formulierte Sozialstaatsgebot ist zwar inhaltlich unbestimmt – legt also nicht fest, welche sozialpolitischen Leistungen in welcher Höhe und Reichweite erforderlich sind – aber in seiner Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht das Sozialstaatsprinzip mehrfach als Verpflichtung des Staates interpretiert, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen sowie die Existenzgrundlagen der Bürgerinnen und Bürger zu sichern und zu fördern. Demokratie und Sozialstaat bedingen demnach einander: Denn die gleichberechtigte gesellschaftliche und politische Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger ist nur dann gewährleistet, wenn die formal verbürgten Freiheitsrechte auch materiell und sozial fundiert sind. Neben diesem ausdrücklichen, wenngleich allgemeinem Gebot zum sozialen Handeln enthält das Grundgesetz weitere Artikel, die den Staat auf bestimmte soziale Grundwerte verpflichten. Von sozialpolitischer Bedeutung sind vor allem: • Art. 1 Abs. 1, der die Unantastbarkeit der Würde des Menschen betont. Hieraus leitet sich die Verpflichtung des Staates ab, jedem Bürger das Existenzminimum zu sichern. • Art. 3, der mit seinen Gleichheitssätzen den Staat verpflichtet, Ungleichbehandlungen abzubauen oder zu vermeiden. Dieser Passus hat in den zurückliegenden Jahren vor allem dazu beigetragen, dass Frauen im Sozial-, Arbeits- und Tarifrecht Männern gleichgestellt worden sind. Zugleich hat er Anlass zur Ausweitung der Behindertenpolitik gegeben. • Art. 6, der in Abs. 1 Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt und in Abs. 5 nichteheliche Kinder den ehelichen gleichstellt. Die wegweisenden familienorientierten Steuer- und Rentenrechtsurteile des Bundesverfassungsgerichtes der letzten Jahre basieren auf diesem Artikel.
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Übersicht I.3 Sozialstaat und Grundgesetz Art. 1
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Art. 3
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Art. 6
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. (3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. (4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. (5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.
Art. 9
(1) Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden. (3,1) Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet.
Art. 20
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
Art. 28
(1,1) Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen.
9.2
Soziales Engagement in Familie und Gesellschaft
Auch wenn an der Ausformung und Durchführung der Sozialpolitik viele nichtstaatliche Träger und Akteure beteiligt sind, so handelt es sich im Kern doch um ein staatliches Politikfeld. Das politische Ziel, Wirtschaft und Gesellschaft nach sozialen Kriterien zu gestalten, also für eine soziale Marktwirtschaft und soziale Gesellschaft zu sorgen, lässt sich aber nicht allein durch staatliche Interventionen und Leistungen erreichen. Grundlegend für die Qualität einer Gesellschaft und damit für die Lebensbedingungen der Bevölkerung ist daneben auch die Fähigkeit einer Zivilgesellschaft, ihren sozialen und moralischen Zusammenhalt durch Bürgersinn, Gemeinwohlorientierung und bürgerschaftliches, soziales Engagement jenseits von Markt und Staat zu sichern.
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Der Sozialstaat baut auf einem Netz privater, informeller Unterhalts- und sonstiger Dienstleistungen auf und kann das Engagement in der Familie und im Gemeinwesen nicht einfach ersetzen. Auch die soziale Verantwortung der Unternehmen für ihre Beschäftigten und die Gesellschaft erübrigt sich durch Sozialpolitik nicht. Vielmehr kommt es darauf an, die Menschen zu befähigen und zu motivieren, Verantwortung für sich und das Gemeinwohl zu übernehmen und soziale Aufgaben auf freiwilliger Basis zu erfüllen. Und das „Soziale“ in der Marktwirtschaft setzt ein sozial verantwortliches Handeln der Unternehmen voraus, das nicht ausschließlich auf kurzfristige Renditevorteile und Profitkalküle abstellt. Es geht nicht nur um die wirtschaftliche Produktivität eines Gemeinwesens, sondern auch um die soziale Produktivität, nicht nur um das ökonomische Kapital, sondern auch um das Sozialkapital. Die Voraussetzungen für eine soziale Gesellschaft sind allerdings nicht automatisch gegeben, sie werden maßgeblich durch die gesellschaftlichen Strukturen und Rahmenbedingungen beeinflusst. Individuelles Verhalten und gesellschaftliche Verhältnisse bedingen einander. So ist es widersprüchlich, Gemeinsinn, mitmenschliche Solidarität und unentgeltliche Mitarbeit im Ehrenamt zu erwarten, zugleich aber eine Entwicklung hin zu einer marktradikale Konkurrenzökonomie zuzulassen, die alle Lebensbereiche durchdringt, den Menschen nur unter der Maxime von Eigennutz und Renditemaximierung sieht und ihn in diese Richtung formt. Die ökonomischen und sozialen Verhältnisse sind gestaltbar, die Bedingungen für familiäres und bürgerschaftliches Engagement lassen sich durch die Politik beeinflussen. Diese Aufgabe bezieht sich vor allem auf die Gestaltung von Arbeitsmarkt, Arbeitsverhältnissen und Arbeitszeit, wenn das Ziel besteht, das Arbeitsleben familienfreundlich zu gestalten. Auch die Bereitschaft, soziale Verantwortung gegenüber den Mitmenschen zu übernehmen, eine Familie zu gründen und Kinder zu haben, hängt entscheidend davon ab, ob es der Politik gelingt, den Beschäftigten Arbeitsplatzsicherheit, sozialen Schutz und damit Zukunftsperspektiven zu bieten. Die Empirie zeigt, dass die Familien, und hier in erster Linie Frauen, auch heute noch den Großteil an sozialen Dienstleistungen übernehmen. Der hohe Grad an familiär-häuslicher Versorgung von Pflegebedürftigen ist das beste Beispiel dafür. Dieses familiäre Leistungspotenzial lässt sich sozialpolitisch stützen und fördern, so durch ein Angebot an ambulanten und teilstationären Pflege- und Hilfsdiensten, durch Beratung und auch durch monetäre Anerkennungsleistungen. Ein beachtliches Ausmaß weist auch das soziale bürgerschaftliche Engagement der Menschen auf, etwa ein Viertel der Bevölkerung kann hier als aktiv tätig eingeschätzt werden. Sozialpolitik kann dabei unterstützend und fördernd wirksam werden, durch die Einrichtung von Selbsthilfekontaktstellen, von Informationsbörsen und durch die Finanzierung von infrastrukturellen Voraussetzungen. Insgesamt kommt der Sozialpolitik damit die Funktion zu, traditionelle Sicherungsformen, die an Bedeutung zu verlieren drohen, so insbesondere Familie und andere wichtige soziale Netzwerke, zu stärken und in ihrer Funktionsfähigkeit zu erhalten. Andererseits sorgt sie für Ersatz dort, wo diese nicht mehr existieren, versagt
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haben oder gestiegenen professionellen Ansprüchen nicht mehr genügen. Dies gilt insbesondere für viele soziale Dienste im Umfeld von Kinder-, Jugend-, Familie- sowie Alten- und Pflegehilfe.
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10.1 Neoliberale Grundsatzkritik Kritik am Sozialstaat ist nicht neu; sie begleitet die Entwicklung der Sozialpolitik seit ihrem Beginn. Wie der historische Überblick seit 1949 zeigt, ist es in der Bundesrepublik vor allem in ökonomischen und politischen Krisenphasen, immer wieder zu heftigen politischen Auseinandersetzungen über die Wirkungen und die Ausrichtung der Sozialpolitik gekommen. Konjunkturelle Rezessionen, Stagnationsphasen, Massenarbeitslosigkeit und Defizite in den Haushalten der Gebietskörperschaften und Sozialversicherungsträger, hohe Belastung von Wirtschaft und Arbeitnehmer:innen durch Steuern und Beiträge haben zu Forderungen nach Leistungskürzungen geführt. Nicht nur Leistungsausbau und Ausdehnung von abgesicherten Risiken und berechtigten Personengruppen haben die Entwicklung geprägt, sondern auch Leistungsabbau und Umorientierungen, ohne dass es aber zu einem grundsätzlichen Richtungswechsel gekommen ist. Ein qualitativer Einschnitt erfolgte allerdings durch die Dominanz neoliberaler Denkmuster und Politikempfehlungen seit den 1980er Jahren. Im Zuge der Globalisierung der Waren- und Dienstleistungsmärkte, der Entfesselung des Finanzmarktkapitalismus und der Schwächung der Gewerkschaften einerseits, der Wirkmächtigkeit marktradikaler Vorstellungen einer Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft andererseits, ist es – beginnend in den USA und in Großbritannien (Reagan und Thatcher) – in vielen Ländern zu einer grundsätzlichen Infragestellung von staatlichen Interventionen und der gewachsenen sozialpolitischen Regime gekommen. Es ging dabei nicht allein um das Pro und Kontra hinsichtlich einzelner Einschnitte und Leistungsverschlechterungen im System, sondern um einen Richtungswechsel. Auch in Deutschland haben sich in dieser Zeit die mehrheitlich vertretenen normativen Positionen verschoben und die neoliberalen Ordnungsideen an Wirkmächtigkeit gewonnen – und zwar in den Parteien, im öffentlichen und medialen Meinungsbild und auch in der konkreten Politik. Ab Mitte der 1990er Jahre, nach dem Ende der Vereinigungskonjunktur hatte sich angesichts einer anhaltenden Wachstumsschwäche, anschwellenden Arbeitslosigkeit und der steigenden Belastungen der öffentlichen Haushalte durch die Einigungsfolgen ein enormer Problemdruck aufgebaut, dessen Lösung aus neoliberaler Sicht nur durch radikalen Umbruch zu erreichen sei. Insbesondere der Prozess der fortschreitenden Globalisierung, so die Argumentation, mache Veränderungen des Sozialstaats und konkret der Sozialpolitik und ih-
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rer Ausgestaltung erforderlich. Die Krisendiagnose liest sich wie folgt: Die offenen Märkte, vor allem die globalisierten Finanzmärkte, verschärfen nicht nur die Konkurrenz auf der Ebene der Unternehmen, sondern verändern auch die ökonomischen Rahmenbedingungen ganzer Volkswirtschaften und verengen die politischen Handlungs- und Gestaltungsspielräume auf nationaler Ebene. Steuer-, Finanz-, Arbeitsmarkt- und Sozialsysteme der Staaten sehen sich im internationalen Standortwettbewerb einem ständigen Anpassungsdruck ausgesetzt. Der in Prosperitätsphasen ausgebaute Sozialstaat sei aufgrund seines überzogenen Niveaus sowie seiner leistungs- und wachstumshemmenden Strukturen sowie Finanzierungsprinzipien nicht überlebensfähig. Sozialpolitik habe sich zum Problemverursacher entwickelt und gefährde die Zukunftschancen der deutschen Wirtschaft. Richtschnur der geforderten Umgestaltung sind deshalb ein Rückzug des Staates und marktförmige oder marktkonforme Lösungen der Wohlfahrtsproduktion. Die politischen Schlussfolgerungen aus dieser Diagnose mündeten in einer Reihe von Forderungen, die auf einen quantitativen Abbau und qualitativen Umbau der Sozialpolitik zielten. Dazu zählen vor allem die Vorstellungen, • •
auf dem Arbeitsmarkt arbeitsrechtliche Regulierungen einzuschränken, das sozialpolitische Leistungsspektrum und -niveau in Richtung einer Basissicherung abzubauen und sich bei der Leistungsvergabe auf die Förderung der „wirklich Bedürftigen“ zu konzentrieren, • die soziale Sicherung stärker marktlich zu organisieren und Wettbewerbsstrukturen einzurichten, • die Belastung der Unternehmen durch Lohnnebenkosten (Sozialversicherungsbeiträge) nachhaltig zu reduzieren, • Arbeitslose durch nur noch knapp bemessene und bedürftigkeitsgeprüfte Transfers zur Arbeitsaufnahme zu veranlassen. Sozialpolitik sollte demnach auf einen flexiblen Arbeitsmarkt hin orientieren, den Selbststeuerungskräften des Marktes vertrauen, die Einkommensumverteilung begrenzen und die freie Entfaltung der Kräfte fördern. Die Hinnahme eines höheren Maßes an Unsicherheit und Ungleichheit sei unabdingbar, um über diesen Weg die Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit der Volkswirtschaft zu verbessern, das dynamische Entwicklungspotenzial der Marktkräfte zu mobilisieren und die Arbeitslosigkeit abzubauen. Leitbild war ein Sozial- und Gesellschaftsmodell, das die Eigenverantwortung des Einzelnen für seine soziale Sicherung und seine Einkommens- und Lebenslage betont und die Verantwortung des Staates entsprechend zurücknimmt.
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10.2 Umbau des deutschen Sozialstaats Es ist nicht nur bei dieser Kritik geblieben; in der Politik wurde eine ganze Reihe der geforderten Maßnahmen des Abbaus und Umbaus auch umgesetzt. Die Stichworte „Agenda 2010“ und „Hartz-Gesetze“ bezeichnen diese Phase der Sozialpolitik, die in zentralen Bereichen zu einem Paradigmenwechsel geführt hat. Eine schwer überschaubare Vielzahl von Eingriffen in Sozialleistungsgesetze und auch von grundsätzlich neuen Regelungen lässt sich bis etwa 2014 feststellen. Es ist nicht möglich, ein dominantes oder gar einziges Strukturmuster aufzuzeigen, dafür handelt es sich bei der Sozialpolitik um ein zu vielschichtiges Politikfeld mit je unterschiedlichen Zielsetzungen, Adressaten, Instrumenten, Funktionen, Wirkungen und Institutionen. Auch ist es in dieser Restriktionsphase im Unterschied zu vielen anderen Ländern nicht zu einem durchgängigen Sozialabbau gekommen, in einigen Politikfeldern, und zwar vor allem in der Familienpolitik und in der Pflege, hat es auch Leistungsausweitungen gegeben. Gleichwohl lassen sich Trends identifizieren. Auffällig ist, dass zwar nicht der Sozialstaat demontiert worden ist – der Anteil der Sozialausgaben am Sozialprodukt erweist sich als bemerkenswert stabil –, dass sich aber einige Grundprinzipien des deutschen Sozialstaatsmodells verändert haben und neue Strukturen erkennbar sind. Privatisierung und Vermarktlichung Im System der sozialen Sicherung, insbesondere im Bereich der Rentenversicherung (seit Einführung der Riester-Rente), kommt es zu einer deutlichen Reduktion des Rentenniveaus. Das lange Jahre vorherrschende Leistungsziel der Lebensstandardsicherung gilt nur noch sehr eingeschränkt, das Ziel einer Minimal- oder Mindestsicherung gewinnt an Bedeutung. Eine ersetzende private, kapitalgedeckte Vorsorge durch Produkte des Versicherungs- und Finanzmarktes wird ausgebaut und gefördert. Die soziale Sicherung wird damit teilweise privatisiert und vermarktlicht. Der Staat reguliert die expandierenden Wohlfahrtsmärkte, um ein Mindestmaß an Sicherheit und Verbraucherschutz zu gewährleisten, und fördert zugleich die freiwillige private Vorsorge über Zuwendungen und Steuererleichterungen. Im Ergebnis verlieren Solidarprinzip und Einkommensumverteilung an Gewicht, da die private Vorsorge sozial stark selektiv und ausgrenzend wirkt. Der Trend der Privatisierung erfasst gleichermaßen die kommunale Sozialpolitik und Daseinsvorsorge: Die Kommunen ziehen sich aus der Wohnraumversorgung zurück, Wohnungsbestände werden an Konzerne verkauft. Das gleiche gilt für kommunale Krankenhäuser oder Pflegeheime. Aktivierung und Förderung der Beschäftigungsfähigkeit Das Ziel von Sozialpolitik, soziale Sicherheit vor den Risiken des Marktes zu gewährleisten, Einkommensungleichheiten zu begrenzen und Schutz zu bieten vor Ausgrenzung und Armut, wird zurückgedrängt. In den Vordergrund schiebt sich das
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Ziel, alle Arbeitsfähigen in den Arbeitsmarkt zu integrieren – und dies auch zu den schlechtesten Konditionen. In der Arbeitsmarktpolitik soll dies durch Fördermaßnahmen, durch Lohnsubventionen, die Absenkung von Transferleistungen an Arbeitslose sowie durch eine Verschärfung von Sanktionen und die Verschlechterung der Rechtsposition der Betroffenen erzwungen werden. Förden und Fordern lautet das Schlagwort. Es kommt zu einer Re-Kommodifizierung der Arbeitskraft, d. h. die Begrenzung des Warencharakters der Arbeitskraft durch sozial- und arbeitsrechtliche Schutzregelungen wird ausgedünnt. Der Staat zieht sich nicht einfach zurück, sondern wandelt sich vom „versorgenden“ zum „aktivierenden“ Sozialstaat. Bedeutungszuwachs von fürsorgerechtlichen Leistungen Durch die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe und die gleichzeitige Erschwerung und Verkürzung des Anspruchs auf die Versicherungs- und Lohnersatzleistung Arbeitslosengeld wird die Existenzsicherung des größten Teils der Arbeitslosen auf die fürsorgerechtlich konstruierte Leistung Grundsicherung für Arbeitsuchende/Arbeitslosengeld II verlagert. Der Leistungsbezug wird an die strenge Kondition geknüpft, eine Erwerbstätigkeit oder Arbeitsgelegenheiten auch dann aufzunehmen, wenn mit der neuen Stelle ein sozialer Abstieg verbunden ist. Arbeitslose, die nicht binnen kurzer Zeit eine neue Beschäftigung finden, werden dann trotz womöglich langjähriger Beitragszahlungen gleich behandelt mit jenen, die noch nie in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden haben. Dies ist für die Betroffenen ein tatsächliches, für alle (noch) Beschäftigten ein potenzielles Risiko. Die soziale Unsicherheit bei Arbeitslosigkeit wächst, Arbeitslosigkeit wird auch für die Mittelschichten zur existenziellen Bedrohung. Ausweitung von Niedriglöhnen und prekären Beschäftigungsverhältnissen Der Sektor der Niedriglohnbeschäftigung hat sich ausgeweitet. Dies ist zum einen Folge der hohen Arbeitslosigkeit, der Schwäche der Gewerkschaften, der Privatisierung staatlicher Unternehmen und des ungebrochenen Trends der Dienstleistungsbeschäftigung. Zum anderen wirkt die Ausformung der Sozial- und Beschäftigungspolitik auch gezielt in diese Richtung: Infolge des niedrigen Niveaus der Grundsicherung und ihres fehlenden Bezugs zum vormaligen Einkommen, der Bedürftigkeitsprüfungen und Sanktionsmechanismen sowie der Regelung, dass Arbeitslose auch Arbeitsverhältnisse mit einer Entlohnung unterhalb des tariflichen oder ortsüblichen Mindestniveaus annehmen müssen, können Arbeitslose in unterwertige Beschäftigung gedrängt werden. Zugleich werden Anreize gesetzt, nicht sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse auszuweiten, das betrifft vor allem Mini-Jobs, Leiharbeit, befristete Arbeitsverträge und neue Formen selbstständiger Arbeit. Vermischung der Prinzipien von gesetzlicher und privater Versicherung Unverändert bleibt die Sozialversicherung ein grundlegendes, auf die abhängig Beschäftigten konzentriertes System. Der Übergang zu einer universellen Versicherung,
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die sich allein am Bürgerstatus orientiert, ist nicht in Sicht. Aber durch die zunehmende staatliche Regulierung der privaten Sicherung, so in der privaten Krankenversicherung durch Basistarife und Einführung einer Versicherungspflicht, finden sich klassische Prinzipien der Sozialversicherung zunehmend auch im privaten System. Auf der anderen Seite prägen typische Elemente der Privatversicherung, so Wahltarife, Selbstbehalte, Kostenerstattung, die Sozialversicherung, während Elemente des Solidarausgleichs zurück genommen werden mit der Folge einer zunehmenden Belastung und Benachteiligung der Versicherten mit sog. „schlechten Risiken“. Wettbewerbsstrukturen bei den Leistungsanbietern Kommunen und Sozialversicherungsträger ziehen sich aus der direkten Erbringung sozialer Dienstleistungen zurück und übertragen die Aufgaben privaten Anbietern. Durch neue Vergabe- und Finanzierungsverfahren entwickelt sich zwischen den Anbietern ein scharfer Preiswettbewerb, der vor allem die Wohlfahrtsverbände und andere gemeinnützige Träger unter Druck setzt. Und in der gesetzlichen Krankenversicherung selber verschärft sich der Wettbewerb zwischen den einzelnen gesetzlichen Krankenkassen. Veränderungen in den Arbeitsbeziehungen Das System der Arbeitsbeziehungen hat sich formal nicht wesentlich verändert, aber die gelebte Praxis hat sich tiefgreifend gewandelt. Das früher umfassende und engmaschige Netz von branchenbezogenen Flächentarifverträgen, mit denen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände die Arbeits- und Einkommensbedingungen regeln, hat in den letzten zwei Jahrzehnten viele Löcher bekommen. Die Erosion des Tarifsystems hat die Tarifbindung deutlich zurückgehen lassen. Die weißen Flecken auf der Tariflandkarte werden größer. Nur noch jede/r zweite Beschäftigte wird unmittelbar durch Tarifverträge geschützt. Auch die betriebliche Mitbestimmung hat an Reichweite verloren, der Anteil der Betriebe mit Betriebsräten geht kontinuierlich zurück. Das Ergebnis ist ein deutlich schwächeres Schutzniveau. Eine Ursache liegt in der Schwächung der gewerkschaftlichen Durchsetzungsmacht. Die Gewerkschaften haben seit der Jahrtausendwende erheblich an Mitgliedern verloren. Seit einigen Jahren gilt daher das Bestreben der Tarifparteien und der Politik der Stärkung des Tarifsystems. Durch die Erschließung neuer Mitgliederschichten durch die Gewerkschaften und durch die gesetzliche Förderung von Tarifbindung soll eine Trendumkehr eingeleitet werden. Bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie Das für den deutschen Sozialstaat typische Set an institutionellen Regelungen und Maßnahmen (u. a. abgeleitete soziale Sicherung, Ehegattensteuersplitting, geringfügige Beschäftigungsverhältnisse), das die traditionellen Geschlechterrollen materiell und sozial stützt und für Frauen, und hier insbesondere für Mütter, Erwerbsunterbrechungen und allenfalls Teilzeitarbeit vorsieht, wird zwar nicht abgeschafft aber
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doch modifiziert. In der Rentenversicherung findet eine langsame Umsteuerung von der Honorierung der Ehe hin zur Berücksichtigung der Erziehung von Kindern statt. Ferner fördert das Elternzeit- und Elterngeldgesetz die parallele Verknüpfung von Erwerbstätigkeit und Kindererziehung. Hinzu kommt der deutliche Ausbau der Kinderbetreuungsangebote. Dahinter steht nicht nur die Absicht der Geschlechtergleichstellung, sondern auch der Gedanke einer Sicherung und Förderung der Beschäftigungsfähigkeit von Frauen, sie sollen nach der Geburt von Kindern wieder ins Erwerbsleben zurückkehren, so dass die Bildungsinvestitionen in Frauen nicht fehlgeleitet sind. Bildung und Qualifikation: Investive Sozialpolitik Die traditionelle Blindstelle in der deutschen Sozialpolitik, nämlich die soziale Flankierung von schulischer und beruflicher Bildung wird im Zuge einer verstärkt auf Aktivierung und Vorsorge setzenden Strategie langsam überwunden. Insbesondere die Betreuung und Erziehung von (Klein)Kindern wird ausgebaut, um das zentrale Arbeitsmarktrisiko einer unzureichenden schulischen und beruflichen Qualifikation zu verringern. Investition in Bildung ist das Credo einer vorsorgenden Sozialpolitik. 10.3 Revisionen des Sozialabbaus Aller Grundsatzkritik am „wirtschaftsfeindlichen“ Sozialstaat zum Trotz hat sich die ökonomische Lage in Deutschland seit etwa 2005 laufend verbessert. Seitdem erweist sich Deutschland nicht mehr als „kranker Mann Europas“, sondern gleichsam als Musterschüler und Vorbild: Andauernde Wachstumsraten (lediglich kurzfristig durch die Finanzkrise unterbrochen) sowie ein kontinuierlicher Zuwachs der Beschäftigung und ein merklicher Abbau der Arbeitslosigkeit kennzeichnen die Situation. Bis heute dominiert in der politischen und medialen Debatte die These, genau der vorab skizzierte Sozialabbau und -umbau sei die Ursache für diese Entwicklung. Die vorliegenden ökonomischen Analysen und Daten weisen indes darauf hin, dass es sich sowohl bei der Zunahme der Arbeitsnachfrage und des Arbeitsvolumens als auch beim Rückgang von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung primär um gesamtwirtschaftliche Niveaueffekte handelt. Diese sind bereits vor dem Inkrafttreten der Hartz-Gesetze eingetreten und haben sich seitdem über Jahre hinweg fortgesetzt. Ein sich selbst verstärkender Dauer-Effekt der Hartz-Gesetze, der bis hin zum aktuellen Rand für den kontinuierlichen Beschäftigungsaufbau kausal verantwortlich ist, lässt sich nicht erkennen. Der anhaltende Aufschwung wie auch die schnelle Überwindung der internationalen Finanzkrise waren im Wesentlichen von der Zunahme des Exports aus dem verarbeitenden Gewerbe getragen, der sich vor allem auf die Entwicklung innovativer Produkte, die hohe Lieferzuverlässigkeit und Fertigungsqualität, im Kern also auf Erfolge in der Innovations- und Qualifizierungspolitik und
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nicht auf niedrige Löhne und abgesenkte Leistungen bei Arbeitslosigkeit, zurückführen lassen. Hinzu kommen die Auswirkungen der temporären Arbeitszeitverkürzungen und des rasanten Zuwachses der Teilzeitarbeit. Im Zuge der günstigen ökonomischen Entwicklung und auch der Konsolidierung der öffentlichen Finanzen hat sich die Stimmungslage in der Sozialstaatsdebatte verschoben: Die Grundsatzkritik am Sozialstaat ist zwar nicht grundsätzlich verstummt, aber deutlich leiser geworden. Und unübersehbar ist auch, dass sich in der konkreten Sozialpolitik die Richtung verändert hat. Leistungsverbesserungen und partielle Revisionen des Paradigmenwechsels bestimmen das Bild: • Einführung des gesetzlichen Mindestlohns, • Begrenzung der Auswüchse von Leiharbeit und prekärer Beschäftigung, • Wiedereinführung der paritätischen Finanzierung in der Krankenversicherung durch Beteiligung der Arbeitgeber an den Zusatzbeiträgen, • Ausweitungen der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, • Ausweitung der Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik (Qualifizierung, Förderung des zweiten Arbeitsmarkts), • Mehrfache Leistungsverbesserungen und -ausweitungen in der Pflegeversicherung, • Leistungsverbesserungen in der Rentenversicherung vor allem im Bereich der Erwerbsminderungsrenten, • Stabilisierung des Rentenniveaus (zumindest) bis 2025. Es bleibt abzuwarten, ob dieser Trend auch dann anhält, wenn sich die wirtschaftlichen Bedingungen wieder verschlechtern sollten und sich die günstige Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt umkehrt.
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Reformperspektiven
Ebenso wie die praktische Sozialpolitik in ihren Ausprägungen und Prinzipien sowie deren Veränderungen von mehrheitlich vertretenen und politisch durchgesetzten Leitvorstellungen geprägt ist, also ohne ihre normativen Hintergründe nicht zu verstehen ist, beruht eine wissenschaftliche Analyse und Bewertung der Sozialpolitik und ihrer Entwicklungstrends immer auch auf Wertvorstellungen und normativ geprägten Einschätzungen. Das gilt im besonderen Maße für die Diskussion über Reformperspektiven und -alternativen. Reformen sind notwendig, um den neuen Herausforderungen gerecht zu werden und den Sozialstaat an die sich verändernden ökonomischen, sozialen und demografischen Verhältnisse anzupassen. Angesichts der Globalisierung der Wirtschaft, der Digitalisierung von Arbeitswelt und Lebenswelt, der Alterung der Bevölkerung, der andauernden Migrationsbewegungen, der Umbrüche in den Lebensformen und
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nicht zuletzt des Klimawandels ist auch und gerade die Sozialpolitik gefordert, die Zukunft positiv zu gestalten und den verbreiteten Zukunftsängsten entgegenzuwirken. Deshalb widmet das vorliegende Handbuch der Reformdiskussion in den einzelnen Kapiteln einen großen Raum, in denen nicht nur die großen Linien skizziert, sondern auch die schwierigen, häufig sogar grundlegenden Detailprobleme behandelt werden. An dieser Stelle soll dem nicht vorgegriffen werden. Vielmehr sollen nachfolgend einige zentrale Grundsätze skizziert werden. Insgesamt geht es darum, Sozialstaat und Sozialstaatsprinzip zugleich zu bewahren und weiter zu entwickeln. Normativer Bezugspunkt ist eine Gesellschaft, die durch soziale Sicherheit und sozialen Ausgleich charakterisiert ist und in der der Staat eine aktive und gestaltende Rolle spielt. Erst auf dieser Basis, so die These, bieten sich für alle Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeiten einer freien Entfaltung und gleichberechtigten Teilhabe. Das Vertrauen auf die Sicherheit des Sozialstaates ist ein Kernfundament einer demokratischen und offenen Gesellschaft und eine unverzichtbare Voraussetzung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. 11.1 Soziale Sicherheit, ökonomische Effizienz und Zusammenhalt der Gesellschaft Ein ausgebauter Sozialstaat kann kein „billiger“ Staat sein. Soziale Leistungen, Einrichtungen und Dienste müssen über Abzüge vom Markteinkommen finanziert werden. Nur das kann verteilt werden, was auf dem Markt auch produziert und erwirtschaftet worden ist. Ein hohes Einkommens- und Wohlfahrtsniveau setzt eine hohe Effizienz im Wirtschaftsprozess voraus. Die Voraussetzungen dafür sind schwieriger geworden. Die Weltmarktkonkurrenz hat sich deutlich verschärft, ganze Volkswirtschaften mit ihren Sozialstandards befinden sich in Konkurrenzbeziehungen. Vor allem die Internationalisierung der Geld- und Kapitalmärkte lässt sich als eine neue Qualität der Globalisierung beschreiben, die die Optionen der Unternehmen erweitert und den Handlungsspielraum nationaler Politik begrenzt. Eine stärkere Abstimmung der Finanz- und Sozialpolitik zumindest auf europäischer Ebene wird notwendig, wenn ein Unterbietungswettlauf im Sinne eines Sozial-Dumpings verhindert werden soll. Ein von der Bevölkerung akzeptiertes „soziales Europa“ kann nur erreicht werden, wenn die einseitige Orientierung der EU-Politik auf das ungehemmte Wirken des eines freien Marktes aufgegeben und soziale Mindeststandards verbindlich vereinbart und durchgesetzt werden. Es sind keine Anzeichen dahingehend zu erkennen, dass Länder mit ausgebauten sozialstaatlichen Systemen in diesem verschärften Konkurrenzkampf zu unterliegen drohen. International vergleichende Analysen zeigen, dass es zwischen den Variablen Sozialleistungsniveau einerseits, Wachstumsrate, Beschäftigungs- und Arbeitslosigkeitsniveau andererseits keine eindeutigen Zusammenhänge gibt. Die These, ein möglichst niedriges Niveau an sozialen Leistungen und Standards mit einer entspre-
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chend geringen Steuer- und Abgabenbelastung sowie ein flexibler und deregulierter Arbeitsmarkt verbunden mit einer großen Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen seien die besten Voraussetzungen für eine günstige Position auf dem Weltmarkt und für ein hohes Wachstums- und Beschäftigungsniveau, hält einer empirischen und theoretischen Überprüfung nicht stand. Vielmehr können sich soziale Unsicherheit, Angst vor Arbeitslosigkeit, sozialem Abstieg und sozialer Ausgrenzung als Leistungs- und Motivationsbremse auswirken und den wirtschaftlichen Strukturwandel behindern. Das ist in einer Situation, in der infolge der Digitalisierung der Arbeit Betriebe wie Beschäftigte unter einem beschleunigten Veränderungs- und Anpassungsdruck stehen, auch ökonomisch von Nachteil. Wenn es hingegen gelingt, technologische, ökologische und konjunkturelle Umbrüche sozial abzufedern und zugleich den Wandel der Arbeitswelt durch eine breit angelegte und den Erwerbsverlauf begleitende Ausbildung und Qualifizierung der Beschäftigten zu begleiten, ist dies ein Gewinn für alle Beteiligten. Der Sozialstaat ist deshalb kein unproduktiver „Kostgänger“ einer Volkswirtschaft, sondern wirkt als produktiver Faktor positiv auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zurück. Allerdings legitimiert nicht nur das „Produktivkraft-Argument“ den Sozialstaat. Sozialpolitik hat immer auch eigenständige Ziele, auch jenseits der Maßstäbe der ökonomischen Funktionalität. Der Umgang mit sozial Schwachen, mit Älteren, Behinderten, Familien und Kindern, das qualitative Niveau der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung, die Schaffung von gleichberechtigten Lebenschancen für die gesamte Bevölkerung – all diese Elemente haben einen eigenen Wert, der nicht durch den Hinweis auf ökonomische Effizienzverluste, verminderte Rentabilität oder entgangene Wachstumsraten außer Kraft gesetzt wird. Die Analyse der Lebens- und Arbeitsverhältnisse – aktuell und in der Zukunft – zeigt, dass in einer modernen Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft der weit überwiegende Teil der Bevölkerung auf kollektive Sicherungseinrichtungen angewiesen ist und bleiben wird. Gerade weil sich traditionelle Lebensweisen und soziale Bindungen auflösen, Erwerbsverläufe instabiler werden und sich die Risiken auf dem Arbeitsmarkt verschärfen, hat das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit und verlässlichen, allgemein zugänglichen und bedarfsgerechten Leistungsangeboten im Sozial- und Gesundheitswesen eine hohe Bedeutung. Sicherlich sind Menschen in einer höheren Einkommens- und Statusposition nicht zwingend auf die Leistungen des Sozialstaats angewiesen, sondern können sich wegen ihrer „guten Risiken“ womöglich günstiger privat absichern. Ein soziales Sicherungssystem jedoch, das sich tendenziell nur noch aus denjenigen zusammensetzt, die der Solidarität bedürfen, und von den Leistungs- und Finanzierungsfähigen verlassen wird, kann sich schnell zu einer diskriminierten Versorgung „zweiter Klasse“ entwickeln. Statt den Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken, käme es zu einer Auseinanderentwicklung.
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11.2 Weiterentwicklung der Sozialversicherung und Gestaltung des Arbeitsmarkts Der Sozialstaat ist ein Eckpfeiler für die Verbindung von ökonomischem Fortschritt, sozialem Ausgleich und demokratischer Gesellschaft. Der Sozialversicherung kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu. Die fünf Zweige der Sozialversicherung haben sich mit ihren Elementen Lohn- und Beitragsorientierung, Lohnersatz und Leistungsdynamik bei den Geldleistungen, Bedarfsbezug bei den Sachleistungen sowie paritätische Mittelaufbringung und Selbstverwaltung als gut geeignet erwiesen, die großen Lebensrisiken wie Invalidität, Alter, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit, Unfall abzusichern. Konstitutiver Bestandteil der Sozialversicherung, der sie sowohl von der Privatversicherung als auch von Fürsorgesystemen unterscheidet, ist vor allem die Verknüpfung von Versicherungsprinzip und Solidarprinzip. Hier ergänzen sich Eigenverantwortung und sozialer Ausgleich, Leistungsorientierung und Lebensstandardsicherung. Die Finanzierung im Umlageverfahren macht die Sozialversicherung unabhängig von den Turbulenzen auf den internationalen Kapitalmärkten. Gleichwohl sind auch Defizite nicht zu übersehen: Die Begrenzung der einzelnen Zweige der Sozialversicherung auf die abhängig Beschäftigten lässt Sicherungslücken entstehen und ist bei der Finanzierung mit Verteilungsungerechtigkeiten verbunden. Vor allem die Sonderregelungen für Selbstständige wie auch für Beamte führen zu Privilegierungen. Zudem lässt sich die Unterstellung, dass Selbstständige ausreichend für sich vorsorgen können und vorsorgen werden, heute weniger denn je halten. Angesichts der Umbrüche in der Arbeitswelt nimmt die Zahl der ungesicherten Selbstständigen zu, dies betrifft nicht nur die Solo-Selbstständigen, sondern auch den Kreis von kleinen Selbstständigen im Dienstleistungssektor und hier im besonders stark wachsenden Maße in der digitalen Plattformökonomie. Mittlerweile verwischen die Grenzen zwischen abhängiger und selbstständiger Arbeit – häufig werden beide Tätigkeitsformen parallel ausgeführt oder es findet ein mehrfacher Wechsel im Erwerbsverlauf statt. Deswegen ist es an der Zeit, die Gesamtheit der Erwerbstätigen im Sinne einer Bürger- oder Erwerbstätigenversicherung in die Sozialversicherungssysteme zu überführen. Solidarität ist unteilbar – im Nehmen wie im Geben. Für die Gewährleistung von sozialer Sicherheit haben die Prinzipien von Lohnersatz und Lebensstandardsicherung eine unverändert große Bedeutung. Denn eine gesicherte Lebensführung und -planung ist in einem System, das lediglich eine Basissicherung bietet, nicht gewährleistet. Private Vorsorge kann hier keinen Ersatz bieten, denn die Absicherung über Versicherungs- und Finanzmärkte kennt weder ein definiertes Leistungsziel noch einen Solidarausgleich. Benachteiligt sind vor allem jene, die aufgrund ihrer ungünstigen Arbeitsmarkt-, Lebens- und Einkommenslage weder bereit noch fähig sind, zu sparen oder Versicherungsprämien zu zahlen. Deshalb gilt es, den Schutz durch die Sozialversicherung hinsichtlich des Personenkreises und des Leistungsniveaus wieder zu erweitern. Das betrifft die Rentenversicherung wie
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auch die Arbeitslosenversicherung. Wenn Arbeitslose schon nach kurzer Zeit kein Arbeitslosengeld mehr erhalten – und zwar weitgehend unabhängig von der Dauer der vormaligen Beitragszahlung – und auf die bedürftigkeitsgeprüfte Grundsicherung verwiesen werden, so hat dies dazu beigetragen, dass breite Teile der Bevölkerung Ängste vor einem sozialen Abstieg haben. Das Sozialversicherungssystem ist eng mit dem Arbeitsmarkt verbunden. Ein hohes Niveau an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung sowie gute Löhne tragen nicht nur zu hohen Beitragseinnahmen bei, sondern verbessern auch die Leistungsansprüche Versicherten. Arbeitslosigkeit, diskontinuierliche Erwerbsverläufe, prekäre Beschäftigung, Niedriglöhne und die Ausdehnung von Teilzeitarbeit im unteren Stundenspektrum bewirken genau das Gegenteil. Arbeitslosigkeit und insbesondere die Langzeitarbeitslosigkeit führen zu gravierenden gesellschaftlichen und sozialen Folgeproblemen: Der Ausschluss aus der Erwerbsarbeit ist eng mit dem Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung verbunden, gefährdet die gesellschaftliche, kulturelle und politische Teilhabe und kann zur Desintegration ganzer Bevölkerungsgruppen führen. Die Sozialpolitik wäre allerdings überfordert, wenn sie versuchen würde, all diese Probleme nachträglich auszugleichen. Insofern bleiben Vermeidung und Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und die Erhöhung des Beschäftigungsniveaus eine Daueraufgabe einer vorsorgenden, präventiven Politik. Zugleich muss es darum gehen, Arbeitsförderung und Qualifizierungsangebote auszuweiten sowie die Arbeitsverhältnisse sozialstaatlich zu regulieren. Das setzt vor allem voraus, die Tarifautonomie zu stärken, die Schutzwirkung von Tarifverträgen auszuweiten und ergänzend für einen ausreichend hohen Mindestlohn zu sorgen. So lassen sich Niedriglöhne und die aufklaffenden Lohnspreizungen eindämmen. Betroffen von den Problemen auf dem Arbeitsmarkt, die unmittelbare Auswirkungen auf die soziale Absicherung haben, sind vor allem Frauen. Damit ist die Aufgabe angesprochen, die „Zuverdienstrolle“ von Frauen, die durch Anreize im Sozial- und Steuerrecht ja noch gefördert wird, zu überwinden und die parallele Vereinbarkeit von Beruf und Kindererziehung sowie von Angehörigenpflege möglich zu machen, und zwar für beide Geschlechter. 11.3 Vorsorge und sozialer Ausgleich Die Vermeidung von sozialen Risiken und Problemen hat zweifelsohne Vorrang vor der reinen Nachsorge und Kompensation. Dieser Grundsatz gilt für die Krankenversicherung und das Gesundheitssystem wie für die Absicherung bei Arbeitslosigkeit und die Arbeitsmarktpolitik. Es ist immer besser, das Entstehen von Krankheiten zu vermeiden, statt eine aufwändige Behandlung durchzuführen. Und wenn das Auftreten von arbeitsbedingten Erkrankungen, Erwerbsminderung und beruflicher Frühausgliederung verhindert werden soll, müssen die Arbeitsbedingungen und -be-
Reformperspektiven
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lastungen müssen so gestaltet werden, dass die Beschäftigten in der Lage sind, die Regelaltersgrenze in Gesundheit zu erreichen. Auch ist es geboten durch eine ausreichende schulische und berufliche Bildung und durch ergänzende Qualifizierungsund Eingliederungsmaßnahmen die Beschäftigungsfähigkeit zu fördern statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Dennoch kann sich Sozialpolitik nicht in der Vorsorge erschöpfen. Immer wird es auch notwendig sein, die Betroffenen bei eingetretenen Problemen zu unterstützen, ihnen ein ausreichendes Einkommen zu zahlen und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Denn durch die Sicherung von Chancengerechtigkeit und die Förderung von Beschäftigungsfähigkeit allein können die einmal entstandenen sozialen Probleme nicht gelöst werden. Auch wenn es richtig ist, die Verantwortung der Menschen für ihr Leben zu betonen, so wäre es falsch, soziale Probleme im Kern als individuelles Fehlverhalten zu interpretieren. So ist Arbeitslosigkeit keine Folge unzureichender Beschäftigungsfähigkeit und fehlender Bereitschaft einen Arbeitsplatz aufzunehmen, sondern Ergebnis eines gesamtwirtschaftlichen oder regionalen Arbeitsplatzdefizits. Auch Sanktionen und scharfe Zumutbarkeitsregelungen schaffen keine Arbeitsplätze. Die Vermeidung von Armut und sozialer Ausgrenzung zählt unbestritten zu einer zentralen Aufgabe einer vorsorgenden Sozialpolitik. Erforderlich ist eine Veränderung der Einkommensverteilung. Die empirischen Befunde über die Verteilung von Einkommen und Vermögen lassen erkennen, dass in den zurückliegenden Jahren die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft zugenommen hat. Und trotz der günstigen wirtschaftlichen Entwicklung und des Rückgangs der Arbeitslosigkeit hat sich die Betroffenheit von Einkommensarmut nicht vermindert, sondern eher erhöht. Vor allem jene Menschen und deren Kinder, die sich über längere Zeit in einer Armutslage befinden und deren Lebenswelten sich auf bestimmte „abgehängte“ Regionen, Städte und Stadteile konzentrieren, sind von sozialer Ausgrenzung bedroht. Ganz offensichtlich gibt es Lücken im der Grundsicherung vorgelagerten sozialen Netz, so bei der Absicherung von Arbeitslosen und beim Familienleistungsausgleich. Zugleich fällt das Leistungsniveau der Grundsicherung zu niedrig aus und muss angehoben werden. Der Ersatz des bisherigen Leistungssystems durch ein bedingungsloses Grundeinkommens ist jedoch kein akzeptabler Weg. Die Auszahlung eines pauschalen Transfers in ausreichender Höhe an die gesamte Bevölkerung – ohne Berücksichtigung des tatsächlichen Bedarfs und ohne jegliche Bedingungen – wäre nicht nur extrem teuer und mit einem Wegfall von allen anderen Sozialleistungen bis hin zur Sozialversicherung verbunden, sondern geht auch von der Auffassung aus, dass Geld alle Probleme löst. Maßnahmen zur Vermeidung und Bekämpfung von Armutslagen müssen jedoch auch auf die Problemursachen und auf die Förderung der Betroffenen zielen – so u. a. in Richtung auf Arbeitsmarktintegration, auf schulische und berufliche Bildung und eine Verbesserung des Wohnumfeldes.
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Sozialpolitik und soziale Lage
11.4 Verlässliche Finanzierung und Stärkung der Akzeptanz Wenn die notwendigen finanziellen Mittel fehlen bzw. verweigert werden, sind sozialpolitische Reformen nicht durchzusetzen. Die Frage nach einer verlässlichen Finanzierung der Systeme der sozialen Sicherung ist deshalb von entscheidender Bedeutung für die Stabilität und Entwicklungsfähigkeit des Sozialstaates. Verlässlichkeit in der Finanzierung bezieht sich dabei nicht nur auf das Niveau des Aufkommens von Steuern und Beiträgen, gleichermaßen wichtig ist es, bei der Lastenverteilung Gerechtigkeitsmaßstäbe zu berücksichtigen, weil nur so die Akzeptanz des Systems gesichert werden kann. Die in den nächsten Jahren absehbaren demografisch bedingten Belastungen in der Alterssicherung wie auch in der Pflege wiegen schwer, sie lassen sich begrenzen, wenn die Erwerbsbeteiligung weiter erhöht wird und wenn es gelingt, die Zugewanderten in Beschäftigung zu bringen. „Wegreformieren“ lassen sich die demografischen Belastungen allerdings nicht. Auch eine private Vorsorge muss finanziert werden und mindert das verfügbare Einkommen. Die fiskalische Notwendigkeit, hinsichtlich der ganzen Spannweite öffentlicher Aufgaben und Ausgaben Prioritäten zu setzen, wird anhalten. Das gilt auch für die schwierige Frage nach dem Vorrang und Nachrang von Aufgaben und Ausgaben innerhalb der Sozialetats. Zu prüfen ist, welches Leistungsspektrum und -niveau notwendig ist und was öffentlich und was privat finanziert werden soll. Die Grenzziehung zwischen öffentlichen und privaten Aufgaben und zwischen staatlicher und privater Vorsorge vor den Wechselfällen des Lebens ist dabei nicht festgeschrieben, sondern sollte an die veränderten Lebensformen und Lebensrisiken angepasst werden. Zugleich besteht die Aufgabe, in den sozialen Systemen Wirtschaftlichkeitsreserven aufzuspüren. So ist im Gesundheitssystem ein Nebeneinander von Überversorgung, Fehlversorgung und zugleich Unterversorgung festzustellen. Durch eine bessere Steuerung der Angebotsstrukturen und eine Ökonomisierung der Betriebsabläufe kann es gelingen, die knappen Ressourcen zielgenauer und effizienter einzusetzen. Dabei muss allerdings immer darauf geachtet werden, dass eine Rationalisierungsund Kostensenkungsstrategie nicht zu Lasten der Qualität der Leistungserbringung und des Personals geht. Genau dies ist Folge der fortschreitenden Privatisierung von öffentlichen Einrichtungen im Bereich des Gesundheits- und Sozialwesens (Krankenhäuser, Pflegeheime). Die immer wieder auftretenden Finanzierungsprobleme der Sozialversicherungsträger und die Erfahrungen von Beitragssatzsteigerungen bei gleichzeitigem Abbau von Leistungen haben das Vertrauen in die Systeme der sozialen Sicherung erschüttert. Die Zweifel an der Verlässlichkeit der Sozialpolitik sind gewachsen. Die von den Kritikern des Sozialstaats vehement vertretene und in den Medien aufgegriffene These, umlagefinanzierte Solidarsysteme seien auf Dauer nicht tragfähig und finanzierbar, findet Zustimmung. De Befürchtung greift um sich, in der Rentenversicherung
Literaturhinweise
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keinen entsprechenden Gegenwert für die eingezahlten Beiträge mehr zu erhalten. Gerade bei der jungen Generation wächst die Stimmung, dass angesichts des demografischen Umbruchs ein Ausstieg aus der Sozialversicherung die einzig rationale Antwort sei, um die soziale Absicherung durch individuelle Vorsorge in die eigene Hand nehmen zu können. Individuelle Vorsorge statt Solidarausgleich, Privatversicherung statt Sozialversicherung heißt die Schlussfolgerung, die zwar den Interessen des privaten Banken- und Versicherungswesens entspricht aber angesichts der Turbulenzen auf den internationalen Kapital- und Finanzmärkten alles andere als soziale Sicherheit erwarten lässt. Quantität und Qualität von sozialer Sicherung und Sozialpolitik hängen aber nicht nur davon ab, was sich eine Volkswirtschaft ökonomisch leisten kann. Viel entscheidender ist, welches Niveau und welche Ausformung an sozialer Sicherung sich die Menschen leisten wollen und welchen Beitrag an Solidarität sie zu geben bereit sind. Es bedarf immer der Bereitschaft der Bevölkerung, die hohen Lasten, die ein ausgebautes Sozialsystem unweigerlich verursacht, mit den entsprechenden Einbußen im verfügbaren Einkommen auch zu tragen. Nicht nur die Schwächeren, sondern auch die Stärkeren müssen das System stützen. Die Frage nach der Zukunftsfähigkeit eines Sozialstaates ist damit nicht zuletzt eine Frage nach seiner politischen Akzeptanz.
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Sozialpolitik und soziale Lage
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Sozialpolitik und soziale Lage
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Sozialwissenschaftliche Fachzeitschriften Journal of European Social Policy Kölner Zeitschrift für Soziologie Leviathan Soziale Bewegungen Soziale Passagen Soziale Welt Zeitschrift für Soziologie
Aktuelle Dokumente, Berichte, Analysen zu den Grundsatzfragen von Sozialpolitik und Sozialstaat finden sich auf www.sozialpolitik-aktuell.de zum Download.
II
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
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Sozialpolitik in der Marktwirtschaft
Sozialpolitik verfolgt das Ziel, soziale Risiken zu begrenzen und deren Folgen auszugleichen, Menschen bei der Bewältigung sozialer Probleme zu unterstützen sowie Einkommens-, Versorgungs- und Lebenslagen zu stabilisieren und zu verbessern. Mit ihren Maßnahmen bewegt sich Sozialpolitik auf dem Boden einer marktwirtschaftlich-kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass das Marktsystem eine hohe ökonomische Leistungsfähigkeit aufweist und auf der Basis von Privateigentum an Produktionsmitteln, Autonomie von Produzenten und Konsumenten, freier Preisbildung, Wettbewerb und leistungsorientierter Entlohnung zu einer effizienten Allokation der Produktionsfaktoren beiträgt. Die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft äußert sich in der anhaltenden Dynamik von Produktion und Produktivität, der Förderung und schnellen Umsetzung von neuen Technologien, in einem hohen gesamtgesellschaftlichen Einkommens- und Wohlstandsniveau sowie in einem umfassenden Angebot an Gütern und Dienstleistungen. Auf der anderen Seite ist eine sich selbst überlassene Marktwirtschaft krisenanfällig, kann Arbeitslosigkeit nicht vermeiden und zu einer ungleichen, sozial nicht akzeptablen Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie von Lebenslagen insgesamt führen. Die Summe der wirtschaftlichen Eigeninteressen entspricht nicht dem gesamtgesellschaftlichen Interesse. Vielmehr schafft und verschärft ein ungehemmter Marktmechanismus soziale Probleme und gefährdet damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt, versagt aber zugleich bei der verlässlichen Absicherung von sozialen Risiken und der bedarfsgerechten Versorgung mit sozialen Dienstleistungen und sozialer Infrastruktur. Durch den Einsatz der staatlichen Sozialpolitik soll dieser Entwicklung entgegengewirkt und die Marktwirtschaft ergänzt und korrigiert werden.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Bäcker et al., Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06249-1_2
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1.1
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Sozialpolitische Interventionsebenen und -formen
Die Eingriffe der Sozialpolitik in den Steuerungs- und Verteilungsmechanismus des Marktes lassen sich nach Interventionsebenen und -formen unterscheiden (Abbildung II.1): Durch die rechtliche Regulierung von Märkten, vor allem des Arbeitsmarktes, wird die Autonomie der Marktteilnehmer begrenzt und deren Verhalten in zentralen Bereichen gelenkt und normiert. • Durch sozialpolitische Geldzahlungen erhalten Personen, die kein oder kein ausreichendes Markteinkommen erzielen, einen Ausgleich; es kommt zu einer Korrektur der Einkommensverteilung. • Durch die Bereitstellung von Diensten und Einrichtungen im Bereich des Gesundheits- und Sozialwesens, die weitgehend unentgeltlich und nach Bedarf in Anspruch genommen werden können, wirkt der Staat als Produzent und/oder Finanzier von sozialen und gesundheitlichen Dienstleistungen.
•
Abbildung II.1 Sozialpolitik in der Marktwirtschaft Regulierung von Märkten
Einkommensumverteilung
Bereitstellung sozialer Dienste
Setzung eines Ordnungsrahmens durch gesetzliche Geund Verbote, Einschränkung der Vertragsfreiheit
Zahlung von Sozialeinkommen an Personen, die kein oder kein ausreichendes Markteinkommen erhalten
Unentgeltliche Inanspruchnahme von Sach- und Dienstleistungen, Steuerung von Angebot und Nachfrage nach Bedarfsmaßstäben
Medium
Recht
Geld
Staatliche Eigenproduktion oder Finanzierung privater Anbieter
Wirkung
Verhaltenssteuerung der Marktakteure
Korrektur der Markteinkommen
Ausschaltung des Markt-PreisMechanismus
Beispiele
Arbeitsmarkt, Versicherungsmarkt, Gesundheitsmarkt, Pflegemarkt
Geldleistungen der Sozialversicherung, Grundsicherung, Kindergeld
Gesundheitswesen, Sozialwesen, Bildungswesen
Interventionsform
Sozialpolitik in der Marktwirtschaft
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• Um die Zahlung der Geldleistungen sowie die Bereitstellung sozialer Dienste und Einrichtungen finanzieren zu können, erhebt der Staat Abgaben (Steuern und Beiträge). Regulierung von Märkten, insbesondere des Arbeitsmarktes Die wirtschaftsliberalen Prinzipien eines ungehinderten Wirkens von Angebot und Nachfrage, von Vertragsfreiheit und Wettbewerb kommen insbesondere auf dem Arbeitsmarkt nur eingeschränkt zur Wirkung. Der Arbeitsmarkt ist ein sozialstaatlich regulierter Markt, auf dem das Handeln der Akteure durch gesetzliche Ge- und Verbote geordnet wird. Beispiele für diesen Ordnungsrahmen sind u. a. (vgl. dazu ausführlich Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“; Kapitel „Arbeit und Gesundheit“ und Kapitel „Arbeitsbeziehungen“) • • • • • • • •
der gesetzliche Mindestlohn, die Mitbestimmung im Betrieb und Unternehmen, der Kündigungsschutz, die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, die Schutzbestimmungen für besondere Personengruppen (so für Jugendliche und Menschen mit Behinderung), die Arbeitszeitvorschriften, Regelungen von Elternzeit- und Pflegezeit, der Arbeits- und Gesundheitsschutz.
Der Arbeitsmarkt ist zugleich dadurch charakterisiert, dass zentrale Regelungsbereiche von Arbeitsverhältnissen durch Kollektivvereinbarungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden bestimmt werden. Die im Rahmen von Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie geschlossenen Tarifverträge legen Mindestnormen für Entlohnung, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen fest. Diese gesetzlichen und kollektivvertraglichen Regulierungen reagieren auf den Tatbestand, dass es sich beim Arbeitsmarkt um einen besonderen Markt handelt: Die auf dem Arbeitsmarkt gehandelte Ware „Arbeitskraft“ lässt nicht von ihren Verkäufern, den Arbeitnehmer:innen, trennen. Die Menschen, die ihre Arbeitskraft anbieten und einsetzen, bringen sich mit ihrer ganzen Person, mit ihren Interessen, lebensweltlichen Anforderungen und Bedürfnissen in den Arbeitsprozess ein. Die Beschäftigten stehen zugleich unter einem hohen Angebotsdruck, denn Aufnahme und Aufrechterhaltung eines Arbeitsverhältnisses und der Bezug eines Lohnes sind zur Sicherung des Lebensunterhalts zwingend erforderlich. Die Bedingungen und Ergebnisse auf dem Arbeitsmarkt sind damit von entscheidender Bedeutung für die Lebenslagen und -perspektiven der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung. Die Regulierungen auf dem Arbeitsmarkt zielen darauf ab, das Markt- und Machtungleichgewicht zwischen Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage, zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern auszugleichen, im Arbeitsleben soziale Maßstäbe zur
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Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Geltung zu bringen und die Beschäftigten vor Gesundheitsgefährdungen, unzumutbaren Arbeitsbedingungen, überlangen Arbeitszeiten und unzureichender Entlohnung zu schützen. Der Warencharakter der Arbeit wird eingeschränkt (Dekommodifizierung), ihre Marktabhängigkeit verringert. Von der Ordnung des Arbeitsmarktes gehen positive Wirkungen („externe Effekte“) auf die Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt aus. So liegt die Sicherung von Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten im übergeordneten gesellschaftlichen Interesse und ist ein wichtiges Element einer vorbeugenden Sozialpolitik. Gesetzliche Mindestlöhne können dazu beitragen, dass das sozial-kulturelle Existenzminimum nicht unterschritten wird und die Notwendigkeit einer sozialpolitischen Einkommensaufstockung durch Leistungen der Grundsicherung vermieden wird. Eine Gesellschaft, die den sozialen Zusammenhalt gewährleisten und soziale Verwerfungen vermeiden will, ist aber auch ganz grundsätzlich auf einen sozialen Ausgleich am Arbeitsmarkt angewiesen. Nur auf der Grundlage verlässlicher Beschäftigungsperspektiven und existenzsichernder Entlohnung können die Arbeitnehmer:innen ihr Leben mit einem Mindestmaß an Sicherheit gestalten und planen. Nicht zuletzt lassen sich Berufstätigkeit und familiäre Aufgaben – insbesondere im Hinblick auf das Leben mit Kindern und Pflege von älteren Angehörigen – nur miteinander vereinbaren, wenn bei der Gestaltung von Arbeitszeiten und -bedingungen auch die familiären Anforderungen Berücksichtigung finden. Spezifische, sozialpolitisch motivierte Regulierungen, die über den allgemeinen Ordnungsrahmen der Marktwirtschaft hinausreichen, finden sich auch auf den Märkten der privaten Vorsorge und Versorgung. Abgestellt wird auf jenen Sektor der sozialen Absicherung, der nicht durch den Staat organisiert und dessen Finanzierung auch nicht über Abgaben sichergestellt wird, sondern privatwirtschaftlich gestaltet ist, sich über Preise finanziert und der angesichts der Vermarktlichung vieler Bereiche der Sozialpolitik an Gewicht gewonnen hat. Im Wesentlichen handelt es sich hier um Regulierungen auf den Finanz- und Versicherungsmärkten, auf den Märkten für soziale und gesundheitliche Dienstleistungen sowie auf den Märkten für Medizinprodukte und Arzneimittel. Ziel ist, die Dominanz der Anbieterseite zu begrenzen und die Position der Nachfrager und Verbraucher zu stärken, Informationsasymmetrien auszugleichen, Qualitätsmaßstäbe festzulegen und ein Mindestmaß an Sicherheiten zu garantieren. Folgende Beispiele sind zu nennen: • • •
Der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) unterliegt die Aufsicht über Lebensversicherungen. Im Bereich des Gesundheitswesens werden die Unternehmen der privaten Krankenversicherung durch das Bundesamt für das Versicherungswesen (BAV) beaufsichtigt. Die privaten Krankenversicherungen sind gesetzlich verpflichtet, einen Basistarif für alle anzubieten.
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• • •
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Die Honorierung für Privatärzte wird durch die Gebührenordnung für privatärztliche Leistungen (GOÄ) geregelt. Die Zulassung von Arzneimitteln und die Bewertung von Risiken von Medizinprodukten werden u. a. durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vorgenommen. Pflegeheime werden durch die Länderbehörden beaufsichtigt.
In dem Maße, wie der Staat private Altersvorsorge durch Steuererleichterungen oder direkte Zulagen fördert, legt er auch fest, welchen Anforderungen ein förderfähiges privates Vorsorgeprodukt genügen muss; dies gilt z. B. für die Förderung der privaten Altersvorsorge im Rahmen der „Riester-Rente“ (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 8.2.2). Einkommensumverteilung durch Geldleistungen Die aus der Beteiligung am Wirtschaftsprozess erzielten Einkommen – Einkommen aus abhängiger Arbeit sowie Einkommen aus Gewinn und Vermögen – verteilen sich in einer Marktwirtschaft nach dem Kriterium des wirtschaftlichen Erfolges. Diese Einkommensverteilung weist gravierende Funktionsdefizite auf: •
Leer gehen die Personen aus, die keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Dazu zählen Kinder und Jugendliche, die noch nicht erwerbsfähig sind und/oder in einer Ausbildung stehen. Ohne Erwerbseinkommen bleiben aber auch dauerhaft Kranke und Behinderte sowie Menschen, die wegen familiärer Aufgaben (Kindererziehung, Pflege) häuslich gebunden sind. • Zu Einkommens- und Versorgungslücken kommt es bei einer Unterbrechung oder Beendigung von Arbeitsverhältnis und -einkommen durch Krankheit, Unfall, Invalidität, Arbeitslosigkeit und im Alter. • Die an Erfolg und Leistung orientierte Einkommensbemessung lässt besondere Bedarfslagen und erforderliche Ausgaben, die bei einer Person bzw. in einem Haushalt anfallen, unberücksichtigt: Das Markteinkommen reagiert nicht darauf, wenn beispielsweise der Unterhalt von Kindern sichergestellt werden muss, hohe Wohnkosten anfallen oder Ausgaben im Krankheitsfall zu finanzieren sind. • Der weit überwiegende Teil der Bevölkerung verfügt nicht über Kapitaleinkünfte, die hoch genug sind, um damit auch ohne Arbeit die Existenz zu sichern. Infolge dieser Defizite einer marktlichen Einkommensverteilung ist nicht gewährleistet, dass die gesamte Bevölkerung einen ausreichenden Lebensunterhalt erhält. Nicht nur die Existenzgrundlagen einer Großzahl von Menschen sind gefährdet; von Armut, Not und Einkommensunsicherheit gehen zugleich negative Effekte auf die gesamte Gesellschaft und Wirtschaft aus. Zwar kann im Rahmen des Marktsystems durchaus Vorsorge gegenüber Einkommensrisiken getroffen werden. Durch Sparen und Vermögensbildung oder durch den Abschluss von Versicherungen lassen sich Einkommensausfälle überbrücken. Aber die Reichweite einer privaten sozialen Ab-
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sicherung ist begrenzt. Ebenso begrenzt sind die Möglichkeiten eines Einkommensausgleichs im familiären Verbund (vgl. ausführlich: Kapitel „Einkommen“, Pkt. 4.1). Staatliche Sozialpolitik reagiert auf die Defizite der marktlichen Einkommensverteilung: Personen, die kein Markteinkommen erzielen oder deren Markteinkommen nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt zu sichern, erhalten unter bestimmten Voraussetzungen über sozialpolitische Geldleistungen einen Ausgleich. Es kommt zu einer partiellen Entkopplung von Arbeit und Einkommen und damit ebenfalls zu einer Einschränkung des Warencharakters der Arbeitskraft. Der Grad der Dekommodifizierung hängt dabei davon ab, in welchem Maße der Anspruch auf Sozialeinkommen und die Leistungshöhe von einer vorangegangenen Erwerbstätigkeit abhängig sind. Finanziert werden die Zahlungen durch Abgaben (Steuern und Beiträge), mit denen die Markteinkommen belegt werden. Den Einkommensübertragungen stehen damit Einkommensabzüge gegenüber. Diese Umverteilung der Markteinkommen belastet Personen mit höherem und begünstigt Personen mit niedrigerem Einkommen (interpersonelle Umverteilung), gleicht die unterschiedliche Betroffenheit von sozialen Risiken aus (risikobezogene Umverteilung) und verlagert – so vor allem in der Alterssicherung – Einkommen in zeitlicher Hinsicht (intertemporale Umverteilung). Zielsetzung dieses Umverteilungsvorgangs ist es, Unterversorgung und Armut zu vermeiden, Einkommensausfälle bei den großen Lebensrisiken zu überbrücken, den Einkommensverlauf im Sinne einer Lebensstandardsicherung zu verstetigen und besondere Bedarfslagen zu berücksichtigen: •
Das Ziel der Armutsvermeidung ist in erster Linie Aufgabe der Systeme der Grundsicherung. • Der Einkommensausgleich bei Krankheit, Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfällen, Erwerbsminderung und im Alter ist Aufgabe der Sozialversicherung und anderer gesetzlicher Vorsorgesysteme. • Besondere Bedarfslagen werden insbesondere durch den Familienleistungsausgleich (Kindergeld, Ausbildungsförderung) und durch Wohngeld und Elterngeld ausgeglichen. Bereitstellung von Dienstleistungen im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen Die konstitutiven Elemente einer Marktwirtschaft, nämlich freies Spiel von Angebot und Nachfrage (Anbieter- und Konsumentensouveränität), Wettbewerb, Steuerung von Angebot und Nachfrage und Ressourcenallokation über den Preis, führen nicht automatisch und nicht immer zu einer optimalen Versorgung der Bevölkerung mit Gütern und Dienstleistungen. In einigen Bereichen kommt es zu gar keinem Angebot oder lediglich zu einer – an Bedarfsmaßstäben gemessenen – unzureichenden Versorgung. Ein solches Marktversagen tritt ein, wenn sich Konsum und Nutzen eines
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Gutes oder einer Dienstleistung nicht oder nur sehr eingeschränkt einem potenziellen Käufer zurechnen und auf ihn begrenzen lassen. Auch diejenigen, die nicht bezahlen, würden gleichermaßen von dem Angebot profitieren. Da unter diesen Bedingungen keine individuelle Zahlungsbereitschaft besteht, kommt es trotz eines hohen Bedarfs zu keiner privaten Bereitstellung der entsprechenden Güter oder Dienstleistungen. Wenn aus übergeordneten gesamtwirtschaftlichen und -gesellschaftlichen Gründen dennoch ein bedarfs- und flächendeckendes Angebot für notwendig gehalten wird, muss der Staat die Bereitstellung organisieren und die Finanzierung über öffentliche Abgaben sicherstellen. Es handelt sich dann um „öffentliche Güter“. Beispiele dafür finden sich nicht nur in den Bereichen innere und äußere Sicherheit, Bildungswesen, Verkehrswesen, Infrastruktur und Daseinsvorsorge, sondern auch im Sozial- und Gesundheitswesen (Kinder- und Jugendhilfe, Sozialarbeit, Gesundheitsdienst) (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 2.2). Probleme entstehen aber auch dann, wenn zwar Angebot und Nachfrage aufeinander treffen und sich ein Markt entwickelt, aber Versorgungsniveau und -qualität politisch-demokratisch gesetzten (Mindest)Kriterien nicht entsprechen. Als grundlegendes Ziel kann gelten, dass in bestimmten, herausgehobenen Lebensbereichen, so bei der Gesundheitsversorgung oder bei der Versorgung mit sozialen Dienstleistungen, alle Menschen entsprechend ihrem Bedarf die erforderlichen Leistungen in Anspruch nehmen können. Dazu ist der Markt-Preis-Mechanismus nicht in der Lage, denn die Steuerung des Marktes über Preise bindet die Nachfrage an das zur Verfügung stehende Einkommen der Käufer. Bei fehlender oder begrenzter Kaufkraft erfolgt keine oder eine nur unzureichende Berücksichtigung der Bedarfe. Werden Dienste hingegen öffentlich bereitgestellt und finanziert, kann deren Inanspruchnahme unentgeltlich oder gegen einen Kostenbeitrag erfolgen; es kommt dadurch zu einer Verschiebung des Nachfrageverhaltens und der ansonsten durch Kaufkraft und Preisrelationen beeinflussten Konsumentenpräferenzen. Hier handelt es sich um so genannte „meritorische Güter“, die zwar prinzipiell marktfähig sind, deren einkommensabhängige Nutzung aber als nicht akzeptabel angesehen wird. Zuteilung bzw. Inanspruchnahme der Dienste und Leistungen werden nicht über den Preis, sondern über administrative Regelungen gesteuert. Eine unentgeltliche Nutzung der Leistungen setzt deren öffentliche Finanzierung voraus; nicht erforderlich ist hingegen, dass die Erbringung auch immer in eigener Regie des Staates (Gebietskörperschaften oder Sozialversicherungsträger) erfolgt. Soziale und gesundheitliche Dienste und Einrichtungen werden im hohen Maße durch private Anbieter (Freiberufler, Einzelunternehmer, Konzerne) oder durch gemeinnützige Organisationen (Wohlfahrtsverbände) erbracht. Die Refinanzierung durch öffentliche Mittel dient nicht nur zur Kostendeckung, sondern ermöglicht auch die Erwirtschaftung von Gewinnen. Zwar müssen sich in weiten Bereichen auch die Nutzer an der Finanzierung beteiligen (durch Zuzahlungen, Selbstbehalte, Gebühren usw.), aber das Angebot der
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Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Privaten wird nicht gegen Entgelt verkauft, so dass Nutzer und Finanzier der Leistung nicht identisch sind. Damit stehen die privaten Leistungsanbieter außerhalb des normalen Markt- und Wettbewerbssystems. Allerdings werden durch die jeweiligen Vergabeverfahren und Finanzierungsformen zwischen den Anbietern marktförmige Wettbewerbsprozesse in Gang gesetzt. (vgl. dazu Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 12.4; „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 6.4 und „Soziale Dienste“, Pkt. 5.3). Um Versorgungsdefizite zu vermeiden und Qualitätsstandards zu sichern, werden staatliche Regulierungen erforderlich, die zu einem erheblichen bürokratischen Aufwand führen Soweit die Leistungsberechtigten zwischen verschiedenen Anbietern auswählen können, kommt es zudem darauf an, Transparenz auf den Wohlfahrtsmärkten zu schaffen. Beispiele für den Mix von öffentlicher (Länder und Kommunen, Sozialversicherungsträger) sowie privater Erbringung (gemeinnützige oder gewinnwirtschaftliche Anbieter) von Sach- und Dienstleistungen finden sich auf nahezu allen Feldern des Sozialstaates. Die Dominanz privater Leistungserbringer im Gesundheitswesen (so vor allem niedergelassene Ärzt:innen, Therapeuten:innen, Apotheken) oder im Sozialwesen (Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, der Behindertenhilfe und der Kinderbetreuung durch die Verbände der Wohlfahrtspflege) ist nicht neu. Der Rückzug vor allem der Kommunen und der Sozialversicherungsträger aus vielen anderen Feldern der sozialen Dienste hat in den zurückliegenden Jahren aber insgesamt zu einem erheblichen Bedeutungszuwachs der privaten Anbieter geführt: Diese Tendenz zur Privatisierung findet sich vor allem bei • • •
Krankenhäusern und Rehabilitationskliniken, Pflegeheimen (stationäre und teilstationäre Versorgung), Leistungen der Arbeitsförderung (Berufsberatung, Arbeitsvermittlung, berufliche Weiterbildung).
Da die bedarfsbezogene Inanspruchnahme zu einer Übertragung spezifischer realer Leistungen führt, lässt sich hier von Realtransfers sprechen. Gefördert und finanziert werden Leistungsangebote (Objektförderung). Monetäre Transfers hingegen, die im Rahmen der Geldleistungsstrategie gezahlt werden, statten Personen bzw. Haushalte mit zusätzlicher Kaufkraft aus, legen aber nicht die individuelle Verwendung der Einkommen fest (Subjektförderung). Zwischen diesen beiden Strategien gibt es allerdings keine starren Grenzlinien; auch durch Geldleistungen kann die Einkommensverwendung gesteuert werden, wenn die Geldzahlung an einen bestimmten Verwendungszweck gebunden wird, so durch Kostenerstattungen oder die Vergabe von zweckgebundenen Gutscheinen.
Sozialpolitik in der Marktwirtschaft
1.2
63
Interdependenzen zwischen Sozialpolitik und Marktprozess
Sozialpolitik korrigiert die Verteilung des Sozialprodukts, greift in dessen Entstehung und Verwendung ein und finanziert sich über Steuern und Beiträge, die aus der Wertschöpfung abgezweigt werden. Die Beziehungen zwischen wirtschaftlicher Wertschöpfung und Sozialpolitik sind aber nicht einseitig. Beide Systeme beeinflussen sich gegenseitig. So hat das System der sozialen Sicherung Einfluss auf das Produktions-, Einkommens- und Beschäftigungsniveau, während wiederum die Strukturen des ökonomischen Systems auf die Sozialpolitik zurückwirken. Bei der Einschätzung der Wechselwirkungen stehen sich kontroverse Positionen gegenüber: Auf der einen Seite wird befürchtet, dass ein (zu) eng geknüpftes Netz der sozialen Sicherung die wirtschaftliche Dynamik beeinträchtige, Beschäftigung behindere und zu Wachstumseinbußen, Standortnachteilen im internationalen Wettbewerb und Arbeitsplatzverlusten führe. Auf der anderen Seite wird darauf verwiesen, dass gerade der Sozialstaat wirtschaftliches Wachstum und Beschäftigung sichere, eine unverzichtbare Voraussetzung sei für die Verknüpfung von effizienter Marktwirtschaft mit sozialem Ausgleich, zugleich aber immer wieder durch die Versäumnisse der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik belastet werde. Im Mittelpunkt der Analyse steht zunächst die Frage, welche finanziellen Größenordnungen das System der sozialen Sicherung hat, wie die erforderlichen Mittel aufgebracht werden und wer die Belastungen trägt. Es geht um die zwei Seiten einer Medaille: den sozialpolitischen Leistungen steht deren Finanzierung gegenüber. „Lässt sich der Sozialaufwand, der auf den Bürgern und der Wirtschaft lastet, noch länger verkraften ?“ „Ist der Sozialstaat angesichts des Umbruchs in der Altersstruktur der Bevölkerung auch in der Zukunft tragfähig und finanzierbar ?“ – so oder ähnlich lauten die in der Politik wie in der Wissenschaft diskutierten Fragen. Ihre Beantwortung wird durch die Unübersichtlichkeit des Systems der sozialen Sicherung in Deutschland erschwert. Es folgt keinem wohldurchdachten Bauplan, sondern ist historisch gewachsen und damit in seiner Struktur und Entwicklung durch eine Vielzahl von ökonomischen, sozialen und politischen Faktoren beeinflusst. Im Ergebnis zeigt sich ein breites Spektrum einzelner Leistungen, die sich sowohl hinsichtlich ihrer Prinzipien, ihrer Ziele (Lebensstandardsicherung, Armutsvermeidung, Bedarfsdeckung), ihrer Ausgestaltung (anspruchsberechtigter Personenkreis, erfasste Tatbestände und Risiken, Leistungshöhe und -dauer, Bezugsvoraussetzungen usw.) als auch ihrer Finanzierung (Steuern, Beiträge) deutlich unterscheiden und durch verschiedene Institutionen und Träger verwaltet werden. Eine Systematisierung von Leistungen wie Zahlungsströmen ist deshalb unverzichtbar, um die Wirkungen der Sozialpolitik überprüfen zu können.
64
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
2
Finanzielle Dimensionen: Das Sozialbudget
2.1
Institutionen und Funktionen des Systems der sozialen Sicherung
Zur besseren Überschaubarkeit der Sozialleistungen und ihrer finanziellen und gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen erstellt die Bundesregierung regelmäßig ein Sozialbudget. In diesem Sozialbudget werden (nahezu) alle Leistungen des Systems der sozialen Sicherung zusammengestellt, die öffentlich finanziert werden und/oder auf gesetzlicher Grundlage beruhen. Unberücksichtigt bleiben damit jene Felder sozialstaatlicher Gestaltung, die zwar Kosten verursachen, aber nicht in Preise übersetzt und direkt budgetwirksam werden, sondern über gesetzliche Regelungen bestimmte Gebote und Verbote aussprechen und das Handeln von Personen und Unternehmen beeinflussen (z. B. Familienrecht, Arbeitsrecht, Arbeitsschutz, Betriebs- und Unternehmensverfassung). Ausgeklammert bleibt zudem der gesamte Bereich des Bildungswesens. Als Sozialleistungen werden im Sozialbudget gerechnet: • • •
die direkten Einkommensübertragungen, die den Berechtigten überwiesen werden und deren Einkommen bilden bzw. vorhandene Einkommen erhöhen, wie Renten, Arbeitslosengeld oder Grundsicherung (direkte monetäre Transfers), die indirekten Leistungen, die beim Vorliegen bestimmter sozialer Tatbestände in Form von Steuerermäßigungen gewährt werden und das verfügbare Einkommen über diesen Weg erhöhen (indirekte monetäre Transfers), die sozialen Sach- und Dienstleistungen, die natural zur Verfügung gestellt und damit einen geldwerten Vorteil für die Betroffenen darstellen (Realtransfers).
Das Sozialbudget gliedert sich nach institutionellen und funktionellen Kriterien. Die institutionelle Aufgliederung zeigt, von welchen Einrichtungen und Trägern die Leistungen vergeben werden und welches Gewicht diese Institutionen im Gesamtsystem haben. Bei den „Institutionen“ im Sinne des Sozialbudgets handelt es sich um •
die verschiedenen Leistungen der Träger der fünf Zweige der Sozialversicherung, nämlich gesetzliche Rentenversicherung, gesetzliche Krankenversicherung, gesetzliche Unfallversicherung, soziale Pflegeversicherung und Arbeitslosenversicherung/Arbeitsförderung, • Leistungen der Förder- und Fürsorgesysteme wie Grundsicherung, Elterngeld, Wohngeld, Kindergeld, Ausbildungsförderung, • die Leistungen der beamtenrechtlichen Systeme, die den Sicherungsschutz der Personengruppe der Beamten und ihrer Angehörigen über Pensionen und Beihilfen organisieren,
Finanzielle Dimensionen: Das Sozialbudget
65
• Arbeitgeberleistungen, die gesetzlich vorgeschrieben sind (so die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall) oder aber auf freiwilliger bzw. tarifvertraglicher Grundlage beruhen (so die betriebliche Altersversorgung und die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst), • die Leistungen von Sondersystemen, die für die Angehörigen bestimmter Personengruppen gelten (so Altershilfe für Landwirte und die Versorgungswerke freier Berufe), • Entschädigungen wie Kriegsopferversorgung. In Tabelle II.1 und Abbildung II.2 findet sich ein Überblick über die Leistungen nach Institutionen (2018). Differenziert wird nach der Höhe der Ausgaben, nach dem relativen Anteil der Ausgaben innerhalb des Sozialbudgets und am Sozialprodukt. Folgende Strukturen werden deutlich: •
Eine überragende Bedeutung im sozialen Sicherungssystem hat die Sozialversicherung: Mehr als die Hälfte (60,9 %) aller Sozialleistungen werden über die Sozialversicherung abgewickelt. Darunter befinden sich die Rentenversicherung mit einem Anteil von 30,3 % und die Krankenversicherung mit einem Anteil von
Abbildung II.2 Sozialbudget: Struktur der Sozialleistungen nach Leistungsarten 2018, in Mrd. Euro und in % aller Sozialleistungen weitere Leistungen 3) : 57,0 Mrd. € = 5,7 % Betriebl. Altersversorgung: 28,3 Mrd. € = 2,7 %
Pflegeversicherung: 39,8 Mrd. € = 3,8 % Unfallversicherung: 13,9 Mrd. € = 1,3 %
Entgeltfortzahlung: 54,0 Mrd. € = 5,2 % Kindergeld/Familienleistungsausgleich: 46,2 Mrd. € = 4,5 %
Grundsicherung für Arbeitsuchende: 45,0 Mrd. € = 4,5 %
Rentenversicherung: 313,1 Mrd. € = 30,3 % Sozialbudget insgesamt1 ) : 995,9 Mrd. €
Sozialversicherung2) : 598,8 Mrd. € = 60,9 %
Jugend- u. Sozialhilfe: 86,4 Mrd. € = 8,4 %
Pensionen u. Beihilfen: 80,8 Mrd. € = 7,8 %
Krankenversicherung: 237,4 Mrd. € = 22,9 %
Arbeitslosenversicherung: 26,4 Mrd. € = 2,6 %
*) Geschätzte Werte 1) Sozialbudget insgesamt u. allgemeine Systeme konsolidiert um Beiträge des Staates 2) Ohne wechselseitige Verrechnung der einzelnen Institutionen. Summenbildung u. isolierte Prozentuierungen sind nicht möglich. 3) u. a. Wohngeld, BAföG, Elterngeld, PKV Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2018), Sozialbudget.
66
Tabelle II.1
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Sozialbudget: Leistungen nach Institutionen 2018* Mrd. €
in %
% des BIP
Sozialbudget insgesamt
995,9
100,0
29,4
Sozialversicherungssysteme:
598,8
60,9
17,7
• Rentenversicherung
313,1
30,3
9,2
• Krankenversicherung
237,4
22,9
7,0
• Arbeitslosenversicherung
26,4
2,6
0,8
• Pflegeversicherung
39,8
3,8
1,2
• Unfallversicherung
13,9
1,3
0,4
Förder- u. Fürsorgesysteme, darunter:
188,4
18,2
5,6
• Grundsicherung für Arbeitsuchende
44,0
4,3
1,3
• Sozialhilfe
39,9
3,9
1,2
• Kinder- und Jugendhilfe
46,5
4,5
1,4
• Wohngeld
1,1
0,1
0,0
• Elterngeld
7,3
0,7
0,2
46,2
4,5
1,4
2,2
0,2
0,1
Systeme des öffentlichen Dienstes, darunter:
80,8
7,8
2,4
• Pensionen
60,3
5,8
1,8
• Beihilfen
16,4
1,6
0,5
Sondersysteme, darunter:
35,7
3,4
1,1
• Private Kranken- und Pflegeversicherung
25,8
2,5
0,7
• Versorgungswerke
6,5
0,6
0,2
• Alterssicherung der Landwirte
2,7
0,3
0,1
Arbeitgebersysteme, darunter:
97,1
9,4
2,9
• Entgeltfortzahlung
54,0
5,2
1,6
• Betriebliche Altersversorgung
28,3
2,7
0,8
• Zusatzversorgung
13,5
1,3
0,4
2,4
0,2
0,1
30,4
–
3 386,0
100,0
• Kindergeld & Familienleistungsausgleich • Ausbildungs-/Aufstiegsförderung
Entschädigungen Nachrichtlich: Steuerliche Leistungen ohne Familienleistungsausgleich Bruttoinlandsprodukt
29,4
* Geschätzt. Ohne wechselseitige Verrechnung der einzelnen Institutionen. Summenbildung deshalb nicht möglich. Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2018), Sozialbudget.
Finanzielle Dimensionen: Das Sozialbudget
•
• • •
67
22,9 %. An dritter Stelle folgt die soziale Pflegeversicherung mit einem Anteil von 3,8 %. Die Charakterisierung des deutschen Sozialstaats als „Sozialversicherungsstaat“ findet hier ihre empirische Bestätigung. Die Förder- und Fürsorgesysteme stehen mit einem Anteil von 18,2 % an zweiter Stelle. Darunter befinden sich mit einer Anteilsrelation von jeweils 4,5 % bis 3,9 % die Grundsicherung, das Kindergeld (einschließlich der steuerrechtlichen Freibeträge), die Kinder- und Jugendhilfe (hier insbesondere die Kindertagesstätten) sowie die Sozialhilfe. Mit einem Anteil von etwa 7,8 % aller Ausgaben schlagen die steuerfinanzierten beamtenrechtlichen Systeme zu Buche. Bei den Arbeitgeberleistungen, die 9,4 % aller Sozialleistungen ausmachen, sind vor allem die Ausgaben für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall sowie für die betriebliche Altersversorgung von Bedeutung. Insgesamt verteilen sich die Sozialausgaben zu etwa 58 % auf Einkommensleistungen, zu 38 % auf Sachleistungen und zu 4 % auf Verwaltungsausgaben.
Die Gliederung des Sozialbudgets lässt erkennen, dass mehrere Institutionen Leistungen für denselben sozialen Zweck bereitstellen. Diese parallele Aufgabenerfüllung gilt beispielsweise für Rentenleistungen an ältere Menschen, die von der Rentenversicherung, der Beamtenversorgung, der betrieblichen Altersversorgung, der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst und von den berufsständischen Versorgungswerken übernommen werden. Gesundheitsleistungen wiederum zählen zum Aufgabenfeld von Krankenversicherung, Pflegeversicherung, Rentenversicherung, Unfallversicherung, Beamtenbeihilfe und Entgeltfortzahlung. Fasst man die Leistungen nach diesen Zwecksetzungen bzw. nach Gefährdungsbereichen zusammen, so zeigt sich in einer funktionellen Gliederung, dass • •
der Großteil der Sozialleistungen den beiden Funktionsgruppen „Alter und Hinterbliebene“ (38,5 %) und „Krankheit und Invalidität“ (43,8 %) zukommt, die zusammen genommen über 80 % aller Sozialleistungen umfassen, für die Funktionsgruppe „Kinder, Ehe, Mutterschaft“ 11,6 % und für die Funktionsgruppe „Arbeitslosigkeit“ 3,2 % aller Sozialausgaben aufgewendet werden.
2.2
Sozialleistungsquote
Die Summe aller Sozialleistungen belief sich in Deutschland im Jahr 2018 auf etwa 996 Mrd. Euro. Der Informationsgehalt dieses Wertes ist indes gering, da er keine Aussage darüber zulässt, ob das Leistungsniveau – auch im Vergleich zu anderen Ländern oder in der zeitlichen Entwicklung – als hoch oder niedrig einzuschätzen ist. Von entscheidender Bedeutung ist die Größe der Bevölkerung, auf die sich die Sozialleistungen beziehen. Stellt man die Zahl von etwa 82,5 Mio. Einwohnern in
68
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Rechnung, so beziffern sich die Sozialleistungen auf rund 12 000 Euro pro Kopf der Bevölkerung. Aber auch bei einer Pro-Kopf-Berechnung bleiben internationale Vergleiche und Analysen des Entwicklungstrends der Sozialausgaben schwierig, da zugleich auch die Wirtschaftskraft des Landes berücksichtigt werden muss. Um eine Bewertung vornehmen zu können, müssen deshalb die Absolutbeträge ins Verhältnis gesetzt werden zum wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsniveau der Gesellschaft. Grundlegende Kenngröße dafür ist das Bruttoinlandsprodukt, also die Summe aller im Inland produzierten Güter und Dienstleistungen. Bezieht man den Gesamtumfang der Sozialleistungen auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP), so errechnet sich die Sozialleistungsquote. Ihre Höhe lag im Jahr 2018 bei 29,4 %. Insgesamt zeigt sich – wie aus Abbildung II.3 ersichtlich – eine im zeitlichen Verlauf leicht schwankende Sozialleistungsquote. Wegen unterschiedlicher Berechnungsverfahren des Sozialbudgets sind längerfristige Vergleiche allerdings nur eingeschränkt möglich. Die Schwankungen der Sozialleistungsquote im Zeitverlauf sind allerdings nicht nur Ergebnis der Ausgabenentwicklung, sondern auch der Entwicklung des BIP. Denn auch wenn die Ausgaben unverändert bleiben, aber die Bezugsgröße, nämlich das BIP sinkt, steigt die Quote. So ist der abrupte Anstieg von 2008 auf 2009 um 3,4 Prozentpunkte auch Ergebnis des starken Rückgangs des BIP infolge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise. In Jahren eines konjunkturellen Aufschwungs, so zwischen 2004 und 2008, ist es hingegen zu einer gegenläufigen Bewegung gekommen. Die Dimension des Anstiegs im Jahr 2009 ist jedoch auch Folge einer Neuberechnung des Sozialbudgets ab 2009 (Erfassung auch der Grundleistungen der privaten Krankenversicherung). Die Daten belegen, dass sich die bei einer ausschließlich Betrachtung der absoluten Zahlen naheliegende Aussage, der Sozialstaat werde immer aufwändiger und teurer, nicht bestätigt. Auch im europäischen Vergleich liegt Deutschland nicht in der Spitze, sondern im oberen Mittelfeld (vgl. Tabelle II.2). Das ist umso bemerkenswerter, da ab 1990 die sozialen Folgelasten der deutschen Einheit und die schwierigen Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt zu verkraften waren. Die Höhe der Sozialausgaben und ihre Entwicklung dürfen nicht einseitig verstanden werden: Es handelt sich nicht nur um Kosten und Belastungen, sondern den Aufwendungen stehen immer auch Leistungen gegenüber, die für die jeweiligen Empfänger:innen mit einem Zufluss von Einkommen und einer Nutzungsmöglichkeit von sozialen Diensten und Einrichtungen verbunden sind. Kosten und Nutzen sind also zu bilanzieren. Das gilt aus individueller Sicht („Wer empfängt und wer zahlt ?“), aber auch aus übergreifender Perspektive („Welche gesellschaftlichen Funktionen erfüllen die Sozialleistungen und welche Belastungen fallen an ?“). Aber auch die Gleichung: „Je höher die Sozialausgaben und die Sozialleistungsquote, um so ‚sozialer‘ die Gesellschaft und umso besser die Lebenslage der Bevölkerung“ kann zu Fehlschlüssen führen. Eine solche umstandslose Gleichsetzung von Höhe der Sozialausgaben einerseits und der Wohlfahrtsposition der Gesellschaft an-
Finanzielle Dimensionen: Das Sozialbudget
69
29,1
29,0
29,2
29,4
29,5
29,4
2014
2015
2016
2017
2018
28,8
2012
2013
28,7
2011
30,6
29,9
27,2
26,8
28,9
27,8
2005
29,8
2001
29,1
28,8
28,7
2000
2004
28,6
1999
29,4
28,3
1998
28,7
28,3
1997
27,1
27,6
27,1
1994
26,5
1993
25,0
24,1
25,2
25,7
2010
2009*
2008
2007
2006
2003
2002
1996
1995
1992
1991
1990
1985
1980
1975
20,2
1970
19,4
1965
1960
18,3
26,3
Abbildung II.3 Sozialleistungsquote 1980 – 2018 in % des Bruttoinlandsprodukts
Ab 1991 einschließlich neue Bundesländer. Ab 2009 einschließlich der mit der GKV vergleichbaren Grundleistungen der Privaten Krankenversicherung. Vergleich mit den Vorjahren nur eingeschränkt möglich. Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (zuletzt 2019), Sozialbudget.
dererseits vernachlässigt, dass das Sozialbudget nur über den finanziellen Einsatz (input), aber nicht über das Ergebnis (output) informiert. Über die Wirksamkeit und Qualität der Sozialpolitik ist also noch nichts gesagt. Hohe Kosten können unter Umständen ein Indikator für besondere Ineffektivität und Ineffizienz sein, worauf vor allem die Verhältnisse in manchen Bereichen der gesundheitlichen Versorgung hindeuten. Hinsichtlich der Aussagefähigkeit der Sozialleistungsquote sind weitere Einschränkungen zu machen: Da auf Zahlungsvorgänge abgestellt wird, werden nur jene sozialen Dienstleistungen berücksichtigt, deren Erbringung erwerbsförmig und gegen Entgelt erfolgt. Dies bedeutet, dass die unentgeltlichen sozialen Hilfsleistungen im Kontext von Familie, Nachbarschaft, Selbsthilfegruppen und sozialem Ehrenamt außerhalb des Blickfeldes bleiben. Darüber hinaus begrenzt sich die Berechnung auf die öffentlichen sowie die gesetzlich vorgeschriebenen Aufwendungen für Sozialleistungen. Nicht erfasst werden hingegen die privaten Aufwendungen im Feld der sozialen Sicherung. Hierbei handelt es sich insbesondere um • Ausgaben, die für Privatversicherungen und private Vorsorge getätigt werden (müssen), sei es, weil kein Schutz durch die Sozialversicherung vorliegt (so bei
70
•
•
• •
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Selbstständigen) oder weil Leistungsspektrum und Leistungsniveau der gesetzlichen Absicherung unzureichend sind oder als unzureichend wahrgenommen werden und ergänzender Sicherungsschutz in Anspruch genommen wird, Käufe von medizinischen und sozialen Gütern, Leistungen und Diensten aus laufendem Einkommen, wenn beispielsweise die Krankenkassen bestimmte Sachleistungen nicht übernehmen (so z. B. bei Zahnersatz oder bei Brillen) oder ambulante Pflegekräfte privat bezahlt werden müssen, Selbstbehalte als Zuzahlungen bei der Inanspruchnahme von Sach- und Dienstleistungen des sozialen Systems, so in der Krankenversicherung bei Arzneimitteln und Krankenhausaufenthalten. Im Bereich der Jugendhilfe werden z. B. viele Eltern durch Gebühren an den Kosten von Tageseinrichtungen für Kinder beteiligt, private Unterhaltszahlungen im familiären Verbund, durch Spenden und Eigenmittel finanzierte Leistungen von sozialen Projekten, Vereinen und Wohlfahrtsverbänden.
Diese Ausklammerung des großen Spektrums der Aufwendungen für private Vorsorge muss bei der Interpretation der Sozialleistungsquote und ihrer Entwicklung berücksichtigt werden, um Fehlschlüsse zu vermeiden. Dazu drei Beispiele: Eine erhöhte Zusatzbeteiligung der Kranken an den Kosten von Arzneimitteln mindert zwar die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung und damit das Sozialbudget. In der Regel werden die Kosten allerdings lediglich auf die privaten Haushalte verlagert, nicht aber reduziert. Eine solche Kostenverlagerung ohne Begrenzung der Ausgaben tritt auch dann ein, wenn einzelne Leistungen der gesetzlichen Versicherung, z. B. beim Zahnersatz, reduziert werden und die Sicherungslücke durch den Abschluss einer privaten Zusatzversicherung geschlossen werden muss. In allen Fällen bleibt das gesamtwirtschaftliche Ausgaben- und Kostenvolumen weitgehend unverändert, aber die Sozialleistungsquote sinkt, weil die Beitragsfinanzierung durch private Käufe oder Prämien für Privatversicherungen abgelöst wird. Es ist also stets eine politische Bewertungs- und Entscheidungsfrage, welche Ausgaben und Leistungen als Sozialaufwand bezeichnet werden und in die Berechnung von Sozialbudget und Sozialleistungsquote eingehen. Dies macht nicht zuletzt internationale Vergleiche von Sozialleistungsquoten schwierig. Staatsquote Von der Sozialleistungsquote ist die Staatsquote zu unterscheiden. Sie ist ein Indikator für alle Zahlungsströme in einer Volkswirtschaft, die über den Staat laufen und ist damit wesentlich umfassender als die Sozialleistungsquote. Eingeschlossen sind neben den Sozialleistungen (ohne Steuervergünstigungen) die Subventionen, die staatliche Eigennachfrage (öffentliche Investitionen), der Staatsverbrauch (Personalausgaben, Militär usw.) und die Zinsaufwendungen für öffentliche Schulden. Wird die Gesamtsumme dieser Mittel ins Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt gesetzt, errechnet sich für 2017 eine Staatsquote von etwa 44 %.
Finanzielle Dimensionen: Das Sozialbudget
71
Die Erfassung auch der Transferzahlungen führt dazu, dass es sich bei der Staatsquote um eine sog. unechte Quote handelt. Da Sozialtransfers und Subventionen ja nicht vom Staat „verbraucht“, sondern im Sinne einer interpersonellen und intertemporalen Einkommensumverteilung nur „umgeleitet“ werden, schlagen sie sich bei den privaten Haushalten oder Unternehmen noch einmal in Form von Konsumoder Investitionsausgaben nieder. Staats(ausgaben)quote und private Ausgabenquote summieren sich deshalb auf einen über 100 % liegenden Wert. Die Höhe der Staatsquote wird demnach maßgeblich nicht nur dadurch beeinflusst, wie viele Personen im öffentlichen Dienst beschäftigt sind, welche Höhe die Verteidigungsausgaben aufweisen und welche öffentlichen Investitionen getätigt werden, sondern auch dadurch, ob die soziale Sicherung, und hier vor allem die Alterssicherung, über den Staat bzw. die Sozialversicherungsträger abgewickelt wird oder über private Versicherungsunternehmen. Obgleich die Rentenversicherung wie auch die private Lebensversicherung im Wesentlichen das Gleiche tun, nämlich die Organisierung einer Einkommensumverteilung zwischen den Generationen, führt der für die Wohlfahrtsstaaten charakteristische Weg einer Organisierung über die öffentliche Haushalte zu einer deutlichen Erhöhung der Staatsquote. Der gleiche Zusammenhang gilt für das Bildungswesen: In Ländern, die ein öffentlich finanziertes Bildungssystem bis hin zum Hochschulstudium kennen, liegt die Staatsquote höher als z. B. in den USA, weil dort ein Großteil der Bildungsausgaben privat finanziert werden muss. 2.3
Einflussfaktoren der Ausgabenentwicklung
Die Sozialleistungen werden sowohl in ihrem Niveau als auch in ihrer Entwicklungsrichtung durch sehr unterschiedliche Bestimmungsgrößen beeinflusst. Von Bedeutung sind insbesondere folgende Faktoren: Veränderungen im Leistungsrecht Wird der Kreis der Leistungsberechtigten ausgeweitet, das Leistungsniveau angehoben oder werden neue soziale Risiken und Tatbestände berücksichtigt, erhöht sich das Ausgabenvolumen. Im umgekehrten Fall, also bei Einschnitten im Leistungsrecht (Sozialabbau), mindern sich die Ausgaben bzw. die Ausgabenzuwächse. Für beide Fälle finden sich viele Beispiele in der jüngeren Vergangenheit: • Von grundsätzlicher Bedeutung für einen Leistungsausbau sind vor allem die Abdeckung der Pflegebedürftigkeit im System der Sozialversicherung ab 1995 und der forcierte Ausbau der Kindertagesbetreuung ab etwa 2004. • Die Überführung der Arbeitslosenhilfe in das neue System der Grundsicherung für Arbeitsuchende und parallel dazu die Ausdünnung des Anspruchs auf die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld (im Rahmen der sog. Hartz-Gesetze ab 2005) haben zu einer Absenkung des Sicherungsniveaus bei Arbeitslosigkeit geführt. Ein
72
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
ebenfalls markanter Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik ist durch die kontinuierliche Absenkung des Rentenniveaus und die Förderung der privaten Altersvorsorge eingeleitet worden (ab 2001 mit der Einführung der sog. Riester-Rente). Zahl und Struktur der Empfänger:innen von Einkommens- und Sachleistungen Die Zahl der Leistungsempfänger:innen hängt von der Bevölkerungsentwicklung, aber auch von den sozialen Bedarfs- und Problemlagen in der Gesellschaft ab. Nicht zuletzt spielt auch das Antrags- bzw. Nutzungsverhalten der Leistungsberechtigten eine Rolle: •
•
•
•
•
So führt steigende Arbeitslosigkeit zu wachsenden Empfängerzahlen von Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II. Mehraufwendungen im Gesundheitssystem wiederum können eine Folge von Veränderungen des Krankheitsspektrums in Richtung langwieriger, chronisch-degenerativer Krankheitszustände sein. Es liegt auf der Hand, dass sich aus diesen Trends kein „Erfolgsnachweis“ für höhere Lebensqualität ablesen lässt. Steigende Sozialausgaben bringen hier allerdings zum Ausdruck, dass sich die Gesellschaft an den Folgen der sozialen Risiken beteiligt und diese nicht allein privat getragen werden müssen. Auch die Verschiebungen im Altersaufbau der Bevölkerung sind mit Mehraufwendungen verbunden. Nimmt die Zahl der älteren Menschen zu, so erhöht sich die Zahl der Empfänger:innen von Altersrenten und von Leistungen der Pflegeversicherung. Bei einer Zuwanderung erhöht sich nicht nur die Bevölkerungszahl. Soll die Migration von Ausländern, Asylbewerbern und Schutzsuchenden sozialverträglich ablaufen, sind auch besondere Angebote an Integrationshilfen, Wohnraum, Qualifizierungsmaßnahmen sowie Einkommensleistungen notwendig. Veränderungen in der Sozialstruktur und den Lebensverhältnissen der Bevölkerung führen ebenfalls zu steigenden Anforderungen an die Sozialpolitik: Erhöht sich beispielsweise die Frauenerwerbstätigkeit, dann kann auch die Nachfrage nach Kinderbetreuungseinrichtungen steigen – wenn der Betreuungsbedarf nicht durch soziale und familiale Netzwerke ausgeglichen wird. Ein Mehrbedarf an Leistungen der sozialen Sicherung tritt auch dann auf, wenn sich infolge neuer Lebensformen (z. B. Zunahme von Ein-Personen-Haushalten) die Tragfähigkeit der familiären Unterstützungsnetze mindert und infolgedessen im wachsenden Maße öffentliche soziale Dienste und Einrichtungen benötigt werden. Die Zahl der Leistungsempfänger:innen hängt auch davon ab, inwieweit die Berechtigten Sachleistungen und Einkommensleistungen tatsächlich in Anspruch nehmen. Auf der einen Seite ist bekannt, dass es vor allem bei Leistungen der Grundsicherung eine hohe Dunkelziffer der Nichtinanspruchnahme gibt. Auf der anderen Seite zeigt sich, dass eine Ausweitung von Angeboten (wie z. B. Kindertagesstätten, ambulante Pflegedienste, Arztdichte) auch zu einer verstärkten Nutzung führt.
