Soziales Medium Brief: Sharen, Liken, Retweeten im 18. und 19. Jahrhundert 9783534407446, 9783534407453, 353440744X

WhatsApp mit Ludwig Tieck? Instapoetry by Elisa von der Recke? Blind Copy an Jean Paul?Gruppenchats, emoticons, hashtags

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Soziales Medium Brief: Sharen, Liken, Retweeten im 18. und 19. Jahrhundert
 9783534407446, 9783534407453, 353440744X

Table of contents :
Cover
Copyright Page
Inhalt
Geleitwort
Einführung oder papierne Chats
Copy & paste
Briefe und poetische Episteln als Instapoetry der Au lärungszeit?
Die „löbliche Sitte des Apostolischen Briefumlaufs“
Liebesbriefe in sozialen Netzen des 19. und 21. Jahrhunderts
„Sei vorsichtig mit diesem Briefe […]. Es ist ein Privatbrief.“
‚Plötzlichkeit‘ und ‚Latenz‘
Von Hand zu Hand über Zeit und Raum
Codierte Nähe
Siehe Anlage
Der Körper im sozialen Medium Brief
Säkulare Konfessionen
„Halte kün ighin meine Briefe hübsch in Ordnung“
Historische Korrespondenzen und Social Media Analytics
CC (Carbon Copy), BCC (Blind Carbon Copy) und DC (Data Compression)
Private und ö entliche Kommunikationsstrategien in den Korrespondenzen und Briefen von Ferdinand Gregorovius
Netzwerken und Selbstinszenierung um 1900
Autorinnen und Autoren

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Der vorliegende Band ist im Rahmen der digitalen Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften entstanden. Die Edition macht Briefe von rund zweihundert Personen aus dem Umfeld Jean Pauls nicht nur erstmals zugänglich, sondern präsentiert sie durch digitale Modellierung in ihrer Vielstimmigkeit, Multipolarität und Netzwerkdynamik.

www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40744-6

Soziales Medium Brief

WhatsApp mit Ludwig Tieck? Instapoetry by Elisa von der Recke? Blind Copy an Jean Paul? Gruppenchats, emoticons, hashtags, copy & paste, Social Media Analytics... Auf den ersten Blick scheint die Briefkultur des 18. und 19. Jahrhunderts Welten entfernt von der digitalen Kommunikation in den Social Media der Gegenwart. Und doch begegnen uns in 200 Jahre alten Briefen interaktive Phänomene, die integraler Bestandteil der Neuen Medien sind, weil sie den gleichen Kommunikationsbedürfnissen entspringen.

Markus Bernauer Selma Jahnke Frederike Neuber Michael Rölcke (Hrsg.)

Soziales Medium Brief Sharen, Liken, Retweeten im 18. und 19. Jahrhundert Neue Perspektiven auf die Briefkultur

Markus Bernauer, Selma Jahnke, Frederike Neuber und Michael Rölcke (Hrsg.) Soziales Medium Brief

Soziales Medium Brief Sharen, Liken, Retweeten im 18. und 19. Jahrhundert Neue Perspektiven auf die Briefkultur

Für die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften herausgegeben durch Markus Bernauer, Selma Jahnke, Frederike Neuber und Michael Rölcke

Die in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 26. Juni 2021 veranstaltete Tagung und der vorliegende Tagungsband wurden ermöglicht durch die ­Deutsche Forschungsgemeinschaft.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2023 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Umschlagsabbildung: Brief von Johanne Karoline Wilhelmine Spazier an Karoline Richter vom 3. August 1811, Goethe-Museum Düsseldorf, Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung; Signatur: Falk-Nachlass Satz und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40744-6 Elektronisch ist folgende Ausgabe erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-40745-3

Inhalt Norbert Miller Geleitwort .............................................................................................................................................. 9 Markus Bernauer Einführung oder papierne Chats ................................................................................................... 11 Erwin Kreim Copy & paste ....................................................................................................................................... 27 Sharen – Liken – Retweeten – Bloggen im 15. bis 17. Jahrhundert Valérie Leyh Briefe und poetische Episteln als Instapoetry der Aufklärungszeit? ..................................... 37 Elisa von der Reckes Briefwechsel mit Johann Wilhelm Ludwig Gleim und dem Halberstädter Freundeskreis Rotraut Fischer Die „löbliche Sitte des Apostolischen Briefumlaufs“ ................................................................ 55 Mehrfachadressierung und erweiterte Lektüre im Netzwerk der Marburger Romantiker Mit einem Blick auf digitale Kommunikationsformen Canan Hastik, Andrea Rapp, Eva Lia Wyss Liebesbriefe in sozialen Netzen des 19. und 21. Jahrhunderts ................................................. 69 Michael Rölcke „Sei vorsichtig mit diesem Briefe […]. Es ist ein Privatbrief.“ ................................................. 91 Copy & paste in Heinrich Voß’ Berichten über Jean Pauls Besuche in Heidelberg Jochen Strobel ‚Plötzlichkeit‘ und ‚Latenz‘ ............................................................................................................ 113 Eigenzeiten des Epistolaren in Ludwig Tiecks Korrespondenz und im Instant Messaging

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Cornelia Ortlieb Von Hand zu Hand über Zeit und Raum .................................................................................... 131 Billett-Gaben, soziale Maskenspiele und Briefe aus dem Himmel bei Jean Paul und Benedikt David Arnstein, mit Ausblicken zu Goethe und Mallarmé Sophia Victoria Krebs Codierte Nähe ................................................................................................................................... 155 Von Codes, Blumen und Bildern in Privatnachrichten des 19. und 21. Jahrhunderts Cosima Jungk, Tim Porzer Siehe Anlage ...................................................................................................................................... 171 Zur Funktion von Beigaben zu Briefen und von Attachments an E-Mails am Beispiel der Briefe Friedrich und Dorothea Schlegels Selma Jahnke Der Körper im sozialen Medium Brief ....................................................................................... 189 Arten und Funktionen der Thematisierung von Körper und Krankheit in Briefen aus dem Umfeld des Dichters Jean Paul Roman Lach Säkulare Konfessionen ................................................................................................................... 211 Brautbriefe um 1830 Ursula Caflisch-Schnetzler „Halte künftighin meine Briefe hübsch in Ordnung“ ............................................................. 233 Darstellung von Netzwerken in einer digitalen Edition Frederike Neuber Historische Korrespondenzen und Social Media Analytics ................................................. 247 Eine experimentelle Analyse der Briefe aus Jean Pauls Umfeld Andrea Hübener, Jörg Paulus CC (Carbon Copy), BCC (Blind Carbon Copy) und DC (Data Compression) ................. 269 Vervielfältigen, Verbergen und Verdichten von Bild und Schrift in Briefen des 18. und 19. Jahrhunderts

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Angela Steinsiek Private und öffentliche Kommunikationsstrategien in den Korrespondenzen und Briefen von Ferdinand Gregorovius ................................................. 293 Julia Nantke, Sandra Bläß Netzwerken und Selbstinszenierung um 1900 .......................................................................... 311 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Brief- und Social Media-Kultur Autorinnen und Autoren ............................................................................................................... 329

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Geleitwort Norbert Miller

Die Veranstaltung „Soziales Medium Brief. Sharen, Liken, Retweeten im 18. und 19. Jahrhundert. Neue Perspektiven auf die Briefkultur“ fand im Einsteinsaal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften im Juni 2021 den Corona-Umständen entsprechend vor nur wenigen Gästen statt. Umso glücklicher ist das Team aus diesem Forschungsprojekt jetzt, dass die Beiträge nicht nur im Netz, sondern auch als Buch erscheinen können. Dazu sind wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die uns diese Tagung und den vorliegenden Band ermöglicht hat, zu besonderem Dank verpflichtet. Die Vortragsreihe beschäftigt sich mit den oft weit zurückreichenden Entstehungen kultureller Netzwerke während der Aufklärung und deren Nachwirkungen oder Umbildungen bis in die Gegenwart. Neben stilistischen Besonderheiten und zeremoniellen, aber oft vielsagenden Briefformeln gilt das Augenmerk der Wissenschaftler auch den technischen Prozessen der Brief- und Textherstellung, wie sie sich bis zum jetzigen Zustand eben des Sharen, Liken und Retweeten entwickelt haben. Dass die Briefkultur vor der digitalen Zeitenwende einen völlig anderen Einfluss auf die Gesellschaft hatte als die sachliche Stichwort-Nachricht der E-Mails oder die Schwarm-Äußerungen der sozialen Netzwerke à la Facebook, ist offensichtlich. Durch die heutigen Möglichkeiten, die frühere Briefkultur zu überschauen und zu vernetzen, kann man erst jetzt ermessen, wie kompliziert und raffiniert ihre Wirkung schon immer eingesetzt wurde. Wieder einmal möchte ich an dieser Stelle an Eduard Berend erinnern, den großen Herausgeber der Werke und Briefe Jean Pauls, der schon vor vielen Jahrzehnten in den mustergültigen Kommentaren und Deutungen zu den Briefbänden seiner Ausgabe – noch ohne die heutigen Hilfsmittel und Ressourcen – das riesige Umfeld des Dichters so erforscht hat, dass unser heutiges Bild vom Autor und seiner Epoche immer noch durch ihn geprägt ist. Fast jede Begegnung der Zeitgenossen mit Jean Paul hinterließ bei seinen Besuchern, die sich oft die Klinke in die Hand gaben, eine geradezu liebevolle Begeisterung. Und diese Begeisterung für den Autor wie für den Menschen Jean Paul, je nach Temperament und Begabung unterschiedlich ins Wort gefasst, übertrug sich auf die Adressaten, auf den Mondhof der Zeitgenossen und auch auf den heutigen Leser. Gerade im Zeichen des „Sharen, Liken und Retweeten“ wird deutlich, welche 9

Norbert Miller

Tiefe und prägende Macht die Unmittelbarkeit eines handgeschriebenen Briefes ausstrahlen. Wie wirksam und einmal darf ich es sagen: wie nachhaltig solche Begegnung im Brief sein kann, wie tief jeder Gedanke und jede flüchtig angerührte Saite des Empfindens nachhallt! Als der Arzt Ludwig Wolff den von ihm verehrten Jean Paul besuchte, berichtet er im Brief an seine Freunde: „Diesen Tag streiche ich als einen der schönsten meines Lebens im Kalender an. Ich habe Jean Paul persönlich kennen gelernt, habe den Wunsch vieler Jahre in einer mehr als stundenlangen herzlichen Unterhaltung mit ihm in Erfüllung gehen sehen.“ Einen Monat danach weilte der Dichter nicht mehr unter den Lebenden.

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Einführung oder papierne Chats Markus Bernauer

The Purloined Letter ist der Titel einer Erzählung von Edgar Allan Poe aus dem Jahre 1844. Der Protagonist C. Auguste Dupin, der schon in zwei älteren Geschichten Poes vorkommt und die Urform des literarischen Detektivs ist, muss in Paris einen heiklen Fall lösen: Ein machtgieriger Minister hat einer Dame der allhöchsten Kreise – aus dem Zusammenhang erschließt man: der Königin – einen kompromittierenden Brief entwendet. Die Polizei findet ihn nicht in der Wohnung des Ministers und der trägt den Brief auch nicht auf sich. Dupin, an den sich der verzweifelte Präfekt wendet, findet schnell die Lösung: Bei einem Besuch in der Wohnung des Ministers sieht er in einem schäbigen Kartenhalter aus Pappe, der an einem blauen Band vom Kamin hängt („upon a trumpery fillagree card-rack of pasteboard, that hung dangling by a dirty blue ribbon, from a little brass knob just beneath the middle of the mantel-piece“1), einen schmuddeligen Brief, in dem er das umgestülpte und angeschmutzte Schreiben an die Königin erkennt und später unbemerkt entwendet. Poes Detektiverzählung hat bis zum französischen Poststrukturalismus nachgewirkt und spielte in der Theoriebildung bei Jacques Lacan eine wichtige Rolle.2 Aber uns interessiert hier ein G e g e n s t a n d der Erzählung, eben der besagte schäbige Kartenhalter: Schäbig ist er, weil er viel benutzt wurde, man bewahrte darin Briefe auf, die persönlich gewesen sein mochten, aber nicht wirklich vertraulich (oder vom Empfänger nicht so eingeschätzt wurden). Wer zu Besuch kam, konnte sich die Briefe greifen, ohne sich indiskret zu verhalten; und wenn in Poes Geschichte Visitenkarten neben dem intensiv gesuchten Objekt liegen, so entspricht dieser Kartenhalter in seiner Funktion dem Spiegel, an oder hinter den noch unsere Eltern manchmal Postkarten von Reisen steckten, um zu zeigen, wie weit es ihre Freunde oder Verwandten 1

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Edgar Allan Poe, The Complete Works, Virginia Edition, Vol. 6: Prose Tales Vol. 5, New York 1902 (Reprint 1965), S. 49. Vgl. Jacques Lacan, Le séminaire sur „La Lettre volée“, in: Écrits 1, Paris 1966, S.  19–75, dt. Das Seminar über E. A. Poes „Der entwendete Brief“, in: Schriften I, Norbert Haas (Hrsg.), Olten, Freiburg  i.  Br. 1973, S.  7–60. Über die Diskussion zwischen Lacan und Jacques Derrida vgl. Servanne Woodward, Lacan and Derrida on „The Purloined Letter“, in: Comparative Literature Studies, Bd. 26, 1, 1989, S. 39–49.

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Markus Bernauer

geschafft hatten: Auch sie waren semiöffentlich, zur Lektüre für Besucher zugänglich. Der Minister in The Purloined Letter verbarg also sein kostbares Dokument, indem er es öffentlich aufbewahrte, was nur erfolgreich war, weil die Spürhunde sich nicht vorzustellen vermochten, dass etwas ganz Wichtiges direkt vor ihren Augen liegen könnte und daher wegschauten. Der Kartenhalter ist ein interessantes Objekt: Wenn er hier dem Verbergen in aller Öffentlichkeit dient, so zeugt er zugleich von einer Briefkultur, die zwar die Vertraulichkeit kannte, aber diese Vertraulichkeit auf bestimmte Genres (etwa die diplomatische oder die amouröse Post, Dupin sucht zunächst mit den Augen den Schreibtisch des Ministers ab, wo Vertrauliches zu liegen scheint) oder einzelne Mitteilungen einhegte. Was in Briefen ausgetauscht wurde, war in der Regel solange semiöffentlich, d. h. Mitgliedern der Familie, Freunden und selbst Besuchern zugänglich, bis man in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anfing, den Wert der Privatheit über alles andere zu schätzen, und aufhörte, vertrauliche Briefe vorzulesen oder herumzureichen. Martin Stuber, Stefan Hächler und Luc Lienhard weisen in den Studia Halleriana darauf hin, dass die Scheidung zwischen öffentlich und privat nicht so ohne Weiteres auf die „frühe Neuzeit“ übertragen werden dürfe: So scheint [Albrecht von] Hallers familiärer Briefwechsel gerade dadurch gekennzeichnet, dass er sich nicht auf den intimen Dialog zwischen zwei Einzelpersonen beschränkt. Oft werden die Briefe nicht nur vom Adressaten, sondern auch von weiteren Verwandten, Freunden und in Einzelfällen sogar von der ‚ganzen‘ Stadt gelesen.3

Albrecht von Haller ist 1708 geboren und starb 1777, zwei Jahre nach Goethes Dienstantritt in Weimar; die hier beschriebene Briefpraxis ist im Zeitalter der Weimarer Klassiker und der Romantiker gang und gäbe. Zu Lebzeiten Hallers verändert sich der Charakter der Briefkultur, aus dem Medium für den gelehrten Austausch wird eines der bürgerlichen Kommunikation. Spätestens ab der Mitte des 18. Jahrhunderts kommen Briefe in Mode, und zwar Briefe, die Botschaften des Herzens übermitteln und dazu eine Sprache des Herzens (mit-)entwickeln (oder, so würde man mit sprachskeptischem Blick sagen, was man dafür hält). Die Briefkultur wird literarisch dominant, die ‚Sprache des Herzens‘ in Briefen zur Grundlage eines Romantypus, der die Psychologie von Figuren in den Mittelpunkt der Erzählungen stellt. Von nun an geht alles durcheinander: Der Briefroman stützt sich auf die Briefkultur und wirkt auf diese zurück; Briefe werden in stilisierter Sprache geschrieben, als müssten sie in Büchern aufmerksamen Kritikern standhalten – und tatsächlich müssen die meisten Verfasser ja einen erweiterten Kreis von Rezipienten 3

Martin Stuber, Stefan Hächler und Luc Lienhard (Hrsg.), Hallers Netz. Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung (Studia Halleriana IX), Basel 2005, S. 54f.

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Einführung oder papierne Chats

beim Schreiben im Blick haben, wenn sie die Erweiterung der Leserschaft über die Adressatin oder den Adressaten hinaus nicht rigoros ausschließen. So wird der Brief zu einem, vielleicht zum wichtigsten Träger der literarischen Kultur, woran, zumindest im eigenen Bewusstsein, alle, die mehr als okkasionell oder aus rein geschäftlichen Gründen Briefe schrieben, Anteil hatten. Wenn der Brief die literarische Gattung des Bürgertums ist, so sind bald auch die Briefe der Schriftsteller gehobene Literatur: Schon Alexander Pope betrachtete – als einer der ersten – seine Briefe als integralen Teil seiner Schriften (eine erste Veröffentlichung stammt bereits von 1726, die Bibliographie der Drucke füllt bis 1742 mehrere Seiten); und auch von den Zeitgenossen und noch in den Dezennien nach seinem Tod 1744 wurde Pope nicht nur als Dichter im engeren Sinn, sondern gerade auch als Briefschreiber wahrgenommen, als einer derjenigen, der dem Brief den Ruf verschafft, Träger eines quasi natürlichen Stils zu sein. In Deutschland verhalfen Christian Fürchtegott Gellert und Johann Wilhelm Ludwig Gleim dem Brief als literarischem Genre zum Durchbruch, ersterer als Brieftheoretiker, letzterer als Briefschreiber. Gleim sah sich als Dichter und alles, was ihn betraf, betraf ebenso die literarische Öffentlichkeit. So hatte er keine Hemmungen, die Briefe des Berliner Theologen Johann Joachim Spalding an ihn in den Druck zu geben, wofür er heftig befehdet wurde – das Modell dafür war 1768 sein allerdings einvernehmlich veröffentlichter Briefwechsel mit Johann Georg Jacobi gewesen. Den Impuls dazu hat Heinrich Mohr in einem Aufsatz zu privaten Briefen und der Grenze zwischen Literatur und Privatsache auf den Punkt gebracht: Edler Enthusiasmus der Freundschaft und sein Ausdruck, das waren für Gleim bona schlechthin, nicht exklusiv private Freuden zweier Partner, vielmehr Exempel wünschenswerten Verhaltens. Als solche riefen sie nach dem ‚Öffentlich-Werden‘, nach der Druckerpresse.4

Gewechselte Briefe werden zu Briefwechseln zusammengestellt gedruckt und dienen solchermaßen als Material für eine Art von Briefromanen. Von diesen sind sie auch in ihrer äußeren Erscheinung kaum zu unterscheiden, selbst wenn es sich um postume Drucke handelt, in denen die Quellen nicht im modernen Sinne ediert, sondern meist nicht nur von den allzu briefspezifischen Anteilen (Adressen, Datumszeilen, Anreden) befreit, sondern auch auf das Wesentliche der ‚Erzählung‘ eingedampft, nicht selten umdatiert und umadressiert und aus verschiedenen Vorlagen zusammengeschnitten werden. In Buchform sind auf die Art reale und fiktionale Welten nicht mehr zu unterscheiden und gegeneinander austauschbar. Am stärksten 4

Heinrich Mohr, ‚Freundschaftliche Briefe‘  – Literatur oder Privatsache? Der Streit um Wilhelm Gleims Nachlaß, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 1973, S. 31f.

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Markus Bernauer

gilt dies vielleicht für die Reiseliteratur: Der Brief hatte sich seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert als geeignete Form der ‚Erzählung‘ von den eigenen Reisen durchgesetzt, warum, erklärte Maximilien Misson in seinem Nouveau Voyage d’Italie von 1691. Briefe seien freier und persönlicher als Reisebeschreibungen, die nach gelehrter Vollständigkeit (Polymathie) und Genauigkeit verlangten; und was man von einer Reise in Briefen erzählen wolle, sei etwas anderes als das, was man in einer Reisebeschreibung zusammenstelle.5 Der Brief erlaubt Subjektivität und Freiheit, was die Reisebeschreibung verbietet, die Grenzen zur Fiktion sind durchlässig. Dieser Gattungseigenschaften wegen wurden Reiseberichte im 18. und frühen 19. Jahrhundert als Briefsammlungen deklariert; und das Genre nachahmend, schrieben Reisende Briefe nach Hause, die so taten, als wären sie für die Öffentlichkeit bestimmt und es insoweit waren, als sie in der Familie, unter den Freunden und oft genug auch im Ort herumgereicht wurden. Jean Paul schrieb bekanntlich von allen Reisen Briefe an seine Frau Caroline mit der Erwartung, dass sie sie an die Bayreuther Freunde weitergebe, und adressierte umgekehrt Briefe an die Freunde, die auch an die Familie gerichtet waren (strikt Privates kennzeichnet er). Selbstverständlich trägt auch Goethe dieser Praxis Rechnung: Aus Rom schickt er regelmäßig Briefe nach Hause, darunter auch an den Weimarer Freundeskreis, Briefe, die ihm später als Steinbrüche für die Endredaktion der Italienischen Reise gedient haben.6 Berühmt sind die Reisebriefe des Charles de Brosses an seine Freunde in Dijon, die zwar erst 1798 postum vorlagen, aber schon zu Lebzeiten in Paris verbreitet waren. Zu den Glanzstücken deutscher Italienprosa gehören Wilhelm Heinses Briefe an Gleim und Friedrich Heinrich Jacobi aus den Jahren 1780 bis 1783, die alles andere als vertraulich und persönlich waren. Einen Brief an Jacobi hat Heinse 1787 in Boies Deutschem Museum, datiert auf Mantua 21. August 1783, drucken lassen. Mit Jacobi hatten Heinses Berichte aus Italien einen empfindlichen Adressaten, wenn es um private Korrespondenz ging, doch bei diesem Brief scheint er keine Bedenken gehabt zu haben, auch nicht damit, als Adressat genannt zu werden. Und überhaupt ist die Überlieferung merkwürdig: Die Handschrift ist bis auf ein kleines Fragment nicht erhalten und der Brief fehlt in der Briefausgabe bei Körte. Ich glaube aus Gründen, die hier nicht darzulegen sind, nicht, dass er am 21. August 1783 in Mantua geschrieben wurde, sondern dass das Datum ebenso eine Fiktion ist wie der effekthascherische weil Situativität suggerierende Schluss – das schreibende Ich wird von einem Gewitter überrascht und rettet sich in die Kutsche –, eine Szene, die in 5 6

Maximilien Misson, Nouveau Voyage d’Italie, Den Haag 1702, Bd. 1, Avertissement (n. p.). Nebeneinander stehen bei Goethe Briefe, die unbezweifelbar eine Leserin oder einen Leser ansprechen, also in der ersten Zeit der Reise die Briefe an Charlotte von Stein, später die an Carl August, Geschäftsbriefe mit oft übertragenen Inhalten (heute würde man von einer Art Copy-and-paste-Verfahren sprechen) und jene Briefe verschiedener Vertraulichkeitsstufen mit Reiseerzählungen, etwa an die Herders oder an den 14- bis 15-jährigen Fritz von Stein (der ihm als Projektionsfläche gedient zu haben scheint, die Briefe sind allerdings nicht erhalten).

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Einführung oder papierne Chats

den Aufzeichnungen fehlt. Eine Fiktion dient zur Beglaubigung der Authentizität – um den Titel von Annette C. Antons Buch Authentizität als Fiktion zu variieren –, in diesem Fall einer falschen Authentizität.7 Heinses Brief dürfte also von allem Anfang an für die Veröffentlichung geschrieben sein, ihn als persönlichen Brief an Jacobi auszugeben, war Fiktion (zumal der Brief auch Auszüge aus Saverio Bettinellis Lobreden auf Mantua enthält), eine im 18.  Jahrhundert im Übrigen längst nicht nur bei Reisebriefen beliebte Fiktion, die etwa den vertraulichen Ton rechtfertigte. Ob und zu welchem Zeitpunkt Charles de Brosses seine Briefe für den Druck bestimmte, entzieht sich unserer Kenntnis, sicher ist nur, dass der spätere Präsident des Parlement in Dijon von seiner Reise 1739/40 Briefe an seine Freunde zuhause adressierte. Glaubt man einem späteren Schreiben ihres Verfassers, sind seine Briefe von den Lesern in Dijon einander derart aus den Händen gerissen worden, dass viele die Behandlung nicht überlebt haben und er nur wenige bei Rückkehr wiederfand. Sicher ist, dass der gesamte Teil mit den römischen Briefen mitsamt den situativen Abschnitten und den besorgten Erkundigungen zehn Jahre nach der Reise niedergeschrieben wurde! De Brosses hat in Rom Notizen angefertigt, diese allerdings ungeordnet nach Hause zurückgebracht. Mangels eines zusammenhängenden Berichts (auch in Briefform) war er bei der Zusammenstellung seines Manuskripts, als Italienbuch immerhin eines der berühmtesten des 18. Jahrhunderts und noch immer reizvoll zu lesen, auf seine spärlichen Notate angewiesen.8 Die Briefe, im 18. Jahrhundert im Briefroman als Träger der auf Durchschaubarkeit angelegten epischen Fiktion des authentischen Ausdrucks gebraucht, verwischen in diesen Beispielen ihre Fiktivität, um als wirklich authentisch daherzukommen, fiktionalisieren reale Adressaten, um ihre Authentizität zu suggerieren – wir würden heute (zu Unrecht) von Fälschungen sprechen. Es gab allerdings Autoren, die mit den verwischten Grenzen zwischen privater und öffentlicher Korrespondenz, zwischen persönlichen, gar vertraulichen und für den Druck wenigstens mitgedachten, zumindest handschriftlich oder in Abschriften verbreiteten Briefen nicht zurechtkamen. Friedrich Heinrich Jacobi wetterte wiederholt gegen das, was er für den Missbrauch von dokumentarischen Hinterlassenschaften hielt, und strengte sehr, aber nicht immer erfolgreich die Rückgabe von Briefen zu ihrer Vernichtung an, die er für nicht druckwürdig hielt. Nach Gleims Tod 1803 bemühte Wilhelm Körte die Druckerpresse für Briefe aus Gleims Nachlass; als 1806 die beiden Bände mit den Korrespondenzen des Netzwerks Gleim, Heinse und Johannes von Müller erschienen, innerhalb dessen auch Heinses Italienbriefe an Jacobi

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Vgl. Wilhelm Heinse, Die Aufzeichnungen. Frankfurter Nachlass, hrsg. von Markus Bernauer u. a., Bd. 2 (Text), S. 158–188 und Bd. 4 (Kommentar zu Bd. 2), S. 195–197. Yvonne Bézard (Hrsg.), Lettres du Président de Brosses à Ch.-C. Loppin de Gemeaux, Paris 1929, S. 156–158.

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Markus Bernauer

und seine Frau Betty stehen, platzte diesem der Kragen: In der „Gelegenheitsschrift“ Was gebieten Ehre, Sittlichkeit und Recht in Absicht vertraulicher Briefe von Verstorbenen und Lebenden?, die im selben Jahr 1806 bei Göschen erschien, rächte sich Jacobi für die Indezenz Körtes durch die lückenlose Veröffentlichung ihrer beider Briefwechsel, der seine vergeblichen Bemühungen dokumentiert, die von ihm verschickten Briefe nach dem Tod Gleims und Heinses zurückzubekommen. Daß es schändlich sey, fremde Briefe zu erbrechen, erbrochene, wenn man sie findet, heimlich zu lesen; verwahrlost angetroffene Brieftaschen vorwitzig zu durchsuchen; in einem Zimmer, worin man allein gelassen wurde, sich offenliegenden Scripturen zu nähern, anstatt sich geflissentlich von ihnen zu entfernen: darüber ist unter allen rechtlichen Menschen nur Eine Meinung und Gefühl.9

Nicht schändliche Neu-, sondern pure Geldgier treibt nach Jacobi jene Nachlassverwalter um, die Briefe eines Freundes oder eines Verstorbenen in den Druck geben. Jacobis Gelegenheitsschrift ist das Ergebnis einer Idiosynkrasie, aber vielleicht auch Ausdruck der wachsenden Bedeutung von ‚Vertraulichkeit‘ im unmittelbaren bürgerlichen Umgang  – Familie, Freundeskreis, beruflicher Zusammenhang; ein Wort hier geäußert, sollte den Kreis so ohne Weiteres nicht verlassen. Dieser Wunsch kann sehr weit gehen, im Falle von Jacobis „Gelegenheitsschrift“ dahingehend, notfalls auch Briefe Heinses zu vernichten, da sie Urteile Jacobis enthalten, die dieser nicht öffentlich gemacht wissen will. Offensichtlich lag Jacobi daran, im Jargon von heute gesagt: sein Bild in der Öffentlichkeit kontrollieren zu können. Und umgekehrt lässt Jacobis „Gelegenheitsschrift“ durchblicken, dass deren Verfasser von Zonen, in denen die öffentliche und die private Sphäre ineinander übergehen, nichts mehr wissen wollte. Vielleicht kann man dieses Verschwinden des halböffentlichen Bereichs als eines der Phänomene ansehen, die den Umbruch von 1800 ausmachen. Davor aber waren Briefe Antriebsriemen einer Gesellschaft, deren Angehörige ihre Intimität geradezu zur Schau stellten und in der sich jene „Tyrannei der Intimität“ abzeichnete, die Richard Sennett als Eigenheit der urbanen Gesellschaft seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ansieht. Als The Fall of Public Man 1977 erschien, konnte Sennett noch nichts vom Internet und erst recht nichts von den Social Media wissen, aber wenn er den Glauben, „Gemeinschaft sei das Produkt gegenseitiger Selbstentblößung“ beklagt und die Entwicklung „des Respekts vor der Privatheit anderer“ behindert sieht, liest sich das wie ein Blick in die Zukunft – und in 9

Friedrich Heinrich Jacobi, Werke, Bd. 5, 1, Kleine Schriften II 1787–1817, hrsg. von Catia Goeretzki, Walter Jaeschke, Hamburg / Stuttgart 2007, S. 263.

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Einführung oder papierne Chats

die Vorvergangenheit seiner Welt, weit hinter das ausgehende 19. Jahrhundert zurück.10 Briefe im 18. Jahrhundert waren beliebt, weil sie der inneren Natur Ausdruck zu geben behaupteten. Bekanntlich hatte Goethe in einem berühmten Paradox der Dichtung die Qualität zugesprochen, Natur sein zu können („Und ich rufe Natur! Natur! nichts so Natur als Schäkespears Menschen.“) und ihr damit aufgebürdet, den modernen Menschen, der „von Jugend auf alles geschnürt und geziert“ an sich fühle, zu erlösen.11 Wie sahen das die Protagonisten der literarischen Briefautoren des 18. Jahrhunderts? Gegenüber Johann Georg Jacobi gibt Gleim schon 1768 etwas von seiner Poetik preis, und zwar interessanterweise von einem erotischen, d. h. intimen Gegenstand ausgehend: Für einen alten Anakreon sei der weibliche Busen doch ein gefährliches Thema, die Jugend solle ihn besingen. Doch eine Mediceische Venus vor Augen, sei dem Alten ohnehin die Lust zu singen vergangen – und auch der junge Jacobi, stünde er vor der Venus, besänge sie nicht. „Das gröste Vergnügen, wie der heftigste Schmerz, macht Verstummen. […] Was auch die Philosophen dawider sagen mögen, so ist es doch gewiß: die wahren Empfindungen nicht, sondern die angenommenen machen den Dichter!“12 Da Gleim wie Jacobi sich zweifelsfrei als Dichter verstanden haben, stellt sich uns die Frage, inwieweit ihr Briefwechsel auf „angenommenen Empfindungen“ beruht oder ob er gar für diese zusammengestellt wurde. Bezeugt ist der Briefwechsel als solcher, bezeugt ist, dass Jacobi vom Plan des Drucks begeistert war und Gleims Briefe dazu abschrieb,13 sicher, wenn auch im Ausmaß m. W. nie untersucht, ist aber auch die Bearbeitung, die die Sammlung schon dadurch durchblicken lässt, dass sie den chronologisch ersten Brief als letzten bringt. Zeitgenössische Kritiker wie jüngste Veröffentlichungen bemerkten einhellig die langweilige Selbstreferentialität der Briefe – ihr Thema ist die Freundschaft, deren Träger sie zugleich sind.14 Gleim hatte darin eben ein vorbildliches menschliches Gut gesehen, das es in der epistolarischen Form zu entwickeln und öffentlich zu machen gelte, Briefe sind also Mittel der Erziehung zur Menschlichkeit, eine Ansicht, mit der er nicht allein dastand: Herder hatte 1793 10

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Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser, Frankfurt a. M. 1983, S. 17. Der deutsche Zweittitel von The Fall of Public Man, der im Englischen fehlt, enthält eine Hauptthese des Buches. Johann Wolfgang Goethe, Zum Schäkespears Tag, in: Der junge Goethe in seiner Zeit. Texte und Kontexte. Sämtliche Werke, Tagebücher und Schriften bis 1775, hrsg. von Karl Eibl, Fotis Jannidis, Marianne Willems, Frankfurt a. M. 1998, Bd. 2, S. 364. Briefe von den Herren Gleim und Jacobi, Berlin 1768, S. 249. Franziska Riedel, Brief von Johann Georg Jacobi an Johann Wilhelm Ludwig Gleim am 27. Januar 1768. Edition eines Einzelbriefes. Studienarbeit, München (Grin) 2013. Tobias Heinrich, Gleim und sein Kreis, in: Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, hrsg. von Marie Isabel Matthews-Schlinzig, Jörg Schuster, Gesa Steinbrink, Jochen Strobel, Berlin / Boston 2020, Bd. 2, S. 919.

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im ersten der Briefe zur Beförderung der Humanität die Korrespondenten auf das revolutionäre Prinzip der Gleichheit verpflichtet, um einen „Bund der Humanität“ – einen „stille[n] Bund aller Guten“, „einen Bund der Freunde“, modern ausgedrückt: ein Netzwerk der moralorientierten Bürgerlichkeit – ins Leben zu rufen.15 Wer Briefe austauscht, steht, jedenfalls in Herders Vorstellung, auf gleicher gesellschaftlicher Stufe, Briefe sind ein Werkzeug der Aufklärung. Sie sind auch ein Werkzeug der Erziehung. Christian Fürchtegott Gellert lässt einen Vater in einem Brief dem an die höhere Schule wechselnden Sohn Ratschläge geben, darunter den, sich „in der Schreibart der Briefe und andrer kleiner Aufsätze und in deinem letzten akademischen Jahr in der öffentlichen Beredsamkeit“ zu üben, um die „Sprache des Hofes“ und als Gelehrter die „Muttersprache“ in seiner „Gewalt“ zu haben.16 Im Brief sah Gellert einen elaborierten Gesprächsbeitrag, der anders als andere Formen der Schriftkultur keinen Regelkanon kennt und daher nicht lernbar ist, sondern nur aus Beispielen eingeübt werden kann. Briefe einüben heißt Schreiben überhaupt einüben – der Brief ist das verbreitetste schriftliche Medium in der Gesellschaft: „Der Brief ist das Tor, durch das die Schrift im 18. Jahrhundert in den Alltag findet“ – so Robert Vellusig über Gellert, der seinem Programm Nachdruck verleihen wollte, indem er sich in die schon lange Reihe der Verfasser von Briefstellern einreihte.17 Es ist interessant zu beobachten, welchen Effekt diese Lehrbücher des Briefes und des Schreibens hatten: Jeder, der sich durch die Briefhinterlassenschaft des 18. Jahrhunderts arbeitet, ist auf jene von orthografischen Eigenheiten durchsetzten, nur schwer zu lesenden und zu transkribierenden Exemplare gestoßen, bei denen wir schnell mit dem Ausdruck „fehlerhaft“ zur Hand sind, weil sie sich nicht der regelbasierten Schriftsprache, sondern der anarchischeren Oralität verdanken. Gerne werden hier die frühen Briefe von Wolfgang Amadeus Mozart angeführt, doch sind diese ein Sonderfall, weil sich darin eine nicht im Zaum gehaltene Lust an Sprachspielen erkennen lässt, wenn auch in der Lautlichkeit und Orthografie wie in der Syntax ausgehend von „eindeutig sprechsprachliche[n] Merkmale[n]“.18 Als Beispiel könnte einer der berühmten Bäsle-Briefe Mozarts dienen, der so beginnt: 15

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Johann Gottfried Herder, Werke, Bd.  7, Briefe zur Beförderung der Humanität, hrsg. von Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt a. M. 1991, 1. und 96. Brief, S. 14, 532. „Unter uns ist, wie jener Apostel sagte, kein Jude noch Grieche, kein Knecht noch Freier, kein Mann noch Weib; wir sind eins und einer. Indem wir an uns und nicht an die Welt schreiben, gehen wir aller eitlen Rücksichten müßig; warum sollten wir heucheln?“ Christian Fürchtegott Gellert, Lehren eines Vaters für seinen Sohn, den er auf die Akademie schickt, in: Werke, hrsg. von Gottfried Honnefelder, Frankfurt a. M. 1979, Bd. 2, S. 321. Robert Vellusig, Gellert, der Husar, ein Brief und seine Geschichte. Briefkultur und Autorschaft im 18. Jahrhundert (2006), in: Das Erlebnis und die Dichtung. Studien zur Anthropologie und Mediengeschichte des Erzählens, Göttingen 2013, S. 210. Ingo Reiffenstein, Sprachvariation in den Briefen der Familie Mozart, in: Klaus J. Mattheier u.  a. (Hrsg.), Vielfalt des Deutschen. Festschrift für Werner Besch, Frankfurt a. M. [u. a.] 1993, S. 368.

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„Allerliebstes bäsle häsle! / Ich habe dero mir so werthes schreiben richtig erhalten falten, und daraus ersehen drehen, daß der hς: vetter retter, die fr: baaß has, und sie wie, recht wohl auf sind hind; wir sind auch Gott lob und danck recht gesund hund.“19 Dialektales, Parodistisches (der Kanzleistil am Anfang) und ungebremste Spottlust (die sinnlosen Reime) verbinden sich hier zu einer Kunstsprache, die sich der salzburgischen Alltagssprache bedient, diese allerdings mit überbordender Freiheit gebraucht. Eine Kunstsprache, zu der nebenbei bemerkt auch die Unanständigkeiten gehören und für deren Voraussetzung man den Sprachpurismus halten möchte, auf dem Mozarts Vater Leopold zeitlebens, und das lassen auch seine Briefe erkennen, bestand – den Verleger seiner Violinschule traktierte er 1755 mit der wenige Jahre zuvor (1748) gedruckten Grundlegung einer deutschen Sprachkunst von Johann Christoph Gottsched. Reiffenstein sieht im Sprachgebrauch innerhalb der Familie Mozart den Ausdruck einer „fröhlichen ungezierten Geselligkeit“ und – ihm folgend – hält ihn Peter von Polenz in seiner deutschen Sprachgeschichte für repräsentativ in Bezug auf den Schriftverkehr des gebildeten Bürgertums nach der Mitte des 18. Jahrhunderts.20 Ausgehend vom Bäsle-Brief, teile ich diese Ansicht nicht: Auch wenn Mozarts Brief starke Anleihen an die mündliche Kultur zeigt, so ist diese darin doch artifiziell überdreht, Ausdruck einer Schriftkultur, die ihre Reinigung von den Relikten der unkontrollierten Mündlichkeit mit Leopold Mozart bereits hinter sich hat. Also gibt natürlich dieser ironische Gebrauch von Mündlichkeit Peter von Polenz recht, wenn er beschreibt, welche Rolle bei der Entstehung einer modernen 19

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Wolfgang Amadeus Mozart an Maria Anna Thekla Mozart. Mannheim, 5. November 1777 ( [28.6.2022] bzw. Mozart, Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe, hrsg. von Internationale Stiftung Mozarteum Salzburg, Gesammelt und erläutert von Wilhelm A. Bauer und Otto Erich Deutsch, Bd. 2, 364, Kassel 1962, S. 104). Vollständig lautet die erste Seite: „Allerliebstes bäsle häsle! / Ich habe dero mir so werthes schreiben richtig erhalten falten, und daraus ersehen drehen, daß der hς: vetter retter, die fr: baaß has, und sie wie, recht wohl auf sind hind; wir sind auch Gott lob und danck recht gesund hund. ich habe heüt den brief schief, von meinem Papa haha, auch richtig in meine klauen bekomen stromen. Ich hoffe sie werden auch meinen brief trief, welchen ich ihnen aus Mannheim geschrieben, erhalten haben schaben. desto besser, besser desto! Nun aber etwas gescheüdes. / mir ist sehr leid, daß der hς: Prælat Salat schon wieder vom schlag getrofen worden ist fist. doch hoffe ich, mit der hülfe Gottes spottes, wird es von keinen folgen seÿn schwein. sie schreiben mir stier, daß sie ihr verbrechen, welches sie mir vor meiner abreise von ogspurg voran haben, halten werden, und das bald kalt; Nu, daß wird mich gewiß reüen. sie schreiben noch ferners, ja, sie lassen sich heraus, sie geben sich blos, sie lassen sich verlauten, sie machen mir zu wissen, sie erklären sich, sie deüten mir an, sie benachrichtigen mir, sie machen mir kund, sie geben deütlich am tage, sie verlangen, sie begehren, sie wünschen, sie wollen, sie mögen, sie befehlen, daß ich ihnen auch mein Portrait schicken soll schroll. Eh bien, ich werde es ihnen gewis schicken schlicken. oui, par ma la foi, ich scheiss dir auf d’ nasen, so rinds dir auf d’koi. appropós. haben sie den spuni cuni fait auch? – – – was? – – ob sie mich noch imer lieb haben – – das glaub ich! desto besser, besser desto!“ Reiffenstein, Sprachvariation (Anm. 18), S. 378. Peter von Polenz, Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, Bd. 2: 17. und 18. Jahrhundert, Berlin [u. a.] 1994, S. 207.

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Briefkultur die Verdrängung des Dialekts aus der Schriftsprache und deren Normierung nach französischem Vorbild spielt. Mozarts ‚Briefdialekt‘ ist eine Kunstsprache, auch wenn der Verfasser seine Briefe nicht als Sprachkunstwerke verstanden hat. Das ist bei seinem Zeitgenossen Jean Paul (zwischen beiden liegen nur sieben Jahre) anders, hat er doch, wie Pope, seine Briefe als Bestandteil seines schriftstellerischen Werks angelegt, aber nicht aufbauend auf der Mündlichkeit, sondern auf einer seiner Romanprosa angenäherten Kunstsprache (die in den Anfängen Laurence Sterne viel verdankt). Dass seine Korrespondenten und mehr noch seine Korrespondentinnen Johann Paul Friedrich Richter oft mit Jean Paul verwechselten oder sich dachten, sie trügen zu dessen Literatur bei, wenn sie ihm schrieben, ist in den letzten Jahren mehrfach diskutiert worden. Und dass dieses Mitschreiben dann zwischendurch beiderseits in ein ‚Gedankenspiel‘ entlang der Romane führte, manchmal auch derer, die erst Vorhaben waren, bringt uns heute, die Korrespondenzen lesend, immer wieder einmal dazu, uns zu fragen, ob wir bei der Niederschrift dieser elaborierten Empfindungen nicht schon mitgedacht waren – Jean Paul war nicht folgenlos ein Crébillon-Leser. *** In vielen seiner Briefe – selbstredend nicht in allen, es gibt Geschäftsbriefe oder persönliche Briefanteile oder vertrauliche Schreiben, die dann auch eigens so bezeichnet sind – hat Jean Paul eine imaginäre literarische Öffentlichkeit, zeitgenössisch oder in der Nachwelt, mitadressiert. Umgekehrt muss er seine Person als eine öffentliche angesehen haben und reichte selbst intime Liebesbriefe wie die der Caroline von Feuchtersleben an Freunde und Freundinnen weiter (mit ihrem Einverständnis) – als sei ihre Verlobung Teil eines (nicht gut ausgehenden) Romans. Die an ihn verschickten Briefe sind bescheidener, erst recht die Korrespondenz in seinem Umfeld – mit Ausnahme des Freundes Paul Emile Thieriot hat keiner literarische Ansprüche an seine Verfasserschaft gestellt. Diese ‚Umfeldbriefe‘, deren Edition Ausgangspunkt für den vorliegenden Band und die ihr vorausgehende Tagung „Soziales Medium Brief. Sharen, Liken, Retweeten im 18.und 19. Jahrhundert. Neue Perspektiven auf die Briefkultur“ war, verdanken sich im Kern drei Sammlungen. Im Hause Richter hat man nicht nur (fast) alle Briefe aufbewahrt, die an Jean Paul adressiert waren, sondern auch jene, die innerhalb der Familien Richter und Mayer und zwischen ihnen gewechselt wurden (letztere, soweit man ihrer habhaft werden konnte). Emanuel Osmund wiederum hat  – wie auch Jean Paul in den Briefkopierbüchern – von vielen Briefen, die er verschickt hat, eine Abschrift genommen und schier alle Briefe aufbewahrt, die ihm geschrieben wurden – zusammen mit Thieriots Nachlass, den Karl August Varnhagen von Ense erwarb (und der heute in Krakau aufbewahrt wird), ergibt sich so ein dichtes Bild in Briefen von Jean Pauls Familie und Freundeskreisen. Die Sammlungen 20

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der Richters wurden von der Preußischen Staatsbibliothek zusammen mit dessen Nachlass erworben, die Briefe allerdings damaligen Gepflogenheiten gemäß aussortiert  – sie liegen heute ebenfalls in Krakau. Der Nachlass Emanuel Osmunds wurde zum allergrößten Teil auf Anregung Eduard Berends 1921 vom Anwalt und Notar Franz Ulrich Apelt (1882–1944) in Zittau (Sachsen) erworben und ist heute teils als Depositum der Oberfrankenstiftung in der Staatsbibliothek Bamberg, teils zerstreut, teils nach wie vor in Privatbesitz überliefert. Im Zusammenhang des Editionsprojekts der Briefe an Jean Paul in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften wurden seit 1992 diese Sammlungen gleichsam verdoppelt und ein umfangreiches Korpus von Kopien, Digitalisaten und bald auch Transkriptionen angelegt. Das war die Voraussetzung, um nach dem Ende der digitalen Aufbereitung der Briefe Jean Pauls die Arbeit an den Umfeldbriefen (es werden am Ende um die 2000 sein) aufzunehmen. Diese Briefe aus Jean Pauls Umfeld stammen von Personen und sind an solche gerichtet, mit denen er in irgendeiner Weise verbunden war, direkt oder indirekt: die Klein- und Großfamilie, die Bayreuther Freunde Emanuel Osmund und Christian Otto, weitere Freunde wie der Jurist, Pädagoge und Geiger Paul Emile Thieriot und der Altphilologe und Heidelberger Professor Heinrich Voß, der Sohn des berühmten Übersetzers, Mäzene wie Christian Truchseß von Wetzhausen zu Bettenburg oder Schriftsteller wie der Meininger Ernst Wagner. Sie und viele andere mehr haben gemeinsam, dass in der Korrespondenz, die sie kreuz und quer untereinander führten, Jean Paul und Jean Pauls Familie und auch das Freundesnetzwerk gespiegelt sind, nicht selten so, dass man wichtige Auskünfte erst aus diesen Briefen erhält. Dieser Typus von Personal stand bisher nicht im Fokus editorischer Vorhaben (und war wohl auch nur mit dem Namen Jean Pauls zu realisieren): Kaufleute, Juristen, Verwaltungsbeamte, Ärzte (und eine Pflegerin), Politiker, ausführende Musikerinnen und Musiker, Pädagoginnen und Pädagogen, unbekannt gebliebene oder vergessene Berufsschriftstellerinnen – und vor allem ihre Lebenspartnerinnen und Lebenspartner und Kinder. Sie behandeln eigene Themen und öffnen Perspektiven, die aufgrund der Diversität von Geschlecht, Konfession oder gesellschaftlicher Position der unterschiedlichen Briefschreiber sich vom Bekannten abhebt. Natürlich bleiben mit Korrespondenten wie Voß und Truchseß von Wetzhausen literarische Themen nicht ausgespart, aber beherrschend in diesem Korpus sind etwa Berichte über den Alltag in Berlin während der französischen Besatzung, über Gesundheit und Krankheit, über Orthopädie, Erziehung und Gesellschaft im Alltag, über weibliche Handarbeit und Mode und Heimarbeit. Zu diesen Themenfeldern kommen die Herzensergüsse, die Befindlichkeitsbriefe mit ihrer Seelenentblößung. Die Kommunikation ist direkt und nicht selten indirekt, es schreiben (beliebt im Hause Richter) mehrere Familienmitglieder am selben Brief, es werden mehrere Empfänger mit einem Brief adressiert. Schreiben geben Antworten auf Fragen aus Briefen Dritter, deren Kenntnis sie bei den Mitlesenden voraussetzen. Auch diese Briefe sind semiöffentlich, selbst wenn der Interessentenkreis kleiner ist und ihre Verfasser anders als die Gelehrten und Dichter 21

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des 18. Jahrhunderts, bei denen die Schwelle zur Weitergabe des Empfangenen an einen Verleger oft erstaunlich niedrig ist, nicht befürchten mussten, sich unerwarteter Weise gedruckt zu lesen. Die Korrespondentinnen und Korrespondenten, die wir in den Umfeldbriefen bearbeiten, lassen sich nicht auf ein (festes) Gefüge von Personen reduzieren. Die Briefe der Kleinfamilie Richter, also die Briefe der Eltern und der drei Kinder von Johann Paul Friedrich und Caroline Richter: Emma, Max und Odilie, sind ein durch den dichten Briefwechsel interessanter Spiegel einer bürgerlichen Kleinfamilie um 1800. Aber anders als in der Sammlung Die Briefe der Manns. Ein Familienporträt, erschienen 2016, geben die Umfeldbriefe nicht ein Großfamilienporträt innerhalb e i n e s Beziehungsgeflechts, schon weil auch die Korrespondenzen von Caroline Richter-Mayers Familie Berücksichtigung gefunden haben und viele enge oder entferntere Freunde dazukommen. Diese fluiden Gebilde mit wechselnder Binnenordnung und unsicheren Rändern bezeichnet man heute gerne als ‚Netzwerke‘. In der Briefforschung ist der Begriff ‚Netzwerk‘ ubiquitär geworden, seit es, so könnte man vermuten, die neuen Medien gibt. Viele derer, die ihn gebrauchen, und ich will mich da nicht ausnehmen, neigen dazu, ihn wie andere ubiquitäre Begriffe auch metaphorisch und für alles Mögliche zu gebrauchen. Und sucht man nach einer schärferen Bestimmung, wird man mittels Fußnoten lange in die Runde geschickt, d. h. von einer Forschung zu historischen Netzwerken zur nächsten. Fündig wird man in einem Heft der Zeitschrift für Germanistik von 2019, das netzwerktheoretische Ansätze in der Literaturwissenschaft zum Schwerpunkt hat. Erika Thomalla, Carlos Spoerhase und Steffen Martus haben für den einleitenden Aufsatz auf neuere Studien aus der Netzwerktheorie in der Soziologie zurückgegriffen: Ihr Grundansatz besteht darin, soziale Relationen und kulturelle Praktiken gegenüber scheinbar stabilen Entitäten wie Subjekten oder Gruppen zu privilegieren und sie in den Fokus der Untersuchung zu rücken. Voraussetzung für diesen Perspektivwechsel ist die Annahme, dass die Teilhabe am Sozialen immer schon das Eingebundensein von Akteuren in komplexe und dynamische Konstellationen voraussetzt.21

Relationalen Kräften gegenüber sogenannten stabilen Entitäten bei Untersuchungen den Vorrang zu geben, ist ein Postulat, das es seit den Anfängen der theoretischen oder vielleicht besser philosophischen Soziologie vor 1900 gibt. Für Briefeditionen wie unsere bringt es ein Paradox mit sich: Wir untersuchen nicht, wir bringen eine Edition hervor. Editionen sind bisher immer von „stabilen Entitäten wie Subjekten“ ausgegangen – stabil in der Regel im Sinne 21

Erika Thomalla, Carlos Spoerhase, Steffen Martus, Werke in Relationen. Netzwerktheoretische Ansätze in der Literaturwissenschaft, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. XXIX (2019), S. 7.