Finanzielle Dimensionen: Das Sozialbudget
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Leistungsmenge Bei Dienstleistungen kann sich die Leistungsmenge je Fall infolge verbesserter Qualitätsstandards, neuer Diagnose- und Therapiemöglichkeiten, expansiver Anbieterstrategien sowie eines veränderten Inanspruchnahmeverhaltens nach oben entwickeln. Dies gilt insbesondere im Gesundheits- und Sozialwesen. Einkommensentwicklung Da der überwiegende Teil der Lohnersatzleistungen der Sozialversicherung an die Lohnentwicklung gekoppelt ist (Lohndynamisierung), kommt es bei steigenden Arbeitnehmereinkommen auch zu einem Ausgabenzuwachs der Lohnersatzleistungen. Auch die Beschäftigten im Sozial- und Gesundheitswesen nehmen an der allgemeinen Einkommensentwicklung teil. Angesichts der hohen Personalintensität der sozialen Dienstleistungen führt dies zu deren Verteuerung. Kosten- und Preisentwicklung Preiseffekte im Sozial- und Gesundheitswesen ergeben sich durch die Entwicklung des medizinisch-technischen Fortschritts, durch höhere Leistungsqualität oder durch eine verbesserte Personalausstattung. Diese Ausgabentrends können sich überlagern und verstärken, aber auch gegenläufig entwickeln und kompensieren. Sie machen sich teilweise nur langsam und langfristig bemerkbar (wie z. B. die Auswirkungen des demografischen Wandels und der Veränderung der Sozialstruktur), können allerdings auch kurzfristig wirksam werden (wie z. B. in Folge eines Anstiegs der Arbeitslosigkeit, der Kostenentwicklung oder von Veränderungen im Leistungsrecht). Um nun festzustellen, ob sich der Ausgabenzuwachs im Rahmen der wirtschaftlichen Wertschöpfung bewegt oder aber über- bzw. unterproportional entwickelt, muss dieser mit der Höhe des Bruttoinlandsprodukts und seiner Entwicklung verglichen werden. Steigen die Ausgaben stärker als die volkswirtschaftliche Wertschöpfung, erhöht sich die Sozialleistungsquote, im umgekehrten Fall verringert sie sich. Wirtschaftswachstum und Sozialausgaben sind allerdings keine voneinander unabhängigen Größen. Niedrige und abflachende Wachstumsraten im Konjunkturabschwung gehen einher mit steigenden Arbeitslosenzahlen und erhöhten Belastungen der Sozialleistungsträger, sodass gerade in der Krise die Quote nach oben tendiert. 2.4
Sozialleistungen im europäischen Vergleich
Sollen die Sozialleistungssysteme der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union hinsichtlich Niveau und Struktur der Ausgaben miteinander verglichen werden, dann muss auf die Angaben des Statistischen Amtes der Europäischen Gemeinschaften (Eurostat) Bezug genommen werden.
74
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Eurostat berechnet die Sozialausgaben für die EU-Mitgliedsstaaten nach einheitlichen Kriterien, die allerdings infolge der Nicht-Berücksichtigung von indirekten Leistungen und von betrieblichen Sozialleistungen vom deutschen Berechnungsverfahren abweichen. Für einen Vergleich sind vor allem die jeweiligen Sozialleistungsquoten (die in der Terminologie der EU als Sozialschutzquoten bezeichnet werden) und ihr Verlauf in den zurückliegenden Jahren von Interesse. Aus Tabelle II.2 lässt sich entnehmen, dass die Sozialschutzquote in Deutschland mit 28,2 % (2017) im unteren Bereich des oberen Drittels der EU-Staaten liegt. In den 28 Mitgliedsstaaten der EU bewegt sich die Spannweite zwischen Frankreich (31,8 %) und Rumänien (14,4 %). Die ost- bzw. südosteuropäischen Mitgliedsstaaten insgesamt, deren Wohlstandsniveau immer noch weit unterhalb der „alten“ EU-Staaten liegt, fallen sämtlich in das untere Drittel der Skala. Verfolgt man die Entwicklung im Zeitablauf, dann zeigt sich allerdings ein Annäherungsprozess (Konvergenz) zwischen den Mitgliedsstaaten. Die Abstände zwischen den Sozialschutzquoten haben sich schrittweise verringert. Ein aussagefähiger Vergleich der Sozialschutzquoten wird durch viele Abweichungen bei den jeweiligen Berechnungsverfahren erschwert. Auch bleibt zu beachten, dass nur die Bruttosozialleistungen in die Berechnung eingehen. Vor allem in den skandinavischen Ländern unterliegen aber viele Einkommensleistungen der direkten Besteuerung. Im Ergebnis liegen hier die Nettosozialleistungen bzw. Nettosozialleistungsquoten deutlich niedriger als die entsprechenden Bruttogrößen. Im Vergleich zwischen den EU-Staaten wird auch sichtbar, dass die einzelnen Funktionsgruppen der sozialen Sicherung in den jeweiligen Ländern ein unterschiedliches Gewicht haben. Einheitlich ist gleichwohl, dass die Bereiche „Alter und Hinterbliebene“ sowie „Invalidität“ zusammengefasst in fast allen Ländern jeweils gut die Hälfte der Gesamtleistungen ausmachen. Deutlich niedriger als in Deutschland und in den meisten EU-Ländern, nämlich bei knapp 19 % (2018), liegt nach Angaben der OECD die Sozialleistungsquote in den USA. Dieser Wert ist nicht allein ein Ausdruck niedriger Sozialleistungen, sondern auch Folge der Konvention, die Aufwendungen für die private soziale Sicherung bei den Sozialausgaben nicht zu berücksichtigen. So führt die in großen Teilen immer noch weitgehend privatwirtschaftliche Organisation der Krankenversicherung in den USA keineswegs zu insgesamt geringeren Gesundheitsausgaben. Vielmehr summieren sich die öffentlichen und privaten Gesundheitsausgaben auf rund 17 % des amerikanischen Sozialprodukts und nehmen mit diesem Wert im internationalen Vergleich die Spitzenposition ein; zugleich erweisen sich aber der Krankenversicherungsschutz und die Gesundheitsversorgung als lückenhaft, da ein großer Teil der Bevölkerung nur unzureichend abgesichert ist. An den nachfolgenden Stellen folgen mit deutlichem Abstand die Schweiz mit 12 % sowie Deutschland und Frankreich mit jeweils 11,2 %.
Finanzielle Dimensionen: Das Sozialbudget
75
Tabelle II.2 Sozialschutzquoten in den 28 EU-Mitgliedsstaaten 2000 – 2017 in % des BIP 2000
2005
2010
2015
2017
Frankreich
27,2
28,9
31,0
31,9
31,8
Finnland
23,6
24,8
28,5
31,4
30,3
Dänemark*
27,4
28,6
31,4
31,0
29,9
Österreich
27,1
27,1
28,8
29,1
28,6
Belgien
23,8
25,6
27,9
29,0
27,6
Italien
22,9
24,4
27,6
28,8
28,2
Schweden
27,8
28,9
28,2
28,8
28,5
Niederlande
22,7
23,8
27,4
28,1
27,6
Deutschland*
27,7
27,8
28,6
28,0
28,2
Griechenland*
17,5
19,9
25,4
25,8
25,9
Großbritannien
22,6
25,7
28,1
27,4
26,4
Portugal
18,5
22,3
24,4
24,7
23,7
Spanien
19,0
28,9
31,0
31,9
31,8
Slowenien
23,1
22,1
23,9
23,3
22,3
Luxemburg
18,0
21,4
22,1
22,0
22,1
–
–
20,8
21,4
20,5
Polen
19,1
19,4
19,2
19,0
19,6
Ungarn
19,2
20,9
22,0
19,0
18,3
Zypern*
13,5
16,2
18,5
19,4
18,7
Tschechien
17,4
17,4
19,4
18,4
18,0
Slowakei
18,5
15,5
17,7
17,7
17,6
–
14,2
16,5
17,3
16,6
Malta
16,3
17,5
19,1
16,7
15,9
Estland*
13,6
12,3
17,4
15,9
16,4
Irland
14,0
16,1
23,9
15,0
14,4
Litauen
15,2
12,8
18,2
14,8
14,4
Lettland
15,0
11,7
18,0
14,7
14,5
Rumänien*
12,7
13,3
17,3
14,3
14,4
Kroatien
Bulgarien
* Daten für 2016 Quelle: Eurostat (2019), Ausgaben des Sozialschutzes, ESSOSS.
76
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
3
Finanzierung der sozialen Sicherung
3.1
Sozialpolitik als Einkommensumverteilung
Die im Sozialbudget festgehaltenen Sozialausgaben beziffern sich auf rund 996 Mrd. Euro im Jahr. Der Sozialstaat produziert die erforderlichen Finanzmittel nicht aus sich selbst heraus, sondern greift durch Steuern und Beiträge auf die im Wirtschaftsprozess erzielten Einkommen zurück (vgl. Abbildung II.4). Sozialpolitik ist immer Einkommensumverteilungspolitik, die eine reine Marktverteilung korrigiert (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 1.3): Diejenigen Personen und Haushalte, die in der Primärverteilung (Aufteilung des Volkseinkommens im Marktprozess) keine oder keine ausreichenden Einkommen beziehen, erhalten durch sozialstaatliche Umverteilung (Sekundärverteilung) Anteile von den Einkommen der anderen. Empfänger:innen sind all die, die nicht (mehr) am Erwerbsprozess teilnehmen können (wie z. B. ältere Menschen, Kranke, Arbeitslose) oder deren Einkommen aufgestockt wird, weil z. B. Kinder zu unterhalten oder die Mietbelastungen zu hoch sind. Das Verhältnis von (nicht erwerbstätigen) Empfänger:innen von Einkommensleistungen und den (erwerbstätigen) Beitrags- und Steuerzahler:innen lässt sich auch als ökonomische Abhängigkeitsquote bezeichnen. •
•
•
•
•
Durch die öffentliche Bereitstellung von Einrichtungen und Diensten im Gesundheits- und Sozialwesen und der Daseinsvorsorge können Leistungen (weitgehend) ohne direkte Bezahlung in Anspruch genommen werden. Dadurch verbessern sich die Versorgungslage und indirekt auch die Einkommenslage der Nutzer. Belastet werden im Gegenzug jene, deren Einkommen durch Steuern oder Beiträge vermindert werden. Belastet werden können Arbeitnehmereinkommen (Einkommen aus abhängiger Arbeit) sowie Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen. Auch Lohnersatzleistungen sind steuerpflichtig (z. B. Renten) oder beitragspflichtig (z. B. Krankengeld). Durch indirekte Steuern (Mehrwertsteuer, spezielle Verbrauchsteuern wie Tabak-, Alkohol-, Mineralölsteuern usw.) werden bei der Einkommensverwendung aus der Wertschöpfung Ressourcen abgeleitet. Verbrauchsteuern, die in die Preise der Güter und Dienstleistungen eingehen, reduzieren die Kaufkraft der Einkommen, nicht nur die der Markteinkommen, sondern auch die der Sozialeinkommen. Durch die Besteuerung einzelner Lohnersatzleistungen sowie des privaten Konsums finanzieren die Sozialleistungsempfänger:innen ihre Einkommen teilweise selbst mit. Das betrifft z. B. Familien, die über die gezahlten Verbrauchsteuern auch zur Finanzierung des Kindergelds beitragen. Neben den direkten müssen auch die indirekten, über Steuervergünstigungen geregelten Sozialleistungen finanziert werden. Direkte Leistungen, wie z. B. das Wohngeld, führen zu Staatsausgaben und erfordern deshalb Steuereinnahmen; indirekte Leistungen, wie z. B. steuerliche Erleichterungen für Familien und für
Finanzierung der sozialen Sicherung
77
Ehepaare, vermindern das Steueraufkommen und erfordern deshalb Steuermehreinnahmen an anderer Stelle. Hinter der Umleitung von Geldströmen steht zugleich ein realwirtschaftlicher Prozess: Den monetären Größen entspricht immer ein realer Gegenwert, denn die Geldzahlungen nutzen den Empfänger:innen ja nur insofern, wenn mit dem übertragenen Abbildung II.4 Finanzierung der Sozialpolitik im Wirtschaftskreislauf Nettosozialprodukt = Volkseinkommen beitragsfreie
beitragspflichtige
Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge
Privater Verbrauch
Lohnsteuer
Einkommensteuer/
Arbeitnehmereinkommen
Verbrauchsteuern
Gewinnsteuern
Einkommens- und
Einkom. aus Unternehmertätigkeit und Vermögen
Steuerfinanzierte Bundeszuschüsse
Öffentliche Haushalte Bund Länder Gemeinden Staatsausgaben, darunter
Monetäre Transfers wie: Sozialhilfe/Grundsicherung, Arbeitslosengeld II Sozialgeld, Wohngeld, Elterngeld, BAföG, Kindergeld, Kriegsopferversorgung , , Beamtenversorgung Bereitstellung von sozialen Diensten/Einrichtungen: Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen, Daseinsvorsorge
Sozialversicherungshaushalte
GRV
BA/ ALV
GKV
SPV
GUV
Leistungen der Sozialversicherungsträger Lohnersatzleistungen wie Renten, Arbeitslosengeld, Krankengeld, Pflegegeld
Sach- und Dienstleistungen wie ambulante und stationäre medizinische Versorgung, Reha, Arbeitsförderung, Pflegedienst
Vereinfachte Darstellung des Modells einer geschlossenen Volkswirtschaft Ohne Berücksichtigung von Rückkopplungseffekten: z. B. Belastung von Lohnersatzleistungen mit Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen.
78
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Geld auf dem Markt Güter und Dienstleistungen gekauft werden können. Umverteilt werden also nicht nur Einkommen, sondern damit auch Ansprüche auf Güter und Dienstleistungen. Das Gesamtvolumen der in einer Volkswirtschaft erstellten Güter und Dienstleistungen, das in der Höhe des Sozialprodukts zum Ausdruck kommt, ist die einzige Quelle, die zur Einkommensverwendung genutzt werden kann. Es gilt die nach dem Sozialökonomen Mackenroth benannte „Mackenroth-These“, dass das, was eine Gesellschaft für die Versorgung der Erwerbstätigen wie der Nicht-Erwerbstätigen aufwendet, immer vom Sozialprodukt der laufenden Periode abgezweigt werden muss. Den Konsumansprüchen der Bevölkerung steht nichts anderes zur Verfügung als die Ergebnisse der jeweils aktuellen Produktion, die von der erwerbstätigen Bevölkerung erwirtschaftet (oder aus dem Ausland bezogen) wird. Es ist im Wesentlichen die mittlere Generation, die die Güter und Dienstleistungen produziert. Die Generation der Kinder und Jugendlichen ist in der Regel noch nicht, die ältere Generation dagegen nicht mehr in der Lage bzw. verpflichtet, sich durch Erwerbstätigkeit an der Erstellung des Sozialprodukts zu beteiligen. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht macht es auch keinen prinzipiellen Unterschied, über welchen Träger die Ausgaben finanziert werden, sei es über die Sozialversicherungen oder über den Staat (Bund, Länder und Gemeinden), und ob die Finanzierung über Steuern oder Beiträge erfolgt. Wachsende Ausgaben für Renten oder für die Unterstützung von Arbeitslosen können bei gegebenem Sozialprodukt (Volkseinkommen) und bei Konstanz der anderen Staatsausgaben nur durch höhere Abzüge vom Primäreinkommen bzw. indirekt über höhere Verbrauchsteuern durch steigende Preise finanziert werden. 3.2
Finanzierungsverfahren: Umlagefinanzierung und Kapitaldeckung
Bei der Finanzierung der Sozialleistungen wird in Deutschland auf die Bildung von Vermögensrücklagen weitgehend verzichtet. Dies gilt gleichermaßen für die steuerfinanzierten, über die öffentlichen Haushalte abgewickelten Leistungen wie für die beitragsfinanzierten Leistungen der Sozialversicherungsträger. Es dominiert das Umlageverfahren. Nach diesem Verfahren werden die Leistungen jeder Periode aus dem laufenden Beitragsaufkommen der gleichen Periode finanziert. Dies gilt auch für jene Einkommensübertragungen, die im Rahmen der Sozialversicherung (wie die Altersund Erwerbsminderungsrenten oder Leistungen bei Pflegebedürftigkeit) durch einen großen zeitlichen Abstand zwischen individueller Beitragszahlung und späteren Leistungen charakterisiert sind. So werden in der Rentenversicherung die eingehenden Beiträge sofort wieder zur laufenden Rentenzahlung ausgegeben. Die Versicherungsträger verfügen über keine nennenswerten Rücklagen, sondern nur über Liquiditätsreserven, um kurzfristige Schwankungen im Kassenbestand überbrücken zu können. Die jeweilige Rentnergeneration wird also nur von der jeweiligen Beitragszahlergeneration versorgt. Das bedeutet, dass ein Beitragszahler mit seiner Beitrags-
Finanzierung der sozialen Sicherung
79
zahlung nur zur Bestreitung der aktuellen Rentenausgaben beiträgt, nicht aber seine eigene spätere Rente finanziert. Es kommt zu einer Einkommens- und Kaufkraftübertragung zwischen den Generationen. Aus der Beitragszahlung erwächst zwar eine Anwartschaft auf eine eigene Rente in der Zukunft, der tatsächliche Wert dieser Anwartschaft bzw. die konkrete Höhe der späteren Rente hängt aber weniger von den Gegebenheiten zur Zeit der Beitragszahlung und juristischen Garantien (Eigentumscharakter der Anwartschaften) ab, sondern von den sozioökonomischen und politischen Bedingungen, die zum Zeitpunkt der Auszahlung der Rente herrschen werden. Maßgeblich für die zukünftige Höhe des Beitragsaufkommens sind beim Umlageverfahren die Zahl der beitragspflichtig Beschäftigten und das Lohnniveau in der Volkswirtschaft. Zugleich kommt auf die Fähigkeit und Bereitschaft der Politik an, bei der nachfolgenden Generation solche Beitragssätze einzufordern, wie dies zur Bestreitung der politisch definierten Leistungsansprüche im Alter erforderlich ist. Demgegenüber beruhen kapitalfundierte Finanzierungsverfahren auf der Kombination von Ansparen und Entsparen. Beim Kapitaldeckungsverfahren im strengen Sinne (Anwartschaftsdeckungsverfahren) werden die Beiträge der Versicherten nicht zur laufenden Rentenzahlung verwendet, sondern in einem Kapitalstock (Anlage in Immobilien und Wertpapieren) angesammelt. Auf diese Weise wird für jeden Versicherten im Verlauf seines Arbeitslebens das Deckungskapital aufgebaut, das notwendig ist, um zusammen mit den Zinserträgen die spätere Rente zu finanzieren. Beim modifizierten Kapitaldeckungsverfahren (Abschnittsdeckungsverfahren) werden Vermögensbestände gebildet, um die Finanzierung der Ausgaben innerhalb eines mehrjährigen Deckungsabschnitts zu gewährleisten. Der während dieses Deckungsabschnitts erhobene Beitragssatz muss so kalkuliert werden, dass die laufenden Beitragseinnahmen der Versicherten, das vorhandene Vermögen und etwaige Zinserträge ausreichen, um die Leistungsausgaben während dieses Zeitraums zu finanzieren. Der angesammelte Kapitalstock wird dabei nicht dem einzelnen Versicherten zugerechnet, sondern kollektiv der Solidargemeinschaft. So gesehen ist das modifizierte Kapitaldeckungsverfahren eine Kombination aus strengem Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren. Das Kapitaldeckungsverfahren wird insbesondere in der privaten Lebensversicherung und im Rahmen der betrieblichen Altersversorgung (Direktversicherung, Pensionskassen und Pensionsfonds) praktiziert. Da die Versicherungsunternehmen angesichts der Freiwilligkeit eines Vertragsabschlusses die Zahl ihrer Versicherten und das Prämienaufkommen nicht längerfristig kalkulieren können, muss nach einem kapitalfundierten Verfahren gearbeitet werden, um die Leistungsansprüche später auch unabhängig von Einzahlungen einlösen zu können. Die tatsächliche Höhe der aus dem Kapitalstock resultierenden Leistungen hängt von der Wertsteigerung und der Verzinsung des Kapitals bzw. von den Veräußerungserlösen der Kapitaltitel ab. Im Unterschied zum Umlageverfahren kommt es hierbei nicht nur auf die Situation im Inland an, sondern auf die Entwicklung des internationalen Kapitalmarktes. Angesichts der Verflechtung des Finanzsektors werden Kapi-
80
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
talanlagen weltweit getätigt, verbunden allerdings mit Wechselkursrisiken außerhalb des Währungsraums und nicht zuletzt mit politischen Risiken. Das privatwirtschaftliche Kapitaldeckungsverfahren lässt sich auf ein gesetzliches Rentenversicherungssystem, das mehr oder minder die Gesamtbevölkerung absichert, nicht oder nur mit großen Problemen übertragen. Notwendig wäre der Aufbau eines riesigen Kapitalstocks, der das laufende Sozialprodukt bei weitem übersteigen würde und ein Mehrfaches des in der Volkswirtschaft produktiv angelegten Kapitals betragen müsste. Kapital in der erforderlichen Größenordnung könnte in Deutschland weder rentierlich angelegt noch später zum richtigen Zeitpunkt wieder in Form liquider Mittel zur Verfügung gestellt werden. Zu Problemen kommt es auch immer dann, wenn der Staat das Kapital der Rentenversicherung für andere Zwecke benutzen würde, z. B. für die Finanzierung von Haushaltsdefiziten. Schließlich müssten zum Aufbau des Kapitalstocks über viele Jahre hinweg Beiträge angespart werden, die dann nicht mehr zur Finanzierung der laufenden Ausgaben zur Verfügung stünden oder die zusätzlich zu zahlen wären. Auch die mit der deutschen Wiedervereinigung eingeleitete Übertragung des Sozialversicherungssystems auf die Bevölkerung in den neuen Ländern konnte nur im Rahmen der Umlagefinanzierung praktiziert werden und wäre bei einem Kapitaldeckungsverfahren nicht möglich gewesen. Weitere Risiken ergeben sich vor allem bei Inflationen oder Währungsreformen. Auch dafür legt die Geschichte der Rentenversicherung in Deutschland Zeugnis ab: Ursprünglich sollte das Kapitaldeckungsverfahren angewendet werden. Das angesammelte Kapital ist jedoch zwei Mal vom Staat zur Kriegsfinanzierung missbraucht worden; die noch übrig gebliebenen Reste wurden anschließend zwei Mal durch Währungsreformen entwertet. Aber selbst dann, wenn zur Finanzierung der Alterssicherung ein größerer Kapitalstock aufgebaut werden könnte, lässt sich der ökonomische Tatbestand nicht umgehen, dass die Sozialeinkommen nur aus dem laufenden Sozialprodukt finanziert werden können. Das für den Einzelnen naheliegende Verhalten, durch Sparen bzw. durch den Abschluss von Lebensversicherungen vorzusorgen, um im Alter oder in schlechten Zeiten dann von den Erträgen des Vermögens bzw. von der Abschmelzung des Vermögens zu leben, ist aus gesamtwirtschaftlicher Sicht, d. h. für alle Bürger, nicht möglich. Eine gesamte Gesellschaft und Volkswirtschaft kann spätere Ausgaben nicht durch Sparen vorfinanzieren und damit die Belastungen zeitlich verschieben. Was die einen sparen, wird durch die anderen, die sich verschulden, entsprechend ausgegeben. Denn nur derjenige kann Geld anlegen und ein Vermögen bilden, der einen Schuldner bzw. Investor findet. Da jedem Gläubiger ein Schuldner gegenübersteht, rechnen sich innerhalb einer Gesamtwirtschaft Schulden und Guthaben gegeneinander auf. Umgekehrt gilt, dass Vermögen nur aufgelöst und in Konsum umgewandelt werden kann, wenn sich ein Anleger findet, der bereit ist, zu sparen und auf Konsum zu verzichten (vgl. auch Pkt. 7.6 dieses Kapitels zu der Frage einer Umstellung vom Umlage- zum Kapitaldeckungsverfahren).
Finanzierung der sozialen Sicherung
81
Für die Finanzierung der Alterssicherung folgt daraus, dass auch bei einem kapitalgedeckten System die Zahlung von Renten nur möglich ist, wenn die Jüngeren zugunsten der Älteren auf Konsum verzichten. Denn wenn das angesparte und in Aktien, Immobilien, Wertpapieren angelegte Kapital veräußert werden soll, müssen sich Käufer für diese Anlagen finden. Im Wesentlichen wird dies die Generation sein, die sich selbst gerade in der Erwerbsphase befindet und nun ihrerseits Geld für die eigene Alterssicherung anlegen möchte. Nicht nur das Umlageverfahren basiert also auf dem Miteinander der Generationen, sondern auch das Kapitaldeckungsverfahren. 3.3
Finanzierung der Sozialleistungen über Beiträge und Steuern
Betrachtet man die Finanzierung der Sozialleistungen im Einzelnen, so ist der Unterschied zwischen Steuern und Beiträgen grundlegend. Die Wahl zwischen diesen beiden Finanzierungsarten hängt von der Aufgabenstellung und Zielsetzung der jeweiligen Leistung und dem institutionellen Status des Leistungsträgers ab. Welche Gebietskörperschaft für die Finanzierung der Sozialleistungen außerhalb der Sozialversicherung zuständig ist, lässt sich aus Übersicht II.1 entnehmen. Übersicht II.1 Finanzierungszuständigkeiten der Gebietskörperschaften in der Sozialpolitik, ausgewählte Beispiele Bund:
Elterngeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Arbeitsmarktprogramme, Zuschüsse zur Rentenversicherung, zur Krankenversicherung, zur Bundesagentur für Arbeit und zur Alterssicherung der Landwirte Gemeinsam mit den Ländern Kriegsopferversorgung, Wohngeld und Ausbildungsförderung
Länder:
Krankenhausfinanzierung, Ausbau der Pflegeinfrastruktur, öffentliches Gesundheitswesen, Arbeitsmarktprogramme, Förderung von sozialen Einrichtungen und Diensten Gemeinsam mit dem Bund Kriegsopferversorgung, Wohngeld und Ausbildungsförderung Unterstützung der Kommunen, insb. bei der Sozial- und Jugendhilfe
Kommunen:
Sozialhilfe, Grundsicherung für Arbeitssuchende (Kosten der Unterkunft und soziale Dienste), Kinder- und Jugendhilfe, freiwillige soziale Leistungen, insb. soziale Dienste und Einrichtungen
Indirekte Sozialleistungen durch steuerliche Vergünstigungen – so z. B. der Familienleistungsausgleich über das System von Steuerfreibeträgen und Kindergeld – führen zu Steuermindereinnahmen bei der Einkommensteuer. Da das Aufkommen aus der Einkommensteuer Bund, Ländern und Kommunen gemeinsam (nach einem bestimmten Anteilsschlüssel) zusteht, werden die Gebietskörperschaften in diesem Anteilsverhältnis belastet. Bund, Länder und Kommunen finanzieren als Arbeitgeber im vollen Umfang die soziale Sicherung ihrer Beamten sowie mit dem hälftigen Arbeitgeberbeitrag die Sozialversicherungsleistungen ihrer Arbeiter und Angestellten.
82
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Generell gilt folgende Unterscheidung: •
Leistungen, die den Ausfall des Arbeitseinkommens ersetzen sollen und die die Funktion einer Risikovorsorge wahrnehmen, werden über Versicherungssysteme mit eigenständigen Haushalten abgewickelt. Bei den Trägern der Systeme der Sozialversicherung handelt es sich um „Parafisci“, d. h. mit staatlicher Hoheitsgewalt ausgestattete Träger der öffentlichen Finanzwirtschaft. Sie werden (weit überwiegend) über Beiträge finanziert. Ergänzend kommen Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt hinzu. Beiträge sind zweckgebunden und haben den Charakter von individuell zurechenbaren Vorleistungen, die Rechtsansprüche auf Versicherungsleistungen begründen. Zwischen der Beitragszahlung und der Höhe des versicherten Arbeitseinkommens auf der einen Seite und der Berechnung der Höhe der Geldleistungen auf der anderen Seite besteht eine enge Verbindung (Äquivalenzverhältnis). Dies gilt allerdings nicht für die Sach- und Dienstleistungen, die vor allem die Krankenversicherung prägen. • Systeme, bei denen zwischen Finanzierung, Leistungsberechtigung und Leistungshöhe kein Zusammenhang besteht, werden über die Haushalte der öffentlichen Gebietskörperschaften (Bund, Länder und Gemeinden) finanziert. Sie sind Teil der allgemeinen Staatsausgaben und erhalten ihre Mittel aus dem allgemeinen Steueraufkommen. Entsprechend der überragenden Bedeutung der Sozialversicherung im deutschen Sozialstaat sind die Sozialversicherungsbeiträge die mit Abstand wichtigste Finanzierungsart des Sozialleistungssystems. Ihr Stellenwert kommt zum Ausdruck, wenn man die öffentlichen Einnahmen in den Gesamtdimensionen betrachtet (vgl. Tabelle II.3). Die Einnahmen aus den Beiträgen zur Sozialversicherung sind mit 480 Mrd. Euro merklich höher als die Einnahmen aus der Besteuerung der Einkommen (330 Mrd. Euro) oder der Umsatzsteuer (226 Mrd. Euro). Das Aufkommen aus dem Steuersystem insgesamt beläuft sich auf 735 Mrd. Euro; daraus ist die Gesamtheit der Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden zu finanzieren. Die Sozialversicherungsbeiträge werden von den Versicherten (Arbeitnehmer:innen, Selbstständige, Empfänger:innen von Lohnersatzleistungen und sonstige Personen) und den Arbeitgebern gezahlt. Als Sozialbeiträge der Versicherten im weiteren Sinne rechnet das Sozialbudget auch Zahlungen der Versicherten im Bereich von Sondersystemen (u. a. private Krankenversicherung, private Altersvorsorge) und in der betrieblichen Altersversorgung. Zu den Arbeitgeberbeiträgen im weiteren Sinne zählen in der Finanzierungssystematik des Sozialbudgets darüber hinaus die so genannten unterstellten Beiträge; dies sind rechnerische Gegenwerte für Leistungen, die Arbeitnehmer:innen von den Arbeitgebern direkt erhalten (so Beamtenversorgung, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und betriebliche Altersversorgung).
Finanzierung der sozialen Sicherung
83
Tabelle II.3 Einnahmen des (Sozial-)Staates, Eckdaten 2018 Mrd. € Einnahmen des Sozialbudgets Sozialbeiträge insgesamt
1 060,7 693,5
darunter: • Beiträge der Versicherten
327,9
darunter • Arbeitnehmer:innen
247,8
• Selbstständige
17,6
• Leistungsempfänger:innen (u. a. Rentner:innen)
47,3
• Übrige
15,2
• Beiträge der Arbeitgeber • Unterstellte Beiträge der Arbeitgeber (u. a. Entgeltfortzahlung)
274,7 91,0
• Zuschüsse des Staates
350,2
Einnahmen aus Sozialversicherungsbeiträgen
501,4
• Rentenversicherung
222,3
• Krankenversicherung/Gesundheitsfonds
224,9
• Bundesagentur für Arbeit/Arbeitslosenversicherung
35,2
• Pflegeversicherung
37,1
• Unfallversicherung
13,5
Steuereinnahmen (Bund, Länder, Gemeinden) insgesamt
776,3
darunter: • Steuern vom Einkommen insgesamt
332,1
darunter: • Lohnsteuer • Steuern vom Umsatz (ohne spezielle Verbrauchsteuern)
208,2 234,8
Die Summe der Einnahmen der einzelnen Versicherungszweige ist wegen der Zahlungen der einzelnen Sozialversicherungsträger untereinander höher als die tatsächlichen Gesamteinnahmen. Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2019), Sozialbudget; Statistisches Bundesamt (2019), Fachserie 14, Reihe 4, Steuerhaushalt.
84
3.4
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Sozialversicherung und Beitragsfinanzierung
Beitragszahlende sind in erster Linie die versicherungspflichtig Beschäftigten und deren Arbeitgeber. Es herrscht das Prinzip der Parität, d. h. die Zahlungen werden zu gleichen Teilen vom Arbeitnehmer und Arbeitgeber geleistet. Allerdings gibt es Ausnahmen: So werden die Beiträge zur Unfallversicherung allein von den Arbeitgebern gezahlt. Arbeitnehmer:innen, die mit ihrem Einkommen eine Grenze (Versicherungspflichtgrenze) überschreiten, unterliegen nicht mehr der Versicherungs- und Beitragspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung und haben die Möglichkeit, entweder freiwillig weiter versichert zu bleiben oder in eine private Versicherung überwechseln (zu den Folgen vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 5.1). Beitragszahlungen erfolgen zusätzlich durch Rentner:innen (Kranken- und Pflegeversicherung der Rentner), durch Krankengeldempfänger:innen (Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung) sowie durch freiwillig Versicherte und bestimmte Gruppen von Selbstständigen. Auch die Sozialversicherungsträger übernehmen Beitragsleistungen: So zahlt die Bundesagentur für Arbeit für ihre Leistungsempfänger:innen (Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld, Unterhaltsgeld) Beiträge an die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. Die Rentenversicherung zahlt den hälftigen Beitragssatz für die Krankenversicherung der Rentner, die Krankenversicherung zahlt für die Krankengeldempfänger:innen den hälftigen Beitragssatz an die Rentenversicherung und die Arbeitslosenversicherung. Hier wird also gleichsam der Arbeitgeberanteil übernommen. Auch zahlt die Pflegeversicherung Rentenversicherungsbeiträge für nicht erwerbsmäßig tätige Pflegepersonen. Schließlich übernimmt der Bund Beitragszahlungen für die Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung. Die Höhe der Beiträge richtet sich nach dem versicherungspflichtigen Bruttoarbeitsentgelt, das unabhängig von seiner Höhe mit einem einheitlichen Prozentsatz belastet wird. Auf Einkommen, die oberhalb der Beitragsbemessungsgrenzen liegen, werden keine Beiträge erhoben; im Gegenzug begründen sie auch keine Ansprüche. Der jeweilige Beitragshöchstbetrag in den einzelnen Versicherungszweigen errechnet sich, indem der Betrag der jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze mit dem jeweiligen Beitragssatz multipliziert wird. Die Grenzwerte werden jährlich entsprechend der allgemeinen Einkommensentwicklung angepasst (Dynamisierung). Die Werte für das Jahr 2020 finden sich in Tabelle II.4. Die Beitragsbemessungsgrenze in der Renten- und Arbeitslosenversicherung entspricht etwa dem 2,1fachen des Durchschnittsverdienstes; der Grenzwert in der Kranken- und Pflegeversicherung übersteigt das Durchschnittseinkommen um rund 42 %.
Finanzierung der sozialen Sicherung
85
Tabelle II.4 Beitragssätze, Grenzwerte und Rechengrößen der Sozialversicherung 2020 West
Ost
Monat
Jahr
Monat
Jahr
• Rentenversicherung
6 900
82 800
6 450
77 400
• Arbeitslosenversicherung
6 900
82 800
6 450
77 400
• Kranken- u. Pflegeversicherung
4 688
56 520
4 688
56 520
5 213
62 550
5 213
62 550
Beitragsbemessungsgrenzen (in Euro)
Versicherungspflichtgrenze (in Euro) • Kranken- u. Pflegeversicherung Mini- und Midi-Beschäftigung (in Euro) • Geringfügigkeitszone
450
450
• Midi-Zone/Übergangsbereich
451 – 1 300
451 – 1 300
Beitragssätze (in %) • Rentenversicherung
18,6
• Arbeitslosenversicherung
2,5
• Krankenversicherung1)
15,7 (14,6 + 1,1)
• Pflegeversicherung
3,05
• Zusatzbeitrag für Kinderlose
0,25
Monatliche Höchstbeiträge (in Euro) für Versicherte in der … • Rentenversicherung
641,70
599,85
86,25
80,63
409,22
409,22
• Pflegeversicherung3)
71,49
71,49
• Kinderlosenbeitrag
11,72
11,72
• Arbeitslosenversicherung • Krankenversicherung2)
1) Der allgemeine, paritätisch finanzierte Beitragssatz der GKV liegt bei 14,6 %. Hinzu kommt ein (für das Jahr 2020 geschätzter) durchschnittlicher Zusatzbeitrag von 1,1 %. Den Zusatzbeitrag zahlen ab 2019 nicht mehr allein die Versicherten, sondern paritätisch auch die Arbeitgeber. Er wird einkommensabhängig und ohne feste Obergrenze erhoben. 2) mit Zusatzbeitrag von 1,1 % 3) ohne Sonderbeitrag für Versicherte ohne Kinder Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales.
86
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Abbildung II.5 Beitragsabzüge bei Mini- und Midijobs (Übergangsbereich) 07/2019) 32 30
Arbeitgeberpauschalbeitrag:28%* + 2% Steuer = 30%
28 26
in % des Bruttoarbeitsentgelts
24
Regulärer Arbeitnehmerbeitrag***
22
Regulärer Arbeitgeberbeitrag
20,0
20
20,1
18
17,3
16 14 12 10,4
10 8 6 3,6 % Eigenbeitrag Rentenversicherung **
4 2
Übergangsbereich/Midijobs
Minijobs
1300
1280
1240
1200
1160
1120
1080
1040
1000
960
920
880
840
800
760
720
680
640
600
560
520
480
450
440
400
360
320
280
240
200
160
120
80
40
0
0
Arbeitsentgelt
Quelle: Eigene Berechnungen nach Gleitzonenrechner der Deutschen Rentenversicherung Bund.
Besondere Bedingungen gelten für die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse (Minijobs) und für die Midijobs (vgl. Kapitel „Einkommen, Pkt. 5.1): •
Im Einkommensbereich bis zu 450 Euro/Monat (Minijobs) herrscht in der Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung Versicherungs- und Beitragsfreiheit. In der gesetzlichen Rentenversicherung besteht hingegen eine Versicherungs- und Beitragspflicht. Allerdings haben die Beschäftigten die Möglichkeit, sich von der Versicherungspflicht befreien zu lassen (opt-out-Regelung). Die Arbeitgeber sind zur Zahlung eines Pauschalbeitrags und einer Pauschalsteuer verpflichtet (15 % GRV, 13 % GKV und 2 % Steuern mit Abgeltungswirkung). • Im Übergangsbereich zwischen 451 und 1 300 Euro (Midi-Jobs) erhöhen sich die Arbeitnehmerbeitragssätze gleitend. Nach dem Überschreiten der 450 Euro Grenze erreicht die Beitragsbelastung also erst schrittweise den vollen Beitragssatz. Der Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung liegt in der Gleitzone konstant auf der Höhe der geltenden Beitragssätze (vgl. Abbildung II.5). Die Beitragssätze in der Renten-, Arbeitslosen-, Kranken- und Pflegeversicherung werden durch Gesetz bzw. Verordnung bundeseinheitlich festgelegt. In der Krankenversicherung gelten Besonderheiten: Hier fließen die Beitragseinnahmen (und auch der Bundeszuschuss) in einen Gesundheitsfonds. Aus dem Gesundheitsfonds erhalten die einzelnen Krankenkassen eine einheitliche Pauschale pro Versichertem plus
Finanzierung der sozialen Sicherung
87
besondere Zuweisungen, die Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand der Versicherten berücksichtigen (Risikostrukturausgleich). Reichen die Mittel aus dem Gesundheitsfonds nicht aus, um die Ausgaben einer Krankenkasse zu finanzieren, müssen die Kassen Zusatzbeiträge erheben, die bis Ende 2018 allein von den Versicherten zu bezahlen waren. Ab 2019 werden auch die Arbeitgeber beteiligt, so dass die paritätische Mittelaufbringung wieder hergestellt worden ist. Tabelle II.5 informiert über die Entwicklung der Beitragssätze seit 1990 (Gesamtdeutschland). In den einzelnen Versicherungszweigen zeigt sich ein unterschiedliches und unübersichtliches Bild: •
In der Rentenversicherung steigt der Beitragssatz zwischen 1990 und 1997 von 18,7 % auf einen bisherigen Höchststand von 20,3 %. Der Anstieg ist u. a. eine Folge der raschen Erhöhung der ostdeutschen Renten. Zwischen 1999 und 2011 kommt es zu einer Dämpfung des Beitragssatzes aufgrund höherer Bundeszuschüsse und der Absenkung des Rentenniveaus. Die gute Beschäftigungsentwicklung führt ab 2012 zu einer Rückführung der Beitragssätze auf bis zu 18,6 % (2019). • In der Krankenversicherung zeigt sich ein leichter, aber kontinuierlicher Anstieg des (durchschnittlichen) Beitragssatzes. Ab Juli 2005 müssen die Versicherten einen pauschalen Sonderbeitrag von 0,9 % zahlen, das Prinzip der Parität wird durchbrochen. Der Sonderbeitrag wurde ab 2009 in einen kassenindividuellen Zusatzbeitrag überführt, der ebenfalls allein die Versicherten belastet. Die Höhe des Zusatzbeitrags war zunächst einkommensunabhängig, ab 2015 aber einkommensabhängig. Der Zusatzbeitrag liegt im Jahr 2019 im Durchschnitt aller Kassen bei 0,9 % und wird wieder paritätisch aufgebracht. • In der Arbeitslosenversicherung erhöht sich 1991 – angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern – der Beitragssatz auf 6,8 %. Zwischen 1993 und 2006 liegt er konstant bei 6,5 %. Ab 2007 kommt es infolge von Kürzungen beim Arbeitslosengeld (Hartz-Gesetze), Einschnitten in der aktiven Arbeitsmarktpolitik, zwischenzeitlich erhöhten Bundeszuschüssen und eines ab etwa 2010 einsetzenden deutlichen Rückgangs der Arbeitslosigkeit zu einer Absenkung des Satzes auf 3 % (2011) und 2019 auf 2,5 %. • In der Pflegeversicherung ist der seit Einführung der Versicherung geltende Beitragssatz von 1,7 % bis 2007 zunächst konstant gehalten worden. Seit 2006 müssen kinderlose Versicherte einen Sonderbeitrag von 0,25 % zahlen. Infolge der steigenden Zahl von Pflegebedürftigen und zugleich von Leistungsverbesserungen steigt ab 2008 der Beitragssatz schrittweise an – auf 2,55 % im Jahr 2017 und auf 3,05 % im Jahr 2019. Betrachtet man den Gesamtsozialversicherungsbeitragssatz, dann fällt auf, dass dieser in den Jahren zwischen 1990 und 1997 um 6,5 Prozentpunkte auf 42,1 % angehoben worden ist. Dieser starke Anstieg ist ganz wesentlich Folge der der Finanzierung der Belastungen der deutschen Einheit zu einem großen Teil über Sozialversiche-
88
Tabelle II.5
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Beitragssatzentwicklung in den Zweigen der Sozialversicherung 1990 – 2020
Jahr
Rentenversicherung
Krankenversicherung1)
Arbeitslosenversicherung
Pflegeversicherung2)
Gesamt
1990
18,7
12,6
4,3
35,6
1991
17,7
12,2
6,8
36,7
1992
17,7
12,8
6,3
36,8
1993
17,5
13,4
6,5
37,4
1994
19,2
13,2
6,5
38,9
1995
18,6
13,2
6,5
1,0
39,3
1996
19,2
13,5
6,5
1,7
40,9
1997
20,3
13,6
6,5
1,7
42,1
1999
19,5
13,6
6,5
1,7
41,3
2000
19,3
13,6
6,5
1,7
41,1
2001
19,1
13,6
6,5
1,7
40,9
2002
19,1
14,0
6,5
1,7
41,3
2003
19,5
14,3
6,5
1,7
42,0
2004
19,5
14,2
6,5
1,7
41,9
2005
19,5
14,2
6,5
1,7
41,9
2006
19,5
14,2
6,5
1,7
41,9
2007
19,9
14,8
4,2
1,7
40,6
2008
19,9
14,9
3,3
1,95
40,1
2009
19,9
14,9
2,8
1,95
39,6
2010
19,9
14,9
2,8
1,95
39,6
2011
19,9
15,5
3,0
1,95
40,4
2012
19,6
15,5
3,0
1,95
40,1
2013
18,9
15,5
3,0
2,05
39,45
2014
18,9
15,5
3,0
2,05
39,45
2015
18,7
14,6 + 0,9
3,0
2,35
39,55
2016
18,7
14,6 + 1,1
3,0
2,35
39,75
2017
18,7
14,6 + 1,1
3,0
2,55
39,95
2018
18,6
14,6 + 1,0
3,0
2,55
39,75
2019
18,6
14,6 + 0,9
2,5
3,05
39,65
2020
18,6
14,6 + 1,1
2,5
3,05
39,85
1) bis 2008 durchschnittlicher Beitragssatz; ab 2009 einheitlicher Beitragssatz zum Gesundheitsfonds, ab 2005 einschließlich des Sonderbeitrags von 0,9 %, ab 2015 allgemeiner, paritätischer Beitragssatz und jeweilige Zusatzbeiträge (Durchschnittswerte) 2) ab 2005 ohne Arbeitnehmersonderbeitrag für Kinderlose (0,25 %) Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales.
Finanzierung der sozialen Sicherung
89
rungsbeiträge. Seit 1999 ist ein leichter Rückgang des Gesamtsozialversicherungsbeitrags zu erkennen. Dahinter steht auch das Ziel der jeweiligen Bundesregierungen, eine Grenze von 40 % nicht zu überschreiten. Das wird ab 2009 eingehalten. Der Blick auf den Gesamtbeitragssatz verdeckt, dass durch Veränderungen im Leistungs- und Finanzierungsrecht zwischen den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung Verschiebungen stattfanden, die den Beitragssatz bei der einen Versicherungsart ermäßigten, ihn jedoch bei der anderen erhöhten. Ein Beispiel unter vielen für diese oft kritisierten „Verschiebebahnhöfe“ sind die verringerten Beitragsleistungen der Arbeitslosenversicherung an die Krankenversicherung, die zu einer Entlastung der Arbeitslosen- und zu einer Belastung der Krankenversicherung geführt haben. Soweit sich diese internen Verschiebungen wechselseitig ausgleichen, ändert sich freilich nichts am Gesamtsozialversicherungsbeitrag. Die Sozialversicherungsbeiträge belasten die Einkommen aus abhängiger Arbeit, denn sowohl die Arbeitnehmer- als auch die Arbeitgeberbeiträge sind Bestandteile der Arbeitseinkommen und gehen in die Arbeitskosten ein: Bei den Arbeitgeberbeiträgen handelt es sich um den Teil des Arbeitseinkommens, der auf dem Gehaltsnachweis nicht ausgewiesen, sondern bereits vor der Festsetzung des Bruttoentgelts abgezweigt wird. Will man, um beispielsweise internationale Vergleiche vornehmen zu können, wissen, wie hoch die Belastung der Arbeitseinkommen insgesamt ist, dann müssen die Beitragsabzüge ins Verhältnis zu den Bruttoentgelten einschließlich der Arbeitgeberbeiträge gesetzt werden. Bei dieser Berechnung fallen die Abzugsquoten niedriger aus als die Beitragssätze, da der Bezugswert größer ist. 3.5
Steuerfinanzierte Sozialleistungen
3.5.1 Sozialausgaben und öffentliche Haushalte
Aus dem allgemeinen Steueraufkommen werden alle Sozialleistungen außerhalb der Sozialversicherung finanziert. Aus Steuermitteln werden aber auch die Zuschüsse des Bundes zur Sozialversicherung (zur Rentenversicherung und zur Krankenversicherung) bestritten. Bundeszuschüsse sind zur ergänzenden Finanzierung der Sozialversicherung unverzichtbar, um jene Aufgaben und Ausgaben der Sozialversicherung auszugleichen, die einen allgemeinen gesellschaftspolitischen Charakter haben. Es wäre verteilungspolitisch nicht zu vertreten, gesamtgesellschaftliche Aufgaben, von denen auch jene profitieren, die keine Beiträge gezahlt haben, allein durch den begrenzten Kreis der Beitragszahlenden (noch dazu mit linearem Belastungstarif) zu finanzieren. Dies ist eine Aufgabe der Steuerpolitik. Dies betrifft – um ein Beispiel zu nennen – die Kriegsfolgelasten bei der Rente. Eine Frage ist, ob die derzeitigen Zuschüsse ausreichend hoch sind, um diesen Ausgleich zu gewährleisten. Der Staat übernimmt schließlich die letzte Garantie für die Finanzierbarkeit der Sozialversicherungsausgaben (Bundesgarantie). Insbesondere bei der Arbeitslosen-
90
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
versicherung ist diese Garantie unabdingbar, denn das Risiko Massenarbeitslosigkeit erweist sich als ein allgemeines wirtschaftspolitisches Problem, das nicht versicherungsmathematisch kalkulierbar und deswegen im engeren Sinne überhaupt nicht versicherbar ist. Eine Zweckbindung einer speziellen Steuer für eine spezielle Staatsausgabe gibt es nicht. Zwischen der Steuerlast der einzelnen Bürger und der Höhe von Sozialleistungen besteht im Unterschied zur Beitragsfinanzierung kein zurechenbarer Zusammenhang. Das Steueraufkommen der jeweiligen staatlichen Ebene wird für die Vielzahl öffentlicher Aufgaben und Ausgaben verwendet. Insofern stehen die steuerfinanzierten Ausgaben für die soziale Sicherung immer in Konkurrenz zu anderen Ausgabenpositionen. Zu erwähnen sind u. a. die Ausgaben für Verteidigung, Umwelt, Landwirtschaft, Verkehr, Forschung, Entwicklungshilfe – um nur einzelne Posten des Bundeshaushaltes aufzuführen. In den Länder- und Kommunalhaushalten dominieren eindeutig die Personalausgaben (einschließlich Pensionen und Beihilfen), so insbesondere in den Tätigkeitsfeldern Schule und Hochschule, innere Sicherheit, öffentliche Verwaltung und Daseinsvorsorge. Fragt man nach den Aufgabenbereichen und nach dem Anteil, den die Ausgaben für Soziales – wobei die Abgrenzung des Bereichs „Soziales“ häufig sehr unterschiedlich ausfällt – an den Haushalten der Gebietskörperschaften ausmachen, so ergibt sich folgendes Bild: Bundeshaushalt Im Bundeshaushalt, dessen Gesamtvolumen (2019/Soll) knapp 360 Mrd. Euro beträgt, fallen gut die Hälfte aller Ausgaben (50,4 %) für den Bereich „Soziale Sicherung, Familie/Jugend, Arbeitsmarkt“ an (vgl. Tabelle II.6 und Abbildung II.6). Allein die Zuschüsse des Bundes für die Rentenversicherung schlagen mit 97,8 Mrd. Euro, das sind 27,4 % aller Ausgaben, zu Buche. Seit Mitte der 1990er Jahre sind in Folge der mehrfach angehobenen Bundeszuschüsse zur Rentenversicherung die Aufwendungen für diesen Aufgabenbereich deutlich angestiegen. Seit 2004 leistet der Bund auch Zuschüsse an die Krankenversicherung, die 2019 eine Höhe von 16,0 Mrd. Euro erreichen. Eine hohe Bedeutung haben auch die Ausgaben, die der Bund seit 2005 für die Leistungen nach dem SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) trägt. Sie belaufen sich auf 27,4 Mrd. Euro, das sind 7,7 %. Gegenüber 2005, dem Einführungsjahr des SGB II, hat sich der Anteil an den Gesamtausgaben aber deutlich verringert: von 13,5 % auf 7,7 %.
Finanzierung der sozialen Sicherung
91
Tabelle II.6 Ausgaben des Bundes für soziale Sicherung 2010, 2015, 2019 2010*
Ausgaben insgesamt
2015**
2019**
Mrd. €
%
Mrd. €
%
Mrd. €
%
303,7
100
306,9
100
356,4
100
darunter: Soziale Sicherung, Familie, Jugend, Arbeitsmarktpolitik
158,6
52,2
154,3
50,3
179,5
50,4
80,7
26,6
81,2
26,5
97,8
27,4
Bundeszuschuss an die allgemeine RV
39,9
13,1
31,5
10,3
36,3
10,2
Zusätzlicher Bundeszuschuss
19,1
6,3
22,2
7,2
26,1
7,3
Beiträge für Kindererziehungszeiten
11,6
3,8
12,1
3,9
15,4
4,3
6,0
2,0
5,4
1,8
5,4
1,5
3,9
1,3
2,2
0,7
2,4
0,7
13,1
4,3
0
0
0
0
33,9
11,0
37,6
10,5
darunter: • Leistungen an die Rentenversicherung darunter:
Bundeszuschuss an die knapp. RV • Alterssicherung der Landwirte • Bundeszuschuss an die BA • Arbeitsmarktpolitik darunter Arbeitslosengeld II/SGB II (inkl. Kosten der Unterkunft)
35,9
11,8
25,6
8,3
27,4
7,7
• Kinderzuschlag
0,4
0,1
0,3
0,1
0,7
0,2
• Wohngeld
0,9
0,3
0,5
0,2
0,5
0,1
• Elterngeld
4,6
1,5
5,9
1,9
6,9
1,9
• Kriegsopferleistungen
1,9
0,6
1,2
0,4
0,7
0,2
• Leistungen an die GKV
15,7
5,2
12,9
4,2
0,8
0,2
–
–
6,1
2,0
16,0
4,5
• Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
* Ist-Zahlen (Haushaltsabschluss) ** Soll-Zahlen (Haushaltsplan) Quelle: Bundesministerium der Finanzen.
92
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Abbildung II.6 Ausgabenstruktur des Bundeshaushaltes 2019 in Mrd. Euro und in % aller Ausgaben (Haushaltplan) weitere Ausgaben: 30,4 Mrd. €; = 8,5 % Versorgungsleistungen/Beihilfen: 10,7 Mrd. € = 3,0% Zinsausgaben: 17,6 Mrd. € = 4,9 % Wirtschaftl. Zusammenarbeit: 10,2 Mrd. € = 2,9 %
Rentenversicherung: 97,8 Mrd. € = 27,4 %
Öffentliche Sicherheit: 6,2 Mrd. € = 1,7 % Forschung, Wissenschaft. Bildung, Kultur: 25,7 Mrd. € = 7,2 %
Gesamtausgaben: 356,4 Mrd. Euro
Wohnungsbau/Städtebau 3,8 Mrd. € = 1,1%
Soziale Sicherung, Familie/Jugend, Arbeitsmarkt: 179,5 Mrd. € = 50,4 %
Familien:8,3 Mrd. = € 2,3 % Gesetzl. Krankenvers.: 16,0 Mrd. € = 4,5 % Arbeitsmarkt: 37,6 Mrd. € = 10,5 %
Verkehr, Nachrichtenwesen 22,1 Mrd. € = 6,2 % Wirtschaft/Energie: 5,1 Mrd. € = 1,4 %
Weitere Leistungen
1) : 5,7
%
Ernährung, Landwirtchaft, : 1,4 Mrd. € = 0,4 % Verteidigung: 43,7 Mrd. € = 12,3 %
1) u. a. Wohngeld, Kriegsopferleistungen, Landwirtschaftliche Sozialpolitik, Grundsicherung im Alter Quelle: Bundesministerium der Finanzen, Haushaltsplan 2019.
Länderhaushalte In den Länderhaushalten haben die Ausgaben für den Bereich „Soziale Sicherung und Gesundheit“ ein vergleichsweise geringes Gewicht; in Nordrhein-Westfalen beispielsweise errechnet sich für 2017 ein Anteil von etwa 10,0 %. Der Grund liegt in der verfassungsrechtlich festgelegten nachrangigen Zuständigkeit der Länder für soziale Aufgaben. Auf Landesebene dominieren stattdessen die Ausgaben für Bildung und Wissenschaft sowie für innere Sicherheit. Von Bedeutung sind außerdem die allgemeinen Finanzzuweisungen (in erster Linie in Richtung der Kommunen). Hinter den Zuweisungen der Länder an die Kommunen (vgl. Pkt. 3.6 dieses Kapitels) steht auch eine indirekte Finanzierung der kommunalen Sozialleistungen. Gemeinden Bei den Gemeinden summieren sich die Ausgaben für „Soziale Sicherung, Gesundheit, Sport und Erholung“ auf etwa 37 % der gesamten Ausgaben (vgl. Pkt. 3.6 dieses Kapitels).
Finanzierung der sozialen Sicherung
93
3.5.2 Steuersystem und Steuerverteilung
Einen Überblick über die wesentlichen Steuerarten und ihre Aufkommenshöhe gibt Tabelle II.7. Die hier genannten Steuern machen gut 95 % des gesamten Steueraufkommens aus. Die restlichen Steuerarten des Steuersystems sind – bezogen auf das Gesamtvolumen – vergleichsweise unbedeutend. Die Steuerarten mit dem höchsten Aufkommen sind (2018) die Lohnsteuer mit 26,8 % und die Umsatzsteuer (Einfuhrumsatzsteuer und Mehrwertsteuer) mit 30,2 %. Die Steuern vom Einkommen insgesamt machen 45 % des Gesamtvolumens aus, darunter haben die Gewinnsteuern, nämlich die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer Anteile von 4,0 %, aus der veranlagten Einkommensteuer von 8,1 % und aus der nicht veranlagten Steuer vom Ertrag von 2,8 %. Das Verhältnis zwischen direkten Steuern (Einkommen-, Gewerbe-, Erbschaftsteuer) und indirekten Steuern (Umsatzsteuer und andere Verbrauch- und Aufwandsteuern) liegt bei rund 55 % (direkte Steuern) zu 45 % (indirekte Steuern), (zu den Verteilungswirkungen von Einkommen- und Umsatzsteuer vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 3.1). Das Gesamtsteueraufkommen verteilt sich nach bestimmten Zuordnungen und Verteilungsschlüsseln auf die einzelnen staatlichen Ebenen. Dem föderativen Staatsaufbau in der Bundesrepublik Deutschland entspricht ein dezentralisiertes Aufgabenund Finanzsystem, so wie es im Grundgesetz geregelt ist. Folgende Steuerarten fließen jeweils einer öffentlichen Gebietskörperschaft allein zu: • • •
Der Bund erhält die Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag und aus den meisten speziellen Verbrauchsteuern (so u. a. Mineralölsteuer, Tabaksteuer, Versicherungssteuer). Den Ländern stehen u. a. die Einnahmen aus der Kraftfahrzeugsteuer, Grunderwerbsteuer und Erbschaftsteuer zu. Die Gemeinden haben Anspruch auf die Einnahmen u. a. aus der Grundsteuer und Teilen der Gewerbesteuer sowie aus örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern.
Die ertragsreichsten Steuern werden nach einem komplizierten und zwischen den Beteiligten stets strittigen Schlüssel auf die Bundes-, Länder- und Gemeindehaushalte verteilt, damit die zugewiesenen Aufgaben angemessen erfüllt werden können und die Steuereinnahmen der drei Ebenen sich ungefähr in gleicher Weise entwickeln. Zu diesen Gemeinschaftsteuern zählen vor allem die Lohn- und Einkommensteuer und die Umsatzsteuer. Ein abnehmendes Gewicht kam in den vergangenen Jahren der Finanzierung der öffentlichen Ausgaben über Nettokreditaufnahme (Kreditaufnahme abzüglich Tilgung) zu. Die Neuverschuldung sank bzw. im Bundeshaushalt und einzelnen Länderhaushalten wurde auf sie sogar gänzlich verzichtet. Zugleich sorgten auch die niedrigen
94
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Tabelle II.7
Aufkommen aus den wichtigsten Steuerarten 2010 – 2018 2010
Steuereinnahmen insgesamt
2015
2018
Mrd. €
In %
Mrd. €
In %
Mrd. €
In %
530,6
100
673,3
100
776,3
100
darunter: Steuern vom Einkommen
204,5
38,6
204,5
38,6
351,8
45,3
darunter: • Lohnsteuer
G
127,9
24,1
178,9
24,1
208,2
26,8
• Veranlagte Einkommensteuer
G
31,2
5,9
48,6
5,9
60,4
7,8
• Nicht veranlagte Steuer vom Ertrag
G
13,0
2,5
17,9
2,5
23,2
3,0
• Zinsabschlagsteuer bzw. Abgeltungsteuer
G
8,7
1,6
8,3
1,6
6,9
0,9
• Körperschaftsteuer
G
12,0
2,3
19,6
2,3
33,4
4,3
• Solidaritätszuschlag
B
11,7
2,2
15,9
2,2
18,9
2,4
Gewerbesteuer
K
35,7
6,7
45,7
6,7
55,8
7,2
Grundsteuer
K
11,3
2,1
13,2
2,1
14,2
1,8
Umsatzsteuer
G
180,0
33,9
209,9
33,9
234,8
30,2
Energiesteuer
B
39,8
7,5
39,6
7,5
40,9
5,3
Tabaksteuer
B
13,5
2,5
14,9
2,5
14,3
1,8
Versicherungssteuer
B
10,3
1,9
12,4
1,9
13,8
1,8
KFZ-Steuer
B
8,5
1,6
8,8
1,6
9,1
1,2
Erbschaftsteuer
L
4,4
0,8
6,3
0,8
6,8
0,9
Grunderwerbsteuer
L
5,3
1,0
11,2
1,0
14,1
1,8
Bund
226,0
42,6
291,6
42,6
330,8
42,1
Länder
209,6
39,5
257,9
39,5
305,6
40,6
Gemeinden
70,6
13,3
70,6
13,3
105,2
14,3
EU
24,4
4,6
24,4
4,6
21,7
3,0
Aufteilung auf die Gebietskörperschaften 2017
G = Gemeinschaftliche Steuer; B = Bundessteuer; L = Landessteuer; K = Kommunale Steuer Quelle: Bundesministerium der Finanzen (zuletzt 2019), Datensammlung zur Steuerpolitik; Statistisches Bundesamt (2018), Fachserie 14, Reihe 4, Steuerhaushalt.
Finanzierung der sozialen Sicherung
95
Zinssätze für eine erhebliche Entlastung bei den Ausgaben. Und für die Haushalte der Gemeinden sind Einnahmen aus Gebühren und Beiträgen von hohem Gewicht. Durch ein Finanzausgleichssystem zwischen Bund, Länder und Gemeinden fließen finanzschwachen Bundesländern und Gemeinden ergänzende Mittel zu. Zu unterscheiden ist zwischen dem vertikalen Finanzausgleich zwischen Körperschaften unterschiedlicher Rangordnung (wenn z. B. der Bund finanzschwache Länder durch Ergänzungszuweisungen unterstützt) und dem horizontalen Finanzausgleich zwischen Körperschaften auf gleicher Ebene. Wichtigstes Element des horizontalen Finanzausgleichs sind die Ausgleichszahlungen zwischen finanzstarken und finanzschwachen Bundesländern. Empfänger sind in erster Linie die ostdeutschen Länder. Ziel des Finanzausgleichs ist es, das Verfassungspostulat der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ zu garantieren. Setzt man die Steuerbelastungen ins Verhältnis zum Sozialprodukt, dann errechnet sich die gesamtwirtschaftliche Steuerquote (Steuereinnahmen der Gebietskörperschaften in Relation zum Bruttoinlandsprodukt). Diese weist zwischen 2000 und 2010 in eine sinkende Tendenz auf (von 23,2 % auf 21,4 %); steigt seitdem aber wieder leicht an – bis auf 23,6 % im Jahr 2018 (Abbildung II.7). Die Sozialbeitragsquote (Sozialbeiträge in Relation zum Bruttosozialprodukt) weist ebenfalls leichte Schwankungen auf: Der Wert pendelt zwischen 18,1 % (2000)., 17,6 % (2004) und 16,9 % (2018).
Abbildung II.7 Abgabenquoten (Steuern und Sozialbeiträge) in % des Bruttoinlandsprodukts1) 1995 – 2018 45
40
40,1
40,6
41,4 38,2
39,3
38,4
39,3
39,3
40,1 40,5
Abgaben insgesamt
35
30 Steuern
25
20
15
22,9
22,0
21,9
18,1
18,7 18,5
22,4
22,0
16,9
16,4
20,6 17,6
22,9
22,9
23,4 23,6
16,5
16,4
16,7 16,9
Sozialabgaben 10
5
0
1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018
1) in der Abgrenzung des Europäischen Systems der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung Quelle: Bundesministerium der Finanzen (zuletzt 2019), Datensammlung zur Steuerpolitik, Datenportal.
96
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Die Abgabenquote insgesamt liegt 2018 bei 40,5 %. Im zeitlichen Verlauf lässt sich zwischen 2000 und 2010 eine sinkende Tendenz erkennen (von 41,4 % auf 39,3 %); seitdem steigt sie wieder leicht an, führt aber nicht zurück auf das Niveau von 2000. Ein „Marsch in den Abgabenstaat“, wie er immer wieder befürchtet wird, ist nicht zu erkennen (Abbildung II.7). 3.5.3 Finanzierung der Sozialleistungen im europäischen Vergleich
Im europäischen Vergleich der Abgabenquoten liegt Deutschland im unteren Mittelfeld. Nach den Berechnungen der OECD wird für Deutschland eine Quote von 37,5 % (2017) ausgewiesen. Deutlich höhere Quoten haben vor allem die skandinavischen Staaten (Dänemark: 46,0 %, Schweden: 44,0 %, Finnland: 43,3 %) sowie Frankreich (46,2 %). Unter dem deutschen Niveau liegen die osteuropäischen Länder sowie Großbritannien Der Vergleich allein auf der Ebene von Gesamtabgabenquoten verdeckt, dass sich zwischen den Ländern auch die Finanzierungarten bei den Sozialleistungen deutlich unterscheiden. Zwar erfolgt die Finanzierung der Sozialleistungen in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union im Wesentlichen über drei Einnahmearten: Staatliche Zuweisungen aus Steuermitteln, Sozialbeiträge der geschützten Personen (dies sind überwiegend abhängig Beschäftigte, Selbstständige, Rentner:innen) sowie Sozialbeiträge der Arbeitgeber. Aber der Stellenwert dieser Einnahmearten variiert sehr stark (vgl. Abbildung II.8): •
Im Jahr 2017 wurden in den meisten EU-Ländern die Sozialleistungen vor allem durch Sozialbeiträge finanziert. Die höchsten Anteile hatten Tschechien (74,9 %), Polen (68,7 %), Deutschland (64,9 %) und Österreich (63,4 %). • Unterscheidet man bei den Beiträgen zwischen Arbeitgeberbeiträgen und den Beiträgen der geschützten Personen, waren in fast allen Ländern die Arbeitgeberanteile höher als die der Versicherten. Zur Arbeitgeberfinanzierung zählen sowohl die tatsächlich gezahlten Beiträge als auch die rechnerisch unterstellten Beiträge. Bei den letzteren handelt es sich um arbeitsrechtlich vorgeschriebene, direkt ausgezahlte Leistungen wie Entgeltfortzahlung oder betriebliche Altersvorsorge. • Dagegen finanzierten mit Dänemark (77,0 %), Schweden (51,9 %), Großbritannien (50,6 %) und Finnland (49,1 %) vier Länder ihre Sozialleistungen mehrheitlich durch Steuermittel. Andersherum ließen sich in Polen (18,3 %) und den Niederlanden (22,9 %) die niedrigsten Steueranteile beobachten. Diese Abweichungen finden ihre Erklärung in den unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen in Europa: In Skandinavien dominiert der Typ eines ausgebauten Systems der sozialen Sicherung auf steuerfinanzierter Basis; demgegenüber prägt in Kontinentaleuropa das beitragsfinanzierte Sozialversicherungssystem (Bismarck-Typus) die Sozialpolitik.
Finanzierung der sozialen Sicherung
97
Abbildung II.8 Finanzierung der Sozialleistungen nach Arten in ausgewählten EU-Ländern in % der Gesamteinnahmen 2017 100% 7,2
80%
9,1 13,8
15,8
19,1 23,1
10,1
9,6
16,2
13,5 26,9
13,0
24,4 30,7 21,5
37,9 27,2
31,9
34,4
60%
31,8
41,2 36,5
34,2
50,5 47,2
77,0
29,3
51,0
20%
Sozialbeiträge der geschützten Personen
45,1 32,2
40%
sonstige Einnahmen
50,6
49,1
Sozialbeiträge der Arbeitgeber
47,7 39,3
39,3
36,7
35,4
33,5 23,9
22,9
18,3
Staatliche Beiträge/Steuern
0%
Quelle: Eurostat (2019), Einnahmen des Sozialschutzes, ESSOSS.
3.6
Kommunale Sozialpolitik und ihre Finanzierung
Im steuerfinanzierten Bereich der sozialen Sicherung hat die kommunale Sozialpolitik eine zentrale Bedeutung. Trotz der Tendenz einer Verlagerung sozialpolitischer Aufgaben auf die zentralstaatliche Ebene (so durch die Einführung der Pflegeversicherung und durch die gemeinsam mit dem Bund getragene Grundsicherung für Arbeitsuchende) sind immer noch die Kommunen hauptzuständig für die soziale Infrastruktur der Gesellschaft und für die Daseinsvorsorge (vgl. auch Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 3.1.2). In ihre Verantwortung fällt die Sicherstellung eines bedarfsgerechten und bürgernahen Angebots an sozialen Einrichtungen und Dienstleistungen. Zugleich sind sie örtliche Träger der Sozialhilfe und der Jugendhilfe. Die Kommunen – kreisfreie Städte, (Land-)Kreise und kreisangehörige Städte – regeln in Selbstverwaltung alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, soweit nicht Bund oder Länder zuständig sind. Zu den wichtigsten Aufgaben zählen soziale Leistungen, Kultur, Gesundheit, Sport und Erholung, Straßenbau und Verkehrswesen, Energie- und Wasserversorgung, Stadtreinigung, öffentliche Ordnung, Bau- und Wohnungswesen sowie Wirtschaftsförderung. Mit ihrer Gesetzgebungskompetenz haben Bund und Länder die Möglichkeit, die Kommunen und die Kommunalverbände zur Wahrnehmung bestimmter örtlicher Aufgaben zu verpflichten und den Standard der Aufgabenerfüllung vorzugeben.
98
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Übersicht II.2 Aufgaben der Kommunen Freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben sind ganz in das Belieben einer Kommune gestellt; so ist es ausschließlich Sache der Gemeinden, einzelne soziale Projekte und Maßnahmen zu fördern. Pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben sind Leistungen, die den Gemeinden durch Bundes- und/oder Landesgesetze vorgeschrieben sind. Bei der Art und Weise ihrer Durchführung haben die Gemeinden jedoch einen Gestaltungs- und Ermessensspielraum. Dies betrifft im sozialen Bereich vor allem die Sozialhilfe und die Jugendhilfe. Staatliche Aufgaben werden den Gemeinden durch Gesetz übertragen, die Gemeinden fungieren als staatliche Unterbehörde; bei der Aufgabendurchführung bleibt kein Spielraum. Die Kosten werden vom Bund oder Land übernommen. Die Auszahlung des Wohngelds beispielsweise ist eine staatliche Aufgabe.
Bei den kommunalen Aufgaben allgemein und den sozialpolitischen Aufgaben im Besonderen ist zu unterscheiden, ob es sich um eigene Aufgaben der Gemeinden (freie Selbstverwaltungsaufgaben) oder um Aufgaben handelt, die den Gemeinden gesetzlich vorgegeben sind. Bei den sozialen Leistungen der Kommunen handelt es sich zum weitaus größten Teil um Pflichtaufgaben. Maßgebend sind hier die Sozialhilfe nach SGB XII, die Kinder- und Jugendhilfe nach SGB VIII und die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach SGB II. Trägerschaft und Ausführungszuständigkeiten des SGB II sind komplex geregelt: Träger der Leistungen nach dem SGB II sind die Bundesagentur für Arbeit einerseits und die Landkreise und kreisfreien Städte als kommunale Träger andererseits. Die Trägerschaft richtet sich nach bestimmten Aufgabenkatalogen, die Ausführungszuständigkeiten sind in Art. 91e GG mit dem Zusammenwirken von Bund, Ländern und Gemeinden/Gemeindeverbänden festgelegt. Zur einheitlichen Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende bilden die Träger im Gebiet jeder Kommune (kreisfreie Städte und Landkreise) eine gemeinsame Einrichtung (Jobcenter). Neben den gemeinsamen Einrichtungen gibt es aber auch in einem Viertel der Fälle kommunale Träger (2018: 110 zugelassene kommunale Träger). Die Finanzierungszuständigkeit der Kommunen bezieht sich auf den Großteil der Kosten von Unterkunft und Heizung sowie auf Leistungen wie Kinderbetreuung, Schuldner- und Suchtberatung, psychosoziale Betreuung, soweit sie zur Eingliederung in das Erwerbsleben erforderlich sind. Im Jahr 2017 wird nahezu die Hälfte (48 %) der gesamten Ausgaben durch Aufwendungen der Sozialhilfe (hier vor allem Hilfe zur Pflege und Eingliederungshilfe für behinderte Menschen) gebunden, wobei zu unterscheiden ist zwischen Leistungen in und außerhalb von Einrichtungen (vgl. dazu Kapitel „Einkommen“, Pkt. 6.4). Mit knapp 21 % schlagen die Ausgaben im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende und mit gut 19 % die Ausgaben der der Kinder- und Jugendhilfe (u. a. Jugendarbeit, Hilfe zur Erziehung, Kindertagesbetreuung) zu Buche. Von großer Bedeutung
Finanzierung der sozialen Sicherung
99
Abbildung II.9 Soziale Leistungen in den Kommunalhaushalten der Flächenländer 2017 Leistungen für Bildung und Teilhabe: 0,4 Mrd. € = 0,5%
Jugendhilfe: 11,5 Mrd. € = 19,5%
Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz: 3,7 Mrd. € = 6,3% Sonstige soziale Leistungen: 2,1 Mrd. € = 3,6%
Leistungen nach dem SGB II: Kosten der Unterkunft: 12,3 Mrd. €; 20,8%
Soziale Leistungen: 58,8 Mrd. €
Sozialhilfe außerhalb von Einrichtungen: 9,6 Mrd. € = 16,2%
Sozialhilfe in Einrichtungen: 18,8 Mrd. € = 31,8%
Quelle: Deutscher Städtetag (2019), Stadtfinanzen.
sind angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen und Schutzsuchenden auch die Ausgaben nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (6,3 % der Gesamtausgaben (vgl. Abbildung II.9). Die zur Wahrnehmung der kommunalen Aufgaben notwendigen Einnahmen stammen im Wesentlichen aus drei Quellen: • • •
Steuereinnahmen, Gebühren und Beiträge, Finanzzuweisungen vom Land.
Die Finanzverfassung weist den Kommunen das Aufkommen an den Realsteuern (Gewerbesteuer und Grundsteuer) und den örtlichen Aufwand- und Verbrauchsteuern zu. Ergänzend erhalten die Gemeinden Anteile aus den Gemeinschaftsteuern. Der Gestaltungsspielraum der Kommunen bei den Steuereinnahmen ist gering, da das Steuerrecht durch den Bundesgesetzgeber geregelt wird. Das gilt auch für die Vereinbarungen über die Aufteilung der Gemeinschaftsteuern, die zwischen Bund und Ländern ohne direktes Mitentscheidungsrecht der Gemeinden erfolgen. Eine beschränkte Flexibilität besteht bei den Realsteuern, deren Aufkommen die Gemeinden durch die Festlegung der Steuersätze (Hebesätze) beeinflussen können. Von den Steuern sind Gebühren und Beiträge zu unterscheiden. Bei diesen handelt es sich um Einnahmen, denen eine konkrete Gegenleistung gegenübersteht:
100
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Beiträge sind eine Art Umlage der Kosten für den Bau und die Pflege einer Einrichtung oder Anlage auf diejenigen, die dadurch einen potenziellen wirtschaftlichen Vorteil haben (so z. B. Anliegerbeiträge für den Anschluss an eine Straße oder für den Bau einer Kanalisation). • Gebühren sind eine Beteiligung an den Kosten für eine einzeln zurechenbare Leistung: Verwaltungsgebühren werden für Amtshandlungen (Ausstellen eines Ausweises, Gerichtsgebühren usw.), Benutzungsgebühren für die Inanspruchnahme öffentlicher Einrichtungen und Anlagen erhoben. Benutzungsgebühren bzw. Nutzungsentgelte finden sich im Bereich von Ver- und Entsorgung (Abwasserbeseitigung, Abfallbeseitigung, Straßenreinigung. •
Im sozialen, kulturellen und sportlichen Bereich kann es eine vollständige Kostendeckung durch Benutzungsgebühren bzw. -entgelten nicht geben, da dadurch die Inanspruchnahme der entsprechenden Leistungen und Angebote erheblich eingeschränkt und eine gesellschafts- und sozialpolitisch erwünschte bedarfsdeckende Versorgung verhindert würde. Das gilt u. a. für Jugendfreizeiteinrichtungen, Kindertagesstätten, Schuldnerberatungsstellen, Familien- und Erziehungsberatungsstellen wie auch für Eintrittsentgelte bei Schwimmbädern, Museen, Theatern oder öffentlichen Büchereien. Bei jedem Angebot ist deshalb nach Maßgabe der politischen Ziele, aber auch nach Finanzlage der Kommunen zu entscheiden, ob – und wenn ja – in welcher Höhe Gebühren bzw. Eintrittsgelder erhoben werden. Um die begrenzte finanzielle Leistungsfähigkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen, sind auch Gebührenermäßigungen (so für Arbeitslose, Bezieher:innen von Grundsicherung, Schüler:innen, Studierende) oder einkommensabhängig gestaffelte Gebühren (Elternbeiträge in Kindertagesstätten) möglich. Unterstützt durch finanzielle Zuwendungen vom Bund und dem jeweiligen Bundesland gehen immer mehr Kommunen dazu über, bei den Kindertagesstätten ganz oder nach Altersstufen der Kinder differenziert auf Gebühren zu verzichten. Tabelle II.8 zeigt die Struktur der kommunalen Einnahmen und Ausgaben, hier bezogen auf die Flächenländer (2018). Mit den Steuereinnahmen werden 40 %, mit Gebühren, Beiträgen und Einnahmen aus wirtschaftlicher Tätigkeit hingegen nur 13 % der Gesamteinnahmen der Gemeinden abgedeckt. Zusammengenommen reicht dies zum Haushaltsausgleich bei weitem nicht aus. Deswegen haben die Kommunen Anspruch auf zusätzliche Zuweisungen vom Land im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs, wobei allerdings die Höhe des Anteils und die Modalitäten der Vergabe Sache des Landes sind. Der Finanzausgleich hat mehrere Ziele: Er soll dazu dienen, die Finanzlage der Gemeinden allgemein zu verbessern, Unterschiede in der Steuerkraft zwischen armen und reichen Gemeinden auszugleichen und Sonderbelastungen einzelner Gemeinden zu berücksichtigen. Zugleich ist er ein Mittel, mit dem landespolitische Ziele umgesetzt werden können. Der Finanzausgleich erfolgt auf drei Wegen: durch allgemeine Zuweisungen (Schlüsselzuweisungen), Sonderlastenausgleich (für Krankenhäuser, Schulen, öffentlicher Per-
Finanzierung der sozialen Sicherung
101
Tabelle II.8 Kommunale Einnahmen und Ausgaben 2010 – 2018 (alte Länder) 2010
Einnahmen
2015
2018
Mrd. €
%
Mrd. €
%
Mrd. €
%
175,4
100
219,1
100
254,4
100
40.0
Darunter • Steuern
63,9
36,4
84,8
38,7
100,6
26,9
18,4
34,9
15,9
41,3
16,4
3,3
1,9
4,3
2,0
6,8
2,7
23,0
13,1
32,5
14,8
38,2
15,2
• Zahlungen von Bund und Land
54,6
31,1
77,0
35,1
92,3
36,7
• Investitionszahlungen von Bund u. Land
10,1
5,8
7,4
3,4
8,2
3,3
• Gebühren
16,2
9,2
17,9
8,2
19,9
7,9
5,9
3,4
8,7
4,0
32,7
13
24,8
14,1
22,9
10,5 250,1
100
darunter: • Gewerbesteuer • Anteil an der Umsatzsteuer • Anteil an der Einkommensteuer
• Beiträge, Erwerbseinnahmen, Erlöse • Sonstige Einnahmen Ausgaben
182,3
• Personal
45,1
24,7
54,1
25,1
62,3
24,9
• Sachaufwand
38,6
21,2
46,1
21,4
52,2
20,9
• Soziale Leistungen
41,9
23,0
53,4
24,8
60,9
24,4
4,3
2,4
3,1
1,4
2,7
1,1
23,2
12,7
23,7
11,0
26,3
10,5
7,4
4,1
8,5
3,9
41,6
16,6
21,8
12,0
26,7
12,4
• Zinsen • Sachinvestitionen • Zahlungen a. öffentlichen Bereich • Sonstige Ausgaben Finanzierungssaldo
100
− 6,9
215,6
100
+ 3,5
In den west- und ostdeutschen Flächenländern, d. h. ohne Stadtstaaten Quelle: Deutscher Städtetag, Gemeindefinanzberichte (zuletzt 2018); Stadtfinanzen 2019.
+ 1,3
102
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
sonennahverkehr) und objektbezogene Zuweisungen für bestimmte Vorhaben und Investitionen (so für Wohnungsbau- und Verkehrsprogramme, Kindergartenbau, soziale Modellprogramme, Maßnahmen der kommunalen Beschäftigungspolitik). Insgesamt machen die Zahlungen von Land und Bund (ohne Investitionszuweisungen) knapp 37 % der Gesamteinnahmen (2018/alte Bundesländer) aus. Der Anteil liegt in den Gemeinden der neuen Bundesländer noch höher, da die eigenständige Steuerkraft der ostdeutschen Gemeinden im Schnitt immer noch gering ist. Alle laufenden, d. h. regelmäßig wiederkehrenden Ausgaben und deren Finanzierung werden in den Haushaltsplänen der Kommunen den Verwaltungshaushalten zugeordnet, einmalige Ausgaben für Investitionen und deren Finanzierung den Vermögenshaushalten. Über Kreditaufnahme finanziert werden können allein (unter bestimmten Voraussetzungen) Investitionen im Vermögenshaushalt. Die Daten über die kommunalen Ausgaben und Einnahmen geben einen Überblick über die Gesamtlage der Kommunen (in den Flächenländern). Insofern handelt es sich um Durchschnittswerte. Die Verhältnisse in einzelnen Städten und Landkreisen weichen von diesem Durchschnitt erheblich ab. So weisen Städte mit einem hohen Besatz von florierenden Großunternehmen aus Industrie und Dienstleistungen einen merklich höheren Anteil an Gewerbesteuereinnahmen aus als Städte aus den regionalen Krisenregionen. Im Ergebnis stecken insbesondere die Kommunen in den strukturschwachen Regionen (so im Ruhrgebiet) in gravierenden Finanzierungsproblemen. Hohen Sozialausgaben stehen unzureichende Einnahmen gegenüber. Durch die Zuweisungen der Länder an die Kommunen wird diese Problematik nur teilweise gelöst. Ausgaben im Verwaltungshaushalt (also keine Investitionen !) müssen über Kassenkredite abdeckt werden. Kommunen in einer solch prekären Finanzlage stehen unter der Aufsicht des zuständigen Bundeslandes und unterliegen der Haushaltssicherung, d. h. sie sind zur Aufstellung eines Haushaltssicherungskonzeptes verpflichtet, mit dem durch Ausgabenminderungen und Mehreinnahmen ein Ausgleich erreicht werden soll. Leistungen dieser Kommunen, die freiwillig und nicht gesetzlich geboten sind, müssen von der Aufsichtsbehörde genehmigt werden. Für bestimmte soziale Aufgaben sind nicht die Städte, (Land-)Kreise und Gemeinden zuständig, sondern die höheren Kommunalverbände als überörtliche Träger von sozialen Diensten. Dies gilt insbesondere für die überörtlichen Träger nach den Bestimmungen der Sozialhilfe gemäß SGB XII und des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII). Sie finanzieren sich hauptsächlich durch Umlagen der angehörigen Gemeinden. Zur Vertretung gemeinsamer Interessen insbesondere gegenüber Ländern und Bund schließen sich die Gemeinden zu Verbänden zusammen. Zu den kommunalen Spitzenverbänden gehören der Deutsche Städtetag (Zusammenschluss der kreisfreien Städte), der Deutsche Landkreistag (Zusammenschluss der Landkreise) und der Deutsche Städte- und Gemeindebund (Zusammenschluss der kreisangehörigen Städte). Sie organisieren sich auf Bundesebene und teilweise auch auf Länderebene.
Finanzierung der sozialen Sicherung
103
Die Gemeinden bieten nur im geringen Maße die sozialen Dienste, Einrichtungen und Leistungen in eigener Trägerschaft an. Typisch für das deutsche Sozialstaatsmodell ist vielmehr das Subsidiaritätsprinzip, das den frei-gemeinnützigen Trägern – hier insbesondere den Wohlfahrtsverbänden und den kirchlichen Einrichtungen – und auch privatwirtschaftlichen Anbietern Vorrang bei der Leistungserbringung einräumt (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 3.2). Die anfallenden Kosten werden hingegen weit überwiegend öffentlich finanziert, zum einen aus den kommunalen Haushalten, zum anderen aber auch aus den Sozialversicherungskassen. Eigenmittel (vor allem Spenden, Mitgliedsbeiträge, Einnahmen aus der Kirchensteuer) spielen bei den Angeboten von Wohlfahrtsverbänden und kirchlichen sozialen Einrichtungen eine nur nachrangige Rolle. Bei der Finanzierung der Einrichtungen und Dienste freier Träger durch die Kommunen ist zwischen Zuwendungen, Entgeltvereinbarungen und Leistungsverträgen zu unterscheiden (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 5.2). Im Gesundheits- und Pflegebereich zahlen die Kranken- und Pflegeversicherung im Rahmen von Verträgen Leistungsentgelte an die Anbieter, deren Leistungen dann von Betroffenen entsprechend dem Sachleistungsprinzip (weitgehend) kostenfrei in Anspruch genommen werden können. 3.7
Belastung von Arbeitnehmer:innen und Unternehmen
3.7.1 Einkommensminderung durch Beiträge und Steuern
Die zur Finanzierung der Staatsausgaben insgesamt und der Sozialausgaben im Besonderen erhobenen Abgaben führen im Prozess der sozialstaatlichen Umverteilung zu Einkommensminderungen der Beitrags- und Steuerpflichtigen. Angesichts der überragenden Bedeutung von Sozialversicherungsbeiträgen und Lohnsteuern konzentriert sich die Belastung vor allem auf die Arbeitnehmereinkommen. Wenn vor dem Hintergrund verteilungs-, wirtschafts- und beschäftigungspolitischer Gesichtspunkte nach der Höhe und Entwicklungsrichtung der Abgabenlast gefragt wird, ist deshalb zu untersuchen, in welchem Maße die Abzüge die Bruttoarbeitsentgelte mindern und wie sich die Nettoposition darstellt. Dabei ist zunächst auf der Basis von Durchschnittswerten zu rechnen. Tabelle II.9 lässt erkennen, dass sich die Gesamtabzugsquote seit 1992 kaum erhöht hat: von 33,7 % auf 34 % im Jahr 2018. Auch die Belastungsquoten durch die Lohnsteuer weisen nur geringe Veränderungen auf. Die mit dem progressiven Steuertarif verbundenen Inflationseffekte sind weitgehend aufgefangen worden. Wenn nämlich das allgemeine Lohn- und Gehaltsniveau aufgrund des Preisanstiegs rein nominal steigt, fallen immer mehr Beschäftigte mit ihrem Einkommen in die Progressionszone („heimliche Steuererhöhung“). Mehrstufigen Steuersenkungen (Anhebung des Grundfreibetrages, Reduzierung des Eingangssteuersatzes und Abflachung
104
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Tabelle II.9 Jahr
Durchschnittliche Lohnabzugsquoten 1991 – 2018
Löhne- und Gehälter je Arbeitnehmer
Abzüge der Arbeitnehmer in % vom Brutto
Brutto1) in €/Monat
Netto2) in €/Monat
Lohnsteuer
Sozialbeiträge
Gesamtabzüge
1991
1 659
1 159
16,1
14,1
30,2
1995
2 001
1 327
18,3
15,4
33,7
2000
2 090
1 398
17,3
15,9
33,2
2001
2 138
1 446
16,6
15,7
32,3
2002
2 168
1 463
16,6
15,9
32,5
2003
2 195
1 467
16,8
16,4
33,2
2004
2 206
1 498
15,8
16,3
32,1
2005
2 212
1 502
15,5
16,6
32,1
2006
2 229
1 498
15,8
17,0
32,8
2007
2 261
1 513
16,3
16,8
33,1
2008
2 314
1 540
16,6
16,8
33,4
20093)
2 314
1 542
16,1
17,3
33,4
2010
2 372
1 603
15,1
17,3
32,4
2011
2 454
1 644
15,5
17,5
33,0
2012
2 521
1 684
15,8
17,4
33,2
2013
2 574
1 716
16,1
17,3
33,3
2014
2 647
1 761
16,2
17,3
33,5
2015
2 721
1 805
16,4
17,2
33,6
2016
2 788
1 847
16,4
17,4
33,8
2017
2 857
1 888
16,4
17,5
33,9
2018
2 946
1 945
16,5
17,4
34,0
1) Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit, ohne die tatsächlichen und unterstellten Sozialbeiträge der Arbeitgeber; 2) abzüglich Lohnsteuer u. Sozialbeiträge der Arbeitnehmer:innen 3) Ab 2009 Verbuchung der Beiträge für die Regelleistungen der PKV als Sozialbeiträge Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Fachserie 18 Reihe 1.5.
Finanzierung der sozialen Sicherung
105
der Progressionszone) haben hier für einen Ausgleich gesorgt (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 3.1). Da es sich bei den Abzugsquoten um Durchschnittsgrößen handelt, lassen sich auf dieser Basis noch keine Aussagen über die tatsächliche Belastung von einzelnen Einkommen bzw. Einkommensgruppen treffen. Zwei Faktoren führen zu Verzerrungen: •
•
Die Bruttolohn- und -gehaltssumme, die hier als Maßstab dient, unterliegt nur teilweise der Beitragspflicht. Belastungsfrei durch Beiträge sind beispielsweise die Beamteneinkommen und sowie Arbeitnehmerentgelte unterhalb der Geringfügigkeits- und oberhalb der Beitragsbemessungsgrenzen. Insofern liegt die durchschnittliche Sozialabgabenquote je beschäftigten Arbeitnehmer niedriger als der hälftige Gesamtbeitragssatz zur Sozialversicherung. Die Lohnsteuerabzüge liegen aufgrund des progressiven Einkommensteuertarifs je nach Einkommenshöhe unterschiedlich hoch. Zudem variiert die Steuerlast nach Familienstand und Steuerklassenwahl (vgl. auch Kapitel „Einkommen“, Pkt. 3.1).
Um die Belastung ausgewählter Einkommensgruppen realistischer zu bestimmen, kann mit einer Modellrechnung (Steuertarif 2018, mit Solidaritätszuschlag, ohne Kirchensteuer) gearbeitet werden (vgl. Abbildung II.10): •
•
Bezogen auf die Beitragssätze des Jahres 2019 und den Einkommensteuertarif 2019 zeigt sich, dass im unteren Einkommensbereich zunächst nur die Arbeitnehmerbeiträge ins Gewicht fallen. Wenn die Beschäftigten mit ihrem Verdienst die Mini-und Midijob-Grenzen überschreiten, muss auf jeden Einkommenseuro der Beitragssatz von 20,6 % entrichtet werden. Hingegen bleibt die Belastung durch die Lohnsteuer zunächst gering, da die Besteuerung erst oberhalb des Grundfreibetrags eines zu versteuernden Einkommens von 9 168 Euro/Jahr einsetzt (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 3.1). Infolge des progressiven Verlaufs der Lohnsteuer steigen die Steuerabzüge mit steigendem Gesamteinkommen dann schrittweise an, während die Sozialversicherungsbeitragssätze konstant bleiben. Mit Erreichen der Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung von 4 538 Euro/Monat im Jahr 2019 sinkt aber die durchschnittliche Belastung des Bruttoarbeitsentgelts durch die Arbeitnehmerbeiträge, da auf die Einkommensbestandteile oberhalb dieses Betrags keine Beiträge zur GKV und SPV mehr zu entrichten sind. Zu einem weiteren Rückgang der durchschnittlichen Belastung durch Arbeitnehmerbeiträge kommt es, wenn die Beitragsbemessungsgrenze (West) in der gesetzlichen Rentenversicherung und der Arbeitslosenversicherung (2019: 6 700 Euro/Monat) überschritten wird. So liegt bei einem Bruttolohn von 6 500 Euro die durchschnittliche Belastung durch die Arbeitnehmerbeiträge bei nur noch 17,2 %. Die durchschnittliche Belastung durch die Lohnsteuer beträgt bei diesem Einkommen demgegenüber 25,6 %.
106
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Abbildung II.10 Beitrags- und Steuerabzüge in % des Bruttolohns bei Arbeitnehmer:innen im Einkommensbereich zwischen 450 und 6 800 Euro, 2019
45
Abzüge in % insgesamt
40
42,9
42,0
43,3
38,3 34,7
35 29,6
30
25
Lohnsteuer
9,5
14,6
20,1
20,1
21,4
18,2
24,0
25,6
26,6
17,2
16,8
19,7
20
17,8 15,7
15 11,8 10
40,6
20,1
20,1 18,0 Arbeitnehmerbeiträge
17,8
10,4
5 Minijobs1) Übergangsbereich 0-450 € 450-1300 €
BMG2) GKV/SPV: 4.538 €
BMG3) GRV/ALV: 6.700 €
6800 6700 6600 6500 6400 6300 6200 6100 6000 5900 5800 5700 5600 5500 5400 5300 5200 5100 5000 4900 4800 4700 4600 4500 4400 4300 4200 4100 4000 3900 3800 3700 3600 3500 3400 3300 3200 3100 3000 2900 2800 2700 2600 2500 2400 2300 2200 2100 2000 1900 1800 1700 1600 1500 1400 1300 1200 1100 1000 850 800 700 600 500 450 300 200 100
0
*) Steuerklasse I, Alleinverdiener, einschließlich Solidaritätszuschlag; 1) Bei Befreiung von der Rentenversicherungspflicht; 2) Beitragsbemessungsgrenze gesetzliche Krankenversicherung und soziale Pflegeversicherung, 3) Beitragsbemessungsgrenze (West) gesetzliche Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung Quelle: Eigene Berechnungen nach Bundesministerium der Finanzen, Abgabenrechner; Deutsche Rentenversicherung Bund, Übergangsbereichrechner
Insgesamt kommt es zu der Situation, dass die effektive Gesamtbelastung kontinuierlich ansteigt, in einem konvexen Verlauf zunächst steiler, dann aber schwächer. Bei einem Einkommen von 3 000 Euro liegt die Belastung bei 34,7 %, bei einem Einkommen von 6 700 Euro bei 43,3 %. Infolge des regressiven Belastungsverlaufs bei den Arbeitnehmerbeiträgen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenzen schwächt sich der progressive Verlauf der Gesamtbelastung ab. Während für die Beschäftigten die Nettolöhne entscheidend sind, die ihnen nach Abzug von Steuern und Beiträgen verbleiben, zählen für die Unternehmen die Arbeitsgesamtkosten, in die die (steuerfreien) Arbeitgeberbeiträge und andere Lohnnebenkosten (unterstellte Arbeitgeberbeiträge) einfließen. Die – wiederum auf gesamtwirtschaftlichen Durchschnittswerten (!) basierenden Daten (Abbildung II.11) – lassen erkennen, dass sich im Jahr 2017 folgende Abweichungen ergeben: •
33,0 % zwischen den Bruttolöhnen und den Nettolöhnen,
Finanzierung der sozialen Sicherung
107
• 17,5 % zwischen den gesamten Arbeitskosten und den Bruttolöhnen, • 45,6 % zwischen den Arbeitskosten und den Nettolöhnen. Dieser Abgabenkeil von 45,6 % hat zur Folge, dass ein durchschnittliches Nettoeinkommen von 1 945 Euro im Monat für den Arbeitgeber mit Arbeitskosten von 3 574 Euro im Monat verbunden ist. Für die Beurteilung der ökonomischen und verteilungspolitischen Folgen der Steuer- und Abgabenbelastung ist allerdings nicht allein die Quote entscheidend, sondern die Frage, ob die steigenden Abgaben aus den Zuwächsen oder aus dem Bestand heraus finanziert werden. Erhöhen sich Bruttolöhne und -gehälter im gleichen Maße wie die Abzüge, können die Belastungen ausgeglichen werden und die Nettoeinkommen bleiben konstant. Übersteigt der Zuwachs der Bruttolöhne die Steigerung der Abzüge, so erhöhen sich die Nettoeinkommen. Für die Einkommensentwicklung im langfristigen Verlauf ist charakteristisch, dass die Nettoeinkommen trotz zunehmender Abzugsquoten beachtlich gestiegen sind. Und auch unter Berücksichtigung der Inflationsrate ergibt sich ein realer, d. h. inflationsbereinigter Einkommenszuwachs (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 2.2.3).
Abbildung II.11 Durchschnittliche Nettolöhne, Bruttolöhne und Arbeitskosten je Arbeitnehmer:in im Monat, 1991 – 2018
3.489
969
1.003
915
858
748
2018: 3.574 € Arbeitnehmerentgelt = Arbeitskosten = Bruttolöhne 2.948 € + Arbeitgeberbeiträge 626 €
2018: 2.948 € Bruttolöhne = Nettolöhne 1.945 € + Arbeitnehmerabzüge 1.003 €
Sozialbeiträge Arbeitnehmer & Lohnsteuer 1.888
1.806
1.644
1.542
1.446
1.159
1.316
1.513
1.716
1.945
1.502
1.367
710
702
1.329
1.467
696
1.327
692
674
591
728
772
810
497
489
Sozialbeiträge Arbeitgeber* = Lohnnebenkosten
607
566
2.857
543
527
2.792
531
532
2.651
2.739
500
1.000
364
1.500
415
2.023 2.000
470
2.322
2.566
513
2.471
2.500
2.514
2.727
579
3.020 3.000
626
3.328 3.153
3.593
626
3.500
2018: 1.945 € Nettolöhne
Nettolöhne je Abeitnehmer
500
0
1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018
* Tatsächliche und unterstellte Sozialbeiträge Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2018), Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Fachserie 18 Reihe 1.5.
108
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Daraus folgt, dass ausreichende Zuwächse der Bruttoeinkommen eine Voraussetzung sind, um zu verhindern, dass Lohnsteuer- und Beitragssatzerhöhungen die Arbeitnehmereinkommen real mindern. Sozialpolitische Mehrausgaben sind insofern politisch umso leichter durchzusetzen, je höher der Zuwachs der Arbeitseinkommen ist, weil dann die Belastungssteigerungen auf die Zuwachsraten beschränkt bleiben können. Beitragssatzanhebungen in Phasen niedriger Entgeltsteigerungen rufen hingegen größere Widerstände hervor, da die Nettoeinkommen in diesem Fall verringert würden. 3.7.2 Belastung der Unternehmen durch Lohnnebenkosten
Der Sozialstaat wirkt sich als Kostenfaktor für die Unternehmen aus. Er greift durch Regulierungen in den Arbeitsmarkt ein, setzt Rahmenbedingungen für den Einsatz von Arbeit im betrieblichen Produktionsprozess und normiert die Gestaltung von Arbeitsverhältnissen. Durch vielfältige arbeits- und tarifrechtliche Ge- bzw. Verbote werden einer allein auf kurzfristige Renditekalküle setzenden betrieblichen Personalpolitik Schranken gesetzt. Aus einzelwirtschaftlicher Sicht betrachtet lägen die Arbeitskosten ohne diese Eingriffe niedriger. Da es sich hierbei in erster Linie um indirekte Kosten handelt, ist es jedoch nur schwer möglich, die finanziellen Belastungen
Abbildung II.12
Lohn- bzw. Personalnebenkosten
Personalgesamtkosten
Bruttoarbeitsentgelte
Personalnebenkosten
Entgelt für geleistete Arbeitszeit
Arbeitgeberbeiträge zur SV
Sonderzahlungen: Weihnachtsgeld, erfolgsabhängige Zahlungen
Vergütung freier Tage: Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, bezahlte Feiertag, Urlaub Betriebliche Altersvorsorge Sonstige Personalnebenkosten
Erweiterte Nebenkostendefinition Personal-/Lohnnebenkostenquote =
Personalnebenkosten Personalgesamtkosten
Finanzierung der sozialen Sicherung
109
infolge von Arbeitsmarktregulierungen zu quantifizieren. Zu beziffern wäre, ob z. B. ein Arbeitskräfteeinsatz ohne Kündigungsschutz oder ohne Arbeitsschutz zu Kostenentlastungen führen würde. Noch schwieriger ist es, die Kosten dieser gesetzlichen und tariflichen Regulierungen mit ihrem betriebs- und volkswirtschaftlichen Nutzen zu bilanzieren. Eindeutiger zu bestimmen und zu beziffern sind hingegen die durch die Sozialpolitik verursachten betrieblichen Kosten, wenn es sich um direkte Zahlungen handelt, die ein Unternehmen zusätzlich zu den Arbeitsentgelten leisten muss. Diese Kosten lassen sich als Lohn- oder Personalnebenkosten bezeichnen; auch findet sich der Begriff „Zusatzkosten“. Die Frage allerdings, welche Elemente der Arbeitskosten zu den Lohnnebenkosten zu zählen sind, ist seit jeher strittig. Das Statistische Bundesamt definiert in Entsprechung einer EU-Verordnung und den Standards der ILO als Lohnnebenkosten • • • •
die tatsächlichen und unterstellten Sozialbeiträge der Arbeitgeber, die Kosten für die berufliche Aus- und Weiterbildung, die sonstigen Aufwendungen und die Steuern auf die Lohnsumme oder Beschäftigtenzahl.
Als Personalnebenkosten gelten zusätzlich jene Lohnkostenbestandteile, die über das reine Stunden- bzw. Monatsentgelt für geleistete Arbeitszeit hinausgehen: • Sonderzahlungen, • Sachleistungen, • Leistungen zur Vermögensbildung der Arbeitnehmer, • Vergütung für nicht gearbeitete Tage (Urlaub, Feiertage und sonstige arbeitsfreie Tage), • Bruttolöhne und -gehälter der Auszubildenden. Diese Zuordnung von Sonderzahlungen (wie Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld, Erfolgsbeteiligungen), Sachleistungen und vermögenswirksamen Leistungen als Personalnebenkosten ist allerdings wenig einsichtig, da die Zahlungsweise des Arbeitsentgelts nichts daran ändert, dass auch Sonderzahlungen ein tarif- und/oder individualvertraglicher Bestandteil des Entgelts für die geleistete Arbeit sind. Bei einer Bewertung von Sonderzahlungen als Personalnebenkosten kommt es nämlich zu dem Paradox, dass die Nebenkosten steigen, wenn sich der erfolgsabhängige Teil der Entlohnung erhöht. Sie würden hingegen sinken, wenn die Tarifparteien vereinbaren, dass das gesonderte Urlaubs- oder Weihnachtsgeld in die monatliche Tarifvergütung eingearbeitet wird. Die letztverfügbaren Daten (2016) über die Arbeitskosten und Lohnnebenkosten im produzierenden Gewerbe und im Dienstleistungsbereich lassen erkennen, dass der Anteil der Lohnnebenkosten an den gesamten Bruttoarbeitskosten bei 23,1 % liegt.
110
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Werden zu den Lohnnebenkosten noch die Vergütungen für nicht gearbeitete Tage (Urlaubs- und Feiertage) hinzugerechnet, liegt der Anteil im Jahr bei 33,2 %. Gegenüber 2012 (33,7 %) und 2004 (34,7 %) zeigt sich dabei ein leichter Rückgang. Insgesamt wird deutlich, dass die Lohnnebenkosten einschließlich der Vergütung für nicht gearbeitete Tage eine begrenzte Bedeutung im Rahmen der Bruttoarbeitskosten insgesamt haben. Dies gilt insbesondere für die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung: Sie machten 2016 lediglich 13 % der Bruttoarbeitskosten aus. Zwar liegt der Arbeitgeberbeitragssatz zu den Zweigen der Sozialversicherung deutlich höher. Diese Abweichung erklärt sich daraus, dass als Bemessungsgrundlage für die Arbeitgeberbeiträge nur die Bruttolöhne und -gehälter dienen. Die Bruttolöhne und -gehälter sind aber wesentlich niedriger als die Arbeitskosten, denn sie beinhalten weder die tatsächlichen noch die unterstellten Sozialbeiträge der Arbeitgeber. Hinzu kommt, dass die Beitragsbelastung nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze reicht. Eine Anhebung des paritätischen Beitragssatzes zur Rentenversicherung um beispielsweise einen Prozentpunkt und des Arbeitgeberbeitragssatzes entsprechend um 0,5 Prozentpunkte führt insofern zu einer nur minimalen Erhöhung der Arbeitskosten insgesamt. Grob berechnet würden in diesem Fall die Arbeitgeberbeiträge um 2,6 %, die Lohnnebenkosten um 1 % und die Personalgesamtkosten um 0,4 % steigen. Bei der Kostenkalkulation eines Unternehmens kommt es nicht allein auf die Nebenkosten, sondern auf die Höhe und Entwicklung der Personal- bzw. Arbeitsgesamtkosten an, also auf alle Aufwendungen, die einem Arbeitgeber durch die Beschäftigung von Arbeitskräften entstehen. Ökonomisch ist es letztlich unerheblich, wie sich die Arbeitskosten in ihre einzelnen Bestandteile aufteilen. Auch die Arbeitgeberbeiträge sind ein Teil der Arbeitsgesamtkosten; sie könnten auch als nicht ausbezahlter „Soziallohn“ bezeichnet werden. Die Begriff lichkeiten „Neben- oder Zusatzkosten“ verwirren eher. Der Charakter der Arbeitgeberbeiträge als Lohnbestandteil wird deutlich, wenn man einmal unterstellt, dass die versicherten Beschäftigten die Sozialversicherungsbeiträge alleine zahlen müssten. Dann könnte bei Wegfall der hälftigen Arbeitgeberbeiträge das ausgewiesene Bruttoeinkommen entsprechend höher ausfallen. Die Kostenposition des Unternehmens bliebe gleich, und trotz der vollen Beitragszahlung würde sich auch die Nettoeinkommensposition der Beschäftigten nicht verändern (unter Ausklammerung steuerrechtlicher Folgewirkungen). In den Arbeitsgesamtkosten sind auch die Folgen der Arbeitszeitverkürzungen der letzten Jahre berücksichtigt – ob es sich um die Wochenarbeitszeitverkürzung, Urlaubsverlängerung oder Übergang zu Teilzeitarbeit handelt. Denn maßgeblich für die Arbeitskosten ist allein das Entgelt je Arbeitsstunde (in das ein Ausgleich für die tariflichen Arbeitszeitverkürzungen eingegangen ist). Die Dauer der jeweiligen persönlichen Arbeitszeit stellt hingegen keinen zusätzlichen Kostenfaktor dar: Ob bei einer Betriebszeit von beispielsweise 16 Stunden am Tag der Arbeitsplatz von 2 Beschäftigten (2 × 8 Stunden) oder 3 Beschäftigten (3 × 6 Stunden) besetzt ist, ist von der Arbeitskostenseite her gesehen nicht entscheidend, da die Stundenentgelte gleich sind. Anders zu beurteilen sind die Folgewirkungen auf die Betriebskosten (u. U. Verkür-
Finanzierung der sozialen Sicherung
111
zung der Betriebszeiten, steigende Erstellungskosten für Arbeitsplatze usw.). Diese können durch kürzere individuelle Arbeitszeiten steigen, gleichzeitig erhöht sich bei kürzeren Arbeitszeiten aber auch die Arbeitsproduktivität. Verlängerte Arbeitszeiten (Verlängerung der Wochenarbeitszeit, Verkürzung des Urlaubs) sind hingegen – bei gleichem Monatseinkommen – identisch mit einem gekürzten Stundenentgelt. Dass die Arbeitsgesamtkosten – bemessen in Währungseinheiten – in Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern der Welt hoch liegen, ist unbestritten. Hohe Arbeitskosten und hohe Löhne sind Spiegelbild einer durch Massenwohlstand gekennzeichneten Gesellschaft. Eine hohe gesamtgesellschaftliche Einkommensund Wohlstandsposition sowie ein eng geknüpftes Netz der sozialen Sicherung lassen sich nicht mit niedrigen Arbeitskosten vereinbaren. Zu fragen ist deshalb nicht, ob die Arbeitskosten hoch sind, sondern ob sie zu hoch sind – mit negativen Rückwirkungen auf die Ertragslage und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen sowie auf die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen. Die absoluten Werte der Arbeitskosten je Stunde geben auf diese Frage keine Antwort. Ob sie ökonomisch verkraftet oder nicht mehr verkraftet werden können, hängt ab von dem Leistungsergebnis, das in einem Betrieb, einer Branche oder in der Volkswirtschaft insgesamt erwirtschaftet wird und das den Kosten gegenübersteht. Auskunft über das Leistungsergebnis gibt die Arbeitsproduktivität, die den Produktionsoutput je Arbeitsstunde widerspiegelt. Setzt man die Arbeitskosten ins Verhältnis zur Arbeitsproduktivität, so ermitteln sich die Lohnstückkosten. Die Lohnstückkosten lassen erkennen, wie viel Lohn (einschließlich der Lohnnebenkosten) für eine Produkt- oder Dienstleistungseinheit gezahlt werden muss. In den entwickelten Volkswirtschaften ergeben sich trotz hoher Arbeits- und Sozialkosten vergleichsweise niedrige Lohnstückkosten, weil auch die Arbeitsproduktivität hoch ist. Die hohe Kapitalintensität der Produktion, der Einsatz neuer Technologien, die effiziente Arbeitsorganisation und der gute Qualifikationsstand der Beschäftigten wirken sich unmittelbar positiv auf das wirtschaftliche Leistungsergebnis aus. Hohe Löhne, ein hohes Sozialleistungsniveau und hohe Produktivität stehen also in einem Wechselverhältnis zueinander. In einer dynamischen Wirtschaft steigt die Arbeitsproduktivität. Das Produktionsergebnis kann mit einem geringeren Einsatz von Arbeit, d. h. mit sinkenden Arbeitsstunden und Arbeitskosten, hergestellt werden. Werden die Lohnsätze erhöht, um die Beschäftigten am Zuwachs der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu beteiligen, erhöhen sich die Lohnstückkosten nicht, wenn sich diese Erhöhung im Rahmen des Produktivitätsfortschritts bewegt. Der kostenneutrale Verteilungsspielraum wird ausgeschöpft. Genau diese Entwicklung ist für die Situation in der Bundesrepublik charakteristisch; in mehreren Jahren ist noch nicht einmal dieser Spielraum genutzt worden. Welche Auswirkungen hat nun eine Erhöhung der Arbeitgeberbeitragssätze ? Im Unterschied zu einer tariflichen Lohnerhöhung, die die Gewerkschaften gegenüber den Arbeitgeberverbänden erst durchsetzen müssen, wird eine Beitragssatzanhebung
112
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
durch die Politik verfügt und unmittelbar wirksam. Dies kann bei den Unternehmen zu unterschiedlichen Reaktionen führen: •
• •
Sie versuchen, die Belastungen durch höhere Preise zu überwälzen (Vorwälzung). Inwieweit und in welchem Zeitraum das gelingt, hängt ab von den Bedingungen auf den Märkten im nationalen und internationalen Rahmen (u. a. Konjunkturlage, Preiselastizität der Nachfrage, Wettbewerbsposition des Unternehmens, Wechselkursentwicklung). Sie verzichten auf Preisreaktionen, da sich die Mehrkosten durch die gestiegene Produktivität auffangen lassen. Sie versuchen, die erhöhten Belastungen in den anstehenden tariflichen und betrieblichen Entgeltvereinbarungen auf die normalen Lohnsteigerungen anzurechnen (Rückwälzung).
3.8
Kosten und Belastungen einer privaten Absicherung
Bei der Diskussion über die Aussagefähigkeit von Sozialbudget und Sozialleistungsquote wurde deutlich, dass die Ausgaben für soziale Sicherung nicht nur durch öffentliche Abgaben, sondern auch privat finanziert werden. Eine besondere Bedeutung haben hier: • • • • • •
Prämienzahlungen in der privaten Kranken- und/oder Pflegeversicherung, für Vollversicherungen wie für Zusatzversicherungen, Einzahlungen in die private Altersvorsorge auf individueller Basis (Lebensversicherungen, Banksparpläne, Investmentfonds) oder im Rahmen betrieblicher Leistungssysteme (z. B. in Form einer Entgeltumwandlung), Zuzahlungen zu den Sachleistungen der Krankenversicherung (bei Arznei-, Heilund Hilfsmitteln, Krankenhausaufenthalten usw.), Entrichtung von Gebühren bei der Inanspruchnahme von sozialen Einrichtungen und Diensten, Übernahme des Eigenanteils in der stationären Altenpflege, private Käufe von sozialen und gesundheitlichen Gütern und Diensten. Beispiel dafür sind u. a. der Kauf von nicht erstattungsfähigen Arzneimitteln oder die individuelle Vergütung von Pflegepersonal bei einer ambulanten Versorgung.
Die Abgrenzung zwischen privater und öffentlicher Absicherung ist nicht eindeutig, die Grenzen verschwimmen: Personen, die nicht der sozialen Pflegeversicherung angehören, sind in der privaten Pflegeversicherung versicherungspflichtig. In der privaten Altersvorsorge ist ein Obligatorium (Vorsorgepflicht) immer wieder in der Diskussion. Zugleich wird die private Vorsorge im erheblichen Maße durch Mittel gefördert (steuerliche Entlastungen und Zahlung von Zulagen sowie Beitrags- und
Finanzierung der sozialen Sicherung
113
Steuerfreiheit bei Entgeltumwandlung). Gefördert wiederum werden nur Vorsorgeformen („Riester-Rente“), die den gesetzlichen Kriterien entsprechen (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 8.2.2). Genaue Informationen über das Volumen der privaten Zahlungen und die Belastung der Haushaltseinkommen liegen nicht vor. Einzelne Daten lassen jedoch erkennen, dass es sich um beachtliche Größenordnungen handelt: • • • •
Die private Krankenversicherung beziffert für das Jahr 2017 ihr Volumen an Beitragseinnahmen auf 39 Mrd. Euro. Die ausgezahlten Versicherungsleistungen belaufen sich auf 27 Mrd. Euro. Bei Lebensversicherungen, Pensionskassen und Pensionsfonds summieren sich die Beitragseinnahmen (2018) auf 152,5 Mrd. Euro. Die Leistungen allein von Lebensversicherungen betragen knapp 100 Mrd. Euro. Die vom Statistischen Bundesamt ausgewiesenen Ausgaben für Gesundheit (ohne Einkommensleistungen) werden zu 13,5 % (2017) durch die privaten Haushalte getragen. Die privaten Zuzahlungen allein für Arzneimittel betrugen 2017 rund 2,1 Mrd. Euro.
Durch den Ausbau der privaten Vorsorge in der Alterssicherung und infolge von Leistungsausgrenzungen, Privatisierungen und erweiterten Zuzahlungen in der gesetzlichen Krankenversicherung ist die Bedeutung der privaten Absicherung in den zurückliegenden Jahren gestiegen. Diese Gewichtsverlagerung von öffentlichen zu privaten Ausgaben und Vorsorgeformen bedeutet jedoch nicht, dass nun das Belastungsniveau automatisch sinkt. Auch bei privaten Sicherungsformen müssen aus dem verfügbaren Einkommen Bestandteile für soziale Ausgaben bzw. soziale Vorsorge abgezweigt werden – und zwar ohne einen Arbeitgeberbeitrag. Wenn also ein realistischer Eindruck über die Gesamtbelastung gewonnen werden soll, dann reicht der Blick allein auf die Entwicklung von Beitragssätzen, Gebühren und Steuern nicht aus. Die Einkommensminderungen durch die private Vorsorge müssen den Abgaben hinzugerechnet werden. Das gilt insbesondere für die Alterssicherung: Um die infolge des sinkenden Rentenniveaus entstehenden Versorgungslücken auszugleichen, sollen 4 % des Arbeitsentgelts für private Vorsorge („Riester-Rente“) eingesetzt werden. In der Summe errechnet sich damit im Jahr 2018 für die Arbeitnehmer:innen eine Belastung von 13,3 % des Einkommens (9,3 % hälftiger Beitragssatz + 4 % privater Vorsorgeabzug). Ein Wechsel von der Sozial- zur Privatversicherung und damit die Zahlung von privatrechtlichen Prämien statt sozialversicherungsrechtlicher Beiträge wirkt auch auf und die Belastungsstruktur: Privatversicherungen arbeiten nach dem Prinzip Äquivalenz, d. h. dass sich die beanspruchbaren Leistungen an den Prämienzahlungen bemessen und sich diese wiederum nach den Wahrscheinlichkeiten des Risikoeintritts ausrichten. Bei der Krankenversicherung heißt dies: Je größer das Erkran-
114
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
kungsrisiko, desto teurer ist der private Versicherungsschutz beim Abschluss eines Vertrages. Und je umfassender die Risikoabdeckung, desto höher ist der Preis einer Police. Bei dieser risiko- und leistungsäquivalenten Prämiengestaltung bleibt die von der Höhe des Einkommens abhängige Zahlungsfähigkeit unberücksichtigt. Demgegenüber kommt es bei den Beiträgen zur Sozialversicherung nicht auf die individuellen Risikowahrscheinlichkeiten an. Der Beitrag richtet sich nach der Höhe des Einkommens und zugleich sind die Versicherungsleistungen durch Elemente des Solidarausgleichs charakterisiert (Leistungen ohne Beitragszahlungen oder ohne äquivalente Beitragszahlungen). Bei einer privaten Krankenversicherung werden insofern diejenigen stärker belastet, die aufgrund von Familienstand, Alter, Vorerkrankungen und Berufssituation höhere Risiken tragen, während die Personen mit „guten Risiken“, das sind solche mit den Merkmalen jung, kinderlos, gesund und hohes Einkommen, mit einer finanziellen Entlastung rechnen können. Zu einer Verschiebung der Belastungsstruktur führen auch Zuzahlungs- und Eigenbeteiligungsregelungen. Denn Zuzahlung bedeutet, dass die Gesundheitskosten, beispielsweise für Arzneimittel, anders finanziert werden: Während beim reinen Sachleistungsprinzip die Belastungen im Solidarverbund von allen Versicherten getragen und die Unternehmen über Arbeitgeberbeiträge mit herangezogen werden, müssen bei der Selbstbeteiligung die Kranken zusätzlich zu ihren Beitragsleistungen einen Teil der Kosten übernehmen. Entlastet werden die (aktuell) gesunden Versicherten sowie die Arbeitgeber. In welche Richtung Ausgaben- und Belastungsniveau bei einer Ausweitung der privaten Absicherung tendieren, ist unbestimmt. Bleiben Privatversicherung und private Vorsorge freiwillig, muss damit gerechnet werden, dass nur ein Teil der bislang über die Sozialversicherung Geschützten entsprechende Verträge abschließen wird, da Fähigkeit oder Bereitschaft fehlen, die Ausgaben zu tragen. Der abgesicherte Personenkreis verringert sich, der soziale Schutz geht in Abhängigkeit von Risikobetroffenheit, Einkommenslage und sozialem Status zurück. Bei Zuzahlungsregelungen kann – wie in aller Regel intendiert – die Inanspruchnahme gesundheitlicher Leistungen sinken. Je nach Höhe und Ausgestaltung der Zuzahlung sind auch hier sozial selektive Effekte zu erwarten. Ob allerdings über diesen Weg die Ausgaben- und Kostendynamik im Gesundheitswesen gebremst wird, ist eher ungewiss. Die bisherigen Erfahrungen sprechen dagegen. Zudem zeigen die empirischen Befunde, dass private Krankenversicherungen, die durchgängig mit dem Kostenerstattungsverfahren sowie Selbstbeteiligungs- und Wahltarifen operieren, in vielen Leistungsbereichen einen stärkeren Ausgabenzuwachs je Versicherten als die gesetzlichen Kassen aufweisen (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 5.2.3). Zu berücksichtigen ist zudem, dass im privaten Sektor höhere Verwaltungs- und vor allem Abschlusskosten (Akquisition, Werbung, Marketing) entstehen und Gewinne erwirtschaftet werden müssen. Hinzu kommt, dass der Übergang zu einer kapitalgedeckten privaten Vorsorge in der Aufbauphase mit Mehrbelastungen ver-
Finanzierungsprobleme des Sozialstaats
115
bunden ist: Bevor Leistungen ausgezahlt werden können, muss durch eine laufende Zuführung von Mitteln ein Kapitalstock aufgebaut werden. In dieser Phase sind jedoch zugleich die im Umlageverfahren erworbenen Ansprüche zu bedienen und zu finanzieren (vgl. Pkt. 7.6 dieses Kapitels). Diese Zusammenhänge und Daten lassen erkennen, dass es in der Diskussion über das Für und Wider von privater Vorsorge und öffentlicher sozialer Sicherung auf eine nüchterne Analyse ankommt, ob der eine oder andere Weg ökonomisch effizienter und gesellschaftspolitisch akzeptabler ist. Auf jeden Fall macht es aus gesamtwirtschaftlicher Sicht wenig Sinn, steigende Sozialausgaben, wenn sie öffentlich über Beiträge und Steuern finanziert werden, als Zwangsabgaben und als Ausdruck einer unerwünschten Kostenexpansion zu erklären und demgegenüber dieselben Ausgabenzuwächse, wenn sie privat über Versicherungsprämien oder Marktpreise finanziert werden, als Ausdruck eines zukunftsträchtigen Wachstumsmarktes mit Beschäftigungs- und Gewinnchancen zu begrüßen. Bei der Gegenüberstellung von öffentlicher und privater Finanzierung darf allerdings nicht aus den Augen gelassen werden, dass Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung (und erst recht allgemeine Steuerabzüge) von weiten Teilen der Bevölkerung anders wahrgenommen und bewertet werden als private Ausgaben für die soziale Sicherheit. Während Beiträge unmittelbar dem Einfluss des Staates unterliegen, im Quellenabzugsverfahren automatisch einbehalten werden, erscheinen private Ausgaben als freiwillige Entscheidungen, die dem Einzelnen Wahlmöglichkeiten gemäß seinen individuellen Präferenzen eröffnen und ein unmittelbares Verhältnis von Leistung und Gegenleistung sicherstellen. Ob und in welchem Maße diese Einschätzung geteilt wird, hängt ganz generell ab von der politisch-kulturellen, historisch entwickelten Einstellung der Bevölkerung gegenüber dem Staat und Sozialstaat. Da die private Absicherung außerhalb der unmittelbaren Verantwortung von Staat und Politik steht, kann sich die Politik bei einem Übergang zur privaten Vorsorge entlasten. So stehen Beitragssatzerhöhungen in der Sozialversicherung im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit und müssen legitimiert werden, während die Anhebungen von Prämien bei der Privatversicherung weitgehend unbeachtet bleiben und von der Politik nicht zu verantworten sind.
4
Finanzierungsprobleme des Sozialstaats
Der Rückblick auf die Sozialpolitik seit Mitte der 1990er Jahre lässt eine Abfolge von Finanzierungsproblemen und -krisen erkennen. Die Situation in den Haushalten von Bund, Ländern und Gemeinden sowie in den Sozialversicherungshaushalten war immer wieder durch Defizite gekennzeichnet, die bei den Gebietskörperschaften durch eine wachsende Neuverschuldung und bei den Sozialversicherungsträgern (denen eine Verschuldung nicht möglich ist) durch steigende Beitragssätze ausgeglichen wurden. Zugleich prägten Einschnitte in das soziale Netz die Entwicklung, um über
116
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
diesen Weg die Ausgaben zu senken bzw. den Ausgabenzuwachs zu begrenzen, begleitet durch Steuersenkungen für Unternehmen und Bezieher hoher Einkommen. Beginnend in den Jahren nach etwa 2012 ändert sich jedoch das Bild. Die Steuer- wie die Beitragseinnahmen steigen deutlich an, in den öffentlichen Haushalten kommt es zu einer Rückführung der Neuverschuldung bis hin zu einem völligen Verzicht auf eine Neuverschuldung („schwarze Null“). Auch die Haushalte der Sozialversicherungsträger melden Überschüsse, was – so bei der Rentenversicherung – zu einer Absenkung der Beitragssätze geführt und zugleich Leistungsverbesserungen möglich gemacht hat. Welche Faktoren stehen hinter dieser zweigeteilten Entwicklung ? 4.1
Konjunktur- und Arbeitsmarktabhängigkeit der Sozialversicherungssysteme
Will man wissen, durch welche Einflüsse das Finanzgleichgewicht in den Sozialversicherungshaushalten gestört werden kann, ist es notwendig, die einzelnen Faktoren zu analysieren, die auf die Entwicklung einerseits der Einnahmen und andererseits der Ausgaben einwirken. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Einnahmen im Wesentlichen durch lohnbezogene Beiträge bestimmt sind und dass in Systemen, die nach dem Umlageverfahren finanziert werden, Rücklagen allenfalls zum Ausgleich von kurzfristigen Disproportionalitäten zwischen Einnahmen und Ausgaben ausreichen. •
•
Die Ausgaben errechnen sich bei den Geld- bzw. Lohnersatzleistungen der Rentenund Arbeitslosenversicherung als das Produkt von Zahl der Leistungsempfänger:innen (Rentner:innen oder Arbeitslose) und der durchschnittlichen Höhe der Leistungen (Altersrenten oder Arbeitslosengeld). Die Ausgabenhöhe bei den Sachund Dienstleistungen der Kranken- und Pflegeversicherung hängt ab von der Leistungsmenge (z. B. Zahl der ärztlichen Behandlungen, Arzneimittelverordnungen oder Pflegesachleistungen) und den durchschnittlichen Kosten je Leistung. Die Einnahmen errechnen sich – bei gegebenem Beitragssatz und ohne Berücksichtigung von Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt – als Produkt von Zahl der Beitragspflichtigen und der durchschnittlichen Höhe der Bruttolöhne, die der Bemessung der Beitragszahlung zugrunde liegen.
Von einer Ausgabenexpansion ist zu sprechen, wenn die Ausgaben – im Verhältnis zum Sozialprodukt oder zur Einkommensentwicklung – überproportional steigen. Eine Einnahmeschwäche liegt vor, wenn die Entwicklung von beitragspflichtigem Einkommen und Beitragseinnahmen hinter den Zuwachsraten des Sozialprodukts oder des allgemeinen Einkommensniveaus zurückbleibt. Eine Analyse der Ausgabenentwicklung in der Sozialversicherung zeigt, dass bei den Geldleistungen der Ausgabenzuwachs in erster Linie Folge wachsender Bedarfs-
Finanzierungsprobleme des Sozialstaats
117
lagen und Leistungsempfängerzahlen ist. Ursächlich waren hier vor allem die hohe und steigende Arbeitslosigkeit sowie die Zunahme der Rentenempfänger:innen. Von der durchschnittlichen Höhe der Leistungen geht hingegen kein expansiver Effekt aus, da sich die Leistungsberechnung an der allgemeinen Lohnentwicklung orientiert. Durch mehrfache Einschnitte im Leistungsrecht ist es sogar zu Leistungskürzungen je Fall gekommen. Bei den Sach- und Dienstleistungen, hier insbesondere im Gesundheitswesen, sind sowohl ein Mengen- als auch ein Preiszuwachs charakteristisch. Im Verhältnis zur allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt, lässt sich jedoch kein überproportionaler Ausgabenanstieg der gesetzlichen Krankenversicherung feststellen. Seit Jahren schwanken die Ausgaben der GKV in Prozent des BIP zwischen 6,5 % und 7,0 %. Die Einnahmen der Sozialversicherung hängen im hohen Maße von der Zahl der versicherungspflichtig Beschäftigten ab. Im Zuge der anhaltenden Wachstumskrise und der hohen Zahl an Arbeitslosen haben sich die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse seit Beginn der 1990er Jahre kontinuierlich verringert (Abbildung II.13). Die Zahl der Erwerbstätigen insgesamt hingegen hat sich in diesem Zeitraum weit stabiler verhalten. Dies weist darauf hin, dass auf dem Arbeitsmarkt
Abbildung II.13 Erwerbstätige und sozialversicherungspflichtig Beschäftigte 1992 – 2018, in Mio. und in % (Index 1992 =100)
Erwerbstätige
in Mio. 38,2
37,6
37,7
38,1
39,3
39,1
39,1
38,9
40,3
41,6
42,7
43,6
44,8
40,6
32,9 Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte 29,3
28,2
29,3 27,7
27,2
27,8
27,6
26,5
26,4
27,5
30,2
27,7
117,3
Erwerbstätige
Index: 1992 =100
110,1
100,0
105,8 99,6 92,8
102,0 89,3
31,4
111,7
99,8
112,2
107,2
107,8
93,6
114,2
102,9
96,9
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte
1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018
Quelle: Bundesagentur für Arbeit (zuletzt 2019), Beschäftigungsstatistik – Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Erwerbstätigenrechnung.
118
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
eine Umschichtung von Arbeitsverhältnissen, die mit Beiträgen belegt sind, hin zu sozialversicherungsfreien Beschäftigungsformen (selbstständige Tätigkeiten, geringfügige Beschäftigung, Werk- und Honorarverträge) stattgefunden hat. Äußerst schwach hat sich bis etwa 2005 zudem die Lohnhöhe je versicherungspflichtig Beschäftigten entwickelt. Dafür waren im Wesentlichen die niedrigen Tarifabschlüsse, die Zunahme von Teilzeitarbeit zu Lasten von Vollzeitarbeit und die Ausbreitung von Niedriglöhnen verantwortlich. Eine mit dieser Lohnentwicklung verbundene sinkende Lohnquote (Anteil der Bruttoeinkommen aus abhängiger Arbeit am Volkseinkommen, vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 2.2.2) signalisiert, dass sich die Beitragserhebung auf einen sukzessive kleiner werdenden Anteil des gesamten Volkseinkommens bezogen hat und ein größer werdender Teil des Volkseinkommens, das sind Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen sowie nicht versicherungspflichtige Arbeitnehmereinkommen, außerhalb der Finanzierungspflicht rückte. Insofern lassen sich die Finanzierungsprobleme der Sozialversicherungsträger in diesem Zeitraum durchaus als Einnahmeschwäche identifizieren. Die Einnahmen sind hinter der allgemeinen Entwicklung des Sozialprodukts zurückgeblieben (vgl. am Beispiel GKV Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 12.3). Im Ergebnis führt die Finanzierung der Sozialversicherung vorrangig durch lohnbezogene Beiträge dazu, dass die Einnahmen von der Arbeitsmarktlage sowie von der durchschnittlichen Höhe der Arbeitsentgelte abhängig sind. Zwar verringern sich bei einer rückläufigen Zahl von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten auch die Zahl und Höhe von Leistungsanwartschaften und entsprechend die anfallenden Ausgaben. Und niedrige Löhne bzw. niedrige Zuwachsraten des Lohnniveaus schlagen sich in der Höhe der späteren Leistungen nieder und begrenzen die Anpassungsdynamik. Aber diese auf dem Äquivalenz- und Versicherungsprinzip basierende Korrespondenz zwischen Einnahmen und Ausgaben greift nur sehr langfristig und trifft auch nur für die Geldleistungen zu, nicht aber für die Sach- und Dienstleistungen der Sozialversicherung. Aus Abbildung II.13 lässt sich entnehmen, dass sich die negative Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ab etwa 2005 verändert. Erst langsam, dann aber zunehmend kommt es zu steigenden Beschäftigtenzahlen – von 26,4 Mio. im Jahr 2005 auf 32,9 Mio. im Jahr 2018. Dies entspricht einem Anstieg von 25 %. Der tiefe Konjunktureinbruch in Folge der internationalen Finanzkrise in den Jahren 2008 und 2009 konnte in Deutschland (jedoch nicht in den meisten anderen Ländern der EU) schnell und ohne große Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt überwunden werden. Da es in den Folgejahren auch zu höheren Tarifabschlüssen und Einkommensverbesserungen bei den abhängig Beschäftigten kam, stiegen entsprechend die Beitragseinnahmen bei den Versicherungsträgern. Die Rentenversicherung verzeichnete wachsende Reserven (Nachhaltigkeitsreserve) und auch im Gesundheitsfonds wurden Rücklagen aufgebaut. Der restriktive, auf Leistungseinschnitte sowie auf Um-
Finanzierungsprobleme des Sozialstaats
119
bau- und Privatisierungsmaßnahmen zielende Kurs der Sozialpolitik wurde zwar nicht grundsätzlich rückgängig gemacht (so blieb es bei der kontinuierlichen Absenkung des Rentenniveaus und auch bei der Begrenzung des Schutzbereichs der Arbeitslosenversicherung), aber doch gelockert. Im Bereich der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung kam es zu Leistungsverbesserungen (vgl. dazu in den jeweiligen Kapiteln). 4.2
Konjunktur- und Arbeitsmarktabhängigkeit der Steuerfinanzierung
Im Unterschied zum Sozialversicherungssystem lassen sich Finanzierungsprobleme bei steuerfinanzierten Sozialleistungen, die aus Haushaltsmitteln des Bundes, der Ländern oder der Kommunen gezahlt werden, nicht von den Finanzierungsproblemen der öffentlichen Haushalte insgesamt trennen. Monetäre und Realtransfers außerhalb der Sozialversicherung sind Teil der öffentlichen Gesamtausgaben und werden über das allgemeine Steueraufkommen (bzw. über Kreditaufnahme) finanziert. Eine direkte Zurechnung von einzelnen Steuern zu einzelnen Ausgaben gibt es wegen des Non-Affektationsprinzips nicht. Ungleichgewichte in den öffentlichen Haushalten haben deshalb – sowohl auf der Einnahmen- wie auf der Ausgabenseite – vielfältige Gründe, die an dieser Stelle nicht im Einzelnen analysiert werden können. Gleichwohl lassen sich zentrale Ursachen für die gegenläufige Entwicklung von Einnahmen und Ausgaben, die über viele Jahre hinweg die öffentlichen Haushalte belastet hat, benennen: • Zwar fällt bei einer Steuerfinanzierung die Konjunktur- und Arbeitsmarktabhängigkeit der Einnahmen weniger stark als bei der Beitragsfinanzierung aus, da – wenn auf die Einkommensteuer insgesamt und die Lohnsteuer im Besonderen Bezug genommen wird – der Kreis der Zahlungspflichtigen weiter als bei den Sozialversicherungsbeiträgen gesteckt ist und zudem alle Einkommen erfasst werden. Dennoch leidet auch das Aufkommen aus der Lohnsteuer unter einer schlechten Arbeitsmarktlage und niedrigen Wachstumsraten. Denn Arbeitslose zahlen keine Lohnsteuer und viele Bezieher:innen von Niedrigeinkommen bleiben mit ihrem Einkommen unterhalb des Grundfreibetrags. Hingegen führen ein Beschäftigungsaufbau und Einkommenszuwächse (die realen Zuwächse können unter Berücksichtigung des Preisniveauanstiegs deutlich niedriger liegen) zu einem Anstieg des Steueraufkommens. • Auch die Steuern auf den Verbrauch werden in ihrer Ergiebigkeit von der Lage auf dem Arbeitsmarkt und der Konjunkturentwicklung beeinflusst, da letztlich das den Haushalten zur Verfügung stehende Einkommen den Rahmen für die Konsumausgaben bestimmt. • Eine ungünstige Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage schlägt sich zugleich bei den Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden nieder: Es erhöhen sich die Emp-
120
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
fängerzahlen von Sozialleistungen (vor allem Arbeitslosengeld II, Wohngeld) sowie die Bundeszuschüsse an die BA und an die Rentenversicherung. Bei einem Rückgang der Arbeitslosigkeit kommt es hingegen zu Entlastungen. • Hinzu kommt, dass die Steuerreformen der zurückliegenden Jahre insbesondere im Bereich der Unternehmensbesteuerung (Körperschaftsteuer) und der Einkommensteuer (in mehreren Stufen) zu Steuerentlastungen geführt haben, die ihrerseits mit dazu beigetragen haben, dass sich in den Haushalten von Bund, Ländern und Gemeinden das Steueraufkommen nur schwach entwickelt hat. • Der Anstieg der zum Haushaltsausgleich erforderlich Neuverschuldung hatte eine wachsende Zinsbelastung der öffentlichen Haushalte zur Folge. Der in den 2010er Jahren einsetzende Trend hin zu einer Haushaltskonsolidierung lässt sich maßgeblich durch die verbesserte Lage der Gesamtwirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt erklären. Während viele der EU-Staaten unter Wachstumsschwäche, hoher Arbeitslosigkeit und anhaltenden Finanzierungsproblemen leiden, hat sich Deutschland vom „kranken Mann Europas“ zum „Musterschüler“ entwickelt. Diese günstigen ökonomischen Rahmenbedingungen haben die Umsetzung der Regelungen der Schuldenbremse und des Fiskalpaktes in Deutschland erst möglich gemacht. Die 2009 im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse sieht vor, dass die strukturelle, also nicht konjunkturbedingte, jährliche Nettokreditaufnahme des Bundes maximal 0,35 % des Bruttoinlandsproduktes betragen darf. Für die Länder wird ab 2020 die Nettokreditaufnahme ganz verboten. Ausnahmen sind bei Naturkatastrophen oder schweren Rezessionen gestattet. Umstritten bleibt, ob diese Einengung der staatlichen Haushaltspolitik zu einer dauerhaften Abschwächung des Wirtschaftswachstums und zu Einschränkungen von öffentlichen Investitionen wie auch Sozialausgaben führt. Diese Sorge gilt auch für den EU-Fiskalpakt: Der 2013 in Kraft getretene Vertrag legt fest, dass Unterzeichnerstaaten, die die Konvergenz-Kriterien der EU nicht einhalten (jährliches Haushaltsdefizit höchstens 0,5 % des BIP und max. 60 % Verschuldungsobergrenze in Relation zum BIP) sanktioniert werden können. Daneben müssen die einzelnen Staaten Schuldenbremsen einführen. Insgesamt zeigt sich, dass die Finanzierung der öffentlichen Ausgaben allgemein und der sozialen Sicherung insbesondere entscheidend von der Höhe und Entwicklung der Arbeitnehmereinkommen abhängt, da es eine Finanzierung jenseits der direkten oder indirekten Belastungen der Arbeitnehmereinkommen nicht geben kann. Dieser gesamtwirtschaftliche Zusammenhang lässt sich auch anhand der Daten aus der Volkwirtschaftlichen Gesamtrechnung verdeutlichen: Das Bruttoarbeitnehmerentgelt (einschließlich der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung) macht etwa 70 % des Volkseinkommens aus (Lohnquote). Die restlichen 30 % des Volkseinkommens, das sind die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen, reichen als Finanzierungsquelle für die Summe aller Sozialausgaben schon allein rechnerisch nicht aus.
Finanzierungsprobleme des Sozialstaats
4.3
121
Arbeitslosigkeit: Sinkende Einnahmen und wachsende Ausgaben
Ein niedriger Beschäftigungsstand berührt Ausgaben- und Einnahmenseite gleichermaßen negativ. Dem steigenden Finanzbedarf auf der einen Seite steht eine durch dieselben Ursachen verschlechterte Einnahmesituation auf der anderen Seite gegenüber: • Mehrausgaben entstehen bei der Bundesagentur für Arbeit und beim Bund durch den Anstieg der passiven Leistungen (Arbeitslosengeld I und II) sowie durch die notwendig werdenden Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Aber auch die Rentenversicherung wird von der schlechteren Arbeitsmarktlage betroffen, weil die Zahl der arbeitsmarktbedingten Frühverrentungen zunimmt. • Mindereinnahmen infolge von Arbeitslosigkeit schlagen sich sowohl bei den Steuern wie bei den Beiträgen nieder. Im Steuersystem ergeben sich Verluste vor allem bei der Lohn- und Einkommensteuer. Bei den Beitragseinnahmen der Sozialversicherungsträger muss in erster Linie die Bundesagentur für Arbeit Einbußen hinnehmen, da Arbeitslose – seien sie registriert oder nicht – keine Beiträge zahlen. Bei der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung fallen die Beitragsverluste geringer aus, da die BA für ihre Leistungsempfänger:innen die Beitragszahlungen an die anderen Sozialversicherungsträger teilweise übernimmt, verbunden mit entsprechend höheren Ausgaben (vgl. im Einzelnen Kapitel „Einkommen“, Pkt. 5.5). Die Beitragsleistungen für Empfänger:innen von Arbeitslosengeld I und insbesondere von Arbeitslosengeld II sind jedoch in den letzten Jahren gekürzt bzw. in der GRV ganz gestrichen worden, so dass der Ausgleich nur begrenzt wirkt. Zudem wächst der Kreis der Arbeitslosen, die keinen Anspruch auf Leistungen (mehr) haben und für die insofern auch keine Beiträge gezahlt werden. Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung summierten sich im Jahr 2017 die gesamtfiskalischen, direkten und indirekten Kosten der Arbeitslosigkeit auf 53 Mrd. Euro. Im Jahr 2003 – bei einer deutlich höheren Arbeitslosigkeit – waren es noch 91,5 Mrd. Euro. Diese Berechnungen beziehen sich nur auf die unmittelbaren Kosten der registrierten Arbeitslosigkeit, also ohne aktive Arbeitsmarktpolitik und ohne die monetär schwer fassbaren Kosten wie Dequalifizierung, gesundheitliche Beeinträchtigungen usw. Verschärfend kommt hinzu, dass sich auf dem Arbeitsmarkt jene Beschäftigungsverhältnisse ausgedehnt haben, die nicht der Versicherungs- und Beitragspflicht unterliegen, so Arbeitsverhältnisse unterhalb der Geringfügigkeitsgrenze (Minijobs), Selbstständigkeit, Werkverträge (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“ Pkt. 3.3 Arbeitslosigkeit war vor allem in den neuen Bundesländern ein gravierendes Problem. Der seit der Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion einsetzende Trend stark rückläufiger Beschäftigten- und ansteigender Arbeitslosenzahlen hat ein
122
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
eklatantes Missverhältnis zwischen Beitragszahlenden und Leistungsempfangenden entstehen lassen. Da die hohen Sozialleistungen in den neuen Bundesländern nicht aus Eigenmitteln finanziert werden konnten, war und ist ein Finanzverbund bzw. Finanzierungsausgleich mit den alten Bundesländern, in den auch die Sozialversicherungsträger einbezogen sind, zwingend erforderlich. Verteilungspolitisch problematisch ist eine Finanzierung allein durch die Gruppe der Beitragszahlenden aber immer dann, wenn es sich wie bei der Bewältigung der sozialen Folgen der Transformationskrise um allgemeine gesellschaftspolitische Aufgaben handelt, die dann auch von der Allgemeinheit über Steuermittel finanziert werden müssten. 4.4
Finanzierungsprobleme der kommunalen Sozialpolitik
Mit besonderen Problemen hatten und haben die Gemeinden zu kämpfen, deren Haushaltslage seit Mitte der 90er Jahre durch ein anhaltendes Missverhältnis zwischen stagnierenden oder nur schwach steigenden Einnahmen und Ausgabenzuwächsen charakterisiert war. Dies hat sich erst seit etwa 2015 verändert – allerdings nicht in jeder Kommune gleichermaßen. Mittlerweile stehen den reichen Kommunen vor allem aus den südlichen Bundesländern arme Kommunen aus den strukturschwachen Regionen in den westlichen und nördlichen Bundesländern gegenüber. Bei den Ausgaben kommt den Sozialleistungen ein wachsendes Gewicht zu: •
Die Zahl der Empfänger:innen von Sozialhilfe und der entsprechenden Ausgaben (insbesondere im Bereich der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen) steigt kontinuierlich an. Und auch bei der Hilfe zur Pflege ist ein Wiederanstieg der Ausgaben zu verzeichnen (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 10.1). • Seit der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 6.2) in das neue Leistungssystem des SGB II (Arbeitslosengeld II und Sozialgeld) müssen die Kommunen weit überwiegend die Kosten für Unterkunft und Heizung und für die sozialen Dienste tragen. Trotz rückläufiger Arbeitslosigkeit bewegt sich die Ausgabensumme seit 2006 auf einem konstant hohen Niveau von rund 12 Mrd. Euro. • Der Ausbau von Tageseinrichtungen für Kinder sowie von Ganztagsangeboten im Schulbereich (vgl. Kapitel „Familie“, Pkt. 8.1) verlangt hohe Investitionen und führt infolge von Personalausgaben, Sachkosten und Zuschüsse an freie Träger zu zusätzlichen und dauerhaften Belastungen in den Verwaltungshaushalten. Obgleich Bund und Land die Kommunen bei dieser Aufgabe finanziell unterstützt haben bzw. sie an anderer Stelle entlastet haben (so durch die Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung durch den Bund), bleibt das Problem eines Verstoßes gegen das Konnexitätsprinzip („Wer bestellt, muss auch bezahlen“). Vom Bund werden Aufgaben übertragen, ohne dass
Finanzierungsprobleme des Sozialstaats
123
sichergestellt ist, dass den Kommunen dafür auch Finanzmittel in voller Höhe zur Verfügung gestellt werden. • Im besonderen Maße gefordert waren und sind die Kommunen durch die hohe Zuwanderung von Asylbewerbern und Schutzsuchenden in den Jahren seit 2015. Obgleich sich die Migrationszahlen deutlich rückläufig entwickeln und der Bund die Kommunen mit einem erheblichen Mitteleinsatz unterstützt, bleiben die Kommunen in der finanziellen und politischen Verantwortung. Zuwanderung äußert sich konkret in den Städten und Gemeinden, hier kommt es darauf an, für die Bleibeberechtigten Integrationsperspektiven zu schaffen, was vor allem die Bereiche Wohnen, Arbeitsmarkt, gesundheitliche Versorgung, Kinderbetreuung, Schule und Qualifikation sowie auch Einkommensleistungen (nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bzw. – nach Anerkennung – nach dem SGB II) betrifft. Soweit dies nicht oder nur unzureichend gelingt, wird das Potenzial für auf flammende soziale Konflikte in den Städten und Stadtteilen gelegt, und zwar vor allem dort, wo sich ohnehin schon die sozialen Problemlagen häufen. Die Kommunen haben über Jahre hinweg auf die gegenläufige Entwicklung von Einnahmen und Ausgaben mit Personalabbau, Leistungseinschränkungen, einer stark rückläufigen Investitionstätigkeit und mit Anhebungen von Gebühren und Beiträgen reagiert. Im Unterschied zum Bund und zu den Ländern haben sie kaum Handlungsmöglichkeiten, ihre steuerliche Einnahmenbasis zu verbessern: Bei den Gemeinschaftsteuern sind sie im Wesentlichen von den Entscheidungen des Bundesgesetzgebers abhängig. Eigenständig gestalten lassen sich lediglich die Hebesätze der Realsteuern (Grundsteuer, Gewerbesteuer). Aufgrund der Konkurrenz der Gemeinden untereinander in dem Bemühen um Wirtschaftsförderung und Unternehmensansiedlung ist der Spielraum zu einer Erhöhung der Gewerbesteuer aber sehr begrenzt. Gerade finanzschwachen Gemeinden in Regionen, die durch wirtschaftliche Strukturkrisen gekennzeichnet sind und die dringend auf Investoren und neue Arbeitsplätze angewiesen sind, ist dieser Weg versperrt. Da die Kommunen in weiten Teilen ihrer Aufgabenerfüllung durch bundes- und landesrechtliche Verpflichtungen gebunden sind (Pflichtaufgaben), konzentrieren sich die Leistungseinschränkungen auf die freiwilligen Aufgaben. Einsparungen erfolgen vor allem durch Veräußerung von Vermögen, Schließung oder Verkauf von Einrichtungen und vom kommunalen Wohnungsbestand (Privatisierung), Reduzierung von Angeboten, restriktive Handhabung von Kann- und Soll-Leistungen, Kürzung von Zuschüssen an freie Träger. Unter dem Druck der Finanzierungskrise in den Kommunen haben sich neue Formen einer flexiblen Haushaltsführung etabliert (Budgetierung, Kontrakt-Management, neue Steuerungsmodelle), von denen nicht nur Einsparungen, sondern vor allem eine effiziente, produkt- und kundenorientierte Leistungserstellung erwartet werden (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 6.2).
124
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
5
Bevölkerungsentwicklung und Finanzierung des Sozialstaates
5.1
Bedingungen und Folgewirkungen des demografischen Umbruchs
Für die Finanzierungsfähigkeit des Sozialstaates sind neben den ökonomischen Bedingungen die Folgewirkungen des demografischen Umbruchs von entscheidender Bedeutung. Es ist bekannt, dass in allen entwickelten Staaten aufgrund der Doppelwirkung einer anhaltend niedrigen Geburtenrate und einer weiter ansteigenden Lebenserwartung in den nächsten Jahrzehnten die Gesamtbevölkerung zurückgehen und sich zugleich die Altersstruktur der Bevölkerung grundlegend verschieben wird. Da insbesondere die ältere Generation zu den Leistungsempfängern im Sozialstaat zählt, wirkt sich hier der demografische Umbruch im besonderen Maße aus: Die Zahl älterer Menschen wächst, während gleichzeitig die Zahl der Menschen im mittleren, aktiven Lebensalter sinkt, die erwerbsfähig sind und die die Finanzierungsmittel für die sozialen Systeme bereitstellen müssen. Diese Probleme betreffen vor allem die Alterssicherungssysteme, neben der Rentenversicherung auch die Beamtenversorgung, die betriebliche Altersversorgung sowie die private Altersvorsorge (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 12). Die ältere Generation ist zahlenmäßig größer als früher und die Phase des Ruhestands dauert länger. Zu Mehrbelastungen kommt es darüber hinaus in der gesundheitlichen Versorgung, im Pflegebereich und im weiten Bereich der sozialen Infrastruktur für ältere Menschen. Ältere Menschen weisen eine höhere Krankheitshäufigkeit als junge auf, insbesondere in Bezug auf chronische Erkrankungen, Multimorbidität und Behinderungen, und verursachen daher im Vergleich pro Kopf im Schnitt deutlich höhere Kosten. Zunehmen werden insbesondere Zahl und Anteil der sehr alten, hochbetagten Menschen (über 80jährige), die ein besonders hohes Risiko der Pflegebedürftigkeit aufweisen (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 1.3). Den steigenden Ansprüchen an die Versorgung mit medizinischen und sozialen Dienstleistungen im Krankheits- und Pflegefall steht eine ebenfalls durch soziale und demografische Strukturverschiebungen beeinflusste Entwicklung gegenüber, die traditionelle familiäre Hilfsformen weniger tragfähig werden lässt. Durch die Scherenbewegung von wachsendem Hilfebedarf und sinkenden/veränderten familiären Selbsthilfemöglichkeiten steigt die Nachfrage nach professionellen ambulanten, teilstationären und stationären sozialen Diensten (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 2.4). Um die Dimensionen der zukünftigen Entwicklung zu ermitteln, müssen mittelund längerfristig orientierte Modellrechnungen vorgenommen werden. Derartige Bevölkerungsvorausberechnungen basieren auf Annahmen über die zu erwartenden demografischen Trends. Je nach Annahme weichen die Ergebnisse erheblich voneinander ab, und zwar umso stärker, je weiter der Blick in die Zukunft reicht. Die Berechnungen sind also mit hohen Unsicherheiten behaftet, und dürfen nicht als Prognosen verstanden werden. Wenn das Statistische Bundesamt in seinen Modellberechnungen unterschiedliche Varianten benennt, so geschieht dies genau aus dem
Bevölkerungsentwicklung und Finanzierung des Sozialstaates
125
Grunde der Unsicherheit. Alle Annahmen sind gleich wahrscheinlich oder unwahrscheinlich. Dies betrifft auch die so genannte „mittlere Annahme“, die nur deshalb in der öffentlichen Wahrnehmung eine so große Rolle spielt, weil unterstellt wird, dass eine „mittlere“ Position eine höhere Wahrscheinlichkeit aufweist. Trotz dieser Einwände gegenüber sehr langfristigen Vorausberechnungen kann es keinen grundlegenden Zweifel an deren Erfordernis geben. Politik ist zwingend auf eine mittelfristige und längerfristige Orientierung angewiesen, da Entscheidungen und Maßnahmen bzw. Nicht-Entscheidungen und Nicht-Maßnahmen langfristige Folgewirkungen haben und nicht ohne weiteres revidierbar sind. Dies gilt im besonderen Maße für die Leistungen der sozialen Infrastruktur und der sozialen Sicherung, die die Lebenslage und die finanziellen Belastungen über Generationen hinweg prägen. Die Älteren von morgen leben heute schon, und die Erwerbstätigengeneration von morgen setzt sich aus den Kindern von heute zusammen. Wie hoch die Zahl der Leistungsempfänger:innen und das Erwerbspersonenpotenzial in Zukunft sein werden, ist also keinesfalls völlig unklar. Bei den demografischen Modellberechnungen kommt es im Wesentlichen auf die Faktoren Geburtenrate, Lebenserwartung und Zuwanderung an. Längerfristige Bevölkerungsvorausberechnungen lassen Entwicklungskorridore sichtbar werden. Sie zeigen aber auch auf, wo es Interventionsmöglichkeiten zur Gegensteuerung gibt. Die Faktoren Geburtenrate und Zuwanderung sind nicht unveränderbar; sie unterliegen Einflüssen, die zu einem Teil (aber nicht insgesamt) auch politisch gestaltbar sind. Geburtenhäufigkeit Die Geburtenziffer liegt (2018) bei etwa 1,6 Kindern je Frau im gebärfähigen Alter. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Geburtenhäufigkeit in den alten Bundesländern seit Mitte der 70er Jahre relativ stabil ist (nach einem deutlichen Rückgang in der zweiten Hälfte der 60er Jahre), während sie in den neuen Bundesländern seit der Wiedervereinigung drastisch rückläufig war, sich aber schnell erholt und auf das westdeutsche Niveau eingependelt hat (vgl. Abbildung II. 14). Die Geburtenziffer steigt seit 2000 zwar leicht an, mit Blick auf die Zukunft spricht aber wenig dafür, dass ein insgesamt grundlegender und dauerhafter Umschwung im generativen Verhalten einsetzt und eine Geburtenrate (von etwa 2,1) erreicht wird, die allein die Konstanz der Bevölkerung sichern würde. Das würde voraussetzen, dass die derzeit hohe Quote der Frauen, die kinderlos bleiben (vgl. Kapitel „Familie“, Pkt. 4.1), zurückgeht und dass zugleich die Kinderzahl je Frau ansteigt. Jedoch dürfen Trends auch nicht einfach fortgeschrieben werden. Der internationale Vergleich zeigt, dass Deutschland zu den Staaten mit der niedrigsten Geburtenhäufigkeit zählt und dass in einer Reihe von europäischen Ländern höhere Geburtenziffern (z. B. Frankreich mit 1,8 und Dänemark mit 1,7 Kindern je Frau) realisiert werden. Um ein solches Niveau zu erreichen, müssen allerdings die Rahmenbedingungen für die Entscheidung, ein Leben mit Kindern zu führen, verbessert werden. Das gilt vor allem für die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Kindererziehung.
126
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Abbildung II.14 Zusammengefasste Geburtenziffer 1980 – 2018 – Durchschnittliche Zahl der Kinder je Frau im gebärfähigen Alter 2 1,94 1,8
Neue Bundesländer
1,73
1,64 1,6
1,54
Alte Bundesländer 1,44
1,52
1,4
1,48
1,46
1,45
1,2 Neue Bundesländer
2)
1,57
1,57
1,41
1,39
1,38
1,60
Deutschland
1,47
1,36
1,34 1,28
1,59
1,61
1,21
1
0,8
0,6
0,84
1980
1985
1990
1995
2000
2005
2010
2011*
2012
2013
2014
2015
2016
2017
2018
Berechnet nach der Geburtsjahrmethode Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Zusammengefasste Geburtenziffern.
Lebenserwartung Für die sozialpolitische Betrachtung der Lebenserwartung bzw. Sterblichkeit sind von Bedeutung sowohl • •
die durchschnittliche Lebenserwartung (bezogen auf ein neugeborenes Kind) als auch die fernere Lebenserwartung (durchschnittliche Restlebenserwartung von Personen, die ein bestimmtes Alter bereits erreicht haben).
Die durchschnittliche Lebenserwartung gibt insbesondere Auskunft über die Zahl der Bevölkerung; je höher die Lebenserwartung desto größer die Bevölkerungszahl – die niedrige Geburtenhäufigkeit wird teilweise kompensiert. Die fernere Lebenserwartung informiert über die noch übrig bleibenden Lebensjahre. Die Summe aus erreichtem Alter und fernerer Lebenserwartung erhöht sich mit zunehmendem Alter, da die Risiken, früh zu sterben, überwunden sind. Die wichtigste Maßgröße ist hier die fernere Lebenserwartung der älteren Menschen (ab einer Altersgrenze von 65 Jahren), die also – in der Regel – nicht mehr erwerbstätig sind und Renten gleich welcher Art erhalten. Da diese Gruppe überwiegend von Ein-
Bevölkerungsentwicklung und Finanzierung des Sozialstaates
127
kommensübertragungen lebt, bedeutet eine Verlängerung der ferneren Lebenserwartung, dass sich die Dauer der Übertragungen verlängert und die Ausgaben in den Alterssicherungssystemen steigen. Die Lebenserwartung ist in allen entwickelten Ländern durch einen langfristigen Anstieg gekennzeichnet. Die mittlere Lebenserwartung liegt 2015/2017 bei 78,4 Jahren (Männer) bzw. 83,2 Jahren (Frauen); die fernere Lebenserwartung von 65jährigen beträgt 17,8 Jahre (Männer) bzw. 21,0 Jahre (Frauen). Für die Zukunft kann von einem weiteren, langsamen Anstieg ausgegangen werden. Dafür sprechen die Trends der zurückliegenden Jahre, die internationalen Vergleiche (die Lebenserwartung in Deutschland liegt im Mittelfeld vergleichbarer Länder) sowie die Erwartungen über Entwicklung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, des medizinisch-technischen und pharmakologischen Fortschritts und der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung (vgl. Abbildung II.15). Die Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes (Variante L1 „Geringer Anstieg“) gehen für 2060 davon aus, dass sich mittlere wie fernere Lebenserwartung erhöhen, und zwar bis auf 20,4 Jahre (Männer) bzw. 23,2 Jahre (Frauen) bei den über 65jährigen. Damit würden Männer ab dieser Altersgruppe im Schnitt 85,4 Jahre und Frauen sogar 88,2 Jahre alt.
Abbildung II.15
Fernere Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren 1901 – 2060 in Jahren
25 23,2 20,4
21,0
21,0 17,8
20,9
20,7
20,7
20,6
20,5
20,4
20,3
20,2
19,9
19,8
19,7
19,6
19,2
17,8
17,7
17,5
17,4
17,3
17,2
17,1
16,9
16,8
16,5
16,3
16,1
15,9
15,1
14,6
15,3 13,2
12,8 13,7
11,9 12,6
10,4 11,1
10
13,8
15
16,4
18,3
20
Vorausberechnung
Frauen
Männer
2060
2015/17
2014/16
2013/15
2010/12
2009/11
2008/10
2007/09
2006/08
2005/07
2004/06
2003/05
2002/04
2001/03
2000/02
1998/00
1993/95
1970/72
1960/62
1949/51
1932/34
0
1901/10
5
Bis 1932/34: Deutsches Reich; 1949/51 bis 1980/82: alte Bundesländer; ab 1991/93: Deutschland; 2060: Annahmen der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung (Variante L1: „geringer Anstieg“) Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Sterbetafel; 14. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung.
128
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Wanderungsbewegung Die zu erwartenden Veränderungen im Umfang und in der Altersstruktur der Bevölkerung hängen nicht allein von der Geburten- und Sterberate ab. Sie werden darüber hinaus auch stark von der Nettozuwanderung (Zuwanderung nach Deutschland abzüglich von Ab- bzw. Rückwanderungen) beeinflusst. In der Vergangenheit haben die Zuwanderungen die jährlichen Geburtendefizite (Saldo von Sterbefällen und Geburten) mehr als ausgeglichen, sodass die Einwohnerzahl in Gesamtdeutschland von 78 Mio. (1970) auf rund 83 Mio. (2018) gestiegen ist (vgl. Abbildung II.16). Die zukünftige Einschätzung der Nettozuwanderung erweist sich als besonders schwierig. Der Trend der Zuwanderung ist nämlich in einem hohen Maße durch politische Entscheidungen und Regelungen bestimmt (z. B. Zuwanderungsgesetz, Ost-Erweiterung der EU, Umgang mit Asylbewerber:innen, Schutzsuchenden und Bürgerkriegsflüchtlingen). Er hängt aber auch ab von den wirtschaftlichen, arbeitsmarktlichen und sozialen Rahmenbedingungen in Deutschland. Die empirischen Befunde zeigen, dass die Nettozuwanderung in Zeiten eines Arbeitsmarktungleichgewichts mit hoher Arbeitslosigkeit und schwacher konjunktureller Entwicklung eher rückläufig ist, bei einem Beschäftigungszuwachs und einer Kräfteknappheit in bestimmten Sektoren, Berufen und Tätigkeitsprofilen wieder zunimmt. Vor allem aber
282.197
1.585.112
1.185.432
997.552
914.241
1.550.721
1.464.724
1.226.493
797.886
1.080.936
711.991
958.299
678.969
798.282
670.605
737.889
682.146
661.855
639.064
780.175
697.632
842.543
623.255
841.158
674.038
802.456
755.358
959.691
677.494
767.555
1.082.553
1.502.198
720.127
782.071
1.139.402
1.134.641
Fortgezogene
Wanderungssaldo
1.365.178
Zugezogene
1.865.122
2.136.954
Abbildung II.16 Wanderungen zwischen Deutschland und dem Ausland 1992 – 2018: Zugezogene, Fortgezogene und Wanderungssaldo
499.944 550.483
368.945
399.680
127.677
219.288
2018
2017
2016
2015
2014
2013
2012
2011
2010*
2008*
2006
2004
2002
2000
1998
1996
1994
1992
-55.743
* Die Daten von 2008 bis 2010 sind nur eingeschränkt mit den anderen Jahren vergleichbar, da Melderegisterbereinigungen durchgeführt worden sind. Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Bevölkerung – Wanderungen.
Bevölkerungsentwicklung und Finanzierung des Sozialstaates
129
hängt die Zuwanderung von der Situation in den Auswanderungsländern ab, wie die Bürgerkriege in Syrien, Afghanistan und im Irak beispielhaft zeigen. Insofern ist es kaum möglich, zuverlässige Prognosen zu erstellen, die weit bis in die Mitte dieses Jahrhunderts hinein reichen. Zu unterscheiden wäre dabei nach verschiedenen Gruppen: Asylbewerber:innen, Arbeitsmigrant:innen einschließlich Familiennachzug aus Drittländern, Zuwanderung von EU-Ausländer:innen und nach deren Alters- und Geschlechterverteilung sowie Qualifikation. Die Altersstruktur der Zu- und Abgewanderten ist deshalb von Interesse, da in der Tendenz die Jüngeren zuwandern, die Älteren abwandern. Insgesamt weisen alle Anzeichen darauf hin, dass der positive Wanderungssaldo, der in Deutschland zwischen 1950 und 1995 über 8 Millionen Menschen betragen hat, nicht abbrechen wird. Dies ist nicht zuletzt angesichts der schnell wachsenden Weltbevölkerung wenig wahrscheinlich. Das Statistische Bundesamt geht in seiner Variante 15 von einem Wanderungssaldo von jährlich 220 000 Personen aus. Die Ereignisse seit 2012/2013 zeigen, dass diese Annahmen wohl zu niedrig gegriffen sind. Allein im Jahr 2015, dem Höhepunkt der Flüchtlingszuwanderung, lag der Wanderungssaldo bei über 1,1 Mio. Personen. In den Jahren danach ist ein deutlicher Rückgang zu registrieren, der aber den Saldo von 200 000 Personen weit übertrifft. Zu bedenken ist dabei, dass die Zuwanderung nicht nur an leistungsstaatliche und finanzielle Grenzen stößt (Ausbau und dauerhafte Sicherstellung von Integrations-, Wohnungs-, Bildungs- und Infrastrukturangeboten für die Zugewanderten), sondern zweifelsohne auch an politische Grenzen, was die Integrationsbereitschaft und -fähigkeit der deutschen Bevölkerung, aber auch die der zugewanderten Bevölkerung betrifft. Es gilt aber in jedem Fall: Selbst bei einem hohen Wanderungssaldo werden die Zuwanderungsgewinne das Geburtendefizit nicht ausgleichen können. Rückgang und Alterungsprozess der Bevölkerung werden gebremst, nicht aber gestoppt. 5.2
Bevölkerungsvorausberechnungen und demografische Belastungen
Nach der Vorausberechnung des Statistischen Bundesamtes (Variante 15) geht die gesamte Wohnbevölkerung von 83 Millionen (2018) auf 80,7 Millionen im Jahr 2040 und auf 74,8 Millionen im Jahr 2060 zurück (vgl. Tabelle II.10). Unter den Annahmen dieser Variante hält sich also der Rückgang der Gesamtbevölkerung in engen Grenzen. Wenn in einem dicht besiedelten Land die Bevölkerungszahl im Jahr 2060 noch immer über dem Niveau von 1960 liegt, kann diese Entwicklung kaum als dramatisch angesehen werden. Dass trotz der niedrigen Geburtenziffer der Bevölkerungsrückgang nur vergleichsweise schwach ausfällt, ist Folge sowohl der Zuwanderung als auch der steigenden Lebenserwartung. Die Zahl der älteren Menschen (65+) wird stark steigen, von 18,5 Mio. im Jahr 2018 auf 22,6 Mio. im Jahr 2040 (und danach in etwa konstant bleiben). Es sind gerade die geburtenstarken Jahrgänge („Baby-Boomer“), die nach
130
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Tabelle II.10 Bevölkerung und demografische Belastungsquotienten 1960 – 2060 Im Alter von < 20
Im Alter von
20 < 65 > 65
Jahr
Bevölkerung in Mio.
1960
20,8
43,9
8,5
1970
23,4
43,9
1980
21,0
1990
Insgesamt
< 20
65
> 80
Kinder/ Jugend-
Alten-
Gesamt-
in % der Bevölkerung
Quotient1) in %
73,2
28,4
11,6
1,6
47,3
19,3
66,6
10,8
78,1
30,0
13,8
2,0
53,4
24,6
78,0
45,3
12,2
78,4
26,8
15,5
2,7
46,3
26,9
73,2
17,3
50,5
11,9
79,8
21,7
14,9
3,8
34,2
23,6
57,8
2000
17,4
51,2
13,7
82,3
21,1
16,6
3,8
34,0
26,8
60,8
2015
15,0
49,8
18,1
82,2
18,3
21,1
5,8
30,3
34,7
65,0
Vorausberechnung 2020
15,3
49,8
18,3
83,4
18,3
21,9
7,1
30,7
36,7
67,4
2030
15,5
46,0
21,4
82,9
18,6
25,9
7,2
33,6
46,6
80,2
2040
14,2
44,0
22.6
80,8
17,6
28,0
9,0
32,3
51,4
83,7
2050
12,3
42,7
22,1
77,8
15,8
28,4
11,4
30,7
51,8
82,4
2060
12,9
39,9
22,0
74,8
17,2
29,4
10,4
32,3
55,2
87,5
1) in % der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, hier: der 20 bis 65jährigen. Vorausberechnung: Variante („Kontinuität bei stärkerer Zuwanderung“) (G1 − L1 − W2) • mittlere bzw. fernere Lebenserwartung im Jahr 2060: 82,5 Jahre (Männer) und 86,4 Jahre (Frauen) • Geburtenhäufigkeit annähernd konstant: 1,4 Kinder je Frau im gebärfähigen Alter • Wanderungssaldo jährlich 220 000 Personen ab 2021 Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), 14. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung.
2020 ins Rentenalter nachrücken. Von größerer Bedeutung ist aber, dass sich der Anteil der älteren Bevölkerung (65 Jahre und älter) an der Gesamtbevölkerung immer weiter erhöht: von etwa 21 % (2018) auf etwa 30 % (2060). Mit anderen Worten: Nahezu jeder Dritte wird dann zur älteren Generation zählen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass mit dem Anstieg der Lebenserwartung auch die Zahl der Jahre ansteigt, die in guter Gesundheit verbracht werden. Im besonderen Maße wird die Zahl der Hochbetagten (80 Jahre und älter) wachsen. Da die Menschen, die diese Altersgrenze erreichen und überschreiten, mit steigender Wahrscheinlich krank und pflegebedürftig werden, ist die Betrachtung der zahlenmäßigen Entwicklung dieser Bevölkerungsgruppe von einem besonderen sozialpolitischen Interesse. Die Vorausberechnungen – wieder in der genannten Variante – gehen davon aus, dass sich die Zahl der Hochbetagten in diesem Zeitraum fast
Bevölkerungsentwicklung und Finanzierung des Sozialstaates
131
verdreifachen wird und dass ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung von 6,5 % (2018) auf 10,4 % (2060) steigt (vgl. ausführlich Kapitel „Alter“, Pkt. 2.1). Hingegen werden sich Zahl und Anteil der Menschen sowohl im jüngeren als auch im mittleren Alter schrittweise verringern. Wenn von der demografischen Alterung der Gesellschaft gesprochen wird, ist diese gegenläufige Entwicklung gemeint. Das Durchschnittsalter in der Bevölkerung steigt. Setzt man nun die ältere Bevölkerung zu der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (20 bis unter 65 Jahre) in Relation, so errechnet sich der Altenquotient. Wie Tabelle II.10 und Abbildung II.17 zeigen, wird der Altenquotient rapide ansteigen: Nach der Modellrechnung liegt er im Jahre 2060 bei 55,2 % und wird sich damit gegenüber 2000 mehr als verdoppeln. 100 Menschen im erwerbsfähigen Alter stehen dann etwa 81 ältere Menschen gegenüber. In der wissenschaftlichen und politischen Debatte ist es üblich geworden, die sozial- und gesellschaftspolitischen Folgewirkungen dieses grundlegenden demografischen Umbruchs als „dramatisch“ zu charakterisieren. Bei der Rentenversicherung, so eine gängige These, sei eine weitreichende Absenkung des Rentenniveaus erforderlich, wenn ein rasanter Anstieg der Beitragssätze und eine Überbelastung der nachrückenden jüngeren Generation vermieden werden sollen.
Abbildung II.17
Demografische Quotienten1): Alten-, Jugend- und Gesamtquotient 1990 – 2060 Vorausberechnung
90
87,5 83,7
80 80,2
78,0 70
60
73,2
Gesamtquotient
66,6
66,3 57,8
67,4
60,8
55,2
53,4
50 47,3
51,4 46,6
46,3
40
34,2
30 24,6
20
82,4
26,9 23,6
34,0
35,7 30,6
36,7 6,7 30,7 0,7
33,6
26,8
51,8 Altenquotient 32,3
32,3
30,7
Kinder- und Jugendquotient
19,3 10
0
1960
1970
1980
1990
2000
2018
1) in % der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (20 bis 65 Jahre) Quelle: Tabelle II.10.
2020
2030
2040
2050
2060
132
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Derartige Schlussfolgerungen sind jedoch vorschnell und verkürzt. Die Verhältnisse erweisen sich als komplexer, da die zukünftigen finanziellen Belastungen des Sozialstaates nicht allein aus der Gegenüberstellung von „älterer“ Bevölkerung und Bevölkerung „im erwerbsfähigen Alter“ abgeleitet werden können. Der Blickwinkel ist zu erweitern: Es geht um die Relation von „Aktiven“ zu „Inaktiven“ insgesamt, d. h. um das Problem, welcher Anteil der Wertschöpfung auf all jene Personen übertragen werden muss, die über kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit verfügen. Die Einkommensübertragungen an ältere Menschen machen nur einen Teil der gesamten Einkommensübertragungen der Erwerbstätigen an die Nicht-, Noch-nichtund Nicht-mehr-Erwerbstätigen aus. Empfänger:innen von Übertragungen sind gleichermaßen Kinder und Jugendliche, die das Erwerbsalter noch nicht erreicht haben: Zwar müssen immer mehr ältere Menschen versorgt werden, aber zugleich sinkt durch die niedrige Geburtenrate der Versorgungsaufwand für jüngere Menschen. Der Kinder- und Jugendquotient, d. h. das Verhältnis der unter 20jährigen zu den 20 bis 60jährigen, geht bis zum Jahre 2050 langsam zurück. Fasst man den Kinder- und Jugendquotienten und den Altenquotienten zusammen, errechnet sich der Gesamtquotient. Sein Anstieg fällt weniger steil aus als der Anstieg des Altenquotienten (vgl. Tabelle II.10 und Abbildung II.17). Aber auch der Gesamtquotient informiert nur ungenau über das Verhältnis zwischen der erwerbstätigen und nichterwerbstätigen Bevölkerung. Denn von der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 65 Jahren sind längst nicht alle Menschen auch tatsächlich erwerbstätig. Nicht erwerbstätig sind Personen in Ausbildung, Hausfrauen, Erwerbsunfähige und Arbeitslose. Auf der anderen Seite geben nicht alle älteren Arbeitnehmer:innen bereits mit 65 Jahren ihre Erwerbstätigkeit auf. Für die Zukunft ist vielmehr damit zu rechnen, dass die Erwerbstätigkeit jenseits des 65. Lebensjahres ansteigt. Auf der anderen Seite bleibt zu fragen, ob der mit dem Lebensalter von 20 Jahren angesetzte Eintrittszeitpunkt in die mittlere Altersgruppe realistisch ist. Wenn immer mehr Jugendliche eine qualifizierte und länger dauernde Ausbildung absolvieren, dann dürfte sich das Berufseintrittsalter in Zukunft nach hinten verschieben. Das wiederum führt zu einer Verringerung der mittleren, erwerbsfähigen Altersgruppe. Notwendig ist also eine genaue Bestimmung der ökonomischen Abhängigkeitsquote, also des Verhältnisses von (nicht erwerbstätigen) Empfänger:innen von Einkommensleistungen und den (erwerbstätigen) Beitragsund Steuerzahler:innen. Bei der Interpretation von Gesamtquotienten ist einschränkend zu bedenken, dass Umschichtungen zwischen abnehmenden Jugend- und ansteigenden Alterslasten keineswegs automatisch erfolgen. Während nämlich der Unterhalt älterer Menschen nahezu vollständig von den steuer- und beitragsfinanzierten Sicherungsinstitutionen getragen wird, muss der individuelle Unterhalt der Kinder und Jugendlichen zu einem großen Teil privat, d. h. von den Eltern, bestritten werden. Eine umstandslose Umschichtung ist allein deswegen nicht möglich, weil durch Steuer- bzw. Beitrags-
Bevölkerungsentwicklung und Finanzierung des Sozialstaates
133
abzüge alle Erwerbstätigen betroffen sind und die Empfänger:innen anonym sind, während die individuellen Ausgaben für Kinder von ihren Eltern finanziert werden. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Belastungen durch die Zunahme der Älteren über der Entlastung liegen, die sich durch den Rückgang der Versorgungsaufwendungen für die Jungen ergibt. So verursachen im Gesundheits- und Pflegebereich die Senioren im Vergleich zu den Jüngeren deutlich höhere Kosten. Bei den öffentlichen Aufwendungen für Kinder und Jugendliche darf schließlich nicht vergessen werden, dass in vielen Bereichen von Geld- und Dienstleistungen noch ein Nachholbedarf besteht (vgl. Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 11). 5.3
Bevölkerungsumbruch und wirtschaftliche Rahmenbedingungen
Generatives Verhalten, Sterblichkeit und Zuwanderung sind wichtige, aber nicht allein ausschlaggebende Determinanten der langfristigen Entwicklung des Sozialstaates. Hinsichtlich der Besetzungsstärke der aktiven Generation kommt es nämlich nicht auf die Zahl der Erwerbsfähigen, sondern auf die Zahl der tatsächlich Erwerbstätigen an. Insofern ist die zukünftige Entwicklung der Erwerbsbeteiligung der Bevölkerung von entscheidender Bedeutung. Demografische Berechnungen müssen also mit Prognosen über die Entwicklung von Arbeitsmarkt, Arbeitslosigkeit und Erwerbstätigkeit kombiniert werden. Auf demografische Vorausberechnungen reduzierte Aussagen geben notwendigerweise ein einseitiges und damit falsches Bild über die Zukunft. 5.3.1 Entwicklung von Erwerbsbeteiligung und Erwerbstätigkeit
Eine entscheidende Zukunftsfrage ist, wie sich das Erwerbspersonenpotenzial entwickeln und zwischen Erwerbstätigen und Erwerbslosen einschließlich stiller Reserve aufteilen wird. Zu unterscheiden ist hier zwischen Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage. Das zukünftige Arbeitsangebot hängt von der Anzahl, Altersstruktur und Geschlechterverteilung der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ab. Zu berücksichtigen sind also gleichermaßen demografische Faktoren wie auch Verhaltensfaktoren, die in der Erwerbsbereitschaft oder -neigung zum Ausdruck kommen. Wenn es dazu kommt, dass sich die Frauenerwerbstätigenquote weiter erhöht und zugleich der Ausstieg aus dem Berufsleben erst später, jenseits des 65. Lebensjahres einsetzt, wird die Entwicklung der Erwerbstätigen einen anderen Verlauf nehmen als die Entwicklung der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Einen demografischen Determinismus gibt es nicht. Dies bedeutet allerdings auch, dass die Zuwanderung einer hohen Zahl von Flüchtlingen noch nicht automatisch zu einer Erhöhung der versicherungspflichtig Beschäftigten führt. Dies wird nur unter bestimmten, jedoch politisch gestaltbaren Voraussetzungen gelingen.
134
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Die Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials ist jedoch nicht mit der Entwicklung der tatsächlich auf dem Arbeitsmarkt realisierten Erwerbstätigkeit gleichzusetzen. Wenn das zunächst konstant bleibende, dann leicht absinkende Erwerbspersonenpotenzial in Zukunft tatsächlich in Erwerbstätigkeit umgesetzt werden soll, müssen nicht nur die (registrierte) Arbeitslosigkeit deutlich verringert und zugleich Personen aus der stillen Reserve in Beschäftigung kommen. Voraussetzung ist auch eine entsprechende und dauerhafte Arbeitsnachfrage. Ob und inwieweit es nun gelingt, das Erwerbspersonenpotenzial auszuschöpfen und die unternehmensseitige Nachfrage nach Arbeit zu erhöhen, ist wesentlich abhängig von den zu erwartenden bzw. zu gestaltenden gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, insbesondere in Bezug auf Wachstum und Produktivität. 5.3.2 Entwicklung von Sozialprodukt, Abgaben und verfügbarem Einkommen
Für die Finanzierung der Sozialleistungen an eine wachsende Zahl älterer Menschen ist es nicht nur entscheidend, wie groß die Zahl der im Erwerbsleben stehenden aktiven Bevölkerung ist und welchen Finanzierungsbeitrag sie über Steuern oder Beiträge leisten. Wichtig für die Zahlungsbereitschaft und Zahlungsfähigkeit im generativen Übertragungsprozess ist gleichermaßen, welche Höhe die individuellen Einkommen haben, die in Zukunft erwirtschaftet werden. Die Einkommensentwicklung entscheidet, ob es gelingt, steigende Beitrags- und/oder Steuerbelastungen auch ohne Realeinkommensverluste zu verkraften. Zu berücksichtigen sind also die gesamtwirtschaftlichen Trends, nämlich die Zuwachsraten von Beschäftigung, Sozialprodukt, Produktivität und Arbeitseinkommen. Der Verteilungskonflikt zwischen den Generationen lässt sich entschärfen, wenn es zu weiter rückläufiger Arbeitslosigkeit, steigenden Erwerbsquoten und Produktions-, Produktivitäts- und Einkommenszuwächsen kommt. Eine einfache Rechnung kann den Zusammenhang verdeutlichen: Wenn ein jahresdurchschnittlicher Anstieg der durchschnittlichen pro-Kopf Arbeitnehmereinkommen (brutto) von real 1,5 % unterstellt wird, errechnet sich in 40 Jahren eine Erhöhung um gut 80 %. Bei einer Erhöhung von 1 % im Jahresdurchschnitt sind es immer noch rund 50 %. Bezieht man sich auf die jahresdurchschnittliche (reale) Wachstumsrate des BIP von ebenfalls 1,5 %, steigt das BIP pro Einwohner noch stärker, da ja die Bevölkerungszahl rückläufig ist. Unter diesen Bedingungen, also aus einem steigenden Wohlstand heraus, müssen und können die demografischen Belastungen bewältigt werden. Welche Abzugsbelastungen und entsprechende Netto-Einkommensentwicklungen können angenommen werden ? Die wechselseitigen Interdependenzen zwischen Bevölkerungsentwicklung, Arbeitsmarkt, Wirtschaftswachstum, Einkommensentwicklung und den Einnahmen und Ausgaben von Sozialversicherung und Gebietskörperschaften müssten in Projektionen modelliert werden, die an dieser Stelle aber nicht möglich sind.
Bevölkerungsentwicklung und Finanzierung des Sozialstaates
•
135
Die Höhe des zu erwartenden Beitragssatzes zur Rentenversicherung hängt neben den demografischen Faktoren entscheidend davon ab, mit welcher Altersgrenze und mit welchem Renteneintrittsalter gerechnet wird. Zum anderen muss entschieden werden, von welchem Rentenniveau ausgegangen wird. Nach einer Projektion des Bundesarbeitsministeriums aus dem Jahr 2016 (Gesamtkonzept der Alterssicherung) wäre ein Einfrieren des Niveaus auf eine sog. Haltelinie von 46 % – dieser Wert würde im Jahr 2026 erreicht – mit einem Beitragssatz von 25,8 % verbunden. Bei einer Garantie des Niveaus von 48 % müsste der Beitragssatz im Jahr 2060 – so die Berechnungen im Gesamtkonzept – 26,9 % betragen. • Es ist davon auszugehen, dass sich auch die Beitragssätze für die Kranken- und Pflegeversicherung erhöhen werden. Hier wirken sich nicht nur die demografischen Faktoren aus, sondern auch die allgemeinen Kostentrends bei den personalintensiven medizinischen und sozialen Dienstleistungen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Rentner:innen Beitragszahlende in der Kranken- und Pflegeversicherung sind. Zugleich bleibt zu bezweifeln, ob mit der Verlängerung der Lebenserwartung auch eine entsprechende Verlängerung der Morbiditäts- und Pflegephase verbunden ist. Es spricht im Gegenteil viel dafür, dass sich bei steigender Lebenserwartung die Phase, in der mit erhöhten Risiken zu rechnen ist, in höhere Altersgruppen verschiebt. Wenn die Erhöhung der Lebenserwartung mit einem Zugewinn an gesunden Lebensjahren verbunden ist, fällt der demografisch bedingte Ausgabenanstieg in der Kranken- und Pflegeversicherung deutlich niedriger aus, als wenn mit einer steigenden Häufigkeit und längeren Dauer von Krankheit und Pflegebedürftigkeit zu rechnen ist (vgl. dazu Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 1.3). • Trotz insgesamt steigender Beitragssätze werden unter der Annahme langfristig steigender Bruttoeinkommen bei den Erwerbstätigen immer noch Nettorealeinkommenszuwächse anfallen. Die Entwicklung vollzieht sich über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten, sprunghafte Beitragssatzanstiege muss es deshalb nicht geben. Die demografischen Belastungen können aus den Zuwächsen der Bruttoeinkommen getragen und ohne Konsumverzicht bewältigt werden. • Werden die zu erwartenden Beitragssätze als zu hoch angesehen, ist nach den Alternativen zu fragen. Sollen die Systeme der Alterssicherung verbreitete Altersarmut vermeiden und der Lebensstandard in der Ruhestandsphase sichern, dann müssen bei einem sinkenden Rentenniveau anderweitige Maßnahmen ergriffen werden, um diese Ziele zu erreichen. Kostenlos ist dies aber nicht zu haben. Die Auswirkungen des demografischen Wandels lassen sich nicht durch andere Finanzierungs- und Leistungssysteme umgehen. Auch der Ausbau der kapitalfundierten Systeme ändert daran nichts. So sind die Sparbeträge bei der Riester-Rente wie auch die arbeitnehmerfinanzierte betriebliche Altersversorgung im Rahmen der Entgeltumwandlung ebenfalls mit Einkommensabzügen verbunden.
136
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Die skizzierten Szenarien dürfen nicht den Eindruck erwecken, dass die Zukunft so und nicht anders aussehen wird. Die Unsicherheiten bei den wirtschaftlichen Prognosen – zumal über einen Zeitraum bis zum Jahr 2060 – sind noch einmal größer als bei den demografischen Vorausberechnungen. Deshalb kann nicht einfach abgewartet und das Eintreffen günstiger ökonomischer Konstellationen unterstellt werden. Kommt es nämlich nicht dazu und muss eine ungünstige wirtschaftliche Entwicklung befürchtet werden, dann müssen die demografischen Belastungen unter den Bedingungen von hoher Arbeitslosigkeit, Wachstumsschwäche und Einkommensstagnation bewältigt werden. Es bedarf also eines aktiven wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Handelns. So lassen sich eine steigende Alterserwerbstätigkeit und die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt nicht einfach per Knopfdruck verordnen. Durch Betriebs-, Arbeitszeit- und Familienpolitik müssen die Voraussetzungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert werden. Ein längerer Verbleib älterer Arbeitnehmer:innen im Beruf setzt voraus, dass entsprechende Arbeitsplätze angeboten werden und sich Betriebe wie Beschäftigte frühzeitig auf eine verlängerte Lebensarbeitszeit vorbereiten. Mit der Heraufsetzung von Altersgrenzen ist es nicht getan – damit wird lediglich festgelegt, dass eine nicht um Abschläge gekürzte Rente erst später bezogen werden kann (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 13.4). Eine besondere Herausforderung stellt die Aufgabe dar, die große Zahl von Zuwanderern nicht nur aufzunehmen, sondern auch tatsächlich zu integrieren. Vorausschauende Maßnahmen in allen Teilbereichen der Sozial- und Gesellschaftspolitik sind gefordert, wenn soziale Probleme vermieden werden sollen. Inwieweit Beitragssatzanhebungen in der skizzierten Größenordnung als tragbar angesehen werden, hängt nicht nur von der Einschätzung ihrer ökonomischen Rückwirkungen ab, sondern von der politisch-psychologischen Bewertung steigender Abgaben. Obgleich es sich um zukünftige, erst langfristige und schrittweise auftretende Entwicklungen handelt, werden die hohen Beitragssätze in der politischen Diskussion auf die Gegenwart bezogen; kurzfristiger Handlungsbedarf erscheint geboten. Vernachlässigt wird dabei, dass höhere Beitragssätze in der Zukunft womöglich leichter zu verkraften sind als niedrigere Beitragssätze in der Gegenwart. Freilich können steigende Beitrags- und Steuerabzüge, selbst wenn sich die Nettoeinkommen real erhöhen, mit nachlassender Akzeptanz verbunden sein. Die Schere zwischen verfügbaren Nettolöhnen auf der einen Seite und Arbeitskosten auf der anderen Seite, wie sie in der betrieblichen Kostenrechnung zu Buche schlagen (Bruttoarbeitsentgelt zuzüglich Arbeitgeberbeiträge und anderer Lohnnebenkosten), wird immer größer. Diese hohe Grenzbelastung durch Abgaben („Wie viel bleibt von einem Mehrverdienst noch übrig ?“) dürfte nicht ohne Konsequenzen bleiben und den Anreiz zum Ausweichen in Schattenarbeit erhöhen.
Wechselwirkungen zwischen Sozialpolitik und ökonomischem System
6
Wechselwirkungen zwischen Sozialpolitik und ökonomischem System
6.1
Sozialstaat in der Kritik
137
Das sozialstaatliche System mit seinen Ausgaben- und Finanzierungsströmen hat vielfältige Rückwirkungen auf den ökonomischen Prozess. Zugleich berühren Veränderungen der ökonomischen Verhältnisse wiederum die Sozialpolitik. Verfolgt man die politische und wissenschaftliche Diskussion über Richtung und Ergebnisse dieses Zusammenhangs, so nimmt die These, wie sie vor allem aus wirtschaftsliberaler Sicht vertreten wird, einen breiten Raum ein, dass der Sozialstaat hinsichtlich seiner Regulierungsdichte und Dimension sowie seiner Leistungs- und Finanzierungsprinzipien eine eher kontraproduktive Wirkung auf das ökonomische System habe. Sozialpolitik wird als (mit)verantwortlich angesehen für Wachstumsprobleme, für Nachteile im globalisierten Wettbewerb und für Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt. Nach dieser Kritik ist das System der sozialen Sicherung also nicht nur teuer, sondern gefährdet auch die wirtschaftlichen Grundlagen und entzieht sich damit die eigene materielle Basis. Eine Auseinandersetzung mit dieser These setzt voraus, die unterschiedlichen Argumentationslinien auseinander zu halten und zu systematisieren. Folgende Kritikpunkte stehen im Mittelpunkt der Debatte und dienen als Begründung für den Abund Umbaus des Sozialstaates: •
Sozialstaat als Wachstumsbremse: Durch die vielfältigen Eingriffe des Sozialstaates in den Marktprozess werden Ressourcen fehlverwendet und die Wachstumskräfte der Volkswirtschaft geschwächt. Die Aufwendungen für konsumtive Sozialleistungen belasten Unternehmen und Arbeitnehmer:innen, überbeanspruchen die öffentlichen Haushalte und begrenzen öffentliche und private Investitionen. Zugleich beeinträchtigen die hohen Abgaben die Bereitschaft mehr zu arbeiten und zu leisten; Selbstverantwortung und Eigeninitiative werden geschwächt. • Überbelastung des Faktors Arbeit: Die über Arbeitnehmerbeiträge und Arbeitgeberbeiträge (Lohnnebenkosten) am Faktor Arbeit ansetzende Finanzierung der Sozialversicherung führt zu steigenden Arbeitskosten. Die Kosten lassen sich am Markt nicht mehr realisieren, Arbeitsplätze werden gefährdet und abgebaut. • Soziale Sicherung als Beschäftigungssperre: Die Sozialleistungen an Arbeitssuchende sind fehlerhaft ausgestaltet und im Niveau zu hoch bemessen. Der Abstand zum Arbeitseinkommen ist zu gering; es lohnt sich für die Leistungsempfänger:innen nicht, aus der Arbeitslosigkeit heraus niedrig bezahlte Arbeit aufzunehmen. Es entsteht eine „Arbeitslosigkeitsfalle“. • Sozialstaat als Hindernis im Prozess der Globalisierung: Im verschärften internationalen Wettbewerb kann der Standort Deutschland mit seinen hohen Ar-
138
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
beitskosten, Sozialstandards und Abgabenbelastungen nicht mehr mithalten; die Wettbewerbsfähigkeit wird gefährdet, Arbeitsplätze und Investitionen werden ins Ausland verlagert. 6.2
Sozialstaat und wirtschaftliche Dynamik
Die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland ist durch ein kontinuierliches Wachstum des Sozialprodukts geprägt. Verfolgt man die Entwicklung seit 2000, so zeigt sich im europäischen Vergleich ein Zuwachs von etwa 30 %, der in etwa dem EU-Durchschnitt (EU 28) entspricht. Die nachholenden mittel- und osteuropäischen Länder liegen höher, aber auch die entwickelten Wohlfahrtsstaaten wie Schweden und Dänemark übertreffen Deutschland. Aus diesen Befunden lässt sich daher nicht ablesen, dass ein kostenintensives Netz der sozialen Sicherung sich als Hindernis für die wirtschaftliche Dynamik auswirkt und den Anforderungen eines Marktes entgegensteht, der durch einen steigenden internationalen Konkurrenzdruck gekennzeichnet ist. Auch gibt es keine Befunde, die im Fall von Deutschland von einem expansiven Sozialstaat sprechen lassen: •
Die Sozialleistungsquote ist in den letzten Jahrzehnten weitgehend unverändert geblieben (vgl. Pkt. 2.2 dieses Kapitels). Das gleiche gilt für die Staatsquote. • Auch die gesamtwirtschaftliche Abgabenquote verläuft bemerkenswert konstant. Gerade bei den höheren Einkommen lässt sich eine leistungshemmende Belastung durch steigende Steuer- und Beitragsabzüge nicht erkennen. Im Zuge der Steuerreformen ist es mehrfach zu Steuerentlastungen gekommen. Dies trifft insbesondere für die Unternehmenssteuern zu (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 3). • Im europäischen Vergleich der Sozialleistungs- und Abgabenquoten liegt Deutschland im Mittelfeld. Insgesamt zeigt sich, dass es wischen Sozialleistungs-, Staats- und Abgabenquoten einerseits und Wachstumsraten keine eindeutigen Zusammenhänge gibt. Diese Unbestimmtheit erklärt sich auch daraus, dass zwar der Sozialstaat in den gesamtwirtschaftlichen Kreislauf eingreift, der Volkswirtschaft aber keine Mittel entzieht. Da Sozialpolitik Umverteilungspolitik ist, bleiben die für die Finanzierung der sozialen Sicherung benötigten Einnahmen nicht in den Haushalten von Gebietskörperschaften und Sozialversicherungsträgern stecken. Die Gelder fließen als durchlaufende Posten in die Privathaushalte zurück. Es handelt sich realwirtschaftlich um eine Verlagerung von Einkommens- und Konsumansprüchen auf andere Personen bzw. um eine zeitliche Verlagerung im Lebensverlauf. Verändern kann sich freilich die Einkommensverwendung, wenn man etwa unterstellt, dass Sozialleistungsempfänger:innen aufgrund ihrer insgesamt schlechteren Einkommens- und Versorgungslage einen größeren Teil ihres Einkommens konsumieren als dies diejenigen tun, de-
Wechselwirkungen zwischen Sozialpolitik und ökonomischem System
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ren Einkommen durch den Abzug von Beiträgen und Steuern gemindert worden ist. Die gesamtwirtschaftliche Konsumnachfrage kann sich also vergrößern. Dies ist gerade in Krisenzeiten wichtig, da Sozialpolitik Einkommensausfälle bei Arbeitslosigkeit teilweise kompensiert und damit die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stabilisiert (eingebauter Konjunkturstabilisator). Das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Sozialpolitik darf also nicht als Einbahnstraße missverstanden werden, charakteristisch sind die wechselseitigen Beziehungen: Einerseits ist das System der sozialen Sicherung von der Leistungskraft des privaten Sektors abhängig, da die Finanzmittel aus der Wertschöpfung gespeist werden, also nur das verteilt werden kann, was produziert wurde. Erst eine leistungsfähige Wirtschaft schafft die Voraussetzungen für die Verteilung und Finanzierung eines hohen Sozialleistungsniveaus. Andererseits wirkt das soziale System selbst als produktiver Faktor positiv auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft zurück. Die positive Rückwirkung zu quantifizieren, ist allerdings nur schwer möglich. So entsteht das Problem, dass zwar die Kosten des Sozialstaates bekannt sind, laufend ausgewiesen werden und sich einzelwirtschaftlich zurechnen lassen, dass sich aber der Nutzen, da er nur in gesamtwirtschaftlicher und gesamtgesellschaftlicher Sicht erkennbar ist, nicht exakt beziffern und noch weniger zurechnen lässt. Gleichwohl lassen sich zentrale Punkte benennen: •
Offensichtlich ist der produktive Beitrag der Sozialausgaben hinsichtlich ihrer investiven Wirkungen in das Humankapital. Sie sichern die Gesundheit und die langfristige Arbeitsfähigkeit der Arbeitskraft und vermeiden vorzeitigen Verschleiß. Die Arbeitsbereitschaft wird gefördert und so die Arbeitsproduktivität erhalten und gesteigert. An erster Stelle sind hier die Leistungen des Arbeitsschutzes, der Gesundheitsförderung und -sicherung und der Rehabilitation zu nennen (vgl. Kapitel „Arbeit und Gesundheitsschutz“). • Sozialpolitik sichert und fördert die Qualifikation der Beschäftigten durch Maßnahmen der Ausbildung und Weiterbildung, befähigt sie, sich dem technologischen und ökonomischen Strukturwandel und den Anforderungen der Digitalisierung offensiv anzupassen, statt sich gegen Veränderungen zu stemmen. Das gilt im Besonderen für die Absicherung gegen die Beschäftigungsrisiken sowie für die aktive Arbeitsmarktpolitik (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“). • Eine eindrucksvolle Bestätigung haben die positiven ökonomischen Wirkungen des deutschen Sozialstaatsmodells in der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2008 gefunden. Trotz des tiefen Einbruchs des BIP ist es gelungen, Einbrüche bei der Beschäftigung weitgehend zu vermeiden und einen schnellen Wiederaufschwung einzuleiten: Der Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente (vor allem Kurzarbeit) wie auch das Zusammenwirken der Betriebs- und Tarifvertragsparteien in Richtung von Beschäftigungspakten und temporären Arbeitszeitverkürzungen haben dafür gesorgt, dass Massenentlassungen vermieden und die Belegschaften in den Unternehmen gehalten worden sind.