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einer bürgerlichen Entität, aber eine stabile Entität ist auch die Familie, die Ferdinand Tönnies schon 1888 als eine der ursprünglichsten Formen von Gemeinschaft beschrieben hat. Auch der Briefwechsel in der Familie Mann hat so eine „stabile Entität“ zur Grundlage, erst recht ältere (gelehrte oder wissenschaftliche) Briefausgaben; sie brachten die Briefe e i n e s Verfassers in chronologischer Reihenfolge und ergänzten diese allenfalls in den Anmerkungen oder durch Regesten mit den Briefen, die an diesen Verfasser gerichtet wurden – so noch Eduard Berend in seiner epochalen, neunbändigen Edition der Briefe Jean Pauls. Gängig heute ist indes, die Von- und die An-Briefe gleichberechtigt und in Verbindung zu bringen, wenn nicht, wie bei Goethe, die schiere Masse dies verbietet. Montinaris und Collis Ausgabe der Korrespondenz Nietzsches hatte die Von- und die An-Briefe in zwei bandweise kommunizierenden Abteilungen geordnet; die Jean Paul Edition hat nachträglich die III.  Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe durch eine IV. mit den Briefen an den Autor ergänzt, wobei die je neun Bände paarweise über die Abteilungen einen gleichen Zeitraum abdecken. Lösungen am reinen Leitfaden der Chronologie haben sowohl die Wieland- als auch die Jacobi-Briefausgabe gefunden, aber die Zusammenstellung von Brief und Antwort hat sich in der Editionspraxis durchgesetzt. Briefsammlungen ohne Leitstimme gibt es zwar schon lange, aber sie kreisen um d e n einen Abwesenden – man denke an Wilhelm Bodes Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen (1918) oder Jean Pauls Persönlichkeit, von Berend bereits 1913 veröffentlichte „zeitgenössische Berichte“. Dokumente zur Persönlichkeit Jean Pauls veröffentlichten schon die von Christian Otto begonnene Sammlung Wahrheit aus Jean Paul’s Leben und die von Emma Richters Mann Ernst Förster zusammengestellten Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Jean Paul, aber als Neben-, Jean Paul hätte gesagt: Ripienstimmen, zu dessen Korrespondenz – das ist auch in der von Paul Nerrlich besorgten Ausgabe von Jean Pauls Briefwechsel mit seiner Frau Caroline und mit Christian Otto nicht anders. Sieht man von dieser ab, die tatsächlich nach philologischen Kriterien gestaltet ist, sind die Briefe ausgewählt und sehr oft zugeschnitten auf den selbst abwesenden Dichter. Die Edition der Umfeldbriefe geht zwar von einem imaginären Bezugspunkt aus: Alle Korrespondentinnen und Korrespondenten stehen in direkter oder indirekter Beziehung zu Jean Paul. Aber er ist nicht der die Briefe verbindende Gegenstand; die Korrespondenzen bilden vielmehr einen eigenen Zusammenhang, die Korrespondentinnen und Korrespondenten werden nicht auf Beiträger zu Jean Pauls Leben reduziert. Die Konsequenz dessen ist, dass das der Edition der Umfeldbriefe zugrunde liegende Netzwerk kein zu edierender Spiegel eines Gebildes sein kann, weil ein solches, dessen Zeugnisse man ediert, nicht vorgegeben ist. Vielmehr ist das Netzwerk ein Ergebnis der editorischen Arbeit an den Briefen: eine ‚Konstruktion‘ (und der Begriff ist hier einmal wirklich gerechtfertigt), allerdings auf einer vielfältigen materialen Basis (schon viele der Alltagsdiskussionen zeigen das – soll man die Korrespondenz von X mit Y aufnehmen oder nicht?). 23

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Mit den Begriffen ‚Vielfalt‘ (eine heterogene Mischung der Korrespondenzen und der Themen) und Multipolarität (viele Briefe haben keine einzelne Verfasserschaft und schon gar keine einzelne und klar eingrenzbare Empfängerschaft) unterscheidet sich die Edition der Umfeldbriefe von vorausgegangen Editionen (auch bei Jean Paul). Sie wurde auch angeregt von einer Frage, die sich bei der Lektüre der Briefe und der Beobachtung von deren Distribution stellte: Wie verhält sich die Briefkultur des 18 und frühen 19. Jahrhunderts zur Welt der Social Media? Könnte man viele Korrespondenzen nicht auch als ‚Chats‘ beschreiben? Wiederholt nicht die heute in den herkömmlichen Medien erbittert geführte Debatte um die Privatsphäre, geführt, weil die Social Media ein erfolgreiches Geschäftsmodell sind, die Fragen der Privatheit des epistolarischen Austausches im 18. Jahrhundert. Und sind die Möglichkeiten, die digitale Editionen bieten (etwa durch Verlinkungen), nicht die Voraussetzung, um multipolare Briefwechsel zu erschließen und sie in Zusammenhang mit den Social Media zu bringen? *** Wir haben diese Kultur im Projektteam der Briefe aus Jean Pauls Umfeld viel diskutiert und konnten dazu mit Hilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die das Projekt trägt, vom 24. bis zum 26. Juni 2021 im Einsteinsaal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften die Tagung „Soziales Medium Brief. Sharen, Liken, Retweeten im 18. und 19. Jahrhundert. Neue Perspektiven auf die Briefkultur“ veranstalten. Sie fand inmitten der Corona-Pandemie weitgehend in Präsenz statt – und das zu einem Zeitpunkt, da wir alle uns an mündliche Chats mit oder ohne unser Bild schon gewöhnt hatten. Die Vorträge wurden in diesen drei Tagen verschiedenen Sektionen oder Kapiteln zugeordnet, die Reihenfolge in unserem Band spiegelt diese Ordnung: 1. Community (Valéry Ley, Rotraut Fischer, Castan Hastik / Andrea Rapp / Eva Lia Wyss); 2. Mittelbarkeiten – Reproduktion und Retardierung (Michael Rölcke, Jochen Strobel und Cornelia Ortlieb mit dem Abendvortrag); 3. Mediale Körper (Sophia Krebs, Selma Jahnke und Roman Lach); 4.  Netzwerkdarstellung und  –analyse digital (Ursula Caflisch-Schnetzler und Frederike Neuber); 5. Spuren (Andrea Hübener / Jörg Paulus, Angela Steinsiek und Julia Nantke / Sandra Bläß). Erwin Kreim sowie Cosima Jungk und Tim Porzer haben ihre Beiträge nachträglich beigesteuert. Allen Beiträgerinnen und Beiträgern zu Tagung und Tagungsband gebührt ein herzliches Dankeschön der Herausgeberschaft – und ein solches geht auch an Josefine Kitzbichler, Jutta Moldenhauer und Pauline Thielert für ihr Engagement hier wie dort. Am Schluss dieser Einleitung stehen jene neun Thesen, die schon am Schluss zur Einleitung zur Tagung standen: 1. Als Kommunikation in Chatgruppen könnte man manche Korrespondenzformen in Briefen innerhalb von Familien und Freundesnetzwerken des 18.  Jahrhunderts 24

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bezeichnen. Briefe werden durch Weitersenden in der Regel allen Mitgliedern zugänglich gemacht. Selbstverständlich gelten ganz andere Zeitverhältnisse. Die Nachrichten der social media des 21. Jahrhunderts unterscheiden sich von den Briefen des 18. und 19. auf jeden Fall dadurch, dass für sie das Medium Bild, und zwar als Foto wie als Video, vielleicht noch wichtiger ist als der Sprachanteil. Die Vorstellung von Privatsphäre des Lebens und des grundsätzlich vertraulichen Austausches gehören dem bürgerlichen 19. Jahrhundert an, sie verschwinden schon im Laufe des 20. Jahrhundert nach und nach und spielen heute außerhalb von Polemiken keine Rolle mehr. Von heute aus gesehen irrte Jacobi auf ganzer Linie. Korrelativ zur Idee der Privatsphäre scheint sich die Bereitschaft zur Entäußerung intimer seelischer Details entwickelt zu haben; vom A n s c h e i n dieser Bereitschaft lebt ein Briefwechsel wie der Gleims und Jacobis und davon leben zu einem nicht geringen Teil die social media heute – Anschein natürlich deswegen, weil die Darstellung einer Seelenlage immer die Frage nach ihrer Fiktionalität und Intentionalität aufwirft. Es gibt das ganze 18. Jahrhundert hindurch Briefformen, die gezielt für eine mehr oder minder bekannte Zahl von Followern geschrieben im Graubereich zwischen persönlichen und halböffentlichen Briefen bleiben. Ich habe die Reisebriefe genannt, die an eine mehr oder minder vorbestimmte Zahl von Empfängern gerichtet sind, aber man könnte auch als größtes Projekt dieser Art die Correspondance littéraire nennen, die ab der Mitte des 18. Jahrhunderts über Jahrzehnte handschriftlich vervielfältigt und an die europäischen Höfe verteilt wurde. Die Berichte von Melchior Grimm und seinen Mitstreitern wirkten nachhaltiger als viele gedruckte Publikationen und machen eines klar: Die Grenze zwischen vertraulicher und halböffentlicher oder öffentlicher Korrespondenz verläuft nicht zwischen Handschrift und Druck – es muss noch im 18. Jahrhundert einen Markt für Abschriften gegeben haben, auch für Abschriften gedruckter Bücher. Für die Verbreitung von Material welcher Art auch immer durch Vervielfältigung gibt es in den sozialen Medien immer noch einen Markt, auch wenn sie nicht durch Abschrift, sondern durch elektronisches Kopieren geschieht. Eine strenge wissenschaftliche Bemerkung: Nicht wenige der Briefe aus unserem Korpus haben mehrere Verfasser, was im 18. Jahrhundert gar nicht so ungewöhnlich ist (es reicht dazu ein Blick in die Mozart-Korrespondenz). Editorisch aber ist dieses Problem bis heute nicht durchgehend bewältigt – Eduard Berend etwa hat von den Gemeinschaftsbriefen der Familie Richter fast durchgängig nur den Anteil Jean Pauls in seine Ausgabe aufgenommen, was natürlich ein völlig falsches Bild ergibt. Die sozialen Medien haben die Partizipation von Menschen an der Öffentlichkeit – ihre aktive Teilnahme daran durch buchstäbliches Mit-Schreiben – vervielfacht, nicht 25

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immer zur Freude der Mit-Lesenden. Soziale Medien sind demokratische Medien, auch wenn Volkes Stimme selbst das Volk nicht immer freut. Am Anfang regierte der demokratische Impetus die Netz-Idealisten, im arabischen Frühling gelangen mit Hilfe der sozialen Netzwerke Revolutionen. Im Westen haben wir heute freilich nur noch Furcht vor Datenkraken. Wir können uns fragen, ob die Entstehung der Briefkultur im 18. Jahrhundert nicht einem ähnlichen idealistischen Impetus folgte – der Hoffnung auf Aufklärung, auf Verbürgerlichung der Gesellschaft im Sinne der Partizipation eines bisher politisch in den Flächenstaaten Europas nicht rechtlosen, aber weitgehend passiven Standes. Vielleicht sollte man im 18. Jahrhundert im Umgang mit dem Begriff der Netzwerke und Briefnetzwerke vorsichtig sein. Für die Soziologie hängt der Begriff des Netzwerks an den offenen Strukturen, daran, dass die interagierenden ‚Knoten‘ jederzeit Verbindungen – ‚Kanten‘ – mit neuen Knoten eingehen können. Etwas weniger abstrakt formuliert: Netzwerke sind Ausdruck für eine Gesellschaft, deren Mitglieder immer neue und tendenziell instabile Beziehungen eingehen. In einem sozialen Netzwerk heute ist sogenannte ‚Freundschaft‘ etwas sehr Flüchtiges – und sie besteht nur im Netzwerk selber, das von seiner reinen technischen Existenz lebt. Das wage ich für das 18. und noch für das 19.  Jahrhundert zu bezweifeln: Es gibt Familien und Freundesgruppen und Künstler- oder Gelehrtenverbindungen, aber es gibt keine Institutionen, schon gar keine technischen, die die einzige Relation aller darin in direktem medialem Austausch verbundenen Menschen wären – die Kanten haben sich die Knoten nicht gänzlich einverleibt. Und schließlich: Das Projekt der ‚Umfeldbriefe‘ lebt von zwei Briefsammlungen Richter und Osmund. Ob es Nachlässe von uns in welcher materiellen Form geben wird? WhatsApp-Archive? Oder droht die heutige Gegenwart, einmal Geschichte geworden, der Vergessenheit anheimzufallen?

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Copy & paste Sharen – Liken – Retweeten – Bloggen im 15. bis 17. Jahrhundert Erwin Kreim

Die interaktiven Phänomene der elektronischen Kommunikationskultur werden mit einer Reihe von Begriffen aus dem angloamerikanischen Sprachschatz beschrieben. Eine Spezialsprache pflegen z. B. auch Börsenhändler, um den Eindruck von Kompetenz entstehen zu lassen. Die dahinterstehenden Sachverhalte sind schon seit der ersten Medienrevolution durch Johannes Gutenberg vor 500  Jahren bekannt. Die Menschen in der Renaissancezeit hatten die gleichen Kommunikationsbedürfnisse wie die heutigen Menschen, doch bedingen unterschiedliche Medialitäten bekanntlich deren Ausgestaltung. Heute nutzen Plattformbetreiber wie Facebook, Twitter, Instagram, LinkedIn Computertechniken für eine schnelle Kommunikation mit möglichst vielen Teilnehmern. Aber auch im Business und in der Wissenschaft werden neue Informationen schnell integriert und weiter geteilt. Dabei werden die Originalquellen oft bewusst verschwiegen, ja sogar bewusst verfälscht. Der wirtschaftliche Erfolg der Plattformbetreiber wird durch die Zahl der Nutzer (Follower) bestimmt. Seit der ersten Medienrevolution durch Johannes Gutenberg ermöglichten die neuen Druckereien und Verlage eine schnelle Verbreitung von Informationen. Damals war allerdings die Zielgruppe der lesekompetenten Menschen noch sehr klein. Die grenzüberschreitende Kommunikation gelingt heute mit der englischen Sprache, vor fünfhundert Jahren erfolgte die schriftliche Kommunikation zwischen den Völkern Europas primär in Latein. Auch die Plagiate bei Doktorarbeiten und Veröffentlichungen hochrangiger Politiker, bei denen Inhalte unter Missachtung von Urheberechten zusammenkopiert (Copy & paste) werden, sind nicht neu. Sie wurden schon mit Gutenbergs Erfindung praktiziert. So wie das ‚WWW‘ eine Medienrevolution auslöste, lässt sich eine revolutionäre Entwicklung der schriftlichen Kommunikation auch nach Gutenbergs Erfindung im 15. bis 18. Jahrhundert nachweisen. 27

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Für die Entwicklung einer Briefkultur war auch ein funktionierendes, europaweites Postwesen Voraussetzung. Dieses wurde in Folge der Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern durch Kaiser Maximilian I. Ende des 15. Jahrhunderts angestoßen.1 Von da an war es möglich, Texte schnell in großer Zahl herzustellen und zu verteilen. Die Briefkultur wurde ganz wesentlich geprägt durch Formelbücher, später als Briefsteller bezeichnet. Insbesondere die Mustersammlung des Marcus Tullius Cicero, Epistolae ad familiares (Briefe an Freunde), war Grundlage des Faches Rhetorik im Grundstudium an den neuen Universitäten. Die Formularbücher zählten auch zu den ersten Büchern, die von den neu entstandenen Druckereien gedruckt wurden. Vermutlich überredete der Kardinal und Universalgelehrte Nikolaus von Kues zwei Mitarbeiter Gutenbergs, in Subiaco, einem Kloster in der Nähe Roms, eine Druckerei zu gründen. Zu ihren Erstdrucken im Jahr 1465 gehörte Ciceros De Oratione, ein Leitfaden für Rhetoriklehrer. 2 Zwei andere Mitarbeiter Gutenbergs gingen nach Venedig, damals fünfmal größer als Mainz und das Tor zur Welt, um eine erste Druckerei zu gründen. Ihr Erstdruck im Jahr 1469 war Ciceros Epistolae ad familiares in einer Auflage von 300 Exemplaren. 3 Es folgte noch im gleichen Jahr eine Zweitauflage. Schließlich druckte Johannes Nurmeister, ein weiterer Mitarbeiter aus dem GutenbergTeam 1471 in Foligno, in der Nähe Perugias, Ciceros Brieflehrbuch.4 Für den deutschsprachigen Raum sind 15 Rhetorik- und Formularbücher in deutscher Sprache nachgewiesen, die vor 1500 gedruckt wurden. 5 Diese Inkunabeln (Frühdrucke) dienten als Vorlagen für die sich ausbreitende Briefkultur. Eine Definition des Mediums Brief findet sich schon in dem seltenen Briefsteller von Francesco Niger, Ars scribendarum epistolarum elegantissima declarata, Nürnberg  1502: „Der Brief ist eine Rede in Prosa, die abwesende Freunde zu anwesenden macht und sowohl zum Vergnügen wie zum Nutzen, dem öffentlichen und dem privaten genial erdacht wurde.“6 Es folgt die Aufzählung von zwanzig Gattungen von Briefen:

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Vgl. Klaus Beyer, Hans-Christian Täubrich (Hrsg.), Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation, Heidelberg 1996. Stephan Füssel, Von Mainz in alle Welt, in: Michael Matheus, Heidrun, Ochs, Kai-Michael Sprenger (Hrsg.), Reviewing Gutenberg, Wiesbaden 2021, S. 209. Ebd. S. 215. Ebd. S. 212. Reinhard Nickisch, Die Stilprinzipien in den deutschen Briefsteller des 17.  und 18.  Jahrhunderts, Göttingen 1969, S. 247f. Annette Ludwig (Hrsg.), Bestseller  – Briefsteller. Die Sammlung Kreim (Verborgene Schätze des Gutenberg-Museum, Bd. 1), Oppenheim a. Rh. 2021, S. 25, Übersetzung Jürgen Blänsdorf, Mainz).

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Abb. 1: Briefdefinition aus Franciscus Nigers Ars scribendarum epistolarum elagantissima declarata, Nürnberg (Johann Meurl) 1502. An zwei Beispielen herausragender Briefeschreiber kann die sich entwickelnde Briefkultur veranschaulicht werden: Erasmus von Rotterdam (1466–1536) und Martin (Luder) Luther (1483– 1546): In seinen Pariser Jahren hat Erasmus im Alter von ca. 26 Jahren auf Bitten „eines nicht gerade ehrlichen Freundes“ als Stilübung einige Texte zur Abfassung von Briefen verfasst. Dieser Freund Holonius nutzte die neue Technik, ließ die Texte unter seinem Namen drucken und verkaufte sie. Nach dessen Tod glaubte Erasmus, nun gäbe es keine neuen Drucke seiner Texte, aber „da trat in England plötzlich ein zweiter Holonius auf den Plan und druckte das Werk über die Abfassung von Briefen ab“.7 Die an vielen Orten entstandenen Druckereien suchten nach Manuskripten, die sie drucken und verkaufen konnten, ohne urheberrechtliche Bedenken. So schreibt Erasmus: Ich dachte nicht daran, dass jemand die Stirn haben werde, meine Blätter zu meinen Lebzeiten gegen meinen Willen zu veröffentlichen. Allein, wie ich sehen muss, kennen die Verleger keinerlei Hemmungen mehr. Seitdem sie merken, dass die läppischen Kleinigkeiten reißenden Absatz finden, gleichzeitig aber die guten alten Autoren unbeachtet

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So Erasmus von Rotterdam in einem Brief an Nicolaus Bèrauld aus Orleans 1522, in: Desiderius Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, hrsg. von Werner Welzig, 8 Bde., Darmstadt 1972– 1980, Bd. 8: De Conscribenis Epistolis / Anleitung zum Briefeschreiben, Darmstadt 1980, S. 3.

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Erwin Kreim bleiben, handeln sie ohne jede Scham nach dem bekannten Motto aus einer Satire: ‚Gewinn riecht in jedem Fall gut‘.8

Trotz des Ärgers überarbeitet Erasmus seine Texte und lässt das Werk 1522 in Basel drucken; bis zu seinem Tod erscheinen 80 Auflagen in ganz Europa. Diese Anleitung zum Briefe schreiben ist eine Aufforderung zu ‚Copy & paste‘. Doch Erasmus präzisiert: Wer bei Briefen eine bestimmte allgemeine Form sucht oder vorschreibt, was, wie ich sehe, einige nicht Ungebildete taten, der geht  – so scheint es mir  – bei einem so vielfältigen, ja unendlich differenzierten Gegenstand viel zu wenig flexibel vor. Er handelt, glaube ich, in der Tat um gar nicht so viel weniger unsinnig als ein Schuster, der über einen und denselben Leisten einen Schuh für jeden Fuß herstellen wollte.9

Ein guter Briefeschreiber sollte die Regeln des Erasmus beachten, d. h. er sollte eine Reihe von „Leisten“ vorhalten, um sie empfängergerecht auswählen zu können. Erasmus hat täglich mehrere Briefe geschrieben, die von den Empfängern oft weitergegeben oder auch vervielfältigt (gedruckt) wurden. Er pflegte ein großes Netzwerk aus dem noch über tausend Briefe erhalten sind, sie wurden geteilt (‚geshared‘) und beantwortet und verbreitet (‚retweetet‘). Zu Martin Luther: Der berühmte Brief vom 31. Oktober 1517 an Erzbischof Albrecht von Brandenburg in Mainz war in lateinischer Sprache verfasst. Es war also auf den ersten Blick ein persönlicher Brief mit einem Anhang, den 95 Thesen. Der Erzbischof ließ ihn unbeantwortet liegen, so dass er keinerlei Wirkung gehabt hätte. Aber Luther sorgte durch Verbreitung von Abschriften dafür, dass die 95 Thesen bekannt wurden. Der Anschlag der Thesen an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg ist ein schönes Narrativ, aber wichtiger ist die Verbreitung durch ihren Druck. Bei dem wichtigen Anhang dürfte es sich sowohl um ein CC (Carbon Copy) als auch ein BCC (Blind Carbon Copy) gehandelt haben, d. h. der Anhang wurde gezielt verteilt und sicher auch zum Teil nicht offen, als BBC, verbreitet. Seine reformatorische Wirkung konnte das Schreiben nur erreichen, weil es weit gestreut (‚geshart‘) wurde. Eine Kleinigkeit wird in diesem Brief oft übersehen. Der Brief endet (übersetzt): „Euer unwürdiger Sohn Martinus Luther, Augustiner, berufener Doktor der h. Theologie“.10 Erstmals verwendet Martin Luther nicht seinen Geburtsnamen Luder und weist darauf hin, dass er im Gegensatz zum Kardinal studierter Theologe, also ihm in Fragen der Schriftauslegung überlegen ist. Er unterstreicht damit auch, dass er eben kein „unwürdiger Sohn“, sondern kompetenter Theologe ist. 8 9 10

Ebd. Ebd. S. 9. Luther [Auswahl aus seinen Schriften], hrsg. von Karl Gerhard Steck, Berlin / Darmstadt 1961, S. 31.

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Copy & paste

Für das Thema ist ein anderer Brief Luthers noch interessanter. Am 5. Juli 1530 schrieb Luther einen weiteren Brief an seinen Erzbischof Albrecht von Brandenburg, hier als Faksimile:

Abb. 2: Ein Brieff an den Cardinal | Ertzbischoff zu Meintz | unter dem Reichstag zu Augsburg | Anno M.D.XXX. | Geschrieben durch D. Mart. Luther | Wittenberg. | Gedruckt durch Hans Lufft. | 1546. 31

Erwin Kreim

Den Brief schrieb Luther nicht von Hand, sondern ließ ihn als quasi öffentlichen Brief gleich drucken. In der Anrede hält er sich ganz an die Regeln, wie sie in Formelbüchern (Briefstellern) vorgegeben sind (fast schon in ‚Copy & paste‘-Manier). Er ist besorgt, dass in dieser „schwinden Zeit“ der Brief „verruckt“ ankommt. So will er ihn eben frei veröffentlicht ans Licht bringen und den giftigen, arglistigen Deutern zuvorkommen (ähnlich heutigen Strategien, öffentlich zugängliche Informationen mit klarem Absender als Mittel gegen ‚fake news‘ zu platzieren). Durch den Druck des Briefes erreicht Luther jetzt einen größeren Leserkreis und der Brief wird immer wieder neu aufgelegt. Das obige Exemplar ist ein Abdruck von 1546.11 Dieses Beispiel zeigt, wie Luther mit seinem Sendungsbewusstsein die Möglichkeiten des Druckens intensiv nutzte. „Dieser Guerillakämpfer im Namen Gottes hat die Kirche immer wieder mit seiner Agilität übertölpelt,“12 ähnlich wie es heute auch einigen Bloggern gelingt, an etablierten Medien vorbei Aufmerksamkeit und Wirkung zu erlangen. Andererseits waren auch die Erwartungen der Leser nach schnellen und unverfälschten Informationen sehr hoch. Luther schreibt in seinen Selbstzeugnissen am Ende seines Lebens (1545), dass er dem Drängen Vieler nachgab, seine Schriften noch zu seinen Lebzeiten zu veröffentlichen. „Überdies war es der Wunsch und Wille unseres erlauchten Herrn, des Kurfürsten Johann Friedrich der Weise, der den Druckern befahl und sie geradezu zwang, nicht nur den Satz zu unternehmen, sondern die Ausgabe sogar zu beschleunigen.“13 Von der Handschrift ausgehend entspricht das Drucken als politisches Instrument dem heutigen ‚Posten‘ oder ‚Tweeten‘. Neben diesen Beispielen gibt es bis ins 18. Jahrhundert eine Vielzahl von Drucken ohne Hinweise auf die Autorenschaft. Die Buchwissenschaftler können anhand benutzter Typen Entstehungsorte zuordnen, aber viele Quellen werden mit „o. V.“ (ohne Verfasser) zitiert, was eigentlich falsch ist, denn für alle Texte gibt es Verfasser nur wurden sie oft nicht genannt, also „V. u.“ (Verfasser unbekannt oder ungenannt). Das Problem der Raubdrucke, also unberechtigter Nachdrucke ohne das Einverständnis der jeweiligen Autoren und ihrer Verleger, wuchs mit der Vermehrung von Druckmaschinen und Druckereien und führte erst im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einem Problembewusstsein und schließlich zur Entwicklung von Urheberrechten. Es kann in diesem Aufsatz nicht näher darauf eingegangen werden. Nicht selten wurden von Druckereien für ‚No-name-Drucke‘ und Raubkopien die gleichen Drucksätze wie bei den Originalen verwendet, nur an einigen Stellen des Buches hatte man kleine Änderungen vorgenommen. Nicht nur der Inhalt wurde also kopiert, sondern auch die Typographie.

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13

Im Besitz des Autors. Lukas Bärfuss, Luther, (Programmheft zum gleichnamigen Drama von Lukas Bärfuss in Worms, Uraufführung 16.7.2021), S. 17. Martin Luther, An den frommen Leser (1545), in: Luther (Anm. 10), S. 20.

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Copy & paste

Das Bedürfnis, Texte zu duplizieren, zu vervielfältigen gab es schon immer, nicht nur bei Druck-, sondern auch bei Handschriften. In einem Briefsteller von 1661 wird eine besondere technische Möglichkeit abgebildet, wie ein Schreiber gleichzeitig zwei Texte anfertigen kann (Abb. 3). Ob das abgebildete ‚Kopiergerät‘ in der Praxis allerdings funktionierte, hat der Autor nicht überprüft. Die Beschreibung im Text lautet: „Wir wollen auch hier lehren / daß man auf einmaln zweien Briefe schreiben kann / und hat solches ein Schulmeister von Cöln mit viel Verwunderung erwiesen […] / Aus der Figur wird solches leichter zu verstehen sein.“14 Es wäre damit möglich, bestimmte Textstellen gleich zweifach zu schreiben und davor und danach könnten entsprechende empfängerorientierte Passagen ergänzt werden.

Abb. 3: Textkopiergerät aus Harsdörffers Deß Teutschen Secretarii (Anm. 14). Die Druckereien waren die Plattformen wie heute Facebook, Twitter, Instagram. Nur sind heute die Dimensionen sehr viel größer. ‚Liken‘ oder ‚Retweeten‘ lässt sich mit einem Mausklick ausführen. Doch Begrenzung auf 140  Zeichen ist bei Luther und Erasmus undenkbar. Zustimmung und Kritik wurde meist sehr differenziert mit eigenen Texten geäußert. So schreibt Martin Luther 1516 an seinen Freund und Mittelsmann zum Kurfürsten Friedrich dem Weisen: „Lieber Herr Spalatin! An Erasmus ist mir bei all seiner Gelehrsamkeit anstößig, daß […]“ – es folgen viele ausführliche Argumente, dann fährt Luther fort: „Tut daher Eure Freundes- und 14

Georg Philipp Harsdörffer, Deß Teutschen Secretarii. Zweyter Theil, Nürnberg 1661, S.  20. Ein Exemplar befindet sich in der Gutenberg-Bibliothek Mainz, Briefsteller-Sammlung, Nr. 27.

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Christenpflicht und schreibt dieses an Erasmus […]“. Der Brief endet „am Tage nach St. Lukas 1516. Bruder Martinus Luder, Augustiner“15 (noch nicht Martinus Luther!). Das ist ein schönes Beispiel für ein Antworten, ‚Forwarden‘ und ‚Retweeten‘ im frühen 16. Jahrhundert. Aufgrund der aktuellen Gender-Debatten soll noch ein Beispiel angeführt werden aus dem ersten Briefsteller für Damen (1835), der von einer Frau verfasst wurde: Amalia Schoppe (1791 geboren als Amalia Weise auf Fehmarn, gestorben 1858 in New York) war eine emanzipierte Autorin, die nach dem frühen Tod ihres Mannes die Familie durch ihre umfangreiche Schriftstellerei finanziell versorgte.

Abb. 4: Eine Dame übergibt dem Diener einen Brief zur Beförderung, Beispiel für Emanzipation als Titelkupfer zu Amalia Schoppes Briefsteller für Damen. Ein Fest- und Toilettengeschenk für Deutsche Frauen, Berlin 1835.

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Luther (Anm. 10), S. 27.

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Copy & paste

Der Briefsteller erfüllt hier offenkundig auch eine andere Funktion sozialer Medien von heute, er ist Ratgeber, in der Sache und im Ausdruck, wie der Brief Nr. 227 mit dem Titel Wegen Mißhandlung einer Tochter von Seiten ihrer Erzieherin erkennen lässt. Hier heißt es: Madame! Als ich meine Tochter Josephine Ihrer Aufsicht und Erziehung übergab, äußerte ich, daß E r z i e h e n und D r e s s i e r e n zweierlei sei, daß Sie solche mit L i e b e zu ihrer Pflicht anhalten […] aber nie körperlich züchtigen möchten, weil ich das Schlagen unter der Würde der Menschheit und überdies für ein gar schlechtes Erziehungsmittel halte.16

Hier engagiert sich die Autorin für eine Erziehung, die die Würde des Menschen beachtet und körperliche Züchtigung, die damals weit verbreitet war, ablehnt. Der Briefsteller ist auch ein Erziehungsratgeber. Abschließend ist noch auf ein weiteres Phänomen hinzuweisen. Wenn heutzutage Briefe an Behörden, Bewerbungen um eine Wohnung oder eine neue Stelle zu schreiben sind oder auch Liebesbriefe, suchen die Schreiber oft Vorlagen im Internet. In zahleichen Datenbanken sind solche Muster zu finden. Unter Beachtung der ‚Netiquette‘ können sie ganz oder abgeändert übernommen werden. Aber auch das ist nicht neu. Kaspar Stieler, genannt ‚der Spaten‘, verfasste 1661 einen über 5000  Seiten umfassenden Briefsteller, Des Spaten Teutsche Sekretariats-Kunst.17 Es ist das umfangreichste, bis dahin gedruckte Buch und enthält Beispiele für alle privaten und geschäftliche ‚Wechselfälle des Lebens‘; eine bislang wenig beachtete Fundgrube für kulturwissenschaftliche Forschungen. Anhand der ausgewählten Beispiele wird nachvollziehbar, dass die Kommunikationserwartungen schon vor 500 Jahren den heutigen ähnlich waren. Ebenso war das Gewinnstreben der Druckereien im Ansatz vergleichbar demjenigen heutiger Plattformbetreiber.18 Durch die von Gutenberg entwickelten medialen Möglichkeiten konnten sie befriedigt werden, wenn auch zu berücksichtigen ist, dass das Lesevermögen noch auf einen kleinen Kreis von Menschen beschränkt war. Copy & paste, Sharen, Liken, Retweeten, Bloggen sind zwar Begriffe des 21. Jahrhunderts; die damit beschriebenen Kommunikationsstrategien aber lassen sich schon in den fünf Jahrhunderten nach Gutenbergs Erfindung nachweisen. 16

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Amalia Schoppe, Briefsteller für Damen. Ein Fest- und Toilettengeschenk für Deutsche Frauen, Berlin 21837, S. 394. Ein Exemplar befindet sich in der Gutenberg-Bibliothek Mainz, Briefsteller-Sammlung, Nr. 211. Ludwig, Bestseller – Briefsteller (Anm. 6), S. 60ff. Vgl. dazu auch Erwin Kreim, Johannes Gutenberg  – Unternehmer des zweiten Jahrtausends, Oppenheim a. Rh. 2022.

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Briefe und poetische Episteln als Instapoetry der Aufklärungszeit? Elisa von der Reckes Briefwechsel mit Johann Wilhelm Ludwig Gleim und dem Halberstädter Freundeskreis Valérie Leyh

Gibt es InfluencerInnen erst seit der Entwicklung einer digitalen Öffentlichkeit? Und ist Instapoetry, die zum Teil von InfluencerInnen geprägt wird, eine neue Lyrikform, deren Entstehung auf das Medium zurückzuführen ist? In seinem Aufsatz zu der seit 2013 im sozialen Netzwerk Instagram entstehenden Lyrik untersucht Niels Penke die Kommunikations- und Selbstdarstellungsstrategien von InstapoetInnen, bevor er mit grundlegenden Überlegungen zu diesen Fragestellungen schließt: Viele I n s t a p o e t r y -Beiträge machen den Eindruck von Gelegenheits- und Gefühlslyrik, wie sie auch vordem, zumeist auf den privaten Bereich beschränkt geblieben, verfasst, und, wenn überhaupt, in geringen Auflagen publiziert wurde. Der Unterschied läge dann in der Überwindung und / oder Aufhebung der Schwellen der ,alten‘, vor-digitalen Öffentlichkeit in einer neuen, digitalen, in deren Möglichkeitsspielraum Texte veröffentlicht und sichtbar werden können, die unter Bedingungen des traditionellen Literaturbetriebs und Verlagswesens an den Gatekeeper-Instanzen scheiterten. Macht Instagram insofern nur das sichtbar, was an vielen Orten schon früher praktiziert wurde, aber nie über die Beachtungsgrenze von Familien- und Freundeskreisen, von beschränkter intimer Kommunikation also, hinausgelangt ist?1

1

Niels Penke, #instapoetry. Populäre Lyrik auf Instagram und ihre Affordanzen, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 49 (2019), S. 451–475, hier S. 475 (Hervorhebung im Original).

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Valérie Leyh

Penke gibt auf diese Frage keine eindeutige Antwort, meint jedoch, es sei „empirisch zu prüfen, ob es sich bei der I n s t a p o e t r y um eine ,ins Netz gewanderte‘, also lediglich digital sichtbar gewordene Literatur“ handle, oder „um eine Literatur ‚des Netzes‘, die erst im Kontext dieser neuen Veröffentlichungsmöglichkeiten motiviert wurde und somit ,im Netz‘ e n t s t a n d e n [sei].“2 Für die zweite Hypothese sprechen tatsächlich zentrale Eigenschaften der Instapoetry, die Kate Kovalik und Jen Scott Curwood als „four key qualities“ definieren: „digital tools, multimodal representation, a global audience and dynamic movement across physical and virtual contexts, all facilitated by technological advancement“.3 Diese Merkmale sind an den Beiträgen der bislang meist untersuchten Instapoetin Rupi Kaur zu erkennen: Ihre Gedichte werden in einem ersten Schritt auf Instagram veröffentlicht, verbinden auf eine kreative Weise und in der Art visueller Poesie Text und Bild, erreichen eine hohe Resonanz (über 100 000 Likes)4 und werden von der Autorin von einem regen, interaktiven Austausch begleitet.5 Gleichwohl scheint sich bei den Funktionen dieser Poesie ein Kern herauszubilden, den die technologischen Neuerungen möglicherweise intensiviert haben, der die Literatur aber wohl seit viel längerer Zeit prägt und der durch das Vorherrschen der Autonomieästhetik ausgeblendet wurde: Beim Teilen der Texte, die sich oftmals durch einen „ästhetische[n] Konservatismus“6 auszeichnen, spielt der gegenseitige Austausch, die „reziproke Kritik“7 eine grundlegende Rolle. Rezipierende werden zu Produzierenden, indem sie dem Autor oder der Autorin 2

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4 5

6 7

Ebd. (Hervorhebung im Original). Zur Instapoetry und zum Verhältnis zu den Distributions- und Rezeptionsmöglichkeiten vgl. auch Jonas Heß: „Es lässt sich also durchaus fragen, ob der gegenwärtig große Erfolg der Instapoetry, was Verbreitung und zum Teil auch Absatz angeht, auch über die Grenzen des eigenen Mediums hinaus nicht weniger den politischen Inhalten als den – inhaltsunabhängigen – schnellen und stets verfügbaren Distributions- und Rezeptionsmöglichkeiten via Smartphone geschuldet ist.“ Jonas Heß, Politische Dichtung auf dem Vormarsch? Instapoets, Lyrik in den Sozialen Medien und die Politik, in: Literaturkritik.de [27.11.2021]. Kate Kovalik, Jen Scott Curwood, #poetryisnotdead. understanding Instagram poetry within a transliteracies framework, in: Literacy, 53/4 (2019), S. 185–195, hier S. 186. Vgl. Penke, #instapoetry, (Anm. 1), S. 468. Vgl. ebd. S. 470: „Kaur […] interagiert auf zweierlei Arten, die jedoch nicht die Oberflächen-Ästhetik des Accounts eingreifen und erst auf untergeordneten Ebenen sichtbar werden. Zum einen kommuniziert sie über den Kommentarbereich unter ihren Gedichten, in dem sie bisweilen eine hohe Interaktivität beweist. Sie erreicht mit einer E n g a g e m e n t R a t e von 4,28 % einen überdurchschnittlich hohen Wert im Vergleich zu anderen A-Level-Accounts. Zum anderen wendet sich Kaur aber auch über die S t o r i e s , also den jeweils für 24 Stunden verfügbaren Fotos und kurzen Video-Clips, die in einer gesonderten Kategorie angezeigt werden, an ihre Followerïnnen.“ (Hervorhebungen im Original). Ebd. S. 460. Ebd. S. 453.

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Briefe und poetische Episteln als Instapoetry der Aufklärungszeit?

Kommentare schicken, die zur Verbesserung der Texte beitragen können oder auch emotionale Unterstützung liefern. Die Publikation im Netz erweist sich als erste Stufe, die anschließend zu einer Buchpublikation führen kann – wie dies etwa bei Rupi Kaur oder bei der deutschen Autorin Julia Engelmann der Fall ist. Um an Penkes Überlegungen anzuknüpfen und diese zu vertiefen, soll im Folgenden die Funktion des Austauschs innerhalb einer (geschlossenen) Gemeinschaft durch Analogien zwischen den aktuellen digitalen Praktiken und der Briefkultur im 18.  Jahrhundert erkundet werden, und zwar am Beispiel der Kommunikations- und Selbstdarstellungsstrategien der lange Zeit in Vergessenheit geratenen Autorin und Akteurin Elisa von der Recke (1754–1833). Diese aus Kurland stammende Autorin hinterließ kein ‚geniales‘ Werk, ihre Schriften sind überaus unterschiedlicher Natur (sie umfassen u. a. geistliche Lieder, autobiographische Texte, die Cagliostro-Schrift, Reisetagebücher, publizistische und biographische Texte sowie ein Theaterstück), doch kann sie zweifelsfrei als Netzwerkerin bezeichnet werden. Zu ihren KorrespondenInnen gehörten u. a. Johann Joachim Christoph Bode, Friedrich Nicolai, Karl August Böttiger, Ernst Christian Trapp, Luise von Anhalt-Dessau, Sophie von La Roche, in späteren Jahren z. B. auch Jean Paul.8 Dass Elisa von der Recke ihr Selbst in kollektiver Form über ihr ausgedehntes Netzwerk entwarf, es „als Quelle für die virtuelle Lebensdarstellung“ diente9 und sie als Lyrikerin außerdem sehr bewusst auch den Austausch, heute so genannte ‚Feedbacks‘ suchte, möchte ich an einem kleinen Teil ihres Briefnetzwerks schildern, nämlich anhand bislang unedierter Briefe, die sie und ihre Freundin Sophie Becker (1754–1789) mit Johann Wilhelm Ludwig Gleim10 und

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Vgl. zu Recke allgemein u. a. Adelheid Müller, Sehnsucht nach Wissen. Friederike Brun, Elisa von der Recke und die Altertumskunde um 1800, Berlin 2012; Valérie Leyh, Adelheid Müller, Vera Viehöver (Hrsg.), Elisa von der Recke. Aufklärerische Kontexte und lebensweltliche Perspektiven, Heidelberg 2018. Dieser Sammelband enthält auch eine Bibliografie der Schriften Elisa von der Reckes sowie der Forschungsliteratur. Tobias Heinrich, Communicating Identity in the Eighteenth Century. Johann Wilhelm Ludwig Gleim’s Network and the Cult of Friendship, in: The European Journal of Life Writing, 3  (2014), S. 100–122, hier S. 102. Vgl. auch ebd. S. 117f.: “Like historical practices of letter-writing, contemporary digital social networks demonstrate how different forms of media serve as spaces of negotiation to define, shift, confirm or reject conceptions of the self and the other. […] As much as epistolary correspondence contributed to the idea of the autonomous individual through narrative self-assertion, constructions of identity are also based upon collective acts of communication and mutual recognition.” Die Briefe, die Elisa von der Recke und Johann Wilhelm Ludwig Gleim ausgetauscht haben, werden in folgenden Archiven aufbewahrt und sind bislang noch nicht ediert worden: Gleimhaus Halberstadt, Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Freies Deutsches Hochstift Frankfurt a. M., Deutsches Literaturarchiv Marbach, Landesarchiv Berlin, Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, GoetheMuseum Düsseldorf.

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dem ebenfalls in Halberstadt lebenden Dichter Klamer Eberhard Karl Schmidt austauschten,11 sowie anhand einiger dazugehöriger Umfeldbriefe.12 Diese Briefe zeigen – so meine These – einen Kontrast auf, der die damaligen wie heutigen Formen der Literatur prägt, und zwar die grundlegende Spannung zwischen ästhetischen und sozialen Absichten. Nachdem kurz rekonstruiert wird, wie Recke den Gleimkreis kennen lernte und ein langjähriger Briefwechsel entstand, soll daher der im Gleimkreis stattgefundene Austausch und insbesondere die Rolle der Epistel näher untersucht werden, bevor anschließend gezeigt wird, wie dieser Austausch veröffentlicht und in welch besonderer Form er archiviert wurde.

1 Reale Begegnungen Als die aus der Gegend von Mitau im heutigen Lettland stammende Elisa von der Recke mit der gleichaltrigen und ebenfalls in Kurland aufgewachsenen Freundin Sophie Becker im Jahre 1784 ihre Reise nach Deutschland antrat, hatten die beiden Frauen über den Briefaustausch schon zahlreiche Kontakte zu deutschen Intellektuellen und SchriftstellerInnen geknüpft.13 Sophie Beckers Reisetagebuch weist präzise nach, dass sie im Oktober 1784 von Friedrich Leopold Günther von Göckingk und seiner Familie in Wülferode empfangen wurden, dass sie wenig später  – am 18.  Januar  1785  – auch Johann Wilhelm Ludwig Gleim und Klamer Eberhard Karl Schmidt kennenlernten.14 Dass sie mit Gleim jene Persönlichkeit trafen, die für die Aufklärungszeit besonders prägnant die Idee eines sozialen Briefnetzwerks vertrat, sei hier nur kurz erwähnt: Umfassende Arbeiten zu Gleim15 und insbesondere die neueren Arbeiten von 11

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Der Briefwechsel zwischen Elisa von der Recke und Klamer Eberhard Karl Schmidt befindet sich in der Biblioteka Jagiellońska Krakau, Autographa Recke. Bei Schmidts Briefen handelt es sich größtenteils um Abschriften. U. a. die Briefe von Sophie und Johann Ludwig Georg Schwarz an Friedrich Nicolai in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachlass Nicolai I, 70, Mappe 31, Bl. 366–386. Müller, Sehnsucht nach Wissen (Anm. 8), S. 125–127. [Sophie Schwarz, geb. Becker], Vor hundert Jahren. Elise von der Reckes Reisen durch Deutschland 1784–86, nach dem Tagebuche ihrer Begleiterin Sophie Becker hrsg.  von G.  Karo und M.  Geyer, Stuttgart o. J. [ca. 1884], S. 99: „Den Abend des 18. Januar brachten wir bei Kanonikus Gleim zu“. Zwei weitere Begegnungen fanden vom 11. bis 15. März 1785 und vom 18. bis 21. April 1785 statt. Siehe dazu Gerlinde Wappler, „Leben Sie wohl, geliebter Vater“. Menschen um Gleim, Bd. 2, Oschersleben 2000, S. 80. Unter den zahlreichen Publikationen siehe u.  a.  Ute Pott (Hrsg.), Das Jahrhundert der Freundschaft. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Zeitgenossen, Göttingen 2004; Christiane Holm, Das Briefarchiv von „Vater Gleim“ als Beitrag zur Generationalisierung der Literatur um 1800, in: Selma Jahnke, Sylvie Le Moël (Hrsg.), Briefe um 1800. Zur Medialität von Generation, Berlin 2015, S. 197–216.

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Briefe und poetische Episteln als Instapoetry der Aufklärungszeit?

Tobias Heinrich haben deutlich gezeigt, wie seine ausgedehnte Korrespondenz und sein Tempel der Freundschaft dazu verhalfen, ein breites soziales Kollektiv zu konstituieren,16 bei dem in mehrfacher Hinsicht Bezüge zu heutigen digitalen Technologien hergestellt werden können. Heinrich stellt in diesem Zusammenhang fest: Nur scheinbar einem anachronistischen Kommunikationsmodell verpflichtet, zeigt gerade der digitale Medienwandel die Aktualität von Gleims Programm einer sozialen Einbettung der literarischen Tätigkeit, dessen Kern die Sublimierung der physischen Präsenz des Autors im Schriftmedium bildet, wie sie in der Briefkorrespondenz als Simulation des mündlichen Gesprächs vorexerziert wird […]. Analog zu den Sozialen Medien der Gegenwart sind die Rezipienten immer zugleich auch potentielle Produzenten, werden Gattungs- und Mediengrenzen bewusst überschritten und beruht die künstlerische Tätigkeit maßgeblich auf der inhärenten Spannung zwischen Enthüllung und Inszenierung des Selbst.17

Gleim und Recke waren teilweise tatsächlich von ähnlichen Ideen getragen. Schon Gerlinde Wappler schließt in ihrer biographischen Vorstellung des Briefwechsels, beide verbinde „neben der Liebe zur Literatur ein außergewöhnlich starkes Streben nach Kontakten, das Bemühen, die Menschen zusammenzuführen und in Notfällen auch Freunde zu unterstützen.“18 Die beiden gleichgesinnten Menschen unterhielten bis zu Gleims Tod einen regelmäßigen Briefwechsel; eine besondere Beziehung zu Halberstadt entwickelte Recke außerdem auch deshalb, weil ihre Freundin Sophie Becker im April 1787 den Juristen Johann Ludwig Georg Schwarz geheiratet hatte und nach Halberstadt gezogen war.19 Zweieinhalb Jahre später verstarb Sophie Schwarz allerdings kurz nach der Geburt ihres Sohnes Karl. Dieser frühe Tod der Freundin prägte langfristig die Beziehung Reckes zu den Halberstädter Freunden sowie den sozialen und medialen Umgang mit den Briefen und den literarischen Texten, die in der gemeinsamen Zeit entstanden waren. 16

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Heinrich, Communicating Identity in the Eighteenth Century (Anm. 9), S. 114: “The collective way of communicating by letter helped constitute circles and communities and extended the dual relationship of letter writers and recipients to a wider social collective.” Tobias Heinrich, Gleim und sein Kreis, in: Marie Isabel Matthews-Schlinzig, Jörg Schuster, Gesa Steinbrink, Jochen Strobel (Hrsg.), Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Berlin / Boston 2020, S. 914–925, hier S. 922. Zugleich kann eine Fokussierung auf die mit Gleim korrespondierende Elisa von der Recke eines der Desiderate beheben, aufgrund derer Heinrich empfiehlt, die „kleineren, bisher vielfach unveröffentlichten Briefwechsel“ zu berücksichtigen, „die den Netzwerkcharakter des Gleim-Kreises ausmachen.“ (Ebd. S. 923). Wappler, „Leben Sie wohl, geliebter Vater“ (Anm. 14), S. 88. Zur Darstellung des Briefwechsels in Zusammenhang mit Reckes Biographie vgl. ebd. S. 75–88, hier insbesondere S. 83f.

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Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang vor allem jene Briefe aus der Zeit zwischen 1785 (dem Jahr, in dem der Briefwechsel mit Gleim und Schmidt beginnt) und 1789 (dem Todesjahr von Sophie Schwarz). In einem der ersten Briefe, der kurz nach der zweiten Begegnung verfasst wurde, betrachtet Recke die Distanz und Abwesenheit für die Freundschaft als konstitutiv, sie entscheidet sich also bewusst für jenes von Koschorke ausführlich beschriebene Kommunikationsmodell, das Freundschaft, ja Nähe über die Distanz und das Schriftmedium entstehen lässt:20 Die Frau  – der Mann  – die Freundin und der Freund verstehn ihren eignen Vortheil nicht, wenn sie sich kleine Trennungen nicht auferlegen. Das entbehren – die Sehnsucht nacheinander – welche mit diesem entbehren verknüpft ist, – facht die Flamme der Liebe und Sehnsucht aufs neue an, die sonst bald erlöschen könnte, und dann in der Seele, die immer noch gern das alte Gefühl erneuern will, und nicht kann, ein widriges Unbehagen zurücke läßt, welches am Ende zu aller Freude unfähig macht.21

Zahlreiche Briefe dienen dazu, diese Freundschaft zu beteuern und haben eindeutig eine phatische Funktion. Wie dies für Gleim hinlänglich bekannt und bereits ausführlich thematisiert wurde, werden Bilder und Büsten angefertigt und regelmäßig ausgetauscht.22 In einem Brief Elisa von der Reckes vom 24. Oktober 1785 heißt es: Gestern gab Sieveckingk mir Ihren Brief, und überraschte mich durch Ihr Bild, das ich in meiner Freude herzlich küßte. Freilich find ich in diesem nur den jungen Gleim, nicht meinen lieben grauen weisen Anakreon. Doch! Ich habe ja die Hoffnung dieß gegen ein Aenlicheres vertauschen zu können. Aber wissen Sie was ich fürchte, bis dahin werd ich auch dieß liebgewonnen haben, daß ich mich von selbigem nicht mehr werde trennen können. Gut! So behalt ich beyde#, nicht wahr? […] #

[In der Schrift von Sophie Becker] Nein, Sie geben Sophien das eine; […]

Jetzt hängt dies liebe Bild neben meinem Schreibkontoir, und wenn ich im Quartier bin, spricht meine Seele oft zu diesem Bilde. Wahrhaftig, ganz unwerth bin ich Ihrer Lieb und Freundschaft nicht, denn ich habe Sie mit ganzer Seele lieb.23

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22 23

Siehe Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18.  Jahrhunderts, München 2003, u. a. S. 146 und S. 177–196; Koschorke, Social Media 1800, in: Silvia Mergenthal, Reingard M. Nickisch (Hrsg.), Proceedings, Trier 2014, S. 91–104, insbesondere S. 95f. Von Elisa von der Recke an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 20.  März  1785, Gleimhaus, Sign.: Hs. A 6133. Im Musentempel Gleims befindet sich Reckes Porträt von Joseph Friedrich August Darbes. Von Elisa von der Recke an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 24.  Oktober  1785, Gleimhaus, Sign.: Hs. A 3344.

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Briefe und poetische Episteln als Instapoetry der Aufklärungszeit?

In ihren späteren Briefen an Gleim und Schmidt berichtet die bis 1819 stets reisende Recke von ihren zahlreichen Aufenthalten (z. B. in Hamburg, Dresden, Karlsbad und Sankt Petersburg), vor allem aber fungiert der Austausch über die körperliche und mentale Gesundheit in diesen weiterhin stark empfindsamen Briefen als kontinuitätsförderndes Bindungsmittel. Mehrere Briefe enthalten Zusätze der Freundin Sophie Becker oder auch des gemeinsamen Freundes Göckingk – sie dienen regelrecht der Etablierung eines sozialen Netzwerks und eines dichterischen Austauschs.

2 Fließende Übergänge zwischen Briefen und poetischen Episteln Das erste schriftliche Zeugnis, das der ersten Begegnung zwischen Recke, Sophie Becker, Göckingk, Gleim und Schmidt folgt, ist eine poetische Epistel des letzteren vom 22. Januar 1785. Es substituiert das reale Abschiednehmen durch eine schriftliche Kontaktaufnahme: Das schlimste Ding, das jemals Vater Teufel – Du weißt, wie gern der Herr sich schadenfreut? – Aus Frau Pandoras Büchs’ in unsre Welt gestreut, Ist Abschiednehmen, ohne Zweifel. Es beißt das Auge nicht allein; Auch unser Herz hat schlimm daran zu reiben. Ich wollte nicht gebissen seyn, Und ließ darum das Abschiednehmen bleiben. Als du zurück nach Gökingks Tibur giengst. Du sahst mir nach! O Huldgöttin, du fiengst Vielleicht Verdacht, ich wisse nicht zu leben. Ich aber war bey meinen Laren schon, Und dankte Gott, daß ich dem Ritual entflohn: So vielen Tugenden mein Lebewohl zu geben!24

Von Anfang an ist der Briefwechsel als literarischer Austausch gedacht: Dichtung entsteht im Austausch, Austausch in dichterischer Form. Bereits drei Tage später – am 25. Januar 1785 – schickt Schmidt eine weitere längere Epistel, auf die Recke am 30.  Januar mit einem Brief 24

Von Klamer Eberhard Karl Schmidt an Elisa von der Recke, 22. Januar 1785, Biblioteka Jagiellońska Krakau, Autographa Recke (Hervorhebung im Original). Es handelt sich um eine Abschrift.

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antwortet, in dem sich als Beilage eine Epistel Sophie Beckers befindet.25 Zu Beginn des Monats Februar erhält Recke auch von Gleim eine erste Epistel, in der der Brocken in ein „Elisium der Musen“ umgewandelt wird: Der Brokken ist nicht hoch, ist, glaub ich, zu ersteigen Nicht schwer, ELISA! nicht, mit DIR! Mit DIR stieg ich bergauf bis an den Himmel! Hier, Spraech’ ich, ELISA! bleiben wir, Wir bleiben vor der Himmelsthür, Bis uns den Weg hinein Kleist oder Petrus zeigen! Indeß, weil eben doch kein Hügel, Der Brokken ist, und wohl, noch höher als der Spiegel, Und Hoppelberg, und weil, so ziemlich weit von uns, Der Alpen Gotthart ist, und Luftschiff, oder Flügel, So leicht gemacht nicht sind, wie Pudding und Schmaluns, So bleibe Wallfahrt auf den Brokken, Beschlossen, und so bald die Flokken Des Winters aufgezehret sind, Von Mittags Sonn’ und Abendwind So bald erwekk’ in DEINEM Busen Apollo Reiselust, und Oberon der Zwerg, Verwandele durch DICH den alten Hexxenberg In ein Elisium der Musen – 26

Dass der Austausch zwischen Recke, Becker, Gleim und Schmidt diese Form annimmt, ist auf das besondere Interesse des Halberstädter Freundeskreises für die Gattung der poetischen Epistel zurückzuführen, die sich insgesamt in dieser Zeit großer Beliebtheit erfreute: Nahezu alle bekannten Autoren der Aufklärung, der Anakreontik und der Empfindsamkeit haben solche Versbriefe verfaßt. Mit diesen persönlichen Briefen in gebundener Form verwischten sie, unter dem Einfluß des zeitgenössischen Freundschaftskultes, die Konturen eines lyrischen Genres, dessen Tradition bis in die antike römische Literatur

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Von Elisa von der Recke und Sophie Becker an Klamer Eberhard Karl Schmidt, 30.  Januar  1785, Biblioteka Jagiellońska Krakau, Autographa Recke. Von Johann Wilhelm Ludwig Gleim an Elisa von der Recke, 6.  Februar  1785, Gleimhaus, Sign.: Hs. A 6131 (Hervorhebungen im Original).