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Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
• Auch Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie (Kindertagesbetreuung, Pflegezeit, Elternzeit) und zur Förderung der Beschäftigung von älteren Arbeitnehmer:innen haben einen investiven und produktiven Charakter. Sie tragen dazu bei, die Beschäftigungsquote zu erhöhen und führen deshalb zu einer leichteren Bewältigung der demografischen Herausforderungen. • Die politisch-gesellschaftliche Stabilisierungs- und Integrationsfunktion des sozialstaatlichen Systems ist eine entscheidende Voraussetzung für ein leistungsfähiges Wirtschaftssystem. Ohne eine garantierte soziale Absicherung gegen die sozialen Risiken und Wechselfälle des Lebens wäre der Einsatz motivierter und qualifizierter Arbeitskräfte nicht möglich. In fortgeschrittenen, individualisierten Gesellschaften, die unter einem erheblichen Modernisierungsdruck stehen, ist soziale Unsicherheit kein Leistungsanreiz, sondern eine Gefahr für die gesellschaftliche Integration. • Nicht zuletzt schafft und sichert der Sozialstaat Arbeitsplätze, insbesondere im weiten Komplex sozialer und gesundheitlicher Dienste. So war die Einführung der Pflegeversicherung zwar mit Beitragsbelastungen verbunden, aber zugleich hat die Pflegeversicherung durch ihre Sach- und Dienstleistungen zu einem deutlichen Anstieg der Pflegedienste und der Zahl der dort Beschäftigten geführt (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 7.2). Die Orientierung der Sozialpolitik auf die wirtschaftliche Leistungskraft ist jedoch kein Selbstzweck. Die Erhöhung von Wachstum, Produktivität und Beschäftigung kann nur dann als Erfolgsmaßstab gelten, wenn über diesen Weg die Lebensbedingungen der Bevölkerung verbessert werden. Eine so verstandene Mehrung der individuellen und gesellschaftlichen Wohlfahrt greift über ökonomische Indikatoren weit hinaus und umfasst auch solche Merkmale wie soziale, politische und kulturelle Teilhabe, gleichwertige Lebensbedingungen, sozialer Ausgleich, soziale Sicherheit und Armutsvermeidung. Sozialstaat und soziale Gesellschaft sind insofern eigenständige Wohlfahrtsindikatoren, deren Wert möglicherweise entgangenen Wachstumssteigerungen entgegengestellt werden muss. 6.3
Sozialstaat, Arbeitskosten, Lohnnebenkosten und Arbeitsnachfrage
In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit gewinnt die kritische Aussage an Gewicht, der Sozialstaat selbst sei ein entscheidender Grund für die Entstehung und Verfestigung der Beschäftigungsprobleme. Diese These bezieht sich nicht nur auf die Rückwirkungen der Sozialpolitik auf Wachstum und Beschäftigungsniveau aus makroökonomischer Perspektive, sondern beruht auch auf einer mikroökonomischen Sichtweise. Arbeitslosigkeit wird als Gleichgewichtsstörung auf dem Arbeitsmarkt interpretiert und gilt dann als durch den Sozialstaat verursacht, wenn sich Angebot und Nachfrage nach Arbeit infolge sozialpolitischer Regelungen und Leistungen und deren Auswirkungen
Wechselwirkungen zwischen Sozialpolitik und ökonomischem System
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auf das Verhalten der Beteiligten nicht ausgleichen können. Zu unterscheiden ist also zwischen den Auswirkungen der Sozialpolitik auf die Nachfrage am Arbeitsmarkt, die von den Unternehmen getätigt wird, und auf das Angebot am Arbeitsmarkt, das von den Arbeitskräften ausgeht. „Sozialstaatsinduzierte Arbeitslosigkeit“ bezogen auf die Arbeitsnachfrage wird aus Sichtweise der mikroökonomisch-neoklassischen Arbeitsmarkttheorie durch folgende Faktoren hervorgerufen: •
Das Niveau der Arbeitskosten gilt wegen der hohen Lohnnebenkosten und vor allem wegen des gesetzlichen Mindestlohns als zu hoch, mit der Folge einer rückläufigen Arbeitsnachfrage und einer Substitution von Arbeit durch Kapital (technologische Rationalisierung) oder einer Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland. • Im unteren Bereich des Arbeitsmarktes, auf dem Feld von Arbeiten mit niedrigen Qualifikationsanforderungen insbesondere im Dienstleistungssektor, verhindern die zu hohen Arbeitskosten das Entstehen von so genannten Einfacharbeitsplätzen. Infolge der Grundsicherung und des gesetzlichen Mindestlohns sind die Löhne nach unten hin nicht offen. Dadurch rechnet es sich für die Unternehmen nicht, niedrigproduktive Arbeitsplätze bereitzustellen. Sind Dienstleistungen, auf die nicht unbedingt zurückgegriffen werden muss, zu teuer, werden sie nicht am Markt nachgefragt sondern eher in Eigenarbeit erledigt. • Sozialpolitisch begründete arbeits- und tarifrechtliche Regelungen für einzelne Arbeitnehmergruppen wirken kontraproduktiv, da z. B. der Kündigungsschutz sowie besondere Arbeitszeit- und Arbeitsschutzvorgaben die Kosten für die Unternehmen erhöhen und Inflexibilitäten schaffen. Sind aber die Kosten für die geschützten Personengruppen im Verhältnis zu ihrem Ertrag zu hoch, rentiert sich die Beschäftigung für die Unternehmen nicht; statt Ältere oder Schwerbehinderte werden Jüngere eingestellt. Arbeitslosigkeit und weitere Beschäftigungsbenachteiligungen, die durch soziale Schutzgesetze bekämpft werden sollen, werden durch diese Eingriffe also erst geschaffen. Bei einer Auseinandersetzung mit diesen Argumentationslinien steht die Kontroverse über den Zusammenhang von Lohn- bzw. Arbeitskosten und Beschäftigung im Mittelpunkt. Strittig ist vor allem die These, schon aus rein binnenwirtschaftlicher Sicht sei ein möglichst niedriges Arbeitskosten- und damit Lohn- und Sozialniveau die entscheidende Voraussetzung für mehr Beschäftigung. Empirische und theoretische Analysen zeigen indes, dass diese Argumentation wenig tragfähig ist. Denn die dahinterstehende Vorstellung, der Grad der Beschäftigung hänge unmittelbar von der Lohnhöhe ab, und bei hinreichend niedrigem Lohn stelle sich immer Vollbeschäftigung ein bzw. werde unfreiwillige Arbeitslosigkeit überwunden, verabsolutiert das abstrakte, auf die kurze Frist ausgerichtete mikroökonomische Marktgleichgewichtmodell und klammert alle typischen Besonderheiten des Arbeitsmarktes aus:
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Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Die Erwartung, über niedrigere Arbeitskosten und entsprechend niedrige Preise die Nachfrage zu beleben und über diesen Weg die Beschäftigung zu steigern, lässt die Nachfragefunktion des Lohnes und die Rückkopplung des Arbeitsmarktes mit den Gütermärkten außer Acht. Bei der Arbeitsnachfrage der Unternehmen handelt es sich um eine aus dem am Markt absetzbaren Produktions- bzw. Dienstleistungsvolumen abgeleitete Nachfrage. Nicht unterschieden werden die kurz- und langfristige Perspektive. Deshalb wird die längerfristige Rückkopplung der Lohnhöhe mit dem arbeitssparenden technischen Fortschritt übersehen und die Funktion der Lohnentwicklung als Antrieb der Produktivitätsentwicklung und somit der wirtschaftlichen Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit eines Landes vernachlässigt. Die Empirie des Arbeitsmarktes liefert keine Hinweise für ein überzogenes Lohnniveau, wie Höhe und Entwicklungsverlauf der Lohnstückkosten einschließlich der Lohnnebenkosten zeigen (vgl. Pkt. 3.7.2 dieses Kapitels). Die These, dass eine nivellierte Lohnstruktur den Aufbau einfacher Dienstleistungsarbeitsplätze verhindere, steht quer zur Realität. Wie Verteilungsanalysen erkennen lassen, müssen Niedriglöhne nicht geschaffen werden, denn sie existieren bereits. Die praktizierte Niedriglohnstrategie hat aber nicht dazu geführt, dass dadurch zusätzliche Arbeitsplätze entstanden sind. Vielmehr hat sich über viele Jahre hinweg am Arbeitsmarkt ein Substitutionsmechanismus entfaltet; billigere Arbeit hat teurere Arbeit verdrängt. Ein Beispiel für diesen Substitutionseffekt ist die Ausweitung der sozialversicherungsfreien, häufig prekären Beschäftigungsverhältnisse zu Lasten sozialversicherungspflichtiger, arbeits- und tarifrechtlich abgesicherter Arbeitsverhältnisse. Mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 2015 ist es keinesfalls zu einem Rückgang der Beschäftigung gekommen, wie dies von vielen Ökonomen immer wieder vorhergesagt wurde. Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich sind nicht entfallen, sondern die Beschäftigten sind besser bezahlt worden. Die schlechten Beschäftigungschancen einzelner Personengruppen und die personelle Strukturierung der Arbeitslosigkeit (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 5.4) sind Folge eines Selektions- und Verdrängungseffektes von Arbeitskräften beim Zugang in die Arbeitslosigkeit und beim Abgang aus der Arbeitslosigkeit. Sozialpolitische Schutzregelungen sind eine Antwort auf dieses Problem. Ohne diese Regelungen sähe die Situation von Menschen mit Behinderungen oder Älteren noch schlechter aus. Gleichwohl ist bei der konkreten Ausgestaltung der personengruppenbezogenen Schutzpolitik darauf zu achten, dass sich einzelne Regelungen nicht als berufliches Einstiegshemmnis auswirken. Elternzeit, familienpolitisch motivierte Freistellungs- und Teilzeitansprüche können sich erst dann nicht mehr gegen die Beschäftigung von Frauen auswirken, wenn die Unternehmen erwarten müssen, dass auch Väter von ihnen Gebrauch machen.
Wechselwirkungen zwischen Sozialpolitik und ökonomischem System
6.4
143
Soziale Sicherung und Arbeitsangebot
Die Sozialpolitik wirkt auf vielfältige Weise, in unterschiedlicher Richtung und mit jeweils besonderen Zielsetzungen auf das Arbeitsangebot ein. Frage, ob es sich für Arbeitslose überhaupt lohne, eine Arbeit aufzunehmen, da es sich aufgrund der hohen Sozialleistungen ohne Arbeit besser als mit (niedrig entlohnter) Arbeit leben lasse, markiert nur einen Ausschnitt aus der ganzen Spannweite der Wechselbeziehungen zwischen Sozialpolitik und Arbeitsangebot. Das Verhältnis zwischen Erwerbsarbeit und Sozialleistungen ist im System der sozialen Sicherung eindeutig definiert: Zur Bestreitung des Lebensunterhalts muss vorrangig die eigene Arbeitskraft eingesetzt werden. Ein Wahlrecht zwischen der Einkommenserzielung durch Erwerbsarbeit oder dem Bezug von Sozialleistungen, wie es in den Konzepten eines bedingungslosen Grundeinkommens vertreten wird (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 9.1) gibt es nicht. Nur dann, wenn Erwerbsarbeit wegen fehlender Arbeitsfähigkeit (Krankheit, Invalidität, Alter, Kindererziehung, Behinderung) oder wegen fehlender Arbeitsplätze (Arbeitslosigkeit) nicht (mehr) möglich oder zumutbar ist, besteht ein Anspruch auf Sozialleistungen. Durch das lohn- und beitragsorientierte Sozialversicherungssystem werden zugleich Arbeitsanreize gesetzt, da die Höhe der Absicherung entscheidend von der Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung und deren Dauer sowie von der Höhe des Verdienstes abhängt. So werden bei der Rentenversicherung im Unterschied zu einem Grundrentensystem nur bei einer langjährigen Erwerbsbeteiligung ausreichend hohe Renten gezahlt (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.5.2). Die Möglichkeit, ohne Erwerbseinkommen und nur mit Sozialleistungen leben zu können, hängt von der Leistungshöhe, der Leistungsdauer und den Bezugsvoraussetzungen ab. Je niedriger die Leistungen und je kürzer die Bezugsdauer, umso größer der materielle Druck, möglichst die Erwerbstätigkeit aufrechtzuerhalten bzw. möglichst schnell wieder aufzunehmen. Ganz generell lässt sich feststellen, dass die sozialversicherungsrechtlichen Lohnersatzleistungen in ihrem Niveau so bemessen sind, dass sie stets unterhalb des vorherigen Arbeitseinkommens liegen. Die These, ohne Erwerbsarbeit lebe es sich besser als mit, trifft nicht zu. Dies gilt nicht nur aus materiell-finanzieller Sicht. Qualitative Studien kommen zu dem Ergebnis, dass sich die Menschen bei der Aufnahme von Erwerbsarbeit nicht vorrangig an monetären Nutzen-Kosten-Kalkülen orientieren. Die Anreizstrukturen und das tatsächliche Verhalten der Menschen können nicht gleichgesetzt werden, da andere Faktoren und Beweggründe für die Bereitschaft zur Erwerbstätigkeit viel entscheidender sind. Im Falle von Arbeitslosigkeit fallen die Einkommenseinbußen besonders hoch aus: Bei der Versicherungsleistung „Arbeitslosengeld“ sind Verluste von bis zu 45 % zu verkraften (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 6.2.2). Und das bedürftigkeitsgeprüfte Arbeitslosengeld II deckt lediglich das sozial-kulturelle Existenzminimum ab und liegt damit in aller Regel deutlich unter dem Einkommensniveau bei Erwerbstätigkeit. (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 6.1.2)
144
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Sozialleistungen an erwerbsfähige, aber arbeitslose Personen sind zudem mit Zumutbarkeitsanforderungen und im Fall der Verweigerung einer Arbeitsaufnahme mit finanziellen und administrativen Sanktionen verbunden. Einen Einkommens- und Statusschutz sieht die Grundsicherung nicht vor – im Grundsatz muss jedwede Arbeit angenommen werden, und bei der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld verringert sich der Einkommensschutz mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 6.2.3). In den zurückliegenden Jahren sind sowohl die Zumutbarkeitsanforderungen verschärft als auch die Leistungen bei Arbeitslosigkeit mehrfach abgebaut worden, begründet jeweils damit, den Anreiz zur Arbeitsaufnahme zu erhöhen und unechte, weil freiwillige Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Positive Effekte auf dem Arbeitsmarkt sind dadurch nicht eingetreten. Dies zeigt, dass Arbeitslosigkeit keine Folge fehlender Bereitschaft ist, freie, niedrig entlohnte Arbeitsplätze zu besetzen. Repräsentative empirische Befunde (und nicht nur Einzelbeispiele) für eine verbreitete Erscheinung von Arbeitsunwilligkeit, mangelnder Mobilitätsbereitschaft und unzureichendem Anpassungsverhalten gibt es nicht. Durch einen größeren finanziellen und administrativen Druck, Arbeit aufzunehmen, entstehen nicht plötzlich neue Arbeitsplätze. Das Kernproblem ist das gesamtwirtschaftliche Arbeitsmarktungleichgewicht mit einer Diskrepanz zwischen offenen Stellen und Arbeitsuchenden. Wäre es anders, dann müsste die hohe Arbeitslosigkeit in bestimmten Regionen mit regional und örtlich spezifischen Verhaltensmustern der Arbeitslosen erklärt werden. Davon kann aber keine Rede sein. Von großer Bedeutung für das Arbeitsangebot sind die Regelungen der Rentenversicherung. Durch die Festlegung von Altersgrenzen, die zum Bezug einer Altersrente berechtigen, konstituiert sich die Lebensphase des Alters, in der Erwerbstätigkeit wohl noch möglich wäre, aber nicht mehr eingefordert wird. Der Zeitpunkt des Übergangs in die Nach-Erwerbsphase ist primär sozialpolitisch bestimmt, aber auch finanzierungs- und arbeitsmarktpolitische Gründe spielen eine entscheidende Rolle. Die Vorverlegung der Altersgrenze galt lange Zeit als ein bewusst eingesetztes Instrument, um das Arbeitsangebot älterer Arbeitnehmer:innen zu reduzieren und den Arbeitsmarkt zu entlasten. Die gegen Ende der 90er Jahre einsetzende Anhebung der vorgezogenen Altersgrenzen und die 2012 in Kraft getretene schrittweise Heraufsetzung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre sind hingegen Maßnahmen nicht nur zur Ausgabenminderung bei der Rentenversicherung sondern auch zur Ausweitung des Erwerbspersonenpotenzials. Vergleichbare Rückwirkungen auf die Angebotsseite des Arbeitsmarktes haben die Regelungen zur Anerkennung einer Rente wegen Erwerbsminderung (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.4.2). Das Sozialleistungssystem fördert zugleich das Arbeitsangebot. So zielen die Rehabilitationsmaßnahmen im Bereich der Kranken-, Renten- und Unfallversicherung sowie der Arbeitsverwaltung darauf ab, die Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen und die Wiedereingliederung in das Arbeitsleben zu ermöglichen. Maßnahmen der Arbeitsförderung (Umschulung, Fortbildung, Mobilitätshilfen, Trainingskurse usw.) sollen
Wechselwirkungen zwischen Sozialpolitik und ökonomischem System
145
Qualifikation und Vermittlungsfähigkeit von Arbeitslosen verbessern (vgl. Kapitel „Qualifikation“, Pkt. 10.2). Widersprüchliche Auswirkungen auf das Arbeitsangebot insbesondere von Frauen haben die Maßnahmen der Familienpolitik: Auf der einen Seite gibt das Sozialleistungssystem Ehepartnern vielfältige Anreize, nicht, oder nur geringfügig erwerbstätig zu sein. Orientiert wird auf Frauen und Mütter und das traditionelle Leitbild der Ernährer- und Hausfrauenehe. In diese Richtung einer längeren Unterbrechung oder gar Aufgabe der Berufstätigkeit wirken vor allem die Mitversicherung in der Krankenversicherung, die Hinterbliebenenrente sowie das Ehegattensplitting im Steuerrecht. Auf der anderen Seite stehen Regelungen, die helfen sollen, die Erwerbstätigkeit trotz Erziehungsaufgaben nicht aufzugeben und Beruf und Familie parallel miteinander zu vereinbaren. Beispiele dafür sind die Eltern(teil)zeit, das Elterngeld und der Ausbau der Infrastruktur für Kinder (Tageseinrichtungen usw.). Diese Widersprüchlichkeit ist Ausdruck des sich wandelnden Frauen- und Familienleitbildes (vgl. Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 2). 6.5
Sozialstaat, internationaler Wettbewerb und Globalisierung
Die Befürchtungen wachsen, dass im Zeichen der Globalisierung die in einem hohen Maße auf den Export angewiesene Bundesrepublik (mit einem Exportanteil von mehr als einem Drittel des Bruttoinlandsprodukts) ihren hohen Sozialstandard in der Konkurrenz zu anderen Staaten mit anderen sozialpolitischen Systemen nicht mehr halten kann. Versteht man unter Globalisierung die wachsende wirtschaftliche Verflechtung der Nationalstaaten durch den Handel mit Waren und Dienstleistungen sowie die Mobilität von Kapital, Technologie und Arbeit, so hat sich infolge der Liberalisierung von Welthandel und internationalen Kapitalmärkten, der Verbilligung der Transportkosten und der Herausbildung neuer Informationssysteme der Wettbewerbsdruck zweifelsohne verschärft. Unübersehbar ist auch, dass es längst nicht mehr nur um die traditionelle Konkurrenz nationaler Endprodukte geht; durch die Existenz transnationaler, global operierender Unternehmen stehen ganze Produktions- und Dienstleistungsstandorte und Volkswirtschaften in Konkurrenz zueinander. Der Faktor Kapital wird international mobil, während demgegenüber der Faktor Arbeit naturgemäß weitgehend stationär bleibt (allerdings kommt es auch hier vermehrt zur Wanderung von Arbeitskräften aus Niedriglohnländern in die wohlfahrtsstaatlichen Hochlohnländer Europas – mit einem entsprechenden Druck auf die Lohnsätze). Als eine besondere Form der Globalisierung lässt sich schließlich die Internationalisierung der Finanz- und Kapitalmärkte bezeichnen. Die Frage ist, ob die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem sozialstaatlichen System in diesem Konkurrenzkampf unterliegt. Zunächst ist darauf zu verweisen, dass im Wettbewerb neben der preislichen Komponente auch andere Faktoren wie Qua-
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Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
lität, Produktinnovation, Service usw. von maßgeblicher Bedeutung sind. Bezieht man sich auf die Hauptkomponente der preislichen Wettbewerbsfähigkeit, auf die Arbeitskosten, liegt es auf der Hand, dass diese nicht in ihrer absoluten Höhe zu bewerten sind. Es ist bekannt, dass der Lebensstandard in Deutschland und damit die Arbeitskosten je Stunde höher liegen als beispielsweise in den Ländern Asiens oder Osteuropas, aber auch höher als in vielen OECD- und EU-Ländern. Ein aussagefähiger Indikator für die kostenseitige Wettbewerbsfähigkeit eines Landes ist die Entwicklung der Lohnstückkosten, also die Arbeitskosten in ihrem Verhältnis zur Stundenproduktivität (vgl. Pkt. 3.7.2 dieses Kapitels). Betrachtet man die Entwicklung der Lohnstückkosten in der Bundesrepublik im Verhältnis zu den maßgeblichen Wettbewerbsländern im Euro-Raum (vgl. Abbildung II. 18) so lässt sich feststellen, dass sich diese in den Jahren von 2000 bis 2018 nur schwach erhöht haben, während in anderen Ländern ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen ist. Von einer sozialstaatlich induzierten Kostenkrise Deutschlands kann nicht gesprochen werden; die Steigerung von Lohnkosten wie von Lohnnebenkosten einschließlich der Unterschiede von Arbeitszeit, Urlaub und Fehlzeiten sind durch Produktivitätssteigerungen verdient worden. Seit vielen Jahren weist Deutschland eine außerordentlich hohe und wachsende Exportquote auf. Zwar sind auch die Einfuhren kräftig gestiegen, weil im Zuge der vernetzten, arbeitsteiligen Weltwirtschaft immer mehr (Vor-)Produkte auf dem Weltmarkt und nicht in der Heimat besorgt werden; entscheidend ist aber, dass die
Abbildung II.18
Lohnstückkostenentwicklung im Euro-Raum, 2000 – 2018
145 141,3
140
135
130
IT
134,2
BE
132,5
FR
128,9
GR
128,1
ES
122,7
DE
125
120
115
110
105
100
95
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
Quelle: Eurostat (2019); Berechnungen des IMK/Hans-Böckler-Stiftung.
2012
2013
2014
2015
2016
2017
2018
NL
Wechselwirkungen zwischen Sozialpolitik und ökonomischem System
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Exporte die Importe bei weitem übertreffen. Die anhaltenden Außenhandels- und Leistungsbilanzüberschüsse, die Deutschland auch gegenüber Ländern mit niedrigen Löhnen und niedrigen Sozialstandards erwirtschaftet – auch und gerade mit den EUMitgliedsstaaten aus Süd- und Osteuropa –, sind ein Ausdruck dieser Entwicklung. Die gesamtwirtschaftliche Betrachtung auf der Ebene von Durchschnittswerten (zu unterscheiden ist bei der Produktivitäts- und Lohnstückkostenentwicklung sowohl zwischen Dienstleistungsbereich und Industrie als auch zwischen den einzelnen Sektoren der Industrie) schließt allerdings ein, dass es in einzelnen Branchen und Betrieben, vor allem im Bereich arbeitsintensiver Produktion und bei unterdurchschnittlicher Produktivitätsentwicklung, zu massiven Problemen durch den intensivierten internationalen Wettbewerb kommt – mit der Folge eines Niedergangs ganzer Produktionszweige und des Verlustes von Arbeitsplätzen. Strukturverschiebungen dieser Art sind aber nicht nur als Verlust zu verstehen, denn wenn der Weltmarkt wächst und die aufrückenden Staaten Nachfrage entfalten, wird sich diese Nachfrage in wachsenden deutschen Exporten anderer, höherwertiger Güter niederschlagen. Nun konkurrieren die Betriebe mit ihren Produkten auf den Weltmärkten nicht zu Kosten in nationaler Währung, sondern es sind ganz maßgeblich die Wechselkursrelationen, die die Preise bestimmen. Der Wechselkursmechanismus gleicht die Kostenvorteile und -nachteile von Ländern zumindest zum Teil aus. Der Wechselkurs auf den Devisenmärkten ist einerseits eine Reaktion auf die Kostensituation und Wettbewerbsfähigkeit. Da sich die Kapitalbewegungen weitgehend von den Handelsbewegungen gelöst haben, wird er aber im zunehmenden Maße durch die Zinsdifferenzen auf dem Weltfinanzmarkt und spekulative Bewegungen beeinflusst. Kommt es auf diese Weise zu einem steigenden Wechselkurs, wirkt er sich als Wettbewerbserschwernis aus und macht den Stückkosten- und Preisvorsprung teilweise wieder zunichte. Exporterleichternd wirken hingegen sinkende Wechselkurse. Die Bewegungen auf den internationalen Finanz- und Kapitalmärkten haben die Wettbewerbsstärke des Standorts Deutschland bislang nicht beeinträchtigt: Zwar ist es zu einer enormen Aufblähung des kurzfristig anlagesuchenden Finanzkapitals gekommen. Bei den Realkapitalien hingegen fällt die Mobilität schwächer aus, die Zuwachsrate der grenzüberschreitenden Direktinvestitionen ist weit weniger steil als die Entwicklung bei den Finanzanlagen; als Hauptmotiv für Auslandinvestitionen gilt eindeutig die Nähe zum Absatzmarkt; niedrige Löhne oder Sozialstandards haben eine nachrangige Bedeutung. Die empirischen Befunde, dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Sozialstaats Deutschland nicht gefährdet ist, dürfen allerdings nicht zu voreiligen Schlussfolgerungen verleiten: •
In Zeiten schwachen Wachstums und anhaltend hoher Arbeitslosigkeit können Unternehmensentscheidungen über Standortwahl und Investitionen im Ausland oder Inland einen starken Druck auf Staat, Gewerkschaften und Belegschaften ausüben. Angesichts offener Kapitalmärkte und weltübergreifender Produktions-
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Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
und Investitionsentscheidungen der großen multinationalen Unternehmen erhält die Seite des Kapitals neue strategische Optionen, die es ihr erlaubt, soziale Regulationen der einzelnen Staaten zu unterlaufen. Für die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, für die Aktionsmöglichkeiten des souveränen Sozial- und Interventionsstaates bleibt das nicht ohne Folgen; die Handlungsautonomie der Nationalstaaten vor allem hinsichtlich der Steuer-, Fiskal- und Geldpolitik verengt sich zusehends. Die Gefahr besteht, dass dadurch ein internationaler Sozialabbau- und Deregulierungswettlauf ausgelöst wird. Auch Länder mit günstigen Standortbedingungen können sich dieser Abwärtsspirale nur schwer entziehen, wenn die Konkurrenzländer eine systematische liberale Angebots- und Kostenreduktionspolitik treiben. • Die Bedeutung der preislichen Komponente im globalen Wettbewerb nimmt zu, da bei zunehmender freier Beweglichkeit des Anlagekapitals und internationaler Vernetzung der Produktion Technologie und Produktivität nicht mehr an das Land gebunden sind, in dem sie mittels dessen Arbeits- und Sozialsystem und dank seiner Infrastruktur produziert wurden. Die transnational agierenden Unternehmen haben die Möglichkeit, die Herstellung von Produkten und deren Vertrieb länderübergreifend zu organisieren und bei der Produktion an anderen Standorten die höchste Produktivität quasi mitzunehmen. • Die gesamtwirtschaftliche Durchschnittsentwicklung sagt noch nichts über die durchaus schwierige Lage einzelner Branchen aus; der sich hier niederschlagende weltwirtschaftliche Strukturwandel wird unter dem Druck der Arbeitsmarktlage zu einer Bedrohung der Beschäftigten und gibt Anlass, Verschlechterungen der Arbeits- und Sozialbedingungen hinzunehmen. Unternehmensentscheidungen über Produktions- und Investitionsverlagerung ins Ausland wirken immer auch als Druckmittel auf Belegschaften und Gewerkschaften. Es kommt zu Bleibebzw. Ansiedlungsverhandlungen, deren Preis Konzessionen bei Löhnen, Unternehmenssteuern, Arbeitszeiten und anderen arbeits-, tarif- und sozialrechtlichen Standards sind. Durch die internationale Vereinbarung von arbeits- und sozialrechtlichen Standards (z. B. hinsichtlich des Arbeitsschutzes) kann hier ein Gegengewicht gesetzt werden. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sowie die Richtlinien und Verordnungen auf der Ebene der Europäischen Union (vgl. Kapitel „Sozialpolitik und soziale Lage“, Pkt. 8). Eine Veränderung der Wettbewerbsbeziehungen in der EU hat sich im Gefolge der Europäischen Währungsunion ergeben. Durch die einheitliche europäische Währung ist für gut 40 % des deutschen Außenhandels der Wechselkursmechanismus aufgehoben. Damit ist der Binnenhandel in der EU auf eine stabile Basis gestellt worden, da Schwankungen der Währungsparitäten entfallen. Wechselkurse haben freilich auch als Korrekturfaktor bei abweichenden Kosten- und Preisentwicklungen gewirkt. Da Wechselkursanpassungen und nationale Zinspolitik als Puffer ausfallen, werden im
Finanzierungsalternativen
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Euro-Raum Kosten- und Preisunterschiede in der Produktion unmittelbar sicht- und vergleichbar: Eine preissteigernde, den Produktivitätsspielraum übertreffende Erhöhung der Lohnstückkosten in einem Land, eine Folge beispielsweise hoher Lohnzuwächse oder Beitragssatzanhebungen, schlägt sich sofort als Wettbewerbs- und Absatzhindernis nieder, wenn sich diese Entwicklung nicht auch in den anderen Ländern findet. Andersherum bedeuten Stückkostenminderungen Wettbewerbs- und Absatzvorteile. Dieser Zusammenhang prägt die Situation im Euro-Raum; der enorme Wettbewerbsvorteil von Deutschland hat die Folgewirkungen der Bankenkrise verstärkt und ist ein zentraler Grund für die krisenhafte Finanz- und Wirtschaftslage vor allem in den südeuropäischen Euro-Ländern.
7
Finanzierungsalternativen
7.1
Ausgabenentwicklung: Entscheidungen über Prioritäten
Sozialpolitik sieht sich immer mit der Frage nach der Finanzierbarkeit konfrontiert. Was tun, wenn in den Systemen der Sozialversicherung infolge einer wieder wachsenden Arbeitslosigkeit, vermehrter Pflegebedürftigkeit, einer steigenden Zahl von Rentner:innen und von Kostensteigerungen im Gesundheitssystem die Ausgaben die Einnahmen überschreiten ? Wie stark sollen bzw. können die Beitragssätze steigen ? Wie lassen sich darüber hinaus die Mittel für notwendige Leistungsverbesserungen aufbringen ? Es bleibt die schwierige Aufgabe, den Sozialstaat angesichts der ökonomischen, politischen, technologischen und demografischen Herausforderungen verlässlich und zukunftssicher zu finanzieren. Die Antwort, alle Systeme dauerhaft mit mehr Geld auszustatten, mag auf der Hand liegen, löst aber das Problem nicht. Denn die Knappheit der öffentlichen wie auch der privaten Mittel lässt sich nicht umgehen. Es geht deshalb nicht nur darum, Lücken und Unterversorgungen im sozialen Netz aufzudecken und Wünschenswertes aufzulisten, sondern auch über Prioritäten und Nachrangigkeiten im Sozialleistungssystem zu entscheiden, d. h. über das erforderliche Leistungsspektrum und Sicherungsniveau sowohl innerhalb als auch zwischen den einzelnen sozialen Risikobereichen und Politikfeldern. Diese Entscheidung über die Notwendigkeit von Leistungen und über die zeitlichen und sachbezogenen Prioritäten ist immer auch eine Entscheidung über die Grenzziehung zwischen öffentlicher und privater Finanzierung. Sie steht nicht ein für alle Mal fest, sondern muss vor dem Hintergrund veränderter Lebensformen und neuer bzw. anderer sozialer Probleme stets neu getroffen werden. Eine schlichte Privatisierungs- und Abbaustrategie ist jedoch kein Erfolgskonzept. „Markt und privat“ heißt weder, dass damit die gesamtwirtschaftlichen Belastungen sinken, noch dass die Leistungserstellung automatisch billiger und besser erfolgt (vgl. Pkt. 3.8 dieses Kapitels). Zu beachten sind dabei die zeitlichen Perspektiven: Kurzfristige fiskalische
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Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Entlastungen müssen mit möglichen Mehrausgaben, die mittel- und längerfristig entstehen, bilanziert werden. So können erhöhte Zuzahlungen im Gesundheitswesen die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen und entsprechend die Ausgaben reduzieren; wirken die Zahlbeträge jedoch abschreckend und verhindern einen rechtzeitigen Arztkontakt, können schwerwiegende Erkrankungen mit hohen Folgekosten die Konsequenz sein. Anders herum können Mehrausgaben in der Gegenwart durch Minderausgaben in der Zukunft belohnt werden. Das gilt vor allem für Ausgaben in der gesundheitlichen und sozialen Prävention. Reformen können auch zu Einsparungen führen. Dies lässt sich erreichen, wenn Fehlsteuerungen in den Systemen vermieden und Effektivität und Effizienz der Leistungen erhöht werden. Vor allem bei den Ausgaben für Sach- und Dienstleistungen, z. B. im Gesundheitswesen, finden sich Rationalisierungsreserven, deren Ausschöpfen die Leistungsqualität verbessern kann (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 13.4). Bei den Geldleistungen sind derartige Reserven schwieriger zu finden. Wie die Analyse des Niveaus der sozialen Absicherung in den einzelnen Gefährdungsbereichen zeigt, kann von einer allgemeinen Überversorgung im sozialen System keine Rede sein. Das schließt nicht aus, besondere Privilegien, so z. B. das hohe Leistungsniveau in der Beamtenversorgung, abzuschaffen oder finanzielle Spielräume für Mehrausgaben durch Umschichtungen zu gewinnen. Ein Beispiel: Wenn die eigenständige soziale Absicherung von Frauen im Alter verbessert werden soll und dafür Mehraufwendungen notwendig werden, kann dies finanziert werden, wenn auf der anderen Seite der an der Hausfrauenehe geknüpfte Sicherungsschutz (Hinterbliebenenrente, kostenfreie Mitversicherung in der Krankenversicherung, Ehegattensplitting, Förderung von Minijobs) abgebaut wird. Neben Reformen auf der Ausgabenseiten bedarf es Anpassungen und Alternativen auf der Einnahmenseite. Auch wenn es angesichts enger Verteilungsspielräume schwierig ist, Beitragssätze zu erhöhen, so kann dieser Weg dennoch nicht tabuisiert werden. Denn eine einnahmenorientierte Ausgabenpolitik in der Sozialversicherung, die die Festschreibung der Beitragssätze unabhängig von den sozialen Bedarfen und Anforderungen zum Prinzip erhebt, lässt das sozialpolitische Sicherungsziel aus den Augen: Eine Festschreibung des Beitragssatzes in der Rentenversicherung trotz der demografischen Umwälzungen erzwingt ein starkes Absenken des Rentenniveaus. Das Ziel der Rentenversicherung „Lebensstandardsicherung“ muss aufgegeben werden, immer mehr ältere Menschen müssen ihre unzureichende Rente durch Leistungen der Grundsicherung aufstocken. Wenn aber die Rente trotz langjähriger Beitragspflicht das Niveau der von Vorleistungen unabhängigen Grundsicherung nicht übersteigt, werden Legitimation und Akzeptanz der Rentenversicherung gefährdet (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.6.1). Die Festschreibung des allgemeinen Beitragssatzes in der Krankenversicherung und die Ausweichmöglichkeit der Krankenkassen, den Zusatzbeitrag zu erhöhen, kann aufgrund der Wettbewerbssituation zwischen den einzelnen Kassen in Widerspruch geraten zu den gesundheitlichen Behandlungsbedarfen der Versicherten und
Finanzierungsalternativen
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zu einer qualitativ unzureichenden Versorgung gerade der teuren Fälle von chronisch und Mehrfacherkrankten führen. Bei der Sicherstellung der steuerfinanzierten Sozialleistungen, die sich in den Haushalten von Bund, Ländern und Gemeinden als Ausgaben niederschlagen, ist die Lage der öffentlichen Haushalte eine entscheidende Größe. Nach geltender nationaler und europäischer Rechtslage sind einer Kreditfinanzierung öffentlicher Ausgaben engste Grenzen gesetzt (Schuldenbremse, europäischer Fiskalpakt). Allerdings dürfen in einer konjunkturellen Schwächephase einnahmebedingte Defizite nicht mit Ausgabenkürzungen beantwortet werden. Eine solche Parallelpolitik läuft nämlich Gefahr, eine kumulative Abwärtsbewegung der Wirtschaft in Gang zu setzen; die gesamtwirtschaftliche Nachfrage würde reduziert mit der Folge noch größerer Steuerausfälle, eines weiteren Nachfragerückgangs und steigender Arbeitslosigkeit. Auf ausreichende öffentliche Einnahmen kann deshalb nicht verzichtet werden. Naturgemäß sind Forderungen nach Steuerentlastungen populär. Eine Politik niedriger Steuern bei einem gleichzeitigen Abbau der Staatsverschuldung entzieht aber einem handlungsfähigen Sozialstaat den Boden. Ein Staat mit einem hohen Niveau an Sozialleistungen, einem dichten Netz an sozialer Infrastruktur und einem ausgebauten Bildungswesen kann aber kein armer oder billiger Staat sein. Deutschland liegt im internationalen Vergleich mit seiner Abgabenbelastungen im Mittelfeld. Es ist deswegen weniger eine ökonomische, sondern vielmehr eine politische Frage, in welche Richtung sich Abgabenniveau und -struktur entwickeln. Die anhaltende Kontroverse über Steuersenkungen oder -steuererhöhungen und über die Verteilung der Steuerlast ist letztlich Ausdruck unterschiedlicher Vorstellungen über die Rolle des Sozialstaates in der Marktwirtschaft. Hinter dem Plädoyer für möglichst niedrige öffentliche Abgaben steht – ausgesprochen oder unausgesprochen – das Verständnis eines nur residualen Sozialstaates, während das Modell eines aktiven, gesellschaftsgestaltenden Sozialstaates eine hohe Abgabenquote erfordert und eine stärkere Besteuerung hoher und höchster Einkommen sowie von Vermögen nicht zum Tabu erklärt. Aber nicht nur die Frage nach dem Niveau von Einnahmen und Ausgaben im Sozialstaat wird strittig diskutiert. In der wissenschaftlichen und politischen Diskussion über die zukünftige Entwicklung der Sozialpolitik wird auch hinterfragt, ob es bei den gegenwärtigen Prinzipien und Strukturen der Finanzierung bleiben kann. Im Mittelpunkt der kritischen Debatte steht das lohnbezogene Beitragssystem der Sozialversicherung; es mehren sich die Stimmen, die die lohnbezogene Beitragsfinanzierung durch andere Finanzierungsverfahren ergänzen bzw. ersetzen wollen. Klammert man jene radikalen Konzeptionen aus der Betrachtung aus, die von einer weitgehenden Ablösung der beitragsfinanzierten Sozialversicherung durch eine steuerfinanzierte Grundrente oder ein bedingungsloses Grundeinkommen ausgehen und damit auf der Finanzierungs- wie auf der Leistungsseite eine völlige Abkehr vom gegenwärtigen System vorsehen (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 9.1), so konzentrieren sich die Überlegungen auf die Ansätze,
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Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
die Sozialversicherung stärker durch Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt zu finanzieren, um die Beitragsbelastungen und Beitragssätze entweder linear absenken zu können oder begrenzt auf den Bereich der Niedrigentgelte, den Kreis der Beitragszahlenden in Richtung einer Erwerbstätigen- und Bürgerversicherung auszuweiten, neben den Entgelten aus abhängiger Arbeit auch andere Einkommen der Beitragspflicht zu unterwerfen, die Arbeitgeberbeiträge anders zu bemessen, festzuschreiben oder ganz abzuschaffen, die Beitragsbemessung in der Krankenversicherung von den Arbeitsentgelten zu lösen, den Beitrag als eine fixe (Kopf-)Pauschale je Versicherten zu gestalten und einkommensschwache Haushalte durch steuerfinanzierte Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt zu entlasten, das Umlageverfahren der Sozialversicherung durch ein Kapitaldeckungsverfahren zu ergänzen oder abzulösen.
7.2
Stärkere Steuerfinanzierung der Sozialversicherung
Die Finanzierung der einzelnen Zweige der Sozialversicherung über bruttolohnbezogene Beiträge mit einem einheitlichen Beitragssatz, der je zur Hälfte von den versicherungs- und beitragspflichtigen Arbeitnehmer:innen und ihren Arbeitgebern gezahlt wird, zählt zu einem tragenden Bestandteil des Sozialversicherungsprinzips und weist unbestreitbare Vorzüge auf: Das Finanzierungsverfahren genießt durch das versicherungstypische Entsprechungsverhältnis von Leistung und Gegenleistung eine hohe Akzeptanz bei den Versicherten und stößt auf einen (im Vergleich zur Steuerzahlung) geringeren Abgabenwiderstand. Zugleich fließen die an die Löhne und deren Entwicklung gekoppelten Einnahmen vergleichsweise stetig und sind gut kalkulierbar. Schließlich verfügen die beitragsfinanzierten Systeme über eine relative finanzielle Autonomie. Da sie nicht in die öffentlichen Haushalte eingegliedert und vom allgemeinen Steueraufkommen abhängig sind, sind sie fiskalpolitisch motivierten Eingriffen und den Begehrlichkeiten anderer öffentlicher Etats weniger direkt ausgesetzt. Einwände gegen dieses Finanzierungssystem beziehen sich vor allem auf den Lohnbezug bei der Beitragserhebung. Die Konzentration der Belastungen auf das Arbeitseinkommen (durch Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge) gilt als beschäftigungshemmend, da der Faktor Arbeit verteuert und deswegen unzureichend nachgefragt werde. Vorgeschlagen wird stattdessen, einen größeren Teil der Sozialversicherungsausgaben durch Steuern zu finanzieren, was Beitragssatzsenkungen ermöglicht, aber im Gegenzug auch Steuererhöhungen (Einkommen- und/oder Verbrauchsteuern) erfordert. Soweit die unterschiedlichen Formen einer Beitragsentlastung und Umfinanzierung auf eine Beschäftigungswirkung zielen, so basieren sie auf der These, die
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Arbeitslosigkeit allgemein sowie die besonderen Beschäftigungsprobleme von Unqualifizierten im Besonderen seien eine Folge überhöhter Arbeitskosten und könnten durch eine Reduzierung der Lohnnebenkosten gelöst werden. Wie vorne analysiert, lässt sich diese These aber empirisch nicht bestätigen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung nur einen vergleichsweise kleinen Teil der gesamten Personalkosten ausmachen (vgl. Pkt. 3.7.2 dieses Kapitels). Innerhalb der EU zeigt sich, dass zu den Staaten mit einer günstigen Arbeitsmarktlage sowohl jene zählen, die durch Beitragsfinanzierung charakterisiert sind, als auch jene, die ihre Sozialleistungen überwiegend über Steuern finanzieren. In den Ländern mit überwiegend steuerfinanzierten Sozialsystemen, so z. B. in Dänemark, sind zwar die Arbeitgeberbeiträge und Lohnnebenkosten niedrig. Den hohen Steuerbelastungen stehen indes auch hohe Bruttoarbeitsentgelte gegenüber, da für die Beschäftigten die Höhe der verfügbaren Einkommen entscheidend ist. Dies verweist darauf, dass eine Finanzierung über Einkommen- oder Verbrauchsteuern ebenfalls auf die Höhe der Arbeitskosten zurück wirkt. Allerdings lassen sich die Auswirkungen einer steuerbetonten Umfinanzierung der Sozialversicherung auf Niveau und Struktur der Arbeitskosten vorab kaum bestimmen, da sie letztlich im Verteilungskonflikt entschieden werden. So bleibt offen, in welchem Maße die Gewerkschaften beispielsweise einen Anstieg des Preisniveaus, der durch eine Mehrwertsteuererhöhung bewirkt würde, in den Tarifverhandlungen zur Geltung bringen und kompensieren können. Bei einer Reduzierung der Beiträge sind also zwingend die Wirkungen durch die Gegenfinanzierung zu berücksichtigen. Auf der einen Seite erfolgt durch die Beitragssatzsenkungen eine Entlastung von Unternehmen und Beschäftigten mit der Folge sinkender Arbeitskosten bei den Unternehmen und steigender Nettoeinkommen sowie Nachfragepotenziale bei den Beschäftigten. Auf der anderen Seite werden durch Steuererhöhungen (z. B. Anhebung von Einkommensteuer oder Mehrwertsteuer) kontraktive, nachfragemindernde Effekte ausgelöst. Im Einzelnen ist also zu prüfen, wie sich die Entlastungen und Belastungen im Saldo auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und das Beschäftigungsniveau auswirken. Bei einer gezielten Beitragsentlastung im unteren Einkommenssegment werden die Beschäftigungseffekte zudem durch mögliche Substitutions- und Verdrängungseffekte begrenzt. Wenn die Nachfrage nach Güter und Dienstleistungen insgesamt unverändert bleibt, ist zu erwarten, dass die Subventionierung der Arbeitskosten im unteren Einkommensbereich zu einem Umschichtungsprozess auf dem Arbeitsmarkt führt: Für die Unternehmen ist es rentabel, subventionierte Arbeitsverhältnisse zu Lasten regulärer, voll beitragspflichtiger Arbeitsverhältnisse auszudehnen. Dies kann z. B. bedeuten, dass Vollzeitarbeitsplätze in mehrere subventionierte Teilzeitarbeitsplätze aufgespalten werden.
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7.3
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Bürgerversicherung
Der Beitragspflicht zur Sozialversicherung unterliegt nur ein Teil der Erwerbsbevölkerung. Zwar ist der versicherungspflichtige Personenkreis in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung unterschiedlich weit gesteckt (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 5.1), doch grundsätzlich gilt, dass Selbstständige und Beamte außerhalb der Systeme stehen. Zusätzliche Lücken entstehen durch die Regelungen der versicherungsfreien geringfügig Beschäftigten sowie durch die Versicherungspflichtgrenze in der Kranken- und Pflegeversicherung, deren Überschreiten einen Wechsel zur Privatversicherung ermöglicht. Aus dieser Konstruktion der Sozialversicherung ergeben sich Probleme der Verteilungsgerechtigkeit, da sich gerade jene Gruppen dem Solidarausgleich entziehen können, die in der Regel ein überdurchschnittlich hohes Einkommen haben und zugleich günstigere Risiken aufweisen. Probleme ergeben sich auch auf der Seite der Finanzierung: Die Analyse des Arbeitsmarktes zeigt, dass jene Beschäftigungsverhältnisse an Bedeutung gewinnen, die nicht der Beitragspflicht unterliegen (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 3). Dadurch gehen den Sozialversicherungsträgern Einnahmen verloren. Durch eine Einbeziehung der gesamten (Erwerbs-)Bevölkerung in die Sozialversicherung könnten deshalb die Einnahmenbasis verbreitert, der Beitragssatz gesenkt und zugleich der Sicherungsschutz verbessert werden. In diese Richtung zielen die Vorschläge zur Einführung einer Erwerbstätigen- oder Bürgerversicherung. In der Diskussion über eine Bürgerversicherung spielt ein weiterer Aspekt eine zentrale Bedeutung: Als Bemessungsgrundlage für die Beiträge gelten bisher nur die Einkommen aus abhängiger Beschäftigung, und dies auch nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Die auch für viele Arbeitnehmer:innen und Rentner:innen immer bedeutender werdenden Gewinn- und Vermögenseinkünfte (wie Zinsen und Mieten) oder Einkünfte aus einer selbstständigen Nebentätigkeit bleiben unberücksichtigt. Durch eine Erweiterung der Bemessungsgrundlage auf alle Einkommen, flankiert durch eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze, könnte insofern das Beitragsaufkommen erhöht werden. Ob sich diese Grundgedanken des Konzeptes einer Erwerbstätigen- oder Bürgerversicherung umsetzen lassen und welche finanziellen Entlastungen zu erreichen sind, lässt sich nur klären, wenn auf die einzelnen Zweige der Sozialversicherung Bezug genommen wird. Angesichts der großen Unterschiede zwischen den Versicherungszweigen kann es kaum eine einheitliche Lösung geben: Arbeitslosenversicherung In der Arbeitslosenversicherung macht eine Bürgerversicherung mit dem Ziel einer umfassenden Absicherung der gesamten Wohnbevölkerung wenig Sinn, da sich dieses System naturgemäß nur auf den Kreis der Erwerbstätigen bzw. Erwerbslosen bezieht. Aber auch der Einbezug der derzeit nicht versicherungspflichtigen Selbstständigen, Beamten sowie geringfügig Beschäftigten in die Finanzierung der Ar-
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beitslosenversicherung wirft Probleme auf, da nicht klar ist, ob diese Gruppen auch ohne Einschränkungen leistungsberechtigt sind, und zwar nicht nur in Bezug auf die aktiven Leistungen der Arbeitsförderung, sondern auch hinsichtlich der passiven Lohnersatzleistungen. So ist zu berücksichtigen, dass der Status „Arbeitslosigkeit“ bei vormaliger Selbstständigkeit nur schwer zu fassen ist und auch nicht von einem „Lohnersatz“ ausgegangen werden kann. Um dieses Problem zu umgehen, liegt es nahe, es bei den Lohnersatzleistungen beim gegenwärtigen Finanzierungsverfahren und der Leistungsberechtigung zu belassen, die Leistungen der im Prinzip allen offen stehenden aktiven Arbeitsmarktpolitik hingegen über eine alle Erwerbstätigen erfassende, zweckgebundene Arbeitsmarktabgabe zu finanzieren. Rentenversicherung Bei der Rentenversicherung ist zu berücksichtigen, dass in Systemen mit lohn- und beitragsäquivalenten Leistungen den Beitragsmehreinnahmen durch die Versicherungspflicht aller Erwerbstätigen auch Anwartschaften und – mit zeitlicher Verzögerung – Mehrausgaben gegenüberstehen. Dauerhafte finanzielle Entlastungseffekte, die sich in niedrigeren Beitragssätzen niederschlagen könnten, sind also durch eine Erweiterung des Versichertenkreises und/oder eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze nicht zu erreichen. Auch ist fraglich, ob eine Beitragserhebung auf Vermögenseinkünfte und ein entsprechender Aufbau von Rentenanwartschaften sinnvoll sind. Da Vermögenseinkünfte unabhängig vom Lebensalter entstehen, bedarf es hier keines Einkommensersatzes durch Zahlung von Renten. Aus diesen Gründen sollte das Ziel einer Ausweitung der Versicherungspflicht im Wesentlichen vorrangig darauf abstellen, Sicherungslücken bei Selbstständigen zu schließen. Zielgruppen sind dabei nicht nur die traditionellen Selbstständigen, sondern auch die neuen Formen selbstständiger Tätigkeiten im Rahmen der Plattformökonomie. Auf jeden Fall sind eine Fülle von Übergangsproblemen (z. B. hinsichtlich der Zukunft der Versorgungswerke der freien Berufe, der Bezahlung der Arbeitgeberbeiträge usw.) zu lösen. Als rechtlich wie politisch besonders schwierig erweist sich eine Überführung der Alterssicherung der Beamten in die Rentenversicherung (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 13.3). Krankenversicherung Bei der Krankenversicherung (und weitgehend analog auch bei der Pflegeversicherung) ergibt sich eine andere Situation, da die Sachleistungen, die das Leistungsspektrum prägen, in keinem Äquivalenzverhältnis zur Höhe der Beitragszahlungen stehen. Mehreinnahmen durch eine Verbreiterung der Bemessungsbasis (Beitragserhebung auf Vermögenseinkünfte und Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze) haben also keine entsprechenden Mehrausgaben zur Folge. Zwar führt die Ausweitung der Versicherungspflicht durch Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze und durch die Einbeziehung von Selbstständigen und Beamten neben den
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Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Beitragsmehreinnahmen auch zu Leistungsansprüchen und entsprechenden Ausgaben. Da aber die bisher privat Versicherten eine niedrigere Morbidität aufweisen und somit geringere Kosten verursachen, errechnet sich auch insofern finanziell ein Plus. Die Probleme liegen jedoch im Detail (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 13.3): •
Dienen Arbeitseinkommen und Kapitaleinkommen gemeinsam als Beitragsbemessungsgrundlage und bleibt es bei einer (möglicherweise auch angehobenen) Beitragsbemessungsgrenze, dann werden die Kapitaleinkommen all jener Versicherten nicht erfasst, die bereits mit ihrem Arbeitseinkommen bzw. ihrer Rente an die Beitragsbemessungsgrenze heran reichen oder diese überschreiten. Kapitaleinkünfte würden also nur bei den Arbeitnehmer:innen mit niedrigem und mittlerem Arbeitseinkommen verbeitragt. • Probleme ergeben sich aber auch bei der Erfassung der Einkünfte aus Vermögen. Nahezu unmöglich ist es, Mieten und Pachten mit Beiträgen zu belegen, da hier häufig Negativeinkünfte anfallen. Und bei den Kapitaleinkünften wie Zinsen, Dividenden, Kursgewinnen ist für die Kassen bei der Beitragserhebung eine enge Zusammenarbeit mit dem Finanzamt unumgänglich, da sie selbst nicht zu einem zweiten Finanzamt werden können. • Durch die Einbeziehung aller Einkommensarten in die Beitragspflicht und durch die Erweiterung des Versichertenkreises wird es – wie angestrebt – zu Beitragssatzsenkungen kommen. Dadurch wird aber zugleich das Prinzip der Beitragsparität zwischen Versicherten und ihren Arbeitgebern gelockert. Da nämlich die Beiträge auf weitere Einkommensarten allein von den Versicherten zu tragen sind, verschiebt sich das Beitragsaufkommen zu Lasten der Versicherten, während die Arbeitgeber uneingeschränkt von den niedrigeren Beitragssätzen profitieren. 7.4
Arbeitgeberbeiträge: Abschaffung oder Umstellung auf einen Wertschöpfungsbeitrag
Die paritätische Finanzierung der Sozialversicherung wird unter dem Eindruck der Debatte um Lohnnebenkosten und Standortwettbewerb immer wieder in Frage gestellt. Dabei steht das Ziel im Mittelpunkt, die von den Arbeitgebern zu zahlenden Lohnnebenkosten zu verringern. Bereits die Finanzierung der Pflegeversicherung, bei der (ab 1995) der Arbeitgeberbeitrag durch den Wegfall eines bezahlten Feiertages kompensiert wurde, ist als ein Schritt in diese Richtung zu bewerten. Varianten eines Ausstiegs aus der paritätischen Beitragsfinanzierung Dieser Effekt einer Entlastung der Arbeitgeber lässt sich auch erreichen, ohne dass das Prinzip der Beitragsparität förmlich geändert wird: Sämtliche Konzepte, die auf
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eine Reduktion der Leistungen der Sozialversicherung und auf eine Ausweitung privater Vorsorge zielen, wirken in diese Richtung. Denn die Belastungen durch die private Altersvorsorge (z. B. im Rahmen der „Riester-Rente“) müssen allein von den Versicherten bzw. Arbeitnehmer:innen aufgebracht werden. Auf einen grundsätzlichen Systemwechsel bei der Finanzierung der Sozialversicherung stellen die Vorstellungen ab, die Arbeitgeberbeiträge auf dem gegenwärtigen Niveau einzufrieren und nur noch die Arbeitnehmerbeiträge (nach oben) variabel zu gestalten. Bei festgeschriebenen Arbeitgeberbeitragssätzen beträfen dann steigende Beitragssätze allein die Arbeitnehmer:innen bzw. die Versicherten. Noch weitergehender wäre der Schritt, die Arbeitgeberbeiträge ganz abzuschaffen und die Bruttolöhne und -gehälter der Beschäftigten zum Zeitpunkt der Umstellung entsprechend zu erhöhen. Da diese Kompensation nur einmal wirkt, müssten dann die Lasten zukünftiger Beitragssatzsteigerungen im Unterschied zur paritätischen Finanzierung ausschließlich von den Versicherten getragen werden. Die Arbeitskosten würden sich durch die Ausbezahlung der Arbeitgeberbeiträge zunächst nicht vermindern. Zu einer relativen Entlastung kommt es erst schrittweise, wenn nämlich die Arbeitgeber nicht mehr von den steigenden Ausgaben und einem entsprechenden Anstieg der Prämien betroffen werden. Ein Ausstieg der Arbeitgeber aus der Sozialversicherungsfinanzierung hätte aber auch sozial- und gesellschaftspolitische Konsequenzen: Die Arbeitgeber müssten sich aus der Selbstverwaltung der Sozialversicherung zurückziehen; das Partnerschaftsmodell der sozialen Marktwirtschaft, das die Verantwortung der Arbeitgeber auch für das System der sozialen Sicherung betont, würde in Frage gestellt. Nicht zuletzt würde das Interesse der Arbeitgeber an einer Ausgaben- und Kostenbegrenzung im Gesundheitssystem entfallen. Wertschöpfungsbeitrag Trotz der Dominanz der Vorstellungen, die Arbeitgeberbeiträge zu reduzieren oder gar ganz abzuschaffen, spielt die Überlegung, die Arbeitgeberbeiträge von der lohnauf eine wertschöpfungsbezogene Bemessungsgrundlage umzustellen, immer noch eine Rolle. Die Forderung nach einer Umbasierung der Arbeitgeberbeiträge beruht auf der Erwartung, dass ein Wertschöpfungsbeitrag • •
zu höheren Einnahmen als der lohnbezogene Arbeitgeberbeitrag führe, da die Löhne bei anhaltender Rationalisierung und technologisch bedingter Arbeitslosigkeit keine ergiebige Finanzierungsquelle mehr seien, eine Kostenentlastung der arbeitsintensiv produzierenden Branchen und Betriebe und eine Mehrbelastung der Branchen und Betriebe bewirke, die mit einem hohen Kapitaleinsatz arbeiten. Dies wird als ein Beitrag zur Schaffung von Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor und zur Verminderung des Einsatzes von arbeitssparenden Technologien in der kapitalintensiven Produktion gesehen.
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Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
Die Frage ist, ob diese Erwartungen realistisch sind. Um dies beurteilen zu können, muss das Finanzierungsverfahren des Wertschöpfungsbeitrags verdeutlicht werden: Bei einem Wertschöpfungsbeitrag bezieht sich die Bemessungsgrundlage des Arbeitgeberbeitrags auf die gesamte Wertschöpfung eines Betriebes. Neben den versicherungspflichtigen Löhnen und Gehältern werden deshalb auch die nicht beitragspflichtigen Arbeitsentgelte (oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze) sowie zusätzlich Gewinne, Zinsen, Mieten, Pachten erfasst. Hinzu kommen die Abschreibungen. Die Bemessungsgrundlage des Wertschöpfungsbeitrags entspricht damit in etwa der breiten Grundlage der Mehrwertsteuer. Da die neue Bemessungsgrundlage mehr als doppelt so groß ist wie die alte, fällt bei einer aufkommensneutralen Umstellung der Arbeitgeberbeiträge der Beitragssatz deutlich niedriger aus. Durch die Belastung des Faktors Kapital, der bislang von den Arbeitgeberbeiträgen nicht erfasst wurde, kommt es zugleich zu einer verminderten Belastung des Faktors Arbeit. Zwar gleichen sich im Durchschnitt aller Betriebe die Be- und Entlastungen aus, aber bestimmte Betriebe und Branchen der Volkswirtschaft können mit Entlastungen rechnen, während andere Betriebe und Branchen stärker als bislang belastet werden. Die nahe liegende Vermutung, dass durch einen Wertschöpfungsbeitrag vor allem die Dienstleistungsbetriebe gefördert werden und der industrielle Bereich zu den Verlierern zählt, lässt sich empirisch nicht bestätigen. Die Gleichsetzung von Kapitalintensität und Industrie ist falsch. Trotz Rationalisierung und Automation ist die Arbeitsintensität in weiten Teilen des verarbeitenden Gewerbes unverändert hoch. Will man die Be- und Entlastungen ökonomisch bewerten, dann genügt es nicht, nur die prozentuale Veränderung der Beitragsbelastung zu beziffern. Die Kostenzuwächse müssen in den Rahmen der betrieblichen Gesamtkosten gestellt werden. Dann aber erweisen sich die Effekte der Umbasierung als eher marginal. Bezogen auf den Bruttoproduktionswert (Umsatz) bzw. Nettoproduktionswert (Wertschöpfung) der Unternehmen liegen die Be- und Entlastungen bei einer Veränderung der Beiträge zur Rentenversicherung im Schnitt deutlich unter +/− 1 % bzw. +/− 2 %. Bei näherem Hinsehen wird die Geringfügigkeit einsichtig: Kostenverschiebungen ergeben sich allein durch die Veränderung der Arbeitgeberbeiträge zur Rentenversicherung. Diese Arbeitgeberbeiträge machen jedoch nur einen Teil der Lohnnebenkosten, einen noch geringeren Teil der Arbeitskosten und schließlich nur noch ein Minimum der betrieblichen Gesamtkosten aus. Diese Ergebnisse lassen die Erwartung von Beschäftigungswirkungen fraglich erscheinen. Arbeitslosigkeit und technologische Entwicklung lassen sich auch theoretisch nur unzureichend durch das Verhältnis von Kapital- und Lohnkosten erklären: In der betrieblichen Wirklichkeit wird nämlich die Wahl des Produktionsverfahrens nicht primär durch den Preis von Arbeit und Kapital bestimmt. Das Einsatzverhältnis von Kapital und Arbeit ist – zumindest auf mittlere Sicht – weitgehend (technisch) vorgegeben. Unter den Bedingungen internationaler Konkurrenz ist die Anwendung technologischer Neuentwicklungen eine Wettbewerbsgröße, die sich vergleichswei-
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se unabhängig von Verschiebungen des Lohnniveaus ergibt. Zu fragen ist sicherlich auch, ob eine Abbremsung des Substitutionsprozesses von Arbeit durch Kapital, also des Produktivitätsfortschrittes, überhaupt gewollt ist. Die mit der Umbasierung verbundene Erwartung, dass die Bemessungsgrundlage „Wertschöpfung“ weniger konjunkturempfindlich und vor allem ergiebiger ist als die Lohnsumme, geht von der Annahme aus, dass die Zahl der Beschäftigten sinkt und mit dem Prozess der Kapitalintensivierung und Produktivitätssteigerung eine verteilungspolitische Entwicklung einhergeht, in der die Zunahme der Produktivität nicht durch eine Tarifpolitik ausgeglichen wird, die den Verteilungsspielraum für eine Erhöhung der Lohnsätze einsetzt. Für die Gesamtsumme des beitragspflichtigen Arbeitseinkommens ist aber nicht die Menge, d. h. die Zahl der Beschäftigten oder der Arbeitsstunden, sondern immer das Produkt von Menge und Preis, d. h. von Arbeitsstunden und Arbeitsentgelt je Stunde, entscheidend. Wird der durch die Rationalisierung ausgelöste Anstieg der Arbeitsproduktivität durch Lohnerhöhungen weitergegeben, dann bleibt die Lohnsumme eine ergiebige Bemessungsgrundlage. Wenn dieser produktivitätsorientierte Lohnanstieg hingegen unterbleibt, sich also der Zuwachs der Arbeitsproduktivität allein oder hauptsächlich zugunsten der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen auswirkt und die Lohnquote dauerhaft sinkt, wird durch die Umbasierung des Arbeitgeberbeitrages ein höheres Aufkommen erzielt. 7.5
Finanzierung der Krankenversicherung durch Kopfpauschalen
In die Richtung einer radikalen Umfinanzierung zielt der auf die gesetzliche Krankenversicherung bezogene Vorschlag, den Arbeitgeberbeitrag gänzlich abzuschaffen und zugleich den am Arbeitsverhältnis und Arbeitseinkommen ansetzenden Versichertenbeitrag durch eine allgemeine Pauschalprämie bzw. Kopfpauschale zu ersetzen. Diese Forderung ist in den Jahren nach der Jahrtausendwende intensiv vertreten und diskutiert, aber letztlich verworfen worden. Danach zahlt jeder (erwachsene) Versicherte ohne Berücksichtigung seines Einkommens und seiner finanziellen Leistungsfähigkeit eine gleich hohe Prämie an seine Krankenkasse. Diejenigen, die aufgrund ihres niedrigen Einkommens dadurch finanziell überfordert werden, erhalten einen steuerfinanzierten Ausgleich. Dieses Modell, das eine Vielzahl von Varianten aufweist, ist durch folgende Eckpunkte charakterisiert: •
Die Arbeitgeberbeiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung werden zum Umstellungszeitpunkt als Bruttolohn an die Beschäftigten ausbezahlt und versteuert; aus den bisherigen Lohnnebenkosten werden direkte Lohnkosten. Zukünftige Steigerungen der Ausgaben der Krankenversicherung berühren die Arbeitgeber dann nicht mehr, da die Prämien allein von den Versicherten zu zahlen sind.
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Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
•
Die Höhe der kasseneinheitlichen Pauschalprämie errechnet sich, indem die Gesamtausgaben durch die Zahl der Mitglieder dividiert werden. Der am Arbeitseinkommen orientierte soziale Ausgleich der gesetzlichen Krankenversicherung wird abgeschafft, da sich die Prämie unabhängig von der Höhe und Zusammensetzung des Einkommens eines Versicherten errechnet. Es bleibt der Ausgleich zwischen unterschiedlichen Gesundheitsrisiken, da die Prämienhöhe nicht nach Gesundheitsrisiko/Vorerkrankung, Geschlecht und Lebensalter differiert. • Der soziale Ausgleich wird auf das Steuer-Transfer-System übertragen. Versicherte mit geringem Einkommen, die durch die Zahlung der Pauschalprämie überfordert werden, erhalten einen steuerfinanzierten Zuschuss aus dem Bundeshaushalt. Als Maßstab für die Überforderung dient der Belastungssatz zum Zeitpunkt der Umstellung (Arbeitnehmerbeitragssatz in % des Bruttoeinkommens). Da sich die Ausgleichszahlung allerdings nicht am Bruttolohn, sondern am gesamten Haushaltseinkommen orientiert, wird ein Anrechnungsverfahren in Anlehnung an die sozialhilferechtliche Bedürftigkeitsprüfung erforderlich. • Kinder werden entweder automatisch kostenfrei mitversichert – mit der Folge einer Erhöhung der allgemeinen Pauschalprämie, oder für Kinder muss eine spezifische Pauschalprämie gezahlt werden, die dann durch Steuermittel ausgeglichen wird. Die kostenfreie Mitversicherung von nicht erwerbstätigen Ehepartnern entfällt. Das Kopfpauschalenmodell begründet sich zentral aus der Zielsetzung, die Gesundheitskosten von den Lohnkosten abzukoppeln, die Arbeitgeber zu entlasten und positive Arbeitsmarkteffekte einzuleiten. Fraglich ist allerdings nicht nur, ob über diesen Weg Beschäftigung geschaffen wird, offen bleibt auch, ob die steuerfinanzierten Zuschüsse verlässlich und in ausreichender Höhe gezahlt werden und sichergestellt ist, dass all jene Haushalte, bei denen die Pauschalprämie die Belastungsgrenze – gemessen an der bisherigen einkommensabhängigen Beitragszahlung – übersteigt, entlastet werden. Die Dimensionen des erforderlichen Finanzierungsvolumens sind beachtlich: Je nach Modellvariante werden Zuschussbedarfe von bis zu 30 Mrd. Euro fällig. Es spricht wenig dafür, dass Mittel in einer derartigen Größenordnung bereitgestellt und die Steuern entsprechend erhöht werden; noch ungewisser ist, ob die Zahlungen dauerhaft gesichert sind. Angesichts von konkurrierenden Ausgaben im Bundeshaushalt und der Widerstände gegenüber einer Anhebung von Einkommen- und/ oder Verbrauchsteuern dürften die steuerfinanzierten Zuschüsse unter einem ständigen Kürzungsdruck stehen. Sind aber die Zuschüsse nicht ausreichend, geraten die Kassen in ein Defizit und den Versicherten im unteren Einkommensbereich werden höhere Zahlungen zugemutet.
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7.6
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Kapitaldeckungsverfahren statt Umlageverfahren
Die demografischen Belastungen in der Alterssicherung lassen Überlegungen aktuell werden, die zu erwartenden Beitragssatzsteigerungen in der Rentenversicherung durch einen teilweisen oder gar vollen Übergang vom Umlage- zur Kapitaldeckungsverfahren zu vermeiden. Eine solche Verschiebung vom Umlage- zum Kapitaldeckungsverfahren ließe sich innerhalb der Rentenversicherung erreichen. Alternativ dazu kann darauf abgestellt werden, die Proportionen zwischen (weiterhin) umlagefinanzierter Rentenversicherung und kapitalfundierter privater und betrieblicher Vorsorge zu Lasten der Rentenversicherung zu verändern. Dieser zweite Weg bestimmt, beginnend mit der „Riester-Reform“, die Alterssicherungspolitik der letzten Jahre (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 13.1). Es wird aber auch diskutiert, einen kapitalfundierten Staatsfonds neben oder innerhalb der Rentenversicherung einzurichten. Die Vorstellungen, durch Kapitaldeckung die demografischen Belastungen leichter bewältigen zu können, beruhen auf dem Konzept, durch Zuführung von Mitteln einen Kapitalstock aufzubauen und diesen in Zeiten stark besetzter Altersjahrgänge wieder abzuschmelzen. Durch Vorfinanzierung in der Gegenwart sollen also spätere Belastungen umgangen und die Rentner:innen an der Ertragskraft der Kapitalmärkte beteiligt werden. Nun zeigt aber die ökonomische Analyse, dass es eine Ansammlung von Konsumgütern von Periode zu Periode, ein Sparen im individuellen Sinne, in der Volkswirtschaft insgesamt nicht gibt. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht versagt die für den Einzelnen sinnvolle Strategie, zukünftige Einkommensbelastungen durch den Aufbau eines Kapitalstocks und seine spätere Auflösung vorzufinanzieren. Denn bei einem kapitalgedeckten Rentenversicherungssystem, das nahezu die gesamte Bevölkerung absichert, bildet allein das Entwicklungsniveau der Volkswirtschaft im Jahr der Rentenauszahlung, also die dann produzierte Menge an Gütern und Diensten und die daraus erwachsenden Einkommen, die Grundlage für die Alimentierung der älteren Generation (vgl. Pkt. 3.2 dieses Kapitels). Dieser Zusammenhang lässt sich verdeutlichen, wenn gefragt wird, wie ein Kapitaldeckungsverfahren im Unterschied zum Umlageverfahren auf eine wachsende Alterslast reagiert. Wenn die Zahl der Alten im Verhältnis zur Zahl der Erwerbstätigen zunimmt, dann gibt es beim Umlageverfahren zwei Möglichkeiten, die auch miteinander kombiniert werden können: Entweder müssen die Beitragssätze (oder Staatszuschüsse) erhöht, oder das Leistungsniveau der Rentenversicherung muss sinken (z. B. durch eine Umstellung der Rentenformel). Beim Kapitaldeckungsverfahren müssen die Alten bzw. die Lebensversicherung ihr Vermögen liquidieren, da Geld für den laufenden Lebensunterhalt benötigt wird. Allein aus den Vermögenserträgen lassen sich erforderlichen Einkommenssummen nicht erwirtschaften. Wenn nun die Älteren entsparen, d. h. ihre Wertpapiere veräußern und in Konsum umwandeln wollen, die nachfolgende Zahl der jüngeren Sparer und Käufer von Wertpapieren aber
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Ökonomische Grundlagen und Finanzierung
demografisch bedingt sinkt, kann es zu unterschiedlichen Anpassungsreaktionen auf den Märkten kommen: •
Entweder sparen die Jüngeren zusätzlich, was zu einer Einschränkung ihres Konsums führt (diese Minderung des verfügbaren Einkommens hat eine vergleichbare Wirkung für die Jüngeren wie Beitragserhöhungen). • Oder der Realwert der zum Verkauf angebotenen Wertpapiere sinkt infolge des Angebotsüberhangs und des begrenzten Absorptionsvermögens des Kapitalmarktes (dieser Kursverfall entspricht in seinen Auswirkungen für die Alten einer Absenkung des Rentenniveaus). Diese Reaktionen können sich vermischen, sie werden auch nicht schlagartig auftreten, sondern allmählich einsetzen. Dadurch können die demografischen Belastungen gemildert, aber nicht übergangen werden. Immer geht es darum, dass die Konsumnachfrage der Älteren und der Konsumverzicht der Jüngeren zur Deckung gebracht werden müssen. Auch beim Kapitaldeckungsverfahren kommt es im Prinzip zum gleichen Ergebnis, das beim Umlageverfahren durch offene Beitragserhöhung und/ oder Leistungskürzungen erreicht wird. Dies geschieht allerdings nicht durch direkte, politisch bestimmte Maßnahmen wie beim Umlageverfahren, sondern durch (unsichtbare) ökonomische Anpassungsprozesse auf den Kapitalmärkten. Die Belastung könnte bei kapitalfundierten Systemen durch den Export und späteren Import von Kapital gemildert werden. Die Auflösung von Auslandsvermögen erlaubt dann zusätzliche Importe, aus denen der Konsumbedarf der Rentner:innen bestritten werden kann. In diesem Fall kann eine wachsende Alterslast bewältigt werden, ohne dass die inländischen Erwerbstätigen auf Konsum verzichten müssen. Diesen Vorteilen der Kapitalbildung im Ausland steht aber der Nachteil gegenüber, dass die Alterssicherung mit Wechselkursrisiken belastet wird. Die Risiken des Kapitaltransfers ließen sich bei einer Anlage in Hartwährungsländern verhindern, genau diese aber werden mit denselben demografischen Umbrüchen konfrontiert wie Deutschland und sind ihrerseits bestrebt, kapitalgedeckte Vorsorge auszubauen. Eine Problemmilderung könnte auch dann auftreten, wenn die Kapitalfundierung zu einer insgesamt höheren Sparquote sowie zu höheren Investitionen und in Folge zu einem steigenden Sozialprodukt führen würde. Aber die Annahmen, die dieser Argumentation zu Grund liegen, sind auf jeder Stufe der Kausalkette ungewiss; empirische Hinweise, dass Kapitaldeckung einen Wachstumspfad auf höherem Niveau begründet, finden sich nicht. So ist es bei einer stärkeren Kapitaldeckung keinesfalls sicher, dass die gesamtwirtschaftliche Spartätigkeit tatsächlich steigt. Es ist auch möglich, dass die Kapitalbildung für die Alterssicherung durch eine verminderte Spartätigkeit für andere Zwecke (z. B. Erwerb von Grundvermögen) substituiert wird. Schließlich hängen Investitionsrate und Wirtschaftswachstum keinesfalls ausschließlich von der Ersparnis ab, sondern von einer Vielzahl von Faktoren (z. B. Nachfrage, Löhne, Produktivität, Arbeitskräfteangebot, Infrastruktur usw.)
Literaturhinweise
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Regelmäßige Veröffentlichungen Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Sozialbudget Bundesministerium für Wirtschaft: Jahreswirtschaftsbericht Jahresgutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
Zeitschriften DIW-Wochenbericht Ifo-Schnelldienst Monatsberichte der Deutschen Bundesbank Soziale Sicherheit Sozialer Fortschritt Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung Wirtschaft und Statistik Wirtschaftsdienst WSI-Mitteilungen Zeitschrift für Sozialreform
Aktuelle Gutachten, Berichte, Analysen zur Finanzierung des Sozialstaats finden sich auf www.sozialpolitik-aktuell.de/finanzierung-berichte.html zum Download.
III
Einkommen
1
Einkommensrisiken und Sozialpolitik
1.1
Einkommen und Lebenslage
In einer entwickelten, hoch arbeitsteiligen Gesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland müssen die meisten für die persönliche Lebensführung notwendigen Güter und Dienstleistungen gekauft werden. Damit wird die Verfügung über Geld, d. h. über ein ausreichendes und kontinuierlich fließendes Einkommen, zu einer grundlegenden Voraussetzung für den individuellen Lebensstandard. Je höher das Einkommen, umso besser ist die Versorgung mit materiellen Gütern und mit Dienstleistungen. Dies betrifft nicht nur die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Bekleidung, die Größe und Qualität der Wohnung, die Ausstattung mit Gebrauchsgütern, den Besitz eines Kraftfahrzeuges, sondern auch Freizeit und Urlaubsgestaltung, soziale Kontakte und Kommunikation, Bildung, kulturelle Betätigung sowie die Inanspruchnahme persönlicher und sozialer Dienstleistungen. Ganz allgemein lässt sich sagen, dass heute eine Teilhabe am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben ohne ausreichendes Einkommen nicht möglich ist. Aber nicht nur die Höhe des Einkommens ist für die Lebenslage entscheidend, es kommt auch darauf an, wie die Menschen ihr Einkommen erhalten. Denn es macht einen qualitativen Unterschied, ob ein eigenes, kontinuierliches Arbeitseinkommen bezogen wird, über das man selbst verfügen kann, oder ob die Existenzsicherung von familiären Unterhaltsleistungen, z. B. des Ehemannes für seine nichterwerbstätige Frau, abhängig ist. Es ist auch ein Unterschied im Grad der Eigenständigkeit, Verlässlichkeit und Planbarkeit der Lebensführung, ob z. B. ältere Menschen mit einer Rente rechnen können, die den Lebensstandard sichert, auf die ein Rechtsanspruch besteht und die jährlich der allgemeinen Einkommensentwicklung angepasst wird, oder aber ob die Betroffenen auf bedürftigkeitsgeprüfte, womöglich von Ermessensentscheidungen abhängige Fürsorgeleistungen angewiesen sind, die gerade einmal das Existenzminimum abdecken. Als entwürdigend kann es empfunden werden, von privater Wohltätigkeit oder karitativer Barmherzigkeit abhängig zu sein. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Bäcker et al., Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06249-1_3
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Einkommen
Deutschland zählt zu den reichsten Ländern der Welt. Betrachtet man die Höhe des Volkseinkommens, so dürften eigentlich keine Einkommens- und Versorgungsprobleme bestehen. Das Volkseinkommen beträgt rund 2,5 Billionen Euro (2018), das entspricht bei 82,7 Millionen Einwohnern einem Pro-Kopf-Einkommen von etwa 30 000 Euro im Jahr. Doch solch ein Durchschnittswert sagt wenig aus. Statistische Mittelwerte ebnen Unterschiede in der Einkommensverteilung rechnerisch ein, machen soziale Ungleichheiten unkenntlich. Auch bei der Vermögensverteilung macht es keinen Sinn, aus der Gesamtsumme der Geldvermögen einen pro-Kopf Wert von fast 70 000 Euro abzuleiten, denn ein kleiner Teil der Bevölkerung verfügt über ein deutlich höheres Geldvermögen, während der größte Teil wesentlich weniger aufweist – bis hin zur Verschuldung. Eine Gleichverteilung von Einkommen und Vermögen gibt es nicht und kann es in einer Markt- und Leistungsgesellschaft auch nicht geben. Soziale Ungleichheiten prägen das Gesicht heutiger Gesellschaften. Die grundlegende Frage ist allerdings, wie groß die Unterschiede zwischen „unten“ und „oben“ sind, wie stark die „Mitte“ der Gesellschaft besetzt ist und welche Entwicklung im Zeitverlauf sich zeigt, ob also die Ungleichheit gewachsen ist oder sich verringert hat. Bei der Verteilung des erwirtschafteten Wohlstands geht es dabei nicht nur um die absolute Höhe der Einkommen, sondern vor allem auch um die relative Stellung von einzelnen Personen, Personengruppen oder Haushalten in der Hierarchie der Einkommen und Vermögen wie auch der Lebensbedingungen insgesamt. Untergliedert man die Bevölkerung nach demografischen und sozialen Merkmalen, dann fällt auf, dass es signifikante Unterschiede u. a. zwischen den Geschlechtern, Altersgruppen, Haushaltszusammensetzungen, Nationalitäten und Regionen gibt. Gleichermaßen signifikante Abweichungen zeigen sich, wenn man nach dem schulischen und beruflichen Bildungsabschlusses, dem Erwerbsstatus (Erwerbstätige, Arbeitslose, Rentner:innen), der berufliche Stellung (Arbeiter:in, Angestellte, Beamt:in, Selbstständige) oder den Tätigkeitsanforderungen (Qualifikation) unterscheidet. Zu fragen ist auch, ob es inmitten einer Wohlstandsgesellschaft Armut gibt. Armut wie auch Reichtum sind dabei immer relative Tatbestände. In einem wohlhabenden Land wie Deutschland beginnt Armut nicht erst bei Hunger und Unterernährung, sondern beim Unterschreiten des soziokulturellen Existenzminimums, das sich nach dem allgemeinen Einkommens- und Lebensstandardniveau bemisst. In einer Marktwirtschaft stellt die Beteiligung am Erwerbsprozess die Grundlage der Einkommenserzielung dar. Die Markteinkommen – das sind Einkommen aus abhängiger Arbeit (Löhne und Gehälter) sowie Gewinne und Vermögenseinkünfte – sind ein Spiegelbild der am Markt erstellten und mit Preisen bewerteten Güter und Dienstleistungen. Die Entstehungsseite des Sozialprodukts, also die Produktion, und die Verteilungsseite des Sozialprodukts, also die Einkommenserzielung, bedingen sich gegenseitig. Wenn aber Einkommensansprüche nur durch den Einsatz von Kapital und Arbeit erwachsen, sind mit dieser Einkommensverteilung zwangsläufig Probleme verbunden: Wovon sollen die Güter des täglichen Bedarfs und die Mieten
Einkommensrisiken und Sozialpolitik
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gezahlt werden, wenn Menschen in die Arbeitslosigkeit entlassen werden und das Arbeitseinkommen entfällt ? Wie bestreiten Erwerbsunfähige ihren Lebensunterhalt ? Welches Einkommen erhalten Ältere, die aus dem Beruf ausgeschieden sind ? Wie kann die Erziehung und Ausbildung von Kindern finanziert werden, wenn sich das Erwerbseinkommen nicht nach der familiären Situation richtet ? Und wie ist es mit der Einkommenssicherung bestellt, wenn Beschäftigte krank werden, ihr Arbeitseinkommen verlieren und zugleich die Rechnungen für ärztliche Behandlung und Arzneimittel bezahlen müssen ? Diese Fragen machen deutlich, dass die Einkommensverteilung über den Markt systematische Lücken aufweist und durch sozialpolitische Regelungen korrigiert und ergänzt werden muss. Wenn davon ausgegangen wird, dass Höhe und Verteilung der Einkommen für die Lebenslage der Menschen von entscheidender Bedeutung sind, so heißt dies allerdings nicht, die Verfügung über Geld sei der ausschließliche Bestimmungsfaktor für die individuelle Lebenslage, und die Höhe des Volkseinkommens sei der treffende Indikator für die Wohlfahrt einer Gesellschaft. Um eine Aussage über die Lebensqualität treffen zu können, müssen die Lebens-, Arbeits und Umweltbedingungen, unter denen das Einkommen erzielt wird, in Rechnung gestellt werden. Von entscheidender Bedeutung ist auch, welches Maß an öffentlicher Infrastruktur bereitsteht und ohne direkte Bezahlung genutzt werden kann. Das betrifft so wichtige Bereiche wie das Bildungswesen, die Versorgung mit sozialen Diensten und Einrichtungen, Kultur und Freizeitgestaltung sowie das öffentliche Verkehrswesen. Gleichermaßen ist zu berücksichtigen, wofür das Einkommen verwandt wird bzw. verwandt werden muss. Zu fragen ist nach den Qualitäten der Einkommensverwendung und nicht nur nach deren Quantitäten. Dieser Zusammenhang wird beispielhaft deutlich, wenn in der Gesellschaft der Produktions- und Einkommenszuwachs um den Preis von Umweltschädigungen erfolgt und ein großer Teil des zusätzlichen Einkommens nur dazu dient, um die Folgekosten dieser Entwicklung, z. B. durch nachträglichen Umweltschutz, abzudecken. Gleichermaßen fragwürdig ist ein Produktions- und Einkommenszuwachs, der um den Preis wachsender sozialer Ungleichheiten und Spannungen erreicht wird. Die sozialen Auswirkungen einer solchen Wachstumsstrategie können dann auch zu finanziellen Folgekosten führen, wenn etwa die Kriminalität steigt und wachsende Ausgaben für öffentliche und private Sicherheit (Mehraufwendungen für Polizei, Wachdienste, Alarmanlagen) anfallen. Schließlich ist auch immer zu bilanzieren, mit welchen individuellen Anforderungen und Belastungen ein bestimmtes Einkommen erzielt wird. Ein Einkommen, das mit niedrigen Wochenarbeitszeiten, einem ausgedehnten Jahresurlaub und unter humanen Arbeitsbedingungen erreicht wird, ist anders zu bewerten als ein Einkommen, das mit hohen Arbeitsbelastungen, mit langen und ungünstigen Arbeitszeiten oder mit Überstunden und Nebentätigkeiten verbunden ist. Arbeiten in einer Familie beide Elternteile kann der tatsächliche Zuwachs an disponiblem Einkommen recht gering sein, denn die Kosten für Kinderbetreuung, für ein zweites Kfz im Haushalt, für außerhäusiges Essen usw. müssen gegengerechnet werden.
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Einkommen
Niveau und Wachstum des Volkseinkommens lassen sich deshalb nicht automatisch mit einer Erhöhung des Wohlstands und der Lebensqualität gleichsetzen. Unberücksichtigt bleibt bei dieser monetär-statistischen Betrachtung zudem die gesamte Versorgung mit nicht-marktlichen Gütern und Dienstleistungen. Denn auch in entwickelten Gesellschaften kommt dem Sektor unbezahlter Arbeit eine hohe Bedeutung zu. Zu erwähnen sind die Familien, Erziehungs- und Eigenarbeit, die Nachbarschaftshilfe und das soziale Ehrenamt (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 8). All diese Tätigkeiten bleiben, weil sie nicht formell entlohnt werden, außerhalb der Berechnung des Volkseinkommens. Werden sie hingegen erwerbsförmig gestaltet (wenn beispielsweise bislang ehrenamtlich Tätige angestellt und für ihre Arbeit bezahlt werden) erhöhen sich rein rechnerisch Sozialprodukt und Volkseinkommen, ohne dass dies eine entsprechende Verbesserung der Versorgungs- und Wohlfahrtslage der Gesellschaft bedeuten muss. Unberücksichtigt bleiben bei der Einkommensmessung durch die amtliche Statistik auch jene Einkommen, die durch Schatten- oder Schwarzarbeit entstehen. Über die Verteilung des erwirtschafteten Wohlstandes in einer Gesellschaft kann nicht „objektiv“ entschieden werden, ausschlaggebend sind sowohl die Verhältnisse auf dem Arbeits- und Kapitalmarkt als auch die Ergebnisse von politischem Handeln. Weil es gegensätzliche Interessen gibt, sind Verteilungskonflikte strukturell angelegt: So streiten Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände über Lohnerhöhungen und oftmals wird ein Kompromiss erst nach einem Streik erzielt. Und in der Politik herrschen höchst unterschiedliche Vorstellungen über die Höhe von Steuern auf der einen Seite und von Sozialleistungen auf der anderen Seite. Die Liste der strittigen Themen ist lang. So muss politisch entschieden werden, wie hoch das sozial-kulturelle Existenzminimum sein soll. Kontrovers ist die Frage nach Besteuerung von Vermögen und Erbschaften. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Es zeigt sich: Parteien kämpfen mit ihren verteilungspolitischen Konzepten um politische Mehrheiten; Verbände aller Art suchen ihre Interessen zur Geltung zu bringen. Wenn von Einkommensrisiken in einer Marktwirtschaft die Rede ist, dann sind verschiedene Problemdimensionen zu unterscheiden: •
Fehlendes Erwerbseinkommen Menschen, die nicht erwerbsfähig sind oder denen aus anderen Gründen der Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt ist, sind ohne einen Einkommenszufluss aus einer anderen Quelle in ihrer Existenz gefährdet. • Ausfall des Erwerbseinkommens Wenn das Erwerbseinkommen ausfällt, weil wegen Krankheit, Invalidität oder fortgeschrittenem Alter Arbeit nicht (mehr) möglich ist, weil wegen der Geburt von Kindern die Erwerbstätigkeit unterbrochen wird oder weil Arbeitsplätze fehlen und Arbeitslosigkeit entsteht, stellt sich zwingend die Frage nach einem (zumindest partiellen) Ersatz des ausgefallenen Arbeitseinkommens. Um diese Funktion eines Einkommens- bzw. Lohnersatzes zu erfüllen, muss sich die Höhe
Einkommensrisiken und Sozialpolitik
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der Leistung an der Höhe des vormaligen Erwerbseinkommens orientieren. Und hinsichtlich der Dauer des Bezugs besteht Bedarf nach einer zeitlich begrenzten oder unbefristeten (so bei der Alterssicherung) Einkommensleistung. • Unstetigkeit und Unsicherheit des Erwerbseinkommens Da die Lebensführung zu einem großen Teil durch fixe Kosten bestimmt wird (z. B. Mietzahlungen), kann eine Unstetigkeit der Erwerbseinkommen sehr schnell zu Problemen führen. Lebensführung und -planung werden in Frage gestellt, wenn ungewiss ist, ob im nächsten Monat noch mit einem Einkommen gerechnet werden kann. Dem Problem einer fehlenden Stetigkeit der Einkommenserzielung kommt vor allem bei selbstständigen Erwerbseinkünften Bedeutung zu, da die Betroffenen das Unternehmensrisiko alleine zu tragen haben. Aber auch bei Arbeitnehmerverdiensten spielt dieses Problem eine wachsende Rolle, nämlich bei den sich ausbreitenden atypischen Formen von Erwerbstätigkeit wie Saisonarbeit, Scheinselbstständigkeit, Arbeit auf Basis von Honorar- oder Werkverträgen, befristete Beschäftigung oder bei Beschäftigungsverhältnissen mit ergebnisorientierter Entlohnung. • Fehlende Bedarfsangemessenheit des Erwerbseinkommens Die Höhe des Arbeitseinkommens ist daraufhin zu bewerten, ob es ausreicht, um auch spezifischen Bedarfslagen gerecht zu werden. Der Einkommensbedarf richtet sich dabei stark nach der familiären und sozialen Situation, in der die Menschen leben. Versorgung, Erziehung und Ausbildung von Kindern beispielsweise erhöhen den Einkommensbedarf. Auch bei Krankheiten steigt der Einkommensbedarf, denn nicht nur das Arbeitseinkommen entfällt, sondern es entstehen zugleich Mehraufwendungen für medizinische und pflegerische Leistungen, die in vielen Fällen den finanziellen Dispositionsspielraum der Betroffenen bei Weitem übersteigen. • Fehlende Leistungsangemessenheit des Erwerbseinkommens Wenn sich in einer Marktwirtschaft der finanzielle Ertrag einer Teilhabe am Erwerbsleben nach dem Kriterium der „Leistung“ richtet, dann bleibt stets offen, ob die Höhe des Arbeitseinkommens tatsächlich in einem als angemessen bzw. „gerecht“ empfundenen Verhältnis zur Arbeitsleistung und zur Ausbildung steht. Eine anspruchsvolle Tätigkeit mit einer hohen Qualifikation und mit einer hohen Verantwortung sollte besser als eine einfache Tätigkeit bezahlt werden. Aber was ist eine „anspruchsvolle“ und was eine „einfache“ Tätigkeit ? Wie werden die Maßstäbe gesetzt ? Und wie lässt es sich z. B. rechtfertigen, dass anspruchsvolle technische Tätigkeiten, die überwiegend von Männern ausgeübt werden, deutlich besser bezahlt werden als anspruchsvolle soziale Dienstleistungen, die überwiegend von Frauen ausgeübt werden ?