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Briefe und poetische Episteln als Instapoetry der Aufklärungszeit? zurückreicht: der sog. poetischen Epistel, deren Urmuster in den entsprechenden Werken von Horaz und Ovid zu suchen sind. […] In ihrer Blütezeit wurden diese versbrieflichen Gedichte zumeist als ,poetische Schreiben‘ bzw. ‚Sendschreiben‘ oder auch einfach als ‚Briefe‘ etikettiert. 27

Von der „poetischen Epistel“, die bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts als „Form der Gelegenheitsdichtung“28 aufgefasst wurde und trotz relativer Offenheit formalen Richtlinien folgte, entwickelte sich die Gattung vor allem im Halberstädter Freundeskreis zu einem überaus flexiblen Genre, das in erster Linie den Freundschaftsgefühlen Ausdruck verlieh.29 Die in diesem Kreis entstandenen Episteln, die auch als ‚poetische Briefe‘ oder ‚Versbriefe‘ bezeichnet werden können, richteten sich an bestimmte Personen, an die sie als echte Briefe geschickt wurden, weisen aber Unterschiede in der Struktur und beim Stil auf: Statt des „mittleren Stils“30 wurde oftmals ein „Plauderton“ gewählt, das Metrum auch freier gehandhabt.31 Neben Gleim hat vor allem Schmidt zahlreiche Episteln in überaus unterschiedlicher Form verfasst. So hat dieser etwa seine Begegnung mit Matthias Claudius in einer langen Epistel verarbeitet, die allerdings – so die Vermutung Jörg-Ulrich Fechners – gerade wegen ihrer „Verschränkung von Faktischem und Literarischem“32 bei Claudius wohl nicht auf Zustimmung gestoßen ist. Auch Anna Louisa Karschs Episteln an Gleim sind für die Entwicklung der Gattung aufschlussreich: Sie zeichnen sich u. a. dadurch aus, dass bei ihr nicht so sehr Episteln als Briefeinlagen 27

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Reinhard M. G. Nikisch, „daß sind … sehr unbeträchtliche Papiere“. Über die Epistel-Dichtung und die lyrischen Brief-Einlagen der Anna Louisa Karsch, in: Anke Bennholdt-Thomsen, Anita Runge (Hrsg.), Anna Louisa Karsch (1722–1791). Von schlesischer Kunst und Berliner „Natur“, Göttingen 1992, S. 66–80, hier S. 68. Markus Motsch, Die poetische Epistel. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur und Literaturkritik des 18. Jahrhunderts, Bern / Frankfurt a. M. 1974, S. 69. Vgl. ebd. S. 79f. Ebd. S. 86. Ebd. S. 88. Jörg-Ulrich Fechner, „Claudius in Halberstadt“. Zu einer poetischen Epistel Klamer Eberhard Karl Schmidts über Claudius’ Besuch bei J. W. L. Gleim, in: Jahresschriften der Claudius-Gesellschaft, 4 (1995), S. 19–42, hier S. 37. Fechner argumentiert wie folgt: „Vielleicht darf man eine Hypothese wagen, warum die Begegnung von Claudius und Schmidt sich nicht zu einer echten Freundschaft entwickelte. Die Verschränkung von Faktischem und Literarischem, wie sie Schmidts poetische Epistel mit ihrem vielfältigen Rückgriff auf den Motivvorrat der literarischen Traditionen kennzeichnet, gehört nicht nur zum Epochenstil von Rokoko und Anakreontik; in ihr dokumentiert sich generell eine Austauschbarkeit literarischer Rollen und die damit verbundene traditionelle Auffassung, daß der Mensch und der Verfasser nicht identisch sein müßten. Gegen eben diese Vorstellung aber liefen die Anhänger der neuen Genie-Lehre Sturm. Ihre Forderung nach ,wahren Menschen‘, wie sie gleichermaßen Schmidts Brief als beiläufiges charakterisierendes Motiv einflicht, war radikal gemeint und machte jede solche Unterscheidung zunichte.“

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zu finden sind, sondern dass die Briefe selbst aus „versifizierten und gereimten Anteilen“33 bestehen. Nikisch plädiert daher dafür, diese „sog. Episteln“ in Karschs Fall nicht als „Beitrag zur Geschichte des Gedichtgenres, poetische Epistel’“ zu betrachten. Sie seien, so Nikisch, „von wenigen Ausnahmen abgesehen“ eher „integrale Bestandteile ihres Briefwerks“, denn beide literarische Produktionsformen [seien] bei dieser dichterischen Naturbegabung aus den gleichen kreativen Impulsen hervorgegangen, aus denen sich ihr unprätentiös und unbekümmert – ohne den Hintergedanken an eine alsbaldige Veröffentlichung – geschaffenes Briefwerk insgesamt speis[e].34

Vor diesem Hintergrund nehmen die Briefe und Episteln Elisa von der Reckes eine Zwischenstellung ein. Einerseits handelt es sich um Briefe, in denen sich in der Form von Beilagen immer wieder Gelegenheitsgedichte befinden, die  – wie etwa das Gedicht Sophie Beckers mit einem selbst gemalten Totenkopf35 – emotional konnotiert sind oder – wie im Fall von Anna Louisa Karschs Gedicht zum Tode von Reckes Vater36 – als Beileidsbekundung fungieren. Andererseits sind auch bei Recke – wie bei Karsch – innerhalb der Briefe regelmäßig Übergänge zwischen Prosa und versifizierten Passagen zu erkennen. Für Recke, die bereits als Lyrikerin bekannt ist,37 mag gar erstaunen, dass sie sich dem lyrischen Schreiben zunächst zu entziehen scheint. Am 17. Februar 1785 antwortet sie Gleim: Der Musensprache nicht recht kundig, beantworte ich Ihre poetische Epistel, theurer Gleim, dießmal nicht in Versen. – Wär ich unter den Augen frommer Dichter erwachsen, die gleich Ihnen so schön zur Dichtkunst ermuntern, so würde meine unerzogne Muse vielleicht mit dem Wollen – auch das Vermögen die Leyer würdig zu rühren verbinden; denn ich fühle bey dieser Beschäftigung zu viel Vergnügen, als daß ich mich dem Gedanken nicht überlassen sollte, unter solchen Umständen ein Ziehl erreicht zu haben, nach welchem ich jetzt vergebens streben würde, – denn

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Nikisch, „daß sind … sehr unbeträchtliche Papiere“ (Anm. 27), S. 74. Ebd. S. 77. Von Sophie Becker und Elisa von der Recke an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 3. Mai 1785, Gleimhaus, Sign.: Hs. A 141. Von Elisa von der Recke an Klamer Eberhard Karl Schmidt, 26. August 1785, Biblioteka Jagiellońska Krakau, Autographa Recke. Das Gedicht befindet sich auf der Rückseite des einseitigen Briefes. Sie hat bereits einen Band geistlicher Lieder herausgegeben, die von Hiller vertont wurden. Siehe dazu Irmgard Scheitler, Elisa von der Reckes Geistliche Lieder und ihre Vertonung durch Johann Adam Hiller, in: Leyh, Müller, Viehöver, Elisa von der Recke (Anm. 8), S. 171–196.

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Briefe und poetische Episteln als Instapoetry der Aufklärungszeit? Nun muß ich’s Ihnen klagen Daß in den meisten Tagen Mir Schwung zur Dichtkunst fehlt: Nimmt meine Mus’ auch Flügel Ach! Kaum zum kleinsten Hügel Schwingt sie sich matt hinan.38

Obwohl Recke daraufhin behauptet, es sei bereits „zu spät“,39 sie könne selbst durch Gleim nicht mehr den „Parnaß“40 erreichen, verbirgt sich hinter dem Bescheidenheitstopos wohl eine Auffassung der Dichtkunst, die sich radikal von der sich in derselben Zeit entwickelnden Genieästhetik unterscheidet: Reckes Texte sind „Teil einer kollaborativen Schreibsituation“41 und erfüllen vornehmlich eine kommunikative und soziale Funktion. Die im schriftlichen Dialog entstandenen, vom Medium Brief eindeutig geprägten Texte werden im weiteren brieflichen Austausch kommentiert und korrigiert, das Ästhetische wird ausdiskutiert. So händigt Recke ihre am 6. Februar 1785 verfasste (und an Fritz Stolberg gerichtete) Epistel später an Schmidt aus, der ihr am 24. April eine Fassung mit Verbesserungsvorschlägen zukommen lässt. Wie allein schon ein Vergleich zweier Passagen aufzeigt, unterscheidet sich die noch im selben Jahr im Deutschen Museum veröffentlichte Epistel42 von der verbesserten Fassung – im Nachhinein ist allerdings schwer zu rekonstruieren, ob bzw. wie sehr Recke Schmidts Korrekturen berücksichtigt oder sie als Möglichkeit weiteren Feilens verstanden hat:

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Von Elisa von der Recke an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 17.  Februar  1785, Gleimhaus, Sign.: Hs. A 3337. Ebd. Ebd. Nacim Ghanbari, Kollaboratives Schreiben im 18.  Jahrhundert. Lenz’ Das Tagebuch als Beispiel freundschaftlicher Publizität, in: Stefanie Stockhorst, Marcel Lepper, Vinzenz Hoppe (Hrsg.), Symphilologie. Formen der Kooperation in den Geisteswissenschaften, Göttingen 2016, S. 167–181, hier S. 180. Vgl. auch Valérie Leyh, Relationales Wirken und Schreiben. Elisa von der Recke als strategische Netzwerkerin, in: Lore Knapp (Hrsg.), Literarische Netzwerke im 18. Jahrhundert. Mit den Übersetzungen zweier Aufsätze von Latour und Sapiro, Bielefeld 2019, S. 225–250, hier S. 238–243. Elisa von der Recke, An Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg, in: Deutsches Museum, Bd.  2, 20 (Juli  1785), S.  1–3, . Vgl.  auch Motsch, Die poetische Epistel (Anm.  28), S.  93. Ein ähnliches Verfahren ist bei einer anderen Epistel Elisa von der Reckes zu beobachten: Ihre Epistel „An Weiße“ wurde ebenfalls von Schmidt kommentiert, bevor sie später in der Sammlung Elisens und Sophiens Gedichte veröffentlicht wurde.

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Valérie Leyh Die Kraft des Geistes, über Meer und Land

Die Kraft des Geistes, über Land und Meer

Sich hinzuschwingen zum entfernten

Sich hin zu schwingen zum entfernten

Freund:

Freund,

O welch’ Geschenk des Allbeglückenden!

O, welch Geschenk des Allbeseligers!

Wen muntert nicht des edlen Freundes Bild

Wen muntert nicht des edlen Freundes Bild

Zur Tugend auf! Das deine, theurer Fritz,

Zur Tugend auf? – Das Deine, theurer Friz,

Liebt’ ich, bevor mein Auge dich gesehn,

Liebt’ ich, bevor mein Auge dich gesehn;

Mein Ohr gehört! O Fritz, oft hat es mich

Schon da entflamt’ es oft zur Tugend mich.

Zu dem, was schön und gut ist, neubeseelt!

Doch öfter schwebt’s und freudiger mir vor,

Doch öfter, schwebts und freudiger mir vor,

Seit, an der Elbe Strand, mit dir ich sah,

Fritz! seit mit dir ich, an der Elbe Strand,

Von Blütenduft umweht, den Abend sanft

den Abend sanft erröthend kommen sah

Erröthend fliehn. Ich fand in dir vereint,

Aus leiser Fluth! Was ich gesucht, fand ich

Was ich gesucht, gleich treflich Herz und

In dir vereint, gleich tref lich Herz und

Geist.44

Geist.

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Dieser im Frühjahr 1785 initiierte Austausch zwischen Recke, Gleim und Schmidt wird sich über viele Jahre hinweg halten. Als Recke im Jahre 1798 jene Lieder überarbeitet, die von Johann Gottlieb Naumann vertont werden sollen, schreibt sie an Gleim: Wäre Halberstadt so weit als Meißen von hier, so sähen Sie mich trotz aller Aeußeren Schwierigkeiten dennoch bey sich, und wir tauschten uns über so manches Gedancken aus. Wenn wir uns denn müde geschwatzt hätten, dann legte ich Ihnen alle die kleinen Lieder vor, die unser teutsche Orpheus [J.  G.  Naumann] von mir in Musick setzen will, und ich feihlte dann unter Ihrer Aufsicht diese Ergießungen meiner Gefühle aus. Ihre und Schmids Verbesserungen werde ich benutzen; aber oft muss ein recht schöner poetischer Gedanke verworfen werden, wenn der Einschnitt der Musick, der nach der ersten Strophe eines Liedes berechnet ist, nicht auch zu

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Klamer Eberhard Karl Schmidts Abschrift von Elisa von der Reckes Epistel, Biblioteka Jagiellońska Krakau, Autographa Recke. Die Abschrift wird – wie in einem Brief – mit einer Orts- und Zeitangabe eingeführt („Halberstadt, den 24. April, 1785“) und wie folgt kommentiert: „Unter obigem Datum schrieb ich an Elisa, und schickte ihr, mit einigen Verbesserungen, ihre poetische Epistel an Fritz Stolberg zurück, die sie mir, während ihres Aufenthalts in Halberstadt, eingehändigt hatte.“ Recke, An Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg (Anm. 42), S. 2.

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Briefe und poetische Episteln als Instapoetry der Aufklärungszeit? den anderen Strophen passet. Da giebt Freund Naumann mir bisweilen eine schwere Gabe auf.45

Wie die enge Freundin Sophie Becker selbst feststellen konnte, erfüllen das Schreiben und der gegenseitige Austausch bei Elisa von der Recke aber auch eine therapeutische Funktion. Als Recke trotz ihres kranken Zustands auf Anschuldigungen des Predigers Johann August Starck antwortet, spricht Sophie Becker in einem Brief an den gemeinsamen Freund Nicolai ihr Erstaunen aus und weiß doch um die Notwendigkeit des aktiven Eingreifens für Reckes Erholung: Ich bin erstaunt, daß sie bey einer so schmerzhaften Krankheit so schnell arbeiten konnte, denn wie sie selbst schreibt hat man den druck ihrer Widerlegungsschrift schon diesen Monath anfangen sollen. Ich bin sehr begierig dieses Geistes Produkt meiner Elisa zu lesen. Wegen der Anstrengung welche ihr diese Beschäftigung gemacht haben kann, bin ich weniger besorgt als Sie denn ich weiß aus Erfahrung, daß alles Erholung für Elisen ist, was mit ihrem Empfindungssystem in keine nahe Verbindung steht, und dennoch ihren thätigen Geist beschäftigt.46

Das Schreiben beruht bei Recke also stets auf einer sozialen Interaktion, die verschiedene Funktionen erfüllt: Sie lässt eine Kommunikation entstehen, ermöglicht eine Kommentierung und Verbesserung der selbst verfassten Texte und dient zugleich der Selbstvergewisserung sowie der geistigen und körperlichen „Erholung“.47 Bezeichnend ist dabei, dass die im geselligen Kreis entstandenen und zunächst über das Medium Brief geteilten Texte in einem weiteren Schritt veröffentlicht und dadurch nun in einer spezifischen Form mit einem breiteren Publikum geteilt werden.

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Von Elisa von der Recke an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 23.  März  1798, Gleimhaus, Sign.: Hs. A 3357. Vgl. zur Beziehung zu Naumann den Aufsatz von Kornél Magvas, „Unvermerkt entfloh’n unsre Stunden von fünf Uhr Abends bis gegen Mitternacht bei Orpheus Naumann“. Elisa von der Reckes Beziehung zu Johann Gottlieb Naumann und zeitgenössische Vertonungen ihrer Gedichte, in: Leyh, Müller, Viehöver, Elisa von der Recke (Anm. 8), S. 197–225. Von Sophie Schwarz an Friedrich Nicolai, 31. März 1788, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachlass Nicolai I, 70, Mappe 31, Bl. 378–379. Zur Verbindung von Krankheit und Aktivität bei Elisa von der Recke vgl.  den Aufsatz von Vera Viehöver, „Und ist ein kranker Leib mein Theil“. Krankheit und Aktivität im Selbstentwurf Elisa von der Reckes, in: Leyh, Müller, Viehöver, Elisa von der Recke (Anm. 8), S. 45–68. Zur Thematisierung von Krankheit in Briefen vgl. auch Selma Jahnke, Der Körper im sozialen Medium Brief. Arten und Funktionen der Thematisierung von Körper und Krankheit in Briefen aus dem Umfeld des Dichters Jean Paul (in diesem Band, S. 189–209).

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Valérie Leyh

3 Bücher und Mappen: vom gelebten Moment zur Veröffentlichung und Archivierung Die oben präsentierten Episteln erscheinen tatsächlich bereits ab dem Jahr 1785 in unterschiedlicher Form. Schmidt veröffentlicht seine Epistel vom 25.  Januar  1785 zunächst im Vossischen Musenalmanach auf das Jahr 1786. Vier Jahre später wird sie erneut in Schmidts eigenem Band mit dem Titel Poetische Briefe abgedruckt. Im kurzen Vorwort dieses Bands rechtfertigt Schmidt die Veröffentlichung seiner Gedichte, die im freundschaftlichen Kreise entstanden sind: Er will sie auch einem breiteren Kreis bekannt machen, auch wenn er sich dessen bewusst ist, dass es sich um „Kleinigkeiten“, ja „gesellschaftliche Possen“48 handelt. Im selben Jahr erscheinen zahlreiche Episteln des Freundeskreises in der Anthologie Elisens und Sophiens Gedichte.49 Wie Ute Pott bereits gezeigt hat, handelt es sich bei dieser Sammlung um ein „seltenes öffentliches Dokument eines dichterischen Freundeszirkels von Männern und Frauen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“.50 Wenngleich der Titel den Eindruck gibt, die Sammlung sei den Gedichten der beiden Freundinnen gewidmet, zeigt eine genaue Lektüre, dass die Anthologie in dialogischer Form auch die Gedichte anderer Mitglieder des Freundeskreises, etwa Gleims, Schmidts und Göckingks, einbezieht: Zu finden sind etwa die bereits erwähnten Episteln, die Sophie Becker und Klamer Schmidt zu Beginn ihrer Freundschaft brieflich ausgetauscht haben. Zur Funktion und zum Zielpublikum dieser Sammlung gibt das Vorwort des Herausgebers Johann Georg Ludwig Schwarz, Sophie Beckers Ehemann, einige Informationen, die im medialen Kontext der Zeit teilweise widersprüchlich erscheinen, da unklar bleibt, ob diese Sammlung allein der privaten literarischen Kommunikation innerhalb des Freundeskreises in Halberstadt dienen soll oder ob sie sich an ein breites öffentliches Publikum richtet. Obwohl das Vorwort nahelegt, „dass der erste Adressatenkreis trotz der Veröffentlichung immer noch die Freunde der Dichterin sind, dass es sich sozusagen trotz der Veröffentlichung nicht wirklich um ein öffentliches Werk handelt“,51 spricht die Tatsache, dass die Sammlung beim renommierten Verleger Vieweg in Berlin veröffentlicht wird, für einen

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Klamer Eberhard Karl Schmidt, Neue poetische Briefe, Berlin 1790, o. S. Zu den weiteren Ausführungen vgl. Valérie Leyh, Literarische Blüten lesen oder Blumen der Freundschaft weihen? Die Anthologie Elisens und Sophiens Gedichte und der literarische Freundschaftskult im späten 18. Jahrhundert, in: German Life and Letters, 70 (2017), H. 1, S. 40–56. Ute Pott, „… mit der Zärtligkeit einer liebenden schwester“. Frauenfreundschaft in Briefen und Gedichten von Anna Louisa Karsch, in: Schwestern und Freundinnen. Zur Kulturgeschichte weiblicher Kommunikation, hrsg. von Eva Labouvie, Köln / Weimar / Wien 2009, S. 203–220, hier S. 218. Kairit Kaur, Dichtende Frauen in Est-, Liv- und Kurland 1654–1800. Von den ersten Gelegenheitsgedichten bis zu den ersten Gedichtbänden, Tartu 2013, S. 245.

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Briefe und poetische Episteln als Instapoetry der Aufklärungszeit?

bewussten Publikationsakt. Indem die „Öffentlichkeit“ also „in einen weiten Freundeskreis umdefiniert wird“,52 wird die scheinbar klare Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichen Kontext – wie im aktuellen medialen Kontext – unterminiert. Durch die Veröffentlichung bei Vieweg in Berlin wird auch deutlich, dass es sich hier nicht um einen Manuskriptdruck 53 handelt, der nur in einem begrenzten Freundeskreis zirkuliert. Die Zirkulation der Texte hat vielmehr schon stattgefunden, die Publikation erweist sich nun als Akt, der ein eindeutig memoriales und emotionales Anliegen erfüllt, das Bewegliche festzuhalten sucht. Es gilt, die ‚Blumen der Freundschaft‘ durch die Publikation zu verewigen – dies umso mehr, als Sophie Becker noch vor der Veröffentlichung stirbt.54 Wie die Rezension der Allgemeinen deutschen Bibliothek hervorhebt, spricht diese Freundschafts-Gedenk-Anthologie vor allem das Gefühl an  – wie heute zahlreiche Gedichte von InstapoetInnen:55 Man suche hier nicht neue kühne, glänzende Bilder und Gedanken; wessen Aufmerksamkeit nur durch den rauschenden Pomp der Poesie, nicht durch sanfte, anspruchslose Reize der Sprache des Herzens gefesselt wird, für den sind diese Gedichte nicht geschrieben.56

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Ebd. Zum Manuskriptdruck vgl. Carlos Spoerhase, „Manuscript für Freunde“. Die materielle Textualität literarischer Netzwerke 1760–1830 (Gleim, Klopstock, Lavater, Fichte, Reinhold, Goethe), in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, H. 1 (2014), S. 172–205; Carlos Spoerhase, Das Format der Literatur. Praktiken materieller Textualität zwischen 1740 und 1830, Göttingen 2018, S. 134–154; S. 169–326. Ein Teil der Sammlung trägt den Namen Blumen auf Sophiens Grab, er umfasst jene Gedichte, die nach dem Tode Sophie Schwarz’ von ihren Halberstädter Freunden verfasst wurden. Zur Analyse dieser Gedichte vgl. Valérie Leyh, Literarische Blüten lesen oder Blumen der Freundschaft weihen? (Anm. 49). Vgl. z. B. die Vorstellung des E-Books Blüten der Sonne von Rupi Kaur auf der Webseite des FischerVerlags: „Die ,Queen of Poetry‘ Rupi Kaur zieht Leserinnen auf der ganzen Welt in ihren Bann. Die unverwechselbare Instagram-Poetin nimmt ihre Leser*innen mit auf eine Reise durch ihre Gefühlswelt! Mit ihrem einzigartigen Gespür für die Balance zwischen herzergreifender Wucht und müheloser Leichtigkeit ergründet Rupi Kaur wundervolle Momente sowie schmerzliche Erfahrungen. Die berührenden Texte handeln von Liebe und Schmerz, aber vor allem geht es um den Weg zur Heilung.“, [27.11.2021]. [Wilhelm Friedrich Hufnagel], Elisens und Sophiens Gedichte, hrsg. von J. L. Schwartz, Berlin, bey Vieweg d. ältern, 1790, 280 Seiten, gr. 8., in: Allgemeine Deutsche Bibliothek, 106 (1792), 1. Stück, S. 130–131, hier S. 130.

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Valérie Leyh

Von der großen sozialen und emotionalen Bedeutung, die dieser Sammlung gegeben wird, zeugt ferner, dass sie auf materieller Ebene besonders schön gestaltet ist und dass mehrere Exemplare anschließend in der Form von Sonderausgaben personalisiert wurden. In Berlin und Dessau sind tatsächlich noch jene Exemplare erhalten, die Elisa von der Recke und der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau jeweils selbst gehört haben und in denen zusätzliche, von Recke handschriftlich hinzugefügte Gedichte zu finden sind. Durch die Veröffentlichung wird die Sammlung also mit einem breiten Publikum geteilt, durch die Sonderausgaben anschließend nochmals für Mitglieder von Reckes Freundeskreis und Netzwerk personalisiert. Archiviert wurde dieses soziale Netzwerk schließlich auch durch die Aufbewahrung der Briefe und insbesondere durch die Mühe Schmidts, dessen sorgfältig, chronologisch geordnete Mappe mit Reckes Briefen und den Abschriften seiner eigenen Briefe sowie verschiedenen Gedichten und Stammbucheinträgen in der Autographensammlung Karl August Varnhagen von Enses aufbewahrt wird.57 Als im Dezember 1828, vier Jahre nach Schmidts Tod, ein Brief Reckes offenbar verschenkt wurde, schrieb dessen Sohn Wilhelm Werner Johann Schmidt diesen Brief ab und vermerkte am 13. Dezember 1828: „Das Original vorstehenden Briefes ist in Dcbr 1828 verschenkt, aber vorher von Unterzeichnetem genau copirt, welches hiermit bescheinigt wird.“58

4 Fazit Am Beispiel der in Elisa von der Reckes Freundeskreis entstandenen poetischen Episteln, die freilich keine Instapoetry im engen Sinne sind, kann gezeigt werden, dass es nicht erst im 21.  Jahrhundert, sondern bereits viel früher Übergänge zwischen Brief und Dichtung, privatem und öffentlichem Raum gab, dass die Kommunikation innerhalb des Freundeskreises schon im 18. Jahrhundert über diese intime Grenze hinausgelangt ist. Wenn man allerdings, wie dies Nikisch am Beispiel von Anna Louisa Karschs Episteln gezeigt hat, im 18. Jahrhundert eine „,Privatisierung der Literatur‘“59 erkennen kann, so stellt sich die Frage, ob sich heute die Tendenz zur Veröffentlichung nicht intensiviert hat.

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Biblioteka Jagiellońska Krakau, Sammlung Varnhagen. Dort befinden sich auch weitere Briefe Reckes. Unterschrieben wird die Abschrift mit dem Datum und dem Namen „W Schmidt, Divisionsprediger“. Wilhelm Werner Johann Schmidt war auch der Herausgeber von Schmidts Werken. Klamer Eberhard Karl Schmidt’s Leben und auserlesene Werke, hrsg. von Wilhelm Werner Johann Schmidt, Friedrich Lautsch, 3 Bde., Stuttgart / Tübingen 1826–1828. Vgl. Nikisch, „daß sind … sehr unbeträchtliche Papiere“ (Anm. 27), S. 80.

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Briefe und poetische Episteln als Instapoetry der Aufklärungszeit?

Besonders aufschlussreich ist am analysierten Briefwechsel die Austausch-, ja Kommentierungsfunktion des Briefwechsels. Bei Recke, die von Schmidt als „deutsche Sévigné“60 bezeichnet wird, zeugen die Briefe und Episteln von ihrer ausgedehnten und vielfältigen Kommunikationspraxis. In der im sozialen Austausch entstandenen und über das Medium Brief kommentierten „Epistel“ lassen sich tatsächlich einige Züge der heutigen Instapoetry erkennen: das Teilen innerhalb eines (geschlossenen) sozialen Netzwerks, die Feedback-Möglichkeit, der ästhetische Konservatismus, zentrale Themen wie Freundschaft, Liebe, Gesundheit. Dennoch werden auch die Unterschiede deutlich sichtbar: Im Vergleich zu den oftmals kurzen Texten der Instapoetry schreiben die AutorInnen des 18.  Jahrhunderts teils lange Episteln. Diese werden zunächst nicht an ein großes, anonymisiertes Publikum gerichtet, sondern an konkrete Personen eines Freundeskreises, denen man auch real begegnet und die zum Schreibprozess beitragen. Auch die Temporalität ist freilich eine andere, insofern die Möglichkeit nahezu sofortiger Reaktion durch das Netzwerk ‚Instagram‘ beim Verfassen von Episteln im 18.  Jahrhundert noch nicht vorhanden ist  – man kann insofern die Phänomene miteinander vergleichen, für die heutige Instapoetry jedoch eine deutliche Beschleunigung erkennen. Schließlich tragen die Verfahren der Selbstinszenierung und der Selbstdarstellung bei Autorinnen wie Rupi Kaur und Julia Engelmann dazu bei, den Werkstatus ihrer Texte zu konsolidieren. Selbstbewusst präsentieren sich die Autorinnen in den verschiedenen Medien, was zu ihrem Erfolg führt. Auch die Vermarktungsstrategien heutiger InstapoetInnen sind freilich andere. Recke war mit Sicherheit Multiplikatorin, wirtschaftliches Geschick hatte sie aber wohl eher nicht61 – und auch die Publikation ihrer Texte war stets mit verschiedenen Hürden verbunden. So sind an ihren Briefen zwar ebenfalls Formen der Selbstdarstellung zu erkennen, die jedoch durch die zahlreichen Widersprüche die große Komplexität einer solchen Selbstinszenierung für eine Frau im 18. Jahrhundert aufzeigen. An Heinrich Christian Boie teilte Recke am 27. Oktober 1793 Folgendes mit: Und nun, Ihr theuren Freunde, nun habe ich noch eine Bitte an Euch, die gewiß nicht aus falscher Bescheidenheit, sondern aus bloßer Selbstkenntniß entspringt. – Erwartet ja nicht ausgezeichneten Geist, lebhaften Witz, hervorleuchtenden Verstand, oder irgend etwas an mir zu finden, das meinen Werth, über andre Personen meines Geschlechtes erhebt. Die vortheilhafte Idee, die einige von mir haben, ist eben so unverdient, als das 60

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Von Klamer Eberhard Karl Schmidt an Elisa von der Recke, 6. Februar 1785, Biblioteka Jagiellońska Krakau, Autographa Recke. Auch hier handelt es sich um eine Abschrift. Recke konnte ihre zahlreichen Reisen durch die Unterstützung ihrer Schwester, der Fürstin Dorothea von Kurland, durch die Hilfe vieler Freunde und vor allem der Kaiserin Katharina II., die ihr ein Landgut in Pfalzgrafen schenkte, finanzieren. Im Unterschied zu heutigen InstapoetInnen verdiente sie nichts oder kaum etwas durch ihre Publikationen.

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Valérie Leyh Bild welches andre sich von mir darin machen, als hätte ich die Sucht gelehrt scheinen zu wollen. Ich bin gar nicht besorgt, wenn ich die Bekanntschaft von Personen mache, die diese letztere Idee von mir haben; denn man wird es bald finden, daß ich nicht scheinen will, was ich nicht bin: und daß ich wirklich gerade nur so viel weiß, um es zu fühlen wie wenig Wissenschaftliche Kenntnisse mein sind. Fast alle meine Freundinnen haben mehr Belesenheit, mehr gründliche Wissenschaften, mehr sprachkenntniße als ich. Ich habe nur den Wunsch meinen Geist in der Art zu bereichern, daß ich mein Glück mehr in als außer mir suche. Dabey gab die Natur mir ein Herz, das treue Freundschaft zu fühlen vermag, und für alles gute und schöne in der Schöpfung Empfänglichkeit besitzt. Verhältnisse stellten mich so, daß ich die Menschen eben nicht von der besten Seite kennen lernte, aber zugleich lernte ich auch einzelne Charaktere kennen, deren hoher moralischer Werth, mir Glauben an Tugend und Unsterblichkeit gab […]. Erlöschen Sie, und Ihre gute Sara also das Bild, welches partheyische Freunde Euch von mir machten, und erwarten Sie nichts als ein ganz einfaches, kunstloses Weib zu finden, die dankbar froh jede edle Freude des Lebens zu genießen, und wenn Verhältnisse es wollen, jedes Vergnügen mit heiterer Duldung zu entbehren weiß.62

Über die für Frauen dieser Zeit typische Bescheidenheitsgeste hinaus evoziert Recke an dieser Stelle die um sich greifende Polarisierung und lenkt mit ihrem Brief selbstbewusst ihre eigene Wahrnehmung. Sie ist sich dessen bewusst, dass sie Objekt der Kommunikation ist, scheut sich aber nicht, aktiv darauf zu reagieren. Stärker als heute verläuft die Selbstdarstellung von schreibenden Frauen im 18. Jahrhundert also häufig über Umwege, über Negationen, die dadurch trotzdem ihren Wunsch zu einer aktiven Teilhabe am literarischen Austausch offenbaren.

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Von Elisa von der Recke an Heinrich Christian Boie, 27. Oktober 1793, Biblioteka Jagiellońska Krakau, Autographa Recke.

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Die „löbliche Sitte des Apostolischen Briefumlaufs“ Mehrfachadressierung und erweiterte Lektüre im Netzwerk der Marburger Romantiker Mit einem Blick auf digitale Kommunikationsformen Rotraut Fischer

1 Die „Gemeinde“ Briefe der Romantik erzählen vor allem da, wo sie in Briefnetzwerke eingebunden sind, quasi kaleidoskopisch eine komplexe, stets aufs Neue faszinierende Geschichte ihrer Epoche als Vorgeschichte unserer Moderne. Als soziales Medium sind nachgelassene Briefe Zeugnisse vergangenen Lebens und zugleich seiner medialen ‚Neuerfindung‘ im Brief; sie bezeugen den Austausch der Akteure untereinander und das Wachsen von Ideen, Werken, Selbstentwürfen und Programmen. Als „Ereignis“ schaffen und erhalten Briefe soziale Beziehungen realer Menschen, konstituieren Gemeinschaft, Freundschaft, Liebe, gemeinsames Suchen und Forschen oder Geschäft und Zusammenarbeit.1 In diesem Sinne schreibt der Jurist und Begründer der Historischen Rechtsschule, Friedrich Carl von Savigny, 1799 von seinem Gut Trages nach Marburg an seine Freunde, die Vettern

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Als „Ereignis“ wurde der Brief zuletzt im Rahmen einer Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift, Frankfurt vorgestellt. Der Katalogband zur Ausstellung: Anne Bohnenkamp, Waltraud Wiethölter (Hrsg.), Der Brief. Ereignis und Objekt, Katalog, Frankfurt a. M. 2008; der entsprechende Tagungsband: Anne Bohnenkamp, Waltraud Wiethölter (Hrsg.), Der Brief. Ereignis und Objekt, Tagungsband, Frankfurt  a.  M.  2008. Auch als „Ereignis“ wurde der Brief bereits beschrieben von Georg Steinhausen, Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes, Bd. 2, Berlin 1891, S. 405.

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Rotraut Fischer

Friedrich und Leonhard Creuzer: „Unsrer Gemeinde – ein Zirkel liebender Freunde ist es im höheren Sinn als manche die sich so nennt  – unserer Gemeinde bringt meine herzlichsten Grüße, und sagt ihr, daß ich mit wehmütiger Freude ihrer gedenke.“2 Der Brief ist offensichtlich nicht nur an die beiden Adressaten gerichtet, sondern an einen größeren Kreis, die „Gemeinde“ der Freunde, denn wir wissen, dass Savignys und anderer Freunde Briefe im Kreis der „Gemeinde“ vorgelesen und weitergereicht wurden. „Dein Brief uns allen gefallen hat,“ schreibt in solchem Zusammenhang Savigny an seinen Freund Hans von Bostel.3 Diese Freunde bilden mit illustren Namen wie Friedrich und Leonhard Creuzer, später auch Jacob und Wilhelm Grimm, Clemens, Christian, Kunigunde und Bettina Brentano, dem Goßfeldener Pastor Johann Heinrich Christian Bang, dem Arzt, Philosophen und Dichter Stephan August Winkelmann, ferner dem Literarhistoriker und Lehrer der Brüder Grimm, Ludwig Wachler, dem Arzt Johann Wilhelm Heinrich Conradi, dem Theologen Karl Wilhelm Justi, Jacob Friedrich von Leonhardi, dem Pädagogen und Theologen Friedrich Heinrich Christian Schwarz – die Aufzählung ließe sich noch erweitern – eine Konstellation,4 die sich in den Jahren um 1800 in Marburg zusammenfand und dort diskutierte, symphilosophierte, gemeinsam las, Händel austrug und den Weg suchte zu einer neuen, nachkantischen Philosophie, die dem Ungenügen der „reinen“ Vernunft in moralischer Hinsicht abhelfen sollte. Sie trat zu großen Werken an – und bildete die ‚erweiterte Leserschaft‘ der Briefe, die man sich bei zeitweiliger Abwesenheit oder auch nur von Marburg nach dem nahegelegenen Goßfelden schrieb, dem zweiten Zentrum des Kreises. Wie bedeutend eine solche „Gemeinde“ für ihre Mitglieder sein konnte, zeigt ein Brief Savignys vom 20. Oktober 1798 an seinen Wetzlarer Ziehbruder, Konstantin von Neurath: […] ohne Geselligkeit ist das Leben der Mühe nicht werth. Wenn ich mir zuweilen denke, was ich seyn würde in enger Verbindung mit Menschen, die sich untereinander und mich liebten, denen die Freuden der Geselligkeit und der Simultangenuß über alles gingen, und die an denselben Gegenständen Interesse fänden und in gleichem Sinne mit mir würkten – o dann werde ich stolz und fühle, daß ich etwas Großes hervorbringen

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Von Friedrich Carl von Savigny an Friedrich Creuzer, 4. März 1799, in: Adolf Stoll, Der junge Savigny. Kinderjahre, Marburger und Landshuter Zeit, Berlin 1927, S. 76. Stoll, Savigny. Kinderjahre (Anm. 2), S. 243. Der Begriff ‚Konstellation‘ wird hier gebraucht im Sinne von Dieter Henrich, Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen deutschen Philosophie (1789–1795), Stuttgart  1991, sowie: Ders., Die Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus, Tübingen / Jena 1790–1794, 2 Bde., Frankfurt a. M. 2004.

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Die „löbliche Sitte des Apostolischen Briefumlaufs“ könnte; und denke ich mich nun ohne solche Verbindungen, ohne die Hoffnung derselben – dann bin ich kalt, dumm elend, nichts.5

Der Kreis, nach dem Savigny sich sehnt und dessen Mittelpunkt in Marburg er in den folgenden Jahren werden sollte, lässt sich nach diesem Briefzitat auch verstehen als Netz aus Verbindungen, die auf gleichen Zielen und Interessen beruhen, aber auch auf einem gemeinsamen Gefühl wechselseitiger Zuneigung; das Wort vom „Simultangenuss“ betont die Gleichzeitigkeit gemeinsamen Erlebens und des Beisammenseins, gemeinsamen Philosophierens und der emotional verbindenden Geselligkeit; doch geht es dabei nicht um eine neue Spielart der Innerlichkeit, sondern um Wirksamkeit „in gleichem Sinne“, die aus einem allen gemeinsamen Denken und Fühlen erwächst und „etwas Großes“ hervorzubringen vermag. Dieses ‚Gefühl‘ hatte zugleich eine philosophische Dimension, die letztlich in einer durchaus zeittypischen Kantkritik wurzelte, was wiederum das Problem dieser jungen Generation um 1800 verdeutlicht, das Wahre mit dem Guten zu verbinden und die Frage zu beantworten, von welchem Grunde aus sich beides bestimmen lasse. Aus Schlegels Athenäum, das im Marburger Kreis eifrig gelesen wurde, zitiert Savigny: „Die Pflicht der Kantianer verhält sich zu dem Gebot der Ehre, der Stimme des Berufs und der Gottheit in uns, wie die getrocknete Pflanze zur frischen Blume am lebenden Stamme.“6 Der Satz kritisiert eine Kant vorgeworfene Trennung des Moralgesetzes vom empirischen Menschen. Durch die revolutionären Ereignisse in Frankreich gewann diese Frage zusätzlich an Brisanz: Sieh doch hin nach Paris, von wo die Herrschaft der Philosophie ausgehen sollte, und merke auf die Handlungen der schreyendsten Ungerechtigkeit – um dich zu überzeugen, daß die Revolution nur die Möglichkeit schuf, die Reform aber aus dem innern Heiligthum des Geistes ausgehen müsse […],7

so Savigny bereits Ende 1798, Anfang 1799 an Neurath. Das allein wirksame Mittel gegen die „Handlungen der schreyendsten Ungerechtigkeit“ ist nach Savignys, seiner Freunde und Friedrich Heinrich Jacobis Ansicht eine „innere“ Grundlage des richtigen Handelns in einem ‚Gefühl‘ in jedem einzelnen Menschen. „Jezt, wo den alten Formen allgemeine Zerstörung droht, ist es nöthiger denn je, einen Standpunct zu suchen, der, unabhängig von dem positiven 5 6

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Stoll, Savigny. Kinderjahre (Anm. 2), S. 67f. Von Friedrich Carl von Savigny an Leonhard und Friedrich Creuzer und Friedrich Heinrich Christian Schwarz, 26. April 1800, in: Stoll, Savigny. Kinderjahre (Anm. 2), S. 152. Das Zitat stammt aus August Wilhelm und Friedrich Schlegels Zeitschrift Athenäum, Dritten Bandes Erstes Stück, Berlin 1800, S. 10. Von Friedrich Carl von Savigny an Constantin von Neurath, o.  D. (vermutlich Ende  1798, Anfang 1799), in: Stoll, Savigny. Kinderjahre (Anm. 2), S. 70.

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und conventionellen, i n u n s gegründet ist.“8 Savigny selbst, aber auch sein Freund Stephan August Winkelmann postulierten Freundschaft und Liebe als „das erste, ja einzige Mittel“ solcher „Veredelung des innern Menschen“.9 Denn Freundschaft und Liebe sind nach dieser Lesart „[…] die eigentliche Atmosphäre des inneren Menschen, sein wahres Gas oxygène […].“10 Die Formen der Geselligkeit des Marburger Kreises waren vielfältig, von der legendären Kaffeestunde bei Savigny über gemeinsames Wohnen, gemeinsame Lektüre, auch von Briefen, und gemeinsamen Mittagstisch bis zu Wanderungen nach Goßfelden oder in die Wetterau. Dabei kehrt in der gegenseitigen brieflichen Verständigung der Freunde das Bild von der „Gemeinde“ stets wieder. So findet man es etwa bei Friedrich Creuzer, der den Kreis explizit mit dem der Jünger Jesu vergleicht und fordert, dass „unter unserer Gemeinde die löbliche Sitte des Apostolischen Briefumlaufs fein erhalten werde“.11 Das Vorlesen und Weitergeben von Briefen wird, in Anlehnung an das gemeindebildende und den Zusammenhalt des jungen Christentums in der Spätantike fördernde Zirkulieren der Apostel- bzw. christlichen Freundesbriefe, zum Programm erhoben;12 das bedeutet, dass es nicht zufällig oder aus einem singulären Anlass bzw. der Laune eines Einzelnen heraus geschieht, sondern erwartet und vorausgesetzt wird. Dadurch verändert sich auch das Schreiben von Briefen; die Schreiber haben, selbst bei Adressierung eines einzelnen Freundes oder, wie es oft geschieht, bei zwei Adressaten, beispielsweise den Vettern Creuzer oder den Brüdern Grimm, stets einen größeren Kreis von Freunden vor Augen. Ein prominentes Beispiel sind die Briefe, die Savigny von seiner sogenannten sächsischen Studienreise in den Jahren 1799 und 1800 nach Marburg an die Freunde, meist adressiert an beide Creuzers, schickt.13 Darin berichtet er von seinen Studien, den Landschaften und Städten, den Begegnungen, Widrigkeiten und Freuden der Reise, kurz, diese Briefe könnten auch als Reisebeschreibungen gelten und als solche publiziert werden. Hinzu kommen die individuelle Ansprache und der Rekurs auf Briefe, die Savigny seinerseits, auch als ‚eingeschlossene‘, aus dem Zirkel der Marburger erhielt und auf die er wiederum antwortete. Auf diese Weise entsteht eine innere Präsenz des Einen im Anderen. „Hier sitz’ ich nun in meinem reinlichen Stübchen in Hünfeld und denk’ an Euch, ihr 8 9 10 11

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13

Ebd. Von Friedrich Carl von Savigny, Beilage eines Briefes an Friedrich Creuzer, 21. Juni 1799, ebd. S. 95. Von Friedrich Carl von Savigny an Clemens Brentano, Juli 1800, ebd. S. 165. Von Friedrich Creuzer an Friedrich Carl von Savigny, 20. April 1799, in: Briefe Friedrich Creuzers an Savigny (1799–1850), hrsg. von Hellfried Dahlmann unter Mitarbeit von Ingeborg Schnack, Berlin 1972, S. 25. Eine Schilderung der Szenen in Großenlinden gibt ein Brief von Friedrich Creuzer an Friedrich Carl von Savigny, 17. Mai 1799, ebd. S. 29–33. Jan Stenger, Reich an Worten, arm an Inhalt? Der spätantike Brief als Ereignis, in: Der Brief. Tagungsband (Anm. 1), S. 26–41, hier S. 37–41. Der Weg der ‚amicitia‘ ins lateinische Christentum wird nachgezeichnet bei Alfons Fürst, Streit unter Freunden. Ideal und Realität in der Freundschaftslehre der Antike, Stuttgart / Leipzig 1996, S. 181f., 233f., 241. Diese Briefe sind zum großen Teil publiziert bei Stoll, Savigny. Kinderjahre (Anm. 2), S. 106–170.

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Guten, deren Andenken mich überall begleitet“, schreibt Savigny etwa am 24. Juli 1799.14 Diese Spielarten des Produzierens und Rezipierens von Briefen, von Mehrfachadressierung, Mehrfachlektüre und mehrseitigem Kommentieren schaffen ein Band zwischen den zunehmend verstreut lebenden Mitgliedern der „Gemeinde“, in der Savigny erkennbar eine gewisse Vorrangstellung einnahm. War also Savigny ein ‚Influencer‘? Sicher gilt dies im Kreis seiner Marburger ‚Follower‘, die freilich nicht annähernd so zahlreich waren wie die heutiger entsprechender Akteure. Die Spuren dieses „lebhafte[n] Ideenwechsel[s] in schriftlicher Mittheilung“15 der Freunde untereinander finden sich jedoch nicht zuletzt in den Lebenswerken derer, die daran Anteil hatten. Die Marburger Konstellation von Personen und Diskursen bestand in unterschiedlicher Intensität über ein halbes Jahrhundert lang, auch, nachdem die allermeisten Mitglieder des Kreises Marburg verlassen hatten. In Briefen wurde ihr Netzwerk aufrechterhalten; diese Briefe wurden zum Teil an mehrere Personen adressiert, nachweislich jedoch meist von mehreren Personen gelesen bzw. in einem größeren Kreis vorgelesen oder, vor allem später, vom Adressierten an Dritte mitverschickt.16 Wie sich die „Gemeinde“ in diesen Briefen konstituierte, also sich austauschte, auseinandersetzte und bestärkte, lenkt den Blick auch auf die medialen Formen und Möglichkeiten jener Zeit, in denen diese Mehrfachlektüren sich realisierten und die schließlich wiederum die Konstellation der Personen und die Form ihrer Diskurse prägten.

2 Schreib- und Leseszenen und die Poetik des Briefes17 Briefe waren zur hier betrachteten Zeit nur scheinbar privat, denn obwohl meist im Stil der Vertraulichkeit geschrieben, wurden sie Gegenstand multipler Lektüren im Kreis der Familie, 14 15

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Ebd. S. 106. Friedrich Creuzer, Aus dem Leben eines alten Professors. Friedrich Creuzer’s Deutsche Schriften, V. Abt., Bd. 1, Leipzig / Darmstadt 1848, S. 28. Mehrere hundert dieser Briefe bilden nun ein digitales Korpus, das sich auch hinsichtlich der Fragestellung der ‚Mehrfachadressierung‘ und der ‚erweiterten Leserschaft‘ nutzen lässt. Die Handschriften liegen in mehreren Archiven und Bibliotheken. Der Briefwechsel Johann Heinrich Christian Bangs mit Friedrich Carl von Savigny und der Briefwechsel Bangs mit den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm werden demnächst, zunächst online, erscheinen, bearbeitet und herausgegeben von einer Arbeitsgruppe im Fachgebiet Computerphilologie am Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft der TU Darmstadt und der ULB Darmstadt: Sabine Bartsch, Mareike Bassenge, Luise Borek, Philipp Hegel, Rotraut Fischer, Andrea Rapp und Thomas Stäcker. Siehe dazu den WerkstattBericht: Mareike Bassenge, Rotraut Fischer, Bang-Grimm-Savigny. Eine elektronische Edition, in: Brüder Grimm-Journal, H. 11 (2021), S. 8–11. Zu Schreib- und Leseszenen siehe Wolfgang Bunzel, Schreib-/ Leseszenen, in: Der Brief. Katalogband (Anm. 1), S. 237–247.

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der Freunde, in den Salons und nicht zuletzt in den zahlreichen Editionen; Intimität und Öffentlichkeit waren bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts keine wirklichen Gegensätze.18 Wie verändern sich bei diesen unterschiedlichen Mehrfachlektüren der Status des Briefes und seine Poetik? Indem der Brief als auf Dauer angelegte Verschriftlichung einer sprachlichen Handlung gegenüber seiner Entstehung und seiner Rezeption sich verselbständigt, zu einem „Kommunikations-Ding“19 wird, kann er Gegenstand verschiedener Lektüren, Inszenierungen und Manipulationen sein. Er kann so auf unterschiedliche Weise seiner medialen Rolle als Stifter und Vermittler sozialer Beziehungen und als Zeugnis, in dem auch Spuren von lebensweltlichen wie diskursiv-intellektuellen Prozessen lesbar sind, gerecht werden.20

2.1 Weitergeben von Briefen: Der Brief als Zeugnis Die mediale Rolle des Briefes wird durch eine Reihe von auch materiellen Faktoren mitbestimmt, die beim Weitergeben des ganzen Briefes keineswegs verlorengehen, wie etwa seine materiell-haptischen Eigenschaften; es wird ihm beim Weitergeben sogar etwas hinzugefügt, ein Kontext, eine Intention, eine Richtung des Verstehens, vielleicht als Kommentar dessen, der ihn weitergibt oder der diese Weitergabe veranlasst hat und der sich quasi zwischen den Schreiber und den oder die Zweitleser schiebt; so auch im folgenden Beispiel: „Hierbey habt Ihr einstweilen was zu lesen: mit solchen Briefen geht mir’s wie mit manchen Menschen, ich könnte sie hassen, weil sie mich hindern, sie zu lieben.“21 So Savigny um 1800 an Pfarrer Bang. 18

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Darauf wird hingewiesen durch Hannelore Schlaffer, Glück und Ende des privaten Briefes, in: Klaus Beyrer, Hans-Christian Täubrich (Hrsg.), Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation, o. O. 1996, S. 40. Konrad Ehlich, Eine kurze Pragmatik des Briefes, in: Hanna Delf von Wolzogen, Rainer Falk (Hrsg.), Fontanes Briefe ediert. Internationale Tagung des Theodor-Fontane-Archivs Potsdam 2013, Würzburg 2014, S. 17–38, hier S. 24. Für Walter Benjamin gehören Briefe zu den „Zeugnissen“, siehe: Walter Benjamin, Fragmente vermischten Inhalts, in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1985, S. 95: „Man unterschätzt heute Briefwechsel, weil sie auf den Begriff des Werkes und der Autorschaft völlig schief bezogen werden; während sie in Wahrheit dem Bezirk des ‚Zeugnisses‘ angehören […].“ Siehe auch: Gert Mattenklott, Benjamin als Korrespondent, Herausgeber von ‚Deutsche Menschen‘ und als Theoretiker des Briefes (1992), in: Ders., Ästhetische Opposition. Essays zu Literatur, Kunst und Kultur, hrsg. von Dirck Linck, Hamburg 2010, S. 305– 320, hier S. 10. Zu ‚Spur‘: Erika Linz, Gisela Fehrmann, Die Spur der Spur. Zur Transkriptivität von Wahrnehmung und Gedächtnis, in: Gisela Fehrmann, Erika Linz, Cornelia Epping-Jäger (Hrsg.), Spuren, Lektüren, Praktiken des Symbolischen, München 2005, S. 89–104. Von Friedrich Carl von Savigny an Johann Heinrich Christian Bang, bei Stoll datiert auf 1804. Siehe Stoll, Savigny. Kinderjahre (Anm. 2), S. 216. Da es sich hier um eine Kurznachricht bei gleichzeitiger räumlicher Nähe der Briefpartner handelt, ist der Kontext nicht zu rekonstruieren.

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Die „löbliche Sitte des Apostolischen Briefumlaufs“

Der Brief bleibt in diesem Fall als Objekt erhalten, er bewahrt seine ursprünglich das magische oder religiöse Ritual charakterisierende Aura. Dabei wird seine appellativ initiierte und inszenierte ‚Wirklichkeit‘ noch einmal verlebendigt. Doch ist sein Auftritt quasi herabgestimmt, denn er ist schon gelesen und interpretiert: die Absicht, in der er weitergeleitet wurde, und die Persönlichkeit des Weitergebenden werden ‚mitgelesen‘, auch wenn der Brief selbst als auratisches Objekt noch greifbar ist. Durch die erneute Lektüre lebt auch der Ereignischarakter des Briefes wieder auf; doch ist dieser von dem für den ursprünglichen Empfänger verschieden, er verliert die Einmaligkeit seines ‚Hier und Jetzt‘ für einen bestimmten Empfänger, seinen einmaligen Augenblick, dem des ersten Öffnens und Lesens.22 Zwar scheint in der zweiten und jeder weiteren Lektüre etwas von der ursprünglichen Sensation auf, doch ist der Leser, außer bei expliziter Mitadressierung, ja nicht der Angesprochene, sondern er imaginiert den Schreiber und den Adressaten in ihrem gegenseitigen Verhältnis, dessen Zeugnis der Brief ist. Er erlebt also gewissermaßen einen Dialog mit, ohne direkt daran beteiligt zu sein: Er wird Z e u g e . Der Brief-Dialog, dessen Zeuge man wird, verliert, indem er unabhängiger wird vom Schreiber wie vom Adressaten und in ein ‚Eigenleben‘, ein Fortleben eintritt, etwas von seiner Eigenschaft als Brief, der ‚Begegnung‘ zweier Individuen im Medium Brief als in einem Dritten. „Zeugnisse“, so Walter Benjamin, „gehören zur Geschichte des F o r t l e b e n s eines Menschen und eben, wie in das Leben das Fortleben mit seiner eignen Geschichte hereinragt, läßt sich am Briefwechsel studieren. (Nicht so an den Werken, in ihnen mischen sich nicht Leben und Fortleben […]).“23 In seinem „Fortleben“ als Zeugnis nähert sich der Brief dem Text, der gleichwohl zu unterscheiden ist vom reproduzierten ‚Text‘ einer Edition.24 Doch bleibt auch bei der Lektüre dieses Brief-Textes ein Moment des Dabeiseins erhalten, was ja Zeugenschaft eigentlich ausmacht. Das heutige Pendant zum weitergegebenen Brief wäre unter den Bedingungen elektronischer Post neben der Funktion „Weiterleiten“ am ehesten das CC, freilich mit dem großen Unterschied, dass der Brief nicht als analoges, greifbares Objekt zuhanden ist; dabei tilgt die Elektronik auch die Zeitverschiebung und simuliert Echtzeit. Das (analoge) Verschicken eines Briefes an mehrere Adressaten geschah oft veranlasst durch die explizite Aufforderung an den Erstadressierten, den Brief weiterzugeben bzw.  nicht an alle weiterzugeben; so äußert beispielsweise Savigny: „Manches in diesem Briefe wünsche ich 22

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Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (2. Fassung), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd.  1.2, hrsg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1974, S. 476: „Das Hier und Jetzt des Originals macht den Begriff seiner Echtheit aus.“ Benjamin, Fragmente vermischten Inhalts (Anm. 20), S. 95. Siehe dazu Rotraut Fischer, Brief – Text – Edition. Was tun wir, wenn wir Briefe edieren? Vorüberlegungen zu einer Hybrid-Edition romantischer Briefwechsel, in: Jahrbuch der Brüder Grimm-Gesellschaft, 19–20 (2019), S. 203–232.

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nicht allgemein mitgeteilt, Wachlern z. B. nicht, Creuzern wohl, dem ich ihn sogar offen beyschließe.“25 Daneben findet sich die Ermunterung an einen Dritten und meist in einem weiteren Brief an diesen, sich den Brief vom Erstadressaten geben zu lassen: „[…] lasst Euch den Brief gelegentlich geben, es wird Euch dann deutlicher werden“,26 schreibt Savigny an Bang im September 1809. Ein Sonderfall des Weitergebens von Briefen ist der Briefeinschluss, also das Weitergeben eines Briefes durch erneutes Verschicken, eingeschlossen in einen neuen Brief eines zweiten Schreibers an einen neuen Adressaten. Savigny, der offenbar eine Sendung mehrerer solcher Briefe erhalten hatte und diese nun, wie es üblich war, zurückschickt, schreibt am 7. Juli 1800 aus Jena an Leonhard Creuzer: „Herzlichen Dank sage ich Ihnen für den reichen, mannigfaltigen Genuß, den Sie mir durch die Briefe die Sie hier wieder erhalten verschafft haben. Sehr schön ist der von Schmid, aber die von Vetter Lindenmeyer sind dennoch die schönsten.“27 Auch diese Briefe kommen nicht zurück, wie sie abgeschickt wurden; sie sind vielmehr quasi aufgeladen durch den Kommentar des Zweitlesers. Diese Briefpraxis entsprach ebenfalls dem Ziel eines ‚Briefumlaufs‘, durch den die Kommunikation aufrechterhalten und weitergeführt wurde, unter möglichst zahlreicher Beteiligung der Mitglieder des Kreises. Dazu gehörte, wie wir sehen konnten, auch, dass die weitergeleiteten Briefe meist wieder an den ursprünglich Adressierten zurückkamen.28 Auf diese Weise entstand eine Art erweiterter Leseszene. Hinzu kamen Kommentare zu Briefen, die ursprünglich an einen anderen adressiert waren, dann aber an einen Dritten weitergeleitet wurden und so, auch von diesem kommentiert, den Austausch verdichteten.29 Es ergibt sich hier eine weitere Gemeinsamkeit mit dem aktuellen CC im elektronischen Briefverkehr, denn zur Lektüre solcherart verschickter Briefe muss man sich nicht wirklich treffen. Doch kommt hier die durch das CC ausgeschaltete Zeitverschiebung zwischen Schreiben und Lektüre bzw. Weiterschicken und erneuter Lektüre wieder ins Spiel. Denn das CC simuliert fiktives Dabei-Sein in Jetzt-Zeit.30 Auch der virtuelle Objekt-Charakter des Briefes 25

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So im Brief von Friedrich Carl von Savigny an Johann Heinrich Christian Bang, 1. Oktober 1810, Druck bei Adolf Stoll, Friedrich Carl von Savigny. Professorenjahre in Berlin 1810–1842, Berlin 1929, S. 53–55. Auch gedruckt bei Ludwig Enneccerus, Friedrich Carl von Savigny und die Richtung der neueren Rechtswissenschaft, Marburg 1879, S. 63. Von Friedrich Carl von Savigny an Johann Heinrich Christian Bang, 25.  September  1809, ebd. S. 59–61. Stoll, Savigny. Kinderjahre (Anm. 2), S. 162. Ebd. Ebd. S. 160. Siehe weiter Peter Koch, Wulf Österreicher, Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte, in: Romanistisches Jahrbuch, 36 (1985), S. 19f.