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1.2
Einkommen
Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit und familiäre Unterstützung
Die Gefahr, kein ausreichendes oder überhaupt kein Arbeitseinkommen zu erhalten, hängt eng mit den Bedingungen und Voraussetzungen eines marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems zusammen. Kennzeichnend für diese Wirtschaftsordnung ist der Tatbestand, dass der weit überwiegende Teil der Bevölkerung seinen Lebensunterhalt nur durch abhängige (Lohn)Arbeit sichern kann. Nahezu 90 % aller Erwerbstätigen sind heute abhängig beschäftigt. Die Zahl der Selbstständigen hat sich in den letzten Jahrzehnten ständig verringert, steigt allerdings seit einigen Jahren wieder leicht an. Mangels anderer, von der individuellen Arbeitsleistung unabhängiger Einkommensarten (Vermögens- und Gewinneinkünfte) besteht ein mehr oder minder starker Zwang, die Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt anzubieten, um als Gegenleistung für die Tätigkeit ein entsprechendes Entgelt zu erhalten. Der Arbeitslohn ist damit die wesentliche Einkommensquelle, mit der die zum Lebensunterhalt notwendigen Güter und Dienstleistungen gekauft werden können. Die (Verkaufs)Chancen auf dem Arbeitsmarkt bestimmen ganz entscheidend die Lebensbedingungen der Bevölkerung. Diese Koppelung von Einkommen und abhängiger Arbeit hat weitreichende soziale Konsequenzen: Während Vermögenseinkommen unabhängig von der persönlichen und sozialen Situation des Eigentümers fließen, z. B. werden Zinsen auch bei Krankheit und im Alter gezahlt, geraten abhängig Beschäftigte in Existenzprobleme, wenn der Einsatz der Arbeitskraft vorübergehend oder dauerhaft nicht möglich ist. Aber auch für „kleine“ Selbstständige, die im eigenen Betrieb bzw. als „Solo-Selbstständige“ tätig sind, führen Krankheit oder Invalidität zu existenziellen Einkommensrisiken. Den Einkommensrisiken bei abhängiger Erwerbsarbeit kann individuell nur begrenzt ausgewichen werden, denn in der Regel stehen weder ausreichende Vermögenseinkünfte zur Verfügung, noch lässt sich der Einkommensbedarf durch Eigenarbeit ersetzen: Als Alternative zu den Arbeitseinkommen böten sich arbeitsfreie Einkünfte aus Vermögen (Zinsen, Mieten, Vermögensauflösung) oder Gewinnen an. Zwar haben in den hoch entwickelten Industriegesellschaften auch Arbeitnehmerhaushalte Geldund Grundvermögen bilden können. Aber die durchschnittliche Höhe der Geldanlagen reicht allenfalls aus, um für wenige Monate den Ausfall des Arbeitseinkommens zu ersetzen und den Lebensstandard zu sichern. Im Bereich der Produktion von Gütern spielen Eigenarbeit und Haushaltsproduktion keine Rolle mehr. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln, mit Gütern des täglichen Bedarfs und langlebigen Gebrauchsgütern verläuft nahezu ausschließlich über den Markt. Anders sieht es bei Dienstleistungs- und Handwerkstätigkeiten aus, die sowohl auf dem Markt angeboten, aber auch im hohen Maße in Eigenarbeit erbracht werden. Eine verstärkte individuelle bzw. familiäre Erbringung von Dienstleistungen kann den Einkommensbedarf aber nur mindern und nicht ersetzen. Ein Mehr an
Einkommensrisiken und Sozialpolitik
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Eigenarbeit kann auch mit zusätzlichem Einkommensbedarf verbunden sein, wenn man z. B. an die Ausstattung mit technischen Gerätschaften denkt, die für ein „do it yourself “ erforderlich sind. Der traditionelle, ursprüngliche Weg, mit Einkommensproblemen umzugehen, bestand in der Unterstützung der nicht Erwerbstätigen bzw. nicht Erwerbsfähigen durch ihre Familie. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein waren es die Familien, die den Lebensunterhalt ihrer älteren und kranken Angehörigen durch Unterhaltsleistungen gesichert haben. Die in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Sozialversicherungspolitik war zunächst nur als Ergänzung, nicht aber als Ersatz der Familienhilfe angelegt. Schon bald zeigte sich, dass im Zuge von Industrialisierung und Modernisierung der Gesellschaft die traditionellen familiären Unterstützungssysteme brüchig wurden. Zur familiären Hilfe müssen die objektive Fähigkeit und die subjektive Bereitschaft bestehen. Die Fähigkeit zur Unterstützung hängt zentral von der Einkommensposition des „Ernährers“ ab. Insofern bleiben Höhe und Kontinuität von familiären Unterhaltsleistungen eng an Höhe und Kontinuität der Erwerbseinkommen gebunden. Beim Ausfall des Ernährers infolge von Krankheit, Arbeitslosigkeit, Erwerbsunfähigkeit oder Tod gerät unmittelbar die gesamte Familie in Existenznöte. Ein Rückgriff auf entfernte Verwandte ist zur Abdeckung von Einkommensausfällen nur sehr begrenzt möglich und muss, zumal wenn es um dauerhafte Leistungen geht, als gering eingeschätzt werden. Bei der Bereitschaft zur Unterstützung muss zudem berücksichtigt werden, dass der Wandel von Familienstrukturen und Lebensformen (Auflösung des Mehrgenerationenhaushalts, sinkende Kinderzahl, Zunahme der Alleinerziehenden, sinkende Heirats- und wachsende Scheidungshäufigkeit, zunehmende berufliche und regionale Mobilität, steigende Lebenserwartung) eine Auflockerung traditioneller Verpflichtungen eingeleitet hat (vgl. Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 2). Der Trend zur Individualisierung der Lebensformen und das Bestreben zum Abbau finanziell bestimmter persönlicher Abhängigkeiten haben dazu geführt, dass sich in modernen Gesellschaften familiäre Unterhalts- und Unterstützungsleistungen weitgehend auf Leistungen zwischen (Ehe)Partnern einerseits und zwischen Eltern und ihren Kindern andererseits beschränken. In jeder Gesellschaft muss nicht nur Erwerbsarbeit, sondern gleichermaßen familiäre Erziehungs- und Hausarbeit geleistet werden. Diese Reproduktionsarbeit erfolgt unentgeltlich und außerhalb des Arbeitsmarktes. Entsprechend der tradierten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ist Erziehungs- und Hausarbeit auch heute noch im Wesentlichen die Arbeit von Frauen. Das gilt gleichermaßen für die häusliche Pflege von älteren Angehörigen. Zwar verbindet ein großer und wachsender Teil von Frauen Berufstätigkeit und Kindererziehung, aber die Erwerbsbiografien sind häufig durchbrochen. Fehlt die aus marktförmiger Erwerbstätigkeit gewonnene Einkommensgrundlage, sind (Ehe)Frauen auf Unterhaltsleistungen ihres erwerbstätigen (Ehe)Mannes angewiesen. Nach diesem Modell übernimmt der Ehemann die Ernährer- und Versorgerfunktion. Aber auch die Arbeitseinkommen der großen Zahl der
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Einkommen
teilzeitbeschäftigten (Ehe)Frauen reichen zur individuellen Existenzsicherung kaum aus. Entscheidende Größe zur Sicherstellung des Lebensunterhalts von Mann und Frau ist das gemeinsam erworbene Haushaltseinkommen. Aus dem von den Eltern erzielten Haushaltseinkommen müssen auch die Aufwendungen für die Kinder bestritten werden, da diese in der Regel über kein eigenes Einkommen verfügen. Eltern sind gegenüber minderjährigen oder erwachsenen Kindern, die wegen einer weiterführenden Ausbildung noch nicht erwerbstätig sind, zum Unterhalt verpflichtet. Familie und Ehe sind insofern bis heute eine grundlegende Versorgungsinstanz. Das System der privatrechtlichen Unterhaltspflichten zwischen den Ehegatten untereinander sowie von Eltern gegenüber ihren Kindern und von Kindern gegenüber ihren Eltern ist im Einzelnen im Bürgerlichen Gesetzbuch geregelt und wird durch die Rechtsprechung konkretisiert. 1.3
Sozialpolitik als Einkommensverteilungspolitik
Die mit der Erwerbsarbeit in Marktwirtschaften verbundenen Einkommensrisiken bilden den systematischen und historischen Ausgangspunkt für sozialstaatliche Interventionen und Leistungen. Sozialpolitik ist immer auch Einkommensverteilungspolitik. Durch die Zahlung von Sozialeinkommen werden die Ergebnisse der Marktverteilung korrigiert und die strenge Koppelung von Einkommen und Erwerbsarbeit gelockert: So bleibt der Lebensunterhalt unter bestimmten Bedingungen auch dann gesichert, wenn wegen Arbeitslosigkeit, Alter, Krankheit oder Invalidität nicht (mehr) gearbeitet werden kann. Damit mindert sich der unbedingte Angebotszwang der Arbeitskraft; der Warencharakter der Arbeitskraft wird eingeschränkt (Dekommodifizierung), jedoch nicht außer Kraft gesetzt. Der Grad der Dekommodifizierung hängt dabei davon ab, in welchem Maße der Anspruch auf Sozialeinkommen und dessen Leistungshöhe von einer vorangegangenen Erwerbstätigkeit abhängig sind. Sozialpolitik als Einkommensverteilungspolitik setzt auf unterschiedlichen Ebenen an, hat unterschiedliche Ziele und bedient sich unterschiedlicher Instrumente. Grundlegend ist die auch in den folgenden Ausführungen vorgenommene Abgrenzung von Arbeitseinkommen und Sozialeinkommen: Niveau und Struktur der Arbeitseinkommen, so wie sie auf dem Arbeitsmarkt erzielt werden, geben Auskunft über die primäre Verteilung. • Diese Primäreinkommen werden durch die Zahlung von Sozialeinkommen nachträglich korrigiert. Im Rahmen dieser Sekundärverteilung erhalten jene Personen ein Einkommen, die kein Arbeitseinkommen (mehr) beziehen oder aber deren Arbeitseinkommen nicht ausreicht, um unabweisbare persönliche Bedarfslagen abzudecken. Der Staat finanziert die Sozialeinkommen im Wesentlichen durch Steuern und Beiträge, die vom Arbeitseinkommen abgezogen werden und dieses entsprechend verringern. •
Einkommensrisiken und Sozialpolitik
Abbildung III.1
173
Einkommensarten: Ausgewählte Beispiele
Einkommensarten: Ausgewählte Beispiele Erwerbseinkommen Abhängige Arbeit
Kapital
Sozialeinkommen Sozialversicherung
Private Übertragungen Kindesunterhalt
Löhne
Zinsen
Renten
Ehegattenunterhalt
Gehälter
Gewinne
Arbeitslosengeld
Freiwillige Zahlungen
Dividenden
Krankengeld
Mieten/ Pachten
Grundsicherung SGBII/Hartz IV Sozialhilfe
Weitere Transfers Direkt Kindergeld
Indirekt Steuerfreibeträge
Elterngeld
Bei der Abgrenzung der Primärverteilung von der nachträglich einsetzenden Sekundärverteilung muss berücksichtigt werden, dass es eine isolierte Betrachtung der Primärverteilung letztlich nicht geben kann, weil zwischen der Verteilung der Arbeitseinkommen und der sozialstaatlichen Sekundärverteilung ein Wechselverhältnis besteht. Die umverteilten Einkommensströme wirken in einem bestimmten, freilich quantitativ kaum ermittelbaren Ausmaß auf die primäre Einkommensentstehung, -verwendung und -verteilung im Arbeits- und Produktionsprozess zurück. Ein Beispiel: Die Arbeitslosenunterstützung dämpft den bei Massenarbeitslosigkeit entstehenden Druck auf die Arbeitslöhne. Der lohnsenkende Konkurrenzmechanismus der „industriellen Reservearmee“ der Arbeitslosen wird eingeschränkt, wenn sie einen ausreichenden Einkommensersatz erhalten und nicht unter dem Zwang stehen, auch die Arbeitsplätze mit den niedrigsten Löhnen annehmen zu müssen. Es ist diese Rückwirkung der Sozialleistungen auf die Arbeitslöhne, die den Anstoß gibt für die ständigen Auseinandersetzungen in der Sozialpolitik um Höhe, Dauerhaftigkeit und Reichweite der Arbeitslosenunterstützung. Ein vergleichbarer Zusammenhang besteht zwischen der Höhe der Grundsicherung, mit der das Existenzminimum der Gesellschaft definiert wird, und den Arbeitseinkommen, insbesondere in den unteren Lohngruppen.
174
Einkommen
Bei den Sozialeinkommen handelt es sich weit überwiegend um direkte Geldzahlungen, um monetäre Transfers, die die Einkommenslage der Leistungsempfänger:innen unmittelbar verbessern. Bei den indirekten monetären Leistungen erfolgt die Verbesserung der Einkommenslage durch steuerliche Erleichterungen: Beim Vorliegen bestimmter sozialer Tatbestände, z. B. beim Unterhalt von Kindern, mindert sich die Steuerschuld. Einkommenswirkungen gehen aber auch von der Bereitstellung sozialer und gesundheitlicher Sach- und Dienstleistungen aus: Gesundheitliche Leistungen wie ärztliche Behandlung, Arzneimittelversorgung, Unterbringung und Behandlung im Krankenhaus oder die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe können weitgehend kostenlos in Anspruch genommen werden und verbessern somit die Einkommenslage der Betroffenen mittelbar. Es handelt sich um reale Transfers, deren Nutzung sich nach dem persönlichen Bedarf richtet. Weil die sozialen Sach- und Dienstleistungen außerhalb des Markt-Preis-Mechanismus stehen und für ihre Inanspruchnahme kein Preis oder nur nicht kostendeckende Gebühren gezahlt werden müssen, entstehen den Betroffenen geldwerte Vorteile. Private Ausgaben werden eingespart, soweit die kostspieligen sozialen Sach- und Dienstleistungen überhaupt aus dem laufenden Arbeits- oder Sozialeinkommen finanziert werden können. Es wäre zwar denkbar, die Einkommen der Betroffenen durch spezifische Transfers so weit aufzustocken, dass die sozialen und medizinischen Dienste auf dem Markt gekauft werden könnten. Die Erfahrungen zeigen jedoch, dass die Versorgung mit diesen Leistungen über den Markt weder in quantitativer noch in qualitativer Sicht zu tragbaren Ergebnissen führt (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 11 und Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 2.2). Die Einkommens(um)verteilungspolitik zielt zunächst einmal nicht auf die Veränderung der Ursachen der Einkommensrisiken, wie z. B. Krankheit, Invalidität und Arbeitslosigkeit. Diese Risiken werden als gegeben vorausgesetzt und ihre Folgen durch Sozialleistungen ausgeglichen (kompensatorische Politik). Eine präventive oder vorbeugende Politik versucht hingegen, die Entstehung von Einkommensrisiken zu verhindern, d. h. Arbeitslosigkeit zu vermeiden, Frühinvalidität, Krankheiten und Unfälle zu begrenzen. Zwischen kompensatorischer und präventiver Strategie muss allerdings kein Gegensatz bestehen; die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und die Zahlung von Krankengeld beispielsweise sind Voraussetzungen dafür, dass Krankheiten auskuriert und womöglich Folgeerkrankungen vermieden werden. Auch wenn der kompensatorische Einkommensausgleich die Ursachen für fehlende oder unzureichende Arbeitseinkommen nicht aufgreift, so bedeutet doch jede Lockerung des unbedingten Angebotszwangs der Arbeitskraft infolge von Sozialeinkommen ein Stück reale Freiheit für die Betroffenen. Kranke müssen erst dann wieder arbeiten, wenn dies ihr Gesundheitszustand erlaubt; Arbeitslose brauchen nicht jeden Arbeitsplatz anzunehmen; Erwerbsgeminderte haben Anspruch auf eine Rente, wenn eine Arbeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich ist.
Einkommensverteilung
175
Sozialpolitik als Einkommensumverteilung sichert den Lebensunterhalt der Menschen und ermöglicht dadurch die Teilhabe aller am materiellen Wohlstand der Gesellschaft. Jedoch bedeutet gesellschaftliche Teilhabe mehr als nur die Verfügung über Einkommen. Es geht um die gleichberechtigte Beteiligung am wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Leben. Gesellschaftsgestaltende Sozialpolitik kann sich deshalb nicht darin erschöpfen, möglichst hohe Transferleistungen zu garantieren. Verbesserung von Bildung und Ausbildung, Abbau von Arbeitslosigkeit, Förderung beim Zugang zum Arbeitsmarkt, Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung – all dies sind Maßnahmen, die die Menschen befähigen, ihren Unterhalt aus eigenem Erwerbseinkommen zu bestreiten und unabhängig von Sozialtransfers zu leben. Dieses Ziel lässt sich indes nicht durch Kürzungen von Leistungen oder gar durch die Versagung von Ansprüchen erreichen, sondern nur durch eine Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Familienpolitik, die die Erwerbsintegration fördert und verbessert und dadurch den Rückgriff auf Transferzahlungen begrenzt.
2
Einkommensverteilung
2.1
Grundfragen einer Verteilungsanalyse
Allgemeine Aussagen über „die“ Einkommensverteilung sind nicht sinnvoll. Eine Analyse der Einkommensverteilung setzt Klärungen voraus. Zu erläutern ist, welcher Einkommensbegriff verwendet, welche Empfängereinheit bzw. -gruppe betrachtet und auf welche räumliche und zeitliche Dimension abgestellt wird. Einkommensart • Zu unterscheiden ist zwischen dem Faktoreinkommen und dem personellen Einkommen. Das Faktoreinkommen beziffert die Einnahmen, die durch den Einsatz des Faktors Arbeit (Einkommen aus unselbstständiger Beschäftigung) und den Einsatz des Faktors Kapital (Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen) entstehen. Eine Person kann mehrere Einkommensarten beziehen, so z. B. neben Löhnen auch Gewinne, Zinsen, Mieten. • Während die Faktoreinkommen Markteinkommen und Ausdruck der Primärverteilung sind, handelt es sich bei den sozialpolitischen Geldleistungen um Sozialeinkommen, die über die sozialstaatliche Sekundärverteilung gesteuert werden. • Die Maßnahmen der Sekundärverteilung werden durch Steuern und Beiträge finanziert. Die Bruttoeinkommen werden durch den Abzug von Steuern und Beiträgen gemindert, übrig bleiben die Nettoeinkommen. • Werden die Einkommen in laufenden Preisen ausgewiesen, handelt es sich um Nominaleinkommen. Um die Entwicklung des Realeinkommens, also der tatsächlichen Kaufkraft des Einkommens, zu erkennen, müssen die durchschnittlichen Preiserhöhungen aus der Einkommensentwicklung herausgerechnet werden.
176
Einkommen
Einkommensempfänger:innen • Die Empfängereinheit des Einkommens kann sich entweder auf eine einzelne Person (personelles Einkommen) oder eine Personen- und Bedarfsgemeinschaft (Familien- oder Haushaltseinkommen) beziehen. Das personelle Einkommen ist ein Individualeinkommen, während beim Haushaltseinkommen alle Einkommen zusammengefasst werden, die den Haushaltsmitgliedern zufließen und gemeinsam verwendet werden. • Das personelle wie das Haushaltseinkommen kann sozialen Gruppen zugeordnet werden. Die Gruppierung erfolgt u. a. nach der sozialen Stellung (Arbeiter, Angestellte, Selbstständige, Qualifikation), dem Geschlecht, der Haushaltsgröße (Zahl der Kinder) und dem Lebensalter (Generationenvergleich). Die Einkommensverteilung kann innerhalb einer Gruppe oder zwischen einzelnen Gruppen analysiert werden. So vergleicht eine intragenerationale Analyse die Einkommensverteilung z. B. innerhalb der Gruppe der älteren Menschen, eine intergenerationale Analyse vergleicht die Einkommen z. B. zwischen älterer und mittlerer Generation. Räumliche Dimension • Einkommensanalysen beziehen sich im Regelfall auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Wegen der immer noch erheblichen Abweichungen von Einkommensniveau und -struktur zwischen den alten und den neuen Bundesländern kann aber auch eine getrennte Erfassung dieser beiden Gebiete informativ sein. Darüber hinausgehende Vergleiche zwischen einzelnen Regionen Deutschlands, z. B. zwischen einzelnen Bundesländern oder städtischen und ländlichen Regionen, können räumliche Besonderheiten und Unterschiede noch deutlicher machen. • Bei internationalen Vergleichen, denen vor allem im Rahmen der Europäischen Union Bedeutung zukommt, sollen die Unterschiede hinsichtlich Einkommensniveau und -struktur zwischen einzelnen Ländern sichtbar gemacht werden. Zeitliche Dimension • Wenn sich die Betrachtung auf einen bestimmten Zeitpunkt bezieht, handelt es sich um eine Querschnittanalyse. Werden Querschnittsdaten über Jahre hinweg verfolgt, lassen sich allgemeine Entwicklungstrends erkennen. Da der Datenerhebung jeweils unterschiedlich zusammengesetzte Personengruppen zugrunde liegen, ist der Aussagewert allerdings begrenzt. Erst bei einer Längsschnittanalyse werden bei identischen Personen bzw. Haushalten Einkommensdaten im Zeitablauf erfasst. Diese Vorgehensweise ermöglicht es, die Entwicklungsdynamik von Einkommenspositionen im Einzelnen zu beobachten und zu vergleichen. So kann z. B. beurteilt werden, ob eine im Querschnitt feststellbare niedrige Einkommensposition für die Betroffenen ein Dauerzustand ist oder schnell überwunden wird, dafür aber neue Personengruppen in diese Position gelangen.
Einkommensverteilung
•
177
Möglich ist auch, die Einkommensposition von Personen oder von Geburtsjahrgängen (Kohorten) in ihrem gesamten Lebensablauf zu untersuchen. Diese Analyse lässt sich erweitern zu einem Vergleich der Einkommensposition zwischen verschiedenen Kohorten. Hier interessiert z. B. aktuell die Frage, ob die heute Jüngeren in Zukunft ein ähnliches Einkommensniveau wie die heute Älteren erzielen werden, oder ob dann, wenn sie selbst ins Rentenalter kommen, aufgrund der demografischen Veränderungen schlechtere Bedingungen vorherrschen (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 12.3).
Als ein grundlegendes Problem bei Analysen der Einkommensverteilung erweist sich der Tatbestand, dass das statistische Datenmaterial vielfach lückenhaft ist und nur zeitverzögert zur Verfügung steht. Häufig werden unterschiedliche Einkommensarten erfasst, so dass Vergleiche nur beschränkt möglich sind. Da die Daten über Höhe und Zusammensetzung der persönlichen Einkommen aus Umfragen ermittelt werden, muss davon ausgegangen werden, dass die Einkommen, und hier insbesondere Einmalzahlungen und Nebeneinkommen, nicht vollständig abgebildet werden. Vor allem im oberen Einkommensbereich ist mit Untererfassungen zu rechnen. Zudem sind bei den Stichproben bestimmte Haushalte bzw. Personen unterrepräsentiert. Auch dies betrifft in erster Linie den Bereich der höheren Einkommen. Auch Bewertungsfragen spielen eine Rolle. Zu entscheiden ist beispielsweise, wie mit einem selbst genutzten Wohneigentum umzugehen ist. Da keine Mietzahlungen anfallen, erhöht sich für die Betroffenen faktisch ihr Einkommen. 2.2
Gesamtwirtschaftliche Einkommensverteilung
2.2.1 Bruttoinlandsprodukt und Volkseinkommen
Die in einer Volkswirtschaft in einer Periode, d. h. in einem Jahr, erzeugten Güter und Dienstleistungen sind das, was (ohne Berücksichtigung der Außenverflechtung – Exporte etc.) für Investitionen und für Konsumzwecke zur Verfügung steht. Bewertet man die Summe dieser Güter und Dienstleistungen mit Preisen, so errechnet sich das Sozialprodukt. Durch die Produktion von Gütern und die Erstellung von Dienstleistungen entstehen zugleich Einkommen, die den beteiligten Faktoren Arbeit und Kapital zufließen und sich zum Volkseinkommen summieren. Die Entstehungsseite des Sozialprodukts, also die Produktion, und die Verteilungsseite des Sozialprodukts, also die Einkommenserzielung, bedingen sich gegenseitig. Im Jahr 2018 beziffert sich das Bruttoinlandsprodukt auf einen Betrag von 3 344 Mrd. Euro und das Volkseinkommen auf 2 503 Mrd. Euro. Das Volkseinkommen fällt wegen verschiedener Abzüge niedriger aus als das Bruttoinlandsprodukt (BIP), insbesondere die Abschreibungen werden in Anrechnung gebracht. Typisch für die Situation seit Gründung der Bundesrepublik ist ein kontinuierliches Wachs-
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Einkommen
tum dieser beiden Aggregatgrößen. Die Wachstumsraten waren in der Nachkriegszeit sehr hoch („Wirtschaftswunder“). Ab Anfang der 1970er Jahre zeigt sich eine Abschwächung. Aber auch in der jüngeren Vergangenheit – so für die Jahre seit 2000 – weist der Trend nach oben, der Zuwachs (in jeweiligen Preisen) von BIP und Volkseinkommen liegt zwischen 2000 und 2018 bei rund 55 %, preisbereinigt bei rund 27 %. Üblich ist es, das Volkseinkommen durch die Zahl der Einwohner zu teilen. Die so ermittelte Höhe des pro-Kopf Volkseinkommens ist ein zentraler Indikator zur Messung des Wohlstands einer Gesellschaft. Im internationalen Vergleich zählt Deutschland zu den wohlhabendsten Ländern. Und auch im europäischen bzw. EU-Kontext rangiert Deutschland im Spitzenfeld. Die Zuordnung des Volkseinkommens auf Kapital und Arbeit wird als funktionelle Primärverteilung bezeichnet. Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung unterscheidet zwischen • •
Einkommen aus unselbstständiger Arbeit (Arbeitnehmerentgelte) und Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen.
Übersicht III.1 Verteilung des Sozialprodukts nach der Systematik der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung Bruttoinlandsprodukt
Bruttowertschöpfung in der Produktion von Waren und Dienstleistungen nach Abzug von Vorleistungen
Bruttonationaleinkommen
= Bruttoinlandsprodukt abzüglich des Saldos aus Zuflüssen von Primäreinkommen ans Inland/Abflüsse aus dem Inland
Nettonationaleinkommen
= Bruttonationaleinkommen abzüglich Abschreibungen
Nettonationaleinkommen zu Faktorkosten
= Nettonationaleinkommen abzüglich Subventionen und ohne Produktions- und Importabgaben
= Volkseinkommen
= Summe aller Erwerbs- und Vermögenseinkommen, die Inländern (Personen, die ihren Wohnsitz in Deutschland haben) zufließen.
= − Arbeitnehmerentgelt und − Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen darunter: Arbeitnehmerentgelt
= Bruttolöhne und -gehälter und Sozialbeiträge der Arbeitgeber
Bruttolöhne und -gehälter
= Arbeitnehmerentgelt abzüglich Sozialbeiträge der Arbeitgeber
Nettolöhne und -gehälter
= Bruttolöhne und -gehälter abzüglich Lohnsteuer und Sozialbeiträge der Arbeitnehmer
Einkommensverteilung
179
Die Arbeitnehmerentgelte umfassen die Bruttolöhne und -gehälter sowie die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung. Berücksichtigt werden die Bruttolöhne und -gehälter aller Arbeitnehmergruppen und alle Einkommensbestandteile. Dazu zählen laufende Verdienste inklusive Zuschläge für Überstunden, Nacht- und Sonntagsarbeit usw., Sonderzahlungen (Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, Gratifikationen, vermögenswirksame Leistungen), Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall sowie Arbeitgeberbeiträge zur Renten-, Kranken-, Pflege-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung einschließlich der unterstellten Arbeitgeberbeiträge (Personalnebenkosten, vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 3.7.2). 2.2.2 Arbeits- und Kapitaleinkommen, Lohnquote
Eine verteilungs- aber auch wirtschaftspolitisch zentrale Frage ist, wie sich die Arbeits- und Kapitaleinkommen im Zeitverlauf entwickelt haben und wie das Verhältnis zwischen diesen beiden aggregierten Faktoreinkommen aussieht. Zieht man von den Arbeitnehmerentgelten die Sozialbeiträge der Arbeitgeber ab, erhält man die Bruttolöhne und -gehälter. Sie betrugen 2018 je Beschäftigten im Durchschnitt etwa 2 948 Euro/Monat (vgl. Tabelle III.1). Die Indexdarstellung (vgl. Abbildung III.2) zeigt, dass die Bruttolöhne im Zeitraum 1995 bis 2018 um rund 75 % angestiegen sind, dass aber der Anstieg der Unternehmens- und Vermögenseinkommen mit rund 89 % stärker ausgefallen ist. Dies bedeutet, dass die abhängig Beschäftigten vom insgesamt gestiegenen Verteilungsvolumen und Wohlstand in diesen Jahren nur unterproportional profitiert haben. Die disparate Entwicklung zwischen Gewinn- und Lohneinkommen setzt ab 2003 ein. Unter dem Druck steigender Arbeitslosenzahlen und einer strukturellen Schwächung der Gewerkschaften (Abnahme der Tarifbindung der Beschäftigten, vgl. Kapitel „Arbeitsbeziehungen“, Pkt. 3.3) sind die Tariferhöhungen und auch die effektiven Arbeitsentgelte hinter dem Produktivitätswachstum zurückgeblieben. Zugleich wurde durch die Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes der Ausbau des Niedriglohnsektors beschleunigt (vgl. Pkt. 2.3.3 dieses Kapitels). Zum steilen Anstieg der Unternehmens- und Vermögenseinkommen ab 2003 haben auch die Deregulierungen auf den Finanzmärkten beigetragen. Der Einbruch in den Jahren 2008 und 2009 spiegelt hingegen die Folgewirkungen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise wider, die auch Deutschland getroffen hat. Es kam zu Einbrüchen bei den Gewinnen der Unternehmen und vor allem zu Vermögensverlusten auf den Finanz- und Kapitalmärkten, die aber bereits bis 2010 weitgehend überwunden worden sind. Setzt man die Bruttoeinkommen aus unselbstständiger Arbeit (Arbeitnehmerentgelte) ins Verhältnis zum Volkseinkommen, so errechnet sich die Lohnquote. Ihr Spiegelbild ist die Unternehmens- und Vermögenseinkommensquote. Lohn- und Gewinnquote ergänzen sich zu 100 %.
180
Einkommen
Abbildung III.2 Entwicklung der Bruttolöhne/-gehälter sowie Unternehmens- und Vermögenseinkommen 1995 – 2018, Indexdarstellung, 1995: 100 189,0
180 175,0 170
164,9
160
150
Unternehmens- und Vermögenseinkommen
140
130
Bruttolöhne und -gehälter (ohne Arbeitgeberbeiträge)
120
110
100
1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018
Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Fachserie 18, Reihe 1.4.
Die Lohnquote liegt seit 2012 konstant bei etwa 69 % des Volkseinkommens, am aktuellen Rand ist sie auf rund 72 % gestiegen. Das bedeutet, dass das Volkseinkommen zu mehr als zwei Dritteln auf die Einkommen aus unselbstständiger Arbeit entfällt und zu knapp einem Drittel auf die Einkommen, die aus Vermögen und Unternehmertätigkeit fließen (Gewinne, Dividenden, Zinsen, Mieten, Pachten). Ausdrücklich zu erwähnen ist, dass in die Lohnquote nur die funktionalen Einkommen einfließen, die nicht immer mit den personellen Einkommen identisch sind. Das heißt, dass Personen, die ihr Einkommen aus einer abhängigen Beschäftigung beziehen, zusätzlich auch Einkommen aus Vermögen erhalten können. Genaue Zahlen zu dieser so genannten „Querverteilung“ liegen in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht vor. Der Aussagewert der Lohnquote wird auch dadurch beeinträchtigt, dass es sich bei der Kategorie „Einkommen aus Unternehmertätigkeit“ um eine Sammelgröße handelt, in die sehr unterschiedliche Einkommen eingehen. Enthalten sind neben den Gewinnen auch die Einkünfte von „kleinen“ selbstständigen Erwerbstätigen und Landwirten, die sich durchaus als eine Art von Arbeitseinkommen interpretieren lassen. Von der Entwicklung der Lohnquote (Absenkung, Konstanz oder Erhöhung) lässt sich nicht unmittelbar auf eine Verschlechterung oder Verbesserung des Einkommensniveaus aus abhängiger Beschäftigung schließen. Bei einem insgesamt steigen-
Einkommensverteilung
181
den Sozialprodukt und Volkseinkommen kann auch bei einer sinkenden Lohnquote noch ein Zuwachs entstehen. In diesem Fall verschlechtert sich aber notwendigerweise die relative Einkommensposition gegenüber den Unternehmens- und Vermögenseinkommen. 2.2.3 Durchschnittliche Brutto-, Netto- und Nettoreallöhne
Aus Sicht der Beschäftigten sind für die Bewertung ihrer Einkommenslage nicht die Bruttolöhne, sondern vielmehr die Nettolöhne die entscheidende Größe. Diese errechnen sich, wenn vom Bruttolohn die direkten Steuern und die Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung abgezogen werden. Im Ergebnis liegen die durchschnittlichen Nettolöhne je Beschäftigten 2018 bei knapp 1 950 Euro im Monat, bei einem Bruttobetrag von 2 950 Euro. In diesem beachtlichen Unterschied kommt die Abzugsquote von gut einem Drittel des Bruttowertes zum Ausdruck. Die Zuwachsraten der Brutto- sowie Nettolöhne seit 1991 macht Tabelle III.1 sichtbar. Auffällig ist, dass die Zuwachsraten bei den Nettolöhnen bis etwa 2010 nur sehr gering ausfallen, seitdem gibt es aber einen leichten, aber recht regelmäßigen Anstieg im Schnitt um 2,5 % jährlich. Allerdings muss dabei die Entwicklung des Preisniveaus berücksichtigt werden. Denn durch die Inflation wird die reale Kaufkraft der Einkommen gemindert, die Zuwächse der Nettorealeinkommen fallen dadurch geringer aus. So sind zwischen 1990 und 2010 (im gesamtdeutschen Durchschnitt) überwiegend reale Einkommensverluste aufgetreten. Nach 2010 ändert sich indes auch hier das negative Bild. Es kommt seitdem zu Zuwächsen bei den Nettorealverdiensten. Bei dieser Einkommensentwicklung muss allerdings bedacht werden, dass der Berechnung durchschnittliche Monatsentgelte zu Grunde liegen. Infolge der anhaltenden Expansion von Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen, die ja auf Grund der kürzeren Arbeitszeiten durch niedrige Monatseinkommen charakterisiert sind, kommt es zu einer Unterschätzung der Einkommenszuwächse. Die durchschnittlichen Stundenlöhne (brutto, netto und nettoreal) sind stärker angestiegen als die hier aufgezeigten Monatsentgelte. Anders als der gesamtdeutsche Durchschnitt haben sich die Arbeitseinkommen in den neuen Bundesländern entwickelt. Seit Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion und der Vereinigung haben sich dort sowohl die Brutto- wie auch die Nettolöhne rasch nach oben entwickelt. Im Zuge dieser deutlichen Einkommenssteigerungen hat sich der Abstand zu den alten Bundesländern merkbar verringert, gleichwohl noch nicht eingeebnet.
182
Einkommen
Tabelle III.1 Entwicklung der Arbeitnehmereinkommen 1991 – 2018 Jahr
Durchschnittliche Lohn- und Gehaltssumme je Arbeitnehmer brutto €/Monat
netto gegenüber Vorjahr in %
€/Monat
nettoreal gegenüber Vorjahr in %
gegenüber Vorjahr in %
1991
1 659
1 159
1995
2 001
1 327
2000
2 090
1 398
2001
2 138
2,3
1 446
3,4
1,4
2002
2 168
1,4
1 463
1,2
− 0,2
2003
2 195
1,2
1 467
0,3
− 0,8
2004
2 206
0,5
1 498
2,1
0,5
2005
2 212
0,3
1 502
0,3
− 1,4
2006
2 229
0,7
1 498
− 0,3
− 1,7
2007
2 261
1,4
1 513
1,0
− 1,3
2008
2 314
2,4
1 540
1,8
− 0,8
2009
2 314
0,0
1 542
0,1
− 0,2
2010
2 372
2,5
1 603
4,0
2,9
2011
2 454
3,5
1 644
2,6
0,4
2012
2 521
2,7
1 684
2,4
0,5
2013
2 574
2,1
1 716
1,9
0,3
2014
2 647
2,8
1 761
2,6
1,8
2015
2 721
2,8
1 806
2,6
2,2
2016
2 788
2,5
1 847
2,3
1,8
2017
2 857
2,5
1 888
2,2
0,4
2018
2 948
3,2
1 945
3,0
1,1
Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Fachserie 18, Reihe 1.4.
Einkommensverteilung
2.3
183
Arbeitseinkommen
2.3.1 Lohndifferenzierung
Die Höhe der Bruttolohn und -gehaltssumme kennzeichnet das gesamtwirtschaftliche Niveau der Arbeitseinkommen. Niveauberechnungen sind aber notwendigerweise Durchschnittsberechnungen. Dahinter verbirgt sich eine nach unten und oben breit aufgefächerte Lohn- und Gehaltsstruktur der rund 40 Millionen abhängig Beschäftigten. Grundsätzlich ist dabei zwischen Tarifentgelten und den effektiven Arbeitsentgelten zu unterscheiden. Im Folgenden beziehen wir uns auf effektiven Löhne. Die Tariflöhne werden im Kapitel „Arbeitsbeziehungen“ behandelt. Bei Analyse der Verdienstunterschiede muss berücksichtigt werden, dass die Höhe der Bruttomonatsverdienste maßgeblich von der geleisteten Arbeitszeit abhängt. Es liegt auf der Hand, dass bei einer Vollzeitarbeit (womöglich noch aufgestockt durch Überstunden) ein höherer Verdienst anfällt als bei einer Teilzeitarbeit oder bei einem Minijob. Deswegen ist es aussagekräftiger, von den Bruttostundenlöhnen auszugehen. Die Verdienststatistik zeigt, dass es zwischen niedrigen Stundenlöhnen (nach unten begrenzt durch den gesetzlichen Mindestlohn) und Spitzenlöhnen (nach oben hin unbegrenzt) eine außerordentlich große Spannweite gibt, die sich in den zurückliegenden Jahren noch ausgeweitet hat. Folgende Faktoren spielen hierbei eine zentrale Rolle: •
Die Abweichungen widerspiegeln den schulischen und beruflichen Bildungsabschluss und konkret die im Arbeitsprozess geforderten Qualifikation. Das Statistische Bundesamt unterscheidet in der Verdienststatistik zwischen fünf Leistungsgruppen (LG): Beschäftigte in leitender Stellung (LG 1), herausgehobenen Fachkräfte (LG 2), Fachkräfte (LG 3), angelernte Beschäftigte (LG 4) und ungelernte Beschäftigte (LG 5). Während (2017) in der oberen Leistungsgruppe der Bruttostundenverdienst bei 40,14 Euro liegt, erreicht er in der unteren Leistungsgruppe nur 12,88 Euro. • Diese qualifikations- und tätigkeitsbezogene Differenzierung wird überlagert durch die Knappheit bzw. den Überschuss an bestimmten Arbeitskräften. So sind unqualifizierte und gering qualifizierte Beschäftigte im besonderen Maße von Arbeitslosigkeit betroffen, was tendenziell zu einer Absenkung ihrer Löhne führt. • Die Höhe der Stundenlöhne hängt entscheidend von den einzelnen Wirtschaftsbranchen ab. Unter dem Einfluss unterschiedlicher branchentypischer Produktions-, Produktivitäts- und Gewinnentwicklungen sowie der Wettbewerbskonstellationen auf den Weltmärkten lassen sich bestimmte Wirtschaftszweige (wie Luftfahrt, Finanz- und Versicherungsdienstleistungen, Energieversorgung, Maschinenbau) als Hochlohnbranchen bezeichnen. Andere Wirtschaftszweige (wie das Gastgewerbe, der Einzelhandel, die Gebäudereinigung oder die Wach- und
184
•
•
Einkommen
Sicherheitsdienste) gelten hingegen als Niedriglohnbranchen. So liegen in der Mineralölverarbeitung, den Finanz- und Versicherungsdienstleistungen oder in der Luftfahrt die durchschnittlichen Bruttostundenentgelte mehr als doppelt so hoch, z. T. sogar dreimal so hoch wie in den Niedriglohnbranchen – so bei der Leiharbeit, im Gastgewerbe, in Call-Centern oder bei den Wach- und Sicherheitsdiensten (vgl. Abbildung III.3). Da die sektorale Wirtschaftsstruktur in den einzelnen Regionen stark differiert, prägt sich auch eine interregionale Lohndifferenzierung aus. In Deutschland sind die regionalen Unterschiede vor allem durch die nach wie vor niedrigeren Einkommen in den neuen Bundesländern charakterisiert. Die Wirtschaft in den neuen Bundesländern insgesamt ist – mit Ausnahmen – immer noch produktivitäts- und wachstumsschwächer als in den alten Ländern. Neben den ökonomischen Faktoren kommt schließlich auch institutionellen Faktoren wie der Ausgestaltung von Tarifverträgen, dem gewerkschaftlichen Organisationsgrad der Beschäftigten und damit der Durchsetzungsmacht der Gewerkschaften in der Tarifpolitik eine wichtige Bedeutung für die sehr unterschiedliche Höhe der Arbeitseinkommen zu (vgl. Kapitel „Arbeitsbeziehungen“). Werden nur
Abbildung III.3 Durchschnittliche Bruttostundenverdienste bei Vollzeitarbeit* in ausgewählten Hoch- und Niedriglohnbranchen 2018 Kokerei und Mineralölverarbeitung
42,19
Luftfahrt
38,50
Finanz- u. Versicherungsdienstleistungen
37,54
Pharmaindustrie
35,36
Chemie
34,03
Energieversorgung
33,85
Information u. Kommunikation
32,35
Maschinenbau
30,48
Gesundheits- und Sozialwesen
26,40
Insgesamt**
24,06
Herstellung von Bekleidung
24,54
Kfz-Handel, Instandhaltung und Reparatur
22,56
Baugewerbe
20,99
Pflegeheime
19,20
Einzelhandel
18,89
Nahrungsmittelindustrie
18,78
Verkehr u. Lagerei
18,75
Überlassung von Arbeitskräften
15,09
Call Center
14,85
Gastgewerbe
14,54 0
5
10
15
20
25
30
35
* einschließlich Sonderzahlungen ** Produzierendes Gewerbe und Dienstleistungsbereich insgesamt. Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Fachserie 16 Reihe 2.3, Verdienste und Arbeitskosten.
40
45
Einkommensverteilung
185
wenige Beschäftigte und Betriebe in einem Wirtschaftsbereich von einem Tarifvertrag erfasst oder bestehen vorhandene Tarifverträge lediglich aus Minimalkompromissen, dann ist die Ausbreitung eines Niedriglohnsektors – wie in bestimmten Branchen des Dienstleistungsbereichs zu beobachten – wahrscheinlich. Dies kann zu großen Unterschieden zwischen gewerkschaftlich gut und weniger gut organisierten Branchen führen. Darüber hinaus kommt es im Dienstleistungssektor darauf an, ob eine Branche marktbestimmt oder öffentlich reguliert oder im öffentlichen Eigentum und damit nicht marktbestimmt ist. • Vor allem infolge der insgesamt rückläufigen Tarifbindung (vgl. Kapitel „Arbeitsbeziehungen“, Pkt. 3.3) hat sich die Ungleichheit in der Verteilung der Arbeitseinkommen verstärkt. Die Lohnstruktur driftet auseinander, da es in den zurückliegenden Jahren nur noch begrenzt gelungen ist, das untere und mittlere Lohnsegment durch Tarifverträge zu gestalten. Mindestlöhne sichern nur nach unten ab, haben aber keine Auswirkung auf die große Mitte der Verdienstskala, die zu schrumpfen droht. Hinsichtlich der sozialpolitischen Rückwirkungen einer niedrigen Arbeitseinkommensposition muss bedacht werden, dass im deutschen Sozialversicherungssystem die Sozialeinkommen überwiegend eine Ersatzfunktion für die ausgefallenen Arbeitseinkommen wahrnehmen: Die Konstruktionsprinzipien der Sozialversicherung übertragen die relative Position in der Hierarchie der Erwerbseinkommen auch auf Phasen, in denen aufgrund allgemeiner Lebensrisiken der Erwerbseinkommensbezug unterbrochen oder beendet ist. Damit ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass eine untere Position im Erwerbsleben auch auf Phasen der Nichterwerbsarbeit übertragen wird und sich im gesamten Lebenseinkommen niederschlägt. 2.3.2 Geschlechterhierarchie: Gender pay gap
Die durchschnittlichen Stundenverdienste von Frauen liegen deutlich unter denen der Männer. Wenn dabei von Frauenlohndiskriminierung die Rede ist, dann geht es heute weniger um eine offene Diskriminierung, wenn nämlich für identische Arbeiten Frauen weniger als Männer erhalten, sondern um eine versteckte Diskriminierung: Die Frauenbeschäftigung konzentriert sich auf Branchen, Tätigkeiten und Berufe, die geringer bewertet und entlohnt werden als Berufe, in denen vorwiegend Männer arbeiten. Das Bild einer geschlechtsspezifischen Verteilung der Arbeitseinkommen wird durch die Ergebnisse der Verdienststatistik unterstrichen (Abbildung III.4): 2018 erhielten die weiblichen Beschäftigten im produzierenden Gewerbe und bei den Dienstleistungen (Vollzeitbeschäftigung) einen durchschnittlichen Bruttostundenverdienst von 21,94 Euro, der um 17,2 % unter dem Stundenlohn der Männer (26,51 Euro) lag. Dieser „gender pay gap“ ist eine Folge der in mehrfacher Hinsicht benachteiligten Stellung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt:
186
•
•
Einkommen
Der Frauenanteil an den Beschäftigten ist vor allem in den Branchen hoch, die ein insgesamt niedriges Verdienstniveau aufweisen. Wie aus Abbildung III.4 ersichtlich, betrifft dies u. a. das Gastgewerbe, den Einzelhandel und die Bekleidungsindustrie. In den Hochlohnbranchen hingegen ist der Frauenanteil gering. In allen Branchen zeigt sich aber gleichermaßen eine – jeweils unterschiedlich hohe – Spanne zwischen Männer- und Frauenstundenverdiensten. Berücksichtigt man die Einteilung der beruflichen Anforderungen nach Leistungsgruppen, zeigt sich, dass Frauen in den höheren Leistungsgruppen schwächer, in den unteren, schlecht bezahlten Leistungsgruppen hingegen stärker vertreten sind.
Gründe für die ungleiche Verteilung der Geschlechter auf die Leistungsgruppen liegen in den weiterhin vorhandenen Zugangsbeschränkungen für Frauen zu höheren Positionen und in den oftmals diskontinuierlichen Erwerbsverläufen von Frauen, die aufgrund der Vereinbarkeitsproblematik bestehen und sich negativ auf berufliche Aufstiege auswirken. Auch die Berufswahl, bei der sich Mädchen nach wie vor stark auf frauentypische Berufe konzentrieren, hat einen Einfluss auf die ungleiche Verdiensthöhe. Abbildung III.4 Durchschnittliche Bruttostundenverdienste von Vollzeitbeschäftigten nach Geschlecht in ausgewählten Branchen 2018 42,65 €
Mineralölverarbeitung: Frauenanteil 16,5%
39,84 € 37,02 €
KFZ-Industrie: Frauenanteil 12,3 %
32,45 € 34,88 €
Energieversorgung: Frauenanteil 19,0 %
Männer
29,39 €
Frauen
35,85 €
Chemische Industrie: Frauenanteil 21,4 %
29,21 € 34,36 €
Information/Kommunikation: Frauenanteil 25,2 %
26,30 € 30,94 €
Maschinenbau: Frauenanteil 12,5 %
27,19 € 31,03 €
Bekleidungsindustrie: Frauenanteil 63,3 %
20,71 € 26,51 €
Prod. Gewerbe & Dienstleistungen insgesamt: Frauenanteil 30,3 %
21,94 € 23,95 €
öffentliche Verwaltung: Frauenanteil 40 %
22,83 € 20,52 €
Einzelhandel: Frauenanteil 48,8 %
17,13 € 20,45 €
Nahungs-und Genussmittelindustrie: Frauenanteil 34,7 %
15,50 € 15,29 €
Gastgewerbe: Frauenanteil 43,7 %
13,58 € 0
10
20
30
Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Fachserie 16, Reihe 2.3, Verdienste und Arbeitskosten.
40
Einkommensverteilung
187
In die Bewertung von beruflichen Leistungen und Anforderungen gehen nicht zuletzt geschlechtsspezifische Vorurteile ein. Die Besonderheiten des Arbeitsvermögens, die vor allem Frauen zugeschrieben werden, wie Verantwortung, Ausdauer, psycho-soziale Kompetenzen, werden eher gering gewichtet. Offensichtlich wird der Grundsatz „gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“ verletzt, weil nicht zu begründen ist, dass ein Elektromonteur (in Regel ein Mann) deutlich mehr verdient als eine Pflegekraft in der Altenpflege (in der Regel eine Frau). Diese niedrige Bewertung von Frauenarbeit ist nicht zuletzt eine Widerspiegelung traditioneller Rollenmuster. In der Orientierung auf die Hausfrauen- und Versorgerehe gilt das Einkommen der Frau als „Zuverdienst“, das Einkommen des Mannes hingegen als „Familienlohn“. 2.3.3 Niedriglöhne
Aus sozialer und sozialpolitischer Sicht von besonderer Bedeutung sind die Arbeitseinkommen am unteren Ende der Hierarchie – auch als Niedriglöhne bezeichnet. Von Niedriglöhnen kann gesprochen werden, wenn der Bruttoverdienst einen bestimmten Schwellenwert in Prozent des Durchschnittsverdienstes unterschreitet. Strittig bei der Definition von Niedriglöhnen ist – weil letztlich nur normativ zu beurteilen – welcher Prozentsatz des Durchschnittsverdienstes als maßgeblich angesehen wird, ob der Durchschnitt als arithmetisches Mittel oder Median berechnet wird, welche Datenquelle aussagefähig ist und welche Einkommen aus welchen Beschäftigungsverhältnissen einzubeziehen sind (z. B. nur reguläre Beschäftigungsverhältnisse oder auch Ausbildungsverhältnisse, Minijobs und Aushilfstätigkeiten, nur die Regelvergütung oder auch Überstundenzuschläge). Entsprechend der jeweils getroffenen Annahmen und Berechnungsverfahren kommen die vorliegenden Erhebungen und Auswertungen zu unterschiedlichen Ergebnissen über die Größe des Niedriglohnsektors. Um beurteilen zu können, ob Niedriglöhne das Ergebnis niedriger Lohnsätze oder geringer Arbeitszeiten sind, muss zudem der Einfluss unterschiedlicher Arbeitszeitdauern (z. B. Vollzeit, Teilzeit) ausgeschaltet werden. Letztlich sind deshalb nur Stundenverdienste ein geeigneter Indikator. Unter Einbeziehung aller Beschäftigungsverhältnisse und einer Definition von Niedrigverdiensten als Stundenverdienste unterhalb von zwei Dritteln des mittleren Einkommens (Median) kommt das Institut Arbeit und Qualifikation auf der Datenbasis des Sozio-Oekonomischen Panels zu dem Befund (Abbildung III.5), dass 2016 • •
nahezu ein Viertel aller Beschäftigten in Deutschland (22,7 %) im Niedriglohnsektor arbeitet, in den neuen Ländern die Quote mit 35 % deutlich höher liegt als die Quote in den alten Ländern (20,3 %).
188
Einkommen
Abbildung III.5
Niedriglohnbeschäftigte 1995 – 2016 in % aller Beschäftigten
45 Ostdeutschland
40 37,2
36,8
37,3
40
38,9
37,8
38,8
40,1
37,1
38,9 36,8
36,5
35,1
35
35
30 Deutschland
25
20 16,6
16,7
17,8
10
11,8
12,4
21,4
17,9
18,4
22,6
18,8
15 13,7
21,3
14,9
23,6
24,1
20,6
20,8
19,1
22,9
22,6
19,5
19,7
22,7
20,3
Westdeutschland
5
0
1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016
Quelle: Kalina, T., Weinkopf, C. (2018), Niedriglohnbeschäftigung 2016, IAQ-Report 2018-06. Datenbasis SOEP.
Seit 2010 verharrt die auch im internationalen Vergleich sehr hohe Quote auf einem nahezu konstanten Niveau. Diese Konstanz des Anteilswertes verdeckt jedoch, dass die absoluten Beschäftigtenzahlen mit Niedriglöhnen weiter zugenommen haben. 2016 arbeiteten nahezu 8 Mio. Personen zu einem Stundenlohn von weniger als 10,44 Euro (Niedriglohnschwelle für Gesamtdeutschland). Bei den Beschäftigten im Niedriglohnsektor handelt es sich nicht um eine homogene Gruppe, wie der Abbildung III.6 zu entnehmen ist. Ein besonders hohes Risiko tragen vor allem: • Minijob-Beschäftigte (83,6 %), • Jugendliche (unter 25jährige: 58,6 %), • Unqualifizierte (Beschäftigte ohne Berufsausbildung: 44 %). Diese Niedriglohnquoten müssen allerdings mit ihren Beschäftigungsanteilen gewichtet werden, um einen aussagefähigen Eindruck über die Struktur des Niedriglohnsektors in Deutschland zu erhalten. Da die „Risikogruppen“ teilweise nur klein sind, setzt sich der Niedriglohnsektor mehrheitlich aus anderen Gruppen zusammen. Unter allen Beschäftigten im Niedriglohnsegment dominieren:
Einkommensverteilung
189
• unbefristet Beschäftigte (76,8 %), • Beschäftigte mit Berufsausbildung (63,5 %), • Vollzeitbeschäftigte (40,7 %). Im Niedriglohnbereich befinden sich demnach weit überwiegend Beschäftigte mit einer Berufsausbildung und in einem unbefristeten Beschäftigungsverhältnis. Und nahezu die Hälfte der Betroffenen arbeitet auf Vollzeitbasis. Für die Ausbreitung von Niedriglöhnen sind mehrere Faktoren verantwortlich, so vor allem • • • •
die Ausweitung des durch Kleinbetriebe dominierten Dienstleistungssektors, die rückläufige Durchsetzungsmacht von Gewerkschaften und Betriebsräten und die Erosion der Tarifbindung, die Privatisierung von ehemaligen Staatsbetrieben, die Deregulierung der Dienstleistungsmärkte.
Nicht zuletzt haben die sog. Hartz-Reformen den Trend verstärkt und beschleunigt. So sehen die Regelungen des SGB II vor, dass jede Arbeit, soweit sie nicht gegen Gesetz (Mindestlohn) oder die guten Sitten verstößt, anzunehmen ist. Auch Arbeiten sind zumutbar, deren Entlohnung unterhalb des Tarif- oder branchenüblichen Lohns
Abbildung III.6
Struktur der Niedriglohnbeschäftigten 2016 in % aller Niedriglohnbeschäftigten
Minjob
in % der jeweiligen Gruppe (Niedriglohnquote) 83,6
35,5
reguläre Teilzeit
23,8
23,8
Vollzeit
13,9
40,7
Unbefristet
19,3
76,8
Befristet
38,7
23,2
Ausländer
37,4
17,5
Deutsche
21,1
82,7
über 54 Jahre
25,1
26,3
45 -54 Jahre
18,4
23,2
35 - 44 Jahre
17,2
16,8
25 - 34 Jahre
22,9
20,2
unter 25 Jahre
58,6
13,5
Frauen
29,2
62,6
Männer
16,6
37,4
Universität/FH
9,1
10,9
Mit Berufsausbildung
22,1
63,5
Ohne Berufsausbildung
25,6 0
20
44 40
60
80
100
0
20
40
60
80
Quelle: Kalina, T., Weinkopf, C. (2018), Niedriglohnbeschäftigung 2016, IAQ-Report 2018-06. Datenbasis SOEP.
100
190
Einkommen
liegt. Flankiert werden diese Bestimmung durch Sanktionsmechanismen (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 6.3). Insgesamt herrscht dadurch ein Druck, eine Arbeit auch zu den schlechtesten Konditionen anzunehmen – vor allem im Bereich atypischer und prekärer Beschäftigungsverhältnisse (Leiharbeit, befristete Beschäftigung, Teilzeitarbeit, Minijobs), in denen Niedriglöhne besonders stark verbreitet sind. Die Konzessionsbereitschaft bezieht sich dabei nicht nur auf die Empfänger:innen von Arbeitslosengeld II, sondern reicht darüber hinaus auch in den Kreis der Beschäftigten in Normalarbeitsverhältnissen hinein. Die tatsächliche oder nur empfundene Gefahr, bei Verlust des Arbeitsplatzes sehr schnell auf das Niveau der existenzminimalen Grundsicherung und auf Bedürftigkeitsprüfungen verwiesen zu werden, hat zu Unsicherheiten und Abstiegsängsten insgesamt geführt. Die sozialen und sozialpolitischen Negativwirkungen von Niedriglöhnen sind nicht zu übersehen. Selbst bei einer Vollzeitbeschäftigung kann es dazu kommen, dass das Monatseinkommen nicht existenzsichernd ist und noch nicht einmal das Bedarfsniveau der Grundsicherung erreicht (insbesondere in Städten mit einem hohen Mietpreisniveau) und dass – vorausgesetzt es besteht „Bedürftigkeit“ in Bezug auf das Haushaltseinkommen – aufstockende Leistungen beantragt werden können. Insofern ist häufig von „Armutslöhnen“ („working poor“) die Rede. Niedriglöhne führen in diesen Fällen zu steigenden Sozialausgaben und werden damit durch den (Sozial)Staat subventioniert. Das gilt gleichermaßen für die Gefahr, im Alter nur niedrige Renten zu erhalten und auf aufstockende Leistungen der Grundsicherung angewiesen zu sein, da niedrige (Monats)Einkommen zu entsprechend niedrigen Rentenentgeltpunkten führen. Da bei einer Teilzeittätigkeit im Niedriglohnsektor, und insbesondere im Bereich der Minijobs, die Monatseinkommen nur sehr gering ausfallen bzw. begrenzt sind, erhöhen sich hier die genannten Risiken. Rund 5 Millionen Beschäftigte haben (2018) ein Hauptbeschäftigungsverhältnis mit einem Monatseinkommen von nur bis zu 450 Euro. Die Begrenzung auf einen solch geringen Verdienst ist Folge spezieller steuer- und sozialversicherungsrechtlicher Regelungen, in deren Folge der Bruttoverdienst nicht durch Abzüge geschmälert wird (vgl. dazu ausführlich Pkt. 5.1 dieses Kapitels). So entsteht ein Anreiz, dass vor allem Ehefrauen ihre Erwerbstätigkeit lediglich als „Zuverdienst“ ausüben. Die Steuer- und Beitragsfreiheit wirkt wie eine „gläserne Decke“ hinsichtlich des Umfangs und auch der Qualität der Erwerbsbeteiligung; sie verhindert, dass das Arbeitsangebot ausgeweitet und über ein höheres Stundenvolumen und damit über ein höheres Einkommen eine eigenständige Existenzsicherung möglich wird.
Einkommensverteilung
191
2.3.4 Mindestlöhne und Mindestausbildungsvergütung
Existenz und Verbreitung von Niedriglöhnen sind unmittelbar davon abhängig, ob es für die betroffenen Beschäftigten bzw. Betriebe und Branchen überhaupt Tarifverträge gibt oder ob tarifliche Einstufungen Anwendung finden. (vgl. Kapitel „Arbeitsbeziehungen“, Pkt. 3.3). Denn gerade jene Branchen, Betriebe und Tätigkeiten, in denen Niedriglöhne eine große Verbreitung haben, so insbesondere im Dienstleistungssektor sowie in Klein- und Kleinstbetrieben, werden von Tarifverträgen nicht oder nur teilweise erfasst. Trotz dieser Probleme wurde in Deutschland im Unterschied zu den meisten europäischen Ländern über lange Jahre hinweg auf einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn verzichtet. Zwar gab und gibt es branchenspezifische Mindestlöhne, die auf Tarifverträgen basieren und von der Politik für allgemeinverbindlich erklärt sind (vgl. Kapitel „Arbeitsbeziehungen“, Pkt. 4.2). Aber eine umfassende Regelung trat erst 2015 in Kraft – nach langen, höchst kontroversen Auseinandersetzungen in der Politik wie auch in der Wissenschaft. Der Satz wurde zunächst auf 8,50 Euro in der Stunde festgelegt, 2017 erfolgte eine Anhebung auf 8,84 Euro, 2019 auf 9,19 Euro sowie 2020 auf 9,35 Euro. Damit ist eine Untergrenze fixiert, die den Lohnwettbewerb nach unten und Strategien des Lohndumpings begrenzen und die Voraussetzungen für eine eigenständige Existenzsicherung verbessern soll. Allerdings sind folgende Personengruppen aus dem Geltungsbereich des Mindestlohngesetzes ausgenomen: • Praktikanten (6 Wochen), • Auszubildende, • Jugendliche bis 18 Jahre ohne Berufsabschluss (hier gibt es überhaupt keinen Mindestlohn, auch keinen abgesenkten), • Langzeitarbeitslose für einen Zeitraum von 6 Monaten nach ihrer Einstellung. Die Höhe des Mindestlohns wird auf Vorschlag der ständigen Kommission der Tarifpartner (Mindestlohnkommission) durch eine Rechtsverordnung festgelegt. Die Kommission wird alle fünf Jahre durch die Bundesregierung neu berufen. Sie besteht aus einem Vorsitzenden, je drei stimmberechtigten ständigen Mitgliedern der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberseite, sowie zwei Mitgliedern aus Kreisen der Wissenschaft ohne Stimmrecht (beratende Mitglieder). Die Frage nach der Zahl der Beschäftigten, die 2015 den Mindestlohn erhalten haben, ist nicht leicht zu beantworten, da sich die Datenquellen und Erhebungsmethoden unterscheiden. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes auf Basis der Verdienststrukturerhebung haben vor Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 5,5 Millionen Menschen weniger als 8,50 Euro pro Stunde verdient. 4 Millionen von ihnen sind seit Anfang 2015 unter den Schutz des Mindestlohngesetzes gefallen, für die übrigen 1,5 Millionen galten die Ausnahmeregelungen. Verbessert in ihrem Ein-
192
Einkommen
kommen haben sich insbesondere Arbeitnehmer:innen in Ostdeutschland, geringfügig Beschäftigte, Personen ohne Berufsausbildung, Beschäftigte in kleineren Unternehmen sowie Frauen sowie ganz generell Beschäftigte in den Niedriglohnbranchen. Noch schwieriger fällt es, zuverlässig den Personenkreis jener Beschäftigten zu ermitteln, denen der Mindestlohn von den Betrieben gesetzeswidrig vorenthalten wird. Während das Statistische Bundesamt in der Verdiensterhebung, die auf Angaben von Betrieben basiert, für 2016 rund 750 Tsd. Beschäftigungsverhältnisse unterhalb der Mindestlohngrenze ausweist, kommt das DIW auf der Datengrundlage des SOEP auf rund 1,8 Mio. Beschäftigte, die im Jahr 2016 weniger als 8,50 Euro je Stunde verdienten. Verstöße gegen den Mindestlohn können zum einen dadurch bedingt sein, dass der höhere Stundenlohn schlichtweg nicht bezahlt wird oder dass zwar die Löhne angepasst werden, die Arbeitszeit aber unbezahlt verlängert wird. Zum anderen gibt es die Praxis, dass bislang zusätzliche Lohnbestandteile wie Zulagen in den Stundenlohn eingerechnet werden. Die Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns auf die wirtschaftliche Entwicklung fallen positiv aus. Die in der Debatte um die Einführung des Mindestlohns verbreiteten Bedrohungsszenarien eines massenhaften Verlustes von Arbeitsplätzen, haben sich nicht bestätigt, wie der anhaltende Beschäftigungsanstieg seit 2015 zeigt. Aber es stellen sich große Herausforderungen bei der Durchsetzung und Kontrolle der Mindestlöhne, die in den Aufgabenbereich der Zollbehörden im Rahmen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) fällt. Die derzeitigen Kontrollen und personellen Kapazitäten reichen nicht aus, um Verstöße effektiv aufzudecken und zu ahnden. Dabei wirkt es sich nachteilig aus, dass die Entgeltbestandteile nicht im Gesetz definiert werden. Die Unübersichtlichkeit und Unklarheit der Regelungen zu den anrechnungsfähigen und nicht anrechnungsfähigen Entgeltbestandteilen erschweren die Kontrollen zusätzlich. Um sicherzustellen, dass der Mindestlohn tatsächlich für jede Arbeitsstunde bezahlt wird, besteht in bestimmten Branchen die Pflicht, die Arbeitszeiten zu notieren (Dokumentationspflicht). Über die erforderliche Höhe und die Anpassung des Mindestlohns ist bereits im Vorfeld der Verabschiedung des Gesetzes kontrovers diskutiert worden. Diese Debatte hält an. Kritisiert wird, dass der Ausgangswert zu niedrig angesetzt worden sei und nicht ausreiche, um bei einem Ein-Personen-Haushalt in allen Fällen einen aufstockenden Grundsicherungsbezug zu vermeiden und um – bei sinkendem Rentenniveau – auch bei einer kontinuierlichen Erwerbstätigkeit eine Altersrente oberhalb des Grundsicherungsniveaus zu garantieren. Kritisiert wird auch das vom Gesetz vorgegebene Anpassungsverfahren. Danach soll sich die Empfehlung der Kommission grundsätzlich an der vorangegangenen Entwicklung der durchschnittlichen Tariflöhne orientieren, was zur Folge hat, dass dadurch die relative Position des Mindestlohnes im Gefüge der Tariflöhne weitgehend festgeschrieben wird. Seit 2020 besteht auch eine gesetzliche Mindestausbildungsvergütung (vgl. dazu Kapitel „Qualifikation“, Pkt. 8.2).
Einkommensverteilung
193
2.3.5 Einkommensverläufe
Die bisher präsentierten Daten zeigen Momentaufnahmen der Verdienststruktur. Sie bilden die Verteilung der Arbeitseinkommen zu einem Zeitpunkt ab. Um einen vollständigen Eindruck zu erhalten, wäre es aber erforderlich, die Einkommenslagen der Beschäftigten auch im Zeitverlauf zu betrachten. Empirisch abgesicherte Längsschnittanalysen der je individuellen Entwicklung der Arbeitseinkommen im Lebensverlauf liegen jedoch nur begrenzt vor. Eine solche dynamische Betrachtung ist deswegen von Bedeutung, da ein (relativ) niedriger Verdienst zu Beginn der Berufstätigkeit im Zuge eines beruflichen Aufstiegs durch einen (relativ) höheren Verdienst ausgeglichen werden kann. Aber oftmals ist das Gegenteil wahrscheinlich: Womöglich bleiben Beschäftigte, die aufgrund einer fehlenden Berufsausbildung einen ungünstigen Berufseinstieg gehabt haben, auf Dauer im unteren Bereich der Einkommensstruktur stecken. Eine lediglich kurzfristige Verweildauer im Niedriglohnbereich ist also anders zu bewerten als ein längerfristiger oder gar dauerhafter Verbleib in der unteren Stufe der Berufs- und Einkommenshierarchie. Es kommt also auf den Entwicklungstrend der Erwerbseinkommensposition über einen längeren Zeitraum an. Die vorliegenden Längsschnittuntersuchungen zeigen, dass Benachteiligungen beim Berufseintritt im gesamten Erwerbsleben nachwirken und dass sich die Berufs- und Einkommensmobilität in einem engen Rahmen bewegt. Die viel zitierte „Karriere vom Tellerwäscher zum Millionär“ ist nach wie vor nur eine sehr seltene Ausnahme. Zu erkennen ist weiterhin, dass sich die Erwerbs- und Einkommensbiografien von Männern und Frauen grundlegend unterscheiden. Denn die Erwerbsbeteiligung von Frauen ist in einem hohen Maße durch Diskontinuitäten gekennzeichnet. Durch die Phasenfolge von Vollzeiterwerbstätigkeit, familienbedingter Erwerbsunterbrechung oder -reduzierung, zwischenzeitlicher (häufig geringfügiger) Beschäftigung und beruflichem Wiedereinstieg, gelingt den Frauen mit Kindern ein dem Muster kontinuierlicher Vollzeitarbeit entsprechender traditioneller Karriereverlauf in der Regel nicht. Die Brüche in der Berufsbiographie von Frauen schlagen sich damit im Vergleich zu dem Typus „kontinuierliche Vollzeitarbeit“ in einem deutlich reduzierten Lebenseinkommen nieder. Aber auch für die Berufs und Einkommensmobilität von Männern kann keinesfalls durchgängig von erwerbsbiographischen Kontinuitäten und einem Modell der Aufstiegskarriere ausgegangen werden: So belegen die Rentenversicherungsdaten, dass die Entgeltposition vieler Arbeiter in der letzten Phase ihrer Berufstätigkeit absinkt. Unsicher wird die Einkommensposition insbesondere nach längeren Phasen von Arbeitslosigkeit oder Arbeitsunfähigkeit. Diskontinuierliche Erwerbsverläufe vermindern die Chancen, einen qualifikationsadäquaten beruflichen Wiedereinstieg zu erreichen, der einen Anschluss an die vorherige Einkommensposition bieten würde.
194
2.4
Einkommen
Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit
„Die“ Selbstständigen gibt es nicht. Die Unterschiedlichkeit der so definierten Personengruppe ist denkbar groß: Auf der einen Seite stehen Inhaber von großen Personenunternehmen mit extrem hohen Einkommen und Vermögen oder auch Freiberufler mit einem Spitzeneinkommen (Ärzte, Rechtsanwälte usw.) Auf der anderen Seite finden sich Solo-Selbstständige, die wie z. B. der Betreiber eines Kiosks oder ein selbstständiger Werkvertragsnehmer trotz überlanger Arbeitszeiten nur ein geringes Einkommen erwirtschaften und womöglich Anspruch auf aufstockende Grundsicherungsleistungen haben (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 6.4). Gemeinsam ist den Selbstständigen, dass sie eine wirtschaftliche Tätigkeit auf eigene Rechnung ausüben, also nicht auf Rechnung eines Arbeitgebers arbeiten. Die Umsätze bzw. Honorare, die diese Personen erzielen, sind nicht mit dem persönlichen Bruttoeinkommen identisch. Abzuziehen sind die Betriebsausgaben (vor allem Personalkosten, Mieten, Investitionen bzw. Abschreibungen). Die verbleibenden Erträge/ Gewinne wiederum sind nicht mit den persönlichen Nettoeinkommen gleichzusetzen. Gemindert werden die verfügbaren Einkommen durch die Steuerabzüge (wobei je besondere steuerrechtliche Regelungen zu beachten sind) sowie durch die Beiträge zur Krankenversicherung und durch die Aufwendungen für die Altersvorsorge. Die für die abhängige Beschäftigung typische Beteiligung der Arbeitgeber an der Finanzierung der sozialen Sicherung gibt es bei der selbstständigen Beschäftigung systembedingt nicht. Selbstständige unterliegen in aller Regel auch nicht der Sozialversicherungspflicht. Einige Ausnahmen bestätigen diese Regel: So sind u. a. Handwerker, Landwirte (Alterssicherung der Landwirte) und Künstler (Künstler-Sozialversicherung) in die gesetzliche Alterssicherung einbezogen (vgl. Pkt. 5.1 dieses Kapitels). Während die Einkommen aus abhängiger Arbeit zwischen den Beschäftigten und ihren Arbeitgebern vertraglich festgelegt sind und kontinuierlich gezahlt werden, gibt es diese Form der Stetigkeit und Verlässlichkeit bei den Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit nicht. Das Einkommen (Einnahmen abzüglich Betriebsausgaben) von Selbstständigen entwickelt sich am Markt und ist abhängig von vielen Einflussfaktoren, die nur zum Teil aktiv beeinflusst werden können. Die Umsätze unterliegen saisonalen und konjunkturellen Schwankungen und die Erlöse können bei geringer Nachfrage, verschärfter Konkurrenz und/oder hohen Kosten nur niedrig ausfallen. Insofern ist (Solo-)Selbstständigkeit eine riskante Erwerbsform. Auch die Art und Weise der Tätigkeit unterliegt keinen gesetzlichen Regulierungen, was die Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeit sowie den Arbeits- und Gesundheitsschutz betrifft (vgl. Kapitel „Arbeit und Gesundheitsschutz“, Pkt. 6). Auf der anderen Seite sind die Einkommen, die Selbstständigen zufließen, nicht in zwingend mit dem Einsatz von Arbeitskraft und Arbeitszeit verbunden. Insbesondere bei Einzelunternehmen und Personenunternehmen ist es nicht nur möglich, sondern auch durchaus üblich, dass Inhaber nur zeitlich begrenzt oder auch gar nicht mehr im Unternehmen tätig sind, da andere, angestellte Personen – so etwa Geschäftsführer –
Einkommensverteilung
195
die Leitungsaufgaben übernehmen. Dies ist bei Ein-Personenunternehmen und freiberuflich Tätigen naturgemäß nicht der Fall. Zusätzlich kompliziert wird die Analyse der Einkommensverhältnisse von Selbstständigen dadurch, dass sowohl mehrfache Wechsel zwischen abhängiger und selbstständiger Tätigkeit als auch die zeitgleiche Kombination von abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit keine Seltenheit mehr sind. So kann eine Teilzeittätigkeit im Angestelltenverhältnis verbunden werden mit einer freiberuflichen Tätigkeit im Rahmen von Werkverträgen. Oder aber Industriearbeiter in ländlichen Regionen bessern ihr Einkommen durch Führung eines kleinen landwirtschaftlichen Betriebs auf (Nebenerwerbslandwirte). Daten über die Höhe und Verteilung der Bruttoeinkommen aus selbstständiger Tätigkeit liegen nur begrenzt vor und sind angesichts der breiten Spannweite selbstständiger Tätigkeiten nur mit Vorsicht zu interpretieren. Fließen doch in Durchschnittswerte sowohl die Einkommen von „Kümmerexistenzen“ als auch von Spitzenverdienern ein. Gleichwohl zeigen die Befunde des Mikrozensus, dass Selbstständige im Schnitt ein deutlich höheres Einkommen haben als abhängig Beschäftigte. Erfragt werden im Mikrozensus allerdings nicht die Bruttoeinkommen, sondern die persönlichen Nettoeinkommen im Monat – d. h. die Summe aller Einkunftsarten abzüglich von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen. 2.5
Haushaltseinkommen
2.5.1 Zusammentreffen von Erwerbseinkommen, Sozialeinkommen und Abgaben
Niedrige Erwerbseinkommen, Monatsverdienste wie auch Stundenlöhne, können als Risikofaktoren für eine schlechte Einkommens- und Versorgungslage bezeichnet werden, sie sind damit aber nicht gleichzusetzen. Auch umgekehrt ist eine gute Position in der Verdiensthierarchie noch kein Garant für eine gute Einkommens- und Versorgungslage. Der Grund für diese Offenheit der Beziehung zwischen individuellem Erwerbseinkommen und Lebensstandard liegt darin, dass die Höhe des tatsächlich verfügbaren persönlichen Einkommens von weiteren Komponenten abhängt: •
Neben Löhnen und Gehältern fallen möglicherweise auch Einkommen aus einem Nebenverdienst an sowie – zumindest im kleinen Maßstab – Zinsen, Dividenden, Mieteinnahmen usw. Diese Einkommensarten zählen ebenfalls zum sog. Markteinkommen. • Sozialeinkommen (vor allem Leistungen der Sozialversicherung und der Grundsicherung, aber auch Kindergeld, Wohngeld und Elterngeld) stocken das Markteinkommen auf. Sozialeinkommen werden gerade dann gezahlt, wenn das Arbeitseinkommen ausfällt, nur gering ist oder ganz fehlt.
196
Einkommen
•
Private Unterhaltsleistungen (so die Zahlungen, die eine alleinerziehende Mutter für ihre Kinder erhält), erhöhen das Einkommen der Mutter, mindern aber das Einkommen des Vaters. • Auf der anderen Seite kommt es zu Einkommensminderungen, da die BruttoMarkteinkommen aber auch manche Sozialeinkommen durch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge belastet werden. • Entscheidend ist schließlich, dass die weit überwiegende Zahl der Menschen nicht alleine lebt, sondern gemeinsam mit Partnern und/oder Kindern in einem Mehrpersonenhaushalt. Vom dem persönlichen Einkommen müssen also womöglich mehrere Personen leben. In einem Mehrpersonenhaushalt wiederum fließen aber häufig auch mehrere persönliche Einkommen zusammen. Was also für die Bestimmung der Einkommenslage zählt, ist das verfügbare Einkommen auf der Ebene des Haushalts, der eine Einkommens- und zugleich Verbrauchsgemeinschaft darstellt. Allerdings sind nicht alle Bestandteile des verfügbaren Einkommens tatsächlich disponibel, d. h. frei einsetzbar. Zu unterscheiden ist zwischen den variablen und den fixen Ausgaben, die in einem Haushalt anfallen. Von zentraler Bedeutung bei den fixen Ausgaben sind die Wohnkosten einschließlich der Nebenkosten. Angesichts der Verwerfungen auf dem Wohnungsmarkt und der steigenden Mieten beanspruchen die Wohnungskosten einen wachsenden Anteil des Einkommens. Dabei sind nicht nur erhebliche Unterschiede zwischen Regionen, Städten und auch Stadtteilen zu berücksichtigen. Hinzu kommt, dass Haushalte mit einem niedrigen Einkommen relativ viel stärker belastet sind als Haushalte mit einem hohen Einkommen. Während im Durchschnitt aller Haushalte (2016) 35 % des Budgets für Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung eingesetzt werden mussten, waren es in Haushalten mit einem Einkommen im unteren Bereich bis zu 50 %. Bevorzugt sind hingegen Haushalte mit einem sehr hohen Einkommen, für die die Wohnungskosten eine weniger wichtige Bedeutung haben. Besonders gut gestellt sind ihrer Versorgungslage Haushalte, die ein zins- und tilgungsfreies Wohneigentum nutzen können. Selbst genutztes Wohneigentum stellt insofern eine Art zusätzliches Einkommen dar. Die Einkommenslage auf der Ebene des Haushalts setzt sich aus einem Mix mehrerer Einkommensarten zusammen. Je nach Haushaltskonstellation sowie Lebenslage und Lebensphase fällt dieser Einkommensmix unterschiedlich aus: Arbeitseinkommen haben in Haushalten, in denen zumindest ein Partner (vollzeitig) erwerbstätig ist, das entscheidende Gewicht, während in Haushalten von Arbeitslosen die Bedeutung der Sozialeinkommen hoch ist. Dies gilt gleichermaßen für die Haushalte, in denen die ältere Generation lebt. In aller Regel fließen in diesen Haushalten mehrere Sozialleistungen zusammen. So können viele Rentnerhaushalte neben den Ansprüchen auf Alters- und Hinterbliebenenrenten aus der gesetzlichen Rentenversicherung noch Ansprüche auf betriebliche Renten und auf Wohngeld geltend machen. Auch bei Haushalten, die überwiegend von Arbeitslosengeld II leben, kommen häufig
Einkommensverteilung
197
mehrere Einkommen zusammen, da gemäß dem Nachrangprinzip nur dann geleistet wird, wenn alle anderen Einkommen (von Familienmitgliedern) sowie die vorrangigen Sozialleistungen wie Kindergeld oder Unterhaltsvorschuss ausgeschöpft worden sind. Bei den einzelnen Haushalten ist weder die Höhe des Gesamteinkommens noch dessen Zusammensetzung im Zeitablauf konstant. Typisch ist ein wechselhafter Verlauf. In (Ehe)Paarhaushalten kommt der Frage eine entscheidende Bedeutung zu, ob neben dem Mann auch die Frau erwerbstätig ist und zwei Erwerbseinkommen zusammenfließen. Werden Kinder geboren, mindert sich für die Phase der Elternzeit und häufig darüber hinaus das gemeinsame Erwerbseinkommen, wenn ein Partner – in der Regel die Frau – die Erwerbstätigkeit unterbricht oder einschränkt. Auf der anderen Seite ergeben sich Ansprüche auf Kindergeld sowie eventuell Elterngeld und Wohngeld, die die Verluste zwar nicht ausgleichen, aber doch mildern. Der wechselhafte Verlauf von Höhe und Struktur des Haushaltseinkommens wird darüber hinaus durch weitere Lebensereignisse wie Arbeitslosigkeit, Scheidung, Auszug der Kinder oder Übergang in die Phase des Ruhestandes geprägt. Die bei weitem wichtigste Quelle der Einkommen der Haushalte sind (2018) mit über 70 % die Markteinkommen (darunter Einkommen aus Vermögen von knapp 10 %). Die Sozialeinkommen haben einen Anteil von gut 20 %. Die privaten Übertragungen (z. B. Unterhaltszahlungen, private Zuwendungen zwischen Haushalten) stellen die kleinste Komponente der Bruttoeinkommen. Diese Einkommenszuflüsse werden durch Steuern (11 %) und Sozialversicherungsbeiträge (13,4 %) gemindert, so dass die Spanne zwischen dem Bruttohaushaltseinkommen und dem verfügbaren Haushaltseinkommen im Durchschnitt aller Haushalte bei knapp 25 % liegt. Der Saldo aus empfangenen und geleisteten öffentlichen Übertragungen ist im Durchschnitt aller Haushalte also negativ, d. h. die Gesamtsumme der Bruttomarkteinkommen liegt höher als das verfügbare Einkommen nach Umverteilung: Die Sozialeinkommen gleichen die Einkommensabzüge durch direkte Steuern und Beiträge nicht aus. Für diesen sog. negativen Transfersaldo gibt es gleich mehrere Gründe: •
Die Einkommensersatzleistungen der Sozialversicherung werden nur beim Eintritt des Risikos gezahlt. Nur wenn z. B. eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit vorliegt und Krankengeld gezahlt wird, nimmt der Transfersaldo einen positiven Wert an. Das ist der Sinn einer auf den Risikoausgleich zielenden Versicherung. • Die Erwerbstätigenhaushalte müssen über ihre Einkommensabzüge die Rentnerhaushalte finanzieren. Diese Einkommensumschichtung zwischen den Generationen darf aber nicht nur kurzfristig, d. h. in einer Periode betrachtet werden (Querschnittbetrachtung). In einer Längsschnittbetrachtung wird sichtbar, dass die Haushalte, die jetzt Beiträge zahlen, später Renten erhalten und dass diese umso höher sind, je höher die vorherigen Erwerbseinkommen waren. Diese intertemporale Umverteilung ist Folge der Lebensstandsicherungsfunktion der Sozialversicherung.
198
Einkommen
• Aus den Beitrags- und Steuerabzügen werden nicht nur die Sozialeinkommen finanziert, die in die Haushalte zurückfließen, sondern auch die realen Transfers (z. B. die Sachleistungen der Krankenversicherung, soziale Dienste und Einrichtungen der Kommunen). Und finanziert aus den Steuereinnahmen werden die allgemeinen Staatsausgaben (öffentliche Verwaltung, Bildungswesen, Verteidigung, Polizei usw.). Der Staat „bereichert“ sich also nicht auf Kosten seiner Bürger:innen. • Durchschnittseinkommen und Transfersalden fallen bei verschiedenen soziodemografischen Gruppen und Haushaltstypen unterschiedlich hoch aus (vgl. Abbildung III.7). Der Abstand ist bei den Haushalten mit geringem Primäreinkommen (Arbeitslose, Alleinerziehende, Rentner:innen) recht gering – bei Erwerbstätigenund Paarhaushalten hingegen deutlich größer. Doch insgesamt ändert das nur wenig an den erheblichen Einkommensunterschieden insgesamt.
Abbildung III.7 Durchschnittliche Bruttoeinkommen und verfügbare Einkommen privater Haushalte* nach Haushaltstyp 2017 (in Euro pro Monat)
2.908 Im Ruhestand 2.566
2.792 Nicht-Erwerbstätige 2.462 brutto netto
1.389 Arbeitslose 1.353
5.770 Arbeitnehmer/-innen 4.153
4.474 Haushalte insgesamt 3.399 0
1.000
2.000
3.000
4.000
* Ohne Selbstständigenhaushalte Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Fachserie 15, Reihe 1, Laufende Wirtschaftsrechnungen.
5.000
6.000
Einkommensverteilung
199
2.5.2 Bedarfsgewichtete Pro-Kopf Einkommen: Nettoäquivalenzeinkommen
Die Höhe der verfügbaren Haushaltseinkommen sagt noch wenig aus über die Einkommenslage der Personen, die in den Haushalten leben. Da die Haushalte nämlich eine unterschiedliche Größe und Zusammensetzung aufweisen, führt die Betrachtung allein des Gesamteinkommens zu falschen Schlussfolgerungen. So wird ein und dasselbe Haushaltseinkommen hinsichtlich des Lebensstandards anders zu bewerten sein, wenn lediglich eine Person damit ihren Lebensbedarf bestreitet, als wenn eine Haushaltsgemeinschaft mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern davon leben muss. Erforderlich ist deshalb eine Umrechnung des Haushaltseinkommens auf die jeweiligen Haushaltsmitglieder. Aber auch Pro-Kopf-Einkommensgrößen erweisen sich als begrenzt aussagekräftig, da hier die unrealistische Annahme gemacht wird, dass jede Person in einem Haushalt den gleichen Einkommensbedarf hat. Tatsächlich weisen aber Kinder geringere Bedarfe als erwachsene Personen auf. Zudem wird nicht berücksichtigt, dass es beim gemeinsamen Wirtschaften mehrerer Personen zu Kostenvorteilen kommt (Kostendegression). So muss ein Vierpersonenhaushalt für die Stromrechnung nicht viermal so viel zahlen wie ein Einpersonenhaushalt. Um die Einkommen von Haushalten unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung miteinander vergleichbar zu machen, werden bei Verteilungsanalysen sog. Äquivalenzziffern verwendet, die sowohl die Bedarfsunterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern als auch die Haushaltsgrößenersparnisse in Rechnung stellen. Üblich ist es, mit einer Äquivalenzskala zu rechnen, bei der Alleinstehenden bzw. der Bezugsperson in Mehrpersonenhaushalten ein Gewicht von 1 zugeordnet wird, weiteren Haushaltsmitgliedern ab 14 Jahren ein Gewicht von 0,5 und Kindern unter 14 Jahren ein Gewicht von 0,3. Das bedeutet, dass beispielsweise bei einem Vier-Personen-Haushalt (Eltern und Kinder von 17 und 12 Jahren) das Gesamteinkommen nicht durch 4,0 geteilt wird, sondern durch 2,3, nämlich 1+0,5+0,5+0,3. Wenn das verfügbare Haushaltsgesamteinkommen durch die Summe der Gewichte der Haushaltsmitglieder dividiert wird, ergibt sich das bedarfsgewichtete ProKopf-Einkommen als personeller Wohlstandsindikator. Es wird auch als Nettoäquivalenzeinkommen bezeichnet. Zu berücksichtigen dabei ist, dass diese Methode auf Annahmen beruht: So wird bei der Umrechnung des Haushaltseinkommens auf das Pro-Kopf-Einkommen unterstellt, dass sämtliche Einkommen der Haushaltsmitglieder in den gemeinsamen Pool einfließen. In der Realität kann sich jedoch auch das Gegenteil vollziehen, wenn etwa der Hauptverdiener einen Teil seines Verdienstes vorab für sich reserviert. Unterstellt wird des Weiteren, dass die Äquivalenzziffern die Bedarfsunterschiede korrekt widerspiegeln und dass die einfließenden Einkommen tatsächlich entsprechend der Äquivalenzziffern aufgeteilt werden, so dass alle Haushaltsmitglieder das gleiche Wohlstandsniveau erreichen. Dies muss in der Lebenswirklichkeit aber nicht immer so sein. Gleichwohl: Um aber überhaupt eine über Einzelfälle hinausreichende Ver-
200
Einkommen
gleichbarkeit von Haushaltseinkommen zu erreichen, führt an generalisierten Annahmen kein Weg vorbei. Verteilung der Nettoäquivalenzeinkommen Tabelle III.2 ist zu entnehmen, dass im Jahr 2016 das monatliche Nettoäquivalenzeinkommen einen Median-Wert von 1 600 Euro aufweist. Mittelwerte lassen allerdings noch keine differenzierten Analysen zu, denn sie ebnen die große Spannweite zwischen hohen und niedrigen Einkommen ein. Will man mehr über die Einkommensverteilung wissen, ist es notwendig, die Abweichungen von den Mittelwerten zu erfassen. Erst dann kann feststellt werden, wie stark die Bevölkerungsanteile besetzt sind, die mit ihren bedarfsgewichteten Pro-Kopf-Einkommen den Mittelwert überoder unterschreiten. Zum einen kann analysiert werden, wie stark die Einkommensgruppen besetzt sind, die den Mittelwert unter- oder überschreiten. So weist Abbildung III.8 auf eine große Spreizung hin: Im Jahr 2016 müssen 8,3 % der Bevölkerung mit einem Nettoäquivalenzeinkommen von weniger als der Hälfte des Durchschnitts (hier: arithmetisches Mittel) auskommen. Personen, deren Nettoäquivalenzeinkommen das Durchschnittseinkommen stark unterschreitet, können als armutsgefährdet angesehen werden (vgl. dazu Pkt. 7.2 dieses Kapitels). Auf der anderen Seite verfügen 19,2 % der Bevölkerung über ein Einkommen, das oberhalb von 150 % des Durchschnitts liegt. Eine weitere Möglichkeit zur Betrachtung der Struktur der Nettoäquivalenzeinkommen besteht darin, eine Aufteilung der Einkommen nach Quintilen (Fünftel) oder Dezilen (Zehntel) vorzunehmen. Dazu werden die Nettoäquivalenzeinkommen in Fünftel oder Zehntel gruppiert, vom untersten, ersten bis zum obersten Quintil bzw. Dezil. Untersucht wird dann, wieviel Prozent der gesamten Einkommen an das erste, zweite usw. Quintil bzw. Dezil fließen.
Tabelle III.2
Nettoäquivalenzeinkommen der privaten Haushalte 1995 – 2016 Perioden 1995 – 1999
Jahre 2000 – 2004
2006 – 2009
2010 – 2014
1996
2015
2016
Median des Äquivalenzeinkommens (real, zu Preisen von 2016, in €) im Monat
1 389
1 447
1 416
1 492
1 399
1 546
1 600
im Vorjahr
18 832
19 801
19 718
20 083
18 828
20 103
20 580
Einkommensanteile (Quintile) (Äquivalenzeinkommen im Monat) untere 20 %
10,1
9,8
obere 20 %
34,5
35,6
9.4 36,7
Quelle: Statistisches Bundesamt (2018), Datenreport.
9,2
10,0
9,0
36,7
35,0
36,7
8.9 36,6
Einkommensverteilung
201
Abbildung III.8 Schichtung der Bevölkerung nach relativer Einkommensposition 1985 – 2016 In % des durchschnittlichen bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommens 100%
90%
3,4
3,5
3,7
3,5
3,7
4,3
4,2
4,4
7
7,3
8,8
7,6
8
7,3
8,4
9,1
12,4
11,7
9,6
9,4
9,7
9,6
10,4
9,4
18,6
18,6
17,9
20,4
18
18,1
16
15,8
80%
7,1
> 200%
12,1 150 bis 200%
13,3 70%
60%
125 bis 150%
18,6
50% 26,5
26,7
27,3
28,2
29,1
26
25,8
100 bis 125%
24,4
40%
22
30%
20%
75 bis 100 % 23,2
24,1
23,9
9
8,1
1985
1989
24,8
24,1
24,5
23,5
23,2
8,8
7,5
8,4
10
11,2
12,4
1993
1997
2001
2005
2010
2014
18,6 50 bis 75 %
10%
0%
8,3
0 bis 50 %
2016
1985 und 1990 alte Bundesländer Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2018), Datenreport, Datenbasis SOEP.
Zu erkennen ist, dass 2016 der Anteil der unteren 20 % der Einkommen (unterstes Quintil) bei 8,9 % liegt, der Anteil der oberen 20 % (oberstes Quintil) hingegen bei 36,6 %, was auf Einkommensungleichheit hindeutet. Dieser Befund bestätigt sich, wenn die Höhe des Gini-Koeffizienten betrachtet wird. Dieser mathematische Indikator zur Messung von Einkommensungleichheit kann Werte zwischen 0 (völlige Gleichverteilung) und 1 (einer besitzt alles) annehmen. Zunahme der Ungleichverteilung Verfolgt man die Entwicklung der Verteilung der Nettoäquivalenzeinkommen über einen längeren Zeitraum hinweg, ist nicht zu übersehen, dass sich die Spannweite zwischen „unten“ und „oben“ vergrößert hat. Die Ungleichheit hat deutlich zugenommen, und dies trotz der günstigen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und des Rückgangs der Arbeitslosigkeit. So weist der Gini-Koeffizient einen zwar wechselvollen, aber insgesamt steigenden Verlauf auf. Auffällig ist der steile Anstieg zwischen 2000 und 2005 sowie die erneute Zunahme seit 2010 (Abbildung III.9). Schaut man genauer hin, dann zeigt sich, dass sich die einzelnen Einkommensgruppen – nach Dezilen untergliedert – im Zeitverlauf sehr unterschiedlich ent-
202
Einkommen
Abbildung III.9
Gini-Koeffizient der verfügbaren Haushaltseinkommen 1991 – 2016
0,300 0,295
0,290
0,291
0,285
0,285
0,287
0,286
0,279
0,280
0,277
0,272
0,273
0,270
0,288
0,289
0,280
0,291
0,290
0,260
0,254
0,257
0,255
0,259
0,249
0,250
0,249
0,249
0,252
0,247
0,240
0,251
0,250
0,230
0,220
1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016
Quelle: Spannagel, D.; Molitor, K. (2019), WSI-Verteilungsbericht 2019, WSI-Report Nr. 53, Datenbasis SOEP.
wickelt haben (Abbildung III.10). Indexiert man das durchschnittliche Einkommen jedes Dezils auf das Jahr 1991, lässt sich erkennen, dass die realen Einkommen der oberen Gruppen/Dezile deutlich angestiegen sind, wohingegen die untersten Gruppen/Dezile sogar Verluste aufweisen. Wenn also eine wachsende Ungleichheit festgestellt werden kann, dann ist dies in erster Linie eine Folge des Auseinanderdriftens der Einkommen am oberen und unteren Rand. Der Anteil der Personen, die einem Armutsrisiko unterliegen, ist gewachsen. Und zugenommen hat zugleich der Kreis derjenigen, die man als „einkommensreich“ bezeichnen kann und deren Einkommen sich zu großen Teilen aus Kapitaleinkommen zusammensetzen (vgl. Pkt. 8 dieses Kapitels). Bei der Interpretation dieser Befunde ist zu beachten, dass es sich jeweils um Zeitpunkterhebungen handelt und nicht um Einkommensverläufe einzelner Personen. Deshalb kann nicht geschlussfolgert werden, dass die Einkommensgruppen/Dezile stets mit denselben Personen bzw. Haushalten besetzt sind. Ganz im Gegenteil gibt es auf der Einkommensskala persönlichen Auf- und Abwärtsprozesse. Eine Aufwärtsentwicklung der Einkommensposition kann beispielsweise durch eine berufliche Karriere, durch Überwindung von Arbeitslosigkeit oder durch einen Übergang von Teilzeit- auf Vollzeitarbeit ausgelöst werden. Für eine Verschlechterung der Einkommensposition können z. B. der Eintritt von (Langzeit)Arbeitslosigkeit, berufliche Abstufungen oder Erkrankungen verantwortlich sein. Insbesondere Versorgung und
Einkommensverteilung
203
Abbildung III.10 Entwicklung des durchschnittlichen verfügbaren Haushaltseinkommens nach Dezilen 1991 – 2016
Quelle: Grabka, M., Goebel, J., Liebig, St. (2019), Wiederanstieg der Einkommensungleichheit, DIW-Wochenbericht 19/2019, S. 346.
Erziehung von Kindern erweisen sich als ein Grund für Einkommens- und Wohlstandseinbußen von Frauen in der mittleren Lebens- und Erwerbsphase. Aus den Befunden des Sozio-Oekonomischen Panels lässt sich entnehmen, dass zwar die Einkommensmobilität ausgeprägt und ein langjähriges Verweilen in einer Einkommensgruppe eher selten ist. Die Auf- und Abwärtsentwicklung bewegt sich allerdings weit überwiegend zwischen den angrenzenden Einkommensklassen. Die Chance, im Lebensverlauf vom unteren bis in den obersten Einkommensbereich zu gelangen, ist gering. 2.5.3 Verteilungswirkungen des Sozialstaats
Inwieweit vermindert der Sozialstaat durch die Doppelwirkung von Einkommensleistungen auf der einen, Steuer- und Beitragsabzügen auf der anderen Seite die Ungleichheiten bei der Einkommensverteilung ? Zur Beantwortung dieser Frage müssen die Haushaltsmarkteinkommen mit den verfügbaren Haushaltseinkommen verglichen werden. Nimmt man wieder den Gini-Koeffizienten als Maßgröße, ist das Ergebnis eindeutig: Die verfügbaren Einkommen sind deutlich gleichmäßiger verteilt als die Markteinkommen: Allerdings vergrößert sich im Zeitverlauf seit 1991 in beiden Fällen das Maß der Ungleichverteilung (Abbildung III.11). Dies zeigt, dass trotz eines erheblichen Mitteleinsatzes im Rahmen der sozialstaatlichen Umverteilung der Prozess der Einkommensspreizung zwar abgebremst aber nicht ausgeglichen werden konnte. Die Ausgleichsfunktion des Sozialstaates ist damit in den zurückliegenden Jahren unter zunehmenden Druck geraten. Da die Ungleichheit der Markteinkommen zugenommen hat, wird es immer schwieriger und aufwändiger eine nachträgliche Korrektur zu erreichen.
204
Einkommen
Abbildung III.11 Einkommensungleichheit von Markteinkommen und verfügbarem Einkommen seit 1991 – 2015 (Gini-Koeffizient) 0,55 0,50 0,45 0,40 0,35 0,30 0,25 0,20 1991
1993
1995
1997
1997
2001
2003
2005
2007
2009
2011
2013
2015
Quelle: Grabka, M., Goebel, J. (2018), Einkommensverteilung in Deutschland: Realeinkommen sind seit 1991 gestiegen, aber mehr Menschen beziehen Niedrigeinkommen, DIW-Wochenbericht 21/2018, S. 454.
Das Ausmaß der Ausgleichswirkung durch die sozialstaatliche Umverteilung hängt zum einen von der Dimension wie von der Struktur des Systems der sozialen Sicherung ab. Zum anderen kommt es auf die Verteilungswirkung von Steuern und Beiträgen an. Besonders wirksam ist die Umverteilung bei jenen Leistungen, die Personen begünstigen, die – so insbesondere Arbeitslose und andere Nichterwerbstätige – bei den Markteinkommen völlig leer ausgehen. Strittig ist die Bewertung von Renten/ Pensionen. Rechnet man sie zu den Sozialeinkommen, wirkt der Sozialstaat stark, rechnet man sie zu den Markteinkommen, betrachtet sie also als quasi zeitverschobene Einkommen aus der Erwerbsphase, reduziert sich der Gini-Koeffizient der Markteinkommen erheblich. Die hier skizzierte Analyse der Verteilungswirkungen des Sozialstaates begrenzt sich auf die messbaren monetären Dimensionen. Bei der Bewertung der Wohlfahrtslage der Bevölkerung muss aber auch in Rechnung gestellt werden, mit welchem zeitlichen Aufwand und welchen körperlichen und psychischen Belastungen die Einkommen erzielt werden. So ist eine bestimmte Einkommensposition, die nur durch Überstunden, Wochenend- und/oder Nachtarbeit oder Zuschläge für körperliche Belastungen erreicht wird, sicherlich anders zu bewerten als dieselbe Einkommensposition, die sich primär durch Vermögenserträge, also durch arbeitsfreies Einkommen, ergibt.
Steuern und Einkommensverteilung
205
Schließlich dürfen bei einem Vergleich der individuellen Wohlfahrtspositionen die Verteilungswirkungen der Inanspruchnahme der Angebote der öffentlichen Infrastruktur sowie sozialen Sach- und Dienstleistungen nicht ausgeklammert werden. Ein Problem ist allerdings, dass sich diese Realtransfers den Individuen oder Haushalten nur schwer zuordnen lassen. Da die Inanspruchnahme von Sach- und Dienstleistungen und die Nutzung öffentlicher Einrichtungen nicht von der Höhe der Steuer- und Beitragszahlung abhängig sind, sondern bedarfsbezogen erfolgen, könnte man erwarten, dass reale Transfers annähernd gleich verteilt werden. Doch gibt es eine Fülle von empirischen Belegen, die darauf hinweisen, dass gerade einkommensschwache Bevölkerungsgruppen von den Realtransfers unterproportional profitieren. Hierbei handelt es sich um ein komplexes ökonomisches und sozialkulturelles Problem, dessen Ursachen an einzelnen Beispielen zu verdeutlichen sind. Eine sozial selektive Inanspruchnahme öffentlicher Güter und Dienste ist u. a. eine Folge von •
fehlenden formalen Voraussetzungen, da z. B. der Besuch einer Hochschule eine Hochschulzugangsberechtigung (Abitur) voraussetzt, • fehlenden finanziellen Voraussetzungen, wenn z. B. eine weiterführende Ausbildung an einer unzureichenden Ausbildungsförderung scheitert oder die Benutzung öffentlicher Kultureinrichtungen (Oper, Theater) durch die zwar subventionierten, aber immer noch hohen Eintrittspreise verhindert wird, • selektiven Angebotsstrukturen, wenn sich z. B. die medizinische, schulische und weitere infrastrukturelle Versorgung in „besseren“ Wohnvierteln und Stadtteilen konzentriert, • mangelnder Bedarfsartikulation bestimmter Bevölkerungsgruppen aufgrund von Informationsdefiziten oder eines schichtdifferenten Verhaltens (soziale Distanz gegenüber Ärzten oder Lehrern, soziale Unterschiede im Umgang mit Krankheiten).