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markiert einen Unterschied. Dagegen bleibt der analog weitergeleitete Brief gefangen in der notwendigen Ungleichzeitigkeit des Briefgesprächs; und er hat auf seinem Weg noch etwas aufgenommen, einen Kommentar oder auch nur ein hingeworfenes Wort, das ihm eine andere Tönung verleiht. Dadurch ist er nicht einfach ein Dialog, sondern, wenn er etwa von Dritten kommentiert wird, ein Gespräch zwischen mehreren Personen, die auf unterschiedlichen Ebenen des Dabeiseins agieren, als direkt Beteiligte oder kommentierende bzw. sich einmischende Zeugen. Die Kommunikation ist zeitlich gedehnt durch die Dauer des Verschickens, durch Zurückschicken eines Kommentars und eventuell erneutes Kommentieren. Das Versenden von Briefen ist nicht zuletzt abhängig von den jeweiligen technischen Möglichkeiten des Brieftransports.31 War dies in früheren, analogen Zeiten der Zeitpunkt, an dem die Post abgeholt wurde bzw.  zu dem man den Brief abgegeben haben musste,  – „ich muss schließen, die Post geht ab“, wie oft liest man dies, als Erklärung oder Ausrede für abrupten Abbruch, am Schluss von Briefen – so genügt heute ein Klick mit der Maus, um einen Brief an eine beliebige Zahl von Personen zu verschicken, unabhängig von mechanischen Vorgängen, animalischer Kraft oder dem Plan der zur Verfügung stehenden Transportkapazitäten; ein elektronischer Brief hat jedoch vor allem eine andere Zeitdimension, denn er kann mehreren Empfängern gleichzeitig zugestellt und von diesen im Prinzip gleichzeitig gelesen werden, allerdings in der Regel nicht in räumlicher Nähe zueinander. Auch ausdrückliche Mehrfachadressierung war um 1800 und danach keine Seltenheit, sie betraf vor allem Korrespondenzpartner, die eng verbunden und befreundet waren oder gar in häuslicher Gemeinschaft lebten wie die Brüder Grimm. Hier traf der Brief gleichzeitig für beide Adressierten ein. Doch gab es nur ein Exemplar desselben, sie mussten also nacheinander lesen – oder einer las vor. Dagegen hat beim CC jeder die Botschaft auf seinem Bildschirm.

2.2 Abschreiben: der Brief als Zitat Vom Weitergeben eines ganzen Briefes unterscheidet sich das meist abschnittweise Abschreiben und Wiedergeben eines fremden Briefes, denn es macht diesen Abschnitt zum Z i t a t in einem neuen Brief.32 Der Brief, der in Auszügen abgeschrieben und mitgeteilt wird, hat weniger 31

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Klaus Beyrer, Der alte Weg eines Briefes. Von der Botenpost zum Postboten, in: Beyrer, Täubrich, Der Brief (Anm. 18), S. 11–26. Siehe z.  B. den Brief von Jacob Grimm an Johann Heinrich Christian Bang, 19.  Dezember  1822, Biblioteka Jagiellońska Krakau, Erstdruck: Edmund Stengel, Private und amtliche Beziehungen der Brüder Grimm zu Hessen. Eine Sammlung von Briefen und Actenstücken als Festschrift zum hundertsten Geburtstag Wilhelm Grimms am 24.  Februar  1886, 3  Bde., Bd.  1: Briefe der Brüder Grimm an hessische Freunde, Zweite Ausgabe, Marburg 1895, S. 81–87. Das Zitat in dem Brief ist

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Eigengewicht und wird als Teil des Briefes des Schreibers eines neuen Briefes gelesen; der fremde Brief wird, als Zitat, mehr oder weniger eingebaut in die Argumentation und Narration des neuen Schreibens. Über den Gesundheitszustand Savignys, um den sich nicht nur Pfarrer Bang sorgte, schreibt Achim von Arnim am 17. Februar 1828 an Wilhelm Grimm, der die entsprechende Passage des Briefes wiederum in einem eigenen Brief an Bang zitiert: Die neusten Nachrichten von Savigny sind folgende: ‚Berlin 17t Febr. Savignys Befinden ist übrigens so: Morgens liest er seine Kollegien und mit Vergnügen. Mittags (alle zwei Tage nach dem Russischen Bade) liegt er einige Stunden auf dem Sofa und hat da meistens starke Kopfschmerzen. Nachmittags und Abends ist er freyer davon, hat Abends gern Gesellschaft bei sich und geht auch in andere.‘33

Einerseits bleibt etwas kenntlich von dem lapidaren Ton Arnims, den Wilhelm Grimm an dieser Stelle sogar aufnimmt, andererseits wird diese Textstelle integriert in dessen Schreiben, in welchem er Bang mit familiären Nachrichten und einigen Notizen über den Fortschritt eigener Arbeiten versorgt. Die Tendenz, dass ein Brief sein Eigengewicht verliert, verstärkt sich, wenn er nur noch in Auszügen paraphrasiert wird. Die P a r a p h r a s e anverwandelt den fremden Brief dem aktuell zu schreibenden und macht ihn zum Bestandteil dieses neuen Brieftextes. In beiden Fällen erfährt der Brief eine Erweiterung durch einen zusätzlichen Kontext, indem ihm der Brief, in dem er zitiert bzw. paraphrasiert wird, einen Rahmen gibt für das Verstehen. Die ‚Stimme‘ des Originalbriefes erklingt in der Paraphrase nicht mehr, sie ist keine Wiederbelebung, sondern eher ein B e r i c h t . Das klingt, etwa in einem Schreiben Bangs an die Brüder Grimm, dann so: „Von Savigny habe ich kürzlich einen langen Brief in heiterer Stimmung geschrieben, der folglich von Wohlseyn zeugt. Er geht in dießem Moment auf drey Monate nach Italien. Die Hessischen Dinge gefallen ihm nicht.“34 Im neuen Brief scheint ein neuer Schreiber auf, bewertet den Inhalt des zitierten oder paraphrasierten Briefausschnitts, wie hier Pfarrer Bang – „in heiterer Stimmung geschrieben“ –,

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ein Selbstzitat Jacob Grimms aus einem Brief, den er eine Woche zuvor an Friedrich Creuzer geschrieben hat und in dem er Stellung nimmt zu Bangs Bewerbung auf eine Stelle am Frankfurter Gymnasium: „ich an Bangs Stelle ginge nach Frankfurt und versuchte’s.“ Ebd. S. 82. Das Selbstzitat soll Grimms Meinung als unabhängig vom Ausgang des Verfahrens ausweisen. Von Wilhelm Grimm an Johann Heinrich Christian Bang, 24. Februar 1828, Biblioteka Jagiellońska Krakau; Erstdruck bei Stengel, Briefe an hessische Freunde (Anm. 32), S. 105–108, hier S. 106. Das Zitat stammt aus einem Brief Achim von Arnims, 17. Februar 1828. Von Johann Heinrich Christian Bang an die Brüder Grimm, 6. Juli 1833, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachlass Grimm 767, 70–71.

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oder widerspricht dem Schreiber des solcherart gebrauchten Briefes. Der Brief selbst ist reduziert auf das, was in ihm berichtet wird. Der ‚Ton‘, der Eindruck heiterer Stimmung, wird jedoch weitergegeben, und zwar so, wie er in der Wahrnehmung des neuen Schreibers erscheint. Der paraphrasierte und zum bloßen Bericht gewordene Brief bekommt also gleichwohl eine Beigabe von Seiten dessen, der ihn solcherart weitergibt. Das bedeutet zugleich die weitestreichende Reduktion und Abweichung vom ursprünglichen Brief, denn je kleiner der Anteil des zitierten bzw. paraphrasierten Briefes ist, desto mehr wird er Teil der Botschaft des Schreibers des neuen Briefes. Diesen Verfahren wohnt naturgemäß auch die Möglichkeit des Missverständnisses inne, etwa, wenn ein Brief fehlerhaft abgeschrieben oder verkürzt wiedergegeben wird.

2.3 Vorlesen und gemeinsame Lektüre: Re-Inszenierung des Briefes Doch damit erschöpft sich das Repertoire der Mitteilung fremder Briefe nicht. Es gibt neben dem Weitergeben von Briefen und der Aufladung mit fremdem Briefgut in einem Brief auch die schiere Verbreitung im ‚unmittelbaren‘ Sprechen: das Vorlesen von Briefen, die jemand aus dem Kreis gerade erhalten oder mitgebracht hat, so z. B., wenn Friedrich Creuzer in späteren Jahren aus Heidelberg, wo er eine Professur bekleidete, zu Besuch kommt und Briefe Savignys mitbringt, die er erhalten hat und die er den Freunden nun vorträgt (und zum Nachlesen gibt). Im Falle des Vorlesens eines Briefes, zu dem sich die Marburger Freunde oft trafen, geschieht die Zweitlektüre durch mehrere Rezipienten gleichzeitig, doch bekommt diese ‚Lektüre‘ einen eigenen Charakter: Obgleich nicht die Stimme des Schreibers spricht, so spricht doch eben eine Stimme, wodurch die mit dem ersten Lesen des Briefes verbundene ursprüngliche ‚Sensation‘ in dieser Re-Inszenierung wieder aufscheint. Die ‚Lektüre‘ kann sich zur spontanen S t e g r e i f- I n s z e n i e r u n g erweitern, denn auch dem eigentlichen Brief nachgelagerte dialogische Elemente können deren Bestandteil werden, etwa durch Unterbrechungen, Nachfragen, spontane Kommentare, Gesten, aufkommende Diskussionen. Der Brief wird dadurch in besonderer Weise ‚wörtlich‘ genommen: Er steht für die Person, das persönliche Sprechen des Schreibers. Man hätte ja auch einfach berichten können, was er enthält. Die, wenn auch ferne Präsenz des Schreibers im Brief, das Vortragen schließlich von dessen wortwörtlichem Inhalt, machen die Person des Schreibers schein-anwesend, d. h. der Brief ist weder Bericht noch Erzählung (obwohl er beides enthalten kann), sondern ist unmittelbar inszeniertes Sprechen. Sein Zauber besteht darin, dass in ihm die ‚Stimme‘ des Schreibers quasi konserviert ist. Man glaubt beim Vorlesen, ihn sprechen zu hören, weshalb das Vorlesen des Briefes sicher den höchsten performativen Gewinn bringt: Der Brief als Ereignis wird wiederbelebt und erfährt zugleich eine Veränderung; denn nicht das Ankommen, Öffnen, die erste Begegnung mit dem materiellen Objekt und eine erste Lektüre machen das Ereignis aus, sondern der vorgetragene, 65

Rotraut Fischer

quasi aufgeführte Brief-Text, den freilich noch die Aura der ‚Echtheit‘ umweht, nicht zuletzt, weil das Brief-Objekt noch sichtbar anwesend ist. Der vorgelesene Brief wird zum Ereignis für eine Gemeinschaft, das diese an einem Ort wirklich zusammenführt und ihre Glieder fester miteinander verbindet. Denn zum gemeinsamen Lesen bzw. Vorlesen eines Briefes muss man sich treffen, also räumliche Nähe herstellen. Es können ganze Briefe oder auch nur Ausschnitte vorgelesen werden. Das entscheidet wohl meist der ursprünglich Adressierte. Auch in Abschnitten bzw. deren Abschrift können Briefe szenisch, d. h. in einem gesellschaftlichen oder familiären Rahmen wiedergegeben werden. Der vorgelesene Brief nähert sich dem Text aus einer anderen Richtung: Er ist ganz Inszenierung, doch steht er gleichzeitig als haptisch greifbares Objekt mit der Fülle seiner lesbaren Eigenschaften in einer noch haptisch wie visuell einholbaren Ferne. Am ehesten entspräche dieser Aufführung unter den Bedingungen des Gebrauchs heutiger sozialer Medien die Selbstinszenierung im ‚geposteten‘ Video-Clip, freilich ohne den erwähnten unmittelbaren „Simultangenuß“ im analogen Beisammensein aller Beteiligten.

2.4 Die kurze Mitteilung: SMS in der Romantik Kurze Mitteilungen sind ein Sonderfall des Briefes; meist dienen sie lediglich als Informationsträger, vergleichbar etwa einer SMS-Nachricht. Im Korpus Bang-Savigny gibt es einige kurze Mitteilungen, die ihren besonderen Charakter aus der Tatsache erhalten, dass die Korrespondierenden nahe beieinander wohnen und mündliche und schriftliche Kommunikation einander abwechseln.35 „Leset und kommt. Wenn es möglich ist: heute […] Auch steht Euch noch ein neuer Spaß bevor in der Sache des anonymen Schriftstellers, ein Spaß, der alle frühere hinter sich läßt.“36 So schreibt Savigny in einer kurzen Mitteilung an Bang. Für diese Art kurzer Nachricht, vermutlich von einem Boten überbracht, wird kein Kontext mitgeliefert, was bei Briefen in größerer zeitlicher und räumlicher Distanz stets der Fall ist. Der Inhalt ist deshalb schwer oder gar nicht zu rekonstruieren. So erfahren wir z. B. nicht, welche Art von „Spaß“, einen anonymen Schriftsteller betreffend, Bang bevorstehen könnte. Zugleich richten sich solche kurzen Mitteilungen oft ebenfalls an mehrere Mitglieder des Kreises, was bedeutet, dass ihr Inhalt aufgrund der räumlichen Nähe auch mündlich weitergegeben wird. Das betrifft beim hier herangezogenen Briefwechsel die Zeit etwa zwischen 1798 bis 1803, allerdings nur 35

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Das betrifft Zettel und kurze Mitteilungen, die oft nicht einmal datiert sind, so z. B. einige Blätter aus dem Bestand Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 96/2442, XIV, XVII, XVIII, oder nur überliefert bei Stoll, Savigny. Kinderjahre (Anm. 2), z. B. S. 216. Von Friedrich Carl von Savigny an Johann Heinrich Christian Bang, undatiertes Blatt, sicher aber Marburger Zeit, in: Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 96/2442, XVII.

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Die „löbliche Sitte des Apostolischen Briefumlaufs“

bezogen auf die in Marburg und Goßfelden jeweils Anwesenden. Ein Unterschied zur SMS bestünde dann darin, dass bei letzterer sich zwar auch schriftliche und mündliche Kommunikation abwechseln können, die Distanz jedoch überbrückbar ist durch Telefon, Skype oder Zoom. So spielt die Distanz keine Rolle, sie wird durch die besondere Zeitlichkeit, in der quasi ein ‚echter‘ Dialog mit unmittelbarer Folge von Rede und Gegenrede geführt werden kann, ausgeglichen. Eine analoge Kurznachricht bleibt wesentlich ein Brief mit Zeitverzögerung, Materialität und dem besonderen Ereignischarakter, eine SMS bildet Fragmente eines Gesprächs visuell ab und ist meist ebenfalls nicht kontextualisiert.

3 Fazit Der Status des Briefes als geteilter bzw. mehrfach gelesener oder vorgetragener verändert sich hinsichtlich seiner Medialität und seiner Poetik durch die hier vorgestellte Mehrfachlektüre. Er kann herabgestimmt werden, etwa als weitergeleiteter Brief, der den Nach-Leser zum Zeugen degradiert, oder er kann, im Gegenteil, performativ gesteigert und aufgeladen werden durch Vortrag und „Simultangenuss“ der bei dem Vortrag Anwesenden. In beiden Fällen stiftet er Gemeinschaft, gesellschaftlichen und persönlichen Zusammenhang, wenn auch jeweils in unterschiedlichem Grade. Ihrem Wesen nach sind bestimmte Szenarien des Adressierens, Verschickens und Teilens von Nachrichten, die uns heute selbstverständlich sind, auch in der analogen Briefkultur zu finden. Die neuen, elektronischen Versendetechniken unterscheiden sich nicht so sehr ihrem kommunikativen und narrativen Wesen nach von denen der Briefpraxis in romantischen Kommunikationszirkeln, wohl aber dem Objektcharakter ihrer Informationsträger nach und hinsichtlich ihrer zeitlichen Dimension. Nicht zuletzt gehen bei den heutigen Praktiken auch performative Aspekte wie das Vorlesen eines Briefes in einer Gruppe verloren.37 Das Ideal der Briefsteller des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts war die „freye Nachahmung eines guten Gesprächs“.38 Zwar schlich sich damit, wie Hannelore Schlaffer anmerkt, die Zufälligkeit der Rede in die Schrift ein und gab dieser einen Anschein von Mündlichkeit.39 Doch ist diese Mündlichkeit eine scheinbare und damit ebenso Stil, d. h. Kunstform, wie die simulierte Echtzeit unserer heutigen Kommunikationsformen.

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Wie die neue Zeitlichkeit, die Unmittelbarkeit simuliert, also zeitliche Dauer tilgt, den Charakter der Briefe selbst verändert, wäre Gegenstand einer eigenen Untersuchung. Christian Fürchtegott Gellert, Briefe. Nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, Leipzig 1751, S. 3. Schlaffer, Glück und Ende des privaten Briefes (Anm 18), S. 36.

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Liebesbriefe in sozialen Netzen des 19. und 21. Jahrhunderts Canan Hastik, Andrea Rapp, Eva Lia Wyss

Obschon der Liebesbrief eine exklusive Intimität zu konstruieren vermag, ist er als Gattung des 19. Jahrhunderts nicht nur an das geliebte Individuum gerichtet, an das er adressiert wird, sondern inskribiert häufig weitere Personen. So ist es durchaus üblich, auch Liebesbriefe im trauten Kreis der Familie vorzulesen. Die kulturelle Praxis des Vorlesens überformt damit auf eigentümliche Weise das spätestens seit 1871 gesetzlich gewährleistete Briefgeheimnis.1 Dieser Vorlese-Akt bringt zugleich eine Distinktion zum Ausdruck, die eine Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen Milieu markiert, das dem gelehrten Briefeschreiben gleichermaßen wie dem Vorlesen von Briefen im Salon (aber auch den Briefeditionen) des 19. Jahrhunderts verpflichtet ist. Briefe sind daher nicht nur Vermittlermedien, sondern Objekte, die soziale Netzwerke erzeugen, tragen und binden. Ähnlich kann die Konstruktion von Intimität in sozialen Medien nachverfolgt werden, z.  B. in Facebook, wo auf einer persönlichen Pinnwand an den Partner bzw.  die Partnerin adressierte Liebesnachrichten öffentlich gemacht werden und wo der Kreis der ‚Freunde‘ diese evaluiert und kommentiert. Wie in den heutigen sozialen Medien etabliert sich auch in Briefen des 19. Jahrhunderts ein Akteur-Netzwerk, in welchem der Brief nicht einfach als ein Kommunikationsmedium fungiert, sondern in dem er darüber hinaus die Rolle eines sozialen Akteurs übernimmt. Dies zeigt sich deutlich daran, dass durch den Brief über die Verständigung hinaus soziale und kommunikative Praktiken ermöglicht, durchgesetzt und mitbestimmt werden. Offensichtlicher zeigt sich diese Fähigkeit der Kommunikate in heutigen Netzwerken der sozialen Medien. Auch dort werden Postings, Kommentare oder Likes über ihren kommunikativen Gehalt hinaus zu Akteuren eines sich bildenden Netzwerks.

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Angela Standhartinger, Briefzensur und Briefgeheimnis in der Neuzeit, in: Marie Isabel MatthewSchlinzig, Jörg Schuster, Gesa Steinbrink, Jochen Strobel (Hrsg.), Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Berlin / Boston 2020, Bd. 1, S. 269–275, hier S. 271f.

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Canan Hastik, Andrea Rapp, Eva Lia Wyss

So wird in dieser Studie mit der Berücksichtigung der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) eine Betrachtungsweise gesucht, bei der zum einen die Praktiken digitaler Kommunikation und die damit verbundenen medialen Möglichkeiten der Netzwerkbildung als Folie verwendet werden, um historische ‚handschriftliche‘ Briefschreibepraktiken mit einem Blick auf deren Netzwerkartigkeit zu analysieren. Zum anderen kommen digitale Annotations- und Analysemethoden sowie Visualisierungen zum Einsatz, die diese netzwerktheoretischen Ansätze modellierbar und sichtbar werden lassen.

1 Briefkultur und Briefeschreiben im langen 18. und 19. Jahrhundert Das Briefeschreiben dient seit den Anfängen sowohl dem zwischenmenschlichen Austausch wie auch dem Aufbau sozialer Beziehungen. Im 18.  und 19.  Jahrhundert entwickelt sich in unterschiedlichen sozialen Gefügen eine Briefschreibekultur: Bekannt ist die Netzwerkkultur der Salons, in welchen sich Schriftsteller*innen und Wissenschaftler*innen beteiligen, etwas weniger deutlich, aber von eminenter kultureller Bedeutung für die Etablierung einer Schriftkultur sind die familiären und freundschaftlichen Bande, die durch das Briefeschreiben geknüpft wurden. Die Salonkultur ist fast 500  Jahre alt. So wurden erste Salons in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Frankreich gegründet und erlebten dort im 17. und 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Sie waren Treffpunkt adliger und gebildeter Menschen, dienten dem intellektuellen Austausch, der künstlerischen Erfahrung und der Pflege von Kontakten. In Deutschland sind es insbesondere die bürgerlich-intellektuellen Salons um 1800, so zum Beispiel von Caroline Schlegel in Jena, Johanna Schopenhauer in Weimar, Rahel Varnhagen und Henriette Herz in Berlin. Hier trafen sich Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Kunst, lasen dort auch Briefe vor und blieben durch das Briefeschreiben im Austausch.2 Als ein Momentum der allgemeinen Schreibkultur spielte somit die individuelle Briefeschreibepraxis eine zentrale Rolle bei der Ausbildung von persönlichen Beziehungen. Bei Liebesbeziehungen entwickelt sich ferner im Kontext von Verlöbnissen ein Wandel der Rolle der Liebesbriefe. Diese als Brautbriefe bezeichneten Elemente der Verlobungskorrespondenz verweisen auf die Verbriefung des Eheversprechens im uneigentlichen und eigentlichen Sinn des Wortes. Diese Korrespondenz zeigt immer auch an, dass sich die intime

2

Achim Hölter, Ludwig Tieck, in: Wolfgang Bunzel (Hrsg.), Romantik. Epoche, Autoren, Werke, Darmstadt 2010, S. 123–137, hier S. 127.

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Liebesbriefe in sozialen Netzen des 19. und 21. Jahrhunderts

Verbindung der zukünftigen Eheleute in einer rechtlich mehr oder weniger gefestigten Situation etablierte. In der konkreten Ausgestaltung solcher Verlobungskorrespondenzen finden sich indirekte Formulierungen wie zum Beispiel: „Ist der Umzug vorbei, wirst Du auch in einer anderen Wohnung die Ruhe finden, die Du brauchst. Bloss löse nicht den Haushalt auf! Was sagt denn die Mama dazu? Ist sie nicht fassungslos?“,3 oder direkte Adressierungen an ein Mitglied der Familie wie diese: „Bitte um einen herzlichen Gruss an die lieben Eltern und Geschwister, besonders an Annymaus“.4 Diese Beispiele zeigen, dass selbst das Schreiben von Liebesbriefen sich als eine über das Paar hinausgehende vergemeinschaftende Briefschreibepraxis darstellt, bei der sich die im Hintergrund tätigen Familienmitglieder und sogar Personen aus dem weiteren Kreis verbinden.

2 Brief-Kult Das Briefeschreiben erlebt seit dem 18. Jahrhundert einen Übergang von einer adeligen Praktik in französischer Sprache hin zu einer bürgerlichen Praktik, bei der sich mehr und mehr der deutschen Sprache bedient wurde. Gleichzeitig kommt es zu einem bemerkenswerten Aufschwung, der sich in geselligen Praktiken der Salons, dem Vorlesen von gesammelten Briefen (meist von Briefabschriften bekannter Autor*innen) einer größeren Anhänger*innenschaft erfreut, so dass von einem Briefeschreibe-Kult gesprochen werden kann. Vereinzelt werden interessante Briefsammlungen von Verleger*innen publiziert, welche als vorbildliche Korrespondenzen und Briefsteller zu werten sind. Diese kulturelle Gegebenheit lässt sich auch durch eine Ausführung Goethes belegen, welcher festhielt: Dieser Mann [i.e. Leuchsenring], von schönen Kenntnissen in der neuen Literatur, hatte sich auf vielen Reisen, besonders aber bei einem Aufenthalte in der Schweiz viele Bekanntschaften und, da er angenehm und einschmeichelnd war, viele Gunst erworben. Er führte mehrere Schatullen mit sich, welche den vertrauten Briefwechsel mit mehreren Freunden enthielten. […] Solche Korrespondenzen wurden sorgfältig gesammelt und alsdann, bei freundschaftlichen Zusammenkünften, auszugsweise vorgelesen; […] Leuchsenrings Schatullen enthielten in diesem Sinne manche Schätze. Die Briefe einer

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Brief 99 des Konvoluts 631, Liebesbriefarchiv Koblenz-Darmstadt, [13.7.2022], Sign.: LB_00631_0099. Brief 44 des Konvoluts 88, Liebesbriefarchiv Koblenz-Darmstadt (Anm. 3), Sign.: LB_00088_0044.

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Canan Hastik, Andrea Rapp, Eva Lia Wyss Julie Bondeli wurden sehr hoch geachtet; sie war, als Frauenzimmer von Sinn und Verdienst und als Rousseaus Freundin, berühmt.5

Liebesbriefe wurden nach ihrer Veröffentlichung zeitgenössischen Leser*innen beziehungsweise Hörer*innen präsentiert, da sie in gesellschaftlichen Kreisen, besonders in der oben genannten Salonkultur, vorgelesen wurden.6 In den Salons wurde philosophiert, diskutiert und debattiert, Künstler stellten ihre Werke vor, manch revolutionäre Idee wurde entwickelt und die geistreiche Geselligkeit als Lebensstil gepflegt. Manche Salons waren überwiegend literarisch-künstlerische Treffpunkte, andere entwickelten sich zu Enklaven des Geistes mit gesellschaftskritischem Charakter. Kennzeichnend für alle Salons war: Sie wurden von hochgebildeten Frauen organisiert, die es verstanden, Menschen unterschiedlichster gesellschaftlicher Kreise, Religionen und Charaktere miteinander ins Gespräch zu bringen.7 Eine Frau, die einen Salon eröffnen wollte, bedurfte hierbei des wirtschaftlichen Rückhalts ihres Mannes, dessen Ansehen sie im Gegenzug wiederum mit ihrem Salon stärkte.8

3 Briefeschreiben im 18. und 19. Jahrhundert Im 18. Jahrhundert erlebt die Form des Briefs einen bis dahin beispiellosen Aufschwung, nicht nur im Bereich der privaten Korrespondenz, sondern auch in der gerade im Entstehen begriffenen literarischen Öffentlichkeit.9 Wie im vorherigen Abschnitt bereits erwähnt, war es Teil der Salonkultur, Briefe mehr oder weniger bekannter Persönlichkeiten in der Öffentlichkeit der Salons vorzutragen. Ähnlich verhielt es sich auch mit Liebesbriefen. Ebenso wurden im häuslich familiären Alltag nicht nur persönliche Briefe, sondern auch Liebesbriefe vorgelesen. Die Briefschreibepraxis kann daher in eine öffentliche beziehungsweise halböffentliche und eine private Praxis unterschieden werden. Bei der privaten handelt es sich in der Regel um

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Johann Wolfgang von Goethe, Dichtungen und Wahrheit, Offenburg 1946, S. 588. Roger Chartier, Alain Boureau, Cecile Dauphin, Correspondence. Models of Letter-Writing from the Middle Ages to the Nineteenth Century, Princeton 1997. Rotraut Fischer, Fluchtpunkt Florenz. Deutsch-Florentiner in Risorgimento und Gründerzeit, Bielefeld 2022, S. 39–63 und passim. Barbara Becker-Cantarino, Schriftstellerinnen der Romantik, in: Bunzel, Romantik (Anm.  2), S. 200–215, hier S. 213. Björn Spiekermann, ‚Philosophische Briefe‘ (‚Ästhetische Briefe‘ / ‚Literarische Briefe‘) als Genre des 18. Jahrhunderts, in: Matthew-Schlinzig, Schuster, Steinbrink, Strobel, Handbuch Brief (Anm. 1), Bd. 2, S. 975–984, hier S. 975.

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Liebesbriefe in sozialen Netzen des 19. und 21. Jahrhunderts

Briefwechsel innerhalb familiärer oder freundschaftlicher Kreise, die dem persönlichen Austausch von Erfahrungen gewidmet sind. Darin wird von besonderen Ereignissen oder Vorkommnissen aus dem persönlichen Leben berichtet. Bemerkenswert sind Ritualisierungen des Briefeschreibens, die sich entlang des familiären Alltags von Feier- oder Jahrestagen ausbilden, beispielsweise in der Gattung des kindlichen Neujahrsbriefs.10 Auch Liebespaare bilden ritualisierte Praktiken heraus, die Zäsuren im persönlichen kommunikativen Alltag besetzen, wie das Schreiben eines Liebesbriefs zum Geburts- oder Jahrestag, „in ihnen wird auf das gemeinsame Leben zurückgeblickt, Bilanz gezogen, wobei der Ausdruck des Dankes und das Gefühl der Dankbarkeit im Mittelpunkt steht.“11 Auf der anderen Seite ist die öffentliche Briefschreibepraxis zu erwähnen, zu welcher Briefwechsel in wissenschaftlichen Netzwerken wie im gut dokumentierten Fall des Philosophen Johann Georg Hamann oder in literarischen Zirkeln und Schriftsteller*innen-Netzwerken zählen. In einer weiteren Funktion dient der Brief als Publikationsorgan, wobei teils fingierte Kommunikationssituationen dafür verwendet werden, um als Medium Informationen, Reflexionen oder gar politische Agitationen über Gegenstände von allgemeinem Interesse zu verbreiten.12 Zumeist in Form von längeren Brieffolgen in Buchform publiziert, entstehen so thematisch gebündelte oder durch eine Reisefiktion geographisch perspektivierte Sammlungen von Betrachtungen diversen Inhalts.13 Einige dieser Briefwechsel, wie zum Beispiel von Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn oder Friedrich Schiller, gehören bis heute fest zum literarischen Kanon. Neben der wissenschaftlichen und der literarischen Briefkommunikation lassen sich überdies über den Zeitraum von 1700 bis 1920 über 1600 Beispiele für fingierte Briefe politisch-satirischen Inhalts ermitteln.14 In einzelnen Fällen können Briefsammlungen auch den Charakter von Zeitschriften annehmen, so wie es beispielsweise bei August Ludwig Schlözers Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts (1776–1782) der Fall war. Hierbei soll durch die Briefform neben Perspektivenreichtum auch Augenzeugenschaft und somit Verlässlichkeit vermittelt werden.15 Das Vorbild der publizistisch genutzten Brieffolgen sind dabei Gemeindebrief, Sendbrief und Sendschreiben, die an reale Empfänger*innen gerichtet wurden, dafür aber häufig

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Angelika Linke, Sprachkultur und Bürgertum, Zur Mentalitätsgeschichte des 19.  Jahrhunderts, Stuttgart 1996, S. 294. Eva L. Wyss, Liebesbriefe von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, in: Annelies Häcki-Buhofer (Hrsg.), Spracherwerb und Lebensalter, Tübingen / Basel 2003, S. 71–86, hier S. 74. Reinhard M. G. Nickisch, Brief, Stuttgart 1991, S. 19. Spiekermann, Philosophische Briefe (Anm. 9), S. 975. Helmuth Rogge, Fingierte Briefe als Mittel politischer Satire, München 1966, S. 11f. Spiekermann, Philosophische Briefe (Anm. 9), S. 976.

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anonymisiert erschienen sind.16 In diesem Zusammenhang führt Spiekermann bezügliches des Briefes folgendes aus: Als schriftliche Mitteilung an eine*n räumlich entfernte*n Empfänger*in bringt der Brief ideale Voraussetzungen für alle Arten der informierenden oder belehrenden Darstellung mit. Der oft, aber beileibe nicht immer genutzte Gestus der vertraulichen Mitteilung gestattet darüber hinaus Reflexionen, Kommentare und Urteile aus einer subjektiven Perspektive. Als punktuelle, Anlass gebundene Äußerung von Gedanken oder Eindrücken über eine begrenzte Textlänge hinweg erhebt der Brief keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder methodische Genauigkeit.17

4 Der Liebesbrief als Text, Medium und Akteur eines Netzwerks Liebesbriefe sind als intime Texte des Liebesausdrucks zu definieren.18 Sie werden entlang verschiedener Verlaufsphasen von Zweierbeziehungen geschrieben.19 Liebesbriefe enthalten teilweise bewusst intendierte kommunikative Handlungen, wie beispielsweise eine Bitte um ein Treffen, ein Liebesgeständnis, eine Abschiedsbotschaft, oder aber eher usuelle sprachliche Praktiken, die Kommunikationsmustern entspringen, die aus Gewohnheit vollzogen werden, „ohne dass denen, die sie vollziehen, rationalisierende Gründe gegenwärtig wären“.20 Sie dienen in der Regel der Etablierung, Bildung und Aushandlung von Beziehungen oder Beziehungszielen, die sowohl explizit genannt wie auch implizit vermittelt werden. Insgesamt tragen diese Texthandlungen und sprachlich sozialen Praktiken dazu bei, dass die Liebesbeziehungen und Liebes-‚geschichten‘ in der brieflichen Interaktion im Rahmen der Paarkommunikation ko-konstruiert werden. Wenn auch nicht in jedem Liebesbrief eine explizite Liebeserklärung

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Nickisch, Brief (Anm. 12), S. 119–122. Spiekermann, Philosophische Briefe (Anm. 9), S. 978. Eva L.  Wyss, Fragmente einer Sprachgeschichte des Liebesbriefs, in: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie, Bd. 64 (2002), S. 57–92, hier S. 62. Eva L. Wyss, Der Liebesbrief zwischen Kunst, Alltagsschriftlichkeit und populärer Kultur, in: Helga Arend (Hrsg.), „Und wer bist du, der mich betrachtet?“ Populäre Literatur und Kultur als ästhetische Phänomene, Bielefeld 2010, S. 351–373, hier S. 351. Matthias Vogel, Geist, Kultur, Medien. Überlegungen zu einem nicht-essentialistischen Kulturbegriff, in: Simone Dietz, Timo Skrandies (Hrsg.), Mediale Markierungen. Studien zur Anatomie medienkultureller Praktiken, Bielefeld 2007, S. 45–82, hier S. 51.

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Liebesbriefe in sozialen Netzen des 19. und 21. Jahrhunderts

auftritt, so bleibt diese immer als metapragmatische Funktion entscheidender Gegenstand eines Liebesbriefes.21 Die ‚Liebeserklärung‘ bildet damit aus sprechhandlungstheoretischer Sicht den Oberbegriff, unter welchen eine Vielzahl an liebeserklärenden Handlungen fallen, unter anderem auch das Liebesgeständnis,22 das ein ausdrückliches Preisgeben des Gefühlszustandes in einer expliziten Form meint.23 Als ‚Liebeserklärungen‘ könnten damit sowohl indirekte Texthandlungen24 als auch die Versicherung der Zuneigung, Anteilnahme und Treue verstanden werden.25 Aber auch Komplimente oder der Verweis auf sinnliche Körperhandlungen werden unter anderem mit dem brieflichen Senden von Küssen und Umarmungen als Zeichen des Begehrens zum Ausdruck gebracht. Es scheint, als ob das Schreiben von Gefühlen oder Gesten den Liebenden eine Unmittelbarkeit des Fühlens und Sprechens ermöglicht.26 Der Liebesbrief ist somit ein Schreibmedium, das den Liebenden auf eine einzigartige Weise ermöglicht, sich einander schriftlich zu erklären und die innigen Gefühle zu äußern. Darüber hinaus wird der Liebesbrief im Moment, in dem er in der Hand gehalten vorgelesen wird, zu einem Schriftstück, das eine Reihe von Verbindungen und Verbindlichkeiten schafft. Für die Person, die den Brief in der Hand hält und ihn der versammelten Familie vorliest, wird der Brief ein Knotenpunkt in einem Netzwerk, der die tatsächliche und geschriebene Welt der Schreiberin (und deren Familie) mit der Welt des Lesers (und seiner Familie) verbindet. Es bildet sich damit ein Netzwerk im Kleinen.

5 Die Modellierung von brieflichen Netzwerken mit der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) Zwar bieten briefliche Netzwerke weit über die Philologien hinaus für verschiedene Disziplinen eine erkenntnisreiche Quelle, die überdies für die Rekonstruktion unterschiedlicher 21

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Christa Hämmerle, Gewalt und Liebe  – ineinander verschränkt. Paarkorrespondenzen aus zwei Weltkriegen, 1914/18 und 1939/45, in: Ingrid Bauer, Christa Hämmerle (Hrsg.), Liebe schreiben. Paarkorrespondenzen im Kontext des 19.  und 20.  Jahrhundert, Göttingen  2017, S.  171–230, hier S. 188. Sven Staffeldt, „Ich liebe dich“ sprechakttheoretisch, in: Jan Claas Freienstein, Jörg Hagemann, Sven Staffeldt (Hrsg.), Äußern und Bedeuten. Festschrift für Eckard Rolf, Tübingen 2011, S. 179–196, hier S. 191. Ebd. S. 186. Wyss, Fragmente einer Sprachgeschichte des Liebesbriefs (Anm. 18), S. 61, Staffeldt, „Ich liebe Dich“ (Anm. 22), S. 189. Hämmerle, Gewalt und Liebe (Anm. 21), S. 176. Renate Stauf, Annette Simonis, Jörg Paulus, Liebesbriefkulturen als Phänomen, in: Renate Stauf (Hrsg.), Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 2008, S. 1–22, hier S. 1.

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Canan Hastik, Andrea Rapp, Eva Lia Wyss

Aspekte der Werkgenese oder für die Nachzeichnung von Entwicklungsprozessen in wissenschaftlichen Domänen von großem Nutzen sind, doch es stellt sich ebenso die Frage, wie diese brieflichen Paar-Netzwerke im Kleinen, also solche, die sich durch intime Korrespondenzen aufbauen, in ihrer Bedeutung und Wertigkeit beschrieben, untersucht, modelliert und sichtbar gemacht werden können. Mit dem Konzept des ‚Netzwerks‘ bietet es sich an, ausgehend von einem sozialen Netzwerk die Relationen oder Beziehungen zwischen Akteur*innen mit Jansen als „[…] eine abgegrenzte Menge von Knoten oder Elementen und der Menge der zwischen ihnen verlaufenden sogenannten Kanten“27 darzustellen. Die sich im Netzwerk herausbildenden Relationen zwischen den Akteur*innen können darüber hinaus semantisch beschrieben werden. Eben diese Semantik in Netzwerken wird mit der konstruktivistischen Akteur-NetzwerkTheorie (ANT) in den Blick genommen. Hier wird der Prozess der Interaktion der an einem Netzwerk beteiligten Akteur*innen fokussiert. Neben den menschlichen Akteur*innen, den Kommunikator*innen, wird das Medium selbst (die Briefe und Postings) als Kommunikat zu einem Akteur in diesem Netzwerk.28 Dadurch ereignet sich eine aus semiotischer Sicht ungewohnte Verschiebung des Netzwerkkonzepts, die im ersten Moment befremden mag. Denn durch die methodisch gleichwertige und symmetrische Behandlung sämtlicher beteiligten Einheiten als Akteur*innen werden neben den menschlichen Kommunikator*innen auch die Kommunikate (die Briefe oder Postings), die bisher als Objekte gesehen wurden, nun zu Akteuren im Netzwerk.29 Als Akteur*innen oder Aktant*innen gelten nämlich „alle Entitäten, denen es mehr oder weniger erfolgreich gelingt, eine Welt voller anderer Entitäten mit eigener Geschichte, Identität und Wechselbeziehungen zu definieren und aufzubauen“.30 Diese Besonderheit eröffnet die Möglichkeit, dass sämtliche Mitspieler als gleichwertige Akteure in ihrer Bedeutung unvoreingenommen analysiert werden können. Eine derartige Untersuchung erlaubt es, auch nichtmenschliche Lebewesen und Dinge als Akteur*innen hinsichtlich ihrer (netzwerkbezogenen) Identität, die sie durch die multilaterale Aushandlung im Prozess der 27

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Dorothea Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse. Grundlagen, Methoden, Forschungsbeispiele, Wiesbaden 2003, S. 58. Eva L. Wyss, Die Bildung von Akteur-Netzwerken in Liebesbriefen und -botschaften. Ein Brautbrief des letzten Jahrhunderts und amouröse Postings in Facebook im Vergleich, in: Norman Kasper, Jana Kittelmann, Jochen Strobel (Hrsg.), Die Geschichte des Briefes. Kontinuität und Wandel einer Kommunikationsform. Berlin / Boston 2021, S. 349–365, hier S. 352f. Ingo Schulz-Schaeffer, Akteur-Netzwerk-Theorie. Zur Ko-Konstitution von Gesellschaft, Natur und Technik, in: Johannes Weyer (Hrsg.), Soziale Netzwerke. Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung, München 32014, S. 267–290, hier S. 274 und S. 277f. Michel Callon, Techno-Economic Networks and Irreversibility, in: John Law (Hrsg.), A Sociology of Monsters. Essays on Power, Technology and Domination, Sociological Review Monograph 38, London 1991, S. 132–161, hier S. 214.

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Liebesbriefe in sozialen Netzen des 19. und 21. Jahrhunderts

Netzwerkbildung entwickeln, zu untersuchen.31 Dabei ist die Annahme dieser Symmetrie vielmehr ein Nicht-Asymmetrieprinzip, das von vornherein eine falsche dualistische Ontologie von intentionalem Handeln und kausalen Mechanismen korrigiert, das vielfach als Ausgangspunkt für die Entwicklung von Sozialität angesehen wird.32 Im Rahmen der ANT erfahren sämtliche beteiligten Akteur*innen eine Dynamisierung und Aktivierung, die sich in der tatsächlichen ‚Prozessierung‘ von Bedeutungen in einem Netzwerk zeigt. Auf die Briefkommunikation übertragen, können dadurch Schreiber*in, Leser*in und auch der Brief als handelnde Entitäten hinsichtlich der Herstellung von Konvergenzen (bzw. Nicht-Konvergenzen) in ihrer Semantik beschrieben werden. Diese Konvergenzen sind es letztlich, die das Netzwerk mehr und mehr zu einer Irreversibilität führen, also zu einem stabilen Netzwerk, das gegenüber Schwächungsversuchen widerständig bleibt. Der Prozess der Aushandlung und der kooperativen Zuschreibung von Bedeutungen, das sogenannte ‚Enrolment‘, entwickelt sich für die Analyse der Kommunikator*innen und Kommunikate daher multiperspektivisch und dynamisch. Zentral ist die Tatsache, dass diese Netzwerke nicht einzig als soziale, menschengemachte Beziehungen erklärt werden, sondern als solche, die sich durch eine Verkettung, Verzahnung und Verquickung von technologischen und sozialen Akteur*innen bilden. So scheint die Methode der ANT sich zwar für die Analyse der technologischen Welt der sozialen Netzwerke deutlicher anzubieten, doch soll hier gerade im Vergleich sozialer Netzwerke mit brieflichen durch die Parallelisierung ein neuer Blick gewagt werden, der die ältere Kulturpraktik des Briefeschreibens miteinschließt. Mit diesem neuen ANT-Blick ergibt sich die methodisch interessante Möglichkeit der unvoreingenommenen Umdeutung des Briefes, der nicht mehr einzig als medial-materiales Textdokument gesehen wird oder als Ausdruck von anthropologischer Schriftlichkeit, die als Kulturtechnik durch die kommunikative Praxis des Briefeschreibens 31

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Michel Callon, Some Elements of a Sociology of Translation. Domestication of the Scallops and the Fishermen of St Brieuc Bay, in: John Law (Hrsg.), Power, Action and Belief. A New Sociology of Knowledge?, London 1986, S. 196–232, hier S. 214. Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Eine Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt  a.  M.  2007, S.  131. Dies kann mit dem ‚bekannten‘ Beispiel der handgeschriebenen Notiz veranschaulicht werden: „Der Türschließer streikt. Schließen Sie um Gottes willen die Tür!“, mit dem alle dies lesenden Leute auf einen Defekt und auf die deswegen erforderliche Maßnahme hingewiesen werden, die (in Gottes Namen) zu befolgen sei. Ein solcher Vorschlag wird vom Umfeld meist als sinnvoll und nachvollziehbar ohne Widerstand befolgt. Das Beispiel illustriert die „techno-sozialen Verwicklungen“, die nach der ANT als eine „Verschmelzung von industriellen Beziehungen, Religion, Werbung und Technik“ gesehen werden muss. Besonders deutlich führt das Beispiel die vermeintlich klare Trennung in eine (technologische) Welt der (leblosen) Artefakte und eine (soziale) Welt der (intentionalen) Sozietäten vor, die offensichtlich nun gemeinsam als Mitwirkende mit in die Netzwerkbildung integriert werden. Vgl. Bruno Latour, Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin 1996, S. 214.

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Canan Hastik, Andrea Rapp, Eva Lia Wyss

hervorgebracht wird, sondern darüber hinaus zu einem Objekt-Aktant wird, dem eine Handlungsmacht, eine Agency, zukommt.

6 Fallbetrachtungen, Annotation, Modellierung und Visualisierung 6.1 Liebesbriefe und -postings als Akteure im ANT-Kosmos Mit der ANT werden paarkommunikative Medien, ob Briefe oder Postings, als mehr oder weniger (un-)abhängige Akteure wahrgenommen und auf ihre Funktion und Wirkweise in Netzwerken untersucht; damit wird die Funktionalität des einzelnen Briefs in seiner konkreten Kommunikationskonstellation hervorgehoben, das Aushandeln von Bedeutungen explizit gemacht und gleichzeitig in den Kontext weiterer Briefe oder Kommunikationsereignisse eingebettet. Die brieflichen Bedeutungen werden dabei als ko-konstruierte Bedeutungsangebote im Prozess ihrer Aushandlung mitberücksichtigt.33 So wird neben dem Brief oder dem Posting auch ein Kommentar, eine Notiz oder ein Like im sozialen Netzwerk als weiterer Akteur in die Analyse integriert. Durch sie wird versucht, die in einem Netzwerk angezeigten Bedeutungsangebote durch die Reaktionen weiterer Akteure zu klären. Dieser sich wiederholende Prozess erlaubt es, die Vielfalt der im Brief eingeschriebenen kulturellen und sozialen Prämissen, semantischen Präsuppositionen und milieuspezifischen Verhaltensnormen und die im Netzwerk etablierten Deutungsangebote zu thematisieren, d.  h.  die Bedeutungs- und Deutungsangebote mit Bezug zu weiteren Akteuren als Prozess der Verständigung nachzuzeichnen. Gleichzeitig werden in diesem Prozess die Momente der Netzwerkbildung (deren Aus- und Umbau) zugänglich und analysierbar. Ein solch ungewöhnlicher Perspektivwechsel erlaubt es, den Liebesbrief34 oder auch das Liebesposting35 als ein konstruktives Element zu sehen, das als ein (Ding-)Akteur nicht einzig zwischen zwei Personen Sinn und Bedeutungen vermittelt, 33 34

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Wyss, Die Bildung von Akteur-Netzwerken (Anm. 28). Eva L. Wyss, From the Bridal Letter to Online Flirting. Changes in Text Type and Writing Practice from the 19th Century to the Internet Era, in: Journal of Historical Pragmatics, H. 9 (2008), S. 225– 254; Andrea Hübener, Jörg Paulus, Renate Stauf, Liebesbrief / Erotischer Brief, in: Marie Isabel Matthew-Schlinzig, Jörg Schuster, Gesa Steinbrink (Hrsg.), Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Berlin / Boston 2020, S. 505–514. Karina Frick, Liebeskommunikation über Facebook. Eine korpusbasierte Untersuchung kommunikationstheoretischer und sprachlicher Merkmale der Paar-Kommunikation auf Facebook, in: Networx  65 (2014), [04.01.2023]; Eva L. Wyss, vermiss dich krass my love. Schweizer Liebeserklärungen 2.0, Zürich 2017.

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sondern das immer auch darauf hinweist, dass die Kulturtechnik des Briefeschreibens wie diejenige des Postens in sozialen Medien als in verschiedene Richtungen hin dynamische Verzahnungen von Medientechnologischem mit Sozialem zu sehen sind. Die ANT-Perspektive bietet sich bei sozialen Medien geradezu an, weil sich die Interaktion durch komplex ineinander verzahnte Kommunikationsformen (Profilbild, Story, Chats) und unterschiedliche Kommunikationseinheiten (Postings, Likes, Emojis) zu einem Netzwerk-Gebilde auswächst, das ebenso dynamisch aufgefasst wird. Doch auch hier verschiebt sich der Blick von der Struktur weg auf die Ebene der Entwicklung, den Aufund Ausbau und der Persistenz eines Netzwerks durch die Kokonstruktion von (sozialen) Bedeutungen.

6.2 Digitale Modellierung und Analyse von brieflichen Netzwerken Voraussetzung für die Nutzung und Analyse des Briefbestands ist die Digitalisierung, gefolgt von einer formalen wie auch inhaltlichen Erschließung. Dabei ergeben sich besondere Anforderungen an die im Zusammenhang mit der Bereitstellung, Nutzung und Nachnutzung verbundenen Aspekte wie die Wahrung der Persönlichkeitsrechte und vereinzelt auch des Urheberrechts, in jedem Fall eine aktuelle datenschutzrechtliche Prüfung sowie die Aufbereitung durch Anonymisierung oder Pseudonymisierung.36 Erst dann ist eine Verschriftlichung der Digitalisate im Rahmen einer wissenschaftlichen Transkription unter Einhaltung bestandsspezifischer Richtlinien möglich. Darauf aufbauend werden in einem am Bestand ausgerichteten iterativen hermeneutischen Prozess je nach Forschungsfragestellung die hierfür notwendigen Annotationselemente entwickelt. Zielsetzung ist es, ein standardisiertes und generisches Tagset zu entwickeln, um nicht nur eine Maschinenlesbarkeit, sondern auch eine mögliche Interoperabilität und somit Anschlussfähigkeit zu ähnlichen Beständen herzustellen. Schließlich ist ein handhabbares, niedrigschwelliges Visualisierungswerkzeug gewählt worden, das das generierte Modell bestmöglich übersichtlich darstellt und die gewünschten Interpretationsperspektiven aufzeigt. Der hier skizzierte digitale Analyse-Workflow wird abgeschlossen durch die Bereitstellung der im Prozess generierten Forschungsdaten zur Nachnutzung im Sinne von Open Science. Hierfür wird, wie bereits erwähnt, auf die Verwendung von Standards gemäß der FAIR-Prinzipien geachtet.37

36 37

Wyss, Die Bildung von Akteur-Netzwerken (Anm. 28). Ebd.

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Canan Hastik, Andrea Rapp, Eva Lia Wyss

6.3 Das Netzwerk um Emmy und Rudolf – eine digitale Fallmodellierung

Abb. 1: Gegenüberstellung der ersten Seite eines Liebesbriefes und der Annotation. Das Verfahren der ANT soll nun beispielhaft an einem Brief aus den Beständen des Liebesbriefarchivs38 vorgestellt werden. Der Brief stammt aus der Korrespondenz eines jungen Paares, Rudolf und Emmy, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in Kreuzlingen zueinanderfinden und über drei Jahre bis zu ihrer Eheschließung in Plön eine Verlobungskorrespondenz führen. Ermatingen, den 23. 10. |1903. Abends 7 Uhr. | Liebster Rudolf! | Eben schlägt es 7 Uhr in der | Dorfkirche – ich denke an Deine | Worte, dort am weißen Horn | als du mich ahnen ließest, | daß ich dir mehr sei, als nur | eine angenehme Mädchenerscheinung. | Wie pochte mein | Herz mächtig, als mir zum | Bewusstsein kam, du könntest | mich wahrhaft lieben. Jener  | Moment war wohl der schwerwiegendste,  | denn ohne ein Wort | der Aussprache kannte ich mein | Schicksal. Die Seele spricht oft | viel beredter als man meint. | Eine schwere Nacht, viele bange | Stunden folgten. Da standen |

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Von Emmy an Rudolf, 13. Oktober 1903, Brief 2 des Konvoluts 88, Liebesbriefarchiv Koblenz-Darmstadt (Anm. 3), Sign.: LB_00088_0002.

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Liebesbriefe in sozialen Netzen des 19. und 21. Jahrhunderts meine Mädchenjahre vor mir, | schön u. Lust umflossen wie | ein Traum; – dort ein Tor | wo ich hineinsehen durfte in das | Leben – Lange schaute ich mir | das Bild an. Langsam nahm | ich Abschied von meiner ungebundenen | Jugendzeit. Ein | großes, neues Leben begann. | Als der Morgen tagte war | ich bereit dir zu folgen, wenn | du mit diesem Wunsch an | mich herantreten würdest. – | So war es mein lieber Rudolf, | erst hab ich dir prüfend, dann | liebend u. vertrauend ins | Auge geschaut und nun bin | ich stark u. mutig genug mit | dir das große Leben aufzunehmen. | Gott wird uns den Weg zeigen. | So wie Licht u. Schatten in der | Landschaft wechseln, so wird auch | unsere Zukunft wechselnde  | Stimmungen bergen.  – Ich  | muß lachen, jetzt denkst Du: | „Abendstimmung.“ – Nein – | schau, es ist mein tiefster Wunsch | daß du von mir ein richtiges | Bild im Herzen trägst. Die | ernsten Seiten des Lebens stehen | mir immer so klar vor Augen, | ich will sie sehen, damit ich keinen | Sonnenstrahl entfliehen lasse | den mir Gott gütig sendet. | Ich vergleiche das Leben mit | einem Gewebe, wir spinnen | graue u goldene Fäden hinein. | Ich will kein graues Tuch, drum | fange ich den Sonnenschein, damit | die goldenen Strahlen leuchtend | drüber stehn. – Laß mich noch | ein bisschen weiter so plaudern. | Oder legst du den Brief beiseite? | Hast du nicht gern, wenn ich | tiefer greife? Doch ja, es wird | dich nicht fremd berühren. | Du selbst sagtest mir, daß du | über nichts leicht hinweg gehen | könntest. – Mein Herz hat | immer einen kleinen Kummer. | Wenn ich mich dir jetzt schon so | ganz gebe, wenn alles was ich | habe auch dir gehört, wie soll | das werden, wenn Deine Eltern | einmal so gar nicht; einfach nicht | einverstanden wären. Schau | das ist der dunkle Punkt, der sich immer  | in mein sonniges Glück schleicht. | Ich muß noch einmal mit dir | darüber sprechen, du mußt | das begreifen. Ich zweifle keinen | Augenblick, daß deine Liebe | zu mir groß u stark ist; aber | wirst Du stark genug sein allen | Anstürmen, die man auf dich | macht, stand zu halten? – Wirst | Du siegen? – Ich hoffe u. baue | darauf. Gründe, besonders Gründe, | die mich auf die Gedanken bringen | weiß ich keine aufzuweisen, ich | weiß nur, daß sich die Menschen | allem Neuen erst feindlich entgegen | setzten. Ich bin gern bereit | mit dir auch diese dunkeln | Stunden durchzumachen, nur | siege! – Jetzt komme ich endlich | zu deinem lieben Brief. Ich | habe heute den ganzen Tag mit  | Ungeduld darauf gewartet.  | Ich fühlte erst ob es drin sei. – | Deine neuen Pläne habe ich | mit großer Spannung gelesen. | Was so weit weg willst du von | mir? Das sind ja sicher zwei | Tage zureisen. Und so lang muß | ich warten, bis ich dir wieder | schreiben darf. Jeden Abend | meine ich ja ich müßt mich | hinsetzen u. mit Dir plaudern | das gibt ein großes, langes Entbehren, | das erste – Aber es ist | ein Schritt vorwärts! Ich laß | Dich in den Norden ziehen, ich | werde nur mit Post u. Eisenbahn | gut Freundschaft halten. | Am nächsten Freitag liegt ein | langer Brief für dich in | Hanover, zum ersten Mal in | deiner Eltern Haus. Ich meine |

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Canan Hastik, Andrea Rapp, Eva Lia Wyss er könnte zu viel sprechen. | Ich muss ihm das vor der Reise | noch tüchtig einprägen, daß er | ja nicht Lust bekommt mit deinem | Vater Freundschaft zu schließen; | ich werde das persönlich | besorgen. Hoffentlich kommt | dieser Brief noch zur rechten | Zeit in Ludwigsburg an.  | Zu welcher Schwester reist du  | jetzt? Wenn der Fall bei deinem | Schwager nur keine weitern | Folgen hat. – Jetzt weiß ich | dann nicht mehr, wo ich dich suchen | muß, die Gegenden kenne ich | gar nicht. Kannst du mir doch | manchmal schreiben? Glaubst | Du, daß dir eins von den | Gütern passen wird? Ich freue | mich, daß du zu Haus einen | Besuch machst. Die Mutteraugen | werden dich prüfend | ansehen. Was macht dein Appetit? | Hier in Ermatingen ist es unheimlich; | dein u. mein Name werden in jedem Haus genannt. | Anny kommt immer mit | neuen Berichten heim, sie fragen | sie aus was sie können. Wir | waren am Ende doch ein wenig | unvorsichtig. Vater ist es unbehaglich, | da doch noch gar nichts | offiziell ist. Wer wohl die Geschichte | so herum getragen hat? Denk | dir Marga war heute beim Zahnarzt | u. der hätte sie gefragt, wie es mir | in meiner Brautzeit ginge. | Das ist doch unheimlich.  – Hille  | ist heute zweimal am Haus  | vorbei gefahren. Hast mit dem  | Hard noch Verbindung? Dr. P. | ist jetzt in Basel, er möchte | meinen Vater kennen lernen. | Frau Schellenberg werde ich die Grüße | ausrichten. Lebwohl mein | lieber, lieber Rudolf | sei umarmt u fest geküßt | von deiner treuen | Emmy. | Von wegen dem Küssen ist es nicht so, ich habe mich geändert,  | wenn Du hier wärest, würdest du zwanzig bekommen. 39

Für die hier dargestellte Fallbetrachtung von Emmy und Rudolf wird der briefliche Diskurs auf Ebene von Wort-, Satz- und Textsemantik einbezogen und zusätzlich explorativ durch interpretierende Enrolment-Bezeichnungen wie „Reflexion“, „Intimität“, „Ernsthaftigkeit“, „Einverständnis“, „Aktivität“ und „Kommentar“, die Bezüge zu weiteren Wissensbeständen aus anderen Briefen oder Begleitmaterialien herstellen, zusammengefasst und annotiert. Aus der Annotation des vorliegenden sehr ausführlichen Briefs vom 13. Oktober 1903 mit insgesamt acht Briefseiten ergeben sich die Akteur*innen „Rudolf“, „Emmy“, seine und ihre Eltern, die Dorfgemeinschaft im weitesten Sinne und einzelne externe Personen und daraus resultierend entsprechende Cluster mit entsprechenden Assoziationen. Die Grafik (Abb. 1) zeigt zunächst eine Gegenüberstellung der ersten Briefseite (rechts) und der entsprechenden Kodierungen (links), wobei nur der erste Absatz der Kodierung auf der ersten Seite der Handschrift zu finden ist, die folgenden Absätze geben Passagen von weiteren, hier nicht abgebildeten Seiten des Briefes wieder. Besonders zu erwähnen sind die „Mutteraugen“, die als Metapher interpretiert und für die Mutter als Akteurin stehen. 39

Ebd. Der letzte Satz ist vertikal am linken Rand geschrieben.

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Abb. 2: Netzwerkvisualisierung des Briefes von Emmy an Rudolf. Eine auf den ersten Blick einfache Mensch-zu-Mensch-Netzwerkvisualisierung (Abb. 2) zeigt die sozialen Beziehungen und kommunikativen Handlungen als Cluster, z. B. Liebesausdruck (I), das Elternverhältnis (II), Rudolphs Aktivitäten wie die Reise (III), Emmys Selbstreflexion (IV) sowie Metaperspektiven wie Kommentare von Emmy zu Rudolfs Eltern (V) aber auch Erkundigungen und weitere soziale Beziehungen zu externen Personen (VI).40 Die Assoziationen zwischen den Akteur*innen sind in ihrer Dichte und in ihrem Gewicht unterschiedlich ausgeprägt, was an der Größe der Knoten und Dicke der Kanten deutlich erkennbar ist, und lassen somit Rückschlüsse auf ihre Bedeutung zu. Deutlich sichtbar ist die starke Assoziation zwischen Emmy und Rudolph. Beide werden im Briefwechsel häufig benannt, entweder explizit namentlich oder in Form von Personal- und Possessivpronomen. Das Cluster Liebeskorrespondenz zwischen den beiden Akteur*innen umfasst diverse semantische Assoziationen, z. B. hinsichtlich Intimität, Ernsthaftigkeit, Vergewisserung, Verbindlichkeit, Bereitschaft, Zwiegespräch und Gefühlssicherheit. Die Hauptakteur*innen selbst zeigen auch eine eigene Clusterbildung, einerseits Emmys Selbstreflexion und ihr Glaube an Gott, andererseits Rudolfs Aktivitäten wie die Reise zu seiner Schwester. In der Metaperspektive erkundigt 40

Die Netzwerkvisualisierungen wurden mit folgender Technologie erstellt: ezlinavis, Version  2.2.0 (developed in 2017 by Carsten Milling and Frank Fischer), .

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sich das erweiterte soziale Umfeld, also Personen aus der Dorfgemeinschaft, über die Brautzeit, hinterfragt und kommentiert die Beziehungssituation oder Emmy kommentiert die Reaktionen von Rudolfs Eltern.

7 Liebespostings und Reaktionen im Netz der „Freunde“ Heutzutage vernetzen sich die Paare in sozialen Medien und nutzen sie zum Austausch von intimen Nachrichten.41 So zum Beispiel am 23. November 2016, an dem eine junge Frau eine Nachricht postet, die sie mit einem Gute-Nacht-Wunsch abschließt (Abb. 3): Hallo mein Schatz wo warst du heute? Den ganz Tage ich dachte du kommst heute zu mir oder hast du heute keine zeit gehabt das nicht so schlimm ich hoffe wir sehen Ich liebe dich sooooooo sehr mein großer Schatz ich wünsche dir und deiner Familie einen schönen Abend und später eine gute Nacht dir träume was schönes bis morgen deine DA

Darauf nutzt ihr Partner (DP) die Kommentarfunktion, um eine Antwort zu posten: „Ich schau das ich morgen zu dir kann, versprochen [2 Kuss-Emojis] schlaf gut, bis morgen. Ich hab dich auch lieb. [2 Herz-Emojis]“. In diesem Austausch werden zusätzlich einige Likes angezeigt, was darauf hindeutet, dass ein weiterer Kreis von „Freunden“ diese Nachrichten liest und bewertet. Offensichtlich werden nicht nur Nachrichten ausgetauscht, sondern auch „Freunde“ auf dem Laufenden gehalten.42 Im Profil selbst43 und um das Profil herum bilden sich netzwerkartige Gemeinschaften, die in verschiedene Gruppen unterschieden werden können. Die „Freunde“ stellen den engsten Kreis des mediengestützten Netzwerks dar und dürfen die intimen Botschaften lesen, kommentieren und mit Likes versehen. So verzahnt sich die sprachlich-kommunikative Praxis der vernetzten Paarkommunikation mit plattformenspezifischen Technologien: Jedes Posting wird als eine Art medialer Zettel auf die persönliche Pinnwand (Story) gepinnt, die bei

41

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Sigrid Weigel, Spuren der Abwesenheit. Zum Liebesdiskurs an der Schwelle zwischen ‚postalischer Epoche‘ und post-postalischen Medien, in: Sigrid Schade, Georg Christoph Tholen (Hrsg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, Paderborn 1999, S. 80–93, [04.01.2023]. Wyss, Schweizer Liebeserklärungen (Anm. 35). Die Profile sind zwar persönlich und individuell, doch schon im inneren Nukleus wird der Liebespartner angezeigt, indem in der Kopfzeile angegeben wird („Da ist mit Dp unterwegs“, Abb. 3), dass die Person in einer Beziehung steht.

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Facebook je nach den gesetzten Öffentlichkeitsparametern einem kleineren, mittleren oder größeren Freundes- bzw. Bekanntenkreis zugänglich gemacht wird.44

Abb. 3: Facebook-Posting. In den sozialen Medien sind Postings daher die „zentrale Produktions- und Distributionspraktik digitaler Kommunikation“.45 Sie sind multimodal, d.  h. sie bestehen aus visuell gestalteten (Ober-)Flächen, in die textuelle Elemente und Bildmaterialien eingefügt werden. Darüber hinaus werden sie mit weiteren internettypischen Elementen verknüpft, so zum Beispiel über Buttons oder Icons, die internettypische Mikropraktiken wie das Sharen, Liken und den Reply auslösen.46 So wird auch in sozialen Medien um ein Paar ein Netzwerk-Geflecht geschaffen, das durch seine mehrschichtige Strukturierung in seiner medien-technologischen Anlage signifikanter, aber im Vergleich zur Briefkommunikation weniger facettenreich scheint. Man kann sagen, die Akteure sind wesentlich aktiver und in ihren Clustern untereinander stärker vernetzt. Die 44

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Sebastian Bittner, ANT goes Facebook. Eine Untersuchung von Liebesnetzwerken auf Facebook mit Hilfe der Akteur-Netzwerk-Theorie, Bachelorarbeit Universität Koblenz (Ref.: Eva Lia Wyss), Koblenz 2019 (unveröffentlicht), S. 21. Mark Dang-Anh, Protest twittern. Eine medienlinguistische Untersuchung von Straßenprotesten, Bielefeld 2019, S. 110. Konstanze Marx, Georg Weidacher, Internetlinguistik, Tübingen 2019, S. 66–78; Dang-Anh, Protest twittern (Anm. 45), S. 111f.

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Netzwerkbildung ist auf den ersten Blick einfacher nachvollziehbar.47 Ebenso beteiligen sich in den technologisch gefertigten Netzwerken eine Vielzahl von einander mehr oder weniger bekannten Akteur*innen, die nicht zum engeren familiären oder freundschaftlichen Kreis gehören (müssen). Es bilden sich damit supplementartige Netzwerke heraus, die formal durch die bei Facebook etablierten Mikropraktiken des Kommentierens, Likens und Teilens als Neben-Akteur*innen in ihrer Wirkung dazu beitragen, das Netzwerk zu formieren. Durch diese Mikropraktiken werden Praktiken des ‚Enrolment‘, die üblicherweise sprachliche und soziale Aushandlungen erfordern würden, durch technologisch standardisierte Verfahren ,ersetzt‘. Dadurch entstehen eine Konvergenz und eine Irreversibilität, die aus technologischen Gründen nicht umkehrbar und ebenso nicht immer nachvollziehbar sind, so dass die wechselseitige Bedeutungsbildung im Detail im Dunkeln bleibt. Insbesondere die Modellierung der Facebook-Postings ist deutlich aufwendiger als die der Briefe. Durch die medienspezifischen Mikropraktiken wie Kommentare, Reaktionen und Dialoge nehmen einzelne Handlungen um ein Vielfaches zu, ohne dass sich die sozialen Beziehungen vertiefen. Dabei entsteht mit der Verwendung von Emojis und der dialogartigen Verschachtelung eine kaskadenartige Anlage der Kommunikationen, die eine Vielfalt an Metaperspektiven eröffnen. Die involvierten Personen bleiben dabei meist anonym und ihnen werden keine spezifischen sozialen Rollen zugewiesen, wodurch das Netzwerk nicht unbedingt verständlicher wird. Sie funktionieren dennoch als ‚Beziehungszeugen‘, wenngleich die Handlungen und Reaktionen weitgehend oberflächlich bleiben. Die Netzwerkbildung in sozialen Medien lässt sich deutlich von analogen Netzwerken in einer Briefkorrespondenz unterscheiden. Im Folgenden wird eine Visualisierung eines ausführlichen Beispiels einer anderen Paarkommunikation visualisiert, an der sich neben dem Paar noch weitere Personen aus dem Freundeskreis beteiligen. Hier veranschaulicht die Vernetzung der Mikro- und Metakommunikationen (I), die zwischen den Akteur*innen auf verschiedenen Ebenen mittels bildbezogener Elemente, vorrangig Herzen, Likes und Küssen, stattfinden (Abb. 4). Das soziale Netzwerk wird damit unübersichtlich und lässt sich nicht in spezifische Personenkreise unterteilen. Es konzentriert sich daher in einem zentralen Cluster (II), während die Paarbeziehung (III) kaum deutlich wird. Im Vergleich zum Briefnetzwerk bildet dieses Beispiel eines sozialen Netzwerks um ein Paar inhaltlich keine weiteren wesentlichen semantischen Assoziationen aus bis auf einzelne Erkundigungen, die sich als kurze Dialoge zeigen.

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Bittner, ANT goes Facebook (Anm. 44).

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Abb. 4: Netzwerkvisualisierung eines Facebook-Postings.

8 Fazit: Briefe und Postings in Netzwerken Die skizzierten Fallbetrachtungen veranschaulichen, dass der Brief in der inhaltlichen Darstellung von sozialen Vernetzungen deutlich komplexer ist als ein Netzwerk, das sich auf der Basis eines Postings bildet: Es wirkt eine Vielzahl von identifizierbaren Akteur*innen im Brief, womit deutlich mehr bedeutungsvolle Handlungen ermittelbar sind. Sämtliche Akteur*innen, die an der Bildung von geteiltem Wissen zusammenwirken, ihr Verhalten und ihr Umgang mit Bedeutungsangeboten werden erkennbar. 87

Canan Hastik, Andrea Rapp, Eva Lia Wyss

Für das Posting zeigt sich eine vielfältigere medientechnologische Akteurssituation, weil die verwendeten Bildelemente durch die ANT zu eigenständigen Akteuren werden und deutlich über ihre Häufigkeit als besonders bedeutungsstarke Emojis und Reaktionen identifizierbar sind. Werden Briefnetzwerkkosmos und soziales Posting hinsichtlich der Interaktionen und Handlungen der Akteur*innen in einem Framework gegenübergestellt (Abb. 5), wird deutlich, dass der Brief zum Mitspieler in einem Gefüge wird, in dem Beziehungsaspekte und die Verhältnisse mit den Eltern ausgehandelt werden. Damit verdeutlicht sich die Rolle des Briefes, der mit Bezug zur ANT nicht als ein Kommunikationsmedium verstanden wird, sondern als ein Akteur in einem Netzwerk, als eine am Netzwerk beteiligte Entität. Die vergleichende Betrachtung von Liebesbriefen und Postings in sozialen Netzwerken macht deutlich, dass sich der Netzwerkkosmos in dem Brief durch die Position der Schreibenden ausbildet, die in ihrem Text die Kommentare und Stimmen der Eltern und Geschwister sowie der Dorfbevölkerung anführt. In sozialen Medien hingegen wird das Posting durch weitere Personen (‚Freunde‘) geliked und kommentiert, wodurch im Gegensatz zum Brief die verschiedenen Stimmen als unterscheidbare Akteure explizit werden. Die Bedeutungskonstruktion (‚Enrolment‘) wird im Brief an verschiedenen Stellen implizit angeboten, wie es beispielsweise bei der Nennung der Familienmitglieder oder durch die Verwendung der Metapher „Mutteraugen“ etc. der Fall ist, wohingegen die Kommentare und Reaktionen der Freunde zwar explizit ausfallen, jedoch standardisiert und musterhaft formuliert sind. Die Liebeskommunikation als solche wird im Brief zwar persönlich übermittelt, doch in ihrer Konstellation als Element der Verlobungskorrespondenz werden damit vielschichtige und für die weitere Beziehung der Familien hoch relevante Inhalte hinsichtlich der Intimität, Legitimität und Gefühlssicherheit beschrieben, die vom Adressat eine gebührende Berücksichtigung erwarten. Dem Facebook-Posting hingegen entnehmen wir eine sehr persönliche Notiz, an der eine Reihe (nicht eruierbare) Personen, sogenannte ‚Freund*innen‘ teilhaben. Bei Emmys Brief ist davon auszugehen, dass weitere soziale Akteur*innen wie Eltern und Geschwister sowie etwa weitere vertraute Personen der Gemeinde in den Aufbau der Beziehungen zwischen Braut und Bräutigam einbezogen wurden und diese aktiv mitgestalteten. Die hier vorgestellte digitale Analyse basierend auf der Annotation, Modellierung und Visualisierung von inhärenten Beziehungskonzepten und kommunikativen Konstellationen auf Basis von ANT ermöglicht die systematische, nachvollziehbare, transparente und anschlussfähige Interpretation im Sinne der FAIR-Prinzipien.

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Abb. 5: Interaktions- und Handlungsframework.

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„Sei vorsichtig mit diesem Briefe […]. Es ist ein Privatbrief.“ Copy & paste in Heinrich Voß’ Berichten über Jean Pauls Besuche in Heidelberg Michael Rölcke

Mir hat das Schicksal seit 10 Jahren drei neue herliche Freunde geschenkt, Truchseß, Dörnberg u. Jean Paul, u. außerdem manchen Bekannten, aber das thut meinen alten Freunden keinen Eintrag; und ich wäre ja auch der neuen Freunde nicht würdig, könnte ich einen alten darüber vergessen.1

Als Heinrich Voß am 29. Juni 1818 mit diesen beruhigenden Worten seine Freundschaft zu Bernhard Rudolf Abeken bekräftigte, reagierte er damit auf einen Brief Abekens vom 20. und 21.  Juni  1818, in dem dieser sich darüber beklagte, dass Voß ihm zu wenig schreibe. Auch wenn Abeken Verständnis dafür aufzubringen vorgibt, dass „ein Freund tief in Geschäften versunken sein kann“, so stellt er auch unmissverständlich klar, dass für ihn ausbleibende Post gleichbedeutend mit dem Nachlassen der Freundschaft sei. Hinter Abekens Auslassungen über wahre Freundschaft verbirgt sich – Eifersucht, denn die Geschäfte, in die Voß angeblich verwickelt war, bestanden in der Bewirtung und Betreuung Jean Pauls, der am 16. Juni 1818 zu seinem zweiten Besuch in Heidelberg eingetroffen war. Für Abeken muss außer Frage gestanden haben, dass Voß seine ganze Zeit dafür opfern würde, um die magischen und gloriosen Tage des ein Jahr zurückliegenden ersten Heidelbergbesuchs Jean Pauls zu wiederholen, hatte ihn

1

Von Heinrich Voß an Bernhard Rudolf Abeken, 29. und 30. Juni 1818, Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke, Michael Rölcke, 2020–2022, in: Jean Paul – Sämtliche Briefe digital, hrsg. im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller, Frederike Neuber, 2018–2022, [28.06.2022].

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Voß doch in zwei extrem langen Briefen über alle Umstände der Jean-Paul-Visite informiert.2 Voß’ emphatische Schwärmerei für Jean Paul wird Abeken als Kränkung empfunden haben. Die schwindende Intensität ihrer Freundschaft fürchtend, erhebt er in diesem Brief Ansprüche auf Voß’ Verbundenheit: Er weist darauf hin, dass dessen erster Brief an ihn bereits aus dem Jahr 1800 stamme, ihre Freundschaft also schon sehr lange dauere, und fügt fast apodiktisch hinzu: „[…] u. wie Du auch immer an Freunden, und an sehr interessanten reicher geworden seyn magst; die Stelle, die ich einmal gewann, die ist mir geblieben, u. wird mir auch bleiben“.3 Allerdings war Abeken im denkwürdigen Sommer des Jahres 1817 nicht der einzige Korrespondent, der von Voß über alle Schritte und Tritte Jean Pauls auf dem Laufenden gehalten wurde. Zum Glück haben sich etwa zwanzig Voß-Briefe aus dem Zeitraum zwischen dem 2. Juli und dem 26. August 1817 erhalten, die allesamt von dem für Voß so einschneidenden Erlebnis des Jean Paul-Besuchs handeln. Dieses kleine Korpus erlaubt Einblicke in eine erstaunliche Briefpraxis: Voß gibt in all diesen Briefen, ganz gleich, ob sie an Einzelpersonen oder an eine Adressatengruppe gerichtet sind, minutiös Auskunft über die Heidelberger Ereignisse – mit der Folge, dass es in den Briefen zu vielen Wiederholungen kommt, die nicht nur inhaltlicher Natur sind, sondern bis in die einzelnen Formulierungen hineinreichen. Die Frage, ob es sich hierbei um einen bewussten Vorgang, also um eine eingeübte Selbstkopiertechnik handelt, oder ob sich Voß immer wieder präzise an das Erlebte erinnert und dann niederschreibt, soll im Mittelpunkt des folgenden Beitrags stehen.

1 Heinrich Voß und Jean Paul in Heidelberg Heinrich Voß, der zweite Sohn des Homer-Übersetzers Johann Heinrich Voß und dessen Frau Ernestine, kam 1779 im niedersächsischen Otterndorf zur Welt.4 Seine Kindheit verbrachte er in Eutin, wohin die Familie 1782 zog, weil der Vater Rektor des dortigen Gymnasiums wurde. 1799 begann Heinrich Voß ein Theologiestudium in Halle, 1801 ging er nach Jena und wechselte zur Philologie. 1804 erhielt er durch Goethes Vermittlung eine Professorenstelle am 2

3 4

Von Heinrich Voß an Bernhard Rudolf Abeken, 1. bis 21. Juli 1817 und 20. und 21. September 1817, Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm. 1), und [28.06.2022]. Goethe- und Schiller-Archiv, Sign.: GSA 1/163,3. Biographische Informationen zu Heinrich Voß finden sich in den Biographien zu seinem Vater, so bei Wilhelm Herbst, Johann Heinrich Voß, Bd. I, II/1, II/2, Leipzig 1872–76. Vgl. auch den Nebeneintrag bei Franz Muncker, Art. Voß, Johann Heinrich, in: Allgemeine Deutsche Biographie [ADB], Bd. 40, Leipzig 1896, S. 334–349, hier: S. 347f. Am gründlichsten, wenn auch nicht ohne tendenziöse Untertöne: Detlev W. Schumann, Heinrich Voß – Zwischen Aufklärung und Romantik. Mit unveröffentlichten Briefen, in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 84/85, 1980/81, S. 215–273.

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„Sei vorsichtig mit diesem Briefe […].Es ist ein Privatbrief.“

Weimarer Gymnasium; er verkehrte regelmäßig bei Goethe, himmelte den Weimarer Dichterfürsten als Person an und schwärmte heftig für Schillers Dramen. Nach der Schließung des in Folge der Schlacht bei Jena und Auerstedt im Oktober  1806 zerstörten Gymnasiums zog Voß nach Heidelberg, wo er auf Veranlassung Friedrich Creuzers eine Stelle als außerordentlicher Professor für griechische Sprache und Literatur antrat. 1809 erfolgte die Berufung zum ordentlichen Professor. Voß blieb bis zu seinem Tod 1822 in Heidelberg.

Abb. 1: Heidelberg. Kupferstich, Göttingen, Wiederhold um 1817 (Staatsbibliothek Berlin, Nachlass Jean Paul, Faszikel X/14, Bl. 5). Bereits in Weimar begann Voß, als Übersetzer zu wirken; von 1810 bis 1815 erschien eine dreibändige, seinem Freund Abeken gewidmete Ausgabe der von Schlegel noch nicht übersetzten Shakespeare-Schauspiele, an der sein Bruder Abraham mitarbeitete.5 Aus dieser Beschäftigung erwuchs dann auch Voß’ Teilnahme am Projekt der Neuübersetzung aller 5

Schauspiele von William Shakspeare übersezt von Heinrich Voß und Abraham Voß, 3 Bde., Tübingen: Cotta 1810–1815.

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Shakespearestücke, das er mit seinem Vater und erneut mit seinem Bruder in Angriff nahm und das in eine neunbändige kommentierte Ausgabe mündete, die zwischen 1818 und 1829 bei Brockhaus in Leipzig und bei Metzler in Stuttgart erschien.6 Sowohl Voß’ Übersetzungen als auch seine Kommentare werden in den Briefen von 1817 immer wieder erwähnt. Im Juni 1816 ließ Voß über Cotta den ein Jahr zuvor erschienenen 3. Band der Schauspiele von William Shakspeare an Jean Paul übersenden,7 dieser wiederum bat seinen Freund Emanuel um eine andere Übersetzung der Lustigen Weiber von Windsor, um sie mit der von Voß zu vergleichen;8 Jean Pauls Antwort vom November 1816 enthält neben dem Lob der Voß-Übertragung auch den Wunsch, Heidelberg zu besuchen: „Was mich an diesem Briefe am meisten erfreuet, ist die Anzeige, daß ich im Frühling einen zweiten schreiben werde, um durch ihn mir eine Monatwohnung in Heidelberg zu erbitten. Mein ganzes Herz sehnt und drängt sich nach diesem Augen-Eden.“9 Am 6. Juli 1817 traf Jean Paul endlich in Heidelberg ein. Er blieb, rechnet man Abstecher nach Weinheim, Mannheim und Mainz mit, bis zum 21. August 1817 in der Stadt am Neckar. Voß’ Zeit in Jena und Weimar und seine Freundschaft zu Goethe und Schiller sind in einigen Publikationen biographisch und philologisch leidlich aufgearbeitet; sein Leben und seine Übersetzungs- und Rezensionstätigkeit in Heidelberg werden dagegen von der Forschung immer noch stiefmütterlich behandelt. Das mag daran liegen, dass Voßens ruhige Übersetzungstätigkeit germanistisch unergiebig ist und dass seine publizistische Anteilnahme an den großen philosophischen und philologischen Strömungen und Verwerfungen der Zeit selten als eigenständiges Wirken, sondern eher als Zuarbeit für seinen streitbaren Vater verstanden wurde.10 6

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Shakspeare’s Schauspiele von Johann Heinrich Voß und dessen Söhnen Heinrich Voß und Abraham Voß. Mit Erläuterungen, 9 Bde., Leipzig: Brockhaus (Bd. 1) und Stuttgart: Metzler (Bde. 2–9) 1818–1829. Vgl. Voß’ Brief an Johan Friedrich Cotta vom 23. Juni 1816 in: Maria Fehling (Hrsg.), Briefe an Cotta. Das Zeitalter Goethes und Napoleons 1794 bis 1815, Stuttgart / Berlin 1925, S. 338: „Schicken Sie mir ein Exemplar vom dritten Bande des Shakespeare auf Schreibpapier; und eines auf Druckpapier senden Sie gefälligst mit inliegendem Briefe an Jean Paul Friedrich Richter, der mir vor einigen Tagen gar Erfreuliches und Aufmunterndes über meinen Shakespeare hat sagen lassen, mit dem Hinzufügen, er wolle in der neuen Auflage seiner Aesthetik ihn nach Würden aufführen.“ Jean Paul an Emanuel Osmund, 27. Juli 1816, in: Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3.  Abt. der Historisch-kritischen Ausgabe (1952–1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller, Frederike Neuber, 2018, in: Jean Paul  – Sämtliche Briefe digital, hrsg.  von  Dens., 2018, [11.7.2022], S. 76,26–28. Von Jean Paul an Heinrich Voß. Bayreuth, 22. bis 23. November 1816, in: ebd. Nr. 236, S. 93,26–29. Walter Benjamin hielt Heinrich Voß für keinen „überragenden Geist“. Vgl. Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen, ausgewählt und eingeleitet von Walter Benjamin, mit einem Nachwort von

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„Sei vorsichtig mit diesem Briefe […].Es ist ein Privatbrief.“

Dabei lässt sich beobachten, wie die Jean Paul-Besuche die Voß’sche unscheinbare Heidelberger Existenz als Hochschulprofessor und Übersetzer (er galt nicht gerade als spektakulärer Lehrer) aufwerteten. Zudem sind die betreffenden Tage nicht nur durch Voß’ Briefe, sondern auch anderwärts gut dokumentiert: Es gibt Jean Pauls eigene Berichte an seine Frau Caroline11 sowie spärliche Tagebucheintragungen; weitere Zeugnisse finden sich in Eduard Berends Anthologie Jean Pauls Persönlichkeit.12 Nach Jean Pauls Ankunft in Heidelberg wich Voß kaum mehr von dessen Seite. Für Voß, dessen Hang zur fast devoten Verklärung älterer Männer mit den Jahren eher zu- als abnahm – auch der eingangs erwähnte General Wilhelm Kaspar Ferdinand Freiherr von Dörnberg war elf Jahre älter, vom 24  Jahre älteren Christian Freiherr Truchseß von Wetzhausen ganz zu schweigen  – war die immer enger werdende Freundschaft zum sechzehn Jahre älteren Jean Paul ein Glücksfall. Sie festigte seine gesellschaftliche Stellung vor Ort und stärkte sein Selbstbewusstsein; Jean Pauls Interesse an seinen Arbeiten bestätigten ihn auf seinem philologischen Weg. Im Windschatten des neuen Bayreuther Freundes schreibt er oft keck und übermütig über einzelne Heidelberger Personen, die sich aus seiner Sicht im Rahmen der Jean Paul-Verehrung nicht rechtens benommen hatten. Das ihm von Jean Paul angebotene „Du“ ist Thema vieler begeisterter Briefe, seine Anreden an Jean Paul zeugen von einer überschwänglichen, romantisch überhöhten Zuneigung zu seinem ihm gewogenen Freund. Im Grunde versucht Voß mit diesen Briefen, eine Herzensfreundschaft zu beglaubigen.

2 Das überlieferte Briefmaterial Heinrich Voß war, wie man Hinweisen in seinen Briefen entnehmen kann, ein äußerst produktiver Briefeschreiber, wenngleich die Datenbank Kalliope bislang nur ca. 270 eingepflegte

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Theodor W. Adorno, Frankfurt a. M. 1965, S. 34 (sammlung insel 11). Seit Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich die kaum mehr hinterfragte Überzeugung durch, Voß sei unselbständig, in gewisser Weise unmündig und kindlich, der verlängerte Arm seines Vaters. Vgl. Herbst, Johann Heinrich Voß (Anm. 4), Bd. II/2, S. 104f. u. 195. Noch in Detlev W. Schumanns Voß-Aufsatz (Anm. 4) wird der Fokus auf Voß’ Weimarer Jahre gerichtet. Zu Voß Übersetzertätigkeit vgl. neuerdings: Anne Baillot, Shakespeare und die alten Tragiker im Briefwechsel. Heinrich Voß’ mit Karl Solger und Rudolf Abeken, in: Anne Baillot, Enrico Fantino, Josefine Kitzbichler (Hrsg.), Voß’ Übersetzungssprache. Voraussetzungen, Kontexte, Folgen, Berlin, München, Boston 2015, S. 93–111. Zur Rehabilitierung Voß’ als mündigen Literaten vgl. Frank Baudach, Von der Freiheit eines Unmündigen. Ein ungedruckter Brief von Heinrich Voß, in: Vossische Nachrichten 2 (1995), S. 5–18. Vgl. Jean Paul, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. III.  Abt., Bd.  7, Briefe 1815–1819, hrsg. von Eduard Berend, Berlin 1954, Nr. 298, 301, 305 und 310. Eduard Berend (Hrsg.), Jean Pauls Persönlichkeit in Berichten der Zeitgenossen, Weimar 22001, S. 160–205.

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Briefe von seiner Hand verzeichnet.13 Darüber hinaus existieren jedoch verschiedene Druckausgaben der Briefe von Heinrich Voß; die maßgebliche bleibt die von Abraham Voß herausgegebene Ausgabe der Briefe von Heinrich Voß14, des Weiteren zwei die Freundschaft von Voß zu Goethe und Schiller beinhaltende Briefbände.15 Im Rahmen der Edition der Umfeldbriefe Jean Pauls fiel die Entscheidung zugunsten der Aufbereitung jener Briefe, die im unmittelbaren Zusammenhang mit Jean Pauls Besuchen in Heidelberg 1817 und 1818 stehen; hinzu kommen wenige Briefe, die Voß’ Besuch bei Jean Paul in Bayreuth betreffen. Überliefert sind 18 Briefe von Heinrich Voß aus dem Jahr 1817, die Jean Pauls Besuch zum zentralen Thema haben. Der Großteil der Handschriften, die Jean Pauls Besuch in Heidelberg im Sommer 1817 behandeln, liegt in der Sammlung Ludwig Bäte in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster. Diese Briefe  – acht an der Zahl  – werden erstmals vollständig ediert. Sie waren zwar 1925 in der von Bäte herausgegebenen Schrift Kranz um Jean Paul erschienen, allerdings stark gekürzt.16 Auch Eduard Berend konnte für die Persönlichkeit nur auf diese Ausgabe zurückgreifen. Hinzu kommen zwei Briefe aus dem in Dresden liegenden Nachlass Bernhard Rudolf Abekens aus dieser Zeit.17 Es ist anzunehmen, dass weitere Briefe an Abeken Voß’ Freundschaft zu Jean Paul thematisieren, allerdings würde die Erfassung und Bearbeitung dieser äußerst umfangreichen Korrespondenz den Rahmen der Umfeldbrief-Edition sprengen. Interessanterweise befinden sich in der von Abraham Voß 1834 herausgegebenen Sammlung der Briefe seines Bruders an Truchseß von Wetzhausen keine Briefe vom Sommer 1817. Dass Voß aber rege an Truchseß geschrieben hat, wissen wir nicht nur wegen des einen handschriftlich überlieferten Briefes vom 9. bis 19. Juli 1817, sondern auch aus Voß’ Briefen, in denen er immer wieder davon schreibt, dass er an Truchseß mehrere „Mordbriefe“ – so sein Ausdruck – geschickt hat.18 Mordbriefe waren extrem umfangreiche Briefe, die Voß teilweise über mehrere 13

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< ht t p s : // k a l l i o p e . s t a a t s b i b l i o t h e k- b e r l i n . d e /d e /q u e r y ?q = h e i n r i c h% 2 0 Vo%C3%9F&htmlFull=false&lang=de&fq=ead.creator.index%3A%28%22Vo%C3%9F%2C%20 Heinrich%20%281779-1822%29%22%29&lastparam=true> [13.05.2022]. Bde. I, II/1, II/2, III, Heidelberg 1833–38. Bd. I enthält den „Briefwechsel zwischen Heinrich Voß und Jean Paul“, Bd. II/1 „Mittheilungen über Göthe und Schiller in Briefen“, Bd. II/2 die „Briefe an Chr. von Truchseß“, Bd. III „Aus dem Leben von Heinrich Voß“, „Briefe an Verschiedene“ und „Ernstes und Heiteres aus dem Nachlaß“. Georg Berlit (Hrsg.), Goethe und Schiller in persönlichem Verkehre. Nach brieflichen Mitteilungen von Heinrich Voß, Stuttgart 1895; Hans Gerhard Gräf (Hrsg.), Goethe und Schiller in Briefen von Heinrich Voß dem Jüngern. Briefauszüge, in Tagebuchform zeitlich geordnet und mit Erläuterungen, Leipzig 1896. Ludwig Bäte (Hrsg.), Kranz um Jean Paul. Heidelberger Festtage in ungedruckten Briefen von Heinrich Voß (1817–1820), Heidelberg 1925. Vgl. Anm. 2. Vgl. auch Heinrich Voß an Abraham Voß vom 16. bis 24. August 1817, Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm. 1), [28.06.2022]: „Schon gestern dankte ich Dir in Truchseß Briefe für Deinen Brief […].“

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„Sei vorsichtig mit diesem Briefe […].Es ist ein Privatbrief.“

Tage hinweg geschrieben hat. In einem Brief vom 8. August 1817 an Christian Adolf Overbeck spricht er von einem 48-seitigen Brief.19

3 copy & paste: Bewusste Wiederverwendung von Textbausteinen oder Versuch, den Charakter des Erlebnisses zu reproduzieren Der Begriff „copy & paste“ bezeichnet das Übertragen von Daten zwischen zwei SoftwareAnwendungen. Es handelt sich dabei um das einfache Eins-zu-eins-Kopieren und -Einfügen digitaler Informationen, ein normaler, zeitsparender Vorgang um komplizierte Informationssequenzen ohne erneute langwierige Eingabe zu übertragen. Der Vorgang gelangte vor einiger Zeit zu einer gewissen medialen Berühmtheit im Zusammenhang mit der Übernahme von fremden Textteilen ohne Nennung des Urhebers in eigene wissenschaftliche Arbeiten, es sei an die „Copy-and-Paste-Affäre“20 um die Doktorarbeit Karl-Theodor zu Guttenbergs erinnert. Hier interessiert allerdings weniger die Täuschungsintention, sondern das Übertragungsverfahren: die Wiederverwendung eigener Textpassagen. Dieses Phänomen ist insbesondere in der Briefkultur des 18. und 19. Jahrhunderts nicht unbekannt – die „Transposition fast identischer Textstücke und Passagen in andere kommunikative Zusammenhänge“ sind unter anderem auch im Briefwerk Johann Georg Sulzers nachweisbar21 –, dennoch sind epistolare Selbstkopien wenig erforscht, definitorische Eingrenzungen existieren kaum. Zudem bleibt grundsätzlich zu fragen, ob eine „neue“ Phrase wie „copy & paste“ etwas Anderes bezeichnen kann als die gängigen Begriffe „Abschrift“ oder „Kopie“? Kann man bei der Abschrift eines Geschäftsbriefes von copy & paste reden? Wie steht es z.  B. mit Anschreiben bei der

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Vgl. Heinrich Voß an Christian Adolf Overbeck, 8.  August  1817, Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm. 1), [28.06.2022]. Bzw. Bäte, Kranz (Anm. 16), S. 37f.: „Ich habe nehmlich einen großen Brief von 48 Seiten über Jean Paul geschrieben […].“ Der Mordbrief ist nicht überliefert, aber Briefe ähnlichen Umfangs gingen auch an Abeken, so ein vom 24. März bis 12. April 1817 geschriebener. Vgl. Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek, Briefe Voß an Abeken, Sign.: Mscr.Dresd.e.97,II,Nr. 80. [10.5.2022]. Jana Kittelmann, Zwischen geselliger Praxis und Lesbarkeit für die Nachwelt. Überlegungen zur Funktion von Briefabschriften Johann Georg Sulzers, in: Jörg Paulus, Andrea Hübener, Fabian Winger (Hrsg.), Duplikat, Abschrift & Kopie. Kulturtechniken der Vervielfältigung, Wien, Köln, Weimar 2020, S. 155–172, hier S. 161f.

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Versendung von Büchern, die bis auf kleine Abweichungen identische Formulierungen enthalten?22 Was ist, wenn in Liebesbriefen gleiche Floskeln an verschiedene Geliebte geschrieben werden? Und handelt es sich bei Jean Pauls Methode, besonders geistreiche Formulierungen aus seinen eigenen Briefen in ein Briefkopierbuch zu übertragen, um sie später wiederverwenden zu können, nicht um die ideale Anwendung des copy & paste-Verfahrens?

Abb. 2: Zweitfertigung der Ehrenpromotionsurkunde für Jean Paul, Heidelberg, 18. Juli 1817 (Universitätsarchiv Heidelberg, H-IV-102/12, fol. 88). 22

So verschickte der Meininger Schriftsteller Johann Ernst Wagners seinen Kunstschulplan mit immer dem gleichen Brief an zahlreiche Empfänger. Vgl. z. B. seine Briefe an Georg Wilhelm Keßler und Carl August Böttiger vom 4. und 7. März 1808, Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm. 1), und [10.5.2022].

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„Sei vorsichtig mit diesem Briefe […].Es ist ein Privatbrief.“

Ein doch wohl eindeutiger Fall von copy & paste liegt in jenen Briefen von Heinrich Voß aus dem Sommer 1817 vor, in denen er den Inhalt des von ihm selbst verfassten Diploms wiedergibt, mit dem Jean Paul die Heidelberger Ehrendoktorwürde verliehen wurde. Schon in den Passagen, die den Entschluss zur Ehrung Jean Pauls beschreiben, finden sich Wiederholungen und Selbstzitate. An seine Eltern schreibt Voß etwa am 16. Juli 1817: Gestern Abend erhielt ich von Munck, Hegel, Creuzer und Schweins die Bitte, ich möchte schnell eine Facultätssizung berufen. Das geschah, und alle erschienen. Nun ward ausgemacht, ihm sollte ein Doktordiplom feierlich überreicht werden. Alle waren einstimmig, anfangs Langsdorf nicht, der die Meinung hatte, Jean Paul sei wohl ein guter Mensch, aber kein recht ordentlicher Christ. […] Heute Morgen in aller Frühe brachte ich folgende Worte in die Druckerei: [Es folgt der lateinische Text des Diploms.]23

Voß hat in dieser Passage eine Korrektur angebracht: Statt, dass man ihn bat, „die“ Fakultätssitzung einzuberufen, strich er das Wort „die“ aus und schrieb darüber „eine schnelle“, also genau jene Wendung, die er auch in seinem „Mordbrief“ an den Truchseß von Wetzhausen, den er am 18. Juli fortsetzte, gebrauchte: Vorgestern Abend ward ich von Munck, Hegel und Schweins aufgefodert, schnelle Fakultätssitzung zu berufen. Es geschah. Nun beschlossen wir, J. P. feierlich zum Doktor zu kreiren. Der einzige, welcher stark dagegen war, war Kollege Langsdorf, aus dem doppelten Grunde 1.) weil es mit J. P.s Christenthum nicht ganz geheuer stünde, 2.) weil seine Moralität auch nicht ganz koscher wäre, sintemalen J. P. gern ein Glas über den Durst tränke, und dadurch – wenn von uns Filosofen so geehrt – den Jünglingen ein böses Beispiel zur Völlerei geben könnte. […] Genug, unser Senior war am Ende lebhaft für uns, u ich erhielt, als Dekan, den Auftrag, das Diplom auszufertigen. Noch selbigen Abend schrieb ich folgende Worte, die Dir Dein Pastor oder Amtmann verdeutschen mag: [Es folgt der lateinische Text des Diploms.] Den andern Abend um acht Uhr war das Diplom schon auf Pergament gedruckt, u. ein prächtiges Futeral aus Saffian gefertigt, und in diesem Augenblicke werden Creuzer u. Hegel als Überbringer bei J. P. sein, die ich erkoren,

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Heinrich Voß an Johann Heinrich und Ernestine Voß, 16. Juli 1817, Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm.  1), [28.06.2022]; abgedruckt bei Bäte, Kranz (Anm. 16), S. 20–24, hier S. 21f.

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Michael Rölcke weil ich ihm doch unmöglich meine eigenen Lobsprüche in die Zähne und in den Bart werfen kann.24

Auch seinem Osnabrücker Freund Abeken schildert Voß die Ereignisse, die zur Diplomverleihung führten, auch in diesem Brief stehen Redewendungen und Phrasen, die in anderen Briefen vorkommen.25 Aus den Abfassungsdaten der Briefe geht hervor, dass Voß sie teilweise parallel schrieb. Der zuletzt erwähnte Brief an Abeken war bereits am 1. Juli 1817 begonnen worden, also noch vor Jean Pauls Ankunft in Heidelberg. Auf den ersten sechs Seiten geht es daher vor allem um Voß’ Bemühungen um die Übersetzung von Shakespears Love’s Labour’s Lost. Erst am 21. Juli thematisiert er Jean Pauls Besuch. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon nachweislich mindestens zwei Briefe zur Sache abgeschickt: einen an seine Eltern, begonnen am 16. Juli, ihn dann aber nicht, wie vorgehabt, zur Post gebracht, sondern am 19. Juli fortgesetzt und um die neuesten Ereignisse ergänzt.26 Und den sechzehnseitigen Brief an Truchseß von Wetzhausen, abgefasst über den Zeitraum vom 9. bis 19. Juli.27 Es ist also durchaus möglich, dass Voß Formulierungen des einen Briefs in den anderen übertrug. Genauso wahrscheinlich ist aber eben auch, dass sich die zeitliche Nähe und die Intensität des Erlebten tief ins Gedächtnis eingegraben und Voß zu gleichlautenden Beschreibungen und stehenden Wendungen bestimmt haben. Andererseits verwendet Voß auch über eine längere zeitliche und gedankliche Distanz ähnliche oder gleiche Wendungen. Anfang August schreibt er in dem nur im Druck überlieferten Brief an Friedrich Karl Wolff: Den Tag darauf berief ich, als diesjähriger Dekan, eine Fakultätssitzung, in der ausgemacht wurde, Jean Paul solle zum Doctor creirt werden. Noch denselbigen Abend brachte ich folgende Worte in die Druckerei, die ich schon den Morgen aufgesetzt hatte: [Es folgt der lateinische Text des Diploms.] Das Diplom, das bei den Studenten großen Jubel erregt hat, weil es ihren Ausruf an Jean Paul mit enthält, und zwar ziemlich treu übersetzt, stack schon den andern Morgen um 10 Uhr, zierlich auf Pergament gedruckt, in einer saffianen Kapsel. Da ich es für unschicklich hielt, ihm selber meine laudes in den

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Heinrich Voß an Christian Truchseß von Wetzhausen, 9. bis 19. Juli 1817, Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm. 1), [28.06.2022]; vgl. auch Berend, Persönlichkeit (Anm. 12), Nr. 208, S. 160–173 (unvollständig), hier S. 169f. Heinrich Voß an Bernhard Rudolf Abeken, 1. bis 21. Juli 1817 (Anm. 2). Heinrich Voß an Johann Heinrich und Ernestine Voß, 16. (Anm. 23) sowie 19. Juli 1817, Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm. 1), [28.06.2022]; abgedruckt bei Bäte, Kranz (Anm. 16), S. 24–26. Vgl. Anm. 24.

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„Sei vorsichtig mit diesem Briefe […].Es ist ein Privatbrief.“ Bart zu werfen, hatte ich Creuzer und Hegel beauftragt, es ihm zu überreichen, was noch vor Mittag geschah.28

Jemanden „seine laudes in den Bart werfen“, darauf kommt man eigentlich kein zweites Mal, andererseits prahlt Voß in seinen Briefen gelegentlich damit, dass er den ganzen Shakespeare auswendig hersagen könne, so z. B. am 29. Juni 1818 an Abeken anlässlich Jean Pauls zweitem Besuch in Heidelberg: Jean Paul macht sich manchmal den Spaß, mich im Shakspear scharf zu examinieren; jedesmal besteh’ ich. Da ist auch kein Ring, kein Schemel, kein Ziehbrunnen, kein Gleichnis, kurz was Du willst, wovon ich nicht augenblicklich und zu jeder Zeit Rechenschaft zu geben weiß.29

Ständig rekapituliert Voß in seinen Briefen zudem von Jean Paul geäußerte Sentenzen, zitiert Shakespeare oder gibt Anekdoten mit nahezu identischem Wortlaut zum Besten, die der ebenfalls in Heidelberg weilende General von Dörnberg erzählt hat.30 Während also beim eigentlichen Diplomtext der Fall klar ist – Voß schreibt ihn von der tatsächlichen Vorlage ab – in einem Brief an den Bruder Abraham macht er sich nicht einmal mehr die Mühe des Kopierens, sondern schreibt den Brieftext gleich auf die Rückseite eines zerschnittenen Diplom-Drucks, das Diplom ist hier gewissermaßen das Attachment  –, lässt sich der Charakter der einkleidenden Worte schwieriger bestimmen. Man könnte vermuten, dass bei der Häufigkeit, mit der sich Passagen und Zitate in Voß’ Briefen fast wörtlich wiederholen, eine Art von Vorlage vorhanden gewesen sein muss. Dagegen sprechen wiederum die kleinen Abweichungen, die eher auf Formulierungen aus dem Gedächtnis deuten.

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Heinrich Voß an Friedrich Karl Wolff, Anfang August 1817, in: Hamburger Literarische und Kritische Blätter, 13. Mai 1846, S. 442–444, 16. Mai 1846, S.450–452, hier S. 450. Heinrich Voß an Bernhard Rudolf Abeken, 29.  und 30.  Juni  1818, Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm. 1), [28.06.2022]; vgl. auch Berend, Persönlichkeit (Anm. 12), Nr. 247, S. 221, wo die Stelle aber nur auszugsweise abgedruckt ist. Vgl. die Lügengeschichte á la Münchhausen, in der sich zwei Bauern die Beine ausreißen und gegenseitig auffressen in den Briefen von Heinrich Voß vom 15. September 1817 an Abraham Voß, Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm.  1), [28.06.2022] und vom 20. September 1817 an Abeken (Anm. 2).

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Abb. 3: Heinrich Voß an seinen Bruder Abraham, Heidelberg, um den 20. Juli 1817 (Bayerische Staatsbibliothek, Vossiana 46). 102

„Sei vorsichtig mit diesem Briefe […].Es ist ein Privatbrief.“

Das Problem lässt sich noch anhand einer anderen Szene verdeutlichen, dem Moment der ersten persönlichen Begegnung zwischen Heinrich Voß und Jean Paul, die am 6. Juli 1817 stattfand. Zuerst berichtet Voß seinen sich noch auf Reisen befindlichen Eltern von Jean Pauls Ankunft: Gestern Mittag aß ich bei Fries. Als ich um drei Uhr zurückkam, sezte ich mich gierig an meinen Shakspear, Heinrich den Vierten, dessen Fallstafscenen mich während der Arbeit fast ununterbrochen am Lachen erhalten; da kommt Julien herein: „ein armer Student sei da, der eine Unterstüzung begehre“. Der arme Student kam herein, und klagte seine Noth. Ich denke, du bist verflucht alt für einen Studenten, und kucke ihn scharf an. Da fällt er mir um den Hals, und will mich mit Küssen ersticken. Jean Paul ists, der liebe, herrliche Jean Paul!31

In seinem „Mordbrief“ vom 9. bis 19. Juli 1817 an den Truchseß heißt es dann: Vorigen Sonntag, als ich etwa um 6 Uhr abends heiß beim Shakspeare sitze, meldet mir die Magd, es sei ein armer Student da, der ein Unterstützung begehre; u. sogleich tritt der Student in die Tür herein u. klagt s. Not in einigen wohlgesetzten Worten. Ich denke bei mir: „für einen Studenten siehst du nicht mehr allzu jung aus“, u. seh’ ihm steif in sein wunderschönes Auge. Da fällt mir der Teufelsstudent um den Hals u. küßt mich, als wenn er mich ersticken wollte: Jean Paul ists, der liebe, langersehnte, u. wahrlich heiß ersehnte J. Paul.32

Knapp zwei Wochen später wird auch im Brief an Abeken der Bericht über Jean Pauls Eintreffen nachgeholt: Gestern vor 14 Tagen, abends um 6 Uhr, als ich im tiefsten Negligee heiß am Shakspeare size, kommt ein armer Student zu mir, der für seine ausgetrocknete Reisekasse eine milde Gabe begehrt. Ich sehe ihn mit Staunen an; denn der Student ist c i r c a 50 Jahr alt; da fällt er mir um den Hals, und küßt mich, als wenn er mich ersticken wollte: Jean Paul wars, der heißersehnte, der – o Wonne, daß ichs sagen kann! – der heißgeliebte herliche Jean Paul.33 31

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Heinrich Voß an Johann Heinrich und Ernestine Voß sowie an Heinrich Boie, 7. Juli 1817, Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm. 1), [28.06.2022]. Der Brief ist abgedruckt bei Bäte, Kranz (Anm. 16), S. 13–15 (Anfang fehlt), hier S. 13 sowie in: Eduard Berend (Hrsg.), Jean-Paul-Jahrbuch, Bd. 1, Berlin 1925, S. 211–214, hier S. 211f. Vgl. Heinrich Voß an Christian Truchseß von Wetzhausen, 9. bis 19. Juli 1817 (Anm. 24.). Heinrich Voß an Bernhard Rudolf Abeken, 1. bis 21. Juli 1817 (Anm. 2).

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Und noch Anfang August kommen Voß in der Erinnerung an die erste Begegnung mit Jean Paul gleichlautende Worte in den Sinn. Im Brief an Wolff heißt es: Sonntag vor vier Wochen, als ich Abends um 7  Uhr, bis auf’s Hemd entkleidet, heiß am Shakspeare arbeite, und so recht in froher und wonniger Begeisterung bin, tritt ein armer Student zu mir. Seine Casse sey ausgegangen, sie müsse angefrischt werden. Ich, schnell in die Tasche fahrend, denke bei mir: für einen Studenten siehst Du etwas alt aus. Da blitzt mir ein wunderschönes Auge entgegen und die edelsten Züge entfalten sich, während er in wohlgewählten, aber höchste einfachen Worten weiter spricht. Wie ich voll Erstaunen dastehe, fällt mir der Teufelsstudent um den Hals und küßt mich, als ob er mich erdrücken wollte. „J e a n P a u l !“ rief ich, und er war’s, der heiß und lang ersehnte Jean Paul.34

Als Voß die Begebenheit am 7. und 9. Juli niederschrieb, lag zum einen Jean Pauls Ankunft erst wenige Tage zurück, das Erlebnis war also noch frisch, zum anderen wurden die beiden Briefe ja in schneller zeitlicher Folge abgefasst, es kann also die Formulierung durchaus noch präsent gewesen sein. Auch die ähnlich lautende Passage im Brief an Abeken kann mit der Vergegenwärtigung des Ereignisses erklärt werden: Der lange Brief an den Truchseß, den Voß möglicherweise vor Absendung noch einmal durchgelesen hatte, wurde am 19. Juli beendet. Am 21. Juli schloss er dann seinen Brief an Abeken ab. Für den Brief an Wolff gibt es allerdings keine einigermaßen zufriedenstellende, mit der Abfassungschronologie begründbare Erklärung. Da der Brief nur im Druck überliefert ist, besteht zwar die Möglichkeit, dass es sich auch um einen über mehrere Tage geschriebenen Brief handelt und der erste Teil fehlt. Allerdings sprechen die Zeitangaben im Brief für die Abfassung Anfang August, und so stellt sich wiederum die Frage, in welcher Weise Voß die Ereignisse präsent waren – als schriftliche Vorlage oder nur im Gedächtnis, das hier als Zwischenmedium fungiert. Zwei Argumente sprechen für die zweite Annahme: Zum einen Voß’ eigener Hinweis auf die Tatsache, dass er sich nicht nur Texte und Zitate, sondern ganze Scenen und Tableaus gut merken kann35 – eine Fähigkeit, die seiner Übersetzertätigkeit sehr zugute kam. Zum anderen kommt ganz allgemein die Art und Weise, wie Voß seine Briefe schreibt, einer anekdotischen Verdichtung des Erlebten 34 35

Heinrich Voß an Friedrich Karl Wolff, Anfang August 1817 (Anm. 28), S. 443. Vgl. Anm. 29. Im selben Brief schreibt Voß: „Mir geht es wie Sancho mit den Sprichwörtern, bei dem geringsten Anlaß ström ich über von Shakspear-Parallelstellen.“ In seinem Brief an seinen Bruder Abraham vom 31. Juli 1817 bildet sich Voß zudem einiges auf sein Rhythmusempfinden ein, das als mnemotechnische Fertigkeit zu seinem guten Gedächtnis beigetragen haben mag, vgl. Heinrich Voß an Abraham Voß. Heidelberg, 31. Juli 1817, Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm. 1), [28.06.2022].

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„Sei vorsichtig mit diesem Briefe […].Es ist ein Privatbrief.“

entgegen. Heinrich Voß verwendet die copy & paste-Technik also weniger als Text-, sondern als ein Erlebnisübertragungsverfahren!