3
Steuern und Einkommensverteilung
3.1
Belastung durch direkte und indirekte Steuern
Der Staat ist zur Finanzierung seiner vielfältigen Aufgaben auf ausreichende und stabile Einnahmen angewiesen. Die Einnahmebasis wird im Wesentlichen durch Steuern sichergestellt. Ohne ein ergiebiges Steueraufkommen kann es keinen aktiven (Sozial)Staat geben. Die Erhebung von Steuern hat deshalb vorrangig einen fiskalischen Zweck. Im deutschen Steuersystem finden sich vielfältige Steuerarten, deren Aufkommen sich auf Bund, Länder und Gemeinden verteilt (zu den Steuerarten und ihrer Aufkommenshöhe und -entwicklung (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 3,5.2). Da Steuererhebung immer bedeutet, dass die Markteinkommen vermindert oder (durch Verbrauchsteuern) die Preise für die Kon-
206
Einkommen
sumenten erhöht werden, bedarf die Steuerpolitik in einer Demokratie im besonderen Maße der Zustimmung der Bürger:innen. Entscheidende Kriterien für die Akzeptanz des Steuersystems sind die Fragen nach der Verwendung der Steuereinnahmen und nach der gerechten Verteilung der Steuerlast. Was soziale Gerechtigkeit in der Steuerpolitik konkret bedeutet, lässt sich zwar nicht eindeutig bestimmen, aber auf der allgemeinen Ebene herrscht Einigkeit darüber, dass bei der Besteuerung der Einkommen Rücksicht auf die Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit zu nehmen ist und insofern Personen mit einem höheren Einkommen nicht nur absolut, sondern auch relativ stärker zur Finanzierung der Staatsaufgaben beitragen sollten. Dauerhaft kontrovers wird die Frage diskutiert, ob die aktuelle Struktur des Steuersystems in der Kombination von Einkommensteuern und Verbrauchsteuern „gerecht“ ist. Wenn unter verteilungspolitischen Gesichtspunkten darauf abgestellt wird, die Belastung von hohen und höchsten Einkommen zu Gunsten von niedrigen und mittleren Einkommen zu verschieben, dann lässt sich dies durch Veränderung des Tarifverlaufs bei der Einkommensteuer (Anhebung des Grundfreibetrags, Verlängerung und Ausgestaltung der Progressionszone, Anhebung des Spitzensteuersatzes) erreichen. In dieselbe Richtung zielt die Forderung nach einer stärkeren Besteuerung von Erbschaften und einer (Wieder)Besteuerung des Vermögens. Die Steuerpolitik hat aber nicht allein fiskalische und verteilungspolitische Ziele zu beachten. Einzelnen Verbrauchsteuern wird die Aufgabe zugewiesen, ein bestimmtes, gesellschaftlich erwünschtes Verhalten zu fördern. Ökosteuern beispielsweise sollen zur Einsparung von Energie, Klimasteuern zur Verringerung des CO2 Ausstoßes und Tabaksteuern zu Eindämmung des Rauchens führen. Ob diese Ziele durch die steuerlich bewirkte Anhebung von Preisen erreicht werden, bleibt allerdings offen. Die Empirie zeigt, dass die gesamtwirtschaftliche Steuerbelastung (Anteil aller Steuereinnahmen am BIP) einen konstanten Verlauf aufweist und im Jahr 2018 bei 23,6 % liegt. Die ergiebigste Steuer ist und bleibt die Lohnsteuer, konjunkturabhängig sind die Anteilswerte der Gewinnsteuern (veranlagte Einkommensteuer, nicht veranlagte Steuern vom Ertrag, Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer). Und im Verhältnis zwischen direkten und indirekten Steuern gewinnen die indirekten Steuern (Umsatzsteuer und andere Verbrauch und Aufwandsteuern) leicht an Gewicht (vgl. dazu Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 3.5.2). Aufgrund der Vielgestaltigkeit des Steuersystems und der Wechselwirkungen zwischen Besteuerung und dem wirtschaftlichen Verhalten von Personen und Unternehmen lässt sich nur schwer bestimmen, in welche Richtung und in welchem Maße die Besteuerung die Markteinkommen umverteilt. So kommt es zur Beurteilung der effektiven Belastungen nicht allein auf die Steuersätze an. Maßgebend ist vielmehr, auf welche Bemessungsgrundlage sich die Sätze beziehen und welche Möglichkeiten es gibt, die Bemessungsgrundlage durch das Ausnutzen von Ausnahme- und Sondertatbeständen zu verringern. Das Steuerrecht bietet insbesondere den Unternehmen und den Spitzenverdienern eine Fülle von Ansatzpunkten der Steuerverminderung oder gar -vermeidung.
Steuern und Einkommensverteilung
207
Zudem gilt, dass die Verteilungswirkungen des Steuersystems durch den Vorgang der Steuerzahlung noch nicht erfasst sind. Es kommt darauf an, ob Steuern überwälzt werden können und Steuerzahllast und Steuertraglast deshalb voneinander abweichen. Möglichkeiten dazu bieten sich bei den unternehmens- und gewinnbezogenen Steuern, da hier versucht werden kann, die Belastungen auf Preise, Löhne und/oder Vorlieferanten zu verlagern. Ob dies gelingt, hängt entscheidend von der Markt- und Machtlage ab. Hingegen gibt es bei der Lohnsteuer kaum Überwälzungschancen, sie muss von den Arbeitnehmer:innen gezahlt und auch getragen werden. Die Mehrwertsteuer wie die anderen Verbrauchsteuern werden in der Regel voll auf die Preise überwälzt, so dass die Konsumenten als Steuerträger anzusehen sind. Da mit zunehmendem Einkommen der Anteil des Konsums am Gesamteinkommen sinkt und die Sparquote entsprechend steigt, verringert sich die relative Belastung durch die Mehrwertsteuer mit steigendem Einkommen (regressiver Belastungsverlauf). Stärker belastet werden hingegen Personen mit geringem Einkommen oder kinderreiche Familien, da in beiden Fällen die Konsumquote hoch liegt und die indirekten Steuern im Unterschied zur Einkommensteuer keine Rücksicht auf das Existenzminimum nehmen. Eine Entlastung bei der Mehrwertsteuer bringt allerdings der ermäßigte Steuersatz von 7 % (insbesondere auf Nahrungsmittel).
Tabelle III.3 Eckwerte des Einkommensteuertarifs 2001 – 2019 in Euro Grundfreibetrag Ledige
Eingangssteuersatz in %
Spitzensteuersatz in %
Steuerfreies Jahresarbeitsentgelt Steuerklasse I/IV
III
2001
7 206
19,9
48,5
10 380
19 436
2002
7 235
19,9
48,5
10 367
19 475
2004
7 664
16,0
45,0
10 782
20 416
2006
7 664
15,0
42,0
10 782
20 416
2008
7 664
15,0
42,0/45,0*
10 782
20 416
2010
8 004
14,0
42,0/45,0*
10 674
20 210
2012
8 004
14,0
42,0/45,0*
10 863
20 482
2014
8 354
14,0
42,0/45,0*
11 352
21 453
2016
8 652
14,0
42,0/45,0*
11 823
22 381
2018
9 000
14,0
42,0/45,0*
12 354
23 434
2019
9 168
14,0
42,0/45,0*
12 618
23 956
* Reichensteuer, Steuersatz von 45 % bei einem Einkommen oberhalb von 257 000 € Quelle: Bundesministerium der Finanzen.
208
Einkommen
Die Belastungswirkung der Einkommensteuer (Lohnsteuer, veranlagte Einkommensteuer, nicht veranlagte Steuer vom Ertrag, Körperschaftsteuer) wird durch den progressiv verlaufenden Steuertarif bestimmt: Mit steigendem Einkommen müssen höhere Steuern bezahlt werden, und zwar nicht nur in absoluter Höhe, sondern auch in Relation zum Einkommen. Für das Steueraufkommen bedeutet dies, dass das Gros der Einnahmen aus der Einkommensteuer von den Steuerpflichtigen im oberen Einkommenssegment aufgebracht wird. So haben 2016 die oberen 25 % der Steuerpflichtigen (mit steuerpflichtigen Einkünften oberhalb von 50 645 Euro im Jahr; wobei zusammen veranlagte Ehepaare als ein Steuerpflichtiger rechnen) 77,5 % des gesamten Aufkommens gestellt, während die unteren 25 % der Steuerpflichtigen zum Aufkommen aus der Einkommensteuer überhaupt nicht beigetragen haben. In Abbildung III.12 wird der Steuertarif 2019 wiedergegeben. Es lassen sich drei Zonen des Tarifverlaufs (bemessen am Jahreseinkommen) unterscheiden: •
Im Bereich niedriger Einkommen, die einen Grundfreibetrag unterschreiten, muss keine Einkommensteuer entrichtet zu werden. Die Höhe dieses Grundfreibetrages liegt bei 9 168 Euro (alleinstehend) bzw. 18 336 Euro (verheiratet). Diese Regelung spiegelt die verfassungsrechtlich gebotene Steuerfreistellung des am Sozialhilfeniveau bemessenen Existenzminimums wider. • Überschreitet das Einkommen den Grundfreibetrag, beginnt die Besteuerung mit einem Eingangssteuersatz von 14 %, d. h. von dem ersten oberhalb des Grundfreibetrags verdienten Euro müssen 0,14 Euro an den Staat abgeführt werden. Mit steigendem Einkommen steigt der Steuersatz linear an. • Die Zone der linearprogressiven Besteuerung endet mit einem Spitzensteuersatz von 42 %, der bei einem Jahreseinkommen von rund 56 000 Euro (allein stehend) bzw. 112 000 Euro (verheiratet) erreicht wird. Jedes Einkommen oberhalb dieser Grenzwerte wird dann mit 42 % versteuert. • Ab einem Jahreseinkommen von rund 265 000 Euro greift die sog. Reichensteuer mit einem Steuersatz von 45 %. Ausdrücklich zu betonen ist, dass dieser Tarifverlauf die Grenzsteuerbelastung wiedergibt. Bei der Grenzbetrachtung geht es darum, um welchen Prozentsatz das jeweils zusätzliche Einkommen belastet wird. So bezahlt ein Spitzenverdiener nicht auf sein gesamtes Einkommen den Steuersatz von 42 %. Die durchschnittliche Steuerbelastung des gesamten Einkommens liegt deutlich niedriger, da alle Steuerzahler zunächst vom Grundfreibetrag profitieren und die nachfolgenden Einkommensbestandteile beginnend mit dem Eingangssteuersatz erst langsam höher besteuert werden. Aus Abbildung III.12 ist zu erkennen, dass die durchschnittliche Steuerbelastung weit unterhalb der Grenzsteuerbelastung liegt und mit steigendem Einkommen auch schwächer ansteigt. Bei einem Jahreseinkommen von 55 000 Euro (Spitzensteuersatz von 42 %) beträgt die durchschnittliche Steuerbelastung rund 26 %.
Steuern und Einkommensverteilung
209
Abbildung III.12 Grenz- und Durchschnittssteuersätze 2019, in % des zu versteuernden Jahreseinkommens, ohne Solidaritätszuschlag Spitzensteuersatz 42,0
40
42,0
42,0
39,4
Grenzsteuersätze 37,3
35
35,1 32,9
30
30,8 28,6
25
26,5
26,0
24,3
24,6
23,1
20
28,5
27,4
21,4 19,6
Eingangssteuersatz
15
17,6
15,6 14,0
Durchschnittssteuersätze = effektive Steuerbelastung
15,2 12,1
10 7,6
5
64.000
62.000
60.000
58.000
56.000
54.000
52.000
50.000
48.000
46.000
44.000
42.000
40.000
38.000
36.000
34.000
32.000
30.000
28.000
26.000
24.000
22.000
20.000
18.000
16.000
14.000
12.000
8.000
1,2
10.000
6.000
4.000
0
2.000
Zu versteuerndes Jahreseinkommen 0
Quelle: Eigene Darstellung nach Bundesministerium der Finanzen (2019), Grenz- und Durchschnittsbelastung nach Tarif 2018.
3.2
Sozialpolitik durch Steuerpolitik
Sozialpolitische Ziele lassen sich durch steuerpolitische Maßnahmen nur begrenzt erreichen. Denn selbst ein Verzicht auf Besteuerung kann unzureichendes oder fehlendes Einkommen nicht ersetzen. Zwar ließe sich nach dem Modell der sog. Negativsteuer eine Verbindung zum Steuersystem insofern herstellen, dass das Finanzamt beim Unterschreiten einer bestimmten Einkommensschwelle statt Steuern zu erheben, Sozialeinkommen, also Negativsteuern, auszahlt. Kritische Analysen dieses Modells kommen jedoch zu dem Ergebnis, dass es weder praktikabel noch finanzierbar ist (vgl. Pkt. 9.1 dieses Kapitels). Steuerfreibeträge Sozialpolitik durch Steuerpolitik bedeutet, dass beim Vorliegen bestimmter Lebensumstände oder besonderer Aufwendungen die Steuerlast gemindert wird und sich eine relative Besserstellung hinsichtlich der Nettoeinkommensposition im Vergleich zu anderen Personen bzw. Haushalten mit gleichem Bruttoeinkommen ergibt. Strittig ist, ob Steuerfreibeträge lediglich die Zielgruppen begünstigen oder ob sie als Aus-
210
Einkommen
gleich ungleicher Leistungsfähigkeit gerechtfertigt sind. Die Liste der einzelnen Sonderregelungen ist umfänglich. Das Einkommensteuerrecht kennt u. a.: • • •
Kinderfreibeträge, Freibeträge für Betreuung, Erziehung und Ausbildung von Kindern, Freibeträge wegen erhöhter Sonderausgaben oder außergewöhnlicher Belastungen (z. B. bei Krankheitskosten, Behinderungen, Heimunterbringung, Unterhaltsleistungen gegenüber bedürftigen Angehörigen).
Die Berücksichtigung von Freibeträgen bedeutet, dass sich das zu versteuernde Einkommen, also die steuerliche Bemessungsgrundlage, um den entsprechenden Betrag vermindert. Entsprechend dem Tarifverlauf der Einkommensteuer wirken sich die Freibeträge sehr unterschiedlich aus: Je höher das Einkommen liegt, umso höher fallen die Entlastungen aus, da im oberen Einkommensbereich die Steuersätze hoch sind. Personen, die mit ihrem Einkommen nur im Eingangsbereich der Steuerprogression liegen, können hingegen mit nur einer sehr geringen Steuerersparnis rechnen. Um diese problematische Wirkung von Freibeträgen auszugleichen, kann auch der Weg gewählt werden, von der Steuerschuld einen festen, von der Höhe des Einkommens und der Steuerschuld unabhängigen Betrag abzuziehen. Das wird bei der Förderung von haushaltsnahen Dienstleistungen in Privathaushalten praktiziert. Fördermaßnahmen über Steuerentlastungen haben immer den Effekt, dass jene völlig leer ausgehen, die überhaupt keine Steuern zahlen, sei es, weil kein steuerpflichtiges Einkommen vorliegt oder weil das Einkommen den Grundfreibetrag nicht übersteigt. In diesen Fällen kann eine Förderung nur über direkte Transfers erfolgen. Dies ist beim Kindergeld der Fall, das dann in Anspruch genommen werden kann, wenn die steuerliche Entlastung durch den Freibetrag nicht greift oder niedriger als das Kindergeld ausfällt. Rechtlich und systematisch ist das Kindergeld also eine einkommensteuerrechtliche Leistung; es ist eine Art Negativsteuer, die vom Staat ausgezahlt wird. (vgl. Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 6.1.2). Vergleichbar verläuft die steuerliche Förderung der privaten Altersvorsorge: Die Anspruchsberechtigten können entweder eine Zulage beantragen, oder – wenn sich dies bei höheren Einkommen als günstiger erweist – private Altersvorsorgeaufwendungen als Sonderausgaben von der Steuer absetzen. Es gilt die jeweils günstigste Variante, wobei das Finanzamt die Prüfung vornimmt (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 8.2.2). Ehegattensteuersplitting Besondere Bedingungen weist das Einkommensteuerrecht für Verheiratete auf. Die Ehepartner werden nach dem Grundsatz des Steuersplittings nicht individuell, sondern gemeinsam veranlagt. Jeder Partner wird so behandelt, als habe er vom Gesamteinkommen genau die Hälfte verdient. Das so gesplittete Einkommen wird dann jeweils nach dem Steuersatz für Ledige versteuert. Dadurch ergeben sich erhebliche
Steuern und Einkommensverteilung
211
finanzielle Vorteile für Ehepaare, bei denen nur der Mann verdient oder bei denen die Einkommensdifferenz zwischen Mann und Frau sehr groß ist. Denn aufgrund des progressiven Verlaufs der Einkommensteuer ist die Steuerschuld von zwei halben Einkommen geringer als die eines Gesamteinkommens in der gleichen Höhe (vgl. dazu ausführlich Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 6.4.2). Sind beide Ehepartner erwerbstätig, dann entscheidet die Wahl der Steuerklassen darüber, bei wem sich die Entlastungen durch das Steuersplitting und die Grundfreibeträge niederschlagen. Bei der Kombination der Steuerklassen III/V wird der in III eingestufte Besserverdienende – in aller Regel der Mann – stark entlastet, während in der Steuerklasse V sehr hohe Abzüge anfallen. 90 % der in Steuerklasse V Veranlagten sind Frauen. Für viele Ehefrauen liegt deshalb die Frage nahe, ob sie angesichts des geringen Nettoverdienstes überhaupt mehr als geringfügig arbeiten sollen. Das Steuerrecht setzt also starke Anreize für die traditionelle Hausfrauenehe oder für eine lediglich geringfügige Beschäftigung. Zu beachten ist bei der Steuerklassenwahl auch, dass alle am Nettoeinkommen berechneten Lohnersatzleistungen wie Arbeitslosengeld, Unterhaltsgeld, Krankengeld, Übergangsgeld und Mutterschaftsgeld bei der Steuerklasse V entsprechend gering ausfallen. Steuerliche Behandlung von Altersvorsorge und Alterseinkünften Im Steuerrecht werden die verschiedenen Formen von Altersvorsorgeaufwendungen und Alterseinkünften sehr unterschiedlich behandelt. Versorgungsbezüge der Beamten werden als nachträglich gezahltes Arbeitsentgelt gewertet und unterliegen voll der Steuerpflicht (nachgelagerte Besteuerung). Bei den Renten aus der Rentenversicherung befinden wir uns in einem Übergangsprozess von der vorgelagerten auf die nachgelagerte Besteuerung. Seit 2005 werden die Renten schrittweise, über einen Zeitraum von 45 Jahren, einer regulären Besteuerung unterworfen, allerdings bleibt eine angemessene Altersvorsorge steuerfrei. Im Gegenzug werden die Vorsorgeaufwendungen (Arbeitnehmerbeiträge) schrittweise (volle Wirkung im Jahr 2025) von der Besteuerung freigestellt (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.5.6). Sehr unterschiedliche steuerliche Regelungen gelten auch für die einzelnen Durchführungswege der privaten und betrieblichen Altersvorsorge. Die im Rahmen der Rentenreform 2002 („Riester-Rente“) eingeführte Förderung der privaten Altersvorsorge sieht ein Optionsmodell zwischen einer Sonderausgaben-Anrechnung oder Zulagen vor. Die betriebliche Altersvorsorge wird durch die Möglichkeit der Entgeltumwandlung gefördert; der für die Altersvorsorge verwandte Teil des Bruttoentgelts bleibt steuer- und beitragsfrei (vgl. im Einzelnen Kapitel „Alter“, Pkt. 8.2.2).
212
4
Einkommen
Existenzsicherung ohne Erwerbseinkommen
Wenn wegen Krankheit, Unfällen, Arbeitslosigkeit, Mutterschaft die Erwerbstätigkeit unterbrochen bzw. erst gar nicht möglich ist oder wegen Invalidität oder fortgeschrittenem Alter ganz aufgegeben wird und damit das Erwerbseinkommen ausfällt, muss die Existenzsicherung über andere Wege gewährleistet werden. Existenzsicherung außerhalb von Erwerbsarbeit lässt sich in verschiedenen, sich teilweise ergänzenden Formen denken und praktizieren. In historischer Perspektive kommt den traditionellen Problemlösungen, nämlich Unterstützung durch familiäre Hilfen (Unterhaltsleistungen), private Wohltätigkeit (Zuwendung in Form von Spenden usw.) und Armenfürsorge zentrale Bedeutung zu. Mit dem Übergang zu einer entwickelten Marktgesellschaft gewinnen betriebliche Absicherungen sowie Vermögensbildung und Privatversicherung an Gewicht. Gemeinsam ist der familiären wie der marktförmigen Absicherung, dass der Staat in den Prozess der Einkommenstransfers nicht eingeschaltet ist; es werden zwar rechtliche Rahmenbedingungen gesetzt, aber über die öffentlichen Haushalte keine Gelder bewegt. Dies verändert sich bereits, wenn familiäre und marktförmige Absicherungen steuerlich gefördert werden. Von einer echten staatlichen bzw. öffentlichen sozialen Sicherung kann aber erst gesprochen werden, wenn die Leistungen gesetzlich festgelegt sind, über staatliche bzw. öffentlich-rechtliche Träger ausgezahlt und über Abgaben finanziert werden.
Übersicht III.2 Einkommenssicherung bei sozialen Risiken und Notlagen Absicherungsform
Instanz
(1)
Familiäre Unterstützung, Unterhaltszahlungen
Familie/Gemeinschaft
(2)
Private Wohltätigkeit, Spenden
(Zivil)Gesellschaft
(3)
Private Vorsorge: Sparen/Vermögensbildung
Markt
(4)
Private Vorsorge: Privatversicherungen
Markt
(5)
Absicherung durch betriebliche Sozialleistungen
Betrieb/Markt
(6)
Steuerliche Förderung von (1), (2), (3), (4), (5)
Staat
(7)
Fürsorgeleistungen/Grundsicherung
Staat/Kommune
(8)
Sozialversicherung
Staat/Parafisci
(9)
Förderleistungen
Staat
Existenzsicherung ohne Erwerbseinkommen
4.1
213
Private Vorsorge durch Vermögensbildung
Wenn die Wechselfälle des Lebens zu Einkommensrisiken führen, die die Existenzsicherung gefährden und zugleich der Rückgriff auf Hilfen im Familienverband nicht möglich oder gewünscht ist, dann bietet es sich an, durch Sparen beizeiten vorzusorgen. Durch das Zurücklegen eines Teils des laufenden Einkommens und den Aufbau eines Geld-, Produktiv- und/oder Grundvermögens ist es möglich, im Risikofall über eine Reserve zu verfügen, die aufgelöst und zur Bestreitung des Lebensunterhalts eingesetzt werden kann. Zudem entsteht aus den Erträgnissen des Vermögens ein Einkommen, das die Menschen an den Zuwächsen der Wirtschaft beteiligt und unabhängig vom Arbeitseinsatz fließt. Lassen sich also über Vorsorgesparen und Vermögensbildung die Einkommensrisiken bewältigen ? Die Analyse zeigt, dass dieser Weg eines intertemporalen Einkommensausgleichs auf enge Grenzen stößt und die staatliche Sozialpolitik ergänzen, aber nicht ersetzen kann (vgl. auch Kapitel „Alter“, Pkt. 5.2.2). Dieses Ergebnis gründet auf mehreren Faktoren. Fehlende Abschätzbarkeit der Risiken Zwar ist jedem Menschen bekannt, dass im Leben eine Reihe von Wechselfällen eintreten wird. Aber unbekannt ist, wann, wie häufig, wie lange und in welcher Höhe die Risiken eintreffen. So bleibt offen, wann und mit welchem Schweregrad der Lebenslauf durch Erkrankungen, Unfälle, fehlende Erwerbsfähigkeit, Erwerbsminderung oder Arbeitslosigkeit unterbrochen wird. Im ungünstigen Fall treten die Unterbrechung oder gar der Verlust des Erwerbseinkommens bereits auf, ehe überhaupt mit der Vermögensbildung begonnen worden ist. Und sind Reserven vorhanden, dann reichen die Beträge in der Regel nur zur Überbrückung kurzer Phasen aus. Hinzu kommt, dass bei Erkrankungen und Unfällen zusätzliche Ausgaben anfallen. Der Vorsorgebedarf für das Alter hingegen ist absehbar, da auf eine bestimmte Altersgrenze, ab der die Erwerbstätigkeit aufgegeben und das Erwerbseinkommen entfällt, orientiert werden kann. Unklar ist hingegen die Höhe des Vorsorgebedarfs, da sich die individuelle Lebensdauer, für die dann der Kapitalstock reichen muss, nicht abschätzen lässt (sog. biometrisches Risiko). Bei einem langen Leben können sich selbst hohe Rücklagen als unzureichend erweisen. Ungewiss ist, wann der Zustand der Pflegebedürftigkeit eintritt. In aller Regel ist dies erst im hohen Alter der Fall, aber Behinderungen und schwere Erkrankungen können bereits in jungen Jahren zur Pflegebedürftigkeit führen, Sicherheitsrisiken bei der Vermögensanlage Vermögensbildung vollzieht sich in unterschiedlichen Anlageformen (so Sparpläne, Kauf von Aktien und festverzinslichen Anleihen, Beteiligung an Investmentfonds). Immer ist es das Ziel, an den Erfolgen auf den Kapitalmärkten beteiligt zu werden und Renditen zu erzielen. Je höher die mögliche Rendite, umso höher allerdings auch die Risiken. Wie die Erfahrungen zeigen, unterliegt der internationale Kapitalmarkt
214
Einkommen
ausgeprägten Schwankungen; Phasen steigender Kurse werden durch Phasen sinkender Kurse abgelöst. Unkalkulierbar bleibt auf jeden Fall, wie sich die reale Verzinsung entwickelt und wie hoch der Kapitalwert ist, wenn die Bestände aufgelöst, also die Papiere verkauft werden müssen. Im Extrem kann es bei risikoreichen Anlagen zu einem völligen Verlust des Vermögens kommen. Konkurrierende Verwendungszwecke des Vermögens Wenn die Menschen durch Sparen Rücklagen bilden, dann geschieht dies nicht nur, um Vorsorge vor sozialen Risiken zu treffen. Sparen ist der übliche Weg, um größere Anschaffungen und Ausgaben tätigen zu können. Dem Sparen steht also immer wieder das „Entsparen“ gegenüber. In der Realität konkurrieren dabei unterschiedliche Verwendungszwecke. Der Erwerb von Wohneigentum ist eine der wichtigsten Vermögensbildungsformen. Dies erfordert in aller Regel die Aufnahme von Hypothekenkrediten und ein langjähriges Tilgen der Schuld. Im Alter zahlt sich der Erwerb des selbst genutzten Wohneigentums aus, wenn nämlich die Zins- und Tilgungsverpflichtungen ausgelaufen sind und der Ertrag in den ersparten Mietzahlungen liegt. Müsste das langsam aufgebaute Eigentum zur Abdeckung von Einkommensausfällen eingesetzt und aufgelöst werden, wäre dies mit erheblichen Verlusten verbunden. Fehlende Vorsorgebereitschaft Der Aufbau eines nennenswerten Vermögens (das also diesen Namen verdient) setzt voraus, dass frühzeitig, d. h. spätestens mit Beginn der Berufstätigkeit regelmäßig Beträge vom laufenden Einkommen abgezweigt werden. Sparen bedeutet also Konsumverzicht. Dazu fehlt es aber oft an Einsicht und Bereitschaft. Zukünftige Bedarfe, zumal für weit entfernt liegende Phasen wie das Alter oder für den Fall von Pflegebedürftigkeit, werden gegenüber gegenwärtigen Bedarfen unterschätzt oder minder gewichtet. Dem kann zwar durch Aufklärung und Information entgegengewirkt werden. Aber gerade im jüngeren Lebensalter, und insbesondere in der Phase der Familiengründung, sind die Konsumbedarfe meist groß und dringend. Bei Freiwilligkeit der Vorsorge kann also nur mit einer begrenzten Vorsorgebereitschaft gerechnet werden. Fehlende Sparfähigkeit Das Problem der subjektiven Bereitschaft zur individuellen Vorsorge fällt zusammen mit dem Problem der objektiven Fähigkeit, überhaupt regelmäßig zu sparen. Diese Fähigkeit hängt ab von der Position der Menschen im Erwerbsleben und in der Einkommenshierarchie sowie von den privaten Lebensumständen. Je höher das Erwerbseinkommen, je höher (im Lebenslauf) die berufliche Position, je geringer die Belastungen durch Aufwendungen für Kinder – desto größer ist die Vermögensbildungsfähigkeit. Auch Erbschaften bzw. Schenkungen konzentrieren sich auf das Segment der oberen Einkommen. Die vorliegenden Befunde über die Vermögens-
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verteilung in Deutschland belegen diesen Zusammenhang (vgl. Punkt 8 dieses Kapitels). Im Umkehrschluss heißt dies, dass ein großer Teil der Bevölkerung von der Vermögensbildung weitgehend ausgeschlossen ist. Hier handelt es sich insbesondere um jüngere Menschen, Niedrigeinkommensbezieher, Arbeitslose, Menschen mit einer Behinderung, Eltern mit mehreren Kindern, Alleinerziehende und Migranten, wobei sich die Gruppen teilweise überschneiden. Zwar kann der Staat bei diesen Gruppen die Vermögensbildung fördern, so durch Eigenheimzulagen, Sparzulagen, Altersvorsorgezulagen, wie die Erfahrungen zeigen aber nur mit geringem Erfolg. Verschuldung Die fehlende Sparfähigkeit eines großen Teils der Bevölkerung äußert sich in der hohen Verschuldungsquote privater Haushalte. Rund 1,7 % der Haushalte weisen (im Querschnitt betrachtet) auf Grund von Bau- und Konsumschulden ein „negatives“ Vermögen auf (vgl. Pkt. 8 dieses Kapitels). In einer solchen Situation führt ein sozialpolitisch nicht abgesicherter Einkommensausfall zur Unfähigkeit, den Zins- und Tilgungsverpflichtungen nachkommen zu können. Es kommt zur Situation der Überschuldung. Einsatz des Vermögens bei Inanspruchnahme fürsorgerechtlicher Sozialleistungen Fürsorgerechtlich ausgestaltete Sozialleistungen (Sozialhilfe, Grundsicherung) sind nachrangige Leistungen, die erst gezahlt werden, wenn kein verwertbares Vermögen (Geldvermögen, Sachvermögen, Lebensversicherungen, Haus- und Grundbesitz) vorhanden ist. Ein Leistungsbezug setzt also die Auflösung und den Verzehr des Vermögens voraus. Dies aber führt dazu, dass langjährige Anstrengungen insbesondere bei der Altersvorsorge vernichtet werden. Durch besondere Regelungen bei der Anrechnungsfreistellung kann diesem Problem teilweise entgegen gewirkt werden. 4.2
Private Vorsorge durch Privatversicherungen
Das Problem des im Einzelfall nicht vorhersehbaren Risikoeintritts und des nicht vorher bestimmbaren Bedarfs an Mitteln kann über den Weg einer Versicherung gelöst werden. Versicherung bedeutet, dass sich Personen zusammenschließen, die von gleichartigen Risiken betroffen sind. Unter der Voraussetzung einer ausreichend großen Zahl an Versicherten, der Zufälligkeit des Eintritts der Versicherungsfälle und ihrer Unabhängigkeit wird ein gegenseitiger Risikoausgleich möglich. Durch die Schätzbarkeit der Schadensfälle lässt sich die erforderliche Höhe der von den Versicherten zu zahlenden Prämien kalkulieren. Je größer das individuelle Risiko des Versicherten, desto teurer ist der private Versicherungsschutz. Der Leistungsumfang (z. B. Art der Schadensfälle) kann vertraglich vereinbart werden. Und auch hier gilt, dass bei einem weit gespannten Versicherungsschutz der Preis einer Police steigt.
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Einkommen
Fehlende Versicherungsfähigkeit von Risiken und besonderen Einkommensbedarfen Nicht alle Wechselfälle im Lebensverlauf lassen sich über eine Versicherung absichern. Ein Einkommensausfall als solcher oder eine fehlende Erwerbsfähigkeit sind nicht versicherungsfähig. Das gilt auch für besondere Einkommensbedarfe in spezifischen Lebenssituationen, wie z. B. Belastungen durch Kindesunterhalt oder hohe Wohnkosten. Es kommt darauf an, ob sich bestimmte Risiken kalkulieren lassen. Das ist möglich bei Krankheit, Erwerbs- und Berufsunfähigkeit, Alter, Unfällen, Pflegebedürftigkeit. Das Risiko Arbeitslosigkeit hingegen erweist sich als nicht versicherbar, da das wahrscheinlichkeitsstatistische Gesetz der großen Zahl nur bei voneinander unabhängigen Einzelrisiken gilt. Diese Voraussetzung ist bei Arbeitslosigkeit nicht gegeben, da das Risiko zwar nicht völlig zufällig auftritt, aber im Wesentlichen von konjunkturellen und strukturellen Faktoren bestimmt wird und sich Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe deshalb nicht versicherungstechnisch kalkulieren lassen. Dies gilt umso mehr in einer Zeit, in der wirtschaftliche Krisen und Einbrüche im Beschäftigungsniveau über die Zusammenhänge des Weltmarktes schnell auf andere nationalen Volkswirtschaften übertragen werden. Sind aber die Risiken zu groß und in Zeitpunkt, Umfang, Dauer und Qualität nicht quantifizierbar, führt dies zu einem Versagen auf dem Versicherungsmarkt; es finden sich keine Versicherer. Fehlende Versicherungsbereitschaft, Obligatorium Die Mitgliedschaft in einer Privatversicherung ist freiwillig; auch der gewählte Leistungsumfang beruht auf individueller Vereinbarung zwischen Versicherung und Versicherungsnehmer. Wegen der Fehleinschätzung von Risiken und der Höhergewichtung aktueller Bedarfe sind Lücken im Sicherungsschutz absehbar, denn die Bereitschaft zu Lasten des Gegenwartskonsums hohe Versicherungsprämien zu zahlen, ist begrenzt. Als Ausweg aus diesem Dilemma kann der Gesetzgeber eine Versicherungspflicht einführen. Dies gilt u. a. für die KFZ-Haftpflichtversicherung und findet sich auch im Bereich der privaten Krankenversicherung. So müssen sich Bürgerinnen und Bürger, die nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind, einen Vertrag zu bestimmten Mindestkonditionen bei einem privaten Versicherungsunternehmen abschließen (Obligatorium). Risikobezogene Prämienkalkulation Bei einer Privatversicherung berechnet sich die Höhe der individuellen Prämienleistungen an der Wahrscheinlichkeit des individuellen Risikoeintritts, d. h. es ergeben sich unterschiedlich hohe Prämien nach der Schadenserwartung (versicherungstechnisches Äquivalenzprinzip). Die Schadenserwartung lässt sich vor Vertragsabschluss aufgrund von statistischen Erfahrungswerten, Selbstauskünften oder Gesundheitsprüfungen feststellen.
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Die Orientierung der Beiträge am individuellen Risiko hat zur Folge, dass „schlechte Risiken“ hohe Prämien, „gute Risiken“ dagegen niedrige Prämien zahlen müssen. Zu den „schlechten Risiken“ zählen bei einer privaten Krankenversicherung u. a.: • Personen mit Vorerkrankungen, • Versicherte, die erst im höheren Lebensalter einen Vertrag abschließen. • Menschen mit Behinderungen. Zu den „schlechten Risiken“ bei einer privaten Rentenversicherung zählen aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung Frauen. Da sie ihre Rente länger beziehen, fällt bei gleichen Prämienzahlungen die monatliche Rente niedriger aus als bei den Männern. Eine Privatversicherung, die mit einer allgemeinen, statt mit einer risikobezogenen Prämie operiert und beispielsweise Männer und Frauen gleich einstuft („UniSex Tarife“), würde in der Konkurrenz zu anderen Versicherungsunternehmen, die diesen Weg nicht gehen, unterliegen. Die männlichen Versicherten würden zu der für sie günstigeren Konkurrenz mit risikobezogenen Tarifen abwandern; je stärker dann aber der zurück bleibende Versichertenbestand durch Frauen bestimmt ist, umso stärker müssten dann die Prämien steigen. Ein Uni-Sex Tarif kann demnach nur durchgesetzt werden, wenn alle Versicherungsunternehmen dazu gesetzlich verpflichtet sind. Die risikobezogene Prämienkalkulation richtet sich nicht nach der Zahlungsfähigkeit bzw. nach dem Einkommen. Innerhalb einer jeweiligen Risikoklasse müssen Personen, die kein oder nur ein geringes Einkommen haben, die identischen Prämien zahlen wie Personen mit einem hohen Einkommen. Die Belastungsquote steigt also mit sinkendem Einkommen. Individualorientierte Prämienkalkulation Eine Privatversicherung versichert nur individuelle Risiken, nicht aber Personengemeinschaften bzw. Familien. So muss in der privaten Krankenversicherung bei einer Familie mit mehreren Kindern für jedes Kind ein Versicherungsvertrag mit einer individuellen Prämienberechnung geschlossen werden. Risiko- und individualorientierte Prämienkalkulation führen im Ergebnis zu einer sozialen Selektion, da sich „schlechte Risiken“ und niedriges Einkommen überlagern. Beschäftigte im unteren Einkommenssegment werden deshalb bei einer privaten Versicherung finanziell überfordert – mit der Folge eines fehlenden oder nur unzureichenden Schutzes. Im besonderen Maße benachteiligt sind Personen, die über kein eigenes Einkommen verfügen, sei es wegen Arbeitslosigkeit, Kindererziehung, Ausbildung oder dauerhafter Erwerbsunfähigkeit. Da für Privatversicherungen der Grundsatz der Vertragsfreiheit grundlegend ist, gibt es keinen Zwang (Kontrahierungszwang) für einen Versicherer, einen Vertrag abschließen zu müssen. Auch eine Vertragskündigung ist möglich. Deswegen müssen „schlechte Risiken“ damit rechnen, überhaupt kein Angebot zu erhalten.
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Einkommen
Die Vertragsfreiheit eröffnet den Verbrauchern einen großen Gestaltungsspielraum, eine maßgeschneiderte Versicherungspolice abzuschließen. Vielfältigkeit und Intransparenz der Angebote machen es jedoch schwer, sich auf dem Versicherungsmarkt zurecht zu finden. Unabhängige Information und Aufklärung sind deshalb gerade im Bereich der privaten Vorsorge unverzichtbar. Eine wichtige Rolle kommt hierbei der Verbraucherberatung zu. Zum Schutz der Kunden unterliegt der Versicherungsmarkt bestimmten Regulierungen. Als Regulierungsbehörde fungiert die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Mit ihrer Aufsicht über Versicherungsunternehmen soll erreicht werden, dass die Belange der Versicherten ausreichend gewahrt bleiben und die vertraglichen Verpflichtungen aus den Versicherungsverträgen, die einen sehr langen Zeitraum abdecken, jederzeit erfüllbar sind. So dürfen Versicherungsgeschäfte grundsätzlich erst dann betrieben werden, wenn das Unternehmen bestimmte Voraussetzungen erfüllt und eine aufsichtsbehördliche Erlaubnis hat. Bei der laufenden Aufsicht achtet die Bundesanstalt u. a. darauf, dass für die erwarteten Leistungen angemessene Prämien erhoben und ausreichende versicherungstechnische Rückstellungen gebildet werden. Die Kapitalanlage muss den gesetzlichen Qualifikationen genügen – insbesondere in Bezug auf Sicherheit. Bei Lebensversicherungen hat die Versicherungsaufsicht darüber zu wachen, dass die Überschussbeteiligungen angemessen sind. Bei Krankenversicherungen müssen Prämienanpassungen genehmigt werden. 4.3
Staatlich organisierte soziale Sicherung
Die offenkundigen Defizite einer privaten und privatwirtschaftlichen Absicherung von sozialen Risiken haben in der historischen Entwicklung von Marktwirtschaften Anlass und Notwendigkeit zum Aufbau staatlicher sozialpolitischer Sicherungssysteme gegeben. Das in der zweiten Hälfte des Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland entstandene und seitdem ausgebaute sowie mehrfach veränderte System der sozialen Sicherung zeichnet sich durch ein breites Spektrum sozialpolitischer Leistungen aus. Nicht immer fällt es leicht, in der Vielfalt der Leistungsbereiche den Überblick zu wahren. Eine Systematisierung ist notwendig. Zu unterscheiden ist zunächst grundsätzlich zwischen Geldleistungen einerseits sowie Sach- und Dienstleistungen andererseits. Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen die Geldleistungen, die den Empfängern unmittelbar zufließen, ihr Einkommen erhöhen und nach Maßgabe der individuellen Präferenzen verwendet werden können. Bei den Sach- und Dienstleistungen handelt es sich hingegen um spezifische, öffentlich finanzierte Angebote unterschiedlicher Einrichtungen und Träger, die im Bedarfsfall in Anspruch genommen werden können. Da ihre Inanspruchnahme weitgehend kostenfrei erfolgt, verbessern sie die Einkommensposition auf indirektem Wege. Sach- und Dienstleistungen haben vor allem im Gesundheitswesen sowie im
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Übersicht III.3 Die wichtigsten Geldleistungen der sozialen Sicherung Sozialrechtsbereich
Träger
Geldleistungen
Gesetzl. Rentenversicherung (SGB VI)
Deutsche Rentenversicherung Bund und regionale Träger
Rente wegen Alters, Erwerbsminderungsrente, Rente wegen Todes
Gesetzl. Krankenversicherung (SGB V)
Krankenkassen (Orts-, Betriebs-, Innungs- und Ersatzkassen, Bundesknappschaft)
Krankengeld, Mutterschaftsgeld
Soziale Pflegeversicherung (SGB XI)
Pflegekassen, organisatorische Angliederung an die GKV
Pflegegeld
Gesetzl. Unfallversicherung (SGB VII)
Berufsgenossenschaften
Verletztengeld, Unfallrente, Hinterbliebenenrente
Arbeitslosenversicherung/ Arbeitsförderung
Bundesagentur für Arbeit/ Arbeitsagenturen
Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld, Konkursausfallgeld, Unterhaltsgeld
Sozialhilfe (SGB XII)
Sozialämter
Hilfe zum Lebensunterhalt, Grundsicherung im Alter u. bei Erwerbsminderung
Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II)
Job-Center (Gemeinsame Einrichtung von Arbeitsagenturen und Kommunen oder zugelassene komm. Träger)
Arbeitslosengeld II, Sozialgeld
Wohngeld
Wohngeldämter
Wohngeld
Kindergeld
Familienkassen bei den Arbeitsagenturen
Kindergeld, Kinderzuschlag
Elterngeld
je nach Landesrecht verschiedene Stellen
Elterngeld
Ausbildungsförderung
Ämter für Ausbildungsförderung
Ausbildungsförderung
Kriegsopferversorgung/ Soziale Entschädigung (SGB XIV)
Versorgungsämter/Integrationsämter
Beschädigtenrente, Hinterbliebenenrente
Sozialwesen eine zentrale Bedeutung (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“ und „Soziale Dienste“). Die Geldleistungen im System der sozialen Sicherung weisen eine große Spannweite auf (vgl. Übersicht III.3). Unterschiede zeigen sich u. a. bei Leistungstatbeständen und Leistungsvoraussetzungen, Adressaten, Höhe und Dauer der Leistungen, Finanzierungsregelungen sowie den institutionellen und administrativen Strukturen. Es lassen sich jedoch idealtypische Gestaltungsmodelle der sozialen Sicherung benen-
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Einkommen
nen, die sich durch jeweils spezifische Prinzipien charakterisieren lassen und denen die Einzelleistungen zugeordnet werden können. Zu unterscheiden ist zwischen dem • Fürsorgemodell, • Versorgungsmodell und • Sozialversicherungsmodell. Personen, die in ihrer Lebenslage unter das Existenzminimum zu sinken drohen, über kein Einkommen oder Vermögen verfügen und auch nicht auf Unterhaltsleistungen von Angehörigen zurückgreifen können, werden durch die öffentliche Fürsorge unterstützt. Die Leistungen orientieren sich in Art und Höhe am jeweiligen Einzelfall. Ausschlaggebend ist die Besonderheit der individuellen Notlage. Ein fest umrissener Rechtsanspruch existiert nicht. Die Leistung ist streng nachrangig (subsidiär), sie erfolgt nur dann, wenn alle anderen Einkommensquellen und Unterhaltsmöglichkeiten ausgeschöpft sind und Bedürftigkeit festgestellt wird. Abgesichert wird das Existenzminimum. Die Fürsorge wird über allgemeine Steuermittel finanziert. Nach dem Prinzip der Versorgung erhalten Bürger:innen eine öffentliche Grundversorgung, denkbar wäre z. B. eine allgemeinen Bürgerrente, eine Kindergrundsicherung oder ein bedingungsloses Grundeinkommen. Die (Versorgungs)Leistung wird über den Staatshaushalt abgewickelt, ist steuerfinanziert und steht unabhängig von einer Vorleistung (durch Beiträge oder Steuern) zu. Die Leistung wird als ein für alle gleicher Pauschalbetrag gezahlt, kann aber auch einkommensabhängig gestaffelt sein. Anders als beim Fürsorgemodell wird jedoch keine strenge Bedürftigkeitsprüfung vorgenommen. Die Zahlung der Grundversorgung erfolgt beim Vorliegen der Anspruchstatbestände (z. B. Erreichen der Altersgrenze) entweder auf Antrag oder auch automatisch. Die Grundversorgung liegt in ihrer Höhe oberhalb des Existenzminimums und soll eine Teilhabe am sozialen und gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Die Sozialversicherung orientiert sich an den Prinzipien der Privatversicherung, modifiziert diese aber in entscheidenden Punkten. Sie ist charakterisiert durch eine auf Personengruppen oder die Gesamtbevölkerung bezogene Versicherungspflicht und durch einen nach Art, Umfang und Höhe weitgehend gesetzlich vorgeschriebenen Leistungskatalog. Es gibt keinen Risiko- oder Leistungsausschluss. Der versicherungstypische Risikoausgleich wird mehrfach durch Elemente des Solidarausgleichs ergänzt. So berechnen sich die Beiträge nicht nach dem individuellen Risiko, sondern als Prozentsatz vom Einkommen. Leistungen wiederum werden bei bestimmten Situationen auch dann gezahlt, wenn keine Beiträge entrichtet worden sind, z. B. Rentenansprüche bei Arbeitslosigkeit oder Mitversicherung von Ehepartnern und Kindern in der Krankenversicherung. Auf die Versicherungsleistungen besteht ein individuell einklagbarer Rechtsanspruch. Die Höhe der Geldleistungen orientiert sich am vormaligen Erwerbseinkommen. Eine Anrechnung von Einkommen oder Vermögen (Bedürftigkeitsprüfung) findet nicht statt.
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Da es sich bei diesen Modellen um Idealtypen handelt, kommen sie in der Wirklichkeit nicht in reiner Form vor. Sie überlagern und vermischen sich, denn Sozialpolitik ist historisch gewachsen und spiegelt in ihren Strukturen die jeweiligen sozialen Probleme, Interessen und politischen Kräfteverhältnisse wider. Gleichwohl gilt für das Sozialleistungssystem in Deutschland, dass seit den Bismarck’schen Sozialreformen das Sozialversicherungsmodell dominiert. Das Fürsorgemodell ist – in modifizierter Form – für die Sozialhilfe und die Grundsicherung für Arbeitssuchende charakteristisch. Als Leistung nach dem Versorgungsmodell können das Kindergeld oder Entschädigungen nach SGB XIV bezeichnet werden. Zwischen Versorgungs- und Fürsorgemodell stehen die steuerfinanzierten Förderleistungen wie Wohngeld und Ausbildungsförderung. So soll die Zahlung von Wohngeld soll dazu beitragen, dass das Menschenrecht auf Wohnen gewährleistet und eine übermäßige Miet- und Nebenkostenbelastung in unteren Einkommensgruppen vermieden wird. 4.4
Ausformung der sozialen Sicherung im europäischen Vergleich
Die für Deutschland typische, auf die Sozialversicherung konzentrierte Ausformung des Systems der sozialen Sicherung unterscheidet sich stark von den Systemen in vielen anderen Ländern Europas. Zwar weisen – in Unterschied z. B. zu den USA – die Mitgliedsstaaten der EU mehr oder minder ausgebaute Sozialsysteme auf. Auch ist in monetär-quantitativer Sicht (Sozialleistungs- bzw. Sozialschutzquoten, vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 2.4) ein Angleichungsprozess des Sozialschutzes zu erkennen. Aber unterhalb der hoch aggregierten Indikatoren dominieren in Abhängigkeit der nach Nation je spezifischen, historisch gewachsenen politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Faktoren die Abweichungen bei den institutionellen Arrangements sowie bei den konkreten Regelungen und Leistungen. Die unterschiedlichen politisch-institutionellen Ausprägungen der sozialen Sicherung in den einzelnen Ländern lassen sich einzelnen „Wohlfahrtsstaatstypen“ zuordnen. Die üblich gewordene Abgrenzung zwischen dem „liberalen“, „konservativen“, „skandinavischen“ und „südeuropäischen“ Typus macht sich vor allem an der Frage fest, inwieweit der Wohlfahrtsstaat die Zwänge der Märkte, insbesondere des Arbeitsmarktes, lockert. Folgt man dieser Typologie und begrenzt sich auf die Einkommensleistungen (klammert also die Regulierungen auf dem Arbeitsmarkt sowie das Angebot von Sach- und Dienstleistungen aus), dann lassen sich folgende Merkmale skizzieren: Bei dieser Typisierung sollte allerdings bewusst bleiben, dass die Zuordnung der einzelnen Sicherungsformen sehr pauschal erfolgt. Im Detail erweisen sich die Strukturen und Leistungen der einzelnen Länder als sehr viel komplexer. Zudem ist zu berücksichtigen, dass im anhaltenden Prozess des Um- und Abbaus des Sozialstaates,
222
Einkommen
Übersicht III.4 Ausprägung der sozialen Sicherung (Geldleistungen) nach Wohlfahrtsstaatstypen liberales Modell
skandinavisches Modell
konservatives Modell
südeuropäisches Modell
Großbritannien
Dänemark
Deutschland
Spanien
Familiäre Absicherung
+
+
+
+++
Private, marktliche Absicherung
+++
+
+
++
betriebliche Absicherung
++
+
++
+
Fürsorgeförmige, einkommensgeprüfte Transfers
+++
+
++
++
Sozialversicherung
+
+
+++
+
(Staatsbürger)Versorgung
+
+++
+
+
Beispiele:
+++ stark
++ mittel
+ schwach
der mehr oder minder alle europäischen Länder erfasst hat, einzelne Sicherungsformen an Bedeutung gewonnen bzw. verloren haben. An Bedeutung gewonnen haben im Zuge des Abbaus des Leistungsniveaus von Sozialversicherung und Versorgung („Privatisierung des Sozialstaats“) sowohl die marktliche als auch die fürsorgeförmige Absicherung. Schließlich wird bei einem Blick auf einzelne Länder schnell deutlich, dass es auch innerhalb der jeweiligen Sicherungsformen erhebliche Varianzen gibt. Von der Sozialversicherung kann ebenso wenig gesprochen werden wie von der Fürsorge bzw. Sozialhilfe. Die Vielfalt der Ausgestaltungsmöglichkeiten einer Sozialversicherung wird bei einem Verweis auf folgende Punkte sichtbar: •
abgesicherter Personenkreis (übergreifend im Sinne einer Volks- bzw. Bürgerversicherung oder selektiv, d. h. nur für bestimmte Berufs- bzw. Bevölkerungsgruppen), • abgesicherte Risiko- bzw. Leistungstatbestände (z. B. bei der Rentenversicherung nur Altersrente oder auch Rente wegen Erwerbsminderung und Hinterbliebenenrente), • Anspruchsvoraussetzungen (Existenz und Dauer von Vorversicherungs- und Wartezeiten),
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• • • • • • • • •
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Individual- oder Familienorientierung (z. B. nur eigenständige Renten oder auch abgeleitete Renten wie Witwen/Witwerrenten und Waisenrenten), Leistungsberechnung (strenges oder schwaches Äquivalenzprinzip, ausgebauter oder schwacher Solidarausgleich, Leistungsabsicherung durch Sockel- bzw. Mindestbeträge), Höhe des Leistungsniveaus (in Orientierung am Brutto- oder Nettoeinkommen, an der Beitragshöhe und -dauer, am letzten oder am lebensdurchschnittlichen Einkommen), Leistungsanpassung (regelgebundene Dynamisierung oder diskretionäres Verfahren, Orientierung am Preisniveauanstieg oder an der Einkommensentwicklung), Abzugsbelastungen (Besteuerung oder Steuerfreiheit von Sozialversicherungsleistungen, Beitragspflichtigkeit von Sozialversicherungsleistungen für andere Versicherungszweige), Leistungsdauer (z. B. „Aussteuerung“ aus der Arbeitslosenversicherung und aus der Krankenversicherung nach einer längeren Dauer der Betroffenheit), Finanzierung (Arbeitnehmerbeiträge, Arbeitgeberbeiträge, steuerfinanzierte Zuschüsse), Finanzierungsverfahren (Umlagefinanzierung oder [Teil]Kapitaldeckung), Versicherungsform (konkurrierende Versicherungen oder Monopolversicherung, privat-rechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Status, Spartenversicherung oder Einheitsversicherung).
Auch bei den fürsorgetypischen Leistungen finden sich vielfältige Ausprägungen, dies gilt insbesondere für Mindestsicherungssysteme (in Deutschland Grundsicherung/Sozialhilfe). Dessen Gestalt hängt u. a. von folgenden Elementen ab: • • • • • • • • •
anspruchsberechtigter Personenkreis (universelles System oder begrenzt auf bestimmte Bevölkerungsgruppen; Berücksichtigung oder Nicht-Berücksichtigung von Staatsangehörigkeit, Wohnsitzdauer und Lebensalter), Vorrang einer Arbeitsaufnahme (Zumutbarkeitskriterien), Sanktionen bei Verstoß gegen Anforderungen, Anrechnung von eigenem Einkommen und Vermögen (Freibeträge), Rückgriff auf Einkommen und Vermögen von Angehörigen, Berechnung der Leistungshöhe (Berechnungsverfahren, Berücksichtigung von Sonderbedarfen und Miete, Leistungen für Haushaltsangehörige), Leistungsdauer, Leistungsanpassung (Dynamisierung oder diskretionäres Verfahren, Orientierung am Preisniveauanstieg oder an der Einkommensentwicklung), Finanzierung.
Insgesamt gilt, dass die konkrete Wirkung der sozialen Sicherung auf die Einkommenslage der Bevölkerung weniger von den institutionellen Strukturen, sondern
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Einkommen
entscheidend von den Leistungstatbeständen und -voraussetzungen sowie vor allem von der Leistungshöhe abhängt. Die Frage, ob die sozialpolitischen Geldleistungen in ihrer Höhe mehr als nur das Existenzminimum abdecken, den Lebensstandard sichern und trotz fehlender bzw. unzureichender Markteinkommen eine Teilhabe am gesamtgesellschaftlichen Wohlstand ermöglichen, kann aber erst beantwortet werden, wenn das Netto-Leistungsniveau (also nach Abzug von Steuern und Beiträgen) ins Verhältnis zum jeweiligen nationalen Durchschnittseinkommen gesetzt wird.
5
Sozialversicherung
Mehr als 60 % aller Sozialleistungen werden in Deutschland über das System der Sozialversicherung abgewickelt (vgl. Kapitel II „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 2.1). Die Bedeutung der Sozialversicherung wird auch durch den breiten Kreis der Versicherten unterstrichen: •
Nahezu 90 % der Bevölkerung gehören der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung an. • In der gesetzlichen Rentenversicherung sind rund 80 % der Bevölkerung im Alter von 20 bis unter 65 Jahren versichert. • Alle Arbeitnehmer:innen sind in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert. • In der Arbeitslosenversicherung ist der weit überwiegende Teil der Arbeitnehmer:innen versichert. Wie die Auflistung zeigt, handelt es sich nicht um die Sozialversicherung, sondern um ein gegliedertes System mit mehreren Versicherungszweigen, die jeweils unterschiedliche Risiken und Tatbestände abdecken. Versicherungstechnisch gesehen stellen die einzelnen Versicherungszweige spezielle Risikokollektive dar; ein generelles Risikokollektiv würde im Gegensatz dazu eine Einheitsversicherung begründen. Innerhalb der Versicherungszweige wiederum sind unterschiedliche Versicherungsträger für die Leistungsdurchführung zuständig. Die Versicherungsträger gliedern sich entsprechend ihrer Entstehungsgeschichte nach Berufsstand, Wirtschaftszweig und Region. Zwar weist jeder Versicherungszweig seine Besonderheiten auf, dennoch gibt es gemeinsame Strukturmerkmale, die nachfolgend skizziert werden sollen. Einen umfassenden Überblick über das Leistungsrecht der einzelnen Versicherungszweige bieten die nachfolgenden, an den sozialen Gefährdungsbereichen orientierten Kapitel dieses Lehrbuchs: • Arbeitsförderung/Arbeitslosenversicherung: Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“
Sozialversicherung
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• Unfallversicherung: Kapitel „Arbeit und Gesundheit“ • Krankenversicherung: Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“ • Pflegeversicherung Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“ • Rentenversicherung: Kapitel „Alter“ 5.1
Versicherungsschutz und Versicherungspflicht
Die Mitgliedschaft in allen Zweigen der Sozialversicherung knüpft im Wesentlichen an ein Arbeitsverhältnis an. Bis heute steht damit die Absicherung der abhängig Beschäftigten im Mittelpunkt des sozialen Schutzes. Mittelbar gesichert sind die Familienangehörigen der abhängig Beschäftigten. So haben in der Kranken- und Pflegeversicherung nicht oder nur geringfügig erwerbstätige Ehepartner und Kinder den vollen Versicherungsschutz durch die beitragsfreie Familienversicherung, und in der Renten- sowie Unfallversicherung werden Ehepartner und Kinder beim Tod der unterhaltspflichtigen Versicherten durch die Hinterbliebenenversorgung abgesichert. Auch wenn damit die Sozialversicherung den Großteil der Gesamtbevölkerung erfasst, lässt sich nicht von einer Volksversicherung sprechen, da die selbstständig Erwerbstätigen überwiegend ausgeklammert sind und auch für einzelne Gruppen der abhängig Beschäftigten Versicherungsfreiheit besteht. Die für die Sozialversicherung typische Versicherungspflicht begründet sich aus vier Gesichtspunkten: •
Eine Versicherungspflicht ist notwendig, um einen umfassenden Schutz zu erreichen. Bei einer Regelung auf freiwilliger Basis, wie sie für die Privatversicherung typisch ist, ist dies nicht gewährleistet. • Fehlt ein Versicherungsschutz im Alter oder bei Krankheiten und soll im Notfall dennoch die Existenzsicherung der Betroffenen gewährleistet werden, muss letztlich die Allgemeinheit über die Zahlung der steuerfinanzierten Sozialhilfe bzw. Grundsicherung für die Folgen der unzureichenden Vorsorge aufkommen. Dies kommt einer Benachteiligung derjenigen gleich, die vorgesorgt haben. • Eine Pflichtmitgliedschaft ist erforderlich, um den Solidarausgleich zu Gunsten insbesondere von Familien mit Kindern, Niedrigverdienern, Behinderten oder Arbeitslosen finanzieren zu können. Andernfalls würden die über den Solidarausgleich Belasteten, das sind die „guten“ Risiken, z. B. kinderlose und/oder gut verdienende Beschäftigte im jüngeren Alter, aus der Versichertengemeinschaft ausscheiden und zu einer Privatversicherung überwechseln („negative Selektion“). Da Privatversicherungen keinen Solidarausgleich kennen, können sie für
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diesen Personenkreis günstigere Konditionen bieten. Übrig blieben bei der Sozialversicherung die „schlechten“ Risiken, und in Folge der negativen Risikoauslese müssten die Beiträge angehoben werden, was wiederum den Abwanderungstrend zur Privatversicherung verstärken würde. • Langfristig angelegte, nach dem Umlageverfahren finanzierte Versicherungszweige, und hier insbesondere die Rentenversicherung, sind auf eine Versicherungspflicht zwingend angewiesen, um die Einnahmen- und Ausgabenentwicklung überhaupt kalkulieren zu können. Eine Umlagefinanzierung der Alterssicherung funktioniert nicht, wenn ungewiss bliebe, wie groß der Kreis der Beschäftigten ist, die Versicherungsmitglieder sind und Beiträge zahlen. Dies ist der Grund, warum private Lebensversicherungen nach dem Kapitaldeckungsverfahren arbeiten müssen. Das Prinzip der Versicherungspflicht bei abhängiger Beschäftigung gilt allerdings nicht lückenlos, es gibt Ausnahmen von der Regel. Auf der anderen Seite unterliegen einzelne Gruppen von Selbstständigen und auch von Nichterwerbstätigen der Versicherungspflicht. Versicherungsfreiheit der Beamten Für die soziale Sicherung der Beamten gelten beamtenrechtliche Vorschriften; sie sind insofern von der Versicherungspflicht befreit. Im Krankheitsfall sind sie über Beihilfen und ergänzende Leistungen aus der privaten Krankenversicherung abgesichert. Die Alters- und Erwerbsminderungssicherung erfolgt über Pensionen (vgl. zur Altersversorgung der Beamten Kapitel „Alter“, Pkt. 7.1). Zur Finanzierung der Arbeitslosenversicherung müssen Beamte nicht beitragen. Versicherungspflichtgrenze in der Kranken- und Pflegeversicherung In der Kranken- und Pflegeversicherung endet für Beschäftigte die Versicherungspflicht, wenn sie mit ihrem Arbeitsentgelt die Versicherungspflichtgrenze überschreiten. Der (jährlich angepasste) Grenzwert liegt im Jahr 2020 bei 5 213 Euro im Monat und entspricht damit in etwa dem 1,5fachen des Durchschnittseinkommens. Oberhalb dieses Einkommens können die Betroffenen wahlweise aus der gesetzlichen Versicherung ausscheiden und in die Privatversicherung wechseln oder aber als freiwillige Mitglieder in der gesetzlichen Versicherung bleiben. In aller Regel werden sie sich für den Wechsel entscheiden, wenn die Privatversicherung ihnen günstigere Konditionen bietet. Damit können sich gerade Besserverdienende dem Solidarausgleich entziehen. Existenz und Höhe von Versicherungspflichtgrenzen sind von besonderem Interesse für die privaten Krankenversicherungen (vgl. im Einzelnen Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 5.2).
Sozialversicherung
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Versicherungsfreiheit bei geringfügiger Beschäftigung: Minijobs Ausnahmen von der Versicherungspflicht bestehen (mit Ausnahme der Unfallversicherung) bei jenen Beschäftigungsverhältnissen, die nur kurzzeitig andauern oder bei denen nur ein geringes Einkommen anfällt. Diese geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse liegen dann vor, • wenn das Beschäftigungsverhältnis nicht länger als für 70 Arbeitstage oder 3 Monate im Jahr vereinbart ist, ohne Berücksichtigung von Arbeitszeit und Arbeitsentgelt, oder • wenn bei dauerhafter Beschäftigung das Arbeitseinkommen 450 Euro im Monat nicht übersteigt. Eine Begrenzung der Wochenstunden gibt es nicht. Durch den gesetzlichen Mindestlohn von 9,35 Euro in der Stunde (2020) errechnet sich aber eine maximale regelmäßige Arbeitszeit von 11,2 Stunden in der Woche. Mehrere geringfügige Beschäftigungen sind zusammenzurechnen. Wenn die Grenzwerte überschritten werden, besteht Versicherungspflicht (mit Ausnahme der Arbeitslosenversicherung). Versicherungsfrei bleibt eine geringfügige Nebenbeschäftigung neben einer Hauptbeschäftigung. Im Bereich der geringfügigen Beschäftigung („Minijobs“) fallen für die Versicherten keine Beiträge in der Kranken-, Pflege-und Arbeitslosenversicherung an, im Gegenzug entstehen aber auch keine Leistungsansprüche. Die geringfügig Beschäftigten unterliegen zwar seit 2013 der Rentenversicherungspflicht, haben allerdings die Möglichkeit, sich von der Versicherungspflicht befreien zu lassen (opt-out Regelung). Der weit überwiegende Teil der Minijobber (mehr als 80 %) votiert für die Befreiung. Die Aufnahme einer geringfügigen Beschäftigung ist nur bei jenen Personen möglich, die bereits anderweitig materiell und sozial abgesichert, insbesondere krankenversichert sind. Da das Risiko zu erkranken und ggf. mit hohen Kosten konfrontiert zu werden, gleichsam alltäglich ist und bereits kurzfristig eintreten kann, ist ein Versicherungsschutz unabdingbar. Eine freiwillige Versicherung in der GKV oder eine private Versicherung kommen bei einem Minijob kaum in Betracht, da die Höhe der Beiträge bzw. Prämien in keinem Verhältnis zu dem Maximaleinkommen von 450 Euro stehen. Hier greift ein zentrales Merkmal des deutschen Sozialversicherungssystems: die abgeleitete Absicherung über den Familien- und Eheverbund sowie die Vernetzung zwischen den Sozialversicherungszweigen. Während bei den geringfügig Nebenbeschäftigten die in der Hauptbeschäftigung geltende Krankenversicherung Schutz bietet, werden bei den geringfügig Hauptbeschäftigten folgende Regelungen wirksam: •
Ehepartner sind im Rahmen der beitragsfreien Mitversicherung von Familienangehörigen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) versichert (dies gilt aber nicht für die private Krankenversicherung).
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•
Schüler:innen sind ebenfalls durch die Familienversicherung abgesichert; Studierende (bis zu einer Altersgrenze von 25 Jahren) unterliegen dem Schutz der Familienversicherung oder der Studentischen Krankenversicherung. • Rentner:innen sind in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) oder in der PKV versichert. • Arbeitslose bleiben Mitglied ihrer bisherigen Krankenversicherung. Soweit sie Arbeitslosengeld I oder II beziehen, werden die Beiträge von den Leistungsträgern übernommen; Leistungsempfänger:innen im Rechtskreis des SGB II (sog. Aufstocker), die zwar erwerbsfähig aber nicht arbeitslos sind, realisieren ihren Krankenversicherungsschutz ebenfalls durch die Beitragszahlung des Leistungsträgers. Die Zahl der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse hat erheblich zugenommen, insbesondere was die geringfügigen Nebentätigkeiten betrifft (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 3.3). Dahinter steht das Interesse der Unternehmen an preiswerten und flexiblen Arbeitskräften, Interesse besteht aber auch bei jenen Beschäftigten, die als Schüler:innen und Studierende, Rentner:innen anderweitig oder als Ehefrauen über den Ehemann abgesichert sind oder die als Nebenbeschäftigte ein abgabenfreies Zusatzeinkommen erhalten. Versicherungsfreiheit und Versicherungspflicht von Selbstständigen Die Ausrichtung der Sozialversicherung als Arbeitnehmerversicherung beruht im Grundsatz auf der Annahme, dass selbstständig Erwerbstätige nicht als schutzwürdig anzusehen sind, da sie sich eigenverantwortlich absichern können und werden. Die historische Entwicklung hat allerdings gezeigt, dass diese Annahme keinesfalls immer der Realität entspricht. Um insbesondere das Entstehen von Altersarmut zu vermeiden, sind im Laufe der Jahre einzelne Gruppen von Selbstständigen in den Schutzbereich der gesetzlichen Versicherung einbezogen worden. Versicherungspflichtig sind heute u. a. • • • • • •
Handwerker in der gesetzlichen Rentenversicherung, selbstständige Lehrer und Erzieher, Pflegepersonen, Hebammen, Hausgewerbetreibende in der gesetzlichen Rentenversicherung, land- und forstwirtschaftliche Unternehmer und ihre Familienangehörigen in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der Alterssicherung der Landwirte, Künstler und Publizisten in der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung, Angehörige bestimmter freier Berufe wie Ärzte und Rechtsanwälte in besonderen berufsständischen Versorgungswerken, Arbeitnehmerähnliche Selbstständige (Selbstständige mit einem Auftraggeber) in der gesetzlichen Rentenversicherung.
Charakteristisch für all diese Regelungen ist, dass ein systematischer Umgang mit der Selbstständigkeit nicht sichtbar wird. Vor allem die sog. neuen Selbstständigen blei-
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ben bei der im Wesentlichen nach bestimmten Berufen und Tätigkeiten vorgenommenen Zuordnung außen vor. Der Schluss, dass gerade jene Selbstständigen, die keinem Pflichtversicherungsschutz unterliegen, am besten und ehesten in der Lage sind, freiwillig und privat für ihr Alter vorzusorgen, erweist sich als falsch. Da die soziale Absicherung in der Regel auf freiwilliger Basis beruht, kann es dazu kommen, dass sich die Betroffenen nicht darum kümmern oder sich außer Stande sehen, aus ihrem Bruttoeinkommen noch Beiträge für eine private Altersvorsorge oder eine Berufs-/Erwerbsunfähigkeitsversicherung zu zahlen. Im Alter droht dann die Angewiesenheit auf Leistungen der Grundsicherung im Alter, die aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert werden muss. Schon jetzt stellen ehemals Selbstständige einen Großteil der Grundsicherungsempfänger:innen (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 9.1). Versicherungspflicht bei Scheinselbstständigkeit Von den arbeitnehmerähnlichen Selbstständigen sind jene Personen zu unterscheiden, die ihre selbstständige Tätigkeit nur zum Schein ausüben, um sozial und arbeitsrechtliche Schutzregelungen und die entsprechenden Beitragsbelastungen zu umgehen, die tatsächlich aber abhängig Beschäftigte sind. Liegt eine solche Scheinselbstständigkeit vor, so werden die Betreffenden als Arbeitnehmer:innen angesehen. Sie sind dann grundsätzlich in allen Zweigen der Sozialversicherung versicherungsund beitragspflichtig. Die einzelfallbezogene Prüfung, ob eine Scheinselbstständigkeit vorliegt, obliegt dabei den Sozialversicherungsträgern. Der Auftraggeber gilt als Arbeitgeber und hat die Arbeitgeberhälfte der Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen. Scheinselbstständigkeit wird vermutet, wenn Erwerbstätige • •
in der Regel und im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig sind, arbeitnehmertypische Arbeitsleistungen erbringen, insbesondere Weisungen des Auftraggebers unterliegen und in dessen Arbeitsorganisation eingegliedert sind, • nicht unternehmerisch am Markt auftreten, • mit Ausnahme von Familienangehörigen keine versicherungspflichtigen Arbeitnehmer:innen beschäftigen. Versicherungspflicht ohne Erwerbstätigkeit Der Gestaltungsspielraum der Sozialversicherung kommt darin zum Ausdruck, dass eine Versicherungspflicht auch für Lebenslagen oder Lebensphasen vorgesehen werden kann, in denen keine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Die Zahl der Beispiele für derartige Regelungen ist lang: Versicherungspflichtig sind • •
in der Unfallversicherung: Kindergartenkinder, Schüler:innen, Studierende, in der Kranken- und Pflegeversicherung: Studierende, Beziehende von Elterngeld, Empfänger:innen von Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II, Rentner:innen der gesetzlichen Rentenversicherung,
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in der Rentenversicherung: Empfänger:innen von Lohnersatzleistungen nach dem SGB III (Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld, Unterhaltsgeld), Beziehende von Krankengeld, Personen, für die eine Kindererziehungszeit anzurechnen ist, Personen, die eine nicht erwerbsmäßige Pflege ausüben.
Von der Frage der Versicherungspflicht ist die Frage der Beitragszahlung zu unterscheiden, die in den vorgenannten Fällen sehr unterschiedlich geregelt wird. Versicherungspflicht in einer Privatversicherung Die Grenzlinien zwischen verpflichtender Sozialversicherung und freiwilliger privater Vorsorge durch Privatversicherungen sind nicht klar gezogen. Vielmehr gibt es Anzeichen für eine Vermischung beider Sicherungsformen: So besteht schon seit langem die Möglichkeit, sich – auch als Selbstständiger oder Nichterwerbstätiger – in der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung freiwillig zu versichern. Eine Pflicht zur privaten Versicherung sieht die Pflegeversicherung vor: Alle privat Krankenversicherten sind gesetzlich verpflichtet, auch eine private Pflegeversicherung abzuschließen und aufrechtzuerhalten. Die privaten Unternehmen unterliegen einem Kontrahierungszwang, d. h. sie sind zum Vertragsabschluss verpflichtet. Sie müssen dasselbe Leistungsspektrum wie die soziale Pflegeversicherung haben und sich auch hinsichtlich der Beitragsberechnung an die Maßstäbe der sozialen Pflegeversicherung Versicherung anpassen (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 5.3). Auch muss sich jede/r Bürger:in krankenversichern, entweder freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung oder in einer privaten Krankenversicherung. Die privaten Krankenversicherungen unterliegen ebenfalls einem Kontrahierungszwang und müssen einen Basistarif anbieten, der das Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst. 5.2
Leistungsvoraussetzungen
Die Sozialversicherung beruht wie die Privatversicherung auf dem Kausalprinzip. Ein Einkommensausfall als solcher begründet noch keinen Anspruch auf Versicherungsleistungen. Dies entspräche einer Orientierung am Finalprinzip. Beim Kausalprinzip dagegen besteht ein Anspruch erst dann, wenn der Risikofall eingetreten ist und ein Anspruchsgrund vorliegt. Für den gleichen sozialen Tatbestand können unterschiedliche Anspruchsgründe maßgeblich sein. So kann eine Arbeitsunfähigkeit Folge eines Unfalls oder einer Krankheit sein. Zuständig für die Leistungen sind dann entweder die Unfallversicherung oder die Krankenversicherung. Hier unterscheiden sich nicht nur die zuständigen Institutionen, was immer wieder zu Auseinandersetzungen über
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die Kostenträgerschaft führt, auch die Leistungen weichen in Art und Höhe vielfach voneinander ab, so dass auf den gleichen sozialen Tatbestand durchaus unterschiedlich reagiert werden kann. Die Leistungen der Versicherung sind darüber hinaus an Vorleistungen des Versicherten geknüpft. Vorherige Versicherungspflicht und Beitragszahlung sind erforderlich. In der Arbeitslosen- und Rentenversicherung wird die Leistung zusätzlich noch an eine Mindestversicherungszeit (Wartezeit) gebunden. Wird diese Zeit (fünf Jahre in der Rentenversicherung, ein Jahr beim Arbeitslosengeld) nicht erreicht, bestehen keine Leistungsansprüche. Unfall- und Krankenversicherung leisten hingegen sofort. Versicherungsleistungen richten sich nicht nach Bedürftigkeitskriterien. Im Falle des Risikoeintritts besteht ein unabdingbarer individueller Rechtsanspruch auf normierte Leistungen, und zwar unabhängig von der konkreten Bedarfslage, ohne Ansehen der persönlichen und finanziellen Verhältnisse, d. h. ohne Ermessensentscheidungen und Überprüfungen. Damit ist ein hohes Maß an Sicherheit und Verlässlichkeit gewährleistet. 5.3
Höhe, Bezugsdauer und Anpassung der Lohnersatzleistungen
Die Geldleistungen in der Sozialversicherung werden nach dem (modifizierten) Äquivalenzprinzip berechnet. Danach hängt die (relative) Höhe der Ansprüche aus der Renten-, Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung unmittelbar von der Höhe des individuellen versicherungs- und beitragspflichtigen Arbeitsentgelts bzw. der zuvor eingezahlten Beiträge ab. Zwischen Zahlbetrag und Einkommens- bzw. Beitragshöhe, zwischen Leistung und Gegenleistung also, besteht ein Entsprechungsverhältnis. Ein hohes Arbeitsentgelt führt zu relativ hohen, ein niedriges zu relativ niedrigen Versicherungsleistungen. Dabei bleibt unberücksichtigt, in welcher Arbeitszeit die Einkommenshöhe erreicht worden ist. Die Höhe des Haushaltseinkommens oder Maßstäbe von Bedarf und Bedürftigkeit spielen bei der Leistungsberechnung keine Rolle. Eine Mindestleistung gibt es nicht. Die Geldleistungen der Sozialversicherung haben damit eine Lohnersatzfunktion. Die durch das Arbeitsentgelt erzielte Einkommensposition soll zumindest teilweise beibehalten werden können. Ob jedoch die Leistungen so hoch sind, dass tatsächlich von einem Lohnersatz gesprochen werden kann, hängt von den Berechnungsmaßstäben und vom Sicherungsniveau ab. Die Abweichungen zwischen den einzelnen Versicherungszweigen sind groß: • Unterschiede finden sich beim Einkommensmaßstab: Die eher kurzfristigen, zeitlich begrenzten Leistungen wie Krankengeld, Arbeitslosengeld und Unterhaltsgeld orientieren sich am letzten Arbeitsentgelt, während bei der Berechnung der Rente das lebensdurchschnittliche Einkommen zugrunde gelegt wird.
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Die Leistungssätze fallen unterschiedlich aus: Beim Krankengeld werden 70 % des letzten Bruttoeinkommens, beim Arbeitslosengeld 60 bzw. 67 % des letzten Nettoeinkommens abgedeckt. Die Höhe der Rente berechnet sich nicht nach einem festen Prozentsatz von der Lebenseinkommensposition, sondern hängt neben der Höhe der Beitragsleistung maßgeblich von der Dauer der versicherungspflichtigen Beschäftigung ab.
Unterschiedlich geregelt ist die Beitragspflichtigkeit der Lohnersatzleistungen: Von den Renten werden der halbe Beitrag zur Finanzierung der Krankenversicherung der Rentner und der volle Beitrag zur Pflegeversicherung abgezogen, das Krankengeld wird um die (hälftigen) Beiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung gekürzt. Zusätzlich zahlt der Versicherungsträger noch die andere Hälfte des Beitrags. Arbeitslosengeld, Unterhaltsgeld und Arbeitslosengeld II bleiben dagegen abzugsfrei. Hier sind die Bundesagentur für Arbeit bzw. beim SGB II der Bund für die Zahlung der Beiträge an die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung zuständig. Die tatsächliche Höhe der Lohnersatzleistungen wird schließlich durch ihre steuerliche Belastung bestimmt. In der Regel erfolgt keine Minderung durch direkte Steuerabzüge. Die Renten allerdings unterliegen der schrittweisen Umstellung zur nachgelagerten Besteuerung (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.5.6). In allen Versicherungszweigen reicht die Entgeltabsicherung nur bis zu einer maximalen Entgelthöhe: Jene Einkommensbestandteile bleiben beitragsfrei, im Risikofall aber auch ungeschützt, die die Beitragsbemessungsgrenze übersteigen. Die Beitragsbemessungsgrenze liegt 2020 in der Renten- und Arbeitslosenversicherung bei 6 900 Euro im Monat (alte Bundesländer) bzw. bei 6 450 Euro (neue Bundesländer). In der Kranken- und Pflegeversicherung beträgt die Grenze einheitlich für West und Ost 5 213 Euro (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Tabelle II.4). Durch die Koppelung der Beitragsbemessungsgrenze an die Entwicklung der Bruttolohn- und Gehaltssumme passt sie sich jährlich dem allgemeinen Einkommenszuwachs an (Dynamisierung). Die Beitragsbemessungsgrenze führt dazu, dass das Gesamteinkommen hoch Verdienender zu einem relativ geringen Prozentsatz abgesichert ist, so dass häufig private Zusatzversicherungen abgeschlossen werden. Nur die Renten werden grundsätzlich zeitlich unbefristet gezahlt. Alle anderen Einkommensersatzleistungen sind zeitlich befristet. Krankengeld kann längstens 78 Wochen bezogen werden, Arbeitslosengeld im Grundsatz 1 Jahr, bei älteren Arbeitslosen bis zu längstens 18 Monaten. Beim Arbeitslosengeld ist die Bezugsdauer auch nach der Dauer der Beitragszahlung gestaffelt. Bei längerfristigen Leistungen, insbesondere bei der Rente, stellt sich die Frage, wie die einmal festgesetzte Leistung an die wirtschaftliche Entwicklung angepasst wird. Würde beispielsweise die beim Erreichen der Altersgrenze errechnete Rente für die Dauer der Lebenszeit unverändert gelten, käme es zu zwei Problemen: In einer Welt von anhaltenden Preissteigerungen würde der Realwert der nominell konstanten Rente kontinuierlich sinken. Doch auch eine Realwertsicherung durch Inflations-
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ausgleich verhindert nicht, dass bei wachsenden Arbeitseinkommen der Lebensstandard der Rentner:innen im Verhältnis zu dem der aktiv Beschäftigten relativ abfällt und die ältere Generation ihre einmal erreichte relative Einkommensposition nicht beibehalten kann. Durch die Anbindung der Rentenzahlung an eine feste Bezugsgröße, nämlich an die durchschnittliche Entwicklung der Einkommen der Arbeitnehmer:innen im Vorjahr (dynamische Rente), wird dieses Problem vermieden und eine Teilhabe der Rentner:innen am allgemeinen Einkommenszuwachs ermöglicht. Auf dieser Grundlage kann von einer Lebensstandardsicherungsfunktion der Rente gesprochen werden. Die für die Rentenversicherung maßgebenden Anpassungssätze werden auf andere Zweige des Systems der sozialen Sicherung übertragen: Sie gelten u. a. bei den Unfallrenten und bei den Kriegsopferrenten. 5.4
Organisation und Selbstverwaltung
In den Sozialversicherungszweigen gibt es verschiedene Versicherungsträger, die sich nach Branchen, Betrieben und regionalen Gesichtspunkten gliedern. Es zeigt sich folgendes Bild (Stand 2019): •
Die Aufgaben der Krankenversicherung werden von 109 Krankenkassen (Ortskrankenkassen, Betriebskrankenkassen, Innungskrankenkassen, Ersatzkassen und Landwirtschaftliche Krankenkassen) durchgeführt. Die einzelnen Kassenarten und Kassen stehen in Konkurrenz zueinander; die Versicherten können wählen, in welcher Kasse sie versichert sein wollen. • Die Rentenversicherung gliedert sich in die Deutsche Rentenversicherung Bund, in die Deutsche Rentenversicherung Bahn, Knappschaft, See und in die 11 regionalen Zweige der Deutschen Rentenversicherung. • Die Unfallversicherung besteht aus 34 gewerblichen und 20 landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften. Hinzu kommen noch 54 Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand. • Lediglich die Arbeitslosenversicherung/Arbeitsförderung ist einheitlich strukturiert. Sie wird von der Bundesagentur für Arbeit, den 11 Regionaldirektionen und den 184 Arbeitsagenturen verwaltet. Die Sozialversicherungsträger sind in Form selbstständiger öffentlich-rechtlicher Körperschaften organisiert, die ihre Aufgaben eigenverantwortlich in eigenem Namen durch eigene Organe erfüllen. Die Sozialversicherungsträger verfügen über Finanzhoheit und sind damit von den öffentlichen Haushalten getrennt. Dem Staat obliegt die Aufsichtspflicht. Aufsichtsbehörde über die bundesunmittelbaren Sozialversicherungsträger und sonstigen Einrichtungen ist das Bundesamt für soziale Sicherung.
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Charakteristisch für die Organisation der Sozialversicherung ist der Grundsatz der Selbstverwaltung. Vorstand und Vertreterversammlung (bzw. Verwaltungsrat bei der Krankenversicherung) der einzelnen Sozialversicherungsträger sind paritätisch mit Vertretern der Versicherten und der Arbeitgeber besetzt. Ausnahmen ergeben sich u. a. bei der Bundesagentur für Arbeit, deren Verwaltungsrat drittelparitätisch (Gewerkschaften, Arbeitgeber, öffentliche Körperschaften) besetzt ist. Die Selbstverwaltungsorgane werden in den im sechsjährigen Turnus stattfindenden Sozialwahlen gewählt. Bei der Bundesagentur für Arbeit benennen Gewerkschaften, Arbeitgeber und öffentliche Körperschaften ihre Vertreter. Für die Sozialwahlen sind statt echter Wahlhandlungen sog. Friedenswahlen typisch: Bei der überwiegenden Mehrzahl der Versicherungsträger einigen die sich zur Wahl antretenden Verbände der Arbeitgeber und der Versicherten schon im Vorfeld auf genauso viele Kandidaten, wie Sitze in den Organen zu vergeben sind. Bei den Versicherungsträgern, bei denen echte Wahlen (Briefwahl) stattfinden, liegt die Wahlbeteiligung mit rund 30 % (Rentenversicherung, 2017) sehr niedrig. Das geringe öffentliche Interesse an der Selbstverwaltung ist auch Folge ihres geringen Gestaltungsspielraums. Leistungsrecht und Finanzierungsrecht unterliegen weitgehend dem Gesetzgeber. Bei der Krankenversicherung haben die einzelnen Kassen das Recht, die Zusatzbeiträge autonom festzulegen und Verträge mit den Leistungsanbietern zu schließen. Für die Sozialversicherung besteht eine eigene Gerichtsbarkeit (Sozialgerichtsbarkeit). Die Sozialgerichte bis hin zum Bundessozialgericht sind paritätisch besetzt, den hauptamtlichen Richter:innen stehen Laienrichter:innen zur Seite, die jeweils von den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften benannt werden. 5.5
Finanzierung
Die Zweige der Sozialversicherung finanzieren sich im Wesentlichen durch lohnbezogene Beiträge. Im Unterschied zur Privatversicherung mit ihren strengen Äquivalenzgrundsätzen werden die Beiträge aber nicht nach der individuellen Risikowahrscheinlichkeit (risikoäquivalente Beiträge) bemessen, sondern machen bei allen Versicherten den gleichen Prozentsatz vom versicherungspflichtigen Einkommen aus. Die Belastung erfolgt damit einkommensproportional. Bemessungsgrundlage für die Beitragserhebung ist das versicherungspflichtige Bruttoarbeitsentgelt. Andere persönliche Einkommen wie Gewinne, Mieten oder Vermögenseinkünfte bleiben außerhalb der Bemessungsgrundlage. Im Unterschied zur Tarifgestaltung der Einkommensteuer unterliegt das Bruttoarbeitsentgelt bereits ab dem ersten Euro voll der Beitragspflicht; einen Grundfreibetrag oder die Berücksichtigung von Werbungskosten und speziellen Freibeträgen kennt das Beitragsrecht nicht.
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Der Teil der Arbeitsentgelte, der oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegt, bleibt allerdings beitragsfrei. Aufgrund der Beitragsbemessungsgrenze fällt die relative Einkommensbelastung umso geringer aus, je mehr das Arbeitsentgelt den Grenzwert überschreitet. Die Belastung durch Sozialversicherungsbeiträge wirkt dadurch tendenziell regressiv, zumal in die Bemessungsgrundlage für die Beiträge nur bestimmte, nämlich die sozialversicherungspflichtigen Einkommen eingehen, andere Einkünfte (z. B. aus selbstständiger Tätigkeit) unberücksichtigt bleiben. Die Verteilungswirkungen von direkten Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen unterscheiden sich insofern stark. Grundelemente des Einkommensteuerrechts wie Erfassung sämtlicher Einkommen, Eingangssteuersätze, Spitzensteuersätze und progressiv ausgestaltete Grenzsteuersätze kennt die Sozialversicherung nicht. Aus ökonomischer Sicht lassen sich Beiträge damit als staatliche Abgaben verstehen, die wie direkte Steuern wirken, aber hohe Einkommen begünstigen. Diese im internationalen Vergleich übliche Gleichstellung von Lohnsteuern und Sozialversicherungsbeiträgen als Abzüge vom Bruttoeinkommen verwischt jedoch die grundlegenden Unterschiede zwischen beiden Abgabenarten: Beiträge fließen nicht in den allgemeinen Staatshaushalt, sondern sind zweckgebunden. Leistungen wie auch Anwartschaften sind eigentumsrechtlich geschützt, auf sie besteht ein unabdingbarer Anspruch. Zudem kommt es auf die zeitliche Perspektive an. Im Lebensverlauf relativiert sich das Problem einer regressiven Verteilungswirkung, da die Beitragsbemessungsgrenze bei den Geldleistungen dazu führt, dass auch die Leistungsansprüche nach oben hin begrenzt sind. Bei den Sach- und Dienstleistungen der Sozialversicherung hingegen, die unabhängig von der Beitragshöhe, also nach dem Bedarfs- und nicht nach dem Äquivalenzprinzip, vergeben werden, greift diese Leistungsbegrenzung nicht. Hier kommt es in der Kranken- und Pflegeversicherung auf der Finanzierungsseite tatsächlich zu einer Besserstellung von Versicherten mit einem hohen Einkommen. Solange es eine Versicherungspflichtgrenze gibt, würde einer Anhebung oder gar Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze dazu führen, dass die noch verbliebenen gut verdienenden freiwillig Versicherte dann in eine private Krankenversicherung wechseln, da dort die Prämien nicht einkommensabhängig ausgestaltet sind. Die Beiträge zur Sozialversicherung werden jeweils zur Hälfte vom Arbeitnehmer und Arbeitgeber gezahlt. Lediglich in der Unfallversicherung zahlt der Arbeitgeber alleine, da die Unfallversicherung die Arbeitgeberhaftpflicht abgelöst hat. Der Zahlungsvorgang sagt jedoch noch wenig darüber aus, wer die Belastungen tatsächlich trägt. Zu unterscheiden ist zwischen Zahllast und Traglast. Die Traglast kann durch Überwälzung verringert werden. Die Arbeitgeber können versuchen, die Beiträge über die Preise auf die Konsumenten ab- oder durch Abstriche bei den Bruttoeinkommen auf die Beschäftigten zurückzuwälzen (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 3.7.2). Da die Sozialversicherungsträger in den jeweiligen Versicherungszweigen eigenständig sind und über Finanzautonomie verfügen, kommt es dazu, dass die einzelnen Träger entsprechend dem für sie gültigen Verhältnis von Beitragsaufkommen und
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Ausgabevolumen eine unterschiedliche Finanzlage aufweisen. Dies betrifft die Träger der Krankenversicherung, die den Ausgleich zwischen ihren Einnahmen aus dem Gesundheitsfonds und den Ausgaben durch die Festlegung eines kassenspezifischen Zusatzbeitrags erreichen müssen. Ein Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen und Kassenarten trägt hier dazu bei, die Ausschläge der Beitragssätze zu begrenzen (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 5.1.4). Bei der Rentenversicherung sind die Beitragssätze gesetzlich vorgegeben. Um Finanzungleichgewichte der einzelnen Träger zu vermeiden, besteht ein voller Finanzausgleich zwischen den Trägern. Gesetzlich vorgegeben sind auch die Beitragssätze zur Arbeitslosen- und zur Pflegeversicherung. Zwischen den Sozialversicherungszweigen gelten wechselseitige Beitragsverpflichtungen: • • • •
die Bundesagentur für Arbeit zahlt für ihre Leistungsempfänger:innen Beiträge an die Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung, die Rentenversicherung zahlt die Hälfte des Beitrages für die Krankenversicherung der Rentner, die Krankenversicherung zahlt für die Krankengeldempfänger:innen die hälftigen Beiträge an die Rentenversicherung und an die Bundesagentur für Arbeit, die Pflegeversicherung zahlt für nicht erwerbsmäßige Pflegepersonen Beiträge an die Rentenversicherung.
Der besondere Charakter der Sozialversicherung kommt schließlich darin zum Ausdruck, dass der Bund aus allgemeinen Steuermitteln Zuschüsse zur Finanzierung der Rentenversicherung (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.7.2) und der Krankenversicherung (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 5.1.4) leistet. Der Bund kommt auch für die Beitragszahlung bei Kindererziehung auf. 5.6
Solidarausgleich
Die einzelnen Versicherungszweige sind durch eine je spezifische Kombination von Versicherungsprinzip und Solidarausgleich charakterisiert. Die Verteilungswirkungen der Sozialversicherung gehen also über den reinen Risikoausgleich hinaus und zielen auch auf eine Einkommensumverteilung. Krankenversicherung Die interpersonelle Umverteilung zu Gunsten der Personen bzw. Haushalte mit niedrigem Einkommen kommt im besonderen Maße bei der Krankenversicherung zum Ausdruck. Da bei der Krankenversicherung weit über 90 % der Ausgaben durch Sachund Dienstleistungen getätigt und diese nach Bedarfsmaßstäben bereitgestellt werden, greift das versicherungstechnische Äquivalenzprinzip hier nicht. Das heißt, dass
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auch bei geringen Beitragszahlungen die gleichen Sach- und Dienstleistungen in Anspruch genommen werden können wie bei hohen Beitragszahlungen. So richtet sich eine Krankenhausbehandlung in ihrer Dauer und Intensität allein nach medizinischen Notwendigkeiten und nicht nach der Höhe des eingezahlten Beitrags. Zudem werden die Beiträge nicht – wie bei der privaten Krankenversicherung – nach dem individuellen Risiko bzw. Risikoklassen (Vorerkrankungen, Alter beim Versicherungseintritt, Geschlecht), sondern allein an der Höhe des Arbeitsentgelts bemessen; auch der Beitragssatz für die Krankenversicherung der Rentner liegt nicht höher als der allgemeine Beitragssatz. Schließlich bleiben bei der Bemessung des individuellen Beitrags die Leistungen für Familienangehörige unberücksichtigt. Diese Regelungen führen zusammengenommen dazu, dass sich auf der Leistungsseite der Krankenversicherung mehrere Umverteilungsprozesse überlagern. Eine Umverteilung findet statt zwischen • • • •
Menschen mit unterschiedlichen Erkrankungswahrscheinlichkeiten (sozialversicherungstechnischer Risikoausgleich), jüngerer und älterer Generation (intergenerativer Risikoausgleich). Kinderlosen und Kinderreichen (familienbezogene Umverteilung), Beziehern hoher und niedriger Arbeitsentgelte (Einkommensumverteilung).
Betrachtet man diesen Umverteilungsprozess im Versicherungsverlauf, können sich die Begünstigungen und Belastungen freilich einebnen. Im Längsschnitt gesehen kann nämlich der/die zunächst überdurchschnittlich belastete, weil gesunde, kinderlose und gut verdienende Versicherte, später zu den Begünstigten zählen, wenn er/sie chronisch erkrankt oder Kinder zu versorgen sind oder wenn er/sie als Rentner:in von dem günstigen Beitragssatz profitiert. Ähnliches gilt für die Verteilungswirkungen der Pflegeversicherung, da auch hier zwischen individuellen Beiträgen und Leistungen kein Zusammenhang besteht. Allerdings wird der Solidarausgleich durch die Fixierung von Leistungshöchstbeträgen sowohl beim Pflegegeld wie bei den Sachleistungen begrenzt. Das für die Krankenversicherung typische Bedarfsdeckungsprinzip gilt bei der Pflegeversicherung nicht (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 5.1). Rentenversicherung Sach- und Dienstleistungen haben in der Rentenversicherung einen geringen Stellenwert. Die nach dem Äquivalenzprinzip bemessenen Geldleistungen dominieren. Insofern fällt in diesem Versicherungszweig die interpersonelle Umverteilung deutlich schwächer aus. Nimmt man jedoch die private Lebensversicherung als Maßstab, so beschränkt sich die Rentenversicherung nicht auf die Abdeckung der sog. biometrischen Risiken (finanzielle Konsequenzen eines langen Lebens, von Tod und Invalidität), sondern bewirkt auch vielfältige Umverteilungseffekte. Zu berücksichtigen sind insbesondere die einkommens- und nicht risikobezogene Beitragsbemessung,
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die Hinterbliebenenversorgung, die Rentenberechnung bei einer Erwerbsminderung (Zurechnungszeiten), die Berücksichtigung beitragsfreier und beitragsgeminderter Zeiten, die Fremdrenten sowie Aufwertung von Anwartschaften während der Kindererziehungszeit (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.5.2.). Die Verteilungswirkungen der Rentenversicherung lassen sich auch im Generationenvergleich (intergenerative Umverteilung) analysieren: In der Querschnittbetrachtung interessiert vor allem das Einkommensverhältnis zwischen der erwerbstätigen Bevölkerung und den Rentenbeziehern. Indikator für diese Relation ist das Rentenniveau (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.6.1). • In der Längsschnittbetrachtung werden die Einkommenspositionen zwischen verschiedenen Altersjahrgängen bzw. Gruppen von Jahrgängen miteinander verglichen. Aus diesem Blickwinkel kann gefragt werden, ob die nachrückenden Kohorten gegenüber ihren Vorgängerkohorten besser oder schlechter gestellt werden. •
Arbeitslosenversicherung Wiederum besondere Bedingungen weist die Arbeitslosenversicherung auf. Ihre über den versicherungsimmanenten Risikoausgleich hinausreichenden Verteilungswirkungen lassen sich schwer abschätzen, da es eine privatwirtschaftliche Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, die als Maßstab dienen könnte, nicht gibt. Das Risiko „Arbeitslosigkeit“ ist kein versicherbares, individuelles Risiko im engeren Sinne, da Unterbeschäftigung von konjunkturellen und strukturellen Faktoren bestimmt wird und sich Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe nicht versicherungstechnisch kalkulieren lassen. Dies ist auch der Grund dafür, dass der Bund den Defizitausgleich bei der Arbeitslosenversicherung übernimmt. Auch die Arbeitslosenversicherung arbeitet mit einkommensbezogenen und nicht mit risikoäquivalenten Beiträgen. Da das Risiko, arbeitslos zu werden und zu bleiben, sehr ungleich verteilt ist (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 5.4) und einzelne Arbeitnehmergruppen – wie z. B. Arbeiter:innen und Angestellte im öffentlichen Dienst oder gut qualifizierte Beschäftigte in der Privatwirtschaft – eine hohe Beschäftigungssicherheit aufweisen, lässt sich von einer interpersonellen Einkommensumverteilung in Richtung der stark von Arbeitslosigkeit gefährdeten Beschäftigten ausgehen. Überproportional häufig erhalten dann Beschäftigte mit geringer Qualifikation und einem eher niedrigen Einkommen sowie Beschäftigte in bestimmten Branchen und Berufen Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung. Fraglich ist jedoch, ob die Einkommensabsicherung bei Arbeitslosigkeit überhaupt als „Begünstigung“ aufgefasst werden kann. Die Lohnersatzleistungen machen nur einen Teil der Ausgaben der Bundesagentur für Arbeit aus. Daneben stehen im Rahmen der Arbeitsförderung die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik, die allgemeinpolitischen Zielen dienen und in ihrer Wirkung weit über den Kreis der Versicherten hinausreichen.
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Interregionaler Einkommensausgleich Die Sozialversicherung berücksichtigt bei einzelnen Versicherungsträgern, so insbesondere bei den Ortskrankenkassen und den Regionalträgern der Rentenversicherung, regionale Strukturen. Das Leistungsrecht ist jedoch in allen Versicherungszweigen bundeseinheitlich geregelt. Das gilt auch für die neuen Bundesländer. Lediglich bei der Rentenversicherung wird der aktuelle Rentenwert zwischen den alten und neuen Bundesländern bis 2024 noch getrennt berechnet (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.5.4). Auch die Finanzierung der Sozialversicherung erfolgt bundeseinheitlich (bei der Arbeitslosenversicherung/Arbeitsförderung) oder wird über Finanzausgleichsverfahren (in der Rentenversicherung und weitgehend in der Krankenversicherung) bundeseinheitlich gestaltet. Diese Ausgestaltung der Sozialversicherung führt zu erheblichen Umverteilungseffekten zwischen den Regionen bzw. Bundesländern Deutschlands: Denn einerseits sind die Risiken regional ungleich verteilt – dies betrifft vor allem die Arbeitslosigkeit – und andererseits weisen die Bundesländer ein unterschiedlich hohes Einkommensniveau und damit Beitragsaufkommen auf. „Reiche“ Bundesländer unterstützen über diesen Weg die „ärmeren“ und zusätzlich noch von besonderen Problemen betroffenen Bundesländer. Der interregionale Solidarausgleich in der Sozialversicherung findet seine Entsprechung im Länderfinanzausgleich und ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots der Herstellung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse. Er ist besonders ausgeprägt im Verhältnis zwischen den alten und den neuen Bundesländern. Würde die Einnahmenbasis der Sozialversicherung hingegen regionalisiert, käme es zu deutlichen Beitragssatzdifferenzen zu Lasten der strukturschwachen und zu Gunsten der prosperierenden Länder. 5.7
Versicherungsfremde Leistungen und steuerfinanzierte Zuschüsse
In allen Zweigen der Sozialversicherung wird das versicherungsförmige Äquivalenzprinzip durch Elemente des sozialen Ausgleichs ergänzt. Abweichungen vom reinen Risikoausgleich zeigen sich in mehrfacher Hinsicht: • •
Die Beiträge werden nicht nach dem individuellen Risiko, sondern nach dem Arbeitseinkommen bemessen. Leistungsansprüche haben zum Teil auch jene, die nicht zum Kreis der Versicherten und Beitragspflichtigen zählen. Dies betrifft zum Beispiel Rentenzahlungen an Spätaussiedler im Rahmen des Fremdrentengesetzes. In der Arbeitsförderung können Leistungen wie Berufsberatung, Arbeitsvermittlung, Maßnahmen zur Berufsvorbereitung und Berufsausbildung auch von Personen in Anspruch genommen werden, die nicht versicherungs- und beitragspflichtig beschäftigt sind.