4 Der Briefschreiber Heinrich Voß Aus dem interessierenden Zeitraum sind einige Selbstaussagen von Voß überliefert, die über den Abfassungszeitpunkt, die Intensität, die Art und Weise sowie über die Gründe seines Briefeschreibens unterrichten. Abeken erfährt von ihm am 21. Juli 1817: Auf meine Briefe wende ich ohnehin nie kaum Fleiß, und die wenigste Zeit, weil ich die Briefzeit andern Arbeiten abstehle, wobei mir eine unbegreiflich schnelle Hand zu statten kommt. Ich schrieb einmal auf der Bettenburg einen Brief an Fouqué von 14 ziemlich engen Quartseiten, von denen Truchseß etwa 6 dictirte, in etwas mehr als anderthalb Stunden. Da that mir freilich auch die Hand weh.36

Dass er schnell schreiben kann und ihm die Worte nur so aus der Feder fließen, lässt er auch Overbeck am 8. August 1817 wissen: „Ich muß nun abbrechen; denn ließ’ ich meiner Feder freien Lauf, sie schriebe in einem fort.“37 Und seinem Neffen Heinrich Boie gesteht er bezüglich seiner umfassenden Jean-Paul-Berichterstattung: „Ich könnte ganze Wochen lang über diesen Mann schreiben; aber die Zeit erlaubt es nicht.“38 Die hohe Geschwindigkeit des Schreibens erklärt das Zustandekommen seiner sogenannten Mordbriefe; scrollt man durch Kalliope, finden sich nicht wenige Voß-Briefe mit einer Länge von 12 oder 16 Quartseiten; manche Briefe an Abeken sind 26, 35 oder 48 eng beschriebene Seiten lang. Berücksichtigt man zudem, was Voß am 3. August 1817 an seinen Bruder Abraham schreibt, dass er, wenn er einen frohen Tag gehabt hat, diesen „noch mal in einem Briefe durchleben“ muss und daher mit Vorliebe „in der kühlen Morgenstunde“ – in diesem Fall ist es fünf Uhr – den vorangegangenen Tag rekapituliert, so erhalten seine Briefe den Charakter von Tagebucheinträgen. Er schreibe „redselig und durcheinander“, teilt Voß seinem Bruder mit, doch von chronologischer Unordnung kann keine Rede sein. Was die Redseligkeit betrifft, so trifft Voß’ Selbstbeobachtung mit Abstrichen zu: Die Berichte aus Heidelberg entbehren nicht einer gewissen Monotonie. Wie bei einem 36 37

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Vgl. Heinrich Voß an Bernhard Rudolf Abeken, 1. bis 21. Juli 1817 (Anm. 2). Heinrich Voß an Christian Adolf Overbeck. Heidelberg, 8. August 1817 (Anm. 19); vgl. auch Bäte, Kranz (Anm. 16), S. 29–38, hier S. 37. Heinrich Voß an Heinrich Boie. Heidelberg, 18. und 19. September 1817, Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm. 1), [28.06.2022]; vgl. auch Bäte, Kranz (Anm. 16), S. 38–47, hier S. 44.

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Uhrwerk wird eine Anekdote nach der anderen abgehandelt, ein berichtenswertes Ereignis nach dem anderen – meistens der Chronologie folgend – erzählt. Die „schönen Tage von Aranjuez“ wie Voß die Jean Paulschen Besuchstage in Anspielung auf Schillers Don Carlos nennt,39 sind mit fast manischer Akribie auf den Faden des Berichts gefädelt. Dass Voß die einzelnen Perlen gelegentlich in einer anderen Reihenfolge aufzieht, ändert nichts an dem Eindruck, dass er immer wieder gleiche Textbausteine verwendet. Das chronologisch-anekdotische Erzählen zerlegt den Jean-Paul-Besuch in abgeschlossene Einzelereignisse, die Voß für seine Statements und Intentionen nutzt und die daher auch kaum variieren dürfen. Jede dieser geschilderten Erlebnisabschnitte transportiert eine oder mehrere feststehende Botschaften: sei es, dass er sich selbst wegen seiner exklusiven Freundschaft zu Jean Paul in der Heidelberger Gesellschaft aufwerten will, sei es, dass er für sich selbst Reklame als idealer – also empfindsamer, verständiger und geistreicher – Freund machen will, sei es, um Jean Pauls Witz, Gefühl, Treue zu seiner Familie etc. zu betonen und um ihn zum Heiligen zu stilisieren. Gleichzeitig versteht sich Voß auch als Chronist; seine Briefe sind Tagebücher, die durch die enge Taktung die Bedeutung eines zugegebenermaßen bemerkenswerten Ereignisses vergrößern: Im Grunde möchte Voß Geschichte schreiben, auch wenn er jeglichen Anspruch auf Objektivität vermissen lässt. Voß spekuliert in erster Linie darauf, dass ein Teil des Lichts des besungenen Dichters auf den Heldenverehrer selbst fällt. Doch die Vossische Schreiblust- und  -leichtigkeit hat ihre Grenzen  – auch das äußert er wiederholt in seinen Aufzeichnungen. Es sei ihm ein Bedürfnis, schreibt er am 8. August 1817 an Overbeck, „ein genossenes Gutes noch einmal in einer treuen Nachschilderung zu genießen. Aber mehr als einmal, höchstens zweimal, dergleichen zu schreiben fällt mir schwer“.40 Schärfer noch heißt es im fünf Tage früher abgefassten Brief an den Bruder Abraham: „Da aber unsern Truchseß, was ich zu sagen habe, eben so sehr angeht, als Dich, ja in gewissem Sinne noch mehr, schick’ ich ihm den Brief erst zu; denn wer kann dergleichen doppelt schreiben, oder gar abschreiben?“41 39

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So im Brief von Heinrich Voß an Abraham Voß vom 3.  August  1817, Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm.  1), [28.06.2022] und im Brief an Christian Adolf Overbeck vom 8.  August  1817 (Anm.  19); vgl. auch Bäte, Kranz (Anm. 16), S. 30. Das Zitat benutzte Voß immer wieder, z. B. im gemeinsam mit Christian Truchseß von Wetzhausen verfassten Brief an Friedrich de la Motte Fouqué vom 21. bis 23. April 1817. Vgl. Albertine Baronin de la Motte Fouqué (Hrsg.), Briefe an Friedrich Baron de la Motte Fouqué von Chamisso, Chezy […] Voß, u. s. w. Mit einer Biographie Fouqué’s von Jul. Ed. Hitzig und einem Vorwort und biographischen Notizen von Dr. H. Kletke, Berlin 1848, S. 509–527, hier S. 525. Heinrich Voß an Christian Adolf Overbeck, 8.  August  1817 (Anm.  19); vgl. auch Bäte, Kranz (Anm. 16), S. 38. Heinrich Voß an Abraham Voß. Heidelberg, 3. und 4. August 1817, Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm. 1), [28.06.2022].

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„Sei vorsichtig mit diesem Briefe […].Es ist ein Privatbrief.“

Da aber die Duplikation und die epistolarische Reproduktion äußerst mühevoll sind – irgendwann beginnt eben die Hand weh zu tun –, greift Voß auf ein auch aus der Korrespondenz Jean Pauls hinlänglich bekanntes Verfahren zurück: den Rund- oder Zirkularbrief, den Brief mit Mehrfachadressierung. Neben copy & paste-Techniken kommen hier Verfahren zum Einsatz, die im E-Mailverkehr als carbon copy und blind carbon copy bezeichnet werden: Ein Brief wird für viele Leser geschrieben.

5 Briefzirkulation Unter den Briefen aus Heidelberg befinden sich einige, die mit Sicherheit unter verschiedenen Personen zirkulierten. So schreibt Voß Ende Juli 1807 an seinen Bruder Abraham über seinen langen, zwischen dem 9. und 19. Juli abgefassten Brief an den Truchseß: „Den Brief an Truchseß überschickst Du der Frau Boje42, mit dem beding, daß sie ihn mit der nächsten Post zurückschicke an Dich. Dann sendest Du ihn wieder an Truchseß, aber ohne zu sagen, daß er in Jena gewesen ist. Versäume dies ja nicht.“43 Auch seine Eltern informiert Heinrich Voß am 16. Juli 1817 über einen zirkulierenden Brief, bei dem es sich entweder um den eben erwähnten Brief an Truchseß oder um einen weiteren, nicht überlieferten „Mordbrief“ handelt. […] von Hans44 u. Abrah. ist nichts weiter da. Da ich beiden und Truchseß, und Gries45 samt den Schwestern doch auch die Freude machen wollte, von J. Paul etwas zu erfahren, hab’ ich eine Art von Gesamtbrief dickleibigen Inhalts angefertigt. Der ist nun bei Hans. Dann wandert er auf die Bettenburg, und so fürbaß. – Diesen Brief aber soll Boie haben.46

Noch einmal ist im Schreiben vom 8. August an den Lübecker Bürgermeister (und Dichter) Christian Adolf Overbeck von einem „Gesamtbrief“ die Rede, dessen Seitenzahl weit über die 16 an den Truchseß geschickten Quartseiten hinausgeht: Für meine Eltern wird dieser Brief nichts neues enthalten. Ich habe nehmlich einen großen Brief von 48 Seiten über Jean Paul geschrieben, einen Gesamtbrief, den erst Hans

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Vermutlich ist die Tante Sara Henriette von Boie gemeint. Heinrich Voß an Christian Truchseß von Wetzhausen, 9. bis 19. Juli 1817 (Anm. 24). Der Architekt Hans Voß (1873–1849), Heinrichs Bruder. Der Übersetzer Johann Diederich Gries (1775–1842). Heinrich Voß an Johann Heinrich und Ernestine Voß, 16. Juli 1817 (Anm. 23). Die zitierte Stelle ist bei Bäte, Kranz (Anm. 16), der den Brief abdruckt (S. 20–24), ausgelassen.

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Michael Rölcke bekommen, dann mein herlicher Bettenburger, dann Abraham, dann die Jenenser, den können sie in Rudolstadt lesen. […] Drum bitt’ ich Sie, theurer Mann, schicken Sie diesen Brief an H e i n r i c h B o i e 4 7 (in Ohsen bei Hameln, abzugeben bei Frau v. Grevemeyer48). Vielleicht kommt dieser Brief in noch mehrere Hände (und es wäre mir ganz recht, des Inhaltes wegen, denn wie begierig hasch’ ich selbst nach verbürgten Anekdoten von solchen Männern!); aber dann sei jeder recht herzlich gebeten, dafür zu sorgen, daß keine Zeile abgeschrieben werde. Auch dem großen Truchseßbriefe hab’ ich die Bitte zugefügt. Sie ist in diesen Zeiten nöthig, und ich selbst habe schon zum zweitenmal – was ich so gründlich hasse – vertrauliche Mittheilungen von mir in der eleganten Zeitung gedruckt gelesen.49

Die hinzugefügte Warnung verrät, dass es Voß nicht um eine unkontrollierte Weiterreichung der Zirkularbriefe ging. So, wie man seine Rundbriefe als Vorläufer des Newsletters verstehen kann, so hatte Voß einen bestimmten Verteiler im Sinn, der aus der nahen und weitläufigeren Familie sowie aus engen Freunden bestand. Bei der Anweisung an den Bruder, den Brief doch an Frau Boie zur Lektüre zu schicken, bevor er ihn an den Truchseß weiterleitet, handelt es sich um einen waschechten blind copy-Vorgang; warum Truchseß nicht wissen sollte, dass der Brief an einen weiteren Adressaten ging, wissen wir wiederum nicht. Die von Voß angemahnte Vorsicht, den Adressatenkreis doch klein zu halten, findet sich in weiteren Briefen vermerkt: Über dem Brief vom 31. Juli 1817 an Abraham Voß steht Heinrichs Notiz: „Sei vorsichtig mit diesem Briefe. Aber nach Jena schick ihn zu den Schwestern, u Grieß wegen der Jean Pauliana, wiewohl sie diesmal sehr unbedeutend sind.“50 Über einem weiteren Brief steht: „Sei vorsichtig mit diesem Briefe, lieber Abrah., und wer ihn etwa liest, früh oder spät. Es ist ein Privatbrief.“51 Die Ermahnungen an den Bruder scheinen gewirkt zu haben, denn Abraham vermerkt wiederum über dem Mordbrief an den Truchseß: „Sei vorsichtig mit diesen Briefen, wer sie auch lesen möge. Es sind traute, unverhohlene Herzensergießungen.“52

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Heinrich Voß’ Cousin, der Zoologe Heinrich Boie (1794–1827). Maria Margarethe von Graevemeyer (1772–1857), die Ehefrau des Georg Christoph Friedrich von Graevemeyer (1778–1832), Amtmann in Ohsen, Erbherr auf Bemerode. Vgl. Anm. 19 bzw. Bäte, Kranz (Anm. 16), S. 37f. Heinrich Voß an Abraham Voß. Heidelberg, 31. Juli 1817 (Anm. 35). Bei Berend, Persönlichkeit (Anm. 12), Nr. 218, S. 185f. sind weder die Mahnung noch die Instruktionen zur Weiterleitung mit abgedruckt. An Abraham Voß, 16. bis 24. August 1817 (Anm. 18). Auch diesen Rat hat Berend nicht in Persönlichkeit (Anm. 12), Nr. 221 u. 223, S. 189–194 u. 195–200 übernommen. Von Heinrich Voß an Christian Truchseß von Wetzhausen, 9. bis 19. Juli 1817 (Anm. 24).

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„Sei vorsichtig mit diesem Briefe […].Es ist ein Privatbrief.“

An wen diese Bitte gerichtet ist, an den Truchseß oder an die heimlich beschickte Tante in Jena, ist nicht bekannt.

6 Fazit Für Heinrich Voß, so kann zusammenfassend festgehalten werden, war Jean Pauls Besuch in Heidelberg ein markantes biographisches Erlebnis. Basierend auf Voß’ Faible für berühmte ältere Männer informierte er Familie und Freunde, aber auch weitläufig bekannte Personen mit nicht versiegender Begeisterung brieflich über dieses Ereignis.53 Dabei nutzte er verschiedene Wege der Berichterstattung: Seine äußerst umfangreichen Rundbriefe setzten die Adressaten chronologisch vom Tagesgeschehen in Kenntnis. Auch wenn Voß genau auf den Kreis der Empfänger achtete und eine unkontrollierte Verbreitung und Verwendung des Inhalts einzudämmen suchte, so hatte er auch mit der „strukturellen Asymmetrie“ des Briefsystems, wie Konrad Heumann es in seinem äußerst instruktiven Text über „Archivierungsspuren“ einmal nannte,54 zu kämpfen. Er stemmte sich mit seinen Mahnungen, die Briefe nicht weiterzugeben, gegen die Unmöglichkeit der Steuerung des Briefwegs und der potentiellen Lektüren. Für seine Versuche, sowohl bei den Einzelbriefen als auch bei den Rundbriefen, die Weitergabe zu regulieren, mag es unterschiedliche Gründe geben, ein wesentlicher dürfte sein, dass Voß etliche eigene und jeanpaulsche Privatissima ausplauderte und auch gelegentlich dazu neigte, gesellschaftlichen Klatsch zu verbreiten, der tunlichst den Kreis der Vertrauten nicht verlassen durfte. Im Wesentlichen übermittelte er aber die Fakten des Geschehens, gewürzt mit der Schilderung des unverzichtbaren Eigenanteils am Ablauf der Dinge. Das Dilemma der Vossischen Berichterstattung aus Heidelberg  – einerseits das Bedürfnis, die Kontrolle über jene Briefe behalten zu wollen, die private und nur für wenige Ohren

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Wie wichtig Voß’ diese Freundschaft auch in den Jahren nach Jean Pauls Besuchen blieb, zeigen Briefe an Bernhard Rudolf Abeken, die Voß mit Abschriften seiner eigenen Briefe an Jean Paul füllt, so im Brief an Abeken vom 27. Februar 1820 (Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek, Briefe Voß an Abeken, Sign.: Mscr.Dresd.e.97,II,Nr. 95), in dem er seinen zwei Tage zuvor abgeschickten Brief an Jean Paul wiedergibt. Vgl. Heinrich Voß an Jean Paul, 25. Februar 1820, in: Jean Pauls sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Christian Begemann, Markus Bernauer und Norbert Miller, Bd. 8: Briefe an Jean Paul 1820–1825, S. 29f., Nr. 16. In diesem Fall dürfte Voß beide Briefe parallel geschrieben haben, so dass er tatsächlich im copy & paste-Verfahren seinen Brief an Jean Paul für Abeken dupliziert hat. Konrad Heumann, Archivierungsspuren, in: Anne Bohnenkamp, Waltraud Wiethölter (Hrsg.), Der Brief  – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift  / Frankfurter Goethe-Museum, Frankfurt a. M. / Basel 2008, S. 263.

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bestimmte Informationen enthalten, und andererseits so viele Korrespondenten wie möglich an seinen „schönen Tagen in Aranjuez“ teilhaben zu lassen – wird durch die gleichzeitige Abfassung von Rund- und Einzelbriefen gelöst. Die Zirkularbriefe werden einem sich auch untereinander kennenden Personenkreis zugeschickt. Die Einzelbriefe sind auf den jeweiligen Empfänger in Form und Inhalt zugeschnitten, sie vermeiden bestimmte Themen oder liefern zusätzliche, nur für den Adressaten relevante Informationen, folgen aber in der Übermittlung der Fakten den „Gesamtbriefen“. Es gibt Briefe an Einzelpersonen, gegen deren vorsichtige Weiterreichung Voß nichts einzuwenden hat, es gibt aber auch einige, deren Ton auf ihren exklusiven Charakter deutet. Betrachtet man die Briefe aus Heidelberg unter dem Aspekt der Urheberschaft, so verwendet Voß entweder Texte, die bei Vorhandensein technischer Möglichkeiten als Kopien verbreitet worden wären – man denke an die in England üblichen c h r i s t m a s l e t t e r s  –, oder er verschickt handsignierte Einzelbriefe, die die Aura des Originalen und Exklusiven bewahren und direkte Zugewandtheit signalisieren. Was seinen Zweck betrifft, so ist der Rundbrief einer gedruckten Kopie gleichgestellt: viele Menschen lesen ein und denselben Text. Bei den in der Ausgestaltung variierenden, aber in der Summe von den selben Geschehnissen handelnden Einzelbriefen stellt sich die spannende Frage, in welchem Maße sich einzelne Textpassagen gleichen. Bei Voß finden wir abgeschriebene, also eins zu eins aus anderen Kontexten kopierte Abschnitte, wie das an Jean Paul verliehene Diplom. Bei Schilderungen, die leichte Abweichungen aufweisen, funktioniert in den Voß’schen Korrespondenzen das copy & paste weniger schreibtechnisch, sondern, so meine These, eher mnemotechnisch. Die „Zwischenablage“, die beim computerbasierten copy & paste die identische Verwendung von Textbausteinen garantiert, ist beim Abfassen von Briefen die Erinnerung – ein Erlebnisreservoir, dessen Inhalte bei Abruf und Einsatz immer von verschiedenen Faktoren eingefärbt werden: von der Stimmung des Absenders, der Beziehung zum Empfänger, von überlagernden Ereignissen, der momentanen Bedeutung des zu Sagenden etc. Auch wenn kopierbare E-Mails und per Tastaturbefehl vervielfältigte Dokumente das mühevolle Abschreiben obsolet werden ließen und manche Probleme des herkömmlichen Briefversands lösten, wie etwa die Tatsache, dass bei Absendung des Briefs dieser für den Schreibenden verloren ist, so er nicht eine Kopie für sich selbst anfertigt, so fehlt diesen technischen und medialen Möglichkeiten eine Komponente, die Heinrich Voß mit seinen der jeweiligen Situation und dem jeweiligen Zweck angepassten Korrespondenzweisen kreativ handzuhaben vermochte: Er konnte persönliche Nähe zu seinem Gegenüber herstellen, indem er jedem einzelnen Empfänger Privatheit suggerierte, aber dennoch den gleichen Lektüreinhalt bot. Diese Nähe basiert auf dem von Voß geschickt inszenierten Zusammenspiel von Serialität und Variabilität, das sich in seinen Briefen wohl selten so anschaulich wie bei seinen Schilderungen des Aussehens von Jean Paul zeigt. Voß schneidet die Beschreibung des Angebeteten 110

„Sei vorsichtig mit diesem Briefe […].Es ist ein Privatbrief.“

auf die jeweiligen Adressaten zu, er bringt ihnen Jean Paul nahe und versucht, die eigene Begeisterung seinen Korrespondenten mitzuteilen. Durch minimale Variation der Zutaten lässt er die Briefempfänger an eine Exklusivität der Darstellung glauben. So wird den Eltern am 7. Juli 1817 Jean Paul als ein Mensch beschrieben, der auch ihr Nachbar in Eutin hätte gewesen sein können. „Er hat die Größe und den Wuchs vom Maurermeister Abel, dem er auch ähnelt, und erinnert auf eine wunderbare Weise an den Vollmacht Piehl, daß es mir manchmal rührend ist, ihn anzusehn.“55 Im Zirkularbrief an Truchseß, der wohl noch etliche weitere Leser fand, wird dagegen auf die Nennung einer mit Jean Paul vergleichbaren Person verzichtet, stattdessen fokussiert sich Voß auf die Beschreibung von Jean Pauls Gesichtszügen: Von Form u. Wuchs ist J. P., wie jeder andre ehrliche Filister, aber sein Auge – nein, so ein Auge, das hat Gott nur in der höchsten Begeisterung erschaffen können; u. welche Biederkeit, Rechtlichkeit, innige Herzlichkeit ruht auf s. Zügen, besonders, wenn er bei Anhörung von etwas Schönem u. Edlem lächelt! Um dies Lächeln müßten ihn die Engel im Himmel beneiden.56

Für den Freund Abeken, der später mehrere Bücher über Goethe verfassen wird,57 stellt er Jean Paul – zumindest was Figur und Aussehen betrifft – auf eine Vollkommenheitsstufe mit dem Weimarer Dichterfürsten: Er ist von Gestalt vollkommen wie Göthe, vielleicht etwas stärker, sein Gesicht ist nicht ganz so ausdrucksvolle, aber sein Auge  – nein, das konnte Gott nur in der höchsten Begeisterung schaffen! und welch ein Ausdruck von Rechtlichkeit und Biederkeit, und freundlicher Gutmüthigkeit ruht auf seinen Zügen, wo manchmal ein Lächeln sichtbar wird, um das ihn die Engel im Himmel beneiden könnten.58

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Heinrich Voß an Johann Heinrich und Ernestine Voß sowie an Heinrich Boie, 7. Juli 1817 (Anm. 31); vgl. auch Bäte, Kranz (Anm. 16), S. 13. Der Brief ist in der Handschrift irrtümlich auf den 3. Juli datiert, auch der Druck übernahm den Fehler; Jean Paul kam aber erst am 6. Juli in Heidelberg an. Vgl. Heinrich Voß an Christian Truchseß von Wetzhausen, 9. bis 19. Juli 1817 (Anm. 24) bzw. Berend, Persönlichkeit (Anm. 12), Nr. 208, S. 161. Ein Stück aus Goethe’s Leben zum Verständniß einzelner Werke desselben, Berlin 1845; Goethe in den Jahren 1771 bis 1775, Hannover 1861 sowie die von Adolf Heuermann postum herausgegebene Sammlung: Goethe in meinem Leben. Erinnerungen und Betrachtungen von Bernhard Rudolf Abeken. Nebst weiteren Mittheilungen über Goethe, Schiller, Wieland und ihre Zeit, Weimar 1904. Heinrich Voß an Bernhard Rudolf Abeken, 1. bis 21. Juli 1817 (Anm. 2).

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Michael Rölcke

Zu guter Letzt wird der neue Freund auch Friedrich Karl Wolff vorgestellt. „Von Wuchs und Leibesgestalt“ sieht er nun „ungefähr wie L e o p o l d S t o l b e r g “ 59 aus, doch etwas größer und stärker; von Gesicht nicht so regelmäßig schön, aber bei Weitem ausdrucksvoller durch eine hohe, gewölbte Stirn, durch ein helles Auge, das Gott nur in der höchsten Begeisterung schaffen konnte, durch ein wahrhaft holdseliges Lächeln, um das ihn der seligste Engel beneiden könnte.60

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Der Dichter und Übersetzer Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg (1750–1819), der Voß’ Vater Johann Heinrich eine Stellung als Rektor in Eutin verschaffte und sich mit diesem nach seinem Übertritt zum Katholizismus heftig befehdete. Heinrich Voß an Friedrich Karl Wolff, Anfang August 1817, (Anm. 28), S. 443.

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‚Plötzlichkeit‘ und ‚Latenz‘ Eigenzeiten des Epistolaren in Ludwig Tiecks Korrespondenz und im Instant Messaging Jochen Strobel

Briefe entstehen in der astronomischen und in der historischen Zeit; sie tragen also einen Zeitstempel, sind grundsätzlich datierbar, wenngleich sie häufig undatiert sind.1 Viele Briefe erreichen ihre Zwecke (und ermöglichen Relektüren) nicht zuletzt, weil sie als adressierte Objekte und Texte diesen Zeitstempel, vielleicht auch einen Poststempel, einen Eingangs- und Antwortstempel, überliefern. Briefe konstituieren und strukturieren darüber hinaus Zeit, inklusive Ebenen der von Helga Nowotny definierten, (kommunikations)technologisch bedingten Eigenzeit.2 Sie enthalten narrative Passagen, sie kennen ein erzählendes sowie ein erzähltes Ich und dessen Zeit, sie können sich wechselseitig aufeinander beziehen, auch machen sie die wichtigen Speicher- und Übertragungsmodalitäten zum Thema.3 Eigenzeiten sind im Kontinuum einer modernen synchronisierten Weltzeit Ausnahmen, Abweichungen und Ausbruchsversuche. Laut Nowotny stecken die „Sehnsucht nach dem Augenblick“ dahinter und ein „Bestreben, einen Bruchteil an Eigenzeit verwirklichen zu können“.4 So wurden schon in der Zeit um 1800 dem Bewusstsein, „in einer pluritemporalen Gegenwart“ der „Gleichzeitigkeit verschiedener Zeiten“ zu leben, Versuche einer „Gegentendenz zur Entzeitlichung“ in der ästhetischen Theorie bei

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Norman Kasper, Jana Kittelmann, Jochen Strobel, Robert Vellusig, Geschichte und Geschichtlichkeit des Briefs. Zur Einführung, in: Dies. (Hrsg.), Die Geschichtlichkeit des Briefs. Kontinuität und Wandel einer Kommunikationsform, Berlin  / Boston 2021, S.  1–20. Open Access: [3.2.2022]. Vgl. Helga Nowotny, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt a. M. 1989. Vgl. das DFG-Schwerpunktprogramm „Ästhetische Eigenzeiten“, [3.2.2022]. Vgl. Verf., Narratologie des Briefs, in: Marie Isabel Matthews-Schlinzig, Jörg Schuster, Gesa Steinbrink, Jochen Strobel (Hrsg.), Handbuch Brief. Bd. 1, Berlin / Boston 2020, S. 300–321, hier S. 313f. Nowotny, Eigenzeit (Anm. 2), S. 135.

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Jochen Strobel

Schelling oder Schiller entgegengehalten.5 Was dem einen die entzeitlichende Temporalität ästhetischer Form ist, sind dem anderen Explosionen des Plötzlichen – beides verheißt den Ausstieg aus der Gefangenschaft in einer normierten, allgemeinen Zeit. Im Grunde gilt für analoges Briefeschreiben genau wie für digitales Korrespondieren und Chatten der „Phasenverzug“6 oder, wie es Konrad Ehlich formuliert hat: „Die Sprechsituation […] wird zerdehnt.“7 Dies hängt freilich u. a. von Qualität und Dauer der Übertragung ab, die neben der Frequenz (dem Rhythmus von Impuls und Nicht-Impuls) und den Intentionen der Beteiligten für die briefliche Eigenzeit verantwortlich gemacht werden können: ‚Warten8 auf Post‘, und sei es für Sekunden, gehört nach wie vor dazu. Von Zeitordnungen des Briefs und des Instant Messenger Service ist hier also die Rede. Ein durch Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge publizierter Gesprächsband wird auf die Plausibilität seiner Selbstbeschreibung als Protokoll eines Messenger-Chats hin befragt (I). Sodann werden Überlegungen zu den Zeitordnungen des Instant Messaging, verstanden als ‚digitale‘ Epistolarität, angestellt (II). Die dem digitalen Kommunizieren eigenen temporalen Phänomene der Latenz, des Wartens und Schweigens einerseits, des plötzlichen Eintreffens einer Sendung andererseits, werden anschließend mittels zweier Beispiele analog aufgesucht in Tiecks Briefen, die das Erleben katastrophischer und epiphanischer Plötzlichkeit jeweils autobiographisch erzählen (III). Doch bereits Tieck gelingt es, Latenz und Plötzlichkeit in der Briefkommunikation selbst zu praktizieren, indem er seinem Verleger Brockhaus mit der Ankündigung und der Versendung von Briefen und Manuskripten seine schöpferische Eigenzeit aufoktroyiert (IV), in Folge derer er munter Deadlines ignoriert und Versprochenes immer wieder aufschiebt. Ein Schlusskapitel macht resümierend den Argumentationsgang noch einmal bewusst: eine aus der Beobachtung sozialer Medien von heute gewonnene Hypothese (Wechsel von Latenz und Plötzlichkeit) wird zunächst als Motiv in Briefen der Zeit um 1800 verfolgt und mit dem (begriffsgeschichtlich verzweigten) ästhetischen Konzept des Erhabenen in Verbindung gebracht, dann von der narrativen auf die mediale Ebene von Tiecks Korrespondieren übertragen und schließlich, wiederum unter dem Rubrum des Erhabenen,

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Peter Neumann, Entzeitlichung. Zur Temporalität der reinen ästhetischen Form, in: Torsten Hahn, Nicolas Pethes (Hrsg.), Formästhetiken und Formen der Literatur. Materialität – Ornament – Codierung, Bielefeld 2020, S. 61–77, hier S. 62f. Peter Bürgel, Der Privatbrief. Entwurf eines heuristischen Modells, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Jg. 50, 1976, S. 281–297. Konrad Ehlich, Eine kurze Pragmatik des Briefs, in: Hanna Delf von Wolzogen, Rainer Falk (Hrsg.), Fontanes Briefe, Würzburg 2014, S. 14–35, hier S. 19. Vgl. zum zeitkonstitutiven Phänomen des Wartens in der mobilen digitalen Kommunikation: Gerd Sebald, „Loading, please wait“ – Temporality and (Bodily) Presence in Mobile Digital Communication, in: Time & Society, 29, 4, 2020, S. 990–1008, [4.2.2022].

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‚Plötzlichkeit‘ und ‚Latenz‘

in einem Analogieschluss auf die Praxis des Instant Messaging im 21. Jahrhundert projiziert (V).

1 WhatsApp – als Buch? (v. Schirach, Kluge 2020) Am 27.4.2020, also noch mitten in der 1. Welle der Corona-Pandemie, erscheint das Bändchen Trotzdem, gemeinsam verfasst von Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge. Man liest dort: Am 30. März 2020, 19 Tage nachdem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Ausbreitung eines neuartigen Coronavirus (SARS-CoV-2) zu einer Pandemie erklärt hatte, führten Alexander Kluge (München) und Ferdinand von Schirach (Berlin) zwei Gespräche über einen Instant-Messaging-Dienst.9

Der zweifellos sorgfältig redigierte, keinerlei Züge eines spontan abgelaufenen Chats aufweisende Text enthält nur teilweise dialogisch wirkende Reflexionen zum Ursprung von Corona und zu Gegenmaßnahmen, doch den beiden Verfassern werden alle Textpassagen alternierend in den Mund gelegt. Nur partiell folgt das Buch der von Kluge seit Jahrzehnten bekannten Poetik des genuin mündlichen, maieutischen10 Dialogs, des medienöffentlich übertragenen Gesprächs.11 Die Reflexionen über „Shutdown“, „Durchseuchung“ und „Triage“12  – die Sprache des März 2020 – münden zunehmend in eine Art Bühnendialog in moraldidaktischer Absicht, bei dem die beiden Sprecher einander die Bälle zuspielen und historisches Wissen ausbreiten, als läsen sie aus ein und demselben Buch vor. Sie nehmen damit aber einen Rededuktus auf, den sie in dem 2017 erschienenen, ähnlich strukturierten Band Die Herzlichkeit der Vernunft vorgeprägt hatten. Tummelt man sich dort in der „Spur großer Geister“13 seit Sokrates, so gibt der Band einen Lehrer-Schüler- oder auch Vater-Sohn-Dialog zwischen Kluge und von Schirach. Dann wieder flüstert der Ältere dem Jüngeren nur die Stichworte ein für einen recht stringenten, aber artifiziell wirkenden (Bühnen-)Text, der auf zwei Sprechrollen verteilt zu sein scheint. Philosophiegeschichtliches Wissen ist offenbar recherchiert worden, juristisches Fachwissen verbindet beide Gesprächspartner von vornherein ebenso wie die Neigung zu Moraldidaxe. 9 10

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Ferdinand von Schirach, Alexander Kluge, Trotzdem, München, 72020, S. 7. Vgl. Christian Schulte, Alles, was Menschen in Bewegung setzt. Dialogische Autorschaft bei Alexander Kluge, in: Pitanga lectures 2001–2006 = Maske und Kothurn 52 (2006), Wien 2007, S. 105–114, hier S. 105. Vgl. Christian Schulte, Winfried Siebers, Valentin Mertes, Stefanie Schmitt (Hrsg.), Formenwelt des Dialogs. Alexander Kluge Jahrbuch 3 (2016). v. Schirach, Kluge, Trotzdem (Anm. 9), S. 12, 13, 19. Ferdinand von Schirach, Alexander Kluge, Die Herzlichkeit der Vernunft, München 82017, S. 5.

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Jochen Strobel

Doch kokettiert Trotzdem im Unterschied zum Vorgänger mit zeitnahem Erscheinen. Gleichwohl wendet Uwe Wittstock in Focus ein: „Überlegungen zur Pandemie gehören zu den leicht verderblichen Waren. Was am 30. März noch überraschend war, kann vier Wochen später ein alter Hut sein.“14 Dass der angebliche Dialog via ‚WhatsApp‘ (oder einem vergleichbaren Dienst) nach vier Wochen als E-Book und kurz darauf als Hardcover vorliegt, darf, zumal unter den Bedingungen der Pandemie, als sensationell gelten – als ein Beleg für beschleunigte Buchproduktion in jedem Fall. Allerdings haben wir uns an wesentlich kürzere Frequenzen von Rede und Gegenrede gewöhnt und natürlich auch daran, dass wir einen Chat in Echtzeit mitlesen, nicht verzögert. Lukas R. schreibt auf „Amazon“ über seinen Lieblingsautor von Schirach: Mit dem neuen Werk werde ich leider überhaupt nicht warm. Ein „Gespräch über einen Instant Messenger“? Es liest sich leider gar nicht so, als hätte dieses Gespräch über einen Messenger stattgefunden (sei mal dahin gestellt ob es so war oder nicht).15

Was genau macht die quasi-epistolare Entstehungssituation so unglaubwürdig? Der Eindruck von einem rasch veraltenden Text legt den ein neues Zeitgefühl ausbildenden Charakter der Pandemie offen – mehr noch ist Chatten an hohe Geschwindigkeit und Aktualität des Austauschs geknüpft, während es sich hier wiederum um einen thematisch und rhetorisch gut durchkomponierten Text handelt, der weder Überraschungen bietet noch die besagten Zeitstempel trägt. Die Datierung „Montag, der 30.03.2020  – vormittags“16 erscheint reichlich unpräzise. Der nicht enden wollenden Gegenwart der Pandemie entspricht freilich doch die Künstlichkeit des ‚Dialogs‘, der die Empfindung einer Lähmung aufnimmt, und Schirachs Bekunden, sich selbst nicht an den Sozialen Medien zu beteiligen (was eine Ironisierung der Authentizitätsbehauptung bereits einschließt),17 unterstützt diesen Eindruck einer Verdauerung: Kluge: Was tun Sie in diesen Zeiten? Schirach: Ich fahre nachts oft stundenlang durch das leere Berlin, diesen Anblick werde ich nie wieder vergessen. Die leeren Plätze, die dunklen Restaurants und Cafés, kaum Autos, manchmal ein Polizeiwagen, dann wieder Stille.18

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Uwe Wittstock, Könnten bitte alle mal über mein Wohlbefinden nachdenken!, in: Focus, H. 19 (2020) vom 2. Mai 2020, S. 76. Vgl. [7.2.2022]. v. Schirach, Kluge, Trotzdem (Anm. 9), S. 9. Vgl. ebd. S. 40. Ebd. S. 38.

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‚Plötzlichkeit‘ und ‚Latenz‘

Die Geregeltheit des Dialogs steht im Widerspruch zur Einsicht in den bereits eingetretenen Zeitbruch, als legte es der reale Horror nahe, dem digitalen ‚Briefwechsel‘ jene Härten zu nehmen, die das Korrespondieren stets aus der Sicherheit von Frage und Antwort heraushob, nämlich die Abfolge aus Latenz und Plötzlichkeit. Das so rasch erschienene Buch ist ein Produkt unglaubwürdiger E n t schleunigung, denn es setzt den konzeptuell mündlichen Dialog als kumulativen, nicht als Wechselrede, g e g e n die Praxis der Kommunikation via Messenger Services, also jener Nachfahren des trotz anderslautender Behauptungen seit der antiken Brieftheorie19 nie wirklich dialogisch funktionierenden Briefverkehrs, deren Übertragungsmodus in Beinahe-Echtzeit zwei auch ästhetisch wirkungsvolle Optionen kennt: das plötzliche Eintreffen längst erwarteter Nachrichten und die mitunter quälende Latenz, die auf dem bewussten Schweigen des fernen, der eigenen Beobachtung, gar Kontrolle entzogenen Gegenübers oder der technisch bedingten Übertragungsdauer beruhen könnte. Das sind zwei nicht neue Effekte brieflichen Kommunizierens, doch virulent werden sie erst dann, wenn eins von beidem jederzeit eintreten kann, wenn sekündlich eine Nachricht eingehen kann – im Zeichen digitaler Beschleunigung. Fehlt dieses Spiel und fehlt zudem jegliches Überraschende, dann wird, wie bei Schirach und Kluge, der Dialog zur vielleicht sogar freiwilligen Parodie. Die „Zeitwende“20 kommt allzu harmlos daher: „Und jetzt plötzlich: Nichts stimmt mehr. Das, was wir für den sicheren Grund hielten, ist weggebrochen.“21 Der Text misslingt, weil er die passende Form nicht findet und gerade in seinem Aktualitätspathos etwas über Briefe aussagt, nämlich – mit Ehlich: „Der Brief ermöglicht und befördert die kommunikative Fälschung.“22

2 Zeitordnungen digitaler Epistolarität heute Im Instant Messaging sind bis auf Unikalität des Materialen alle Merkmale des alten Briefs erhalten, viele aber sind neu skaliert; so kann der Phasenverzug zumindest in technischer Hinsicht gegen Null gehen. Hier soll es allein um Zeitmodellierung gehen und vor allem um Fragen, die die Übertragungsfunktion betreffen, weniger die Speicherung. ‚Epistolar‘ im Titel dieses Beitrags meint, dass Briefkommunikation und Instant Messaging  – als Textnachricht,23 also diesseits der sehr beliebt gewordenen Sprachnachricht – ähnlich funktionieren.

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Vgl. Wolfgang G. Müller, Art. „Brief“, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 60–76, hier Sp. 61f. v. Schirach, Kluge, Trotzdem (Anm. 9), S. 58. Ebd. Ehlich, Pragmatik (Anm. 7), S. 17. Vgl. [4.2.2022].

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Stichworte hierzu lauten: mediale Distanzkommunikation mit Speicher- und Übertragungsleistung; Zeitverzug; grundsätzlich Reziprozität von Adressieren  / Senden und Empfangen; Benennbarkeit von Absender:in, Adressat:in, Datierung und Verortung.24 Dass die Kommunikation über Soziale Medien mindestens genauso viele Manipulationsmöglichkeiten bietet wie der alte Briefverkehr, liegt auf der Hand. Die technischen Übertragungsmodalitäten heute sind ebenso manipulierbar wie die gute alte Post mit ihren geregelten Posttagen und Laufwegen von der Zensur negativ beeinflusst wurde – zudem gingen Briefe immer schon unterwegs mitunter verloren, verzögerte sich ihre Auslieferung. An solchen Regularien wie Irregularitäten zeigt sich, dass die Teilhabe an einer Kultur des Briefs Lebenszeit strukturieren konnte, etwa in Gestalt langjähriger, regelmäßig gepflegter Korrespondenzen oder einfach regelmäßigen Korrespondierens als herausgehobener Alltagspraxis. Im 18. und 19. Jahrhundert ist diese Temporalität des Briefs ganz wesentlich von den Posttagen (ein- bis zweimal pro Woche etwa) abhängig, auf diese Tage hin werden Briefe perspektiviert. Im Instant Messaging gehen maximale Beschleunigung durch das ‚Push‘-Verfahren und Manipulierbarkeit (durch verzögerte Antwort etwa), auch: die Kontrollierbarkeit des Korrespondenzpartners, einher und übertünchen in der Wahrnehmung möglicherweise die Botschaft oder werden als Botschaft wahrgenommen. Sicherheitsbedenken hinsichtlich des Produkts ‚WhatsApp‘25 wurden durch eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zu entkräften versucht. Die Verschlüsselung ist allerdings, ähnlich wie die Zwischenspeicherung durch den Server des Unternehmens, ein (minimal) verzögernder Vorgang.26 Doch ist Internet-Kommunikation grundsätzlich nicht gleichzeitig, da vor der Übertragung eine Speicherung notwendig ist.27 Oft diskutiert wird die These, Online-Kommunikation mit Echtzeitanspruch führe zu Entzeitlichung, etwa zu einer Verewigung des Augenblicks in einer endlosen Gegenwart.28 Hiergegen 24

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Letzteres spielt in der Online-Kommunikation eine geringe Rolle, doch ist auch diese Kommunikation ‚verkörpert‘, verlangt sie einen Körpereinsatz der Beteiligten. Körper sind an Räume und an Orte gebunden. Vgl. [4.2.2022]. Vgl. die Ausführungen des Unternehmens selbst: whatsApp, whatsApp Encryption Overview. Version 6 (November  15,  2021), [15.7.2022]. Vgl. hierzu und auch grundsätzlich zu Zeitrelationen in digitaler Kommunikation: T. Andrew Finn, The Role of Temporality in Mediated Communication and Technology Convergence, in: Information, Communication & Society, 2, 2 (1999), S. 174–200, hier S. 181–183, [4.2.2022]. Vgl. Michael Civin, The Instant message. Moments in and out of Time, in: a  / b Auto  / Biography Studies, 21,  1  (2006), S.  20–31, hier S.  22, [4.2.2022].  – Grundsätzlich u.  a. zum Echtzeitversprechen und zu universaler Zugänglichkeit des

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sprechen vielfältige ‚Störfaktoren‘, sei es der langfristig nicht zu umgehende Dualismus aus Online-Kommunikation und analogem Leben, seien es beispielsweise Optionen des Erzählens im digitalen Medium29 oder sei es ein Messenger wie Snapchat, dessen geteilte Daten nach kurzer Zeit verschwinden. Die von Snapchat evozierte Zeit-Erfahrung ist die des Ephemeren und, im Nachhinein, des Verlusts, schließlich der Beschränkung auf Mnemotechnik. Als Kommunikationsform auf Distanz ist der Brief mit der Möglichkeit behaftet, dass eine Botschaft nicht ankommt und dass sie nicht erwidert wird  – im Zuge beschleunigter und manipulierbarer digitaler Korrespondenz ist die Frage nach der Ursache der Latenz, also des Zeitraums zwischen Reiz und Reaktion, 30 vielleicht: des Schweigens, immer wieder, ja minütlich, zu stellen; die Unsicherheit brieflichen Kommunizierens lässt sich verabsolutieren. Jederzeit kann eine Nachricht eintreffen und jede kann die letzte sein. Gerade deswegen ist die Latenz vor dem Eingang einer Nachricht ein möglicherweise besonders intensiv empfundenes, sich ausdehnendes Intervall. Vom mündlichen Dialog unterscheidet sich der Chat via Messenger Service u. a. durch Variabilität der Latenz: der Chat kann unterbrochen und nach langer Zeit (z. B. einem Tag) fortgesetzt werden – aus sowohl technisch als auch durch menschliche Nachlässigkeit oder Entscheidung bedingter Verzögerung erwächst auch sein Überraschungspotenzial. Dies verbindet den Brief mit dem Instant Messenging. Die technische Latenz ist physikalisch erklärbar, 31 aber heute für den User oft nicht mehr spürbar. Latenz oder, wie es der Soziologe Gerd Sebald nennt: das Warten, ist ein Sensor für die temporale Struktur des Kommunizierens generell: „a purely temporal projection into the future that is derived from past procedures and processes“,32 also eine Vorrichtung, die Vergangen-

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Digitalen als Entzeitlichungsphänomen vgl. Bruno Bachimont, Availability and the Transformation of Objects into Heritage. Digital technology and the Passing of Time, in: Bernadette Dufrêne (Hrsg.), Heritage and Digital Humanities. How should Training Practices Evolve?, Berlin 2014, S. 49–70. Vgl. Serge Bouchardon, Erika Fülöp, Digital Narrative and Temporality, in: A. Mitchell, M. Vosmeer (Hrsg.), Interactive Storytelling. ICIDS 2021. Lecture Notes in Computer Science, vol. 13138, Cham 2021, [4.2.2022]. Vgl. Hugo Schwarze u. a., Art. „Latenz“, in: Werner Fuchs-Heinritz u. a. (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie, Wiesbaden 52011, S. 395. In der digitalen Kommunikation gilt: „Latency is the time between when a user makes a request to when the website or application responds to the request. […] The major effects on latency include network connection, network hardware, distance, and bandwidth congestion.“, [4.2.2022]  – „[…], every physical system with any physical separation (distance) between cause and effect will experience some sort of latency, regardless of the nature of the stimulation at which it has been exposed to.“, [4.2.2022]. Sebald, Loading (Anm. 8), S. 994.

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heit, (nur vermeintlich unendlich gedehnte) Gegenwart und Zukunft verschaltet. Die Zeit als soziales Regulationsphänomen trifft hier auf eine Unkontrollierbarkeit, die für alle Beteiligten gilt, obgleich sich hier auch Ungleichheiten, Machtunterschiede und folglich auch unterschiedliches Zeitempfinden zeigen.33 Beharrlich befördern Bedienfunktionen der App die Hoffnung, eine Antwort möge bald eintreffen, d. h. das allgemein kommunikative Phänomen des Wartens wird dem User nur allzu bewusst gemacht. So lässt sich herausfinden (oder auch nicht), wann das Gegenüber zuletzt online war (der „zuletzt online“-Stempel kann entfernt werden, er gibt aber nicht darüber Auskunft, ob der Adressat speziell a u c h die Nachrichten des Absenders gelesen hat). Es lässt sich (vielleicht) klären, ob und gegebenenfalls wann das Gegenüber die eigenen Nachrichten empfangen und gelesen hat – der ‚blaue Doppelpfeil‘, also die Lesebestätigung, kann unterdrückt werden. Der Absender unterscheidet, wer seine Broadcasts (Statusmeldungen) sehen kann, dies wird ihm gemeldet; doch wer sie ansieht, kann diese Mitteilung an den Absender auch unterdrücken. Das Display des eigenen Endgerätes kann dem Eintreffen wichtiger Nachrichten visuelle und akustische Emphase verleihen. Diverse Bedienfunktionen dienen der wechselseitigen Kontrolle, aber auch wieder dem Verschleiern der Information, ob das Gegenüber (noch) am Chat teilnimmt oder etwa den Kontakt des Absenders blockiert hat. Fragen, die sich Absender von Briefen seit Jahrhunderten stellten, werden also vervielfältigt, verfeinert und zumindest in ihrer Frequenz intensiviert. Es entsteht im schlimmsten Fall eine wechselseitige psychische Abhängigkeit, eine kollusiv34 (also komplizenhaft) zu nennende kommunikative Beziehung. Gemeint ist also die mit einer Art Krankheitsgewinn verbundene Fortsetzung einer vielleicht vorrangig auf dem Tausch von Nachrichten beruhenden Beziehung, deren Lust und Last auf dem bald wieder verspielten Vorteil der eingegangenen oder auch der abgeschickten Nachricht gründet – bald wieder verspielt ist dabei jeglicher Gewinn, da das Spiel Tag und Nacht weitergeht: Das Quälende der zur Waffe umfunktionierten Kommunikation über Facebook oder Messenger ist, dass der Absender einer Nachricht in der Regel sieht, ob der Empfänger sie erhalten hat – kommt keine Antwort, wiegt das Gefühl der Erniedrigung um so schwerer. […] Das Ignoriertwerden kann sich bis zum G h o s t i n g steigern – der andere verschwindet wie ein Geist, ohne ein Wort der Erklärung, und blockiert den Expartner auf sämtlichen Plattformen.35 33 34

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Vgl. ebd. S. 996–999. Vgl. zu diesem kulturwissenschaftlich fruchtbaren, aus der Paartherapie stammenden Begriff im deutschsprachigen Raum erstmals: Jürg Willi, Die Zweierbeziehung. Spannungsursachen  – Störungsmuster – Klärungsprozesse – Lösungsmodelle, Reinbek 1975 [u. ö.]. Melanie Mühl, Gefangen in einem Spinnennetz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.1.2019, S. 13.

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Die traurigen Blicke der Zeitgenossen auf das Handy-Display zeugen vermutlich häufiger von der L a t e n z des Dialogs als von p l ö t z l i c h erhaltenen Nachrichten. Aufgrund dieser möglichen Plötzlichkeit kann der in einer oszillativen Spannung Begriffene wieder und wieder das Schweigen des Gegenübers beklagen (obwohl dieses gerade wieder ‚online‘ war) und als vielleicht endgültigen Kommunikationsabbruch perhorreszieren. Bei hoher Briefzustellfrequenz (mehrmals täglich) konnte schon Franz Kafka seinen Briefwechsel mit Felice Bauer zeitlich genau kalkulieren, wenngleich postbedingte Störungen und unterstellter Unwille der Korrespondentin ihm gleichermaßen die Hölle auf Erden bereiteten: „So stellen die Pausen das Subjekt in Frage.“36 Mit der hier skizzierten technisch, vor allem aber psychologisch begründeten Modellierung epistolarer Eigenzeit als Plötzlichkeit und als quälende Dauer der Latenz sind aber ästhetische Zustände bezeichnet, die ins 18.  Jahrhundert zurückführen, dessen reiche briefliche Überlieferung, im Unterschied zu den Briefromanen,37 wenig daraufhin untersucht wurde. Karl Heinz Bohrer verweist das Plötzliche als ästhetische Epiphanie an den Beginn der Frühromantik und macht daran die „für das moderne literarische Bewußtsein so zentrale Kategorie von radikaler Verzeitlichung“ fest.38 Mit den von ihm herangezogenen frühromantischen Fragmenten hat eine Folge von Briefen immerhin eine Ästhetik der Iteration, die nicht-identische Wiederholung trotz Reihenbildung, gemeinsam, in jedem Fall eine Subjektivierung von Zeit. Der gefährliche Augenblick überragt jede „Kontinuität des Zeitbewußtseins“39. Insofern der Blitzschlag der eintreffenden Nachricht immer noch Distanzkommunikation und vermutlich schnell durch neue Eindrücke überlagert ist, könnten retrospektiv die angenehmen Empfindungen überwiegen, also etwa Spannungsmomente, auch wenn sich die gefährlichen Augenblicke häufen sollten. Wohlgemerkt ging es bisher um ‚Latenz‘ und ‚Plötzlichkeit‘ als Effekte technischer Features der ‚Bedienung‘ und damit korrelierten Praktiken des Prozedierens von Sendung und Empfang, nicht um Aussagen von (Brief-) Texten.

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Bernhard Siegert, Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post. 1751–1913, Berlin 1993, S. 275. Vgl. zuletzt, u. a. zum Werther: John Matthew Koster, Goethe and the Sublime, Diss. Toronto 2013, [8.2.2022]. Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a. M. 1981 u. ö., S. 21. Ebd. S. 43.

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3 ‚Plötzlichkeit‘ (und Latenz) im Brief (Tieck an Wackenroder 1792; Tieck an v. Lüttichau 1853) Ludwig Tieck war und beschrieb sich selbst als langsamer, säumiger Briefschreiber. Von Plötzlichkeit in der Korrespondenz kann, so mag man meinen, bei ihm zu allerletzt die Rede sein. Mindestens 2800 Briefe von und an Tieck sind uns bekannt, zu den Verzeitlichungsstrategien seiner Korrespondenz gehört narrativ und pragmatisch die romantische Gedächtnispolitik.40 Verdauerung – dies können Briefe als Objekte und als Texte aufgrund ihrer Speicherbarkeit leisten. Geplant war neben der posthum unter dem Namen Rudolf Köpke erschienenen Quasi-Autobiographie in späten Jahren auch eine Auswahledition seiner weit über 2500  Stücke zählenden Briefsammlung, die u. a. als Antwort auf die Briefeditionen des späten Goethe hätte dienlich sein können.41 Nur ganz selten agiert Tieck ästhetische Empfindungen im Brief aus: auf zwei berühmte Stellen wird in der Folge eingegangen, die, aus sicherer Distanz, selbst schon ihre Wirkung auf den Adressaten und die Adressatin kalkulieren. Erzählt werden ein katastrophischer und ein epiphanischer Moment außerhalb der Zeitordnung; doch das Erlebnis als ganzes ist längst historisch geworden, Plötzlichkeit ist eingehegt im resümierenden autobiographischen Erzählen. Der junge Briefschreiber Tieck hatte nicht nur Briefromane gelesen, sondern schickte sich Anfang der 1790er Jahre an selbst einen zu schreiben, in dem in Briefen immer wieder erzählt werden musste: Auch in William Lovell spielt Verzeitlichung als Erfahrung von Diskontinuität eine Rolle, das hat Manfred Frank mit seiner These vom Umschlag eines präreflexiven Bewusstseins in eine ständigem Wechsel von Wahrnehmung und Stimmung unterworfene Reflexivität umschrieben.42 Frank hob dabei auf Tiecks Stil, seine sprachliche Praxis, nicht etwa auf Medialität und Temporalität des Briefs selbst ab.43 Schon in einem der allerfrühesten überlieferten Briefe, am 29.  Mai  1792 an den Berliner Freund Wackenroder vom Studienort Halle aus gerichtet, erinnert Tieck seinen Freund an die Latenz des Briefeschreibens, daran, dass er n i c h t geschrieben habe:

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Vgl. Jochen Strobel, Ludwig Tieck als Briefschreiber, in: Stefan Scherer, Claudia Stockinger (Hrsg.), Ludwig-Tieck-Handbuch, Berlin / New York 2011, S. 165–176. Vgl. Richard Littlejohns, Die Briefsammlung Ludwig Tiecks. Zur Entstehung eines literaturgeschichtlichen Problems, in: Aurora 47 (1987), S.  159–175; zur Überlieferung vgl. Walter Schmitz, Jochen Strobel, Repertorium der Briefwechsel Ludwig Tiecks. CD-ROM, Dresden 2002. Vgl. Manfred Frank, Das Problem ‚Zeit‘ in der deutschen Romantik. Zeitbewußtsein und Bewußtsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung, Paderborn ²1990. Vgl. ebd. S. 235.

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‚Plötzlichkeit‘ und ‚Latenz‘ Daß ich Dir so lange nicht geschrieben habe, mußt D u schon entschuldigen, da i c h es nicht entschuldigen kann. Ich kann es nicht begreifen, ich denke täglich, stündlich u. augenblicklich an Dich, ich weiß, was ich Dir schreiben will – und doch ist es nicht geschehn.44

Tiecks Schweigen wird thematisiert und damit erst als solches gekennzeichnet – wenngleich nicht legitimiert: das eigentlich notwendige Briefeschreiben sei der Kontrolle des Absenders entzogen  – ein eventueller Kontrollwunsch des Adressaten ist damit abgewehrt. Versichert wird, dass das Schweigen nicht-intentional und nicht endgültig sei. Seit dem letzten (erhaltenen) Brief des Hallenser Studiosus Tieck sind indessen nur wenige Tage vergangen. Wackenroder seinerseits beklagt daraufhin die Heftigkeit der Empfindungen, die aus einem Wechsel von tief enttäuschendem Schweigen und Tiecks intensiver Emotionalität resultierten.45 Gleichsam trotzig antwortet Tiecks Bericht von der kollektiven Lektüre von Grosses Geheimbundroman Der Genius – hier erprobt und erweist sich in einem sehr ausführlichen und wohl auch sehr bewusst konzipierten Schreiben der Erzähler Tieck, dem es aber zuspitzend darauf ankommt, die Heftigkeit der eigenen Emotionen narrativ einzufangen. Hat Tieck in einer Juninacht 1792 seine späterhin weltbekannten Vorleserqualitäten unter Beweis gestellt, so erhebt sich in der Morgendämmerung aus einer erhabenen Stimmung voller Synästhesien in einem plötzlichen Umschlag das Grauen. Das Phantasma der Lektüre wiederholt sich im wirklichen Leben.46 Ich stand gedankenvoll mit dem Arm auf einen Stuhl gelehnt, in jener schönen erhabnen Schwärmerei verlohren, nur für Schönheit empfänglich, süsse Töne wie abgebrochene Gesänge schwärmten um mein träumendes Ohr, rosenfarbene Bilder umgaukelten mich mit blauen Schmetterlingsflügeln, – als plötzlich – noch schaudre ich wenn ich daran denke, noch kann ich die Möglichkeit nicht begreifen – als wie in einem Erdbeben alle diese Empfindungen in mir versanken, alle schöne grünenden Hügel, alle blumenvollen Thäler gingen plözlich unter, und schwarze Nacht und grause Todtenstille, gräßliche Felsen stiegen ernst und furchtbar auf, jeder liebliche Ton wie verweht, Schrecken umflog mich, Schauder die gräßlichsten bliesen mich an, alles ward um mich lebendig, 44

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Ludwig Tieck an Wilhelm Heinrich Wackenroder am 29. Mai 1792, in: Wilhelm Heinrich Wackenroder, Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Silvio Vietta, Richard Littlejohns, Bd. II, hrsg. von Richard Littlejohns, Heidelberg 1991, S. 37–45, hier S. 37. Vgl. Wilhelm Heinrich Wackenroder an Ludwig Tieck am 4. Juni 1792, in: ebd. S. 45f. Darauf weist z. B. Gert Ueding hin: Vgl. Ders., Hanser Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 4, Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution 1789–1815, München / Wien 1987, S. 530.