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Beitragsfrei mitversichert sind in der Kranken- und Pflegeversicherung Familienangehörige (nicht erwerbstätige Ehepartner und Kinder). • Bei der Leistungsberechnung werden Zeiten berücksichtigt, für die keine Beiträge gezahlt worden sind; dies gilt für die Anerkennung von Ersatz-, Zurechnungsund Anrechnungszeiten in der Rentenversicherung oder die beitragsfreie Versicherung in der Arbeitslosenversicherung während der Elternzeit. • Die Leistungsanwartschaften bzw. die späteren Leistungen werden für Versicherte, die sich in besonderen Lebensphasen befinden, höher bewertet, als es aufgrund der gezahlten Beiträge gerechtfertigt wäre. So werden in der Rentenversicherung die Entgeltpunkte durch die Höherbewertung von Zeiten der Berufsausbildung und der Kindererziehung angehoben. In der Arbeitslosenversicherung erhalten Arbeitslose mit Kindern einen höheren Leistungssatz. • Die Beitragsäquivalenz wird schließlich durch den interregionalen Ausgleich durchbrochen. Die besonderen Aufgaben und Belastungen in den neuen Bundesländern werden durch den Finanztransfer von West nach Ost ausgeglichen. Die Frage ist, ob diese Leistungen des Sozialausgleichs zum originären, versicherungstypischen Aufgabenspektrum einer Sozialversicherung zählen, oder ob es sich um allgemeine Staatsaufgaben handelt, die der Staat der Sozialversicherung lediglich übertragen hat. Ist das letztere der Fall, ist eine Finanzierung dieser „versicherungsfremden“ Aufgaben aus Beitragsmitteln problematisch. Zur berücksichtigen ist nämlich, dass die Solidargemeinschaft der Versicherten nur einen Teil Bevölkerung erfasst, die versicherungspflichtigen Arbeitnehmer:innen, während andere – in der Regel besser verdienende – Beschäftigtengruppen (wie Beamte, Selbstständige) eigenständige Sicherungssysteme aufweisen, nicht beitragspflichtig und von daher auch nicht in den Solidarausgleich eingebunden sind. Infolge der Versicherungspflichtgrenze in der Kranken- und Pflegeversicherung kommt es überdies dazu, dass Beschäftigte im höheren Einkommensbereich zwischen Sozialversicherung und Privatversicherung wählen und sich – wenn es für sie vorteilhaft ist – dem Solidarausgleich entziehen können. Aus ordnungs- und verteilungspolitischen Gesichtspunkten wäre es geboten, allgemeine Staatsaufgaben auch durch die Allgemeinheit zu finanzieren. Das angemessene Finanzierungsinstrument wäre die Einkommensteuer, da diese alle Personen und Einkommen erfasst und die Belastung nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit erfolgt. Die Zuschüsse, die der Bund an die Renten- und Krankenversicherung zahlt, sind Ausdruck dieser Problematik. Da die Zuschüsse aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert werden, ist allerdings nicht zurechenbar, über welche Steuer die entsprechende Finanzierung erfolgt (über indirekte und direkte Steuern) und wie sich die Belastungen verteilen (vgl. Pkt. 3.1 dieses Kapitels). Nicht klar ist vor allem, ob die Bundeszuschüsse in ihrer Höhe ausreichen, um die als versicherungsfremd zu
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bezeichnenden Aufgaben abzudecken. Um zu einer Beurteilung zu kommen, muss entschieden werden, wie versicherungskonforme von versicherungsfremden Leistungen abzugrenzen sind. Hierbei kommt man nicht ohne politische Werturteile aus. Wird nämlich allein die Privatversicherung mit ihrem Grundsatz der Beitragsäquivalenz als Maßstab genommen, gewährt die Sozialversicherung im großen Umfang versicherungsfremde Leistungen. Werden hingegen der soziale Ausgleich und das Solidaritätsprinzip als Wesenselemente der Sozialversicherung angesehen, werden Leistungen, die der Privatversicherung fremd sind, geradezu konstitutiv für die Sozialversicherung. Der Aufgabe einer sachgemäßen Abgrenzung zwischen versicherungskonformen und versicherungsfremden Leistungen in der Sozialversicherung kommt man näher, wenn unterschieden wird zwischen Maßnahmen des internen sozialen Ausgleichs, die sich auf die Versichertengemeinschaft beschränken, und Maßnahmen des externen sozialen Ausgleichs, die an außen stehende Personen gehen, ohne dass diese einen eigenen Beitrag bezahlt haben: In der Rentenversicherung sind für den internen Ausgleich Zurechnungs- und Anrechnungszeiten sowie Höherbewertungen charakteristisch. Für den externen Ausgleich stehen insbesondere Kindererziehungszeiten, Ansprüche nach dem Fremdrentengesetz und die Kriegsfolgelasten. Die Dimensionen dieser Leistungen werden durch den gegenwärtigen Bundeszuschuss (allgemeiner Bundeszuschuss und zusätzliche Bundeszuschüsse) und die Beitragszahlungen des Bundes für Kindererziehungszeiten abgedeckt (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.7.2). Bei der Krankenversicherung lassen sich allgemeine, gesellschaftspolitische Aufgaben, die über den Kreis der Versicherten hinaus reichen, bei einigen Leistungen (Leistungen bei Schwangerschaft, Mutterschaftsgeld, Krankengeld bei Betreuung eines erkrankten Kindes) identifizieren. Hier erhalten die Krankenkassen – seit 2004 – Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt. Eine erhebliche Belastung mit allgemeinen, gesellschaftspolitischen Aufgaben weist die Arbeitslosenversicherung auf, da viele Maßnahmen und Angebote der Arbeitsförderung (wie u. a. Benachteiligtenförderung, Berufsberatung, Arbeitsvermittlung, Aussiedlerintegration, Sprachförderung, berufliche Eingliederung Behinderter) von der gesamten Bevölkerung in Anspruch genommen werden können. Zu berücksichtigen ist zudem, dass die Sozialversicherungen allein aufgrund ihrer Größe eine allgemeine Stabilitäts- und Gestaltungsfunktion für die Gesellschaft wahrnehmen und zu positiven externen Effekten führt, von denen auch jene profitieren, die nicht versichert bzw. unmittelbar betroffen sind. So kann niemand vom Nutzen des Arbeitsmarktausgleichs und einer aktiven Arbeitsmarktpolitik ausgeschlossen werden. Dem in den einzelnen Versicherungszweigen im unterschiedlichen Maße auftretenden Problem einer inadäquaten Finanzierung der Leistungen, kann durch zwei unterschiedliche Maßnahmen entgegengetreten werden:
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• •
Einkommen
Durch eine Erhöhung und Verstetigung der steuerfinanzierten Bundeszuschüsse kann die Allgemeinheit der Steuerzahler stärker zur Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben der Sozialversicherung heran gezogen werden. Durch eine Verallgemeinerung der Versicherungspflicht im Sinne einer Volksoder Bürgerversicherung und durch die Ausweiterung der Beitragsbemessung auf das gesamte Einkommen würde die Bevölkerung insgesamt in den Schutz und zugleich Solidarausgleich der Sozialversicherungssysteme eingebunden. Dies betrifft vor allem die Finanzierung der Kranken- und Pflegeversicherung (vgl. Pkt. 9.2 dieses Kapitels).
In der Debatte um die Finanzierung der Sozialversicherung spielen nicht nur ordnungs- und verteilungspolitische Argumente eine Rolle. Aus arbeitsmarktpolitischer Sicht wird auch thematisiert, ob eine stärkere Steuerfinanzierung zu einer Entlastung der Arbeitskosten allgemein und der Lohnnebenkosten insbesondere beiträgt und zu positiven Beschäftigungseffekten führen kann (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 7.2). 5.8
Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen der Sozialversicherung
Da die Sozialversicherung das System der sozialen Sicherung in Deutschland bestimmt, sind Aussagen über ihre Leistungsfähigkeit zugleich auch Aussagen über die Qualität der Sozialpolitik insgesamt. Allgemein kann festgestellt werden, dass die Sozialversicherung sich in ihren einzelnen Zweigen als stabil und zugleich anpassungsfähig erwiesen hat und ein zentraler Faktor ist für die hohe Akzeptanz, die das Sozialstaatsprinzip bislang in der Bevölkerung erfahren hat. Dafür ist eine Reihe von Gründen ausschlaggebend: • Aus dem Versicherungsprinzip folgt, dass die Menschen ihre Ansprüche an den Sozialstaat aus ihren Beitragszahlungen ableiten können. Sie stehen dem Staat nicht als Bittsteller gegenüber, sondern als selbstbewusste Bürger:innen, die sich ihren Rechtsanspruch erarbeitet und verdient haben. Die Beitragszahlungen begründen eigentumsrechtlich geschützte Anwartschaften. • Der versicherungsförmige Lohnersatz führt zu einer Verstetigung des Einkommens im Lebenslauf und ermöglicht eine längerfristige Lebensplanung. Wenn lediglich eine Leistung auf dem Niveau des (sozial-kulturellen) Existenzminimums gezahlt würde, hätte der Eintritt von Krankheiten, Unfällen, Arbeitslosigkeit oder Invalidität unmittelbar einen drastischen Absturz im Lebensstandard zur Folge. • Einbezogen in die Sozialversicherung sind nicht nur die sog. „wirklich Bedürftigen“, sondern (fast !) die gesamte der Bevölkerung. Dies ist einerseits notwendig, um den Solidarausgleich finanzieren zu können, bedeutet andererseits aber auch,
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dass über die Mittelschicht hinaus ein großes Interesse an der Stabilität und Leistungsfähigkeit des Sozialstaates besteht. • Durch das Prinzip von Leistung und Gegenleistung und den Verzicht auf Einkommens- und Bedürftigkeitsprüfungen kommt es nicht zur Diskriminierung der Leistungsempfänger:innen: Die für vorleistungsunabhängige Transfers, insbesondere für die Grundsicherung, typischen Debatten über Missbrauch werden weitgehend vermieden. • Da die Beiträge nicht in den allgemeinen Staatshaushalt fließen, sondern zweckgebunden sind und zwischen Beiträgen und Geldleistungen ein Entsprechungsverhältnis besteht, ist der Abgabenwiderstand bei Beitragszahlungen geringer als bei Steuerzahlungen. • Durch ihre relative Finanzautonomie kann sich die Sozialversicherung dem unmittelbaren Zugriff der Finanzminister entziehen. Fiskalisch motivierte Leistungskürzungen sind bei rein steuerfinanzierten, über die öffentlichen Haushalte abgewickelten Transfers sehr viel leichter möglich. Die Sozialversicherung ist aber auch mit mehrfachen Problemen und Herausforderungen konfrontiert, die ihre Stabilität und Akzeptanz gefährden können. Im Mittelpunkt steht hier regelmäßig die Situation in der Rentenversicherung. Zu befürchten ist, dass angesichts des sinkenden Rentenniveaus das Ziel der Lebensstandardsicherung nicht mehr erreicht werden kann und dass die Altersrenten von Niedrigverdienern selbst nach langjähriger Beitragszahlung noch unter dem Niveau der Grundsicherung liegen. Hinzu kommen die längerfristig angelegten Probleme des demografischen Wandels. Eine weitere grundlegende Frage ist, ob die Geldleistungen der Sozialversicherung in der Lage sind, die Einkommensrisiken der Bevölkerung wirklich umfassend abzudecken. Ist doch der Schutz durch die Sozialversicherung in ihrer gegenwärtigen Struktur an bestimmte Voraussetzungen geknüpft: • • • • •
Es muss überhaupt eine Erwerbstätigkeit mit entsprechendem Erwerbseinkommen vorliegen bzw. vorgelegen haben. Die Erwerbstätigkeit muss der Versicherungs- und Beitragspflicht unterliegen. Die Erwerbstätigkeit muss kontinuierlich und von längerer Dauer sein. Die Höhe des Erwerbseinkommens muss deutlich oberhalb des Existenzminimums liegen. Der risikobedingte Einkommensausfall muss – außer im Fall von Invalidität und Alter – zeitlich begrenzt bleiben.
Diese Voraussetzungen können zu folgenden Problemen führen: • Ungeschützt bleiben diejenigen Personen, die kein (versicherungspflichtiges) Beschäftigungsverhältnis (haben) aufnehmen können. Hier handelt es sich vor allem um Jugendliche, die nach Beendigung ihrer Schul- oder Hochschulausbildung
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•
•
•
•
Einkommen
keine Beschäftigung finden oder um Frauen, die aus familiären Gründen ihre Erwerbstätigkeit für längere Zeit unterbrochen oder ganz aufgegeben haben. Es besteht weder Anspruch auf Arbeitslosengeld noch werden Rentenanwartschaften aufgebaut. Ungeschützt bleiben auch diejenigen Personen, die zwar erwerbstätig sind, aber nicht der Versicherungspflicht unterliegen. Von besonderer Bedeutung sind hier die geringfügig Beschäftigten und die wachsende Zahl der Menschen, die ihre berufliche Tätigkeit in der Grauzone zwischen neuer Selbstständigkeit in der Plattformökonomie und abhängiger Beschäftigung ausüben. Nicht oder nur unzureichend geschützt sind diejenigen Arbeitnehmer:innen, die kurzfristig beschäftigt sind oder deren Erwerbsbiographie Unterbrechungen aufweist: Denn Anspruchsvoraussetzungen (Wartezeit in der Renten- und Arbeitslosenversicherung), Leistungsdauer (beim Arbeitslosengeld) und Leistungshöhe (bei der Rente) sind an die Versicherungs- bzw. Beitragsdauer geknüpft. Unzureichend abgesichert sind alle Bezieher:innen von Niedrigeinkommen. Da die Lohnersatzleistungen das vorherige Arbeitseinkommen immer nur anteilig abdecken, geraten aus niedrigen Arbeitseinkommen abgeleitete Ansprüche auf Rente, Krankengeld oder Arbeitslosengeld sehr schnell in eine prekäre Zone. Eine Einkommenseinbuße von z. B. gut 40 % (beim Arbeitslosengeld) bei einem Arbeitseinkommen, das zwar niedrig, aber gerade noch auskömmlich ist, ist gleichbedeutend mit einem Absinken unter das Existenzminimum. Da die Sozialversicherung bei ihren Geldleistungen weder Bedarfskriterien berücksichtigt noch Mindestleistungen vorsieht, gibt es keinen Mechanismus, der diesen „Fall nach unten“ aufhalten kann. Betroffen sind nicht zuletzt die Teilzeitbeschäftigten, da Teilzeitarbeit als individuelle Form der Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich erfolgt, also mit proportionalen Einbußen im Bruttoeinkommen verbunden ist. Bei der Rente fallen die Anwartschaftsverluste infolge von Teilzeitarbeit umso höher aus, je größer das Gewicht der Teilzeitarbeit im gesamten Versicherungsverlauf ist und je stärker die Arbeitszeit und damit das Bruttoeinkommen gegenüber der Vollzeitnorm reduziert wird. Unzureichend abgesichert sind diejenigen, die nicht nur kurzfristig, sondern längerfristig arbeitslos oder krank sind, denn der Versicherungsschutz dünnt sich in dem Maße aus, je länger das Risiko andauert. So ist Langzeitarbeitslosigkeit, die im hohen Maße das Arbeitsmarktgeschehen prägt, gleichbedeutend mit einem Verlust des Arbeitslosengeldanspruchs. Eine mehrjährige Krankheit bedeutet, dass der Krankengeldanspruch ausläuft.
Es sind in erster Linie Frauen, die keine ausreichend hohen und vor allem eigenständigen Sicherungsansprüche bei den Risiken Invalidität, Alter und Arbeitslosigkeit aufweisen. Denn die Normalität kontinuierlicher Vollzeiterwerbsarbeit gilt faktisch nur für den traditionellen Lebens- und Erwerbsverlauf von Männern. Zwar zeigt sich bei der Alterssicherung aufgrund der gestiegenen Erwerbsbeteiligung von Frauen ein
Sozialversicherung
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generell positiver Entwicklungstrend hin zu höheren Rentenanwartschaften. Auch gleicht die Rentenversicherung Lücken in den Erwerbsverläufen in bestimmten Situationen aus, so insbesondere durch die rentenrechtliche Anerkennung von Kindererziehungs- und Pflegezeiten, so dass die Versicherungsbiographien kein reines Spiegelbild der Erwerbsbiographien darstellen. Gleichwohl kann auf absehbare Zeit von einer annähernden Gleichverteilung von Einkommen und Renten zwischen Männern und Frauen, insbesondere zwischen Ehemännern und Ehefrauen, nicht die Rede sein. Denn auch dann, wenn die Erwerbsunterbrechung nach der Geburt von Kindern nur kurz ist, macht sich die Diskontinuität des Berufsverlaufs in einer (im Vergleich zu den Männern) niedrigeren Berufs- und Einkommensposition und in verlorenen Aufstiegschancen bemerkbar. Da eine – aufgrund von Niedrigentgelten und/oder einer geringen individuellen Arbeitszeit (Teilzeit) – schlechte Einkommensposition und kurze Versicherungsdauer sehr häufig miteinander verknüpft sind, konzentrieren sich niedrige Renten auf Frauen. Wenn der (Teilzeit-)Lohn kaum das individuelle Existenzminimum sichert und der Lebensunterhalt nur im Partnerkontext gewährleistet werden kann, kann keine Rente erwartet werden, die höher ist als die Grundsicherung. Es ist ein Widerspruch, dass in der aktuellen Debatte einerseits zwar regelmäßig die niedrigen Frauenrenten (Stichwort „gender-pension gap“) kritisiert werden, dass aber auf der anderen Seite das vorgelagerte Problem, nämlich die Ausweitung der Teilzeitarbeit, insbesondere auf der Basis von Minijobs, eher hingenommen, ja noch durch steuerund sozialrechtliche Regelungen gefördert wird. Zwar stehen verheirateten Frauen bei Krankheit (im Rahmen der Familienhilfe) und im Alter (Hinterbliebenenrente) die vom versicherten Ehemann abgeleiteten (Unterhaltsersatz)Ansprüche zu. Doch diese Regelungen bleiben unbefriedigend: Es fehlt ein eigenständiger Anspruch, der die persönliche Abhängigkeit vom Mann überwindet. Die Unsicherheit abgeleiteter Ansprüche wird spätestens bei der Scheidung sichtbar. Die vom Mann abgeleitete Sicherung der Frau bezieht sich außerdem allein auf den Tatbestand der Ehe und wird auch von daher zunehmend fragwürdig. Denn ausgeschlossen werden andere Formen partnerschaftlichen Zusammenlebens. Und auch an der Lebenslage der wachsenden Zahl allein erziehender (lediger oder geschiedener) Mütter geht die abgeleitete Sicherung vorbei. Durch die Ehefixierung wird also der eigentliche schutz- und sicherungsbedürftige Tatbestand, nämlich die Kindererziehung, nicht erfasst. Die Analyse verdeutlicht, dass die Sozialversicherung unter erheblichem Reformdruck steht: Zu lösen sind nicht nur die Finanzierungsprobleme, sondern auch die Fragen nach einer Ausweitung der Versicherungspflicht, dem Leistungsniveau, der Gewichtung von Äquivalenzprinzip und sozialem Ausgleich und dem Verhältnis von Sozialversicherung und Privatversicherung.
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Einkommen
6
Grundsicherung
6.1
Grundsicherung als letztes soziales Netz
6.1.1 Grundsicherungssysteme und Leistungsprinzipien
Den Gegenpol zur Sozialversicherung stellt die fürsorgeförmige Grundsicherung dar. Sie hat die Aufgabe eines „letzten sozialen Netzes“ und greift bei jenen Notlagen, die weder durch eigene oder familiäre (Selbst)Hilfe noch durch vorgelagerte Sozialleistungen abgedeckt werden. Die Grundsicherung definiert damit das sozial-kulturelle Existenzminimum in der Gesellschaft. Die Hilfe erfolgt unabhängig von einer Vorleistung, die Höhe der Leistung orientiert sich nicht an einem vormaligen Erwerbseinkommen. Die gesetzliche Leitmaxime ist, Menschen die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das „der Würde des Menschen entspricht“ (§ 1 (1) SGB II und SGB XII). Dieser Leitsatz bezieht sich auf Artikel 1 des Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt.“) und weist auf ein Selbstverständnis der Grundsicherung hin, das sich von den Grundsätzen der traditionellen Armenfürsorge unterscheidet. Qualitativ unterschiedlich ist vor allem die Postulierung eines rechtlich garantierten Anspruchs auf eine die menschenwürdige Lebensführung sicherstellende Leistung, die ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben garantiert. Die Leistungen der Grundsicherung sind in mehrere Teilsysteme und -gesetze ausdifferenziert (Abbildung III.13), die sich auf jeweils unterschiedliche Personenkreise beziehen: •
Für erwerbsfähige Menschen (dazu zählen u. a. Arbeitslose, Niedrigverdiener, teilweise Erwerbsgeminderte) und ihre Angehörigen ist die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) zuständig. • Ältere Menschen und dauerhaft Erwerbsgeminderte sind die Zielgruppe Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (SGB XII). • Kinder und Erwachsene unter 65 Jahren, die zeitweise voll erwerbsgemindert sind, können Geldleistungen der Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt) (SGB XII) beantragen. Zudem finanziert die Sozialhilfe besondere Sach- und Dienstleistungen (so vor allem Hilfe zur Pflege, Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen). • Asylbewerber und Flüchtlinge/Schutzsuchende können Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Das einkommensabhängige Wohngeld kann als eine ergänzende Grundsicherung interpretiert werden; da allerdings der Fürsorgecharakter (keine Bedarfsdeckung, keine strenge Nachrangigkeit) fehlt, wird das Wohngeld häufig als gesonderte Leistung dargestellt.
Grundsicherung
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Abbildung III.13 Grundsicherungssysteme
Grundsicherungssysteme in Deutschland
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Sozialhilfe
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
Erwerbsfähige Personen im Alter zwischen 15 Jahren und der Regelaltersgrenze
Personen im Alter unterhalb der Regelaltersgrenze
Personen im Alter oberhalb der Regelaltersgrenze und Erwerbsgeminderte
Asylbewerber und Flüchtlinge
Erwerbsfähigkeit von mehr als 3 Stunden am Tag
Zeitweise voll erwerbsgemindert
Erreichen der Regelaltersgrenze oder dauerhafte volle Erwerbsminderung
Asylbewerber sowie geduldete und vollziehbar zur Ausreise verpflichtete Ausländer
Zentrale Leistungen
Arbeitslosengeld II Sozialgeld Kosten der Unterkunft
Hilfe zum Lebensunterhalt Kosten der Unterkunft
Grundsicherung Kosten der Unterkunft
Grundleistungen Barbedarf Unterkunft
Empfängerzahlen (am Jahresende)
Leistungsempfänger 2018: 5.865.234
Leistungsempfänger 2018: 369.850
Leistungsempfänger 2018: 1.079.000
Leistungsempfänger 2018: 411.000
Gesetzliche Grundlage
SGB II
SGB XII
SGB XII
Asylbewerberleistungsgesetz
System
Personenkreis
Leistungsvoraussetzung
Die Teilsysteme sind nach Bevölkerungsgruppen differenziert und hinsichtlich der Niveaus, der Bezugsbedingungen und der Rechtstellung der Betroffenen sozial hierarchisiert: Am oberen Ende der Hierarchie steht die Grundsicherung für Ältere, am unteren Ende stehen die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Und innerhalb der Gruppe der arbeitsmarktnahen Hilfebedürftigen (Anspruch auf Arbeitslosengeld II) haben junge Erwachsene (bis 25 Jahren) die schlechtesten Bedingungen und werden zugleich in einem besonderen Maße mit Sanktionen bedroht. Die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII als vormalige universelle Grundsicherung hat – quantitativ gesehen – heute eine nur noch nachrangige Bedeutung, aber ihr kommt eine Referenzfunktion für die anderen Systeme zu. Die Leistungsprinzipien des SGB XII und hierbei insbesondere die Regelungen über die Bemessung der Höhe der Hilfe zum Lebensunterhalt und deren Anpassung an die wirtschaftliche Entwicklung stellen den Maßstab dar sowohl für die Altersgrundsicherung als auch für die Grundsicherung für Arbeitsuchende und haben Auswirkungen auf die Einkommensteuer (steuerfreies Existenzminimum) und das Pfändungs- und Unterhaltsrecht.
248
Einkommen
Abbildung III.14 Empfänger von Leistungen der Grundsicherung insgesamt, am Jahresende 2018, in Mio. und in %
Sozialgeld (SGB II) 1,65 Mio. = 22,3%
Arbeitslosengeld II (SGBII) 4,14 Mio. = 55,9% Insgesamt: 7,41 Mio.
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 1,08 Mio. = 14,6%
= 9,0 % der Bevölkerung
Laufende Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen 0,12 Mio. = 1,7% Regelleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz 0,41 Mio. = 5,5%
Empfänger außerhalb von Einrichtungen Quelle: Statistisches Ämter des Bundes und der Länder (2019), Sozialberichterstattung.
Im Jahr 2018 gab es insgesamt 7,4 Mio. Empfänger:innen von Geldleistungen der unterschiedlichen Systeme der Grundsicherung (Abbildung III.14). Das entspricht rund 9,0 % der Bevölkerung. Jeder 9. Einwohner hat also ein so geringes Einkommen, dass auf Leistungen der Grundsicherung zurückgegriffen werden muss. Der weitaus größte Teil der Personen (78,2 %) bezieht Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II (auch als Hartz IV bezeichnet). Die Empfänger der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung machen 14,6 % aus. Von Bedeutung sind angesichts der starken Zuwanderung von Flüchtlingen seit 2014 auch die Leistungsempfänger:innen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz mit einem Anteil im Jahr 2018 von 5,5 % aller Grundsicherungsempfängerinnen und -empfänger. Allerdings zeigt sich hier eine rückläufige Entwicklung. 2015 wurden noch knapp eine Million Empfänger nach dem Asylbewerberleistungsgesetz registriert; das entsprach einem Anteil von 12,2 % aller Empfänger:innen von Grundsicherungsleistungen insgesamt. Nicht erfasst sind bei diesen Daten jene Leistungsempfänger:innen der Sozialhilfe, die in Einrichtungen, z. B. Pflegeheimen, leben und die Anspruch auf eine monetäre Zuwendung haben, um damit Kleidung kaufen zu können und über einen Barbetrag
Grundsicherung
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(sog. Taschengeld) zu verfügen. Im Jahr 2018 waren dies rund 249 000 Menschen. Ebenfalls nicht erfasst sind die Bezieher von Wohngeld. Das Wohngeld ist zwar eine einkommensgeprüfte, aber keine bedürftigkeitsgeprüfte Sozialleistung. So besteht Anspruch auf Wohngeld auch für Personen bzw. Haushalte, deren Einkommen oberhalb der Grundsicherungsschwelle liegt. Auch findet keine Vermögensanrechnung statt. Die einzelnen Grundsicherungssysteme weisen nicht nur hinsichtlich des Adressatenkreises, sondern auch hinsichtlich der Leistungen und der Finanzierung wichtige Unterschiede auf, aber gemeinsam ist die Prägung durch das Bedarfsdeckungsprinzip, das Individualisierungsprinzip und das Nachrangprinzip. Bedarfsdeckungsprinzip Nach dem Bedarfsdeckungsprinzip ist maßgebendes Kriterium für die Leistungsbemessung der jeweils vorliegende individuelle Bedarf im Hinblick auf ein „menschenwürdiges Leben“. Die Leistung bezieht sich auf die Bedarfs- und Haushaltsgemeinschaft, in der die Anspruchsberechtigten leben. Das Bedarfsdeckungsprinzip kommt in folgenden Punkten zum Ausdruck: •
Es ist Aufgabe der Grundsicherung, eine gegenwärtige Notlage rechtzeitig und wirksam zu vermeiden. Die Leistung setzt also im Bedarfsfall aktuell ein, d. h. in der Praxis oft sofort und nicht erst am Ende eines Monats. Gegenwartsbezug heißt allerdings auch, dass grundsätzlich die Übernahme von Schulden ausgeschlossen ist. Da der Anspruch auf Grundsicherung nicht gepfändet werden kann, gefährden vorhandene Schulden die Deckung des notwendigen Lebensunterhalts nicht. Eine Ausnahme gilt für die Übernahme von Mietschulden, wenn diese zum Verlust der Wohnung führen würden. • Die Grundsicherung ist (bis auf Ausnahmen) nicht rückzahlbar, sondern wird als Zuschuss geleistet. • Die Grundsicherung ist zwar keine rentenähnliche Dauerleistung, wird aber solange gezahlt, wie der Bedarf besteht, ist also im Grundsatz ein zeitlich unbefristeter Anspruch. • Die Grundsicherung tritt in Vorleistung, wenn vorrangige Ansprüche zwar vorhanden sind, diese aber nicht oder nicht schnell genug realisiert werden können. Der Anspruch geht dann auf den Grundsicherungsträger über. Individualisierungsprinzip Nach dem Individualisierungsprinzip richten sich Art, Form und Maß der Leistung nach der Besonderheit des Einzelfalles. Maßstab sind die individuelle Notlage, die jeweilige Art des Bedarfes und die jeweiligen örtlichen Verhältnisse. Individualisierungsprinzip und Ermessensspielraum erlauben eine variable, problemadäquate Hilfestellung, sie können für die Leistungsempfänger:innen andererseits aber auch Unsicherheit und die Gefahr von Willkür beinhalten.
250
Einkommen
Der erhebliche Verwaltungsaufwand, der mit der Anspruchsprüfung und Bewilligung von Leistungen in jedem Einzelfall verbunden ist, hat dazu geführt, dass die Grundsicherungsleistungen weitgehend nach festen Sätzen, d. h. pauschaliert kalkuliert werden. Mit dem Pauschalbetrag können die Leistungsberechtigten eigenverantwortlich wirtschaften. Die Kosten der Unterkunft werden hingegen in jedem Einzelfall berücksichtigt. Nachrangprinzip/Subsidiaritätsprinzip Das Nachrangprinzip bedeutet, dass kein Anspruch auf Grundsicherung besteht, wenn die Hilfesuchenden sich zur Beschaffung des notwendigen Lebensunterhalts für sich und ihre Familien selbst helfen können oder wenn Leistungsansprüche gegenüber Angehörigen oder auf andere Sozialleistungen bestehen. Vorrang vor der Grundsicherung haben damit •
(mit einigen Ausnahmen) sämtliche Einkommen und Einkommensarten wie Arbeits- und Gewinneinkommen, sozialversicherungsrechtliche Lohnersatzleistungen, Transfers, private Übertragungen, • verwertbares Vermögen, wie Geldvermögen, Sachvermögen, Lebensversicherungen, Haus- und Grundbesitz, soweit es bestimmte Grenzen („Schonvermögen“) übersteigt, • Leistungen unterhaltsverpflichteter Angehöriger. Aus dem Nachrangprinzip folgt, dass erwerbsfähige Menschen und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen und die eigene Arbeitskraft zur Bestreitung des Lebensunterhalts einsetzen müssen. Erwerbstätigkeit hat also Vorrang vor einem Leistungsanspruch. Die Grundsicherung ist also keineswegs mit einem bedingungslosen Einkommen gleichzusetzen. Geleistet wird erst dann, wenn Bedürftigkeit vorliegt und keine Möglichkeit besteht, zumutbare Verdienste auszuüben, oder wenn die Betroffenen hierzu körperlich oder geistig nicht in der Lage sind oder die Erziehung von Kindern dadurch gefährdet wird. 6.1.2 Leistungshöhe: Regelbedarfe und Kosten der Unterkunft
Der durch die Grundsicherung zu gewährleistende notwendige Lebensunterhalt ist mehr als das reine Existenzminimum („das zum Lebensunterhalt Unerlässliche“), sondern orientiert sich am menschenwürdigen Leben und soll ein soziokulturelles Existenzminimum garantieren. Zum notwendigen Lebensunterhalt zählt der Bedarf eines Menschen insbesondere an Ernährung, Kleidung, Hausrat und Unterkunft einschließlich Heizung. Erfasst sind gleichermaßen die persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens; zu ihnen gehören auch Sozialkontakte und die Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben. Eine gesetzliche Bestimmung dessen, was genau
Grundsicherung
251
als soziokulturelles Minimum zu verstehen ist, gibt es jedoch nicht. Dies ist eine politisch-normative Entscheidung, bei der die allgemeinen Lebensverhältnisse und deren Entwicklung zu berücksichtigen sind und die stets kontrovers diskutiert wird. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber verpflichtet, das Bemessungsverfahren transparent und nachvollziehbar zu gestalten. Der Bedarf der Grundsicherung setzt sich zusammen aus • • • •
dem Regelbedarf, den Leistungen für Unterkunft und Heizung, den Sonderbedarfen. Kinder haben darüber hinaus Anspruch auf Leistungen für Bildung und Teilhabe.
Regelbedarfe Der gesamte Bedarf des notwendigen Lebensunterhalts wird nach bestimmten Sätzen erbracht, also pauschaliert berechnet. Leben Personen nicht allein, sondern mit Partnern und/oder Kindern in einer Bedarfsgemeinschaft zusammen, wird dies bei der Festsetzung der Regelbedarfe berücksichtigt. Die Abstufung der Regelbedarfe soll dem Tatbestand Rechnung tragen, dass mit einem größeren Haushalt Kostenvorteile bei der Haushaltsführung verbunden sind. Es werden also Äquivalenzskalen berücksichtigt (vgl. dazu auch Pkt. 2.5.2 dieses Kapitels). In den Regelbedarfen sind auch Positionen wie Bekleidung, Hausrat, Gebrauchsgütern von längerer Gebrauchsdauer und höherem Anschaffungswert, Renovierung der Wohnung, laufender Schulbedarf für Kinder sowie Ausgaben bei besonderen Anlässen (Weihnachtsbeihilfe, Taufe, Kommunion, Konfirmation, Heirat usw.) enthalten. Die frühere, bis 2005 geltende Regelung einer je gesonderten Beantragung dieser einmaligen, d. h. nichtregelmäßig anfallenden Leistungen ist damit ersetzt worden. Zu den gesondert zu beantragenden einmaligen Bedarfen zählen ausschließlich Leistungen für • • •
Erstausstattung für die Wohnung einschließlich Haushaltsgeräten, Erstausstattung für Bekleidung bei Schwangerschaft und Geburt sowie mehrtätige Klassenfahrten der Kinder.
Ziel der Pauschalierung war zum einen die Reduzierung des Verwaltungsaufwandes, der mit Einzelfallprüfungen verbunden ist. Zum anderen sollten auf der Basis eines längerfristig feststehenden und monatlich ausgezahlten Betrages die Spielräume für die Leistungsberechtigten erweitert werden. So wird es ermöglicht und zugleich zugemutet, die Ausgabengestaltung eigenverantwortlich zu regeln, selbst über die Prioritäten der Geldverwendung zu entscheiden und für größere Anschaffungen Rücklagen zu bilden. Der mühsame und häufig entwürdigende Weg von Ämterbesuchen, Einzelbeantragung, Bewilligung und möglicherweise Widersprüchen kann entfallen.
252
Einkommen
Tabelle III.4
Regelbedarfe und Regelbedarfsstufen 2020 Euro/Monat
1
Erwachsene alleinstehende/alleinerziehende Person
100 %
432
2
Erwachsene Partner in einer Ehe bzw. Lebenspartnerschaft
90 %
389
3
Volljährige bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres und 25jährige, die ohne Zusicherung des Jobcenters aus dem Elternhaus ausgezogen sind.
80 %
345
Kinder 4
15 bis 17 Jahre
328
5
6 bis 14 Jahre
308
6
0 bis 6 Jahre
250
Fraglich ist jedoch, ob der Pauschalsatz für die vormaligen einmaligen Leistungen ausreichend hoch bemessen ist, um bei entstehendem Bedarf auch größere Anschaffungen zu tätigen. So bedarf es eines erheblichen Zeitvorlaufs bis eine Summe angespart ist, die ausreicht, um beispielsweise eine defekte Waschmaschine zu ersetzen. Für den Fall, dass ein unabweisbar gebotener Bedarf auf keine andere Weise abgedeckt werden kann, so durch Rückgriff auf das Schonvermögen oder auf Gebrauchtwarenlager, können ergänzende Darlehen beantragt werden. Die Rückzahlung erfolgt in Teilbeträgen von bis zu 5 % des Eckregelsatzes. Mehrbedarfszuschläge Da bei einzelnen Gruppen von Personen, die sich in besonderen Lebenslagen befinden, der pauschalierte Regelbedarf den besonderen Verhältnissen nicht gerecht wird, sind ergänzende Mehrbedarfszuschläge vorgesehen. Mehrbedarfszuschläge in Höhe von 17 % der maßgebenden Regelbedarfsstufe gelten für •
ältere Menschen ab dem 65. Lebensjahr mit einem Schwerbehindertenausweis und dem Merkzeichen „G“ (= Gehbehindert), • voll erwerbsgeminderte Personen unter 65 Jahren mit einem Schwerbehindertenausweis und dem Merkzeichen „G“, • Schwangere ab der 12. Woche. Alleinerziehende mit einem Kind unter sieben Jahren bzw. mit zwei oder drei Kindern unter 16 Jahren erhalten einen Zuschlag von 36 % der Regelbedarfsstufe 1; bei vier oder mehr Kindern 12 % für jedes Kind, höchstens aber 60 % der Regelbedarfsstufe 1. Einen Zuschlag von 35 % der maßgebenden Regelbedarfsstufe erhalten Behinderte über 15 Jahre, denen Eingliederungshilfe gewährt wird. Für Kranke und Behinder-
Grundsicherung
253
te mit einer kostenaufwändigen Ernährung wird ein Mehrbedarf „in angemessener Höhe“ anerkannt. Kosten der Unterkunft Die Unterkunftskosten werden, da sie sehr unterschiedlich ausfallen, in ihrer tatsächlichen Höhe (Miete und Nebenkosten einschließlich Heizkosten) übernommen. Die Kosten müssen allerdings angemessen sein und dürfen das „vertretbare Maß“, üblicherweise orientiert an den Mietobergrenzen nach dem Wohngeldgesetz, nicht überschreiten. Die Angemessenheit der Aufwendungen wird in der Regel von dem örtlich zuständigen kommunalen Träger der Grundsicherung in einer Richtlinie festgelegt. Unangemessen hohe Kosten sind längstens für sechs Monate zu übernehmen, wenn durch Wohnungswechsel oder Untervermietung eine Senkung der Aufwendungen nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Den Grundsicherungsträgern ist es überdies möglich, Leistungen für eine Mietwohnung durch eine Pauschale abzugelten, wenn der örtliche Wohnungsmarkt angemessenen Wohnraum in Höhe der Pauschale bietet. Übernahme von Vorsorgeaufwendungen Im Regelfall übernehmen die Träger der Grundsicherung die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge, Beiträge an die Rentenversicherung werden seit 2011 nicht mehr gezahlt. Leistungen für Bildung und Teilhabe Für Kinder und Jugendliche aus Familien, die Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe oder Kindergeld mit Kinderzuschlag bzw. Wohngeld erhalten, können Hilfen für Bildung und Teilhabe beantragt werden. Durch die Leistungen soll das menschenwürdige Existenzminimum von Kindern und Jugendlichen sowie von Schülern im Bereich der gesellschaftlichen Teilhabe und Bildungsteilhabe sichergestellt werden: • Hilfen für Lernförderung, • Teilhabemöglichkeiten am sozialen und kulturellen Leben (angeleitete Aktivitäten im Bereich Sport, Kultur, Freizeit), • ein Zuschuss zum gemeinschaftlichen Mittagessen in Kita und Schule, • Kita- und Schulausflüge sowie mehrtägige Klassenfahrten, • Schüler-Beförderungskosten, • Aufwendungen für den persönlichen Schulbedarf. Die Leistungen werden als Sach- und Dienstleistungen, so in Form von Gutscheinen oder Direktzahlungen an Leistungsanbieter erbracht. Damit soll sichergestellt werden, dass die Leistungen bei den Kindern und Jugendlichen auch tatsächlich ankommen. Abweichend davon werden die Leistungen für persönlicen Schulbedarf und für Schülerbeförderung als Geldleistung erbracht.
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Einkommen
Gesamtbedarf Die Höhe des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs lässt sich nicht einfach bestimmen, sie hängt ab von der Haushaltsgröße, dem Alter der Familienangehörigen, besonderen Bedarfssituationen und von den übernommenen Kosten der Unterkunft. Vor allem die Mietkosten unterscheiden sich sehr stark nach den Regionen, aber auch innerhalb einer Region und Stadt nach Wohnlagen, Bausubstanz und dem Alter der Wohnung. Einen Einblick in die nach Haushaltskonstellationen aufgeschlüsselte durchschnittliche Höhe der anerkannten Bedarfe für Leistungsempfänger:innen nach dem SGB II bietet Abbildung III.15 dieses Kapitels. 6.1.3 Bedürftigkeitsprüfung und Einkommensanrechnung
Die jeweiligen Gesamtbedarfe sind nicht mit der konkreten, d. h. ausgezahlten Höhe der Grundsicherung identisch, da stets das Nachrangprinzip zu beachten ist. Ein Anspruch besteht erst dann, wenn der Bedarf höher ist als die anzurechnenden Einkommen und das verwertbare Vermögen. Nur bei völliger Mittellosigkeit entspricht der Zahlbetrag auch dem Bedarf. In aller Regel liegt aber anzurechnendes Einkommen vor, so dass die Grundsicherung den Differenzbetrag zum Bedarf ausgleicht. In diesen Fällen kann von aufstockenden oder ergänzenden Leistungen gesprochen werden. Zum anzurechnenden Einkommen zählen u. a. • • • • •
Netto-Arbeitsentgelte bei Erwerbstätigkeit. Allerdings bleibt im Bereich des SGB II ein Teil der Netto-Verdienste anrechnungsfrei, Netto-Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit, Vermögen, Vermietung und Verpachtung, Lohnersatzleistungen der Sozialversicherung (Arbeitslosengeld, Unterhaltsgeld, Krankengeld, Altersrenten, Erwerbsminderungsrenten, Hinterbliebenenrenten usw.), Kindergeld, Kinderzuschlag (beide gelten als Einkommen des Kindes), Elterngeld, Zahlungen aus der Unterhaltsvorschusskasse, private Unterhaltszahlungen.
Doch es gibt auch einzelne Ausnahmen: Nicht anzurechnen sind u. a. Leistungen der Stiftung „Mutter und Kind“, das Pflegegeld aus der Pflegeversicherung sowie Grundrenten nach dem Bundesversorgungsgesetz. Und bei den Leistungen aus einer freiwilligen privaten und betrieblichen Vorsorge werden Freibeträge gewährt, nach den Überschreiten die Anrechnung einsetzt. Das vor der Hilfeleistung zu verwertende Vermögen umfasst das Grundvermögen, Geldvermögen und Sachvermögen. Vom Verwertungszwang ausgenommen ist allerdings das geschützte Vermögen, so
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• • • • •
255
ein „angemessener“ Hausrat, wozu Möbel, Geschirr, Küchengeräte und sonstige Wohnungseinrichtung, z. B. auch ein Fernsehgerät, zählen, ein „angemessenes“ Hausgrundstück, das von dem/den Hilfesuchenden bewohnt wird (in Abhängigkeit vom Wohnbedarf, der Hausgröße, vom Wert des Grundstücks usw.), eine öffentlich geförderte Altersvorsorge, kleinere Barbeträge („Schonvermögen“): Hier liegt im SGB XII der Betrag für jede leistungsberechtigte Person bei 5 000 Euro, hinzu kommen für jedes Kind 500 Euro, ein „angemessenes“ Auto, aber nur dann, wenn es zur Lebensführung oder zur Aufnahme einer Berufstätigkeit unentbehrlich ist.
Bei der Anrechnung sind Einkommen und verwertbares Vermögen der zusammenlebenden Ehegatten gleichermaßen zu berücksichtigen. Eingetragene gleichgeschlechtliche Paare sowie Paare, die in einer eheähnlichen Gemeinschaft leben, werden Ehepaaren gleichgestellt. Als anzurechnendes Einkommen gelten auch die gesetzlichen Unterhaltsansprüche des/der Hilfeempfängers/in. Leisten die Unterhaltsverpflichteten nicht, geht der Anspruch auf den Grundsicherungsträger über. Die Frage, inwieweit Kinder für ihre Eltern oder Eltern für ihre Kinder zahlen müssen, wird in den jeweiligen Grundsicherungssystemen abweichend geregelt. Nicht in Betracht kommt der Rückgriff auf Verwandte zweiten oder entfernteren Grades. 6.1.4 Bemessung und Anpassung der Regelbedarfe
Eine der strittigsten Fragen bei der Grundsicherung ist die nach der Bemessung der Regelbedarfe. Denn die Höhe der Regelbedarfe ist der ausschlaggebende Faktor für die Bestimmung des soziokulturellen Existenzminimums in Deutschland. Die Höhe dieses staatlich garantierten Existenzminimums wiederum hat Rückwirkungen vor allem auf • • • •
die Steuerpolitik (Grundfreibetrag und Kinderfreibeträge müssen sich am Grundsicherungsniveau orientieren; vgl. Pkt. 3.2 dieses Kapitels), die Lohn- und Tarifpolitik, denn die Gewerkschaften werden dafür eintreten, dass auch in den unteren Tarifgruppen das Existenzminimum überschritten wird, das erforderliche Niveau anderer für die Finanzierung des Lebensunterhalts bestimmter Sozialleistungen (z. B. Ausbildungsförderung), das Unterhalts- und Pfändungsrecht.
Nicht zuletzt hängen die Kosten der Grundsicherung vom Niveau des Existenzminimums ab: Je höher das Niveau, umso höhere Leistungen erhält jede/r Hilfeempfänger:in. Zugleich wächst aber auch die Zahl der Anspruchsberechtigten. Denn bei
256
Einkommen
einem hohen Niveau des Existenzminimums fallen mehr Personen bzw. Haushalte mit ihrem Einkommen unter den Schwellenwert und können ergänzende Leistungen beziehen. Ein objektives, wissenschaftlich ableitbares Maß für den „angemessenen“ Regelbedarf kann es nicht geben. Letztlich wird immer normativ und politisch darüber entschieden, was es in Geldbeträgen bedeutet, den „Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht“ (§ 1 SGB XII). Gleichwohl ist immer wieder nach Verfahren gesucht worden, um die Bemessung der Regelbedarfe und deren Anpassung an die Entwicklung des allgemeinen Lebensstandards zumindest ein Stück weit zu objektivieren und nachvollziehbar zu machen. Unterscheiden lassen sich das Warenkorb-Modell und das Statistik-Modell: Warenkorb-Modell Das Warenkorb-Modell bildete über lange Jahre hinweg die Grundlage der Bedarfsermittlung. Ausgangspunkt war ein Bedarfsmengenschema, das Verbrauchsarten und -mengen für verschiedene Teilbereiche des notwendigen Lebensbedarfs festsetzte. Die Zusammensetzung des Warenkorbes beruhte neben einzelnen verbrauchsstatistischen Daten hauptsächlich auf normativen Annahmen über den als notwendig erachteten Lebensbedarf. Die preisliche Bewertung des so zusammengestellten Warenkorbs ergab dann den jeweiligen Regelbedarf. Statistik-Modell Das Statistik-Modell, das das Warenkorb-Modell abgelöst hat, beruht auf der Überlegung, die Regelbedarfe an dem statistisch erfassten Ausgaben- und Verbrauchsverhalten von Personen mit niedrigem Einkommen zu orientieren. Während das Warenkorb-Modell danach fragt: „Was braucht der Mensch zum Leben ?“, orientiert sich das Statistik-Modell an der Frage: „Was geben vergleichbare Haushalte aus ?“ Hierbei ist normativ zu bestimmen, welche Einkommensgruppen als vergleichbar angesehen werden sollen und welche Ausgabenpositionen zu berücksichtigen sind. Maßgeblich für die Ermittlung der Regelbedarfe nach dem Statistik-Modell ist das „Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe nach § 28 SGB XII“. Es regelt gleichermaßen die Leistungen nach dem SGB XII wie nach dem SGB II und (allerdings stark reduziert) nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Maßstab für die Bemessung ist das statistisch erfasste Ausgaben- und Verbrauchsverhalten von Personen mit niedrigem Einkommen. Als empirische Basis dient die in Abständen von fünf Jahren durchgeführte Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes (EVS) (zuletzt für 2018). Berücksichtigt werden die Ausgaben der unteren 15 % der Einpersonenhaushalte und der unteren 20 % der Mehrpersonenhaushalte. Von den herangezogenen Haushalten werden die Daten derjenigen abgesetzt, in denen Personen leben, die ausschließlich von Leistungen nach dem SGB XII oder nach dem SGB II erhalten. Unberücksichtigt bleiben zudem einige Ausgabenpositionen, die nicht zu den zu deckenden Bedarfen gezählt werden.
Grundsicherung
257
Solange keine neuen Ergebnisse der EVS vorliegen, bemisst sich die zwischenzeitliche Anpassung der Regelbedarfe zu Anfang eines jeden Jahres an einem Mischindex, dem zu 70 % die Preisentwicklung und zu 30 % die Entwicklung der Nettolöhne und -gehälter zu Grunde liegen. Die letzte Neuberechnung des Regelbedarfs auf der Grundlage der ausgewerteten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 wurde im Jahr 2016 mit Wirksamkeit zum 01. 01. 2017 vorgenommen. Die jeweils zum Jahresbeginn geltende Anpassung der Regelbedarfe erfolgt durch Rechtsverordnungen; der Gesetzgeber (Bundestag) ist damit nicht direkt befasst. Das Verfahren macht nur auf den ersten Blick den Eindruck einer Berechnung auf der Grundlage einer objektiven Datenbasis. Da entschieden werden muss, welche Einkommensgruppen als vergleichbar angesehen werden und welche Ausgabenpositionen als „regelbedarfsrelevant“ zu berücksichtigen sind, werden aber auch hier normative Entscheidungen erforderlich. Dieses Berechnungs- und Anpassungsverfahren der Regelbedarfe führt zu anhaltender Kritik. Der Vorwurf, dass in einigen Jahren noch nicht einmal die Kaufkraft des Regelbedarfs gesichert worden ist, lässt sich empirisch bestätigen (vgl. Tabelle III.5). Vergleicht man die Entwicklung der Regelbedarfe (Stufe 1/Eckregelsatz) zwischen 2005 und 2018 mit der Steigerungsrate der durchschnittlichen Nettolöhne, wird zudem sichtbar, dass sich ein Rückstand gegenüber der Lohnentwicklung eingestellt hat. Die Nettolöhne und -gehälter sind bis 2018 um 29,5 %, die Regelbedarfe nur um 20,6 % gestiegen. Die Höhe von Regelbedarf und Gesamtbedarf muss auch im Zusammenhang mit der Lohnhöhe gesehen werden. Immer wieder steht die Frage im Raum, ob die Grundsicherung den Anreiz zur Arbeit untergräbt. „Lohnt es sich noch zu arbeiten, wenn die Leistungen gleich hoch oder gar höher liegen als das verfügbare Einkommen bei einfacher Arbeit ? Ganz offensichtlich würde ein System der Grundsicherung seine Akzeptanz gerade bei den Arbeitnehmer:innen gefährden, die mit ihren Steuern für die Finanzierung der Leistungen aufkommen, wenn das Bedarfsniveau des letzten sozialen Netzes das Niveau der Arbeitseinkommen am unteren Ende der Erwerbshierarchie tatsächlich generell überschreiten würde. Empirische Überprüfungen dieses Zusammenhangs kommen indes zu dem Ergebnis, dass zwischen Löhnen und dem Gesamtbedarf der Grundsicherung eine erhebliche Spanne besteht. Bei einem solchen Vergleich müssen allerdings gleiche Haushaltstypen einander gegenübergestellt werden (z. B. Paare mit zwei Kindern). Und bei der Ermittlung des verfügbaren Einkommens von Erwerbstätigenhaushalten sind Sozialleistungen wie Kindergeld und Wohngeld zu berücksichtigen. Die Daten zeigen, dass ein verfügbares Einkommen aus Vollzeitbeschäftigung gegenwärtig auch in unteren Lohn- und Gehaltsgruppen im Durchschnitt der Fälle ausreicht, um das sozial-kulturelle Existenzminimum von Familien abzudecken. Allerdings gilt diese Feststellung nicht in jedem Einzelfall. Dass bei einem niedrigen Nettoeinkommen aus abhängiger Arbeit einschließlich Transfers das haushaltsspezifische Existenzminimum unterschritten wird, ist vor allem dann wahrscheinlich,
258
Einkommen
Tabelle III.5 Entwicklung der Regelbedarfe der Grundsicherung im Vergleich zur Lohn- und Preisentwicklung 2005 – 2018 Jahr
Regelbedarf/ Eckregelsatz in Euro/Monat
2005
345
–
–
–
2006
345
0
− 0,3
1,4
2007
347
0,6
1,0
2,2
2008
351
1,1
1,8
2,5
2009
359
2,4
0,1
0,3
2010
359
0
4,0
1,1
2011
364
1,4
2,6
2,1
2012
374
2,7
2,6
2,0
2013
382
2,1
1,9
1,6
2014
391
2,4
2,5
0,9
2015
399
2,0
2,6
0,3
2016
404
1,3
2,3
0,5
2017
409
1,3
2,4
1,9
2018
416
1,7
3,0
1,8
–
20,6
29,5
20,1
2005 – 2018
Regelbedarf gegenüber Vorjahr in %
Monatl. Nettolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer gegenüber Vorjahr in %
Preisentwicklung gegenüber Vorjahr1) in %
1) Verbraucherpreisindex Quellen: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Fachserie 18, Reihe 1.5 und Preise: Verbraucherpreisindizes für Deutschland, Lange Reihen ab 1948.
wenn mehrere (ältere) Kinder zu versorgen sind, die Mieten hoch liegen oder wenn nur Teilzeitarbeit möglich ist. Soweit also in der Realität Überschneidungen vorkommen, liegen die Ursachen nicht in einem überhöhten Grundsicherungsniveau. Neben unzureichenden Erwerbseinkommen und hohen Wohnkosten ist dafür in erster Linie der unzureichende Familienleistungsausgleich verantwortlich. Da das Kindergeld nicht den notwendigen Lebensbedarf eines Kindes abdeckt, das vorgelagerte Sozialsystem also nicht „armutsfest“ ist, muss bei unteren Einkommensgruppen die Grundsicherung ersatzweise die Funktion der Familienpolitik übernehmen. Hier soll der Kinderzuschlag zu einem Ausgleich führen (vgl. Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 6.1.3). Auch kann das Wohngeld hohe Wohnkosten nur unzureichend ausgleichen.
Grundsicherung
259
Bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende sorgt ein Erwerbstätigenfreibetrag dafür, dass Erwerbstätige sich immer besser stehen als nicht erwerbstätige Grundsicherungsempfänger:innen. Nehmen Grundsicherungsempfänger:innen eine Arbeit auf, dann sorgt der Freibetrag dafür, dass ein Teil des Erwerbseinkommens nicht auf den Grundsicherungsbetrag angerechnet wird, so dass das Gesamteinkommen höher ausfällt (vgl. Pkt. 6.1.3 dieses Kapitels). 6.1.5 Dunkelziffer der Nicht-Inanspruchnahme
Die Empfängerzahlen von Leistungen der Grundsicherung geben Auskunft über die Personen und Haushalte, die ihren Anspruch wahrnehmen. Keine Auskunft geben die Zahlen über den Kreis jener Menschen, die aufgrund ihres geringen Einkommens eigentlich leistungsberechtigt sind, von ihrem Anspruch aber keinen Gebrauch machen. Auf der Basis von Bevölkerungsbefragungen (SOEP oder EVS) ist in den letzten Jahren immer wieder geschätzt worden, welches Ausmaß die Dunkelziffer aufweist. Die Quoten schwanken zwischen 40 und 50 %. Besonders hoch liegt die Nichtinanspruchnahme bei der Grundsicherung im Alter: Die Ursachen für die Nicht-Inanspruchnahme sind vielfältig: • •
•
Es fehlen Kenntnisse über Höhe und Bedingungen der Leistungsansprüche oder es liegen Falschinformationen vor. Die Betroffenen haben Angst vor der sozialen Kontrolle und der Offenlegung persönlicher Verhältnisse bei der Bedürftigkeitsprüfung sowie vor einer Schädigung der Familienbeziehungen durch den möglichen Rückgriff auf unterhaltsverpflichtete Kinder bzw. Eltern. Anzunehmen ist, dass die weitgehende Befreiung vom Rückgriff auf die Kinder bzw. auf die Eltern den Betroffenen nicht immer bekannt ist. Die Inanspruchnahme unterbleibt aus Scham oder Bescheidenheit.
Untersuchungen zeigen, dass vor allem ältere Menschen ihre Leistungsansprüche nicht wahrnehmen („verschämte Altersarmut“). Aber auch Beschäftigte mit Niedrigeinkommen sind über die Möglichkeit, ergänzende Grundsicherung beanspruchen zu können, unzureichend informiert. Einkommenslücken werden eher durch Überstunden oder Nebenbeschäftigungen ausgeglichen, nicht aber durch den als diskriminierend empfundenen Gang zum Jobcenter. Die Nicht-Inanspruchnahme ist in jenen Fällen besonders verbreitet, in denen das anzurechnende Einkommen relativ hoch und der Zahlbetrag der aufstockenden Grundsicherung entsprechend niedrig liegt. Wer mit einem Aufstockungsbetrag von beispielsweise lediglich 20 Euro rechnet bzw. rechnen kann, für den mag sich der Aufwand der Antragstellung kaum „lohnen“.
260
6.2
Einkommen
Grundsicherung für Arbeitsuchende
6.2.1 Anspruchsberechtigter Personenkreis und Leistungen
Erwerbsfähige Personen und ihre Angehörigen haben – soweit sie bedürftig sind – Anspruch auf Leistungen der im SGB II kodifizierten Grundsicherung für Arbeitsuchende. Da dieses neue, seit 2005 geltende Grundsicherungssystem als 4. Gesetz im Rahmen der sog. Hartz-Gesetze eingeführt wurde, werden die Leistungen üblicherweise als „Hartz IV“ bezeichnet. Die Leistungssysteme Arbeitslosenhilfe (nach dem SGB III) und Sozialhilfe wurden damit zusammengeführt. Das heißt, dass die Leistung Arbeitslosenhilfe aufgegeben wurde und die bisherige Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt) seitdem nur noch für den kleinen Kreis von Kindern und Erwachsenen unter 65 Jahren gilt, die zeitweise voll erwerbsgemindert sind. Die vom Bund finanzierte und den Arbeitsämtern administrierte Arbeitslosenhilfe war eine speziell auf Langzeitarbeitslose zugeschnittene Leistung, die im Anschluss an den beitragsfinanzierten Versicherungsanspruch auf Arbeitslosengeld bezogen werden konnte. Sie nahm damit eine Zwischenstellung zwischen einer Versicherungs- und Fürsorgeleistung ein: Sie knüpfte an einen ausgelaufenen Anspruch auf Arbeitslosengeld an, war im Unterschied zur befristeten Versicherungsleistung Arbeitslosengeld zeitlich unbefristet, aber einkommensgeprüft. Und im Unterschied zur Sozialhilfe wurde die Leistungshöhe nicht auf den Bedarf des Haushalts bezogen, sondern als Individualleistung auf das zuletzt erzielte persönliche Nettoarbeitsentgelt. Anspruchsberechtigt nach dem SGB II sind erwerbsfähige Hilfebedürftige zwischen 15 Jahren und der Regelaltersgrenze sowie die Angehörigen, die mit ihnen in einem Haushalt (Bedarfsgemeinschaft) leben. Erwerbsfähig ist, „wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein“. Bezug genommen wird hier auf den rentenrechtlichen Begriff der vollen Erwerbsminderung (§ 43 SGB VI). Es ist also jede Person erwerbsfähig, deren volle Erwerbsminderung nicht festgestellt ist. Daraus folgt, dass Erwerbsfähige dem Arbeitsmarkt nicht unmittelbar zur Verfügung stehen müssen. Es reicht aus, wenn sie nicht voll erwerbsgemindert sind. Es ist auch unerheblich, ob eine Erwerbstätigkeit vorübergehend unzumutbar ist, z. B. wegen der Erziehung eines Kindes oder einer Krankheit. Anspruchsberechtigt sind auch Erwerbstätige, soweit deren Einkommen (bzw. das Einkommen der Bedarfsgemeinschaft, in der sie leben) nicht zum Lebensunterhalt ausreicht. Die gesetzliche Bezeichnung „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ ist also eher irreführend, da sich der berechtigte Personenkreis nicht nur auf Arbeitslose und Arbeitsuchende begrenzt, sondern weit darüber hinausreicht. Ansprüche auf Leistungen setzen zudem Hilfsbedürftigkeit voraus. Die Leistungen werden in Form von Dienstleistungen (Information und Beratung mit dem Ziel
Grundsicherung
261
der Eingliederung in Arbeit), Geldleistungen (zur Sicherung des Lebensunterhalts und zur Eingliederung in Arbeit) und Sachleistungen erbracht. Arbeitslosengeld II, Sozialgeld Zur Sicherung des Lebensunterhalts erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige die Leistung Arbeitslosengeld II. Nicht erwerbsfähige Hilfebedürftige, die als Partner und/ oder Kinder mit dem Erwerbsfähigen in einem Haushalt leben, erhalten Sozialgeld. Die Leistungshöhe von Arbeitslosengeld II und Sozialgeld entspricht den Regelbedarfen. Je nach Einzelfall besteht Anspruch auf Mehrbedarfe und auf Übernahme der Kosten der Unterkunft. Der Gesamtbedarf des Haushalts bzw. der Bedarfsgemeinschaft errechnet sich aus der Summe der Regelleistungen zuzüglich der Leistungen für Unterkunft und Heizung sowie möglicher Mehrbedarfe (vgl. dazu Abbildung III.15). Kinderzuschlag Durch Zahlung eines Kinderzuschlags, der als einkommensabhängige Leistung der Grundsicherung vorgelagert ist und das einkommensunabhängige Kindergeld aufstockt, soll vermieden werden, dass Bedarfsgemeinschaften allein wegen des Unter-
Abbildung III.15 Bedarfe der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach Bedarfsgemeinschaften 05/2019 3.000 2.669 2.500
Gesamtbedarf Kosten der Unterkunft
2.000
2.030
2.013
Regelbedarf2)
1.624
649
1.671
861
689
1.500 1.276 1.149 1.000 767
500
432
596
562
486 1.808 1.364
340
1.075
1.062 717
790
Single-BG
Paare ohne Kinder
Alleinerziehende 1 Kind
55,2%
8,7%
10,0%
1.341
427 0
Alleinerziehende 2 Alleinerziehende 3 und Kinder mehr Kinder 5,4%
2,6%
Paare, 1 Kind
Paare, 2 Kinder
5,3%
5,4%
Paare, 3 und mehr Kinder 5,5%
aller Bedarfsgemeinschaften
Anerkannte bundesdurchschnittliche Monatsbeträge einschließlich Kosten der Unterkunft und einschließlich Mehrbedarfe, aber ohne Einmalzahlungen und Sozialversicherungsbeiträge Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2019), Analyse Arbeitsmarkt: Grundsicherung für Arbeitsuchende.
262
Einkommen
haltsbedarfes für ihre Kinder Anspruch auf Arbeitslosengeld II und Sozialgeld haben. Den Kinderzuschlag erhalten also Familien, in denen der Bedarf der Eltern aus eigenen Mitteln gedeckt werden kann. Der Kinderzuschlag kann monatlich bis zu 185 Euro je Kind betragen. Das Kind muss jünger als 25 Jahre und unverheiratet sein. Den Kinderzuschlag gibt es ab einem monatlichen Einkommen von 900 Euro, bei Alleinerziehenden ab 600 Euro. Als Sozialleistung wird der Zuschlag nur bis zu einem Höchsteinkommen gezahlt. Bedürftigkeitsprüfung und Gesamtbedarfe Alle Leistungen nach dem SGB II unterliegen einem strengen Nachranggrundsatz. In Anrechnung kommen Einkommen und Vermögen der Eltern bei Hilfebedürftigkeit von minderjährigen Kindern bzw. von Kindern unter 25 Jahren, die ihre Erstausbildung noch nicht abgeschlossen haben. Jugendliche unter 25 Jahren, die im Haushalt der Eltern leben, zählen zur Bedarfsgemeinschaft der Eltern. Bei der Gründung eines eigenen Haushaltes werden die Kosten von Unterkunft und Heizung ohne Zustimmung des Trägers nicht übernommen. Abbildung III.15 zeigt, wie hoch die anerkannten Gesamtbedarfe der Grundsicherung je nach Haushaushaltskonstellation bzw. dem Typ der Bedarfsgemeinschaft ausfallen. Je größer die Bedarfsgemeinschaft, umso höher auch der Gesamtbedarf. Die Beträge variieren (Mai 2019) zwischen 767 Euro im Monat für einen Single-Haushalt und 2 669 Euro für einen Haushalt mit drei und mehr Kindern. Diese Abweichungen beruhen sowohl auf den Unterschieden bei den Regelbedarfen, den Mehrbedarfen als auch bei den anerkannten Kosten der Unterkunft. Zu erkennen ist auch, dass die Single-Bedarfsgemeinschaften mehr als die Hälfte (55,6 %) aller Bedarfsgemeinschaften darstellen. Es gibt also nicht „das“ Einkommens- und Existenzminimum, sondern eine von der Haushaltskonstellation und Lebenssituation abhängige Bandbreite von Minima. Hinzu kommt, dass es sich bei den bundesdurchschnittlichen Kosten der Unterkunft um einen letztlich fiktiven Wert handelt. Da die Mieten einschließlich Nebenkosten regional und auch lokal erheblich voneinander abweichen, muss mit bundesweiten Durchschnittswerten gerechnet werden, um einen allgemeinen Eindruck über die Gesamtbedarfe zu erhalten. Aussagen über das konkrete Bedarfsniveau in Hochmietregionen lassen sich daraus nicht ableiten. Ob also eine Person bzw. ein Haushalt, die bzw. der über ein nur geringes Einkommen verfügt, Anspruch auf aufstockende Leistung der Grundsicherung hat, hängt im hohen Maße von den örtlichen Gegebenheiten ab und ist nicht unmittelbar einsichtig. Häufig fehlen den Betroffenen genaue Informationen über die Bedarfshöhe einschließlich Kosten der Unterkunft, über das eigene Einkommen, über das verwertbare und anrechenbare Vermögen sowie über mögliche Unterhaltsansprüche. Der konkrete Auszahlungsbetrag von Arbeitslosengeld II und Sozialgeld errechnet sich aus der Differenz zwischen Bedarf und dem anrechnungsfähigen Einkommen. Aufgestockt werden können auch die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld,
Grundsicherung
263
wenn es gemessen am Haushaltsbedarf zu niedrig ausfällt, oder niedrige Einkommen aus abhängiger wie selbstständiger Tätigkeit. 6.2.2 Leistungsempfänger:innen und Bedarfsgemeinschaften
Empfängerzahlen und Empfängerquoten Ende 2018 gab es nahezu 6 Mio. Empfänger:innen von Arbeitslosengeld II (Erwerbsfähige) und Sozialgeld (nicht erwerbsfähige Angehörige). Seit 2006 entwickelt sich die Zahl der Leistungsempfänger:innen zwar rückläufig (vgl. Abbildung III.16). So wurden im Jahresdurchschnitt 2006 noch 7,3 Mio. Personen gezählt. Angesichts der Verbesserung der Arbeitsmarktlage und der sinkenden Arbeitslosigkeit fällt der Rückgang aber nur schwach aus. Wie begrenzt die Entlastung ist, kommt deutlich zum Ausdruck, wenn man den Trend der Empfängerquote betrachtet (vgl. Abbildung III.17). Der Anteil der Leistungsempfänger:innen an der Gesamtbevölkerung (bis zur Regelaltersgrenze) verringert sich lediglich von 11,0 % (2006) auf 9,0 % (2018). Immer noch ist damit deutschlandweit fast jede 10. Person im Alter unterhalb der Regelaltersgrenze auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen. Da diese Quote den Bundesdurchschnitt wiedergibt, bleibt verdeckt, dass es massive regionale AbAbbildung III.16 Leistungsempfänger:innen der Grundsicherung für Arbeitsuchende 2005 – 2018, in Mio., im Jahresdurchschnitt 8 7,347 7
6,756
1,955
7,090 1,850
1,774
Empfänger insgesamt*) 6,755 1,782
6,538 1,672
6
5
6,415 1,577
6,080 1,515
5,392 4,982
5,240
4,973
4,866
5,917
5,939
5,935
5,930
5,925
1,514
1,549
1,580
1,603
1,614
6,062 1,700
5,795 1,654
nicht erwerbsfähige Leistungsempfänger* 4,838 4,565
4
4,403
4,390
4,354
4,327
4,312
4,362
4,141
3 erwerbsfähige Leistungsempfänger* 2
1
0
2005**
2006**
2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
2015
2016
2017
2018
* Regelleistungsberechtigte ** Ab 2007 Revision der Statistik, Daten für 2005 und 2006 nur begrenzt vergleichbar. Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2019), Zeitreihen der Strukturen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.
264
Einkommen
Abbildung III.17 Empfängerquoten von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende 2007 – 2018 (in % der jeweiligen Bevölkerung) 20
19,7
16,9 15,7 15
16,6
16,7
15,8
15,3
17,3
16,9
10,8
8,8
10,3
8,4
10,1
8,2
9,9 8,1
17,5 16,7
15,2 13,8
14,1
14,4
14,3
9,3
13,2
13,4
9,5
9,3
9,4
9,3
9,3
7,3
7,2
7
6,8
7,6
6,5
14,8
9,3
6,1
5
0
2007
2008
2009
2010
Ausländer
16
14,4
10
17,2
19,4
2011
2012
2013
2014
2015
2016
2017
14,3
Kinder unter 15 Jahren
8,9
Bevölkerung bis zur Regelaltersgrenze
5,6
Deutsche
2018
Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2019), Analyse Arbeitsmarkt: Grundsicherung für Arbeitsuchende.
weichungen gibt: Während in einzelnen Landkreisen des prosperierenden Südens die Empfängerquote bei lediglich 2 % liegt, erreicht sie in Städten des Ruhrgebiets oder in ostdeutschen Landkreisen Werte von 20 % und mehr. Differenziert man die Empfängerquoten nach einzelnen Personengruppen, lassen sich erhebliche Abweichungen erkennen: •
Deutlich über dem Durchschnitt liegt die Empfängerquote von Kindern: 14,3 % der Kinder unter 15 Jahren erhalten Sozialgeld, d. h. sie leben in Familien bzw. Bedarfsgemeinschaften, deren Einkommen so gering ist, dass sie Leistungen des SGB II beziehen. Hier zeigt sich seit 2011 sogar ein Anstieg der Quote. • Unter dem Durchschnitt liegt die Betroffenheit von Personen mit deutscher Nationalität. Die Quote sinkt kontinuierlich und erreicht 2018 einen Wert von 5,6 % der entsprechenden Bevölkerung. • Besonders hoch liegt die Empfängerquote von Personen ohne deutschen Pass. Zwischen 2012 und 2018 erhöht sich die Quote von 15,2 % auf 19,4 %. Die Ursachen liegen auf der Hand: Asylbewerber und Schutzsuchende, die in diesen Jahren in einer großen Zahl zugewandert sind, haben nur geringe Chancen einen Arbeitsplatz zu finden und leben deshalb häufig von Leistungen der Grundsicherung (SGB II).
Grundsicherung
265
Die Persistenz der Abhängigkeit von Leistungen der Grundsicherung trotz der guten Lage auf dem Arbeitsmarkt erklärt sich auch durch die Heterogenität des Empfängerkreises. Zu den 4,1 Mio. erwerbsfähigen Leistungsempfänger:innen mit Anspruch auf Arbeitslosengeld II zählen nicht nur Arbeitslose, sondern auch Erwerbstätige, die aufgrund ihres nicht bedarfsdeckenden Lohnes aufstockende Leistungen erhalten („Aufstocker“), und Hilfebedürftige, die zwar erwerbsfähig aber nicht arbeitslos sind. Hinzu kommen 1,7 Mio. nicht erwerbsfähige Angehörigen der Hilfebedürftigen mit Anspruch auf Sozialgeld. Insgesamt machen die (registrierten) Arbeitslosen nur gut ein Drittel der erwerbsfähigen Leistungsempfänger aus. Analysiert man die Binnenstruktur der Gruppe der erwerbsfähigen, aber nicht arbeitslosen Leistungsempfänger:innen, so lässt sich eine breite Vielfalt erkennen (vgl. Abbildung III.18): Es handelt sich um Personen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, in Ausbildung, in häuslicher Verpflichtung wegen Kindererziehung oder Pflege sowie um Arbeitsunfähige und um Erwerbstätige (Aufstocker). Erwerbstätige gibt es aber auch unter den Arbeitslosen, denn nach dem SGB II ist Arbeitslosen ein Hinzuverdienst von bis zu 450 Euro im Monat gestattet.
Abbildung III.18 Erwerbsfähige Leistungsempfänger:innen der Grundsicherung: Arbeitslose und Nichtarbeitslose, 2018
in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen: 570.473 = 13,8% ungeförderte Erwerbstätigkeit : 618.397 =14,9% Arbeitslose: 1.523.3744 = 36,8%
Erwerbsfähige Leistungsberechtigte: 4.141.330
Nicht Arbeitslose: 2.617.956 = 63,2%
Ältere: 165.629 = 4,0% Ausbildung: 404.634 = 9,8% Erziehung, Pflege: 320.464 = 7,7% Arbeitsunfähigkeit: 306.972. = 7,4% Sonstiges/Unbekannt: 231.387 = 5,6%
Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2019), Analyse Arbeitsmarkt: Grundsicherung für Arbeitsuchende.
266
Einkommen
Bedarfsgemeinschaften Die heterogene Binnenstruktur der Grundsicherung für Arbeitsuchende wird auch deutlich, wenn der Blick auf die Zusammensetzung der Bedarfsgemeinschaften gerichtet wird. So zeigt Abbildung III.15, dass mehr als die Hälfte (55,2 %) aller Bedarfsgemeinschaften aus Single-Haushalten besteht. Bedarfsgemeinschaften mit Kindern machen gut ein Drittel aller Bedarfsgemeinschaften aus, sie finden sich zu 15,2 % bei (Ehe)Paaren und zu 18,0 % bei Alleinerziehenden. Die Statistik der Bundesagentur für Arbeit weist bei den Bedarfsgemeinschaften auch Empfängerquoten aus – bezogen auf die Zahl der entsprechenden Bedarfsgemeinschaften bzw. Haushalte in der Gesamtbevölkerung (vgl. Abbildung III.19). Im besonderen Maße von der Grundsicherung abhängig sind Alleinerziehende und ihre Kinder: 36,0 % aller Alleinerziehenden beziehen Arbeitslosengeld II und Sozialgeld (für ihre Kinder). Müssen drei und mehr Kinder versorgt werden, steigt die Hilfequote gar auf 69,5 %. Bei (Ehe)Paaren mit Kindern hingegen liegt die Hilfequote erst dann über dem Durchschnittsniveau von 9,4 %, wenn mehr als drei Kinder zu unterhalten sind. Bei den Singles hingegen liegt die Hilfequote von 11,8 % leicht über dem Durchschnitt. Singles machen dabei zugleich die Mehrheit aller Bedarfsgemeinschaften aus.
Abbildung III.19 Empfängerquoten von Grundsicherung für Arbeitsuchende nach Typ der Bedarfsgemeinschaft, in % der jeweiligen Lebensformen der Gesamtbevölkerung 2018
Alle Bedarfsgemeinschaften
9,4
Paare ohne Kinder
2,8
Paare mit Kindern
7,4
Singles
11,8
Paare mit 1 Kind
5,3
Paare mit 2 Kindern
6,3
Paare mit 3 u. mehr Kindern
19,4
Alleinerziehende insgesamt
36,0
Alleinerziehende mit 1 Kind
30,5
Alleinerziehende mit 2 Kindern
41,1
Alleinerziehende mit 3 u. mehr Kindern
69,5 0
10
20
30
40
50
Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2019), Analyse Arbeitsmarkt: Grundsicherung für Arbeitsuchende.
60
70
Grundsicherung
267
Erklären lässt sich diese unterschiedliche Betroffenheit durch das Zusammenwirken mehrerer Faktoren: •
In Paarhaushalten mit Kindern erhöhen die Unterhaltskosten den Bedarf, zugleich sinkt aber das Einkommen der Bedarfsgemeinschaft, wenn ein Elternteil – in der Regel die Mutter – die Erwerbstätigkeit reduziert oder unterbricht. Je größer die Zahl der Kinder umso eher ist dies der Fall. • Bei Alleinerziehenden steht überhaupt nur ein Erwerbseinkommen zur Verfügung steht (eventuell ergänzt um Unterhaltsleistungen). Wenn wegen der Kindererziehung die Erwerbstätigkeit eingeschränkt (Teilzeitarbeit) oder unterbrochen wird, ist der Bezug von Grundsicherung die einzige Möglichkeit zur Finanzierung des Lebensunterhalts. • In Single-Haushalten erfolgt kein Ausgleich durch ein Partner-Einkommen; bei Arbeitslosigkeit kommt es insofern schnell zur Hilfebedürftigkeit. Verweildauer Fragt man nach der bisherigen Verweildauer der Personen im SGB II, also danach wie lange ihre Angewiesenheit auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld bereits andauert, wird sichtbar, dass sich (2018) nahezu die Hälfte der Empfänger (44,4 %) bereits 4 Jahre und länger im Leistungsbezug befindet. Kurz- und mittelfristige Leistungsbezüge sind demgegenüber eher selten. Diese Verhärtung weist darauf hin, dass es für einen großen Personenkreis äußerst schwierig ist, den Leistungsbezug durch Erzielung eines ausreichenden Einkommens zu beenden. So haben die Langzeitarbeitslosen, und hier insbesondere die Älteren und die Arbeitslosen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen, nur geringe Chancen auf eine Eingliederung in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis. Alleinerziehende haben anhaltend große Probleme bei der Vereinbarkeit von Kindererziehung und Berufstätigkeit und – nach einer längeren Unterbrechung der Erwerbstätigkeit – bei der beruflichen Wiedereingliederung. In beiden Gruppen fällt der Anteil der Langzeitbezieher besonders groß aus. Bei den Langzeitbeziehern der Grundsicherung handelt es sich um Personen, die im besonderen Maße von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind. 6.2.3 Fordern und Fördern
Die Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende steht in einem engen Zusammenhang mit der Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik, die im Zuge der „Hartz-Reformen“ umgesetzt worden ist und sich am Konzept eines „aktivierenden“ Sozialstaates orientiert (vgl. ausführlich Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 8.2). Das Begriffspaar „Fordern und Fördern“ bringt zum Ausdruck, dass Arbeitslose dazu angehalten, aber auch mit Hilfe von Eingliederungsleistungen unterstützt und befähigt werden sollen, möglichst umgehend eine Erwerbsarbeit aufzunehmen.
268
Einkommen
Sanktionen Im Mittelpunkt des „Forderns“ stehen einer verschärfter finanzieller Druck und die Verhängung von Sanktionen. So haben die Ausdünnung des Anspruchs auf die Versicherungsleistung „Arbeitslosengeld“ und der schnelle Verweis auf die Grundsicherung das Ziel, die Bereitschaft der Arbeitslosen zu erhöhen, Arbeit auch zu schlechten Bedingungen anzunehmen. Im Unterschied zum Arbeitslosengeld orientiert sich das Arbeitslosengeld II weder am vorherigen Erwerbseinkommen noch kennt es einen Einkommensschutz. Hilfeempfänger:innen müssen zur Überwindung ihrer Notlage auch eine Arbeit aufnehmen, mit der ein gravierender finanzieller und sozialer Abstieg verbunden ist. Zumutbar ist dabei jede Arbeit, soweit sie nicht gegen Gesetz oder die guten Sitten verstößt. Dies gilt auch für Arbeiten, • • •
deren Entlohnung unterhalb des Tariflohns oder des ortsüblichen Entgelts liegt, bei denen aufgrund niedriger Lohnsätze oder geringer Arbeitszeit das erzielte Einkommen das Grundsicherungsniveau unterschreitet, z. B. bei Minijobs, die im Rahmen von Eingliederungsleistungen als „Arbeitsgelegenheiten“ (vgl. dazu Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 8.3.7) angeboten werden.
Ausnahmen werden nur gemacht bei einer Arbeit, • •
bei der der gesetzliche Mindestlohn nicht gezahlt wird, zu der der/die erwerbsfähige Hilfebedürftige von seinen/ihren Kräften her nicht in der Lage ist, • die dem/der Hilfesuchenden die künftige Ausübung seiner bisherigen Tätigkeit wesentlich erschweren würde, • deren Ausübung die Kindererziehung (bis in der Regel zum 3. Lebensjahr des Kindes) gefährden würde, • deren Ausübung mit der Pflege von Angehörigen nicht vereinbar ist. Bei Verstößen gegen die Verpflichtungen greifen Sanktionen, die deutliche Kürzungen der Leistungen zur Folge haben. Sie werden verhängt, wenn sich Erwerbsfähige weigern, eine angebotene Eingliederungsvereinbarung abzuschließen oder die dort festgelegten Pflichten zu erfüllen, oder wenn sie eine zumutbare Arbeit bzw. Ausbildung ablehnen. Konzeption und Praxis der Sanktionen sind hinsichtlich Art, Ausmaß und Folgewirkungen hochumstritten. Das Bundesverfassungsgericht hat Ende 2019 entschieden, dass rigide Sanktionen, die bis zum völligen Leistungsentzug geführt haben, nicht mehr zulässig sind (vgl. im Detail Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 6.3). Eingliederungsleistungen Ziel der Grundsicherung für Arbeitsuchende war und ist es, die Bedingungen für eine Reintegration in den Arbeitsmarkt zu verbessern. Arbeitslose sollen aktiviert
Grundsicherung
269
und befähigt werden, eine Beschäftigung aufzunehmen. Vorrang vor der Zahlung von Geldleistung hat danach die Eingliederung in Arbeit. Mit jedem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen soll eine Eingliederungsvereinbarung geschlossen werden, die die erforderlichen Leistungen benennt. Zu den Leistungen zählt das Spektrum der aktiven Arbeitsmarktpolitik einschließlich der Beratungs-, Vermittlungs- und Qualifizierungsleistungen sowie ggf. erforderliche ergänzende Hilfen wie Kinderbetreuung, Schuldnerberatung, Suchtberatung, psychologische Betreuung. Die Leistungen werden durch die Job-Center, die als einheitliche Anlaufstelle dienen, erbracht bzw. koordiniert (vgl. dazu ausführlich Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 8.3.3). Diese Doppelausrichtung der Grundsicherung im Sinne eines aktivierenden Sozialstaates wird anhaltend kritisch diskutiert. Hinsichtlich der intendierten und nicht intendierten Auswirkungen stellen sich mehrere Fragen: •
• •
Ist die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt (Schaffung von neuen Arbeitsplätzen und Abbau der Arbeitslosigkeit) eine Folge des „Forderns und Förderns“ im Rahmen der Hartz-Gesetze oder günstiger gesamtwirtschaftlicher Konstellationen (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 9.1) ? Bekämpft die Grundsicherung Armut oder hat sie im Gegenteil soziale Ausgrenzung und sozialen Abstieg zur Folge ? Befähigt die Aktivierungspolitik die Menschen, ihr Leben eigenverantwortlich zu gestalten, oder führt sie durch das Zusammenwirken von niedrigem Leistungsniveau, verschärften Bedürftigkeitsprüfungen und strengen Zumutbarkeitsanforderungen für große Gruppen der Bevölkerung zu Verlust- und Abstiegsängsten, die der Ausgangspunkt für gesellschaftliche und politischen Spaltungen sind ?
Aufstocker Der Bezug von Arbeitslosengeld II und eine gleichzeitige Erwerbstätigkeit schließen sich nicht aus. Durch die Gewährung von Anrechnungsfreibeträgen sehen die Regelungen im SGB II diese Kombination von Grundsicherung und Erwerbstätigkeit ausdrücklich vor. Da ein (kleiner) Teil des Erwerbseinkommens anrechnungsfrei bleibt (Erwerbstätigenfreibetrag), sollen Anreize zur Aufnahme von Erwerbsarbeit gesetzt und die Aufnahme einer Beschäftigung im Niedriglohnsektor bzw. eine Vermittlung dahin möglich werden. (vgl. dazu im Detail Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 6.4) 6.2.4 Träger und Finanzierung
Die Grundsicherung für Arbeitsuchende wird in geteilter Trägerschaft erbracht. Zuständig sind die Bundesagentur für Arbeit mit ihren örtlichen Agenturen einerseits und die Landkreise und kreisfreien Städte als kommunale Träger andererseits. Zur einheitlichen Durchführung bilden die Träger im Gebiet jeder Kommune (Landkreise und kreisfreie Städte) als gemeinsame Einrichtung ein Jobcenter. In rund einem
270
Einkommen
Viertel der 408 Jobcenter nehmen die Kommunen die Aufgaben der Grundsicherung in alleiniger Verantwortung wahr (zugelassene kommunale Träger). Darunter befinden sich Großstädte wie auch Landkreise. Die Leistungen für Unterkunft und Heizung, die psychologische Betreuung, die Schuldner- und Suchtberatung, die Kinderbetreuungsleistungen müssen von den Kommunen finanziert werden. Für alle übrigen Leistungen der Grundsicherung, insbesondere für die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II, Sozialgeld, Mehrbedarfe, Beiträge zur Sozialversicherung) und die Leistungen zur Eingliederung in Arbeit liegt die finanzielle Zuständigkeit beim Bund. Der Bund beteiligt sich zugleich an den Kosten der Unterkunft. An den Verwaltungskosten sind auch die Kommunen beteiligt. Für die Grundsicherung für Arbeitsuchende ist die Sozialgerichtsbarkeit zuständig. Abbildung III.20 ist zu entnehmen, dass sich die Gesamtkosten im Jahr 2017 auf fast 45 Mrd. Euro beziffern. Zwischen 2010 und 2012 zeigt sich, vor allem in Folge der rückläufigen Zahl der Leistungsempfänger:innen, eine Ausgabenminderung um 13,3 %. Seit 2012 sind die Ausgaben jedoch wieder um 11,6 % angestiegen. Die Ausgabenarten nach dem SGB II setzen sich im Wesentlichen aus den sog. passiven und aktiven Leistungen zusammen. Zu den passiven Leistungen zählen die Finanzierung des Arbeitslosengeldes II und des Sozialgeldes, die Übernahmen der Kosten der Un-
Abbildung III.20 Ausgaben für Leistungen nach dem SGB II 2010 – 2018 und Ausgabenarten 2018 in Mrd. Euro Ausgaben in Mrd. Euro
46,89 45
44,99 41,39
40
40,05
41,29
40,66
43,6
42,89
42,06
35
30
2010
2011
2012
2013
2014
2015
2016
2017
2018
Ausgabenarten in Mrd. Euro und in % der Gesamtausgaben 2018 Verwaltungskosten
Arbeitslosengeld II/Sozialgeld: 14,8 Mrd. € = 33,8%
Sozialversicherung 3,1 Mrd. € 5,9 Mrd. € = 13,4% = 7,0%
Kosten der Unterkunft 14,2 Mrd. € = 32,6%
5,5 Mrd. € = 12,5%
Eingliederungsleistungen 0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
Quelle: Bundesagentur für Arbeit (zuletzt 2019), Arbeitsmarkt in Zahlen – Ausgaben im SGB II.
90%
100%
Grundsicherung
271
terkunft sowie die Beiträge an die Sozialversicherungsträger (gesetzliche Krankenversicherung, soziale Pflegeversicherung). Zu den aktiven, arbeitsmarktpolitischen Leistungen zählen die Maßnahmen, die im Rahmen der Eingliederungsleistungen erbracht werden (insbesondere Arbeitsgelegenheiten, Eingliederungszuschüsse, Qualifizierung). Die passiven Leistungen machen mit über 90 % (2018) den weit überwiegenden Teil der Ausgaben aus. Für die Eingliederungsleistungen werden dagegen nur 7,0 % ausgegeben. Die tatsächlichen Gesamtausgaben dürften noch höher liegen. Nicht erfasst sind die Kosten der Leistungen für Bildung und Teilhabe, spezielle Bundesprogramme bei den Eingliederungsleistungen und die kommunalen Finanzierungsanteile. 6.3
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist rechtlich im SGB XII geregelt. Ziel ist es, älteren Menschen sowie Erwerbsgeminderten, die nur noch geringe Chancen haben, ihre Hilfebedürftigkeit zu überwinden, einen Leistungsanspruch unter erleichterten Voraussetzungen zu ermöglichen und durch die Begrenzung des Nachrangprinzips „verschämte Altersarmut“ abzubauen. Anspruchsberechtigt sind bei Bedürftigkeit •
ältere Menschen ab Erreichen der Regelaltersgrenze – unabhängig davon, ob ein Anspruch auf eine Alters- oder Hinterbliebenenrente besteht, • dauerhaft voll Erwerbsgeminderte (Personen, die wegen Krankheit oder Behinderung dauerhaft außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein) mit dem vollendeten 18. Lebensjahr – unabhängig davon, ob die Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente erfüllt sind. Die Leistungen entsprechen dem Umfang und der Höhe nach den Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt. Bei der Bedürftigkeitsprüfung werden jedoch Unterhaltsansprüche des Leistungsberechtigten gegen seine Eltern oder Kinder, sofern deren Jahresbruttoeinkommen 100 000 Euro unterschreitet, nicht berücksichtigt. Auch muss nicht die Arbeitskraft eingesetzt werden. Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung erhielten am Jahresende 2018 rund 1,1 Mio. Personen. Seit dem ersten Erhebungsstichtag am Jahresende 2003, als rund 439 000 Grundsicherungsempfänger:innen gezählt wurden, hat sich die Zahl damit mehr als verdoppelt (vgl. dazu ausführlich Kapitel „Alter“, Pkt. 9.1). Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung wird von den Gemeinden administriert, aber vom Bund finanziert.
272
6.4
Einkommen
Sozialhilfe
Sozialhilfe wird in unterschiedlichen Formen und Arten sowie in oder außerhalb von Einrichtungen geleistet. Zu unterscheiden sind die Geldleistungen (Hilfe zum Lebensunterhalt) und die Dienst- und Sachleistungen. Die Hilfe zum Lebensunterhalt hat mit etwa 120 000 Empfängern (außerhalb von Einrichtungen) nur noch eine nachrangige Bedeutung. Anders als die Hilfe zum Lebensunterhalt sind die nachfolgend genannten Hilfen nicht auf eine allgemeine wirtschaftliche Bedürftigkeit, sondern im Wesentlichen auf spezielle Notlagen und besondere Bedarfssituationen bezogen: • • • •
Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung, Hilfe zur Pflege, Hilfen zur Gesundheit, Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten und Hilfe in anderen Lebenslagen.
Diese Hilfen werden als Dienst- und Sachleistungen und zu einem großen Teil in Einrichtungen erbracht (vgl. zur Organisation und Finanzierung Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 5.3). Es gelten jeweils höhere Einkommens- und Vermögensfreigrenzen. Wird die Hilfe stationär oder teilstationär durchgeführt, so umfasst sie auch den in der Einrichtung geleisteten Lebensunterhalt. Eingliederungshilfe Die mit Abstand größte Bedeutung haben die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen und die Hilfe zur Pflege. Die Eingliederungshilfe hat die Aufgabe, eine drohende Behinderung zu verhüten, eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen bzw. zu mildern und Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft einzugliedern. Sie soll behinderte Menschen zu einem weitgehend selbstständigen Leben befähigen, ihnen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglichen oder erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit ermöglichen oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen. Durch die Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes und dessen schrittweise Umsetzung ab 2018 wird die Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe herausgenommen und in ein eigenes entsprechendes Leistungsrecht SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen) eingegliedert. Die Empfängerzahlen der Eingliederungshilfe haben sich von 1996 bis 2017 mehr als verdoppelt: von 420 Tausend auf über 900 Tausend. Auffällig ist, dass sich das (relative) Gewicht des Orts der Hilfegewährung deutlich verschoben hat. Immer mehr Menschen erhalten Hilfen außerhalb von Einrichtungen. Dies ist eine Folge der ver-
Grundsicherung
273
änderten, auf ein selbstbestimmtes Leben orientierenden Behindertenpolitik, die die Unterbringung in stationären Einrichtungen als nachrangig ansieht. Hilfe zur Pflege Durch die Pflegeversicherung ist die Bedeutung der Hilfe zur Pflege nach 1994 zurückgegangen: von 674 Tausend Empfängern im Jahr 1992 bis auf 289 Tausend im Jahr 1998. Jedoch ist die Zahl nachfolgend wieder kontinuierlich angestiegen. Infolge der ab 2016 wirksam gewordenen Leistungsausweitung der Pflegeversicherung hat sich die Zahl der Empfänger wieder verringert und liegt bei 440 Tausend Empfänger:innen. Verantwortlich für den langfristig steigenden Trend ist zum einen die Zunahme der Zahl der Pflegebedürftigen, wie dies in den Empfängerzahlen von Leistungen der Pflegeversicherung (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 1.3) zum Ausdruck kommt. Zum anderen hat sich ein Verschiebeeffekt eingestellt: Da die Pflegeversicherung nur eine Teilkaskoversicherung ist (also nur einen Teil der Pflegekosten übernimmt) und zudem nicht die sog. Hotelkosten abdeckt, müssen in der Folge mehr Pflegebedürftige ergänzend auf die Hilfe zur Pflege zurückgreifen. Der Großteil der Pflegebedürftigen erhält Leistungen in der stationären Pflege (in Einrichtungen), im Jahr 2017 waren dies 80 % der Empfänger von Hilfe zur Pflege. Bezieht man die Empfänger von Hilfe zur Pflege auf die Gesamtzahl von etwa 3,4 Millionen Personen, die 2017 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung erhalten haben, dann liegt der Anteil derjenigen, die aufstockend Hilfe zur Pflege in Anspruch nehmen müssen, bei etwa 13 % (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 6.3). Zuständig für die Leistungen der Hilfe zur Pflege ist der überörtliche Träger der Sozialhilfe. Die Sozialhilfeträger übernehmen die Kosten der stationären Pflege in Höhe der Pflegesätze. Diese bemessen sich nach dem Versorgungsaufwand, den die Pflegebedürftigen nach Art und Schwere ihrer Pflegebedürftigkeit benötigen, und die zwischen dem Träger der Einrichtung und den Pflegekassen sowie den Sozialhilfeträgern (Leistungsträgern) vereinbart werden. Organisation Die Finanzierung der Sozialhilfe ist Aufgabe der Städte und Gemeinden, bei kreisangehörigen Gemeinden erfolgt sie über Umlagen. Die Länder sind in sehr unterschiedlich an der Sozialhilfefinanzierung beteiligt, zumeist über den kommunalen Finanzausgleich. Die Sozialhilfe wird durch örtliche und überörtliche öffentlich-rechtliche Träger durchgeführt. Daneben sind die Verbände der freien Wohlfahrtspflege als freie Träger an der Durchführung der Sach- und Dienstleistungen beteiligt. Als öffentliche Träger mit örtlicher Zuständigkeit fungieren die kreisfreien Städte und (Land)Kreise mit ihren Sozialämtern; je nach Landesrecht auch einzelne Gemeinden und Gemeindeverbände mit allerdings begrenzter Aufgabenstellung. Öffentliche Träger mit
274
Einkommen
überörtlicher Zuständigkeit sind entweder die Länder selbst (wie z. B. in den Stadtstaaten) oder die Landeswohlfahrtsverbände (z. B. in Baden-Württemberg, Hessen), die Landschaftsverbände (in Nordrhein-Westfalen) oder die Bezirke (wie in Bayern). Überörtliche Träger sind zuständig für Hilfen, die eine über den örtlichen Bereich hinausgehende Bedeutung haben oder die von besonderem finanziellen Gewicht sind. Bei der Durchführung der Sach- und Dienstleistungen dominieren die privaten – oftmals überörtlich organisierten – Träger. Dazu zählen die Kirchen, die Wohlfahrtsverbände und gewerbliche Anbieter. Die Wohlfahrtsverbände sind insbesondere als Betreiber von sozialen Einrichtungen z. B. von Altenpflegeheimen, Altentagesstätten, Behindertenheimen und Beratungsstellen und als Leistungsträger von Dienstleistungen vertreten. Ausgaben und Finanzierung Niveau und Entwicklungstrend der Bruttoausgaben der Sozialhilfe lassen sich unterscheiden in die Jahre vor und nach 2005. Denn zum Jahresbeginn 2005 wurde durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe das System der sozialen Sicherung grundlegend verändert. Die große Gruppe der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen wird seitdem nicht mehr auf die Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt), sondern auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II verwiesen. Zugleich wurde die Sozialhilfe – bis dahin kodifiziert im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) – im SGB XII neu geregelt, sie umfasst seitdem neben dem Restbereich der Hilfe zum Lebensunterhalt auch die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie die weiteren Leistungen nach Kapitel 5 – 9 SGB XII. Bei den weiteren Leistungen handelt es sich im Wesentlichen um Sachleistungen, dominiert durch die Eingliederungshilfe und die Hilfe zur Pflege. Im Leistungssystem der Hilfe zum Lebensunterhalt verbleiben nur Kinder und Erwachsene unter 65 Jahren, die zeitweise voll erwerbsunfähig sind. Durch die Kostensteigerungen bei den weiteren Leistungen sowie durch den Ausgabenanstieg bei der Grundsicherung im Alter wachsen die Ausgaben seit 2005 wieder deutlich an. Im Jahr 2018 haben die Gesamtausgaben der Sozialhilfe mit 33,9 Mrd. Euro das Niveau von 2004 (26,3 Mrd. Euro) bereits deutlich überschritten (vgl. Abbildung III.21). Allerdings muss bei diesem zeitlichen Vergleich berücksichtigt werden, dass ein Großteil der Ausgabenzuwächse durch das steigende Preisniveau bedingt ist. Insgesamt machen die Leistungen der Sozialhilfe (SGB XII) mit etwa 4 % nur einen kleinen Teil des Sozialbudgets aus. Die Ausgaben der Sozialhilfe müssen von den Kommunen finanziert werden. Seit 2011 beteiligt sich der Bund mit steigenden Anteilen bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Seit 2014 trägt der Bund diese Kosten vollständig.
Grundsicherung
275
Abbildung III.21 Bruttoausgaben der Sozialhilfe in Mrd. Euro, 1995 – 2018 33,9 31,7 30,3 29,0 27,4
26,7 17,1
25,5 15,5
23,3 22,8 23,0 23,0 13,5 12,5 12,5 12,9
23,9 14,3
24,7 14,8
25,6 15,8
26,3
26,2 25,0
16,4 23,0
19,9
2,9
20,5
3,2
21,1
3,6
16,5 15,9 16,3
9,6
9,9
10,3 10,5 10,0
9,8
9,7
9,8
9,8
22,0
3,8
17,0
4,0
17,8
23,9
4,3
18,5
6,8 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
6,4
5,4
25,1
4,9
23,5 21,6
19,2
insgesamt
7,1
5,9
4,6
20,0
6,5
32,5
24,0
22,4
20,6
Hilfe zur Gesundheit, zur Pflege, Eingliederungshilfe und sonstige Hilfen (vor 2005: Hilfe in besonderen Lebenslagen :
10,0
1,2
1,1
1,1
1,1
1,2
1,2
1,2
1,3
1,4
1,5
1,6
1,6
1,7
1,7
Hilfe zum Lebensunterhalt
1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018
Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Ausgaben und Einnahmen der Sozialhilfe.
6.5
Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
Im Grundsatz können auch Ausländer:innen bei Bedürftigkeit Leistungen der unterschiedlichen Grundsicherungssysteme erhalten. Wie bereits skizziert, liegt bei ihnen die Empfängerquote der Grundsicherung für Arbeitsuchende deutlich über der der Bevölkerung mit deutscher Staatsangehörigkeit: 8,7 % zu 3,0 % (2017). Ursächlich für diese stärkere Betroffenheit sind in erster Linie die schlechtere Stellung auf dem Arbeitsmarkt (niedrigere Entgeltposition, höheres Arbeitslosigkeitsrisiko) sowie die Lebensbedingungen und die Haushaltskonstellation (größere Haushalte, höhere Kinderzahl). Diese Gleichstellung von Deutschen und Ausländern wird allerdings durch viele Ausnahmen durchbrochen. So sehen das SGB II und SGB XII spezielle Regelungen zur Leistungsberechtigung und zum Leistungsausschluss von EU-Bürger:innen und Ausländer:innen vor, die sich zum Zweck der Arbeitsuche in Deutschland aufhalten. Gänzlich ausgeschlossen von den Leistungen der Grundsicherung nach SGB II und SGB XII sind Ausländer:innen, die eine der nachstehenden Voraussetzungen erfüllen: Aufenthaltsgestattung, Aufenthaltserlaubnis zum subsidiären Schutz, Duldung, Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar, Ehegatten, Lebenspartner oder minderjährige Kinder, noch nicht gestattete Einreise über einen Flughafen sowie Folge- oder Zweitantrag. Dieser Personenkreis wird bei Hilfebedürf-
276
Einkommen
tigkeit seit 1993 auf ein besonderes fürsorgerechtliches Leistungsgesetz, das Asylbewerberleistungsgesetz, verwiesen. Die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz weichen in mehrfacher Hinsicht von den Prinzipien und Ansprüchen ab, die die anderen Grundsicherungssysteme kennen: •
•
• •
Der Lebensunterhalt wird zu großen Teilen durch Sachleistungen, so durch Verpflegung in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften sowie Bekleidungsausgabe, und/oder durch Wertgutscheine und Geldleistungen sichergestellt. Die Leistungen sind gegenüber den Regelbedarfen abgesenkt. So sind die Leistungssätze in den Jahren zwischen 1993 und 2013 unverändert geblieben. Erst seit 2014, nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2012, orientieren sich die Grundleistungen grundsätzlich an der Sozialhilfe bzw. am Arbeitslosengeld II. Die Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt gelten nur eingeschränkt, da diese lediglich bei akuten Erkrankungen gewährt werden. Ein Großteil der Leistungsempfänger:innen lebt in Gemeinschaftsunterkünften.
Fragt man nach der Begründung für die mehrfache Schlechterstellung, so steht neben dem fiskalischen Motiv der direkten Ausgabenminderung zweifelsohne die Zielsetzung im Mittelpunkt, die Zuwanderungszahlen zu begrenzen und die niedrigen Leistungen als Abschreckungsfaktor einzusetzen. Hinzu kommt das Argument, dass den betroffenen Ausländer:innen wegen ihres begrenzten Aufenthaltes in Deutschland keine Integrationsleistungen zu gewähren seien. Diese Begründungen für ein abgesenktes Leistungsniveau sind vom Bundesverfassungsgericht im Jahr 2012 als verfassungswidrig erklärt worden. Leistungsberechtigte erhalten Grundleistungen, die einen Barbedarf (Taschengeld), Sachleistungen sowie die Kosten der Unterkunft (Gemeinschaftsunterkunft oder Mietwohnung), Hausrat und Heizkosten beinhalten. In Aufnahmeeinrichtungen erhalten Leistungsberechtigte Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheitspflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts sowie Leistungen zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens (notwendiger persönlicher Bedarf) grundsätzlich als Sachleistungen oder durch Wertgutscheine. Bei einer Unterbringung außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen werden vorrangig Geldleistungen zu gewährt. Nach einem Aufenthalt von 15 Monaten werden die Leistungen unter bestimmten Voraussetzungen auf das Niveau der Sozialhilfe angehoben. Im Jahr 2018 haben etwa 411 000 Personen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Im zeitlichen Verlauf kommt es zu einer Wellenbewegung (Abbildung III.22): Die Zahl der Leistungsempfänger:innen ist seit der Einführung des Gesetzes im Jahr 1994 zunächst kontinuierlich gesunken ist – von nahezu 490 000
Grundsicherung
277
Abbildung III.22 Empfänger von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz 1994 – 2018 974.551 728.239 411.211
468.608
362.850 224.993
165.244
130.297
143.687
127.865
121.235
153.300
193.562
211.122
230.148
264.240
278.592
314.116
351.642
435.930
438.873
486.643
489.742
438.618
488.974
0
1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018
Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Genesis-online.
auf 121 000 im Jahr 2009. Seitdem ist jedoch ein zuerst leichter Anstieg, ab 2014 jedoch steiler Anstieg zu verzeichnen, der sich im Jahr 2015 noch einmal mehr als verdoppelt hat. Die schwierigen politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse in vielen Ländern der Welt und insbesondere die anhaltenden Bürgerkriege in Syrien, Libyen, Afghanistan und im Irak waren und sind die Ursache für den starken Zustrom von Asylbewerbern und Schutzsuchenden. Seit 2016 geht infolge der wieder sinkenden Zuwanderung auch die Zahl der Leistungsempfänger:innen deutlich zurück, sie liegt gleichwohl immer noch deutlich über den Zahlen aus den Jahren vor 2014. Die staatlichen Ausgaben für Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz betrugen im Jahr 2018 knapp 5,3 Mrd. Euro. Die Kosten wurden bis Ende 2015 von Ländern, Landkreisen und Kommunen übernommen. Seit 2016 beteiligt sich der Bund mit 670 Euro pro Asylbewerber pro Monat. Der Betrag entspricht den durchschnittlichen Kosten bzw. Nettoausgaben je Asylbewerber im Jahr 2014.
278
6.6
Einkommen
Familienleistungsausgleich, Wohngeld
Das System der sozialen Sicherung in Deutschland ist durch die beiden Pole „Sozialversicherung“ und „Grundsicherung“ charakterisiert, es beschränkt sich allerdings nicht auf diese Leistungstypen. Besondere Bedarfslagen, soweit sie aus den laufenden Arbeits- oder Sozialeinkommen nicht ausreichend abgedeckt werden können, werden unter jeweils besonderen Bedingungen durch direkte Transfers oder durch steuerliche Entlastungen ausgeglichen. Eine große Bedeutung hat hier zum einen der Familienleistungsausgleich. Er setzt sich zusammen aus steuerlichen Entlastungen (Kinderfreibeträge, Ausbildungsfreibeträge) und direkten Zahlungen (Kindergeld, Kinderzuschuss, Unterhaltsvorschuss) und soll die Eltern von den Aufwendungen entlasten, die durch die Betreuung, Erziehung und Ausbildung der Kinder entstehen und die weder bei den Arbeitsentgelten noch bei den sozialversicherungsrechtlichen Lohnersatzleistungen Berücksichtigung finden. Das Elterngeld leistet während der Elternzeit einen begrenzten Einkommensersatz. Die einkommens- und elternabhängige Ausbildungsförderung soll den Lebensunterhalt während einer Ausbildung (Schule, Hochschule, Meisterabschluss) absichern (vgl. dazu ausführlich Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 6). Das Wohngeld ist ein Beispiel für eine Transferleistung, die auf eine spezifische Ausgabenbelastung abstellt. Wenn der Grundsatz gilt, dass die Versorgung mit ausreichendem, familiengerechtem Wohnraum zu den Grundvoraussetzungen eines menschenwürdigen Lebens zählt, dann muss es auch Geringverdienern möglich sein, eine bezahlbare und angemessene Wohnraumversorgung zu erhalten. Angesichts des hohen und steigenden Mietpreisniveaus in der Bundesrepublik, insbesondere in den Großstädten, ist diese Voraussetzung jedoch gefährdet. Bei Beziehern niedriger Arbeits- und Sozialeinkommen beanspruchen die Wohnungsausgaben einen sehr großen Teil des Haushaltseinkommens, so dass sie auf eine schlechte Wohnraumqualität verwiesen werden, wenn keine Ausgleichsleistungen erfolgen. Die Zahlung von Wohngeld soll deshalb dazu beitragen, dass die Wohnkosten einen bestimmten Anteil der Gesamtausgaben nicht überschreiten. Diese Förderung hängt von der Einkommenshöhe ab: Mit steigendem Haushaltseinkommen verringert sich die Zahlung oder entfällt völlig, weil ein (voller) Förderungsbedarf als nicht mehr erforderlich angesehen wird. Trotz ihrer Einkommensabhängigkeit lässt sich das Wohngeld aber nicht mit den Grundsicherungssystemen gleichsetzen, da weder das Bedarfs- noch das Nachrangprinzip greifen. Bedürftigkeit wirkt nicht anspruchsbegründend, sondern fehlende Bedürftigkeit wirkt anspruchsbegrenzend. Die Leistungen sind überdies weitgehend pauschaliert. Kinder in Wohngeldhaushalten haben Anspruch auf Leistungen für Bildung und Teilhabe. Die Leistungen nach dem Wohngeldgesetz (erstmalig 1965) richten sich vornehmlich an Mieter, aber auch an Eigentümer eines Eigenheimes oder einer Eigentumswohnung. Seit 2005 sind die Empfänger fürsorgerechtlicher Leistungen, deren Unterkunftskosten im Rahmen der jeweiligen Sozialleistung berücksichtigt werden
Grundsicherung
279
(ALG II, Sozialgeld, Sozialhilfe, Grundsicherung im Alter) vom Bezug des Wohngeldes ausgeschlossen. Die Höhe des Wohngeldes wird nach Tabellenwerten ermittelt, die • • •
die Größe des Haushaltes, die Höhe des Haushaltseinkommens und die Höhe der zuschussfähigen Miete berücksichtigen.
Aus dem Verhältnis von tragbaren Mieten bzw. Belastungen zum verfügbaren Haushaltseinkommen und zur Größe des Haushalts errechnet sich dann der Mietzuschuss bzw. Lastenzuschuss (an Eigentümer). Personen, deren Einkommen unterhalb des ihrer Familiengröße entsprechenden Höchstbetrages liegt, haben einen Rechtsanspruch auf Wohngeld. Als Einkommen anzurechnen ist das Familieneinkommen einschließlich etwaiger Sozialversicherungsleistungen. Eine Dynamisierung des Wohngelds (im zweijährigen Turnus) gibt es erst seit 2020. Dadurch soll vermieden werden, dass Haushalte, die durch nominal gestiegene Einkommen die vorgegebenen Einkommensgrenzen überschreiten, aus dem Wohngeldbezug heraus fallen. Anpassungen erfolgten zuvor in unregelmäßigen Abständen. Die letzte Anpassung der Einkommensgrenzen datiert aus dem Jahr 2020. Die Zahl der Empfängerhaushalte von Wohngeld unterliegt seit 2005 einem wechselvollen Verlauf (Abbildung III.23). Während 2004 noch gut 3,5 Mio. Haushalte gezählt wurden, schrumpfte die Zahl infolge der erwähnten Neuregelungen im SGB II und SGB XII im Jahr 2005 auf 0,81 Mio., da diese Systeme bereits die Übernahme der Wohnkosten (soweit angemessen) beinhalten. Zwischen 2005 und 2009 schrumpft die Empfängerzahl infolge der fehlenden Dynamisierung der Leistungen. Im Jahr 2009 zeigt sich als Folge der Wohngeldreform 2009 ein Wiederanstieg der Empfängerhaushalte auf gut 1 Mio. Haushalte. Danach kommt es zu einem erneuten Rückgang der Empfängerzahlen: Am Jahresende 2015 bezogen nur noch 460 Tausend Haushalte Wohngeld – dies entspricht einem Rückgang von 54,3 %. Ursächlich dafür ist zum einen der Wegfall des 2009 eingeführten Betrags für Heizkosten. Und zum anderen sind die Wohngeldtabellenwerte und die Miethöchstbeträge wiederum nicht angehoben worden, sie haben also unter Berücksichtigung der Preisentwicklung, und hier insbesondere der Mietpreise, deutlich an Wert verloren. Der deutliche Anstieg der Empfängerhaushalten im Jahr 2016 kann mit dem Inkrafttreten der Wohngeldreform aus dem Jahr 2015 erklärt werden. Erstmals seit 2009 wurden die Tabellenwerte an die Entwicklung der Wohnkosten und der Verbraucherpreise angepasst. Auch die Miethöchstbeträge wurden – nach Regionen und Mietstufen gestaffelt – angehoben. Seitdem setzt ein erneuter Rückgang ein. Analysiert man die Struktur der Wohngeldempfängerhaushalte nach der sozialen Stellung des Haupteinkommensbeziehers, so dominieren mit 48 % Rentner:innen und mit 37 % Arbeitnehmer:innen. Das durchschnittliche Wohngeld lag 2017 bei 157 Euro im Monat.
280
Einkommen
902.870
400.000
548.047
592.043
460.080
564.983
631.481
664.724
639.115
600.000
606.424
691.119
782.824
810.864
800.000
1.007.334
1.000.000
1.061.487
Abbildung III.23 Empfängerhaushalte von Wohngeld 2005 – 2018, absolut; jeweils am Jahresende
200.000
0
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
2015
2016
2017
2018
Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Genesis online.
Erfasst werden in der Wohngeldstatistik naturgemäß nur die beantragten und bewilligten Wohngeldzahlungen. Wie auch bei der Grundsicherung muss damit gerechnet werden, dass ein Teil der Wohngeldberechtigten trotz ihres niedrigen Einkommens keinen Antrag stellt – aufgrund von Unwissenheit oder anderen Gründen. Die Höhe dieser Dunkelziffer ist nicht bekannt. Die Wohngeldausgaben von Bund und Ländern beliefen sich 2018 auf ca. 1,0 Mrd. Euro. Die Finanzierung des Wohngeldes erfolgt durch den Bund und die Länder. Die Durchführung des Gesetzes ist den kreisfreien Städten und Landkreisen übertragen, bei denen besondere Amtsstellen für Wohngeld bestehen. Durch das Wohngeld werden die sozialen Verwerfungen des freien Wohnungsmarktes in einem gewissen Maße kompensiert. Das Wohngeld als Instrument der Subjektförderung ist jedoch allein überfordert, um eine angemessene und preisgünstige Wohnraumversorgung sicherzustellen. Wohnungspolitik zielt ergänzend darauf ab, Wohnraumangebot und Preisgestaltung durch den sozialen Wohnungsbau zu beeinflussen. Bei dieser Objektförderung erhalten Bauherren eine öffentliche Förderung. Voraussetzung dafür ist, dass sie den geförderten Wohnraum im Rahmen der Kostenmiete an Personen vermieten, die zum Bezug einer Sozialwohnung berechtigt sind. Der Wohneigentümer ist also bei der Vergabe der Wohnung und der Festsetzung des
Armut in der Wohlstandsgesellschaft
281
Mietpreises gebunden. Zu den Berechtigten einer Sozialwohnung zählen Haushalte mit niedrigem Einkommen und besondere Personengruppen, z. B. kinderreiche Familien und Alleinerziehende.
7
Armut in der Wohlstandsgesellschaft
7.1
Was ist Armut ?
Leben in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, Menschen in Armut ? Dieser Frage nach der Existenz und Verbreitung von Armut kommt bei der Analyse des Sozialleistungssystems und der Einkommensverteilung eine herausragende Bedeutung zu. Armut inmitten einer Wohlstandsgesellschaft kann ein Wirtschaftssystem in Frage stellen, das sich als „soziale Marktwirtschaft“ versteht, und gefährdet die politische und soziale Legitimation eines Sozialstaats. Die Informationen über Armut im Wohlstand und mehr noch über den Gegenpol „Reichtum“ sind freilich begrenzt; erst seit Ende der 1980er Jahre hat sich auf kommunaler, regionaler und auch europäischer Ebene eine Armuts- und Sozialberichterstattung entwickelt. Einen ersten Armuts- und Reichtumsbericht hat die rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2001 vorgelegt, der fünfte Bericht wurde 2017 veröffentlicht. Um die Frage nach Existenz und Ausmaß von Armut zu beantworten, muss definiert werden, was unter Armut verstanden wird. Erst wenn die Armutskriterien benannt sind, lässt sich empirisch-statistisch aufzeigen, ob und wann von Armut geredet werden muss, welche quantitativen Dimensionen Armut hat, welche Personen und Gruppen mit welchem Schweregrad und in welcher Dauer unter Armut zu leiden haben. Bei der Suche nach diesen Kriterien kann nicht auf „objektive“ Daten zurückgegriffen werden. Die Bestimmung dessen, was Armut ist, hängt von normativen Entscheidungen ab. Zunächst ist zwischen absoluter und relativer Armut zu unterscheiden: • Absolute Armut liegt vor, wenn Personen nicht über die zur Existenzsicherung notwendigen Güter wie Nahrung, Kleidung und Wohnung verfügen und ihr Überleben gefährdet ist. Diese am physischen Existenzminimum gemessene Form von Armut dominiert nach wie vor in vielen Staaten der „Dritten Welt“, ist aber in Deutschland wie auch in den anderen entwickelten Staaten weitestgehend überwunden. • Relative Armut wird auf Raum und Zeit bezogen, sie bemisst sich am konkreten, historisch erreichten Lebensstandard einer Gesellschaft. Armut liegt nach diesem Verständnis dann vor, wenn Menschen das sozialkulturelle Existenzminimum einer Gesellschaft unterschreiten. Es geht um die Lebenslage der Bevölkerung eines Landes am untersten Ende der Einkommens- und Wohlstandspyramide im Verhältnis zum allgemeinen Einkommens- und Wohlstandsniveau. Armut ist
282
Einkommen
der extreme Ausdruck sozialer Ungleichheit. In diesem Sinne definiert die Europäische Union Armut wie folgt: „Verarmte Personen sind Einzelpersonen, Familien und Personengruppen, die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar sind.“ Es besteht weitgehender Konsens darüber, dass in Wohlstandsgesellschaften das Konzept der relativen Armut angemessen ist, obgleich auch hier – wie die Lebenssituation von Nichtsesshaften zeigt – einzelne Menschen durchaus in absoluter Armut leben. Unzureichende Verfügung über Ressourcen Gemeinhin wird Armut als eine Unterausstattung mit ökonomischen Mitteln verstanden. Abgestellt wird bei diesem Ressourcenansatz vor allem auf die Ausstattung mit Einkommen. Personen bzw. Haushalte befinden sich in Armut, wenn ihr Einkommen nicht ausreicht, um die Güter und Dienstleistungen zu kaufen, die zur Abdeckung des sozialkulturellen Existenzminimums erforderlich sind. Dieser Maßstab ist allerdings nicht unproblematisch, da der Handlungsspielraum eines Haushalts nicht nur durch die Ressource Einkommen, sondern auch durch weitere Ressourcen wie Vermögen (z. B. Wohneigentum), schulische und berufliche Qualifikation (Humankapital), soziale Einbindung (Sozialkapital) und Verfügung über Zeit bestimmt wird. Einen zentralen Stellenwert hat die Ressource Vermögen. Um die materielle Lage von Individuen, Haushalten und sozialen Gruppen in der Bevölkerung zu beschreiben und miteinander vergleichen zu können, müssen auch die Vermögensbestände, also der Bestand an Geld oder geldwertem Besitz (Geldvermögen, Immobilien, Betriebsvermögen) berücksichtigt werden. Zwar setzt in entwickelten Marktgesellschaften, in denen nahezu alle Güter und Dienstleistungen gegen Geld gekauft werden müssen, das Einkommen den Rahmen für den Lebensstandard, determiniert diesen aber nicht vollständig. Beim Blick allein auf den Einkommenszufluss bleibt ausgeblendet, wie die Ressourcen tatsächlich verwendet werden und wie sie sich in einem bestimmten Lebensstandard niederschlagen. So kann auf der einen Seite auch dann eine Notlage vorliegen, wenn das verfügbare Haushaltseinkommen die Armutsgrenze übersteigt, aber durch hohe Fixkosten (z. B. Zins- und Tilgungsbelastungen) vorab gemindert wird, oder wenn die Mittel unwirtschaftlich eingesetzt oder unausgewogen unter den Haushaltsmitgliedern verteilt werden. Auf der anderen Seite kann bei einem Geldmangel der Lebensstandard durch Rückgriff auf Reserven, Kreditaufnahme oder Unterstützung aus dem familiären und sozialen Umfeld gehalten werden. Gefährdete Lebenslagen und soziale Teilhabe Geringes Einkommen ist also eine zentrale, aber nicht die ausschließliche Bedingung für einen als „arm“ zu bezeichnenden Lebensstandard. Armut im umfassenden Sinn ergibt sich als Ergebnis des Ressourceneinsatzes und als Ausdruck einer vorfind-
Armut in der Wohlstandsgesellschaft
283
baren Lebenslage. Eine an der Lebenslage orientierte Definition von Armut fragt danach, ob bei der Versorgung der Menschen mit Nahrung, Bekleidung, Wohnraum, Wohnungseinrichtung, Leistungen des Gesundheits- und Sozialwesens Mindeststandards erreicht werden. Lebenslagen- und Teilhabeansätze, die Armut direkt und nicht indirekt über den Ressourcenzufluss messen, fragen danach, ob die Menschen ausreichend am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben teilhaben können. Dies betrifft so zentrale Bereiche wie • • • • • • • • • • •
Ernährung und Bekleidung (Qualität der Versorgung mit Lebensmitteln und Bekleidung), Wohnung (Größe, Ausstattung, Qualität), Wohnumfeld (Erreichbarkeit, Quartier), Mobilität (Fahrzeuge, Verkehrsmittel), Arbeitsmarkt (Erwerbsteilhabe, Qualität der Arbeit, Arbeitslosigkeit), Bildung (schulische und berufliche Ausbildung, Weiterbildung), Gesundheit (Erkrankungen, Behinderungen, Pflegebedürftigkeit), Freizeit (Urlaub, Naherholung), Umwelt (Umweltbelastungen wie Lärm, schlechte Luft usw.), Netzwerke (Familie, Nachbarschaft, soziale Kontakte), Engagement (kulturelle, soziale und politische Teilhabe).
Liegt Unterversorgung in gleich mehreren Lebensbereichen vor, besteht das Risiko, dass Armut zugleich mit sozialer Ausgrenzung verbunden ist. Der Grad von Versorgung und Teilhabe kann sich dabei in den genannten Dimensionen unterscheiden. Denn es hängt von den Entscheidungen der Personen ab, welche Schwerpunkte im Einsatz des Einkommens gesetzt werden: Die einen legen weniger Wert auf Bekleidung und Wohnung, aber mehr Wert auf einen Urlaub und den Besuch kultureller Veranstaltungen, für die anderen ist die Verfügung über einen PKW und eine hochwertige Wohnungsausstattung wichtig, nicht aber die Qualität der Ernährung. In aller Regel besteht jedoch zwischen den einzelnen Dimensionen eine enge Verbindung: Personen mit einer guten Bildung und einem stabilen Beschäftigungsverhältnis wohnen und ernähren sich besser und sind in der Gesellschaft stärker integriert als Personen, die keine qualifizierte Ausbildung aufweisen und deren Erwerbsteilhabe aufgrund von Arbeitslosigkeit nicht gesichert ist. Auch bei den Belastungen durch Umweltverschmutzungen zeigt sich dieser Zusammenhang: Derartige, die Lebensqualität mindernde Erscheinungen (ebenso wie z. B. belastende Arbeitsbedingungen) treffen nach aller Evidenz insbesondere jene Gruppen am stärksten, die auch schon mit Blick auf andere Lebenslagendimensionen und auf die materiellen Ressourcen Einkommen und Vermögen schlechter gestellt sind. Das ist nicht zuletzt Folge der sozialräumlichen Trennung (Segregation) in und zwischen den Wohnquartieren.
284
Einkommen
Aus dem Lebenslagen- und Teilhabeansatz folgt für die Sozialpolitik, dass es zur Armutsbekämpfung und -vermeidung nicht ausreicht, das Einkommen durch Transferzahlungen aufzustocken. Es bedarf ergänzender Maßnahmen zur Sicherstellung der sozialen, beruflichen und politischen Integration und Partizipation. Grenzwerte und Mindeststandards Ressourcenansatz wie Lebenslagen- und Teilhabeansatz stehen vor großen Problemen, wenn es darum geht, das Ausmaß der Armut quantitativ zu beziffern. Es muss definiert werden, ab welchen Grenzwerten der Zustand der Schlechterstellung und Benachteiligung in Armut umschlägt. Über diese Armutsgrenzen lässt sich nicht wissenschaftlich befinden, ihre Festlegung ist vielmehr von subjektiven/individuellen Überzeugungen und Wertentscheidungen abhängig. Dies bedeutet, dass die Diskussion über Existenz und Ausmaß von Armut in Wohlstandsgesellschaften immer kontrovers verlaufen wird. Je nach der Definition von Armut und der Bestimmung der Armutsgrenzen kann dabei der Kreis der Armutsbevölkerung enger oder weiter gesteckt werden. Eine bewusste Eingrenzung des Kreises relativiert die Armutsproblematik und kann dazu dienen, die tatsächlichen sozialen Verhältnisse zu verdecken, während eine bewusst weite Fassung des Kreises den Blick auf die eigentlichen Betroffenen verstellen kann. Besonders schwierig ist es, die Mindeststandards in einem mehrdimensionalen Lebenslagenansatz festzulegen. Sind für die Teilhabe am Leben heute ein Auto und ein Internet-Anschluss erforderlich ? Brauchen Kinder je ein eigenes Zimmer ? Welche Bekleidungsstandards müssen Kindern anerkannt werden, um ihre Ausgrenzung zu verhindern ? Ab welchem Grad der Unterversorgung in welchen und wie vielen Bereichen kann dann Armut oder Ausgrenzung indiziert werden ? Die Liste dieser beispielhaften Fragen ließe sich beliebig verlängern. Hinzu kommt, dass die empirischen Daten über die Versorgungsstruktur der Bevölkerung nur sehr lückenhaft sind. Für den Gesamtbereich der sozialen Teilhabe, der stark durch nicht-quantitative Elemente bestimmt ist, fehlt es nahezu völlig an repräsentativen Daten. Hier sind qualitative Untersuchungen erforderlich, die die Lebensbedingungen der jeweils von unterschiedlichen Problemen betroffenen Bevölkerungsgruppen gesondert darstellen. Zu denken ist nicht zuletzt an die Lebenslage von körperlich und geistig Behinderten, Wohnungslosen und Nichtsesshaften, Strafentlassenen, Drogen- und Alkoholabhängigen sowie psychisch Kranken. Beim Ressourcenansatz muss entschieden werden, bei welcher Einkommenshöhe das soziokulturelle Existenzminimum angelegt werden soll und wie sich der Grenzwert an die wirtschaftliche Entwicklung anzupassen hat. Auch hier gibt es keine allgemeinverbindlichen Antworten. Als ein quasioffizieller, politisch bestimmter Grenzwert für die Einkommensarmut kann das Bedarfsniveau der Grundsicherung dienen. Auf Konventionen beruht dagegen das international üblich gewordene Verfahren, jemanden als einkommensarm zu betrachten, dessen verfügbares Einkommen einen bestimmten Prozentwert des nationalen Durchschnittseinkommens unterschreitet.
Armut in der Wohlstandsgesellschaft
285
Durch das Verfahren, Einkommensarmut am Durchschnittseinkommen zu bemessen, wird die Ungleichheit der Einkommensverteilung abgebildet. Eine Verringerung von Einkommensarmut in diesem Sinne setzt voraus, dass niedrige Einkommen stärker als hohe Einkommen ansteigen. Bei einer gleichmäßigen prozentualen Erhöhung aller Einkommen hingegen bleibt der Anteil unter der Hälfte des Durchschnitts gleich. Eine Erhöhung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstandes allein ist also, da Armut immer ein relativer Tatbestand ist, noch kein Beitrag zum Abbau von Einkommensarmut. 7.2
Relative Einkommensarmut
Die Ermittlung von Niveau und Struktur der relativen Einkommensarmut hängt entscheidend von den methodischen Annahmen ab. So ist festzulegen, bei welchem Abstand zum durchschnittlichen Einkommen von Armut gesprochen werden kann. In der nationalen wie in der europäischen Armutsforschung ist es seit vielen Jahren üblich, das mittlere Einkommen (Median) als Referenzgröße zu bestimmen und jene Personen als einkommensarm zu bezeichnen, deren Nettoäquivalenzeinkommen unterhalb von 60 % des mittleren Einkommens liegt. Der Durchschnitt kann auch als arithmetisches Mittel gerechnet werden. Da das arithmetische Mittel empfindlich auf extreme Ausschläge nach oben oder unten reagiert, wird aber in der Regel auf den Median als Mittelwert zurückgegriffen (mittlerer Wert einer nach der Größe geordneten Reihe). Als Kennziffern für die relative Armutsmessung kommen Armutsrisikoquoten (bzw. als synonymer Begriff: Armutsgefährdungsquoten) zur Anwendung. Dazu werden die Anteile der armen Haushalte bzw. Personen an der jeweiligen Gesamtzahl der Bevölkerung ermittelt. Von Armutsrisikoquoten ist deshalb die Rede, weil in die Bemessung nur laufende Einkommen einfließen, eventuell vorhandenes Vermögen finden dabei ebenso wenig Berücksichtigung wie bestehende Schulden oder Forderungen. Unterschiedliche Bedarfe, wie z. B. von Menschen mit Behinderungen, spielen ebenfalls keine Rolle. Angesichts der anhaltend großen Einkommensunterschiede zwischen Bundesländern und Regionen, insbesondere zwischen den alten und den neuen Bundesländern, muss auch darüber befunden werden, ob sich Armutsberechnungen auf den Mittelwert des gesamtdeutschen Einkommens beziehen oder auf das Durchschnittseinkommen in den jeweiligen Regionen. Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Ergebnisse: In Bundesländern mit einem generell niedrigeren Einkommensniveau wie in Ostdeutschland (aber auch mit niedrigeren Wohn- und Lebenshaltungskosten) führt eine durchgängige Verwendung des Bundesmedians zu einer Überschätzung des Armutsrisikos. Umgekehrt wird in „reicheren“ Regionen damit das Armutsrisiko unterschätzt. Für eine einheitliche Verwendung des bundesdurchschnittlichen Medians spricht, dass bei einer kleinräumigen Betrachtungsweise regionale Wohlstandsunterschie-
286
Einkommen
de in Deutschland ausgeblendet werden. Dann lässt sich nicht mehr untersuchen, inwieweit das im Grundgesetz formulierte Postulat „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ erfüllt wird. Schließlich sind auch die Sozialgesetze und Sozialleistungen in allen Raumeinheiten die gleichen. Bei europäischen Vergleichen ist hingegen eine Rechnung mit einem europäischen Medianwert unzulässig, da die Einkommensund Wohlstandsunterschiede in den Ländern der EU so erheblich sind, dass Durchschnittswerte keinen Sinn machen. Die Festlegung der Äquivalenzgewichte (Ermittlung bedarfsgewichteter Pro-KopfEinkommen, um die verfügbaren Einkommen von Haushalten unterschiedlicher Größenordnung und Alterszusammensetzung vergleichen zu können; vgl. Pkt. 2.5.2 dieses Kapitels) hat ebenfalls erheblichen Einfluss auf die Struktur der Armutsquoten und die Zusammensetzung der Armutsbevölkerung. Die früher angewendeten Skala (1,0 für die 1. Person im Haushalt; 0,7 für weitere Personen ab 15 Jahren Haushaltsmitglieder; 0,5 für Kinder) ist durch die sog. „neue OECD-Skala“ (1,0 : 0,5 : 0,3) abgelöst worden, die die Haushaltsersparnisse höher einschätzt und zugleich von niedrigeren Einkommensbedarfen von Kindern ausgeht. Aus der „neuen OECD-Skala“ ergeben sich höhere Armutsquoten für kleinere Haushalte, z. B. für Ein-Personen-Haushalte, aber geringere Armutsquoten für größere Haushalte, z. B. für Haushalte mit Kindern. Anzahl und Anteil der Personen, die mit ihrem (Nettoäquivalenz)Einkommen die Armutsrisikoschwelle unterschreiten, lassen noch nicht erkennen, ob das Einkommen nur knapp unter dem Grenzwert liegt oder erheblich darunter. Dies ist aber wichtig zu wissen, da die Folgen von Einkommensarmut umso gravierender sind, je weiter die Betroffenen mit ihrem Einkommen hinter der Armutsgrenze zurückbleiben. Mit dem Ausweis der sog. Armutslücke kann diese Intensität von Armut gemessen werden. Die Armutslücke ist definiert als die Differenz zwischen dem Median des Nettoäquivalenzeinkommens der armutsgefährdeten Bevölkerung und der Armutsrisikoschwelle. Setzt man diese Differenz ins Verhältnis zur Armutsrisikogrenze, erhält man die „relative Armutslücke. Sie liegt aktuell bei etwa 20 %. Das heißt, dass das mittlere Einkommen der Armutsgefährdeten bzw. -betroffenen um ca. ein Fünftel unterhalb der Armutsschwelle von 60 % des Medianeinkommens liegt. 7.3
Armutsrisikoquoten
7.3.1 Bundesdurchschnitt und regionale Abweichungen
Um das Ausmaß des Armutsrisikos zu beziffern, kann auf die Auswertungen des Statistischen Bundesamtes zurückgegriffen werden, Datengrundlage ist hier der Mikrozensus. Die große Stichprobe des Mikrozensus erlaubt differenziertere Untergliederungen als die anderen stichprobenbasierten Datenquellen (so z. B. das SOEP). Wenn die Armutsrisikogrenze bei 60 % des gesamtdeutschen Durchschnittseinkommens (Median) angesetzt wird, dann zeigt sich, dass im Zeitraum zwischen 2005
Armut in der Wohlstandsgesellschaft
287
und 2018 zwischen 14,7 % und 15,8 % der Bevölkerung in Deutschland als armutsgefährdet gelten können. Auffällig ist, dass trotz der guten wirtschaftlichen Entwicklung und des Rückgangs der Arbeitslosigkeit die Risikoquote leicht aber kontinuierlich ansteigt (vgl. Abbildung III.24). Unterscheidet man zwischen den alten und neuen Bundesländern zeigen sich abweichende Entwicklungsverläufe. Die Armutsbetroffenheit in den neuen Bundesländern fällt stärker aus, sinkt jedoch und nähert sich an die steigende Quote in den alten Bundesländern an; gleichwohl sind die Abstände immer noch ausgeprägt. Diese Abweichungen unterstreichen, dass ein Bezug allein auf den Bundesdurchschnitt nicht ausreicht, um die Problemlagen zu erkennen. So zeigen sich bei einer Differenzierung der Risikoquoten nach Bundesländern markante Unterschiede: Die Armutsrisikoquoten in den ökonomisch begünstigten süddeutschen Bundesländern (Bayern und Baden-Württemberg mit 11,7 % und 11,9 %) liegen deutlich unter dem Bundesdurchschnitt, in den ostdeutschen Bundesländern (an der Spitze Sachsen-Anhalt mit 19,5 %) sowie in den west- und norddeutschen Ländern (an der Spitze Nordrhein-Westfalen mit 18,1 %) hingegen deutlich darüber. Im besonderen Maße betroffen ist die Bevölkerung in den Stadtstaaten Bremen, Berlin und Hamburg. Der Befund ist eindeutig: Armutsprobleme konzentrieren sich
Abbildung III.24 Armutsgefährdungsquoten in % der Bevölkerung, Deutschland, alte und neue Bundesländer, 2005 – 2018
Neue Bundesländer
20,4 20
19,2
19,5
19,5
19,5
19,0
19,4
19,6
19,8
19,2
19,7 18,4
17,8
17,5
in % der Bevölkerung
Deutschland
15
14,7
13,2
14,0
14,3
14,4
14,6
14,5
13,3
12,7
12,9
13,1
13,3
2006
2007
2008
2009
15,0
13,8
15,0
13,9
15,5
14,4
15,4
15,7
14,5
14,7
2014
2015
15,7 15,0
15,8 15,3
15,5 15,0
Alte Bundesländer
10
5
0
2005
2010
2011
2012
2013
Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Sozialberichterstattung – Datenbasis: Mikrozensus.
2016
2017
2018
288
Einkommen
auf benachteiligte Regionen und auf den (groß)städtischen Raum. Berlin, Hamburg und Bremen stehen noch nicht einmal an der Spitze, wenn man sich die Verteilung der Armutsrisiken nach Großstädten (über 500 000 Einwohner) anschaut (Abbildung III.25). In Duisburg und Dortmund unterliegt rund ein Viertel aller Einwohner dem Armutsrisiko. Innerhalb der Großstädte verstärken sich seit einigen Jahren die Trends hin zu einer sozial-räumlichen Segregation, es kommt zu Prozessen der sozialen und ethnischen Desintegration und zur Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen. In den benachteiligten, durch schlechte Wohnbedingungen und ein ungünstiges Wohnumfeld geprägten Stadtteilen und Quartieren fällt der Anteil von einkommensschwachen und häufig von Arbeitslosigkeit betroffenen Haushalten hoch aus. Es häufen sich Lebensformen, die ein großes Armutsrisiko (wie Alleinerziehende, alleinlebende Ältere) tragen. Zugleich leben hier überproportional häufig Migranten.
Abbildung III.25 Armutsgefährdungsquoten in Großstädten mit über 500 000 Einwohnern 2018, in % der jeweiligen Bevölkerung
Deutschland
15,5
Neue Bundesländer (inkl. Berlin)
17,5
Früheres Bundesgebiet (ohne Berlin)
15,0
Duisburg
27,4
Dortmund
23,9
Leipzig
22,0
Bremen
21,6
Essen
21,6
Nürnberg
20,6
Hannover
20,6
Köln
20,4
Düsseldorf
20,0
Berlin
18,2
Dresden
15,8
Frankfurt am Main
15,4
Hamburg
15,3
Stuttgart
15,2
München
10,0 0
3
6
9
12
15
18
Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Sozialberichterstattung – Datenbasis: Mikrozensus.
21
24
27
30
Armut in der Wohlstandsgesellschaft
289
7.3.2 Armutsrisiken einzelner Personengruppen
Vom Armutsrisiko sind einzelne Bevölkerungsgruppen, abgegrenzt nach sozio-demografischen und Haushaltsmerkmalen, unterschiedlich stark betroffen. In Abbildung III.26 werden jene Gruppen dargestellt, die besonders hohe, über dem Durchschnitt liegende Risikoquoten aufweisen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es bei der Darstellung zu mehrfachen Überschneidungen kommen kann. Nur ein Beispiel: Eine alleinerziehende Mutter kann zugleich jung, arbeitslos und gering qualifiziert sein. Arbeitslose Weit oberhalb der Armutsbetroffenheit der Gesamtbevölkerung (15,5 %) liegen vor allem Erwerbslose mit einer Quote von immerhin 57,4 %. Von einem bereits hohen Niveau ausgehend hat das Armutsrisiko von Erwerbslosen seit 2005 nochmals um rund 8 Prozentpunkte zugenommen (vgl. Abbildung III.27). Diese Entwicklung ist nicht zufällig eingetreten, sondern eine Konsequenz der 2005 eingeschlagenen Sozialpolitik: Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, die Begrenzung der Bezugsdauer der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld und die mit verschärften Sanktionen ver-
Abbildung III.26 Armutsgefährdungsquoten von besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen 2018, in % der jeweiligen Gruppe
Erwerbslose
57,4
Alleinerziehende
41,5
ohne deutsche Staatsangehörigkeit
34,8
niedrige Qualifikation
31,7
Eltern mit drei oder mehr Kindern
30,0
mit Migrationshintergrund
27,2
18 bis unter 25 Jahre
25,6
Einpersonenhaushalt
25,8
unter 18 Jahre
20,1
Rentner & Pensionäre
16,1
Frauen
16
Insgesamt
15,5 0
10
20
30
40
Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Sozialberichterstattung – Datenbasis: Mikrozensus.
50
60
290
Einkommen
Abbildung III.27 Armutsgefährdungsquoten nach ausgewählten Merkmalen 2005 – 2018 in % der jeweiligen Bevölkerung
60
59,1
57,6
56,0
56,9
57,2
Erwerbslose
42,8
Alleinerziehende
54,0 50
40
49,6
49,4
41,9 39,7
39,3
38,6
37,0 34,3
35,5
32,6
31,7
31,6
30
31,5
20
19,5
21,7
22,4 18,4
18,6
10
0
10,7
2005
14,0
2006
22,7
11,2
2007
12,1
2008
18,2
12,1
2009
12,6
2010
13,8
2011
24,1
24,6
18,7
19
14,2
2012
26,3
25,6
23,8
23,7
22,3
34,8
Ausländer
32,5
25,6 23,2
43,6
41,9
15,2
2013
15,6
2014
2015
Einpersonenhaushalte
26,0
18 bis 25
20,2
20,4
Unter 18
15,9
16,0
Rentner, Pensoionäre
25,5
15,9
26,5
2016
2017
Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Sozialberichterstattung – Datenbasis: Mikrozensus.
bundene Begrenzung der Regelbedarfe des SGB II sollten ja den Druck auf Arbeitslose erhöhen, jedwede Beschäftigung anzunehmen, und den Boden für die Ausweitung des Niedriglohnsektors bereiten. Alleinerziehende und ihre Kinder Auffällig ist zudem die äußerst hohe Armutsrisikoquote von Alleinerziehenden und ihren Kindern: 42,8 % dieser Personengruppe haben ein Nettoäquivalenzeinkommens von weniger als 60 % des Durchschnittseinkommens zur Verfügung. Mit 30,0 % tragen auch Paarhaushalte mit drei und mehr Kindern ein hohes Armutsrisiko. Paarhaushalte mit einem Kind oder zwei Kindern sind hingegen nur unterdurchschnittlich von Einkommensarmut betroffen (vgl. ausführlich zur Familien- und Kinderarmut Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 5.4). Ausländer:innen Von besonderer Bedeutung ist in jüngster Zeit die Armutsbetroffenheit von Ausländer:innen, also von den Personen, die in Deutschland leben aber nicht die deutsche Staatsbürgerschaft (erworben) haben. Hier steigt die Quote seit 2013 an und erreicht 2018 einen Wert von 34,8 %. Zu erwarten ist, dass sich dieser Anstieg verstärkt fort-
Armut in der Wohlstandsgesellschaft
291
setzen wird, denn der weit überwiegende Teil der Flüchtlinge und Asylbewerber, die seit 2014/2015 nach Deutschland gekommen sind, verfügt nur über ein äußerst geringes Einkommen. Auch die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz fallen niedrig aus (vgl. Pkt. 6.5 dieses Kapitels). Die Ursachen für die hohe Armutsbetroffenheit von Ausländer:innen wie auch von Personen mit Migrationshintergrund sind vielschichtig: •
• • • •
Soweit die Betroffenen erwerbstätig sind, weisen sie unterdurchschnittliche Verdienste auf. Das liegt an der im Schnitt geringeren schulischen und beruflichen Qualifikation, auch an der fehlenden Anerkennung der Abschlüsse aus anderen Ländern, an der Konzentration der Erwerbstätigkeit auf Niedriglohnbranchen und -berufe sowie auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse, an dem späteren Einstiegsalter in die Berufstätigkeit, versperrten Aufstiegschancen und – last but not least – an Formen der offenen und versteckten Diskriminierung. Arbeitslosigkeit und Nichterwerbstätigkeit (insbesondere der Ehefrauen) fallen überdurchschnittlich hoch aus. Die im Schnitt höhere Kinderzahl in den Familienhaushalten führt zu zusätzlichen Einkommensbelastungen. Diese Faktoren sind im Wesentlichen dafür verantwortlich, dass Ausländer:innen überproportional häufig unter den Beziehern von Leistungen nach dem SGB II zu finden sind (vgl. Abbildung III. 15). Von besonderer Bedeutung ist der Tatbestand, dass Flüchtlinge bzw. Schutzsuchende und Asylbewerber – soweit sie Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen – im Grundsatz keine Erwerbstätigkeit aufnehmen dürfen.
Gering Qualifizierte Bildung ist keine garantierter Schutz vor Armut, aber dennoch ein sehr wichtiger Faktor, um nicht in Armut zu fallen. Differenziert nach der Qualifikation der Personen in den Haushalten ist die Armutsrisikoquote Geringqualifizierter 2018 mit 31,7 % weit höher als wenn die Personen hochqualifiziert sind (5,9 %). Ältere Menschen Das Ausmaß der Altersarmut, also die Armutsrisikoquoten von Rentner:innen und Pensionären (16,1 %) bzw. von Menschen, die ein Alter von 65 Jahren überschritten haben (14,7 %), entspricht in etwa dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass die Risikoquote bei den Rentner:innen und Pensionär:innen seit 2005 kontinuierlich steigt. Auch läge die Quote ohne die in aller Regel gut abgesicherten Beamten-Pensionäre, die hier mit den Sozialversicherungsrentner:innen zusammengefasst sind, sicherlich noch merklich höher. Wenn Altersarmut ein drängendes Thema ist, dann liegt dies an dem absehbaren Entwicklungstrend. Die Sorge wächst, dass es angesichts der Strukturbrüche auf dem Arbeitsmarkt einerseits und des sinkenden Rentenniveaus in mittlerer Frist zu einem
292
Einkommen
erheblichen Anstieg der Zahl und der Quote einkommensarmer älterer Menschen kommen wird (vgl. dazu ausführlich Kapitel „Alter“, Pkt. 10.3). Jugendliche und junge Erwachsene Unterscheidet man nach dem Alter, bilden Jugendliche und junge Erwachsene im Alter bis zu 25 Jahren die am stärksten vom Armutsrisiko betroffene Altersgruppe (vgl. Kapitel „Qualifikation“, Pkt. 8.5). Dafür gibt es mehrere Ursachen: •
Studierende, die einen eigenen Haushalt führen, müssen für einige Jahre mit einem geringen Einkommen zurechtkommen. • Der Berufseinstieg nach dem Studium gelingt zwar gut, ist aber mit einem zunächst geringen Verdienst (Praktika, befristete Beschäftigung) verbunden. • Dauerhaft von einer Armutslage sind hingegen jene jungen Menschen betroffen, die eine nur geringe schulische und berufliche Qualifikation aufweisen, keinen gesicherten Zugang zum Arbeitsmarkt finden und in prekären Beschäftigungsverhältnissen zu finden sind. Risikoquoten und Zahl der Betroffenen Aus Risikoquoten allein lassen sich keine Informationen über die absolute Zahl der Betroffenen erkennen. So zählen zur Bevölkerung im Alter von 65 Jahren und älter aktuell rund 17,7 Mio. Menschen. Eine Armutsrisikoquote von rund 15 % bedeutet, dass in absoluten Zahlen etwa 2,7 Mio. Ältere als von Armut bedroht angesehen werden können. Steigt aufgrund der demografischen Entwicklung die Zahl älterer Menschen, führt ein bereits geringer Quotenanstieg zu einer deutlichen Erhöhung der von Armut betroffenen Älteren. Auf der anderen Seite muss bei der sehr hohen und steigenden Armutsgefährdung von Arbeitslosen berücksichtigt werden, dass infolge der rückläufigen Zahl der Arbeitslosen die Zahl der armen Arbeitslosen trotz steigender Quote sinkt. Daraus folgt aber auch, dass die überwiegende Mehrzahl der armutsgefährdeten Personen im Erwachsenenalter nicht arbeitslos ist. 7.4
Grundsicherung und Einkommensarmut
Einen anderen Zugang zur Bestimmung von Niveau und Struktur von in Armut lebenden Personen gewinnt man, wenn als Armutsschwelle nicht ein statistisch ermittelter relativer Einkommensstandard (Abweichung vom Median), sondern mit dem Standard der Grundsicherung eine (sozial)politische Armutsgrenze gewählt wird. Allerdings markiert auch das Grundsicherungsniveau eine relative, am allgemeinen Lebensstandard orientierte Größe. Armut – bezogen auf die Grundsicherung – liegt danach dann vor, wenn Personen mit einem Einkommen unterhalb des Bedarfsniveaus auskommen müssen. Dies betrifft in erster Linie diejenigen, die die Unterstützung durch die Grundsicherung
Armut in der Wohlstandsgesellschaft
293
nicht in Anspruch nehmen, obwohl sie aufgrund ihres geringen Einkommens ein Recht auf aufstockende Hilfe zum Lebensunterhalt hätten (Dunkelziffer der Armut). Umstritten ist die Frage, ob auch jene Personen als einkommensarm einzustufen sind, die Leistungen erhalten und deren Einkommen dadurch das Bedarfsniveau erreicht. Wird also durch die Grundsicherung Armut erfolgreich bekämpft ? Eine pauschale Gleichsetzung des Bezugs von Grundsicherung auf der einen und Armut auf der anderen Seite ist sicherlich unangemessen, da jede Erhöhung des Leistungsniveaus zu einer Erhöhung der Armut und eine Absenkung des Niveaus zu einer Absenkung der Armut führen würde. Denn je höher das Niveau der Grundsicherung bei gegebener Einkommensverteilung liegt, umso mehr Menschen unterschreiten mit ihrem Einkommen die Leistungsschwelle und werden anspruchsberechtigt. Entscheidend kommt es deswegen darauf an, ob die Höhe der Grundsicherung als ausreichend zur Sicherung eines soziokulturellen Existenzminimums angesehen werden kann oder nicht. Wiederum sind Werturteile erforderlich. Bei dieser Einschätzung muss auch beurteilt werden, ob die Umstände des Leistungsbezugs, nämlich strenge Bedürftigkeitsprüfungen, Rückgriff auf unterhaltsverpflichtete Angehörige und Gefahr von Stigmatisierungen, geeignet sind, um die Betroffenen im Selbstbild wie im Fremdbild aus einer Armutslage zu befreien. Vergleicht man das Bedarfsniveau der Grundsicherung mit dem Schwellenwert der relativen Armutsberechnung (Nettoäquivalenzeinkommen von weniger als 60 % des Median-Einkommens), so gibt es – immer bezogen auf gleiche Haushaltstypen – kein eindeutiges Ergebnis. Denn es gibt nicht „das“ Grundsicherungsniveau, sondern in Abhängigkeit von den Kosten der Unterkunft und möglichen Mehrbedarfen unterschiedliche Niveaus. Differenzierte Berechnungen zeigen allerdings, dass das Bedarfsniveau der Grundsicherung für Arbeitsuchende in den meisten Fällen unterhalb der Armutsrisikoschwelle liegt. Deshalb spricht vieles dafür, die Angewiesenheit auf Grundsicherungsleistungen als einen Indikator für Armutsrisiken zu verwenden. Da die Grundsicherungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit jeden Landkreis und jede kreisfreie Stadt erfasst, bietet sich hier auch die Möglichkeit, die Grundsicherungsbetroffenheit regional tief aufzuschlüsseln. Einen derartigen Einblick bietet Abbildung III.28, die am Beispiel einzelner Städte und Kreise die extreme Spannweite der Empfängerquoten von Leistungen des SGB II demonstriert. Offensichtlich sind die Städte Gelsenkirchen (24,9 %) und Ingolstadt (5,5 %) „durch Welten getrennt“. Das gleiche gilt beispielsweise für die Landkreise Uckermark (16,5 % und Eichstätt (1,5 %).
294
Einkommen
Abbildung III.28 Empfängerquoten von Leistungen des SGB II in ausgewählten Städten/Kreisen 2018, in % der Bevölkerung zwischen 0 Jahren und der Regelaltersgrenze Deutschland
8,9
Gelsenkirchen
24,9
Bremerhaven
22,9
Wilhelmshaven
20,0
Essen
20,0
Duisburg
18,7
Bremen
17,7
Berlin
17,5
Uckermark
16,5
Offenbach
16,2
Leipzig
13,6
Köln
13,0
Hamburg
12,3
Frankfurt a.M.
11,2
Nürnberg
10,3
Dresden
9,6
Wolfsburg
8,6
Jena
8,2
Münster
8,2
Stuttgart
8,0
München
6,0
Ingolstadt
5,3
Kreis Böblingen
4,3
Bodenseekreis
3,8
Kreis Bayreuth Kreis Freising Kreis Eichstätt
2,7 1,8 1,5
Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2019), Statistik der Grundsicherung für Arbeitsuchende.
7.5
Armutslagen in zeitlicher Dimension
Von entscheidender Bedeutung ist die zeitliche Dimension der Armut. Die Messung des zeitlichen Verlaufs, also der Dynamik von Armut, gibt Auskunft über die Chancen und Risiken, in Einkommensarmut abzurutschen bzw. diese Situation zu überwinden und in eine höhere Einkommensposition aufzusteigen. Ein kurzzeitiges Unterschreiten der Armutsgrenze kann leichter ertragen werden als ein mehrjähriger Verbleib in der untersten Einkommensposition. Daher müssen die Querschnittanalysen durch Längsschnittanalysen ergänzt werden. Längsschnittbetrachtungen lassen die individuellen Armutsverläufe, also die Einmündung in die Armut, die Dauer der Armut und die Wege aus der Armut heraus erkennen. Dieser Untersuchung der zeitlichen Dimension von Armut widmet sich vor allem die „dynamische Armutsforschung“. Folgende Ergebnisse, basierend auf den Daten des SOEP, lassen sich festhalten: •
Das Risiko im untersten Einkommenssegment (Quintil) zu verbleiben, hat sich in den zurückliegenden Jahren erhöht. Im oberen Einkommensbereich verringerten sich hingegen die Abstiegsrisiken und der Verbleib in den oberen Einkommens-
Armut in der Wohlstandsgesellschaft
•
•
295
schichten nahm zu. Insgesamt sind die Einkommensschichten weniger durchlässig geworden. Im Jahr 2014 waren 48 % aller Personen im untersten Einkommensquintil permanent arm, 40 % erlebten in den zurückliegenden vier Jahren Ein- und Ausstiege in und aus Armut und weitere 12 % befanden sich zuvor nicht im prekären Einkommensbereich. Das Risiko arm zu werden, streut bis weit in mittlere Einkommensschichten hinein. Dies bedeutet, dass sehr viel mehr Menschen in einem Zeitraum von mehreren Jahren zeitweilig von Armut betroffen sind, als dies in den jährlichen Quoten zum Ausdruck kommt. Zwar verringert sich mit zunehmender Höhe des Einkommens der Personenkreis mit Armutserfahrungen. Aber kurzfristige Armutserfahrungen reichen bis in die mittleren Einkommenslagen hinein. Der Anteil an Personen, die im zurückliegenden Zeitraum von vier Jahren mindestens einmal unter der Armutsgrenze lag, hat vor allem in den letzten Jahren stark zugenommen.
So vielfältig die Gründe für einen Zugang in eine Armutslage sind, so unterschiedlich gestalten sich die Bedingungen, die eine – zumindest kurzfristige – Überwindung der Armutslage ermöglichen. Neben den Ereignissen „Tod“ und „Abwanderung“ sind dafür die Faktoren „Arbeitsmarktintegration“, „Erzielung eines ausreichenden Erwerbseinkommens“, „Bezug ausreichender Sozialtransfers“, und „Veränderung der Haushaltskonstellation“ von entscheidender Bedeutung. Im Einzelnen lassen sich folgende Bedingungen, die zugleich auch Ansatzpunkte für die Armutsbekämpfung markieren, benennen. Sie sind nicht als Alternativen zu verstehen, sondern greifen ineinander: • Arbeitsmarktintegration Die Einkommensposition verbessert sich, wenn es gelingt, aus der Situation der Arbeitslosigkeit oder Nicht-Erwerbstätigkeit heraus (wieder) eine Arbeitsstelle zu finden bzw. an einer Beschäftigungsmaßnahme teilzunehmen und ein Erwerbseinkommen zu erzielen. Entscheidend ist, ob die Tätigkeit eine berufliche Perspektive bietet, Aufstiegswege eröffnet und damit zur sozialen Integration beiträgt oder lediglich eine diskriminierende Rand- und Abstellposition darstellt. • Erhöhung des Erwerbseinkommens Durch einen beruflichen Aufstieg, durch Verlängerung der Arbeitszeit (etwa durch den Übergang von einer Teilzeit- zu einer Vollzeitstelle oder durch die Leistung von Überstunden) oder durch die Aufnahme einer Nebenerwerbstätigkeit kann das Erwerbseinkommen aufgestockt werden. • Veränderung der Haushaltskonstellation Durch eine Vergrößerung des Haushaltes und den Zufluss eines weiteren Einkommens, etwa in Folge einer (Wieder)Heirat, kann das verfügbare Pro-KopfHaushaltseinkommen ansteigen. Mit zunehmendem Alter der Kinder können
296
Einkommen
Frauen ihre Erwerbstätigkeit wieder aufnehmen. Erleichtert wird dies durch ein bedarfsgerechtes Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen. Die Erscheinungsformen von Armutslagen sowie deren individuelle und gesellschaftliche Auswirkungen hängen maßgeblich sowohl von der zeitlichen Verlaufsform dieser Lebenssituation als auch von den Bewältigungsstrategien ab. Idealtypisch kann unterschieden werden: •
Schnelle Überwindung der Situation (temporäre Armut) Beispielhaft dafür ist die Situation eines Teils der Arbeitslosen, die zwar ein geringes Einkommen haben und auf aufstockende Leistungen der Grundsicherung angewiesen sind, aber die diese Phase vergleichsweise schnell verlassen, da der berufliche Wiedereinstieg gelingt. Vergleichbar ist die Situation von Jugendlichen, die während ihrer Ausbildung bzw. während ihres Studiums mit einem geringen Einkommen leben müssen, dann aber in den Arbeitsmarkt einmünden. • Unzureichendes Einkommen – aber aktive Gestaltung des eigenen Lebens auch unter eingeschränkten Bedingungen Als typisches Beispiel dafür können Alleinerziehende gelten, die die Armutszone erst verlassen, wenn die Kinder älter geworden sind und sich das Einkommen durch den Wiedereinstieg in den Beruf erhöht. In der Zwischenzeit müssen die Betroffenen zwar mit einer spürbaren Einkommens- und Ressourceneinschränkung leben, und ein Ausweg aus der Einkommensarmut gelingt ihnen wegen der objektiv unüberwindlichen Rahmenbedingungen zunächst nicht. Aber die Lebenslage ist nicht per se mit sozialer Desintegration und individueller Resignation gleichzusetzen, sondern die Einbindung in Netzwerke und die Unterstützung durch Freunde und Familie kann stabilisierend wirken. • Verfestigung von Armut Als besonders problematisch kann der verfestigte Verbleib in der Armut genannt werden. Bei diesem Kreis von Personen, die über Jahre hinweg keinen dauerhaften Ausweg aus der Armutslage finden, handelt es sich um sog. Multiproblemgruppen, bei denen sich Benachteiligungen kumulieren. Beispielhaft dafür steht die Situation von gering qualifizierten, gesundheitlich beeinträchtigten Langzeitarbeitslosen, denen es nur schwer gelingt, einen Kontakt zur Arbeitswelt finden, die unter schlechten Wohn- und Wohnumfeldbedingungen zu leiden haben und die Gefahr laufen politisch, kulturell und sozial isoliert zu werden. Zur reden ist hier von einer sozialen Unterschicht („Prekariat“), die sozial-strukturell wie auch sozial-räumlich ausgegrenzt ist. Diese unterschiedlichen Ausprägungen von Armut beziehen sich auf die divergenten Entstehungsbedingungen, auf die unterschiedlichen Lebens- und Bewältigungsformen der Situation in der Armut und auf die verschiedenen Möglichkeiten, die Situation zu beenden. Hinsichtlich der Bewältigungsformen und -strategien bleibt als
Armut in der Wohlstandsgesellschaft
297
Erkenntnis aus der Armutsforschung festzuhalten, dass die Betroffenen nicht als ausschließlich passive Opfer der eingeschränkten sozialen Verhältnisse und Bedingungen gesehen werden können. Auch Personen bzw. Familien, die als arm bezeichnet werden, verfügen über individuelle Handlungsressourcen und Fähigkeiten, die eigene Lebenssituation zu gestalten und zu verbessern. Der individuelle Handlungs- und Bewältigungsspielraum hängt von vielen Faktoren ab, so u. a. von der Verfügbarkeit über informelle familiäre, nachbarschaftliche und soziale Stütz- und Hilfenetze, von der empfundenen Einschränkung der Unterversorgung, von den wahrgenommenen und selbst vorgenommenen Schuldzuweisungen und von der erwarteten Dauer der Armutslage. Interventionsmaßnahmen der sozialen Arbeit und der Rahmen setzenden allgemeinen Sozialpolitik müssen die Vielgestaltigkeit von Armutslagen berücksichtigen, wenn sie erfolgreich sein sollen. Soziale Arbeit und allgemeine Sozialpolitik haben je nach Situation verschiedene, sich ergänzende Aufgabenfelder. Die Betroffenen in ihren Handlungsressourcen zu unterstützen, ein Abgleiten in Resignation und Apathie zu vermeiden, ist Aufgabe der sozialen Arbeit mit ihren dienstleistenden und pädagogischen Handlungsstrategien. Aufgabe der Sozialpolitik ist es, durch Einkommens-, Infrastruktur-, Qualifizierungs- und arbeitsmarktpolitische Strategien bessere Rahmenbedingungen zu setzen. Diese Rahmenbedingungen sind nicht nur für den Austritt aus der Armut entscheidend, sie haben vor allem eine präventive Funktion, um das Abrutschen immer neuer Personengruppen in Armut und Ausgrenzung zu verhindern. Einige der Betroffenen benötigen „nur“ bessere Möglichkeiten zur Erwerbsintegration und ein gesichertes Einkommen, während für andere Gruppen diese Maßnahmen zwar wichtig, aber keinesfalls ausreichend sind. Diese Bewältigungsstrategien müssen vor Ort ansetzen, in den sozial benachteiligten Stadtteilen und Wohngebieten. Zivilgesellschaftliche Hilfen haben hier ihre Bedeutung, sie können und sollen (sozial)staatliche Leistung allerdings nicht ersetzen. Die Praxis der Tafeln ist dafür das prominenteste Beispiel: Durch die kostenlose Verteilung von Lebensmitteln (die ansonsten vernichtet würden) an „Bedürftige“ können Armutslagen gelindert werden. Gleichwohl müssen die Regelbedarfe der Grundsicherung so hoch angesetzt werden, dass eine ausreichende und gesunde Ernährung gewährleistet ist. 7.6
Armut in Europa
Die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung zählt zu einem der zentralen sozialpolitischen Ziele, zu denen sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union verpflichtet haben. Im Rahmen der „Methode der offenen Koordinierung“ (vgl. Kapitel „Sozialpolitik und soziale Lage“, Pkt. 8) werden die jeweiligen nationalen Aktionspläne zur Armutsbekämpfung auf der Grundlage gemeinsamer Ziele und Indikatoren abgestimmt.
298
Einkommen
Die Indikatoren, an denen Zielerreichung bzw. -verfehlung gemessen werden können und die Anstöße für armutspolitische Strategien geben sollen, setzen sich aus einem breiten Spektrum von Verteilungsdaten zusammen. Diese werden für alle Länder von Eurostat auf der Datenbasis von EU-SILC (European Union Statistics on Income and Living Conditions) veröffentlicht und verglichen. Neben der Armutsgefährdungsquote als rein monetären Armutsindikator berücksichtigt der Indikator „Armut oder soziale Ausgrenzung“ zusätzlich zwei materielle Armutsgefährdungslagen: • Anteil der Personen, die in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung leben. • Anteil der Bevölkerung mit erheblicher materieller Entbehrung und Deprivation. Zu den Kriterien zählen u. a. Mietrückstände, unzureichende Heizung, das Fehlen von PKW, TV, Telefon, Waschmaschine. Armut oder soziale Ausgrenzung sind bei EU-SILC dann gegeben, wenn eines oder mehrere der drei Kriterien „Armutsgefährdung“, „erhebliche materielle Entbehrung“ bzw, „sehr geringe Erwerbsbeteiligung“ vorliegen. Der Grenzwert, dessen Unterschreitung die monetäre Armutsgefährdung signalisiert, wird bei 60 % des Medians der nationalen Einkommen angesetzt. Die Bedarfsgewichte richten sich nach der Skala 1,0 : 0,5 : 0,3 (Ernährer : weitere Personen mit 14 Jahren und mehr : Kinder unter 14 Jahren). Wie aus Abbildung III.29 zu erkennen ist, waren 16,9 % der EU-Bevölkerung im Jahr 2018 durch Einkommensarmut gefährdet. Das Ausmaß der Armut unterscheidet sich zwischen den Ländern der Union allerdings sehr stark; das Risiko reicht von 9,6 % in Finnland bis 23,5 % in Rumänien. Ordnet man die länderspezifischen Armutsquoten nach Wohlfahrtsstaatstypen, fällt auf, dass sich besonders hohe Betroffenheiten in den osteuropäischen Staaten aber auch in Südeuropa finden Auf der anderen Seite liegen die Armutsquoten in den Ländern des skandinavischen-sozialdemokratischen und auch des konservativen „Bismarck-Typs“ unterhalb des EU-Durchschnitts. Deutschland befindet sich am unteren Ende dieser Staaten. Die Werte des Indikators „Armut oder soziale Ausgrenzung“ liegen in allen Ländern noch oberhalb des rein monetären Indikators „Armutsgefährdung“. Sie erreichen 23,5 % in der EU-28 insgesamt und in Rumänien gar 35,7 %.
Reichtum: Spitzeneinkommen und Vermögen
299
Abbildung III.29 Armutsrisikoquoten in ausgewählten Ländern der EU 28, 2018 Tschechien
9,6
Finnland
12,0
Dänemark
12,7
Frankreich*
13,3
Niederlande
13,3
Deutschland
16,0
Schweden
16,4
EU 28*
16,9
Griechenland
18,5
Kroatien
19,3
Italien
20,3
Spanien
21,5
Bulgarien
22,0
Lettland
23,3
Rumänien
23,5 0
5
10
15
20
25
* 2017 Quelle: Eurostat (2019), Datenbasis: EU-SILC.
8
Reichtum: Spitzeneinkommen und Vermögen
Wer über ein sehr hohes Einkommen verfügt, ist kaum auf die Leistungen des Sozialstaates angewiesen. Auch hohe Vermögensbestände lindern soziale Probleme, die bei den Wechselfällen des Lebens auftreten können. Vermögen dient als Quelle für ein arbeitsfreies Einkommen, wenn den Inhabern der Vermögenstitel Zinsen, Dividenden oder Mieten zufließen. Sachvermögen hat einen Nutzungswert, und Wohneigentum ersetzt Mietzahlungen. Vermögen kann schließlich durch Verkauf verwertet und dem laufenden Konsum zugefügt werden. Der weit überwiegende Teil der Bevölkerung verfügt aber weder über ein Spitzeneinkommen noch über ein so hohes Vermögen, dass ein sorgen- und arbeitsfreies Leben möglich ist. Und wenn die Schulden überwiegen, errechnet sich sogar ein „Negativ“-Vermögen. Reichtum durch hohes Einkommen und Vermögen konzentriert sich auf wenige Menschen und Haushalte und ist insofern auch kein Thema, das in der Sozialpolitik Handlungsbedarf auslösen müsste. Allerdings stellt sich angesichts einer ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen immer die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit: Ist Armut Spiegelbild und Folge von Reichtum auf der anderen Seite ? Könnten oder sollten durch eine stär-
300
Einkommen
kere Besteuerung der reichen Personen und Haushalte Mittel für höhere öffentliche Einnahmen und für die Finanzierung von Sozialleistungen gewonnen werden ? Wie lässt sich die wirtschaftliche und politische Macht, die mit großen persönlichen Vermögen verbunden ist, begrenzen ? Einkommensreichtum Ab welchem Schwellenwert übersteigt ein hohes Einkommen die Grenze zum Reichtum ? Der Ansatz, Reichtumsquoten analog zu Armutsquoten zu berechnen und dafür das Überschreiten des Zweifachen des mittleren Einkommens (Median) anzusetzen, ist mittlerweile gängig, bleibt aber fragwürdig. Denn nach den Befunden des Mikrozensus würde hier das Nettoäquivalenzeinkommen für einen Einpersonenhaushalt nur bei etwa 3 200 Euro im Monat liegen, so dass wohl kaum von Reichtum gesprochen werden kann. Angemessen wäre eher der Begriff „gehobener Wohlstand“. Gleichwohl ist zu sehen, dass nur etwa 8 % der Bevölkerung in diese Gruppe fallen, darunter befinden sich überproportional häufig Menschen im mittleren Erwerbsalter und vor allem Selbstständige. Noch sehr viel kleiner ist dagegen der Kreis jener, deren jährliches verfügbares Einkommen im sechsstelligen Eurobereich liegt oder diesen Betrag noch übersteigt. Indes ist die Größenordnung der so definierten „Reichen“ aus den umfragebasierten Datenquellen nicht abbildbar, da die Betroffenen von der Stichprobe nur unzulänglich erfasst werden und weil darüber hinaus kaum korrekte Angaben erwartet werden können. Vermögensverteilung Die Kenntnis über Niveau und Verteilung der privaten Vermögensbestände ist äußerst unzureichend. Empirische Daten über die Vermögensverteilung sind noch lückenhafter, unzuverlässiger und in der Regel älter, als dies bei der Einkommensverteilung der Fall ist. Daten über die Verteilung des Produktiv- bzw. Betriebsvermögens auf Haushalte oder Personen liegen überhaupt nicht vor. Dies ist vor allem eine Folge des Umstands, dass es eine amtliche Vermögenserfassung nicht gibt und dass bei Haushaltsbefragungen die Frage nach den Vermögensbeständen eine äußerst sensible ist – auch hier sind Antwortverweigerungen oder Fehlangaben gängige Reaktionen. Vermögen ist dabei eine Art „geronnenes“ Einkommen, also eine Bestands- und keine Stromgröße. Zwischen beiden besteht ein wechselseitiger Zusammenhang: Wer viel verdient, ist einerseits in der Lage zu sparen und so Vermögen zu bilden. Andererseits führt Vermögen zu Erträgen. Zinsen, Mieten, Gewinne werden zu Einkommen. Das Vermögen der privaten Haushalte untergliedert sich nach folgenden Vermögensarten: • •
Gebrauchsvermögen, Geldvermögen,
Reichtum: Spitzeneinkommen und Vermögen
• •
301
Immobilienvermögen, Betriebsvermögen (Eigentum/Eigentumsanteile an Unternehmen, Aktien).
Auf der Grundlage der Daten aus dem Sozio-ökonomischen Panel ergibt sich für 2017, dass die Vermögensbestände in einem extremen Maße ungleich verteilt sind und sich auf wenige Personen konzentrieren (vgl. Abbildung III.30). Während die Personen in der unteren Hälfte der Verteilung nur über rund 1 % des gesamten Nettovermögens verfügen, finden sich in der Hand der vermögensstärksten 10 % der Personen mehr als die Hälfte des gesamten Nettovermögens (56,1 %). Auch bei einer Analyse der Vermögensverteilung auf der Ebene der Haushalte wiederholt sich das Bild (Abbildung III.30). Nach den Ergebnissen der Einkommenund Verbrauchsstichprobe (EVS) für das Jahr 2013 vereinigen die obersten 10 % der Haushalte 51,9 % % des gesamten Nettovermögens auf sich. Die unteren 50 % (Dezil 1 bis Dezil 5) aller Haushalte besaß demgegenüber nahezu kein Vermögen (Anteil von 0,9 %). Die unteren 10 % der Haushalte sind im Gegenteil durch Verschuldung belastet. Im Vergleich der zurückliegenden Jahre haben sich diese Disproportionen sogar noch verschärft.
Abbildung III.30 Verteilung der individuellen Nettovermögen 2017 und der Nettovermögen der Haushalte 2013, untergliedert nach Dezilen in % Nettovermögen der Personen 2017 (Datenbasis SOEP) 60 56,1
50 40 30 20 19,5
10 0
0 -10
0,2
0,7
1,7
3,8
7,2
12
-1,2
Nettovermögen der Haushalte 2013 (Datenbasis EVS)
60 50
51,9
40 30 20 10 0
-1,5
0
0,1
0,6
1,7
1
2
3
4
5
4,1 6
21,7 8,0 7
13,4 8
9
10
-10 Dezile
Quelle: Grabka, M., Halbmeier, Ch. (2019), Vermögensungleichheit in Deutschland, DIW-Wochenbericht 40/2019; Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2016), Fünfter Armuts- und Reichtumsbericht, S. 507.
302
Einkommen
Wenig überraschend ist der Befund, dass die Höhe des Vermögens eng von der Höhe des laufenden Haushaltseinkommens und vom Lebensalter abhängt. Da Vermögensbildung ein langfristiger Prozess im Lebensverlauf ist, ergeben sich Unterschiede schon allein durch die verschiedenen Positionen der Haushalte im Lebens- und Familienzyklus. Darüber hinaus verfügen Paare auf Grund ihres höheren Einkommens im Vergleich zu allein lebenden Personen über durchschnittlich höhere Vermögen, während Alleinerziehende ein geringeres Vermögen haben. Durch Erbschaften wird diese Ungleichverteilung nicht eingeebnet, sondern fortgesetzt, da der Sozial- und Einkommensstatus der erbenden Kinder nicht wesentlich von dem ihrer Eltern abweicht. Nach sozialen Gruppen betrachtet sind es insbesondere die Selbstständigenhaushalte, die hohe Vermögensbestände aufweisen. Und regional betrachtet, fallen die Vermögensbestände in den neuen Bundesländern erheblich niedriger aus als die in den alten Bundesländern. Nur in Bezug auf das Vermögen an Immobilien zeigt sich eine etwas gleichmäßigere Struktur: 2016 verfügte immerhin knapp die Hälfte der Haushalte (48,8 %) über Wohneigentum (Datenbasis SOEP). Berücksichtigt man allerdings den Wert der Immobilien (Verkehrswert), dann zeigt sich auch hier eine weit größere Spannweite. Es liegt zudem auf der Hand, dass einkommensschwache Haushalte (60 % des Median) mit 11,8 % nur selten Wohneigentum aufweisen. Bei hohem Einkommen (200 % des Median) sind es demgegenüber 77 %
9
Reformoptionen
Das System der sozialen Sicherung in Deutschland steht seit Jahren in der kritischen wissenschaftlichen und politischen Diskussion. Die Auseinandersetzung greift weit über Detailprobleme hinaus und bezieht sich auch auf die Grundsatzfragen, ob das bestehende System mit seinen Leistungs- und Gestaltungsprinzipien so wie bisher weitergeführt werden kann und sollte oder ob angesichts der tiefgreifenden ökonomischen, demografischen und sozialen Umbrüche Strukturreformen bis hin zu einer grundsätzlichen Revision erforderlich sind. Thematisiert wird zum einen die Leistungsfähigkeit der Sozialpolitik: Werden mit der gegenwärtigen Ausgestaltung des Systems die sozialpolitischen Ziele erreicht oder verfehlt und welche Veränderungen sind erforderlich ? Zum anderen wird die Debatte aber auch durch Finanzierungsüberlegungen bestimmt: Ist die gegenwärtige Sozialpolitik in Zukunft noch finanzierbar, haben bestimmte Finanzierungsformen positive oder negative gesamtwirtschaftliche Rückwirkungen und welche Finanzierungsalternativen bieten sich an (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 7.1) ? Diese beiden Diskussionsstränge, die in diesem Handbuch aus analytischen Gründen in den jeweiligen Kapiteln gesondert behandelt werden, lassen sich in der Realität aber nicht getrennt voneinander betrachten, denn eine bestimmte Sicherungsform verlangt auch nach einer bestimmten Finanzierungsform und umgekehrt. So
Reformoptionen
303
fundieren Sozialversicherungssysteme mit einkommensbezogenen Leistungs- bzw. Lohnersatzansprüchen zwingend auf einer ebenfalls einkommensbezogenen Beitragsfinanzierung. Ein ausschließlich steuerfinanzierter Sozialstaat wiederum führt auf der Leistungsseite zu Versorgungs- oder Fürsorgesystemen. Zugleich ist zu berücksichtigen, dass die Debatte über Alternativen nicht nur eine Frage der System- und Finanzierungsarchitektur ist, sondern ganz zentral auch von der Art und Gewichtung grundlegender sozialpolitischer Ziele bestimmt wird. So wird die Zielvorstellung „Bedarfsgerechtigkeit“ und „sozialer Ausgleich“ zu anderen Bewertungen des gegenwärtigen Systems und anderen Reformvorstellungen führen als die Zielvorstellung „Leistungsgerechtigkeit“ und „individuelle Freiheit“. Die Liste von Reformvorstellungen ist lang und beherrscht schon seit vielen Jahren die sozialpolitische Debatte. Am weitreichendsten ist sicherlich der Ansatz eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ (BGE), der auf kurz oder lang zu einem Totalumbau des gegenwärtigen Systems der sozialen Sicherung führen würde. Wenn im Folgenden die Auseinandersetzung um ein solches Konzept aufgegriffen wird, so soll nicht nur dessen ökonomisch-finanzielle Machbarkeit hinterfragt werden. Aufgrund des umfassenden Ansatzes bündeln sich hier die unterschiedlichen Wertvorstellungen und Leitbilder über die zukünftige Gestaltung des Sozialstaates, die auch in anderen sozialpolitischen Reformvorschlägen vertreten werden. Immer geht es um folgende Fragen: • Zusammenspiel von Markt, Staat und Gesellschaft, • Stellenwert von Erwerbsarbeit, • Ausgestaltung des Arbeitsmarktes in Richtung Regulierung oder Deregulierung, • Verhältnis von individueller Vorsorge und solidarischer Absicherung, • Gewichtung von Privatversicherung und Sozialversicherung, • Bedeutung von Leistungs-und Bedarfsgerechtigkeit. 9.1
Bedingungsloses Grundeinkommen
Die wissenschaftlichen wie politischen Modelle eines BGE sind in ihrer Zahl kaum überschaubar und jeweils unterschiedlich detailliert formuliert. Auffällig ist, dass die Vorschläge sehr unterschiedlichen politischen/theoretischen Lagern zuzuordnen sind. Das Spektrum reicht von sozialutopischen, emanzipatorischen und sich „links“ verstehenden Konzepten bis hin zu rein neoliberalen, marktradikalen Ansätzen. Gleichwohl lassen sich hinsichtlich des Grundgedankens Gemeinsamkeiten feststellen: Das BGE • versteht sich als eine pauschale Geldleistung, die allen Bürger:innen zusteht, • ist nach dem Individualprinzip ausgestaltet, • setzt keinerlei Bedingungen oder Gegenleistungen,
304
Einkommen
• wird unabhängig sowohl von der Höhe des Einkommens der Bürger:innen als auch von der Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme gezahlt, • führt damit zu einer grundsätzlichen Entkopplung von Erwerbsarbeit und Einkommen. Die Zielsetzungen eines solchen neuen Sozialstaatsmodells lassen sich zu folgenden vier Hauptpunkten zusammenfassen: •
Entschlackung des komplexen, hochgradig ausdifferenzierten und bürokratisierten Systems der sozialen Sicherung, insbesondere der fürsorgerechtlichen und einkommensgeprüften Systeme, durch eine einfache, repressionsfreie und administrativ unaufwändige Einkommensleistung, • Gewährleistung eines auskömmlich hohen, existenzsichernden Einkommens für alle, ohne die Verpflichtung zur Erwerbsarbeit, als ein allgemeines Bürgerrecht, das Freiheit und Individualität ermöglicht. Jeder soll und kann sein Leben selbst gestalten, ob mit oder ohne Erwerbsarbeit. • Vermeidung und Beseitigung von Armutslagen und von Problemen der Nicht-Inanspruchnahme (Dunkelziffer) bisheriger Sozialleistungen durch eine voraussetzungslose Zahlung des BGE an alle, • Befreiung von der Geißel ‚Arbeitslosigkeit‘ und dauerhafte Entlastung des Arbeitsmarktes durch die Funktion des Grundeinkommens als Alternative zur Erwerbsarbeit bzw. zur Vollzeitarbeit. Die Frage ist, ob diese Ziele mit dem BGE erreicht werden können. Entscheidend sind die Details. Denn erst die konkrete Ausgestaltung entscheidet darüber, wie ein BGE finanziert werden kann und wie es sich auf die Einkommens- und Lebenslage einzelner Bevölkerungsgruppen auswirkt. Diese Auswirkungen können sich – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – auf das gesamte Sozialsystem und auf angrenzende Bereiche erstrecken, so auf den Arbeitsmarkt, die Arbeitsverhältnisse, die öffentlichen Haushalte, die Entwicklung von Produktivität und Wachstum, und Anstoß zu einem grundsätzlichen Wechsel des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements geben. Bei Grundeinkommenskonzepten, die sich auf bestimmte Altersgruppen der Bevölkerung beschränken, handelt es sich im Wesentlichen um die Einführung einer Kindergrundsicherung (vgl. dazu Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 11) und die Bürgerrente (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 13). Im Folgenden geht es um zentrale Aspekte der umfassenden BGE-Modelle. Leistungshöhe Das Kriterium der Bedingungslosigkeit steht und fällt mit der Höhe des Leistungsanspruchs bei einem BGE. Es ist nämlich etwas grundsätzlich anderes, ob lediglich ein Minimalbetrag gezahlt wird, der das aktuelle Niveau der Grundsicherung noch deutlich unterschreitet oder ob die Leistung ausreichend hoch ist, um eine gleichbe-
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rechtigte Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Minimalbeträge sind typisch für Vorstellungen aus dem wirtschaftsliberalen Raum; sie führen im Ergebnis dazu, dass Erwerbstätigkeit unter allen Umständen notwendig wird. Die Menschen sind dadurch gehalten – nicht administrativ durch Zumutbarkeits- und Sanktionsregelungen, sondern durch den ökonomischen Zwang – hinzuzuverdienen, um das sozial-kulturelle Existenzminimum zu erreichen. Von diesen marktradikalen Vorstellungen eines residualen Sozialstaats unterscheiden sich die „emanzipatorischen“ Konzepte eines BGE grundlegend, wollen diese doch den Zwang zur Lohnarbeit abschaffen und selbstbestimmte Arbeits- und Lebensformen möglich machen. Das setzt einen hohen Leistungsbetrag voraus. Grundlegend ist, dass es sich hierbei um einen kopfbezogenen Pauschalbetrag (mit wenigen Ausnahmen) handeln soll, der dann die bisherigen einkommensabhängigen Transfers und das Kindergeld ablöst. Um Verschlechterungen gegenüber dem aktuellen Niveau der Grundsicherung zu vermeiden, müsste diese Pauschale, die ja nicht nach der Haushaltszusammensetzung und den tatsächlichen Wohnkosten unterscheidet, jeden Einzelfall abdecken. Es kommt hierbei vor allem auf die Kosten der Unterkunft an. In Gebieten mit einem sehr hohen Niveau der Unterkunftskosten kann deshalb der Gesamtbedarf für einen Ein-Personen-Haushalt – einschließlich möglicher Sonder- und Mehrbedarfe (für Allerziehende oder Menschen mit Behinderungen) durchaus den Betrag von 1 100 Euro im Monat erreichen. Kosten und Gegenfinanzierung Wie hoch im Einzelnen der Leistungsbetrag eines BGE auch immer festgesetzt wird – es geht kein Weg daran vorbei, dass ein solcher, der gesamten Bevölkerung zufließender Pauschalbetrag ungeheuer kostenintensiv ist. Bei einer Bevölkerungszahl von etwa 82,7 Millionen (2018) errechnet sich bei einer Leistung von 1 100 Euro ein Ausgabevolumen von rund 1 Billion Euro. Wenn man den reduzierten Betrag von 550 Euro von Kindern unterhalb des vollendeten Alters von 16 Jahren (rund 11,5 Mio. Personen) herausrechnet, sind es immer noch gut 850 Mrd. Euro. Um diese Dimensionen bewerten zu können: Das Volkseinkommen, das nach der Systematik der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung als Verteilungssumme zur Verfügung steht, erreicht einen Wert von etwa 2,5 Billionen Euro. Die Summe aller Sozialausgaben (Sozialbudget) beziffert sich auf 1 Billion Euro. In den Finanzierungsrechnungen eines BGE wird in der Regel davon ausgegangen, dass damit die Förder- und Fürsorgesysteme wie Arbeitslosengeld II, Sozialgeld, Kinderzuschlag, Sozialhilfe, Eingliederungshilfe, Teilhabeleistungen, Wohngeld, Kindergeld, Ausbildungsförderung, Elterngeld und Unterhaltsvorschuss zu einer einzelnen Leistung zusammengefasst werden können. Damit könnten rund 180 Mrd. Euro eingespart werden (vgl. Kapitel Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 2.1). Vernachlässigt wird bei dieser Berechnung, dass sich die Förder- und Fürsorgesysteme keineswegs auf die Zahlung von Geldleistungen beschränken. Denn so wichtig ein ausreichend hohes Einkommen auch ist, zur Vermeidung von Armut und sozia-
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ler Ausgrenzung sowie zur Sicherstellung von sozialer Teilhabe, gesellschaftlicher Integration und Inklusion bedarf es mehr als die Zahlung von Geldbeträgen. Deswegen spielen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, der Sozialhilfe, der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der Rehabilitation und Teilhabe der Menschen mit Behinderung die Angebote an sozialen Dienstleistungen und Einrichtungen eine zentrale Rolle. Erforderlich ist ein breites, auf unterschiedliche Lebenslagen und -phasen abgestelltes Spektrum von Förderung, Beratung, Unterstützung, Vermittlung, Betreuung, Erziehung und Bildung. Kritik an der Ausrichtung des SGB II ist es ja gerade, dass die im Kontext des Ansatzes von Fördern und Fordern praktizierte Politik die Förderelemente vernachlässigt. Das betrifft nicht nur die arbeitsmarktpolitischen Leistungen (Vermittlung, Beratung, Qualifizierung), sondern gleichermaßen auch die kommunalen Eingliederungsleistungen wie Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen, Sucht- und Schuldnerberatung, psychosoziale Betreuung. Wenn das Gesamtangebot von sozialen Diensten und Einrichtungen aufrecht erhalten werden soll, dann stehen die Sach- und Dienstleistungen der Sozialhilfe, der Kinder- und Jugendhilfe und die Eingliederungsleistungen der Grundsicherung nicht zur Gegenfinanzierung zur Verfügung. Der Einsparbetrag durch ein BGE würde sich – grob gerechnet – auf rund 90 Mrd. Euro reduzieren. Abbau der Sozialversicherung ? Angesichts der finanziellen Dimensionen gehen die neoliberalen Modelle nicht nur von deutlich niedrigeren Leistungssätzen aus. Hinzu kommt die Vorstellung, dass mit der Zahlung eines pauschalen Geldbetrages auch das Sicherungsnetz der Sozialversicherung deutlich reduziert oder gänzlich ersetzt werden kann. Vorgeschlagen wird, die Leistungen auf ein Mindest- oder Basisniveau zu senken, um durch Ausgabensenkungen die Finanzierung zu erleichtern und gleichzeitig den Angeboten der Privatversicherungen einen größeren Raum zu geben. Die Betroffenen sollen sich privat absichern (in der Kranken- und Pflegeversicherung mit einer einkommensunabhängigen Kopfpauschale), was zu enormen Mehrbelastungen gerade im unteren Einkommensbereich führen und den Wert eines BGE deutlich mindern würde. Zugleich soll der Sektor der Erwerbsarbeit dereguliert werden, denn – so die Argumentation – Einkommensausfälle bei Krankheit, Niedriglöhne, ungünstige Arbeitsbedingungen und -verhältnisse und selbst Kündigungen und Arbeitsplatzverlust verlieren ihren Schrecken, da das Grundeinkommen immer für eine Absicherung sorgt. Einkommensanrechnung durch Besteuerung Das BGE soll unabhängig von einer Einkommensprüfung an alle Bürger:innen ausgezahlt werden. Auch jene erhalten damit eine staatliche Zuwendung, die aufgrund ihres Erwerbseinkommens (Einkommen aus abhängiger Tätigkeit, aus Gewinnen und Vermögen) diese Zahlung überhaupt nicht brauchen. Da sich das zur Verteilung stehende reale Volkseinkommen nicht plötzlich durch ein BGE um 850 Mrd.
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bis 1 Billion Euro erhöht (oder ein Inflationsschub ausgelöst wird), muss der Rest aus dem Steuersystem aufgebracht werden. Das gesamte Steueraufkommen liegt aber (2017) „nur“ bei 735 Mrd. Euro und muss für die Ausgaben des Staates (Bund, Länder und Gemeinden) insgesamt – also für Bildung, Wissenschaft, Forschung, innere und äußere Sicherheit, Verwaltung und Personal, Infrastruktur, Verkehr, Umwelt, Zuschüsse an die Sozialversicherungsträger usw. – eingesetzt werden und steht damit nicht zur Verfügung. Deshalb ist es zwingend erforderlich, noch zusätzlich ein weitaus höheres Steueraufkommen zu erzielen. Bezieht man sich nicht auf die Umsatzsteuer und spezielle Verbrauchsteuern, die ja auf die Preise abgewälzt werden und zu entsprechenden Kaufkraftverlusten führen, sondern auf die Steuern vom Einkommen (Aufkommen 2017: 330 Mrd. Euro), müssten die Steuersätze, die dann jenseits des BGE einsetzen, drastisch angehoben werden, um Zusatzeinnahmen in der erforderlichen Größenordnung zu erzielen. Hinzu kämen dann noch die Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung (20 % des Bruttoeinkommens). Diejenigen, die über ein Erwerbseinkommen verfügen, würden zwar das BGE erhalten, müssten aber sofort sehr hohe Steuern abführen. Es kommt also zu einem enormen Umverteilungsvorgang in den oben skizzierten Größenordnungen. Vermeiden ließe sich dieser Effekt, wenn die Einkommensanrechnung im Sinne einer negativen Einkommensteuer bereits vor der Zahlung des BGE erfolgt. Das BGE fließt danach, in Form einer Negativsteuer vom Finanzamt ausgezahlt, nur jenen zu, deren Gesamteinkommen sich im unteren Bereich befindet, während mit steigendem Einkommen die Zuwendungen auslaufen und oberhalb eines Schwellenwerts dann Steuern an das Finanzamt gezahlt werden müssten. Die Größenordnung des Kreises der Nettoempfänger:innen einerseits und der Nettozahler andererseits hängt von der Höhe des Steuersatzes, der Höhe des BGE und dem Wegfall von anderen Sozialleistungen ab. Je niedriger der Steuersatz (einen Grundfreibetrag wird es logischerweise nicht mehr geben), umso mehr weitet sich der Kreis der Personen aus, die noch eine Aufstockung bzw. Erhöhung ihres Einkommens erhalten. Bei einem pauschalen Steuersatz von beispielsweise 50 % und einem BGE in Höhe von 1 000 Euro würde der Kreis der Nettoempfänger:innen bis zu einem Monatseinkommen von 2 000 Euro reichen. Das macht es im Unterschied zum gegenwärtigen Erwerbstätigenfreibetrag im SGB II zwar attraktiv, zum BGE noch hinzuzuverdienen, aber das Einnahmevolumen bleibt entsprechend niedrig und reicht keineswegs um die Kosten der BGE zu decken. Je stärker aber das zusätzliche Einkommen weggesteuert wird, d. h. je höher die sog. Entzugsrate ausfällt, desto weniger lohnt es sich hinzuzuverdienen. Es wäre dann attraktiver, nicht oder nur für eine begrenzte Stundenzahl zu arbeiten oder auf Schwarzarbeit auszuweichen. Solange es trotz des BGE noch die Sozialversicherung gibt, müssten neben den Steuern ja auch noch die Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden, mit der Folge einer weiteren Erhöhung der Entzugsrate. Offen bleibt dabei, ob die Beitragseinnahmen, die sich dann ja nur auf das Einkommen oberhalb
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des BGE beziehen, überhaupt ausreichen, um die laufenden Ausgaben der Sozialversicherung zu decken. Im Ergebnis zeigt sich, dass von „Bedingungslosigkeit“ im Sinne von Einkommensunabhängigkeit keine Rede sein kann. Es wird nicht jede und jeder begünstigt, sondern es kommt zu einer massiven Umverteilung des Volkseinkommens, bei der je nach steuerpolitischer Ausgestaltung im Einzelnen zu prüfen ist, wer zu den Nettoempfänger:innen und wer zu den Nettozahler:innen gehört. Angesichts der Dimensionen des Finanzierungsbedarfs ist es aber unvermeidbar, dass bereits ab der unteren Mitte der Erwerbseinkommenspyramide die Belastungen überwiegen. Befreiung von Erwerbsarbeit ? Das Prinzip der Bedingungslosigkeit eines hohen, emanzipatorischen BGE soll zu einer völligen Unabhängigkeit des Leistungsanspruchs und -bezugs von der Erwerbsbereitschaft führen. Das bisher für den Sozialstaat leitende Prinzip, dass vorausgesetzt bzw. finanziell honoriert wird, den Lebensunterhalt durch eine Erwerbstätigkeit erwirtschaften und dass erst dann, wenn dies nicht (mehr) möglich oder zumutbar ist, Anspruch auf Sozialleistungen besteht, wird gleichsam umgedreht. Arbeiten im niedrigen Stundenbereich und auch das „Nichtstun“ gelten vielmehr als wünschenswerte Norm, die dazu beitragen soll, das Arbeitsangebot auf dem Arbeitsmarkt zu begrenzen und Arbeitslosigkeit zu vermeiden oder zu bekämpfen. Wie groß der Personenkreis der Menschen sein wird, die nur vom BGE leben und sich vom Arbeitsmarkt (temporär oder dauerhaft, partiell oder vollständig) zurückziehen oder ihre Arbeitszeit stark einschränken, ist schwer einzuschätzen. Allerdings steht und fällt die Durchsetzbarkeit der Vorstellungen damit, dass die Alternative „Grundeinkommensbezug statt Erwerbstätigkeit“ in der Realität nicht oder nur sehr begrenzt greift. Denn der Ausstieg nicht nur einer Minderheit aus der Erwerbsarbeit stellt die Finanzierbarkeit des (Sozial)Staats vor unlösbare Probleme. Je höher das BGE ausfällt und je attraktiver es als Alternative zur Erwerbstätigkeit ist, desto stärker werden bei einer Gegenfinanzierung die Belastungen bei denjenigen ausfallen, die als Erwerbstätige und Bezieher von Erwerbseinkommen über Steuern zur Finanzierung des BGE herangezogen werden. Die Nettoeinkommen geraten unter einen zunehmenden Druck und die Aufnahme von Erwerbsarbeit wird sich für einen wachsenden Kreis von Beschäftigten kaum noch rechnen, was wiederum den Rückzug aus dem Arbeitsmarkt verstärken würde. Da aber – trotz aller Produktivitätsfortschritte – Erwerbsarbeit notwendig ist und bleibt, um eine hohe Wertschöpfung zu erreichen, das gesellschaftliche Wohlstandsniveau zu sichern sowie die Finanzierung des Sozialstaates (respektive des BGE) zu ermöglichen, begrenzt ein solcher Selbstverstärkungseffekt alle Ideen einer prinzipiellen Entkoppelung von Erwerbsarbeit und Einkommen. Aus ökonomischer Sicht gilt, dass sich Erwerbsarbeit und Einkommen gesamtwirtschaftlich nicht trennen lassen. Einkommen (Löhne wie Gewinn- und Vermögenseinkünfte) entstehen immer in der Phase der Erstellung und Verteilung des Sozialprodukts. Personen, die per
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Umverteilung staatliche Transfers erhalten und sich davon Güter und Dienstleistungen kaufen, leben von der Arbeit der anderen. Auf der individuellen Ebene ist dieser Abkopplungs- und Umverteilungsprozess möglich und notwendig; er ist die Voraussetzung eines jeden Sozialleistungssystems. Diese individuelle Entkopplung von Erwerbsarbeit und Einkommen wird dabei jedoch auf gesellschaftlich anerkannte, als schützenswert erachtete Risiken, Tatbestände und Bedarfslagen (Arbeitslosigkeit, fehlende Erwerbsfähigkeit, Krankheit, Alter, Erwerbsminderung, Elternzeit) beschränkt, wobei sich die sozialpolitischen Kontroversen auf die Frage nach dem sachlichen, personellen und zeitlichen Umfang dieser Lösung von Einkommen und Erwerbsarbeit und nach der Höhe der Leistungsansprüche konzentrieren. Ein umverteilender Sozialstaat wird nur solange akzeptiert und finanziert, wie auch Gegenleistungen eingefordert werden können und der Grundsatz der Solidarität in beide Richtungen weist. Die Solidarität der Zahlenden ist keineswegs selbstverständlich, sondern ein „knappes Gut“. Die Zahlungsbereitschaft hängt zentral vo