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Jochen Strobel Schatten jagten sich schrecklich um mich herum […]. Ich war auf einige Sekunden wirklich w a h n s i n n i g .47

‚Erdbeben‘ ist Tiecks Metapher für ein plötzlich eintretendes, unerklärliches und das Subjekt entmächtigendes Ereignis. Detailreich geschildert wird hier ein radikaler Umschwung der Stimmung und der Wahrnehmung, bis hin zu offenbar noch bewusst werdenden Wahnvorstellungen, die sich im Nachhinein mühelos ästhetisieren lassen. Tieck erprobt in diesem (im Original verschollenen, aber 12 Druckseiten ausfüllenden) Brief ein sehr subjektives, den erlittenen Schock beinahe noch unmittelbar auskostendes Erzählen. Tieck-Biograph Roger Paulin weist auf die plötzlichen Stimmungsumschwünge hin, die in den Briefen an Wackenroder geschildert werden, „bald starrt er in den Abgrund, bald traktiert er Wackenroder mit dem Erhabenen“.48 Sind diese frühen Briefe bereits rhetorisch sorgfältig durchkomponiert,49 so trifft dies erst recht auf die späten zu, die bereits auf eine Nachwelt hin literarisiert sind. In seinen letzten Jahren schrieb der 1853 kurz vor dem 80. Geburtstag in Berlin verstorbene Tieck Briefe an die einstige Dresdner Vertraute Ida von Lüttichau, deren Mann als Theaterintendant in den 20er Jahren Tiecks Vorgesetzter gewesen war. Gespeist aus Altersdepression und Einsamkeit folgt Tiecks vermutlich letzter Brief an sie, wenige Wochen vor seinem Tod, einem rousseauhaften Bedürfnis, sich zu bekennen: „[…] meine wahre Trostlosigkeit besteht darin, daß ich mich keinem Menschen recht offenherzig habe entdecken können“. 50 Auf einer Harzwanderung bei Hettstedt (einen Steinwurf von Oberwiederstedt, dem Geburtsort des späteren Freundes Hardenberg, entfernt) erlebte Tieck nach zwei durchwachten Nächten am Morgen des 25. Juni 1792 bei Sonnenaufgang einen Augenblick der – wie er sechzig Jahre später schreibt – „große[n], übernatürliche[n] Verzückung“, eine „Vision“, „lebhafteste[n] Taumel“:51 Nicht lange, so ging die Sonne auf. Aber wo Worte hernehmen, um das nur matt zu schildern, das Wunder, die Erscheinung, welches mir begegnete, und meine Seele, meinen innern Menschen, alle meine Kräfte verwandelte und einem unsichtbaren, einem 47

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Ludwig Tieck an Wilhelm Heinrich Wackenroder am 12. Juni 1792, in: Wackenroder, Historischkritische Ausgabe, Bd. II (Anm. 44), S. 47–58, hier S. 48f. Roger Paulin, Ludwig Tieck, Eine literarische Biographie, München 1988, S. 27. Vgl. ebd. S. 28. Ludwig Tieck an Ida von Lüttichau am 3. Februar 1853, in: Ludwig Tieck und Ida von Lüttichau in ihren Briefen, hrsg. und erklärt von Otto Fiebiger, Dresden 1937, S. 38–40, hier S. 39. Ludwig Tieck an Ida von Lüttichau [o. T.] 1853, in: ebd. S. 41–43, hier S. 42.

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‚Plötzlichkeit‘ und ‚Latenz‘ göttlich großen Unnennbaren entgegen riß und führte. Ein unnennbares Entzücken ergriff mein ganzes Wesen; ich zitterte und ein Thränenstrom, so innig durchdringlich, wie ich ihn nie vergossen hatte, floß aus meinen Augen. Ich mußte stille stehen, um diese Vision ganz zu erleben […]. Wie schon gesagt, dies war der höchste Moment meines ganzen Lebens.52

Hier gleicht das schockartige Herandrängen von Emotionalität in Anschauung der erhabenen Natur einer Epiphanie oder einem mystischen Erleben,53 ja: einer Wiedergeburt, bleibt man Jakob Böhmes Symbol der Morgenröte eingedenk. Nutzte Tieck in seiner letzten Lebenszeit, als er mit dem Adlatus Rudolf Köpke seine Denkwürdigkeiten erarbeitete, seine gesammelte Korrespondenz als Gedächtnisstütze,54 so gelang Köpke mit den beiden dort unmittelbar hintereinander paraphrasierten Briefen ein biographisches Resümee aus konträren romantischen Stimmungen – Horror und Enthusiasmus.55 Abmilderung erfährt dieses Resümee durch die Hereinnahme der Perspektiven der Freunde, die der Genius-Vorlesung lauschten – die Briefe hingegen verlagern fast alles, was auch ‚wirklich‘ geschehen sein könnte, in das Innere des Ich, das jene Exaltationen bis zum Augenblick der Niederschrift – ob Stunden, ob Jahrzehnte danach – am Leben erhielt. In einem sehr frühen Fragment Über das Erhabene, basierend auf gründlicher Lektüre des Architexts des Pseudo-Longin, entstanden 1792  / 93 in Göttingen, hatte sich der werdende Schauerromancier Tieck der am Ende des 18. Jahrhunderts essentiellen Diskussion56 über den Begriff des Erhabenen versichert und dabei quasi-poetologisch definiert: „Eine Menge k l a r e r G e f ü h l e ist das Wesen des Schönen, viele d u n k l e G e f ü h l e der Charakter des S c h r e c kl i c h e n und [dunkle] G e d a n k e n das Zeichen des E r h a b e n e n .“57 Paulin bemerkt zu diesem Text: „Das Schaurige und das Erhabene sind eng verbunden.“58 Tieck selbst greift also in der

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Ebd. Vgl. Thomas Meißner, Erinnerte Romantik. Ludwig Tiecks Phantasus, Würzburg 2007, S. 247. Vgl. Rudolf Köpke, Ludwig Tieck. Erinnerungen aus dem Leben des Dichters nach dessen mündlichen und schriftlichen Mittheilungen. Erster Theil, Leipzig 1855, S. XVf. Vgl. ebd. S. 141–144. Vgl. Carsten Zelle, Angenehmes Grauen. Literaturhistorischer Beitrag zur Ästhetik des Schrecklichen im 18.  Jahrhundert, Hamburg 1987; Jörg Heininger, Art. „Erhaben“, in: Karlheinz Barck u.  a. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd.  2, Studienausgabe, Stuttgart  / Weimar 2001  / 2010, S. 275–310. Ludwig Tieck, Über das Erhabene, in: Ders., Schriften, Bd. 1, 1789–1794, hrsg. von Achim Hölter, Frankfurt a. M. 1991, S. 637–651, hier S. 641. Zu Entstehung und Quellen vgl. Achim Hölters gründlichen Kommentar ebd. S. 1137–1149. Paulin, Tieck (Anm. 48), S. 29.

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Zeit jener Erlebnisse – mehrfach auch in der Korrespondenz mit Wackenroder59 – den Begriff des Erhabenen auf, der für „eine Art ‚Gegenästhetik‘“60 intensiven Erlebens und ästhetisch konstituierter Wirklichkeit steht.61 ‚Das Erhabene‘ erfuhr seine Wiedergeburt, angestoßen vor allem durch Jean-François Lyotard,62 in den 1980er Jahren im Zusammenhang einer aktualisierenden Auseinandersetzung mit der Romantik, die das spezifisch Moderne des Erhabenen herauszuarbeiten versuchte.63 Angesichts einer elektronisch verantworteten Beschleunigung der Kommunikation, die oft zugleich als Entmächtigung bewertet wird, kommt heute ganz zwangsläufig das Erhabene wieder ins Spiel. Auch in der deutschsprachigen Literatur seit etwa 1980 kehrt es, vermehrt mit Schwäche und Unterlegenheit konnotiert, zurück – doch immer als „mentale oder körperliche Überwältigungserfahrung, bei der sich Faszination und Entsetzen mischen“.64 Schon Lyotard unterstreicht, dass das Erhabene auf alineare Erfahrungen von Zeit abstelle, also auf ein Anhalten der gewohnten Ereignisfolge.65 Es sind „‚Ekstasen‘ der Zeitlichkeit“,66 ein Heraustreten aus der Zeit, „genauer: aus der Vorstellung einer linearen, homogenen Zeit“,67 die um 1800 wie auch in der Gegenwart ein Dasein unter ästhetischen Vorzeichen begründen  – die inkalkulable Abfolge von Latenz und Plötzlichkeit gehört dazu, sie irritiert und fasziniert den Menschen, der nach der Uhr zu funktionieren scheint und dem seine Uhr die Planung kleiner und großer Lebensabschnitte erleichtert.

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Vgl. Elena Agazzi, Tiecks und Wackenroders Diskurs über das Theater. Dramaturgie und Bestimmung des Geschmacks, in: Das achtzehnte Jahrhundert 40, 1 (2016), S. 79–96. Heininger, Erhaben (Anm. 56), S. 276. Hierzu prägend: Wolfgang Welsch, Zur Aktualität ästhetischen Denkens, in: Kunstforum, H. 199 (1989), S. 134–149, vgl. hier S. 140. Vgl. Jean-François Lyotard, Das Erhabene und die Avantgarde, in: Merkur 38 (1984), S. 151–164. Vgl. Heininger, Art. „Erhaben“ (Anm. 56), S. 276–280; zudem das wichtige Kompendium: Christine Pries (Hrsg.), Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Berlin 1989. Zum ‚Erhabenen‘ bei Tieck und in der Frühromantik erscheinen nach wie vor Studien, etwa auch zu Tiecks Erzählwerk, vgl. Brian Haman, Notions of the Sublime. The Unquiet Mind in Tiecks Über das Erhabene and Der Runenberg, in: Oxford German Studies 47 (2018), S. 439–456; James Landes, The Kantian Analytic of the Sublime in Tiecks’ Runenberg, in: Colloquia Germanica 42 (2009), S. 5–18; Giovanna Pinna, Transzendental, nicht emotional. Zu Friedrich Schlegels Theorie des Erhabenen, in: Athenäum 29 (2019), S. 41–57. Torsten Hoffmann, Konfigurationen des Erhabenen. Zur Produktivität einer ästhetischen Kategorie in der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts, Berlin / New York 2006, S. 2–7, Zitat S. 6. Vgl. ebd. S. 32. Lyotard, Das Erhabene (Anm. 62), S. 151. Hoffmann, Konfigurationen (Anm. 64), S. 32.

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‚Plötzlichkeit‘ und ‚Latenz‘

4 Aufschub, Latenz, Plötzlichkeit (Tiecks Korrespondenz mit dem Verleger Brockhaus 1820 ff.) Die Plötzlichkeit des epiphanischen oder auch des dysphorischen Erlebens wird in Briefen Tiecks thematisch – doch finden sich auch Anhaltspunkte für ein hochfrequentiges Oszillieren zwischen Plötzlichkeit und Latenz bei der Ü b e r t r a g u n g , wie wir es aus der elektronischen Kommunikation kennen? Es folgen Reminiszenzen an eine Korrespondenz, die Tieck selbst aus seiner Autographensammlung ausgeschlossen, die er mutmaßlich für marginal gehalten hatte. Friedrich Arnold und Heinrich Brockhausʼ Briefe hat er wohl nicht archiviert, lediglich Regesten sind aus den erhaltenen Kopierbüchern des Verlagsarchivs Brockhaus bekannt, wo auch Tiecks Originalbriefe liegen. Folgendes geschieht mehrfach: Der Autor bietet dem Verleger noch nicht Vorhandenes (oft Novellen für Brockhausʼ Taschenbuch Urania) an, möchte aber das ganze Honorar als Vorschuss bei Ablieferung der ersten Tranche erhalten. Die Zirkulation von Manuskript, Fahnen, Honorar ist auf lange Sicht durch einen unbefriedigenden Briefwechsel ersetzt. Bei aller Langsamkeit setzt Tieck dem Closer häufig „in Eil“68 zu, beteuert damit, sich in die für den Taschenbuch- und Zeitschriftenmarkt offenbar immer weiter beschleunigende Produktionsweise einzuklinken. Die Briefe müssen vorläufig das ‚Werk‘ ersetzen, indem sie Tiecks Tätigsein belegen. Dem Verleger indessen erscheint Tieck als Genie, das lediglich dann nicht produziert, wenn es soll  – die Nachwelt urteilte teils noch weniger milde. In seinem Tagebuch beklagt Heinrich Brockhaus Tiecks planvolle Trägheit: Ewig zu bedauern ist seine Trägheit, die ihn nicht zum Schreiben kommen läßt. Er kann einen ganzen Tag auf dem Stul sitzen, ohne das Mindeste zu thun. Das Uhrwerk geht freilich immer fort und er hat die Werke längst fertig, ehe er nur ein Wort niedergeschrieben. Leider gehn sie aber dadurch für die Nachwelt verloren.69

Das Rätsel um künstlerisches Schöpfertum in zu Zukunftsgewissheit umgepolter Zukunftsungewissheit wird thematisch in einer Art Stellvertreterkommunikation im Brief. Der Brief bekräftigt: ‚Ich k a n n schreiben und tue es hiermit – aber der eigentliche Text kommt noch.‘ Tiecks regelmäßigstes rhetorisches Mittel ist das Schweigen, der Verleger kann auch nach dreimaliger Mahnung nicht mit einer Reaktion rechnen. 68

69

Vgl. Aus Tiecks Novellenzeit. Briefwechsel zwischen Ludwig Tieck und F. A. Brockhaus, hrsg. von Heinrich Lüdeke von Möllendorff, Leipzig 1928, S. 10, 69, 79, 138. Heinrich Brockhaus, [Tagebucheintrag vom 27. Dezember 1822], in: ebd. S. 21–23, hier S. 22.

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Jochen Strobel

Die Novelle Der wiederkehrende griechische Kaiser, die Tieck bereits im Juli 1829 angeboten hat und die im September angeblich schon weit gediehen ist, verspricht er im Dezember 1829 binnen vier Wochen, doch er liefert Ende April 1830, nach vier Mahnungen insgesamt. Genauer: Tieck liefert ein Drittel und fordert den Verleger auf, mit dem Druck zu beginnen, während er die Novelle fertigstelle. Den Schluss verschickt er am 6. Juni, fünf Monate später als versprochen.70 Und tatsächlich findet sich in den vielen getauschten Briefen ein weitgehend von Tieck diktierter Rhythmus aus Latenz und plötzlicher Sendung, der freilich nicht leer bleibt, sondern auf ein Eigentliches abzielt – darauf kommt es hier an: „Morgen Mittwoch, dann Donnerstag und zulezt Freitag, sende ich von hier unfehlbar das lezte Manuscript und den Schluß der Novelle ab“.71 Im Briefwechsel mit Brockhaus insistiert Tieck auf der letztendlichen Unverfügbarkeit des autonomen Werkes entgegen allen ökonomischen wie ‚mäzenatischen‘ Versuchen der Einflussnahme. Besuche, Geschenke, schließlich das Projekt des Ankaufs von Tiecks Bibliothek durch Brockhaus zwecks Sicherung von dessen Lebensunterhalt sind letztlich Verschmelzungsversuche von Geschäftsbeziehung und Mäzenatentum. Die Übertragungsfunktion der Briefe, die Impulsfolge des Versprechens und Aufschiebens zwischen langen Phasen des Schweigens, weiß Tieck zu nutzen, um das ‚Werk‘ vor der Zudringlichkeit des Verlegers zu bewahren. Bieten Briefe ein kalendarisch referenzierbares Formular zur Fixierung von Terminen, so stellen sie durch unzuverlässige Abfolge und damit durch ihr allzu häufiges Ausbleiben jede Terminierbarkeit in Frage. Wie aber soll man Menschen Vertrauen entgegenbringen, die Textnachrichten nicht beantworten und Chats plötzlich abbrechen, um sie irgendwann wiederaufzunehmen? Statt über Plötzlichkeit zu schreiben mittels Briefen Latenz und Plötzlichkeit selbst zu e r z e u g e n  – das gelingt mit einer zunehmenden Beschleunigung des Briefverkehrs bis hin zur Echtzeitkommunikation immer besser. Zu Tiecks und Brockhaus’ Zeiten gelang es schon nicht schlecht, lebten die beiden doch in den verkehrstechnisch gut verbundenen sächsischen Städten Leipzig und Dresden. 1839, als die Zusammenarbeit der beiden sich langsam dem Ende zuneigt, bietet die erste deutsche „Fernbahn“, wie Brockhaus Tieck schreibt, die Möglichkeit „eine[r] leichtere[n] Communikation“.72 Fahrpläne sind einzuhalten, Deadlines nicht: Ungeschriebene Manuskripte kann auch das schnellste Transportmittel des Maschinenzeitalters nicht übermitteln.73

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Vgl. ebd. S. 63–72. Ludwig Tieck an Heinrich Brockhaus am 14. Juli 1836, in: ebd. S. 109f., hier S. 110. Es handelt sich um die Novelle Wunderlichkeiten. Ludwig Tieck an Friedrich Brockhaus am 6. Juni 1830, in: ebd. S. 132. Vgl. zur Linearität der Zeit im Maschinenzeitalter nochmals Nowotny, Eigenzeit (Anm. 2), S. 74.

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‚Plötzlichkeit‘ und ‚Latenz‘

5 W h a t s A p p  – und gemischte Gefühle? Eine technisch bedingte Funktionsweise des Epistolaren nach dem Brief war zu beschreiben und rückzuprojizieren auf einen versierten Briefschreiber (und Briefroman-Autor) der Zeit um 1800. Das leidens- und genussvolle Oszillieren zwischen Plötzlichkeit und Latenz, das einer bis heute vermutlich omnipräsenten Ästhetik des Erhabenen und des Schauers zugeordnet werden kann, hat bereits seinen Ort in den Briefen jener Zeit, zunächst thematisch, in Ansätzen auch prozedural. Latenz (also: zu warten statt zu schreiben oder zu empfangen) gehört der Kultur des Briefs zu allen Zeiten an, auch einer Briefkultur der Langsamkeit. Für den Stress, dem sich Nutzer:innen von Mobiltelefonen ausliefern, wenn sie im Minutenabstand auf das Display starren, Geräusche oder Erschütterungen leichthin als Vibrationsalarm deuten und sich dann entweder reich beschenkt oder leer ausgegangen fühlen, ist ein schwer zu kalkulierender Wechsel aus Lust und Schmerz verantwortlich, der, mit einer Formulierung Hans von Trothas, zumindest „in der Spur des Erhabenen“74 angesiedelt ist und der durch die Suggestionskraft des technischen Mediums möglicherweise intensiver wirkt als jegliche durch Sprache evozierte Illusion. Doch wo macht sich die in der Spur des Erhabenen ja auch stets vorfindliche „Lust an der Überwindung der Angst“75 bemerkbar? Was ist der Mehrwert? Möglicherweise liegt er gerade darin, dass neben das Bedürfnis nach einer halbwegs steuerbaren Wechselseitigkeit in Brief und Gegenbrief, in Nachricht und Antwort, eine „Sehnsucht nach dem Augenblick“76 in seiner Unverfügbarkeit tritt. Wer Instant Messaging so erlebt, trägt einer hohen Bedeutung subjektiver Zeit und ihrer Körperzustände wie der Beschleunigung des Pulses, des Berührens des Mobiltelefons, Rechnung.77 Entgegen dem Anschein des Schematischen bleibt der Tausch von Nachrichten eine stets individuelle Angelegenheit – jeder reagiert anders auf uns und auf jeden Chatpartner reagieren wir individuell.

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Hans von Trotha, Angenehme Empfindungen. Medien einer populären Wirkungsästhetik im 18. Jahrhundert vom Landschaftsgarten bis zum Schauerroman, München 1999, S. 23. Ebd. Nowotny, Eigenzeit (Anm. 2), S. 135. Vgl. weiterhin zur maximalen Entfaltung von Präsenz in: Karl Heinz Bohrer, Ekstasen der Zeit. Augenblick, Gegenwart, Erinnerung, München / Wien 2003. Vgl. hierzu erneut Sebald, Loading (Anm. 8), S. 1003.

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Von Hand zu Hand über Zeit und Raum Billett-Gaben, soziale Maskenspiele und Briefe aus dem Himmel bei Jean Paul und Benedikt David Arnstein, mit Ausblicken zu Goethe und Mallarmé Cornelia Ortlieb

Im Schreiben und Lesen von Briefen überwinden wir mühelos Zeit und Raum – und in literarischen Texten kann gar eine umgekehrte Flaschenpost aus der Zukunft ihr Ziel in einer flüchtigen Gegenwart erreichen. Auch ein solches Schreiben hat, wie so vieles, Jean Paul erfunden, und entsprechend ist es vielversprechend, seine brieflichen und literarischen Öffnungen des Schreibraums für anders temporäre Gemeinschaften in den Blick zu nehmen und mit den entsprechenden Vokabeln für das Kommunizieren in Sozialen Medien und mit digital versandter Post zu versehen. Die Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen bestimmter Praktiken geselligen Austauschs in vermeintlich entlegenen Zeit- und Kulturräumen lassen sich so auch in klassischen philologischen Lektüren erhellen, wie die kommenden drei Kapitel zu Jean Pauls Figurationen eines Jenseits von Schreibenden und Lesenden, seiner ‚romantischen‘ Entdeckung des Billetts als Medium der poetischen (Selbst-)Verständigung, dem zeitgenössischen Lustspiel Das Billett und schließlich zu einer verwandten seriellen Billett-Kunst bei Goethe und Mallarmé zeigen sollen.

1 „Zerstiebende“ Blätter. Jean Pauls Zettel-Schreiben aus dem Jenseits In seinem ersten Roman Die unsichtbare Loge mit dem sprechenden Nebentitel Mumien lässt der als „Jean Paul“ unterzeichnende Vorredner sich, wie er erzählt, in einer Sänfte auf den Schneeberg im Fichtelgebirge tragen, und sieht dort, bevor er überhaupt etwas sieht, noch in der Sänfte u n s h i e r, um uns aber nicht zu begrüßen, sondern in die Zukunft zu verabschieden:

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Cornelia Ortlieb Aufrichtiger zu sprechen, ich kann bloß von euch – ihr schönern Leser, deren geträumte, zuweilen erblickte Gestalten ich wie Genien auf den Höhen des Schönen und Großen wandeln und winken sah – nicht Abschied nehmen; ich bleibe noch ein wenig bei euch, wer weiß, wann und ob die Augenblicke, wo unsre Seelen über einem zerstiebenden Blatte sich die Hände geben, je wiederkommen“.

Es folgt die überaus lakonische Pointe: „vielleicht bin ich hin, vielleicht du, bekannte oder unbekannte teuere Seele, von welcher der Tod, wenn er vorbeigeht und die unter Körnern und Regentropfen gebückte Ähre erblickt, bemerkt: sie ist schon zeitig.1 Das Seelen-Attribut „zeitig“ wäre dialektal als „früh“ zu verstehen, hier aber offensichtlich im Sinn von: ihre Zeit ist gekommen, sie ist für den ‚Schnitter Tod‘ schon reif. Wir, die künftigen „Leser“ und sicher auch Leserinnen, sind so im Moment unseres Erscheinens zugleich als womöglich bald Tote antizipiert, von einem Vorredner, der sich selbst zuvor schon als „beglückter stiller Schatten“ unter „stummen Schatten“ imaginiert hat.2 Dieser nimmt auch, lapidar, an, dass e r es sein wird, der „hin“ ist – oder auch ‚ich‘: „vielleicht bin ich hin, vielleicht du“ heißt es in direkter, vertraulicher Anrede, die zur Antwort nach Art eines verspäteten Briefs einlädt – und tatsächlich adressieren dieser „Jean Paul“ und sein gleichnamiger Autor mich, seine Leserin, gleichsam als Briefschreiberin. Eingekapselt in seine Vision meines Todes und unserer Schattenexistenz ist aber das sich zugleich verflüchtigende Bild: „die Augenblicke, wo unsre Seelen über einem zerstiebenden Blatte sich die Hände geben“. Abseits der leichten Irritation, dass hier noch menschliche Seelen Hände haben, bezeichnet das Verb den natürlichen Prozess, in dem ein Element (sich) zerstreut oder verliert, etwa bei Schneeflocken oder den einzelnen Funken eines Feuers. Jean Pauls ganzes Werk, so lässt sich mit Übertreibung behaupten, besteht aus solchen adressierten fliegenden Blättern,3 aber in diesem Beitrag will ich nur einen buchstäblich kleinen Teil davon fokussieren und in einen größeren Rahmen stellen: das Billett.4 Das französische Wort, seit Jahrhunderten auch im Deutschen zuhause, kann sehr vieles bezeichnen, darunter

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Jean Paul, Die unsichtbare Loge. Sämtliche Werke. I. Abt., Bd. 1: Die unsichtbare Loge. Hesperus, hrsg. von Norbert Miller, Wilhelm Schmidt-Biggemann, München 1996, S. 31. Ebd. Entsprechend betont ein vielzitiertes (Brief-)Wort von Jean Paul die enge Verbindung von Briefen und Büchern. Vgl. Markus Bernauer, Jean Pauls dicke Briefe und dünne Bücher, in: Carolin Bohn, Maria Frommhold, Christian Wiebe (Hrsg.), BriefKunst. Der andere Blick auf Korrespondenzen. Gesammelte Essays für Renate Stauf, Heidelberg 2021, S. 73–77. Vgl. zum Billett als Gattung und Schreibformat besonders: Günter Oesterle, Schreibszenen des Billets, in: Christine Lubkoll, Claudia Öhlschläger (Hrsg.), Schreibszenen. Kulturpraxis – Theatralität – Poetologie. Festschrift für Gerhard Neumann zum 80. Geburtstag, Freiburg 2015, S. 115–135.

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Von Hand zu Hand über Zeit und Raum

Eintrittskarten, Lottozettel oder Geldscheine, aber für die folgenden Überlegungen ist besonders interessant, dass man unter dieser Bezeichnung die metonymisch gleichfalls so benannte Kurznachricht auf entsprechend kleinem Papier fassen kann. Forciert lässt sich das Billett so als die SMS (Short Message Service) früherer Jahrhunderte begreifen, weil hier wie dort Zeichenzahl und Schreibraum begrenzt sind.5 Der Vergleich hinkt aber aus verschiedenen Gründen, unter anderem auch, weil ein Billett im historischen Kontext erstens nicht die Zahl diskreter Zeichen vorschreibt und zweitens auch nicht einmal unbedingt kleinformatiges Papier voraussetzt, denn die Bezeichnung ist auch üblich für den einfachen Z e t t e l , also für ein Stück oder Blatt Papier, das ohne großen Aufwand beschrieben wird, mit Verzicht etwa auf sonstige Regularien und Konventionen von Briefwechseln.6 Seine Herkunft aus dem Post- und Zollwesen legt es aber nahe, unter einem Billett tatsächlich ein kleines, typischerweise von Hand mit wenig erkennbarem Aufwand beschriftetes Papierstück zu verstehen, das an einem zu verschickenden Gegenstand befestigt wird und Auskunft über eben dieses Ding, die Sache, die Ware gibt. Und entsprechend ist es wichtig, dass das Billett als Gattung oder Schreibform diese Geschichte seiner Herkunft noch bis ins 20. Jahrhundert mit sich führt – oder bis heute, wie beispielsweise die kleinen Karten an Blumensträußen, die mit der Post kommen, zeigen, oder die adressierten Kurznachrichten auf Papier von Online-Versandhäusern. Diesen Bezug zur Sache macht besonders eindrucksvoll dasjenige Billett deutlich, das in der Neuausgabe von Goethes Briefwechsel mit Charlotte von Stein an die vorderste Stelle gerückt ist, die allererste erhaltene Nachricht einer langwährenden (Schreib-)Beziehung in engster räumlicher Nachbarschaft. Sein erster Satz lautet: „Ich muss Ihnen noch einen danck für das Wurst Andencken und eine Gute Nacht sagen“.7 Das „Wurst Andencken“ ohne Bindestrich

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Vgl. zu einer frühen Analyse dieser neuen dialogischen Schreibform Annette Simonis, LiebesbriefKommunikation in der Gegenwart zwischen alt und neu: Schrifttradition, SMS, MMS und Internet, in: Renate Stauf, Annette Simonis, Jörg Paulus (Hrsg.), Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 2008, S. 425–448. Vgl. zu einer eingehenden Erläuterung der Begriffs- und Gebrauchsgeschichte des Billetts, mit Hinweisen auf zeitgenössische Briefsteller und Lexika: Oesterle, Schreibszenen des Billets (Anm. 4), bes. S. 115–118. Johann Wolfgang Goethe, Brief an Charlotte von Stein, Weimar, 08.  Januar  1776, in: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 3: 8. November 1775 – Ende 1779, hrsg. von Georg Kurscheidt, Elke Richter, Berlin 2014, S. 18. Der Stellenkommentar macht keine Angaben zu dieser speziellen Beilage, wohl aber zur Selbstverständlichkeit des Verschickens solcher Gaben: „18, 15 Wurst Andencken, Das gegenseitige Beschenken insbesondere mit Lebensmitteln gehört seit der frühesten Zeit von Goethes Bekanntschaft mit Charlotte von Stein zu den festen Gepflogenheiten ihrer Beziehung.“ Ebd. S.  85. Vgl. zur Ding-Bezogenheit von Briefwechseln ausführlicher  – mit diesem Eingangsbeispiel: Cornelia Ortlieb, Korrespondenzen mit Objekten. Liebesbriefe und ‚sprechende Dinge‘ bei Goethe und Mallarmé, in: Susanne Knaller, Doris Pany-Habsa, Martina Scholger (Hrsg.), Schreibforschung interdisziplinär. Praxis – Prozess – Produkt, Bielefeld 2020, S. 117–136.

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Cornelia Ortlieb

deutet eine Referenz an, die kein Archiv bewahrt hat, aber die lautliche Verschränkung von Dank und Andenken hebt den Schreibanlass noch einmal hervor und perpetuiert ihn: Der Schreiber denkt daran, sich zu bedanken, im Dank liegt performativ das Andenken. Bereits in diesem einen Satz ist somit die Eigenart des Billetts, auf eine Sache zu verweisen und zugleich auf die Distanz zu ihr, markiert, wiederum eine Erinnerung an Praktiken von Zoll und Post. Einem zeitgenössischen Lexikon für Kaufleute lässt sich auch entnehmen, wie man solchermaßen ein neues Format für kurze Mitteilungen zu speziellen Gegenständen generieren kann: Billettiren, franz. Billetter, heißt Zettel auf die Zeuge machen. Auf diese Zettel setzen die Kaufleute [. . .] die Nummer und die Zahl der Ellen der ganzen Stücke, nach den Fakturen oder Commissionairs, die sie ihnen zuschicken, und schreiben alle Tage darauf, was von den angeschnittenen abgenommen.8

Auch im Deutschen ist ein Kommissionär ein (Zwischen-)Händler, ehemals auch ein Spediteur oder Bote, die „Faktur“, im veralteten Kaufmannsdeutsch, eine Rechnung für eine gelieferte Ware oder ein Lieferschein. Beim Billettieren geht es somit gleichermaßen um einen Austausch von Dingen und kleinen Schriftstücken. Mit der Lieferung des „Zeugs“, etwa eines Ballen Stoff, an den hier offensichtlich gedacht ist, kommt das erste Billett, der Lieferschein, dessen Angaben auf ein zweites übertragen und fortlaufend aktualisiert werden, wobei dieser Zettel wie ein heute übliches Etikett fest an der gelieferten Ware verbleibt, weil er zugleich dem Nachweis der Bestände bei der gesetzlich vorgeschriebenen jährlichen Inventur dient.9 Auch andernorts gibt es somit früh eine eigene Ökonomie dieses Zettelgebrauchs: Wenn die Billetts sich ohnehin schon an ihrem Beginn beim „Zeug“ verdoppeln, lassen sie sich auch entsprechend schnell in Umlauf bringen  – und für Nachrichten zu anderem ‚Zeug‘ nutzen. So ist in der digitalen Edition von Jean Pauls Briefen spätestens der zweite Brief ein solches Billett. Hatte der erste noch einen vermeintlich einflussreichen Adressaten um Unterstützung bei der Einwerbung eines Stipendiums und eines ‚Tisches‘, also einer regelmäßigen kostenlosen Mahlzeit, für den angehenden Leipziger Studenten Richter gebeten, so fragt und verlangt der zweite an den evangelischen Pfarrer Erhard Friedrich Vogel, den Besitzer einer großzügig geteilten Büchersammlung, noch konkreter und handfester nach drei Büchern. Deren Übersendung wird untertänig erbeten und zugleich eine im doppelten Sinn e i g e n e Sendung angekündigt: „Nächstens werd’ ich wieder so frei sein, und Denenselben eigne Arbeiten schikken. 8

9

Carl Günther Ludovici, Neu eröffnete Academie der Kaufleute oder encyclopädisches Kaufmannslexicon. Erster Theil, Leipzig 1797, Sp.  1878. Den folgenden Absatz übernehme ich wörtlich aus: Cornelia Ortlieb, Weiße Pfauen, Flügelschrift. Stéphane Mallarmés poetische Papierkunst und die Vers de circonstance – Verse unter Umständen, Dresden 2020, S. 13. Ludovici, Neu eröffnete Academie der Kaufleute (Anm. 8), Sp. 1879.

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Von Hand zu Hand über Zeit und Raum

Dero gütige Aufname der vorigen giebt mir den Mut es zu tun.“10 Es ist also bereits ein regelrechter Tauschhandel im Gang, in dem, wie generell in Jean Pauls Schreiben, aus gedruckten Büchern via Exzerpt mit eigener Hand neue Texte generiert werden. Die Länge des Textes, der mit einem Bücher- und Adressatenlob einsetzt, und sein Charakter als Bittschreiben erzwingen hier ein ganzes Briefblatt als Schriftträger, aber der Sache nach ist ein solch dingbezogenes Schreiben dem kaufmännischen Billettieren noch eng benachbart. Dabei kann ein kleines, fast beliebiges, aber für Jean Paul doch höchst bedeutsames Beispiel schon zeigen, wie kaufmännische Praktiken des Deklarierens, mithin auch der Wertfestsetzung, in andere Ökonomien eines Handels und Handelns mit Worten eingehen, vierunddreißig Jahre später, in der Zukunft des nun erfolgreichen Schriftstellers Jean Paul. Wie der schöne Bildband Namenlose Empfindung zur Korrespondenz von Jean Paul und Goethe mit Abbildungen der Handschriften dokumentiert, ist es etwa das überraschende Lob – heute plattformübergreifend bekannt als ‚Like‘ – seiner Levana, des Buches über Erziehung, das Jean Paul in einem speziellen Medienformat speichern will, nachdem er durch eine Art stille Post davon erfahren hat. Denn Goethe hatte eigentlich an Karl Ludwig von Knebel am 16. März 1814 über einen Zeitschriften-Auszug des Buchs geschrieben: Hier erscheinen seine [Jean Pauls] kühnsten Tugenden, ohne die mindeste Ausartung, große richtige Umsicht, faßlicher Gang des Vortrags, Reichthum von Gleichnissen und Anspielungen, natürlich fließend, ungesucht, treffend und gehörig und das alles in dem gemüthlichsten Elemente.

Die Passage endet mit der interessanten Bemerkung: „Ich wüßte nicht Gutes genug von diesen wenigen Blättern zu sagen und erwarte die neue Levana mit Verlangen.“11 Die Nachricht von diesem unerwarteten g e t e i l t e n Lob Goethes soll dann, so hat es Helmut Pfotenhauer erklärt, wohl zu Knebels Nichte Henriette in Bayreuth gelangt sein, und wurde offenbar von dieser zu Jean Paul weitergeleitet, wie ein Billett nahelegt, das sich zugleich selbst überbietet und reflektiert, denn dort steht unter anderem „ich bitte Sie recht sehr, mir Goeth. Urtheil 10

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Jean Paul an Erhard Friedrich Vogel. Schwarzenbach a. d. Saale, April 1781, Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abt. der Historisch-kritischen Ausgabe (1952–1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller, Frederike Neuber, 2018, in: Jean Paul – Sämtliche Briefe digital, hrsg. von Dens., 2018, [29.6.2022]. Goethe an Karl Ludwig von Knebel, 16. März 1814, in: Helmut Pfotenhauer, Ein großes Stück Himmel. Jean Paul freut sich über Goethes Lob der Levana, Abb. 11.1., in: Konrad Heumann, Helmut Pfotenhauer, Bettina Zimmermann (Hrsg.), Namenlose Empfindung. Jean Paul und Goethe im Widerspruch. Handschriften und Deutungen. Katalog zur Ausstellung, Frankfurt a. M. 2013, S. 106–107, hier S. 106.

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Cornelia Ortlieb

abzuschreiben oder abschreiben zu lassen durch Emma“.12 Jean Pauls älteste Tochter sollte somit, ähnlich wie in heutigen gemeinschaftlichen Kommunikationsräumen sozialer Medien, etwa bei der Nachrichtenplattform Twitter oder bei Reddit, die Nachricht kopieren und weiter verbreiten oder geradezu ‚re-tweeten‘, wäre sie doch bei Erfüllung des Auftrags heutzutage ‚ein*e Kurzbotschaftendienstbenutzer*in‘ oder gar ein ‚Content Creator‘.13 Goethes Brief-Blätter über Jean Pauls Levana-Blätter würden so auch gleichsam an diesen zurückgegeben werden, aber mit entscheidendem Größen- und Format-Wechsel, denn Jean Paul schreibt weiter im Billett an Henriette von Knebel: „Ich wollte anfangs einen Elephantenbogen Papier zum Lobe mitschicken, aber vielleicht faßt auch ein Blättchen meinen Heiligenschein.“14 Die witzige Ausmessung der Spannbreite von Papierformaten mitsamt der umgekehrt proportionalen Selbstverkleinerung hat aber noch einen implikationsreichen Nachsatz „Verzeihen Sie die  / Bitte, die ich an Ihre Schreibfinger thue.“15 Wandert das Billett in Bayreuth von Hand zu Hand, so sind hier demnach die eigentlichen Adressaten die ‚Schreibfinger‘, wie es in einem schönen Neologismus heißt – überaus passend, denn in Jean Pauls Exzerpten findet sich auch das neue Kompositum ‚Schreibmaschine‘.16 Das erbetene Billett hat aber noch einen späten Reflex in einem anderen Briefwechsel: Als im August 1820 in einer Rezension zu Goethes Westöstlichem Divan dessen im Kapitel Vergleichung entfaltetes Lob des ‚orientalischen Schreibens‘ Jean Pauls von einem Rezensenten als satirisch beschrieben wird und Max Richter entsprechend in einem Brief an den Vater 12

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Jean Paul an Henriette von Knebel, in: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, III.  Abt., Bd. 6: Briefe 1809–1814, hrsg. von Eduard Berend, Berlin 1952, S. 379f.; vgl. Pfotenhauer, Ein großes Stück Himmel (Anm. 11), S. 106. Jasmin Meerhoff, Verteilung und Zerstäubung. Zur Autorschaft computergestützter Literatur, in: Hannes Bajohr, Annette Gilbert (Hrsg.), Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 10 (2021): Digitale Literatur II, München 2021, S. 49–61, hier S. 57. Je nach der Bemessung dessen, was hier als ‚Öffentlichkeit‘ verstanden werden kann oder soll, lässt sich bei solchen verbreiteten Nachrichten im Jean Paul-Kreis auch an ein Medium wie Reddit denken, „eine Social-News-Website, auf der die User in Posts verschiedenste Themen, Links und Gedanken teilen und in den darunter entstehenden Kommentar-Threads miteinander diskutieren und bewerten können“. Da auch das Sichtbarmachen von Posts auf einer Abstimmung der User beruht, lässt sich hier auch die passende Analogie finden, dass „die Verbreitung einzelner Beiträge durch die Reaktion der User in sozialen Netzwerken bestimmt ist“. Berit Glanz, „Bin ich das Arschloch hier?“. Wie Reddit und Twitter neue literarische Schreibweisen hervorbringen, ebd. S. 106–117, hier S. 114. Jean Paul an Henriette von Knebel, in: Sämtliche Werke, Abt. III, Bd. 6 (Anm. 12); Jean Paul an Henriette von Knebel. Bayreuth, April oder Mai 1814, in: Jean Paul – Sämtliche Briefe digital. (Anm. 10), [29.6.2022]. Ebd. Vgl. etwa den Registereintrag unter „Schreiben“ in den Exzerpten von  1786, Jean Paul, Exzerpte & Register. Digitale Edition, Universität Würzburg, [29.6.2022].

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schreibt, Goethe habe ihn „mit spöttischer Miene“ geschildert, antwortet der solchermaßen mindestens dreifach Adressierte, interessanterweise an einen Plural-Adressaten: „ihr habt alle Göthen über mich im Divan missverstanden, lies z. B. nur dieses vor vielen Jahren geschriebene Blättchen“ – und gemeint ist offenbar das mühsam per Billett eingeholte Billett mit Goethes Levana-Lob.17 Anne Bohnenkamp schreibt im schon zitierten Katalog mit einer interessanten Formulierung „Die Beilage ist nicht überliefert“;18 das Billett, auf das der Brief verweist, ist somit unversehens selbst die Beilage, die es sonst so oft anzeigt und begleitet. Diese Vertauschung von Gegenstand und Begleitzettel, Haupt- und Nebensache lässt an Derridas Ausführungen zum Parergon  – die in seiner Kant-Lektüre erarbeitete Position der Ununterscheidbarkeit von Innen und Außen, Werk und Zugabe, Text und Paratext – denken.19 Das Beispiel belegt aber auch, dass das Billett noch dann seine Funktion erfüllt, wenn es gar nicht mehr da ist: Im Sozialen Medium des historisch noch offenen Briefwechsels zirkuliert der Verweis auf das Geschriebene eben so wie das Geschriebene selbst – und der typische Wertzuwachs, das Herstellen von Reputation, stellt sich hier gerade im besonders schnellen Umlauf des Billetts, der Kurznachricht ein. Die Affinität von Billett und weiblicher Hand möchte ich in einem kleinen Einschub noch etwas näher beleuchten, der gleichermaßen mit dem sozialen Raum Weimar zu tun hat. Denn auch der Briefwechsel Jean Pauls mit der Schriftstellerin Charlotte von Kalb ist bei näherem Hinsehen schon in seinen Anfängen ein beschleunigter Austausch von Billetts, deren Inhalt als eine Art Sprachnachricht der Empfindung nicht referentiell funktioniert, sondern als Beglaubigung in der Wiederholung. Dies gilt schon für die erste, virtuell weitergeleitete Mitteilung,

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Jean Paul an Max Richter, 4.  September  1821, Sämtliche Werke. Historisch kritische Ausgabe, III. Abt., Bd. 8: Briefe 1820–1825, hrsg. von Eduard Berend, Berlin 1955, S. 134; vgl. Anne Bohnenkamp, Etwas von Jean Paul. Goethe wirbt für den Orient, in: Heumann u. a. (Hrsg.): Namenlose Empfindung (Anm. 11), S. 115–122, hier S. 121. Bohnenkamp, Etwas von Jean Paul (Anm. 17), S. 121. Mit einem unübersetzbaren Wortspiel nennt Derrida das vermeintliche ‚Beiwerk‘, griech., das „Parergon, dieses Supplement außerhalb des Werkes (ce supplement hors d’oeuvre)“. Jacques Derrida, Parergon, in: Die Wahrheit in der Malerei. Dt. v. Michael Wetzel, hrsg. von Peter Engelmann, Wien 1992, S. 31–176, hier S. 75. Wörtlich übersetzt ist das Parergon somit ‚außerhalb des Werks‘, aber da in der französischen Speisenfolge derselbe Ausdruck für die Vorspeisen benutzt wird, ist zugleich eine zeitliche und kausale Vorstellung mit diesem ‚Außerhalb‘ verbunden, das man – wie den Paratext als die ‚Schwelle‘ oder den ‚Korridor‘ bei Genette – zunächst überschreiten oder durchqueren m u s s , um dann zum ‚Inneren‘ zu gelangen. Diesen Satz habe ich wörtlich übernommen aus: Kristin Knebel, Cornelia Ortlieb, Sammlung und Beiwerk, Parerga und Paratexte. Zur Einführung, in: Dies., Gudrun Püschel (Hrsg.), Steine rahmen, Tiere taxieren, Dinge inszenieren. Sammlung und Beiwerk, Dresden 2018, S. 7–30, hier S. 15, mit weiteren Erläuterungen zur entscheidenden Funktion von Rahmen und Rahmungen; Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Deutsch von Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 2001.

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Cornelia Ortlieb

die sich nur durch Jean Pauls etwas kryptische oder auch blumige Antwort erschließen lässt. In einem ersten Schreiben von Jean Paul an die Weimarer Schriftstellerin vom 9. März 1796 heißt es: „Wenn Ihnen Jean [Paul] mit seinen 300 Blättern soviel Vergnügen gegeben als Sie ihm mit Ihren 2 kleinen gaben: so durften Sie schon so nachsichtig auf beiden kleinen gegen litterarische Blumenrabatten sein als hätten Sie selber sie besäet und begossen“.20 Charlotte von Kalb hatte zuvor offenbar, wie der Kommentar erläutert, „in einem von verhaltener Glut erfüllten Brief von der Begeisterung berichtet, die Jean Pauls Werke in Weimar, wie bei ihr, so bei Wieland, Herder, Knebel und andern erregt hätten“.21 Dreihundert Blätter literarisches Werk bereiten im galanten Kompliment des Autors somit vielleicht so viel Freude wie die, sachlich korrekt und bescheiden untertreibend, diminuierten, „zwei kleinen“ dieser Billett-Übermittlung eines freundlichen Rumorens vor der Ankunft des Autors, der sich entsprechend bald darauf auf den Weg nach Weimar macht. Im vierten Brief vom 10. Juni 1796 ist schon seine hoffnungsvolle Ankunft verzeichnet, verbunden mit einer dringlichen Bitte: Endlich, gnädige Frau, hab’ ich die Himmelsthore aufgedrükt und stehe mitten in Weimar. — Ich bin noch nicht aus der Reisekruste heraus, so nehme ich schon die Feder zur bittenden Frage, welche einsame Stunde — denn zwischen dem ersten Sehen solte nie das dritte Paar Augen stehen — Sie mir vergönnen. … daß ich vor zitternder Freude so unordentlich rede als schreibe. Sie können zu meiner Himmelfarth zu Ihnen jede Minute, sogar die heutige, bestimmen.22

Um im Weimarer Himmel eine weitere Himmelfahrt solchermaßen zu antizipieren und zu arrangieren, ist in diesen post-empfindsamen Zeiten ein solch kleiner Brief das richtige Medium, der Sache nach schon ein ‚Billet doux‘, wörtlich: ein zartes oder sanftes Briefchen oder auch: ein Liebesbrief. Entsprechend mag man die folgenden expliziten Nennungen dieser Gattung und dieses Schreibformats auch so lesen, wenn in der Briefausgabe der anschließende fünfte Brief als fehlend vermerkt ist, seine Existenz und sein Inhalt aber in einem einschlägigen Antwortschreiben an Charlotte von Kalb erschlossen werden können. Hier schreibt demnach Jean Paul, nur sieben Tage nach dem vorletzten Brief, also am 17.  Juni  1796: „Ich bin auf Dein Billet sehr

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21 22

Jean Paul an Charlotte von Kalb. Hof, 9. März 1796, in: Jean Paul – Sämtliche Briefe digital (Anm. 10), [29.6.2022]. Ebd. Jean Paul an Charlotte von Kalb. Weimar, 10.  Juni  1796, in: Jean Paul  – Sämtliche Briefe digital (Anm. 10), [29.6.2022].

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verlangend … Ach mein Gott, da ist Dein Billet, ich habe schmälen wollen über die Stunde von gestern von 8–9, der Teufel mag’s nun thun. Aber um Gottes willen, zeige Dich keinem andern als mir …“.23 Das veraltete Verb s c h m ä l e n bedeutet herabsetzen; geschmäht sei also die Stunde von 8–9, warum auch immer – aber auffällig ist doch die prompte, an heutige digitale Kommunikation etwa via E-Mail oder Chat erinnernde Antwort: Im einen Moment wird das Billett noch sehnsüchtig erwartet, im zweiten ist es im Text schon eingetroffen, und mit eben diesem Text ist zugleich performativ diese ungeduldige Erwartung und freudige Erleichterung aufgehoben und der Absenderin wiederum im Billett zurückgegeben. Und auch der nächste Brief, nur einen Tag später am 18.  Juni  geschrieben, ist mit dem Hinweis auf eben diese Beschleunigung der Kurznachrichten selbstreflexiv und überschreitet in seiner dezidiert poetischen Sprache nun endgültig die Grenze zum ‚Billet doux‘ mit einem neuen Entwurf von Nähe: [Gestern verbot mir die Eile die kleine Antwort auf Ihr Billet vol glänzenden Morgenthau. Ein Buch hab’ ich jezt nicht für Sie, aber mitbringen wil ich mehrere Briefe. Gestern schwankte ich träumend mit Oertel und Düvau im Park umher; –] die Nacht zieht die Alleen höher und riesenhafter empor und lag wie eine zusammen gerolte Ewigkeitsschlange in der Kluft. Die Sehnsucht regte sich wie ein lebend[iges] Kind [immer stärker] in meiner Brust [und ich hieng liebkosend und weich an der Seele, die ich liebe. Sie wandelte unsichtbar an meinem Arme –] Ich höre ihre Gedanken und ihr lautes Herz. 24

Die Sprache der nächtlichen Vision, wie man sie in Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei wiederfindet, in der die zum Kreis geformte Schlange der Ewigkeit ein Sinnbild eines leeren, sich selbst unendlich oft erneuernden und zerstörenden Universums ist, vermischt sich hier mit einer doch reichlich expliziten Sprache der Empfindung, wie sie die sogenannten hohen Menschen in Jean Pauls Romanen auszeichnet. Damit zum letzten Beispiel dieses Liebesromans im Zeitraffer des Billett-Tauschs: Nur fünf Tage später, am 23. Juni, zeigt sich eine echte Romanze, wie sie um 1800 im europäischen Mittelalter gefunden und zur eigentlich romantischen Dichtung erneuert wird, hier wiederum im Format des Billetts oder des ‚Billet doux‘:

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Jean Paul an Charlotte von Kalb. Weimar, 17.  Juni  1796, ebd. [29.6.2022]. Jean Paul an Charlotte von Kalb. Weimar, 18.  Juni  179, ebd. [29.6.2022].

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Cornelia Ortlieb Ich reiche dir die Hand über Zeit und Raum, es war eine Zeit, eh’ ich dich kante und liebte; die Ewigkeit begint für die Liebenden. Sie ist der Stral, der das Unendliche erhelt und begeistert. — Ja wol die Schmerzen, die Leichentücher müssen wir im Grabe lassen. Ich leide wie du, denn tief ist der Schmerz der ewigen Sehnsucht.25

Auch für solche vermeintlich privaten Äußerungen der Empfindung oder des Gefühls erweist sich die gedrängte Form des Billetts hier einmal mehr als besonders geeignet: Gesellschaftlich etabliert wie die längst übliche Visitenkarte, entspricht dieses Schreiben neuen Höflichkeitsstandards, die auch eine solche poetische Aussprache des Inneren in einem mindestens potentiell geteilten öffentlichen Medium – nach Art eines Plattform-Posts – erlauben.26

2 Billett-Intrigen auf der Theaterbühne, lustvolle Verstellung und Entlarvung Nicht nur bei solchen Texten Jean Pauls ist die Versuchung groß, die allenfalls im Kommentar begleitete Lektüre einfach ins Unendliche fortzusetzen – es sei daher Genre und Ton nochmals gewechselt. Denn mindestens in einem nachweislichen Fall ist das Billett selbst zum Akteur oder gar Protagonist eines Dramas geworden: Im Jahr 1800 erscheint in Wien, wie das Titelblatt erläutert, Das Billett. Ein Lustspiel in einem Aufzug. Von B. D. Arnstein. Für das k. k. Hoftheater, Wien auf Kosten und im Verlag bei Joh. Baptist Wallishausser.27 Der Letztgenannte (1757–1810) ist der ältere Buchhändler dieses Namens, „der als einer der Ersten in Wien eine Leihbibliothek begründete und eine Buchhandlung am Kohlmarkt eröffnete“;28 sein gleichnamiger Sohn führt das Geschäft besonders mit Theaterdrucken sehr erfolgreich fort und wird 1824 oder 1825 in der Josefstadt zwei Häuser kaufen, die nach dem Umbau auch die Buchdruckerei aufnehmen – und eben dort wird der Schriftsteller und Dramenautor Franz Grillparzer wohnen, um den Druck seiner Dramen aus nächster Nähe zu beaufsichtigen. 25

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27 28

Jean Paul an Charlotte von Kalb. Weimar, 23.  Juni  1796, ebd. [29.6.2022]. Im Bereich der digitalen Literatur ließe sich entsprechend an die neue I n s t a p o e t r y denken, eine niedrigschwellige Dicht- oder Schreibkunst in Plattform-Veröffentlichungen, etwa auf Instagram oder Tumblr, die auch besonders für emotional aufgeladene Formen und Gattungen der Selbst-Aussprache genutzt wird. Vgl. Nils Penke, Populäre Schreibweisen. Instapoetry und Fan Fiction, in: Bajohr, Gilbert (Hrsg.), Digitale Literatur II (Anm. 13), S. 91–105. Benedikt David Arnstein, Das Billett. Ein Lustspiel in einem Aufzug, Wien 1800. Art. Wallishausser, in: Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage (Hrsg.), Österreichisches Biographisches Lexikon, [13.05.2021].

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Benedikt David Arnstein, häufig apostrophiert als erster jüdisch-deutscher Dramenautor Wiens oder Österreichs, oder erster jüdischer Autor von Dramen in deutscher Sprache, nimmt hier die Gattungsbezeichnung beim Wort: Das Stück ist ein lustvolles Spiel mit sechs Personen um ein gesellschaftlich gebotenes und erlaubtes Begehren des Anderen, um eine wiederum ebenso sozial erwartete Eifersucht der je potentiell betrogenen und verlassenen Person in der ständigen Neu-Formierung solcher Liebesketten oder Reigen, wie man sie von Racine bis Schnitzler kennt. Die Handlung des L u s t s p i e l s vervielfacht sich in der Schauspielkunst derer, die vortäuschen, anders zu lieben als es ihre S t a t u s b e z e i c h n u n g angibt – und diese berühmt-berüchtigte Social Media-Kategorie passt hier in mehrfacher Hinsicht,29 weil vom Personenverzeichnis über die Selbstaussprache auf der Bühne bis zum fingierten Geschehen der imaginierten weiteren Liebeshandlungen jeweils Stand und Position der Figuren ausgestellt und verhandelt werden. Bereits der erste Satz lässt dieses Verfahren erkennen, in medias res mit einer doppelten Positionierung nach der Regie-Anweisung „Baron Seehof und Amalie“ (im Personenverzeichnis geführt als: „Amalie, dessen Gattin“):30 „Seehof. Wenn ich aber von deiner Treue überzeugt, fest überzeugt bin. Amalie. Das sollst du eben nicht seyn! Überzeugung setzt immer Kälte voraus. Wahre, feurige Liebe ist gar keiner Überlegung fähig.“31 In einer schwindelerregenden Komödie der Verstellung wird allerdings im Folgenden weder das eine noch das andere auf der Bühne sichtbar werden: Alle kühlen Überlegungen sind Teil eines Kalküls der Entlarvung, wörtlich: der Demaskierung vermeintlich vorgetäuschter Empfindungen, und wahre Liebe gibt es dort nur im Rahmen einer werbenden, überredenden Rhetorik, die wiederum Teil und Effekt eben solcher Strategien ist. Die Ehefrau klagt so, sozusagen auf den Spuren der Affekt-Dramen Racines, die Eifersucht ein, die ihr Gatte vermissen lässt, wie in einer Serie rhetorischer Fragen in diesem ersten Dialog deutlich wird. Aufschlussreich ist auch eine Art Litotes oder umgekehrte Hyperbel, in die zudem eine doppelte Klimax eingelagert ist, also eine

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30 31

Angaben zum „Beziehungsstatus“ hat etwa prominent die „Sozialmaschine“ Facebook etabliert, ein „Übertragungs- und Transformationsmedium, mit dem auf das Verhalten der Nutzer auf eine bestimmte Art und Weise eingewirkt werden kann“ bzw. das „Subjektivierungsmodelle“ nutzt, um – selbstredend für kommerzielle Zwecke – ein „personenzentriertes Wissen über die Nutzer herzustellen“. Dazu gehören etwa „standardisierte E-Formulare für Subjekte, die sich in Selbstbeschreibungs-, Selbstverwaltungs- und Selbstauswertungsprozeduren eigenständig organisieren sollen“; die permanent von den Nutzerinnen und Nutzern zu aktualisierenden elektronischen Formulare „machen aus den personenzentrierten Darstellungs- und Erzählformen im Anwendungsbereich einheitliche Informationsbausteine“, die dann im Datenhandel wiederum etwa für die Verbesserung personalisierter Werbeangebote genutzt werden können. Roberto Simanowski, Ramón Reichert, Sozialmaschine Facebook. Dialog über das politisch Unverbindliche, Berlin 2020, S. 26f. Arnstein, Das Billett (Anm. 27), S. 2. Ebd. S. 3.

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doppelte Rhetorik der Unter- und Übertreibung, denn diese längere Einlassung Amalies endet mit ihrem Ausruf: „Daß du mir auf allen Wegen nachschleichen; meine Briefe heimlich erbrechen, und Männer gar heraus fordern solltest: o solche große, herrliche und unumstößliche Beweise der Liebe fordre ich nicht einmahl von dir.“32 Dabei gehört es selbstredend zum Witz des Stücks, dass mit dieser Nicht-Forderung zugleich der Gang der Lustspiel-Handlung antizipiert ist. Entscheidend ist aber die gleichfalls hyperbolische Antwort des Ehemanns, die mit einem – quasi von ihr, Amalie, zitierten – Laut des Pathos oder der wahren Empfindung beginnt: „O hätte ich nur den geringsten Argwohn; denn wäre nichts in der Welt vermögend, meiner Rache, meiner Wuth Schranken zu setzen“ – hier gleichfalls mit einer Klimax: Argwohn, Rache und Wut sind die drei einander steigernden Modi des Gefühls und auch der Handlung. Für das weitere zentral ist aber ein so nur beim Lesen des Dramentexts ins Auge fallender Einschub in Klammern nach der Sprecherbezeichnung: „Seehof (mit verstellter Hitze)“.33 Interessanterweise soll der Ehemann oder vielmehr der ihn verkörpernde Schauspieler auf der Bühne hier demnach sozusagen falsch performativ bestätigen, was seine pathetische Aussage konstatiert.34 Die ganze Intrige beruht so auf der verabredeten Verstellung, die dem Theaterpublikum unmissverständlich erklärt wird; Baron Sternheim – der an Sophie La Roches Briefromanheldin Das Fräulein von Sternheim erinnert – rekapituliert nämlich diese Verabredung auch für das Publikum: Sternh[eim:] Verstehe! Ich soll also den Liebhaber bey ihr spielen; du wirst den aus Eifersucht wüthenden, verzweifelnden Ehemann vorstellen, und auf diese Art hoffst du ihr ein für alle Mahl einen Beweis deiner Eifersucht zu geben, und dir auf immer Ruhe zu verschaffen. Seeh[of:] Richtig!35 – 32 33 34

35

Ebd. S. 4. Ebd. Mit diesen Vokabeln zitiere ich die Sprechakttheorie Austins und zugleich ihre Kritik durch Searle und Derrida, die unter anderem auch eine Differenz von ‚konstativen‘ und ‚performativen‘ Sprechakten bestreiten. In jeder vermeintlichen oder vorgeblichen Feststellung läge demnach schon ein Handeln, mindestens etwa eine Aufforderung; für die Analyse des Sprechens auf Theaterbühnen ist es zudem überaus interessant, dass Austin selbst das Theater und schauspielerische Akte des Verstellens als prominentes Beispiel für ‚misslingende‘ Sprechakte eingeführt hat. Vgl. dazu neuerdings die Beiträge in: Erika Fischer-Lichte, Torsten Jost, Saskya Iris Jain (Hrsg.), Theatrical Speech Acts: Performing Language Politics, Translations, Embodiments, London 2020. Die Einleitung betont die Wirkmächtigkeit der berühmten Titel-Formel Austins und ihre Relevanz für das Nachdenken über Sprechen im Theater und bei Performances. Vgl. John Langshaw Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words). Deutsch bearb. von Eike von Savigny, erg. Aufl. Stuttgart 2002. Vgl. zu einem kurzen theaterwissenschaftlichen Überblick zu Austins Kategorien: Fischer-Lichte, Performativität. Eine Einführung, 2Bielefeld 2013, S. 37–44. Arnstein, Das Billett (Anm. 27), S. 7.

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Dass diese Rolle „nicht leicht“ zu spielen sein wird, so Sternheim, weil wiederum „[s]eine Wilhelmine ohnedieß einen großen Hang zur Eifersucht hat“, ist eine weitere metafiktionale Vermehrung des Vergnügens an solcher Verstellungskunst, die unter Adligen ja ohnehin zur üblichen und gebotenen Lebensform gehört.36 Für Nicht-Adlige verwirrend mag aber sein, dass auch der erste Baron, Seehof, wie zumindest der zweite, Sternheim, behauptet, ein Auge auf eben diese Wilhelmine geworfen hat – anders als bei den schon zitierten Liebesketten Racines gibt es in diesem Stück eher eine Art unkontrollierte Streuung von Interesse und Begehren oder zumindest deren Unterstellung, wobei, wie man schnell lernt, der Ehestand keineswegs hinderlich, sondern im Gegenteil die Voraussetzung für allerlei Nebenblicke und Werbungsversuche ist. Zurück zum erklärten Hauptdarsteller des Ganzen, dem Billett. Zunächst läuft das Spiel im Spiel auch ohne sein Zutun und quasi von allein: Nach der Verabredung der Intrige zur Liebesprobe tritt Sternheim Amalie als vorgeblicher Verehrer gegenüber und bringt sich geschickt in eine kompromittierende Position, indem er ihr zu Füßen fällt und sie um den Namen dessen bittet, der ihr als Nebenbuhler gefährlich werden könnte. Eben diese Position wird in einem typischen M i s r e a d i n g solcher ritualisierten Affektgesten zum Auftakt für die wiederum gespielte Auseinandersetzung zwischen den beiden Baronen: Seehof stellt Sternheim, wie es heißt, „mit verstellter Wuth“ zur Rede, Sternheim, so die Regieanweisung „stellt sich ganz beschämt“,37 aber Wilhelmine, die, anders als das Publikum, die gespielte Szene für wahr nimmt, beschuldigt nun Sternheim als „Betrüger! Heuchler!“ – und ununterscheidbar disputieren die beiden darüber, dass er, so sie, „den Liebhaber vortrefflich, meisterhaft gespielt“ habe, während er sich schwach verteidigt, man dürfe „aber nie einen Schauspieler nach einigen Scenen beurteilen“.38 Nach einigen weiteren gattungstypischen Irrungen und Wirrungen erscheint im 10. Auftritt schließlich – das klassisch für die Gegenintrige zuständige – „Kammermädchen der Baronin“, hier eine französisch benamte Lisette, und überreicht Sternheim vor den Augen Wilhelmines und Seehofs laut Regieanweisung ein Billett, mit dem Ausspruch: „Man hofft Sie auch bald zu sehen“.39 M a n , vielmehr die Absenderin Amalie, lädt demnach Sternheim, der immer noch als ihr heimlicher Verehrer oder Liebhaber verdächtigt wird, schon wieder zu sich ein – aber indem Lisette diese Botschaft mündlich überbringt, widerspricht sie ihr auch, denn offenbar ist diese typische Kurznachricht nicht der Inhalt des Billetts, das sie zugleich aushändigt. Vielmehr werden wir so auf dieses eigentümliche Papier-Ding selbst aufmerksam gemacht, das, wie der Fortgang deutlich macht, nicht offen übergeben wird, sondern ein in sich doppeltes ist, 36 37 38 39

Ebd. S. 8. Ebd. S. 12. Ebd. S. 13. Ebd. S. 16.

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nämlich entweder gefaltet und gesiegelt oder gar in einen Umschlag verpackt.40 Die folgende Passage, in der sich plötzlich das muntere Treiben bis zur Zeitlupe verlangsamt, muss entsprechend komplett gelesen werden, damit man sämtliche Implikationen dieser Aktion versteht: Sternh[eim:] (erbricht das Billett und liest es). Wil[helmine:] Ein Billett? Seeh[of:] (bey Seite lächelnd) Meine Frau will mich zur Verzweiflung bringen! (Zu Lisette) Darf man nicht wissen, von wem dieses Billett eigentlich ist? Lis[ette:] Dieses Billett? Seeh[of:] Ja, ja dieses Billett! Nur heraus mit der Sprache; sonst beym Himmel! … Wil[helmine:] (die den Sternheim immer beobachtet) Er scheint vom Inhalt ganz entzückt zu seyn! Sternh[eim:] (nachdem er das Billett gelesen, bey Seite) Wilhelmine ist der Preis! (Zu Lisette) Ich lasse mich der gnädigen Frau empfehlen und werde gleich selbst die Ehre haben, meine Aufwartung zu machen.41

Offensichtlich erfolgt so die mündliche Zusage auf die mündlich weitergeleitete Einladung, aber alle versammelten Personen des Stücks haben das je Ihrige dazu beigetragen, dass die gesamte Liebes- und Eifersuchtsverschwörung nun ihr Zentrum in jenem Billett hat. Denn wie sich im Fortgang zeigt, lassen sich die kompliziert verwickelten Handlungsfäden nicht auflösen, solange das Billett noch in weiteren Intrigenschritten von Hand zu Hand geht, gar gegen ein Porträt Wilhelmines eingetauscht werden soll, oder an seine Absenderin zurückgegeben, dann angeblich zerrissen wurde, aber doch nicht zerrissen ist, zurückgefordert, aber bei drohender Duellforderung und entsprechend tödlicher Gefahr nicht ausgehändigt wird, etc., etc. Wie solchermaßen das im Lustspiel erwartete glückliche Ende erreicht werden kann, wird zunehmend unklar, und so ist der Höhepunkt am Schluss nicht die gattungstypische Hochzeit (die beim Ehepaar Seehof ohnehin keine Option wäre), sondern die Verlesung des Billetts, dessen Inhalt somit zum ersten Mal ans Licht kommt. Es ist der Plan zur Gegenintrige von Amalie: Wilhel[mine:] (liest) Ich hoffe, Herr Baron! daß sie meine Grundsätze kennen […]. Ich wollte es versuchen, ob mein Mann wohl eifersüchtig auf mich seyn könne, und es freuet mich herzlich, mich davon überzeugt zu haben. Kommen Sie doch auf einen Augenblick

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41

Vgl. zur je eigenen „Materialität des Billets“ mit Hinweisen zu Formaten und Farben: Oesterle, Schreibszenen des Billets (Anm. 4), S. 118–120. Arnstein, Das Billett (Anm. 27), S. 16f.

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Von Hand zu Hand über Zeit und Raum zu mir, damit wir uns verabreden, seine Eifersucht noch mehr rege zu machen […]. Und wenn es Ihnen mit Wilhelminen Ernst war: so soll sie Ihre Belohnung dafür sein.42

Das Billett, dessen Text somit eher ein Briefblatt als ein kleines Kärtchen füllen kann, enthält so auch den Plan des Stücks, in dem es selbst schon stumm eine solch tragende Rolle gespielt hat. Es ist Text, materielle Requisite und Objekt der Handlung in einem, und wie in einer Nussschale birgt es so die ganze Welt einer kaiserlich-und-königlichen Hofkunst, die in empfindsamer Überformung zugleich Richtung Moderne transferiert wird, zu einer anderen Gefühlskultur, deren wichtiges Medium abermals das Billett werden wird.

3 Maskenspiele um Billetts und das Theater als Medium des Sozialen Dabei reagiert Arnsteins Reigen um das Billett mit den Künsten von Verstellung und Spiel offensichtlich bereits auf das Problem, dass man in Sozialen Medien und im wirklichen Leben den anderen hinter der Maske nie recht erkennen kann, wie es schon sein früheres einschlägiges Lustspiel Die Maske vorgeführt hatte, dazu in aller Kürze: Es präsentiert gleichfalls eine doppelte und mehrfache Liebes- und Eheprobe, denn hier ist ein adliger Ehemann mit dem sprechenden Namen R e i c h fasziniert von einer unbekannten Venezianerin, also einer entsprechend maskierten Dame, in der das (Lese-)Publikum von Anfang an seine Ehefrau Emilie erkennen. Auch hier muss mit mehreren Intrigen unter Aufbietung von allen Verstellungskünsten Eifersucht geweckt und Liebe geprüft werden, und schließlich ist gleichfalls ein Billett das Zentrum der Handlung, wieder als verdächtiger Gegenstand und vermeintliches Indiz des Betrugs eingeführt. Das Billett vertritt dabei im arrangierten Verdachtsszenario zugleich pars pro toto und symbolisch den unbekannten Liebhaber, der seinerseits metonymisch als Schäfer figuriert, getreu einem beliebten Rokoko-Maskenspiel der Liebe. So glaubt es jedenfalls der eifersüchtig gewordene Ehemann, der seine Emilie nach der Übergabe des Billetts entsprechend feurig zur Rede stellt: Reich. (höhnisch) Sie werden doch nicht grausam seyn, Madame, und Ihren zärtlichen Schäfer umsonst schmachten lassen? Haben Sie von Ihrem Anbeter noch kein Billet doux empfangen? Sagen Sie doch, sagen Sie Doch! Emilie. Nur ein einziges. Reich. Ja? Nun was schreibt er der Vielgeliebte? Findet er nicht erstaunlich viel Aehnlichkeit zwischen Ihnen und der Venus? oder findet er Sie vielleicht noch schöner? Was 42

Ebd. S. 33.

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Cornelia Ortlieb sagt er von dem Feuer seiner Liebe? Ist es nicht im Stande eine ganze Stadt in Brand zu stecken? Ha ha! Und wird sich der arme Mensch etwa nicht gar aus Verzweiflung eine Kugel vor den Kopf schießen?43

Diese kennerische Rede entlarvt aber offensichtlich zuallererst den Ehemann, der erkennbar genau weiß, wie solche ‚Billets doux‘ zu verfassen sind – und ja, wie man bald ahnt, ebenso selbst an die geheimnisvolle ‚Venezianerin‘ geschrieben hat. Die auch hier im doppelten Sinn inszenierte Übergabe vereint dabei auf engem Raum mehrere, offenbar gleichermaßen taugliche Attribute für diese wichtige Requisite, das materielle Ding und den Text, die abwechselnd als „Briefchen“ (im Sprechtext), und „Brief“ (in der Regieanweisung) bezeichnet werden.44 Der Dramentext gibt aber auch in mehrfacher Hinsicht zu erkennen, dass solche Themen und Motive unglücklicher Liebe jenseits ihrer komischen Persiflage längst in einem größeren Kommunikationsraum über Sprach- und Ländergrenzen hinweg geteilt werden: Reichs Diener Johann, der sich in der komödientypischen Parallelhandlung seinerseits in die maskierte Lisette verliebt, liest, wie man eingangs erfährt, Goethes Leiden des jungen Werther, den berühmtesten deutschsprachigen Briefroman, seine Frau hat Pamela und anderes gelesen, mithin dessen englische Vorläufertexte.45 Und schon ein kurzes Vorwort informiert die Leserschaft, dass „die Hauptidee dieses Stückes dem Herrn Boissy zugehöret“, die Handlung sei aber umgeändert, die Charaktere „teils neu, teils mehr nach deutschen Sitten eingerichtet“ und die Dialoge ganz von ihm, Arnstein, so dass es am Schluss heißt: „Ich hoffe, das Publikum wird mit dieser Kleinigkeit nicht unzufrieden sein, wenn es das französische Stück L’amant de sa femme [Der Liebhaber seiner Frau] mit dem meinigen vergleichet.“46 Eine solche vergleichende Lektüre konnte man seit 1753 auch mit einer deutschen Fassung betreiben; sie liegt im Nachlass Conrad Ekhofs, des einstmals berühmtesten deutschen Schauspielers, und heißt: Der Liebhaber seiner Frau oder Die Neben-Buhlerin von sich selbst. Ein Lust-Spiel von einer Handlung – ‚Lust-Spiel‘ interessanterweise hier mit Bindestrich.47 Im Verweis auf die ‚Kleinigkeit‘ des Stücks hat Arnstein so auch ein weiteres Mal die Verbindung von 43 44 45

46 47

Benedikt David Arnstein, Die Maske. Ein Lustspiel in einem Aufzug, Wien 1798, S. 30. Ebd. S. 29. Ebd. S. 7f., S. 16. Während Johann empfindsame Formeln der Liebesrhetorik zitiert und somit parodiert („Meine Liebe für diese göttliche anbetungswürdige Maske macht meine anderen Seelenkräfte ganz stumpf […]. Heute früh las ich eine ganze Stunde in den Leiden des jungen Wehrters [sic]“, ebd. S. 7f.) führt Lisette, die listige Intrigantin, im Gespräch mit Reich diese Lektüre explizit als Beeinträchtigung eines üblichen gesellig-galanten Verhaltens an: „schon längst bat ich Ihre Frau Gemahlinn [sic] sich doch einen guten Freund zu wählen, aber nein! ihre Pamela, und andere Bücher, die sie liest, wollen es durchaus nicht zugeben“, ebd. S. 16. Ebd. S. 3. [Konrad Ekhof,] Der Liebhaber seiner Frau oder Die Neben-Buhlerin von sich selbst. Ein Lust-Spiel von einer Handlung, o. O., o. J. [1753], Nachlass ‚Conrad Ekhof‘ der Forschungsbibliothek Gotha,

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Theater, Text und Billett betont und tatsächlich handelt es sich in diesen Fällen, wie gesehen, um serielle Produktionen, mit Reihen von Handlungen, wiederkehrenden Motiven, austauschbaren Figuren – und in der Berliner Staatsbibliothek liegt auch noch die frühe deutsche Ausgabe eines anderen Boissy-Stücks, sozusagen aus derselben Reihe, mit dem sprechenden Titel Die verwechselten Briefe.48

4 Serielles Liebeswerben. Goethes und Mallarmés Billettkalligraphie Dass eben solche Serialität eine eigene Kunstform entfalten oder einschließen kann dokumentiert diese Reihung von Billett-Texten in ihrer Verlängerung in die Zukunft: Kurz erinnert sei an Goethes sechs Billetts für Ulrike von Levetzow vom September 1823, der Zeit der sogenannten Elegie von Marienbad, in denen das Prinzip der Serie explizit benannt, bearbeitet und zugleich durchbrochen ist, indem das fünfte Kärtchen im gleichen Papier- und Schmuckformat unversehens zum Gedicht verwandelt wird und dabei doch zugleich Billett und ‚Billet doux‘ bleibt und wird: Aus der Ferne Am heissen Quell verbringst Du Deine Tage, Das regt mich auf zu innerm Zwist, Denn wie ich Dich so ganz im Herzen trage Begreif ich nicht wie Du woanders bist. 10. S. 1823

G49

Abb. 1: Johann Wolfgang von Goethes Aus der Ferne. Billett an Ulrike von Levetzow (Goethe und Schiller-Archiv Weimar, Sign. GSA 25/W 297).

48

49

Sign.: Chart.  B  1618, vgl. [29.6.2022]. [Louis de Boissy,] Die verwechselten Briefe. Lustspiel in einem Aufzuge nach dem Französisch des Herrn Boissy, Berlin o. J., Staatsbibliothek zu Berlin Unter den Linden, Sign.: 20 ZZ 6349. Goethe, Aus der Ferne. Den 10. September 1823, in: Sämtliche Werke. Propyläenausgabe, hrsg. von Curt Noch, Berlin o. J. [1909–32], Bd. 36, S. 15.

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Versuchsweise als K u r z n a c h r i c h t aufgefasst, ist diese Botschaft typisch für heutige ähnliche Mitteilungen: Ohne Anrede, ohne Schlussformel, aber mit Datierung und einer reduzierten Signatur, phantasiert man vom Ort des Anderen, teilt umstandslos sein eigenes Befinden mit und schließt wiederum mit der bedauernden Markierung der Abwesenheit, die doch zugleich mit eben dieser Annäherung im Schreiben von Hand zu Hand aufgehoben werden soll. Zugleich sind die Schmuckelemente des Textes visuelle Aktanten eigenen Rechts, die andere Botschaften übermitteln: Allein das Faktum der Handschrift im Zeitalter des Diktats und der Verweigerung der Herausgabe von Autographen bei Goethe ist sprechend, hier selbstredend auch die auffällige Schönschrift mit den gezierten Schwüngen bei Auf- und Abstrichen. Das liebevoll unter die Girlande gesetzte Datum, die Initiale, die wie ein Markenzeichen eingepasst ist in die harmonische Reihe identischer Palmetten, und nicht zuletzt der unverkennbar ernste Ton, bei aller Leichtigkeit im Hin und Her der Verse, machen deutlich, dass wir es auch über Zeilenbruch, Versmaß und Reim hinaus mit einem echten Liebesgedicht zu tun haben. 50 Und eben diese galante Kunst wird dann in den Pariser Salons des ausgehenden 19. Jahrhunderts zur Perfektion getrieben: Unzählige dieser kleinen Botschaften hat etwa Stéphane Mallarmé auf Zetteln, Visitenkarten, Briefumschlägen, aber auch auf Calvados-Krügen, Papierfächern und sogar auf flachen Kieselsteinen in typischerweise vier Verse gefasst zirkulieren lassen, in einem Kreis von Freunden und Frauen, darunter besonders Méry Laurent, die als Schauspielerin, Tänzerin und Kunstsammlerin in ihrem berühmten Salon die Künstlerfreunde und Gefährtinnen versammelt hat. Allein 250 erhaltene Briefe und Billetts Mallarmés mit zahllosen Gedichten rühmen ihre Schönheit und ihren Charme, wie ein besonderes Exemplar im interessanten Überschreiten des bekannten Formats gleich zeigen kann. Unter vielen möglichen Beispielen lässt sich zunächst auch ein nur implizit adressiertes Billett an eine Freundin herausgreifen, weil es so augenfällig die je eigene Medialität und Materialität dieser kurzen Nachrichten ausstellt, die häufig, paradox, erst durch die Möglichkeiten digitaler Reproduktionen überhaupt sichtbar werden:

50

Vgl. zu weiterführenden Überlegungen: Cornelia Ortlieb, Notieren, Billettieren, Übereignen. Goethes Dichten im Kopieren, Marienbad 1823, in: Jörg Paulus, Andrea Hübener, Fabian Winter (Hrsg.), Duplikat, Abschrift und Kopie. Kulturtechniken der Vervielfältigung, Köln  2020, S.  131–154; Cornelia Ortlieb, Ein Glas, zwei Kalender und sechs Billetts Goethes. Ding-Gemeinschaften, SchriftArtefakte und die Komparatistik als Objektforschung, in: Jörn Steigerwald, Hendrik Schlieper, Leonie Süwolto (Hrsg.), Komparatistik heute. Aktuelle Positionen der Vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft, Paderborn 2021, S. 115–139.

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Von Hand zu Hand über Zeit und Raum Je regrette les quatres ensemble La maman subtile à ranger Son trio dont elle est l’exempler Non loin de la fleur d’oranger SM

Abb. 2: Stéphane Mallarmé: Je regrette les quatres ensemble (Bibliothèque Littéraire Jacques Doucet, Paris MNR Ms 1216). Das kleine Gedicht ist Augusta Holmès gewidmet, einer virtuosen Pianistin und berühmten Komponistin, die mit dem Schriftsteller Catulle Mendès zusammenlebte, unverheiratet, mit gemeinsam fünf Kindern; ein Porträt von Renoir zeigt die drei Töchter am Klavier und mit Geige, so dass das galante Kompliment verständlich wird, wörtlich: „Ich vermisse die vier zusammen / Die Mama zart im Ordnen / Ihr Trio dem sie Vorbild ist / Nicht weit von der Blüte des Orangenbaums.“ Diese Fülle von Anspielungen und Implikationen lässt sich nur schwer mit auch nur annähernd leichter Hand auf Deutsch fassen, wie in dem schönen mehrsprachigen Hybrid von Kristin Sauer: Schade ums Viererensemble Von Maman subtil arrangiert Dem Trio ist sie Exempel Orangenblütengleich verziert.51

Entscheidend ist aber für die Billett-Lektüre, dass hier diese Worte ihrerseits „subtil arrangiert“ sind, auf einem kleinen Blatt Papier, das selbst schon eine Blüte trägt, von der man mit Sicherheit sagen kann, dass sie nicht von einer Orange stammt, denn diese wäre klein, weiß und vier- oder fünfblättrig und würde entsprechend sehr gut zu den duftigen Kleidern der (gemalten) Mädchen passen. Die gemalte Blume des Billetts scheint eher eine Art Glockenblume zu sein, mithin auch eine Pflanze, deren Blüte fünf Kelchblätter und fünf Kronblätter aufweist. Ihre filigranen Blätter weisen auf die gezierte Schrift, und die noch geschlossenen Knospen

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Die Übersetzung wurde im Rahmen des DFG-Projekts Artefakte der Avantgarden 1889–2015 angefertigt und soll Teil einer für 2023 geplanten Publikation (Stéphane Mallarmé, Verse unter Umständen) werden.

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oben links wiederholen sich im Schmuckelement der stilisierten Signatur aus den beiden Initialen des Dichters, S und M. Mallarmé hat sie wie ein Markenzeichen unter seine oftmals sozusagen im japanischen Dekor auftretenden Gedichte gesetzt, häufig mit einer gleichfalls ikonisch eingesetzten Schwinge, die an das omnipräsente Motiv des Flügels und des Auffliegens in seinen Texten erinnert. Sie steht auch unter einem Billett-Gedicht für Méry Laurent in ungewöhnlichem Format: Die übliche kleine Karte ist hier hochkant beschriftet, mit eng an den Rand geführten Schriftzügen und einer nochmals verzierten Signatur. Wie die Lektüre zeigt, kann das kleine Artefakt so gleichsam wie ein Spiegel vorgehalten werden und so auch der Adressatin den Anblick ihrer selbst im Gedicht-Porträt bieten: Puisque, sirène autant q’ondine, La dame aux yeux point superflus Ordonne qu’avec elle on dine, Soit: mais sans faire un plat de plus! SM Da Sirene, auch Undine Die Dame mit reichlich Augen Befiehlt, dass mit ihr man diniert Gut: doch e i n Teller muss taugen.52

Abb. 3: Stephane Mallarmé: Puisque, sirène autant q’ondine (Bibliothèque Littéraire Jacques Doucet, Paris, MNR Ms 1227). Auffällig ist hier zunächst der mehrfache Wechsel der Sprechsituation, der mit Veränderungen der Tonlage einhergeht: Im ersten und zweiten Vers wird eher ü b e r die adressierten weiblichen

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Stéphane Mallarmé, Puisque, sirène autant qu’ondine, Billett mit Gedicht für Méry Laurent, Bibliothek Jacques Doucet, Paris, in: Ortlieb, Weiße Pfauen (Anm. 8), S. 225, meine Übersetzung. Für ihre Hinweise und Übersetzungsvorschläge danke ich Christin Krüger und Vera Vogel. Vgl. zum Folgenden, teils in wörtlicher Übernahme, ebd. S. 225f.

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Wesen aus Mythos, Sage oder Legende gesprochen als m i t ihnen, im dritten Vers ist offenbar im Modus des Wunsches die Dame von einem wohl männlichen Sprecher indirekt angesprochen, der vierte Vers scheint ihre Antwort oder auch das Resümee dieser Anrede zu bieten. Als „Sirene“ und „Undine“ ist die Dame offenbar eine solche moderne Wasserfrau, deren Anweisungen Folge zu leisten ist, selbst um den Preis des drohenden eigenen Untergangs: „sans faire un plat“ ist auch idiomatisch für den ‚Bauchklatscher‘ gebräuchlich, für die schlechte Landung beim Sprung ins Wasser.53 Man benutzt die Wendung aber auch, um ‚Schmeicheleien‘ abzuwehren oder für beendet zu erklären; mitsamt dem einleitenden „Soit“ / „So sei es“, hier im Sinn einer Einverständniserklärung, ist eine Bedingung formuliert oder eine Unterlassung (des eigenen weiteren Schmeichelns) versprochen oder auch ein Ende (der fatalen Schmeicheleien der einladenden Sirene) gefordert. Rätselhaft bleibt zunächst, was im zweiten Vers mit den „yeux point superflus“, wörtlich: „kaum überflüssigen Augen“ gemeint sein könnte, abgesehen davon, dass mit dem Überfließen wörtlich das Wasser bezeichnet sein kann, das beim Weinen dem weiblichen Auge entströmen würde. Dann wäre mit der Einschränkung „point“ / „kaum“ auch ein Hinweis auf die Kühle oder Distanziertheit der nicht leicht zu rührenden Dame verbunden, was zu ihrer Art, gefährliche Diners zu befehlen, passen würde. Aber im Briefwechsel Mallarmé-Laurent figuriert die Adressatin durchgehend als Pfau, sowohl in den Anreden der Briefanfänge, als auch im Text und auch in der Bildsprache der vielen Gedichte und Zeichnungen. Ein vermutlich 1894 verfasster kurzer Brief beginnt entsprechend mehrdeutig und eindeutig mit der Anrede „Jette tes beaux yeux, Dame et Paon, sur cette publication“ / „Wirf deine schönen Augen, Dame und Pfau, auf diese Neuerscheinung“.54 Augen im „Überfluss“, die angesichts ihrer Schönheit und Pracht „kaum überflüssig“ sein können, trägt der Pfau auf seinem stolz präsentierten Rad – und wie immer gibt Mallarmé in dieser Bildsprache der ‚Dame‘ zugleich die Fähigkeit des m ä n n l i c h e n Pfaus zum Radschlagen, zur imponierenden Prachtentfaltung im Werben oder Drohen. Die androgyne Doppelgestalt macht evident, was zahllose Gedichtverse und Briefzeilen galant beschwören und umkreisen, ihre Einzigartigkeit, ihre Vollkommenheit.

5 Schluss und Ausblick (zum Himmel) Die Reihe der vorgestellten Billetts hat gezeigt, wie flexibel und weiträumig dieses analoge Format der Kurznachricht genutzt werden kann, indem es, wie schon die Beispiele aus Jean Pauls 53 54

Für diesen Hinweis danke ich Vera Vogel. Stéphane Mallarmé, Brief an Méry Laurent, [22. Oktober 1894], in: Lettres à Méry Laurent, hrsg. von Bertrand Marchal, Paris 1996, S. 180.

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Briefwechsel demonstrieren, gleichermaßen die formlose SMS mit ihrer technisch begrenzten Zeichenzahl antizipiert wie die E-Mail als schriftliche (Brief-)Nachricht mit gelockerten Vorgaben zu Anrede, Datierung, Ton und Abschiedsgruß, aber auch die quasi mündlich anmutenden Posts oder Chat-Nachrichten heutiger Sozialer Medien und Plattformnachrichtendienste. In Billetts auf Papier kann man sich darüber hinaus, wie etwa auch der Briefwechsel von Mallarmé mit Stefan George zeigt, ähnlich wie in Jean Pauls eingangs zitierter Vision, über Raum und Zeit hinweg die Hand reichen, auch wenn man nicht einmal eine Sprache teilt. Die Bildformeln solcher Kommunikation nehmen auch das vorweg, was man heute kurz Emojis nennt, festgefügte ikonische Zeichen für bestimmte Gefühlszustände und Annäherungsformen, und die ihnen verwandten, aus Satzzeichen gebildeten Emoticons.55 So dankt Mallarmé etwa in einem Billett auf einer seiner üblichen Visitenkarten, die in der Mitte seinen Namen in Kapitälchen trägt, George für die Übersendung eines – offenbar von Hand geschriebenen – Buchs mit Gedichten (wohl des späteren Jahr der Seele) mit einem „stummen Handschlag“ („une muette poignée“), und obgleich er mit eingestandener „Unwissenheit  / Unkenntnis“, „ignorance“, die deutschen Texte kaum lesen können wird, bezeichnet und rühmt er sie mit poetologischen Vokabeln, die für seine eigene Dichtung zentral sind, als „gebieterisch sichtbare Melodie“ („impérieuse mélodie visible“), den „breiten und sicheren Flug“ („vol épars et certain“), die und der „mit einem sicheren Zug die fließende Träumerei begrenzen“ („avec un trait sûr limitant la rêverie fluide“).56 Eine solche Kommunikation von Hand zu Hand mit ihren ästhetischen und poetologischen Implikationen bereitet so auch schon die Papierkunst der Avantgarden des 20. Jahrhunderts vor und die Vielfalt pausenloser Sendungen, Mitteilungen und Wertungen, die heute in den Sozialen Medien mehr oder weniger adressiert verteilt werden. Diese können für ähnliche Missverständnisse und emotionale Wirrnisse sorgen wie die strategisch eingesetzten schriftlichen und mündlichen Nachrichten der Gattung Billett im gleichnamigen Drama Arnsteins und im gleichermaßen poetischen Senden der Billetts Goethes an Ulrike von Levetzow. Und auch Jean Paul versichert uns Lesenden einmal mehr, er hätte uns zu gern etwas geschickt, nämlich sein neues Buch, den Hesperus, wenn er denn nur unsere Adresse gehabt hätte. In der kritischen Reflexion des virtuellen Umgangs mit seinen künftigen Lesern – und sicher auch Leserinnen – schreibt er in der Vorrede zu eben diesem Hesperus:

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Vgl. zur Unterscheidung und Geschichte dieser genuin japanischen Kommunikationsform: Gala Rebane, Emojis, Berlin 2021. Stéphane Mallarmé, Briefkarte an Stefan George, in: Stefan George, Stéphane Mallarmé, Briefwechsel und Übertragungen, hrsg. und eingeleitet von Enrico De Angelis, mit einem Nachwort von Ute Oelmann, Göttingen 2013, S. 72 und S. 92, leicht modifizierte Übersetzung CO.

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Von Hand zu Hand über Zeit und Raum Ich wollte mich anfangs ereifern über einige Heere von Lesern, mit denen ich in diesem Buche nichts anzufangen weiß; und wollte mich vorn an den Hesperus als Pförtner stellen und vorzüglich Leute mit der größten Unhöflichkeit fortschicken, die nichts taugen – […]. Warum habe ich nicht lieber in der ersten Zeile die Leser angeredet und bei der Hand genommen denen ich den Hesperus freudig gebe, und die ich mit einem Freiexemplar davon beschenken wollte, wenn ich wüßte, wo sie wohnten?57

Diese Post ist offenbar noch unterwegs, doch in seinen berühmten Exzerpten hat Jean Paul ein noch erstaunlicheres Brief-Ereignis notiert: „Im 6 ISäk. schrieb Christus einen Brief aus dem Himmel nach Spanien, ermahnte zur Sontagsfeier – auch im 8ten Maria schrieb einen an den Dominikaner Basilika“58. Aber immer wieder ankommen kann, wenn schon kein Freiexemplar des Hesperus, doch eben der Vorrede-Brief, geradezu ein ‚Billet doux‘ und zugleich das Billett, die Eintrittskarte, für dieses Werk, erst recht im Digitalen: Komm, liebe müde Seele, die du etwas zu vergessen hast, entweder einen trüben Tag oder ein überwölktes Jahr, oder einen Menschen, der dich kränkt, oder einen, der dich liebt, oder eine entlaubte Jugend, oder ein ganzes schweres Leben; und du gedrückterer Geist, für den die Gegenwart eine Wunde und die Vergangenheit eine Narbe ist, komm in meinen Abendstern und erquicke dich mit seinem kleinen Schimmer.59

Solche Briefe aus dem Himmel kann nur Jean Paul schreiben, ein Dichter, Erzähler und Visionär, dem jedes Medium ein soziales ist.

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Jean Paul, Hesperus. Vorrede, sieben Bitten und Beschluss, in: Sämtliche Werke, Bd. I / 1 (Anm. 1), S. 487. Jean Paul, Exzerpte & Register, „Enzyklop. – Briefwechs. zwisch. Paul. und Seneka“ [29.6.2022] unter [register-briefe-0056]. Zur besseren Lesbarkeit wurden die Ergänzungen der Herausgeber ungekennzeichnet übernommen, einschließlich des nicht erhellten I vor „Säk“. Jean Paul, Hesperus. Vorrede (Anm. 57), S. 487.

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Codierte Nähe Von Codes, Blumen und Bildern in Privatnachrichten des 19. und 21. Jahrhunderts Sophia Victoria Krebs

1 Briefe und Privatnachrichten Soziale Nähe kann trotz physischer Entfernung medial hergestellt oder aufrechterhalten werden. Neben verbalen sind dafür in der schriftlichen Kommunikation non- und paraverbale Zeichen (Layout, Schriftwahl und -gestalt, Emphasen etc.) und intime Codes maßgeblich relevant. In diesem Beitrag werden private Kommunikationsmöglichkeiten und nichtsprachliche Elemente in privaten Briefen (und nicht in offiziellen Schreiben) und digitalen Privatnachrichten (und nicht in öffentlichen Beiträgen auf Social Media-Plattformen) miteinander verglichen. Der Fokus liegt dabei auf Praktiken und Funktionen des Versandes von Bildern, speziell (Selbst-) Porträts, und Blumen sowie den zur Verfügung stehenden Zeichensets und deren Codierung. Deshalb werden zunächst schriftliche Kommunikationsmedien und deren Grenzen in Bezug auf Hardware, Software und Codes besprochen, um anschließend zu untersuchen, welche Bedeutung ein geschützter Kommunikationsraum für die schriftliche 1:1-Kommunikation zwischen einander nahestehenden Personen zur Herstellung eines Gefühls von persönlicher Nähe hat.

2 Medien und ihre Grenzen Im Nachfolgenden liegt der Schwerpunkt auf den materiellen Gestaltungsmitteln, denn, wie Andi Gredig feststellt: „Zur sozialen Bedeutung einer Nachricht tragen neben Wortwahl und

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Syntax auch die materielle Gestalt und die Übermittlung des Textes bei“ – allerdings stets innerhalb der vorhandenen technischen Möglichkeiten.1

2.1 Medien und Hardware Im Rahmen eines technologischen Medienkonzepts2 sind Medien nach Stephan Habscheid „materiale, vom Menschen hergestellte Apparate zur Herstellung, Modifikation, Speicherung, Übertragung oder Verteilung von sprachlichen (und nicht-sprachlichen) Zeichen“.3 Dies bezieht sich vor allem auf sekundäre Medien, bei denen für die Kommunikation ein technisches Gerät auf der Produktionsseite vorhanden sein muss, nicht jedoch auf der Seite des Rezipienten. Im Falle des Briefes wäre dieses technische Produktionsgerät das Schreibutensil, bis Anfang des 19. Jahrhunderts also die Gänsefeder. Das Lesen eines Briefes erfordert keine Gerätschaft, sondern ausreichend Licht, gesunde Augen und Lesefähigkeit. Tertiäre Medien hingegen zeichnen sich dadurch aus, dass sowohl auf Produktions- als auch auf Rezeptionsseite ein technisches Gerät vorhanden sein muss, etwa bei der Kommunikation via E-Mail, für die der Sender und der Empfänger über einen Computer oder ein Smartphone mit Internetanschluss, entsprechende Software sowie eine E-Mail-Adresse verfügen müssen. Mit dem Oberbegriff ,Hardware‘ werden im Computerbereich sämtliche physischen Komponenten bezeichnet, die zum System zählen. Neben dem Bildschirm, der Platine, den physischen Speichermedien gehören auch Eingabegeräte wie Tastatur und Maus sowie Ausgabegeräte wie Bildschirm und Drucker dazu. Das Smartphone besteht ebenfalls aus verschiedenen Hardwarekomponenten. Somit unterscheiden sich die technischen Voraussetzungen und kommunikativen Rahmenbedingungen der Kommunikationsform ‚Privatnachricht‘ im Briefverkehr und in digitaler Kommunikation allein schon hinsichtlich der notwendigen Gerätschaften grundlegend voneinander.

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Andi Gredig, Die Spur der Gefühle. Kulturanalytische Überlegungen zum emotionalen Wert der Handschrift, in: Stefan Hauser, Martin Luginbühl, Susanne Tienken (Hrsg.), Mediale Emotionskulturen, Bern 2019, S. 39‒56, hier S. 44 (im Original mit Hervorhebungen). Vgl. für einen Überblick über die verschiedenen Modelle etwa Christa Dürscheid, Medien, Kommunikationsformen, kommunikative Gattungen, in: Linguistik Online, 22/1  (2005), [18.1.2022], Abschnitt 2. Stephan Habscheid, ‚Medium‘ in der Pragmatik. Eine kritische Bestandsaufnahme, in: Deutsche Sprache, 28/1 (2000), S. 126–143, hier S. 137.

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Da bei digitalen Nachrichten Eingabe- und Ausgabemedium nicht identisch sind, hängt die Darstellung der Botschaft vom Ausgabemedium und den individuell getroffenen Voreinstellungen ab. Das verwendete Eingabemedium ist für den Empfänger teilweise durch zusätzlich übermittelte Informationen erkennbar, wie etwa die Mitteilung „Gesendet von meinem iPhone“ in E-Mails.4 Durch die Abhängigkeit vom Ausgabegerät ist die empfangene Nachricht in ihrer Gestalt dynamisch und nur in ihrer temporären Ansicht fixierbar, beispielsweise durch ein Bildschirmfoto. Briefe bestehen hingegen üblicherweise aus Umschlägen und Briefblättern aus Papier mit aufgetragenen Schriftzeichen. Sie sind unikal und nicht verlustfrei vervielfältigbar. Die in Briefen mitgeteilten Informationen können zwar weitergegeben werden (etwa durch eine Abschrift), der Brief selbst existiert jedoch nur ein einziges Mal. Ein- und Ausgabemedium sind dasselbe, nämlich das Papier, die versendete Nachricht ist statisch; der Empfänger hält ein- und denselben Datenträger in Händen, den zuvor der Absender produziert, berührt und verschickt hat (von Spuren des Transports und der Lagerung abgesehen), wodurch das Objekt auratisch aufgeladen wird.5 Digitale Nachrichten hingegen können, da sie körperlos übertragen werden, beliebig oft vervielfältigt und weitergeleitet werden, ohne dass ein Datenverlust entsteht.

2.2 Software, Zeichensets und Codes Sowohl in der digitalen als auch in der analogen Kommunikation werden Codes eingesetzt. „Ein Code“, so Roland Posner, „besteht aus einer Menge von Signifikanten, einer Menge von Signifikaten und einer Menge von Regeln, die diese einander zuordnen.“6 Rudi Keller und Helmut Lüdtke differenzieren zwischen natürlichen, künstlichen und Codes der „dritten Art“,7 die als konventionell betrachtet werden können. Unter natürliche Codes fallen jene, die angeboren beziehungsweise vererbbar sind, wie etwa der Tanz-Code der Bienen; sie sind hier nicht von Belang. Künstliche Codes sind planvoll 4

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Ein solches sogenanntes Sourcelabel existiert auch auf der sozialen Plattform Twitter und vermerkt unter dem öffentlichen Tweet das Eingabemedium, etwa „Twitter for Android“, „Twitter for iPhone“ oder „Twitter Web App“. In Direktmitteilungen ist das Eingabemedium jedoch nicht zu erkennen. Vgl. dazu Almuth Grésillon, Literarische Handschriften im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Von der Mimesis zur Simulation, in: Andreas Kablitz, Gerhard Neumann (Hrsg.), Mimesis und Simulation, Freiburg i. Br. 1998, S. 255–275. Roland Posner, Kultursemiotik, in: Ansgar Nünning, Vera Nünning (Hrsg.), Konzepte der Kulturwissenschaft, Stuttgart 2003, S. 39–72, hier, S. 42. Rudi Keller, Helmut Lüdtke, Kodewandel, in: Roland Posner, Klaus Robering, Thomas A.  Sebeok (Hrsg.), Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 1: Systematik / Systematics, Berlin / New York 1997, S. 414–435, hier S. 415.

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entworfene, eindeutig de- und entcodierbare Codes wie etwa der Morsecode, der Binärcode oder Straßenschilder. Sie sind nur gezielt und intentional veränderbar (im Digitalen etwa durch Übereinkünfte des W3C8 oder des Unicode-Konsortiums9). Als Codes der dritten Art bezeichnen Keller und Lüdtke schließlich „solche, die Ergebnisse menschlichen Handelns sind, nicht aber willentlich (und meist auch nicht wissentlich) von Menschen geschaffen wurden“.10 Sie sind weder eindeutig natürlich noch eindeutig künstlich, sondern kulturell, erlernbar, potenziell tradierbar und wandelbar (etwa eine natürliche Sprache oder der ,Blumencodeʻ, der weiter unten thematisiert wird). Künstliche Codes sind somit statisch und werden festgelegt, Codes der dritten Art können ambig sein, ihre Bedeutung ändert sich mit der Zeit und je nach Kontext. Eingabe = Ausgabe Der Zeichensatz in der handschriftlichen Kommunikation besteht aus allen Zeichen, die beherrscht werden und bekannt sind. Beim Handschreiben „kann der Schreiber handschriftlich jedes beliebige Bildzeichen in den Text integrieren. Die Grenzen liegen hier nur in seinem zeichnerischen Geschick, nicht aber in dem, was die Technik möglich macht“, so Christa Dürscheid.11 Anders sieht es beim Maschinenschreiben aus: Eine deutsche Schreibmaschinentastatur ist standardmäßig im QWERTZ-Layout angeordnet und bietet oft mindestens 44²+1 (Leerzeichen) Zeichen, also das lateinische Alphabet in Minuskeln und Majuskeln sowie Umlauten, Ziffern, Satz- und Sonderzeichen.12 Die Schriftart ist von der Type der Maschine abhängig, die Schriftfarbe vom eingesetzten Farbband. Zeichen, die auf der Tastatur nicht vorhanden

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Das World Wide Web Consortium, kurz W3C, ist ein 1994 am MIT Laboratory gegründeter Zusammenschluss von Mitgliedern, das u. a. technische Richtlinien erstellt und der Standardisierung von Techniken im Internet dient. Vgl. zum Unicode-Konsortium die Selbstdarstellung unter [22.2.2022]. Vgl. außerdem Christa Dürscheid, Bild, Schrift, Unicode, in: Guido Mensching, Jean-Yves Lalande, Jürgen Hermes, Claes Neuefeind (Hrsg.), Sprache – Mensch – Maschine. Beiträge zu Sprache und Sprachwissenschaft, Computerlinguistik und Informationstechnologie, Köln  2018, S.  269–285, hier S.  276–278. Online publiziert unter [21.2.2022]. Keller, Lüdtke, Kodewandel (Anm. 7), S. 417. Dürscheid, Bild, Schrift, Unicode (Anm. 9), S. 276. Mechanische Kleinschreibmaschinen bieten oft zusätzliche Tasten, mit denen die Schriftfläche und das Layout gestaltet werden können, beispielsweise verfügt die Schreibmaschine Erika 40 (Produktion ab  1965 im VEB Schreibmaschinenwerk Dresden) über Tabulatorsetzer und  -löscher, Rücktaste, Tabuliertaste, linken und rechten Umschalter, Umschaltfeststeller, Leertaste, Randlöser sowie Farbbandeinsteller.

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sind, können nicht (maschinell) geschrieben werden, sondern müssen handschriftlich ergänzt werden. Eingabe ≠ Ausgabe Das QWERTZ-Layout wurde auch für Computertastaturen übernommen, jedoch benötigen personale Computer ein Textverarbeitungsprogramm, da die in den PC eingegebenen Befehle elektronisch verarbeitet werden müssen. Die Zeichen werden im Gegensatz zur handbetriebenen Schreibmaschine13 nicht mechanisch auf ein Blatt Papier übertragen, sondern materialisieren sich erst dann, wenn sie auf den Ausgabebildschirm übertragen oder sie durch Erteilen eines Druckbefehls auf Papier gebannt werden. Auf diese Art erstellte Dokumente funktionieren nach dem Prinzip Eingabe – Verarbeitung – Ausgabe und sind deshalb dynamisch. In Computern wird unter anderem der ASCII, also der American Standard Code for Information Interchange, verwendet, um mittels binär codierter Bitfolgen Schriftzeichen zu übermitteln. ASCII wurde aus dem Morsecode entwickelt und bestand ursprünglich aus 128 Zeichen (27), also sieben Bit, wobei ein Bit die kleinste Informationseinheit darstellt. Als dieses Zeichenset nicht mehr ausreichte, wurde es auf 8-bit (28) erweitert, womit fortan 256 Zeichen zur Verfügung standen.14 Weil damit nur das lateinische Alphabet abgedeckt war, wurde ein internationaler Codierungsstandard, der Unicode-Standard, als Reaktion auf die durch das Internet steigenden Anforderungen an die weltweite Kommunikation entwickelt. In der Version 14.0 von September 2021 sind 159 Schriftsysteme und 144 697 Zeichen enthalten, darunter auch Emojis (das sind kleine, in der digitalen Kommunikation eingesetzte Piktogramme oder Ideogramme).15 Schriftliche digitale Nachrichten müssen mit diesem Zeichenangebot auskommen, denn ist „ein Graphem nicht im Unicode erfasst oder kein Font mit passender Glyphe vorhanden, lässt sich das jeweilige Zeichen schlicht nicht schreiben“.16 Im Brief ist der Schreiber durch die Blattgrenzen beschränkt, zugleich kann er sich alinear (etwa in Form eines hochkant gesetzten Nachtrags am Blattrand) mitteilen und sämtliche Zeichen formell völlig frei auftragen, ob etabliert und konventionalisiert oder nicht. In digitalen Nachrichten ist der Absender durch die Sequenzierung an die vorgegebene Linearität sowie

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Elektronische Schreibmaschinen stellen einen Zwischenschritt zwischen handschriftlichem Schreiben und Computern dar. UTF-8 ist die am weitesten verbreitete Kodierung für Unicode-Zeichen, über 97 % aller Websites verwenden UTF-8 (Stand: Januar 2022). Siehe N. N., Historical trends in the usage statistics of character encodings for websites, [20.1.2022]. Siehe [14.9.2021]. Till A.  Heilmann, Handschrift im digitalen Umfeld, in: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (OBST), 85 (2014), S. 169–192, hier S. 189.

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an die durch Unicode verfügbaren Zeichensets gebunden. Die Gestalt dieser Nachrichten ist nicht nur vom Ausgabemedium des Empfängers abhängig, sondern etwa auch von der Browser- bzw. Appfensterbreite, die den Zeilenfall bestimmt, vom Betriebssystem, von der Anzeigeschrift und vielem mehr. Die grundsätzliche Dynamik der digitalen Nachricht reduziert die Bedeutungspotenziale einerseits, da nur binäre Daten – die erst decodiert und dargestellt werden müssen – anstelle fixierter Zeichen übertragen werden; zugleich werden sie aber vervielfacht. Die Abhängigkeit der Nachrichtengestalt vom Ausgabegerät kann dazu führen, dass Zeichen beim Rezipienten anders (oder gar nicht) dargestellt werden, als sie beim Produzenten eingegeben und angezeigt wurden. Dies betrifft vor allem seltene Schriftarten, Sonderzeichen und Emojis.

2.3 Privatheit und Sicherheit Die gewähnte Sicherheit des Übertragungskanals hat Einfluss auf die mitgeteilten Inhalte und die Zeichenwahl. Die Bereitschaft zur Übermittlung privater oder intimer Nachrichten setzt das Vorhandensein eines geschützten Raumes voraus, denn einmal materialisierte Gedanken laufen stets Gefahr, entdeckt und von Unbefugten gelesen zu werden. Briefe waren und sind durch das rechtlich gewährte Briefgeheimnis vor staatlichem und zivilem Einblick geschützt.17 So sollen nicht-öffentliche Informationen davor bewahrt werden, vom Staat abgehört oder gespeichert zu werden, um den freien Austausch von Gedanken und Meinungen zu ermöglichen. Erst durch die Gewährung dieses Schutzes vertrauen die Kommunikationspartner auf den Kommunikationskanal, wiegen sich ausreichend in Sicherheit und tauschen deshalb überhaupt brisante politische oder private Informationen aus.18 Dieses Vertrauen wurde in der Geschichte jedoch wiederholt gebrochen. Das Bekanntwerden sogenannter Schwarzer Kabinette19 (also staatlicher Einrichtungen, in denen Briefe abgefangen und gelesen wurden) Ende des 18. Jahrhunderts und Beschlüsse zur Einführung

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Das Pendant für den Schutz von Botschaften über Telekommunikationswege ist das Fernmeldegeheimnis, das den Schutz des Bürgers gegenüber dem Staat gewähren soll und das, ebenso wie das Briefgeheimnis, im Grundgesetz verankert ist. Vgl. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 10. Vgl. dazu Cornelia Bohn, Die Beredsamkeit der Schrift und die Verschwiegenheit des Boten, in: Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hrsg.), Systemtheorie der Literatur, München 1996, S. 310–324. Vgl. einführend Klaus Beyrer, Die Schwarzen Kabinette der Post. Zu einigen Beispielen der organisierten Briefüberwachung, in: Wilhelm Haefs, York-Gothart Mix (Hrsg.), Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis, Göttingen 2007, S. 45–59.

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digitaler Kontrollprogramme wie dem ,Staatstrojaner‘20 oder regelmäßig publik werdende Datenskandale21 im 21.  Jahrhundert untergraben das Sicherheitsempfinden und das Vertrauen der Bevölkerung in die Kommunikationswege bisweilen empfindlich. Gegen solchen Geheimnisbruch wurden systematisch Maßnahmen eingesetzt, im Brief etwa ein Siegel, welches die unrechtmäßige Lektüre zwar nicht verhindern, doch aber zumindest erkennbar machen kann. Nachdem die Praktiken des Briefabfangens und der Betrieb Schwarzer Kabinette breiter bekannt geworden waren, entwickelten mehr und mehr Briefschreiber individuelle Sicherheitsmaßnahmen zur geheimen Informationsübermittlung, z. B. Geheimtinten, Geheimschriften, entlegene Fremd- und Geheimsprachen, kryptographische und / oder steganographische Verschleierungen von Informationen.22 Im digitalen Kontakt soll der Zugang zu Postfächern über Passwörter und Zwei-FaktorAuthentifizierung geschützt werden. Doch auch hier verläuft die Datenübertragung über von außen angreifbare Kanäle, allerdings im Regelfall ohne dass die Korrespondenten die Möglichkeit haben, diese Zugriffe entdecken zu können.23 Aus diesem Grund und da verbotene Inhalte oder als problematisch angesehene Begriffe auf den weltweit meistgenutzten und durchweg kommerziell betriebenen sozialen Plattformen zu einer Sperrung persönlicher Nutzerkonten führen können, wurden auch für den digitalen Bereich Verschlüsselungsmethoden entwickelt. Hier wird teilweise der Zeichengebrauch verändert, damit entsprechende Nachrichten beim automatischen Durchsuchen der Plattformen 20

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Solche Staatstrojaner werden offiziell als ‚fernforensische Softwareʻ bezeichnet. Vgl. zudem David Fischer, Deutschland, Neue Überwachungsgesetze erlauben Einsatz von Staatstrojanern, [5.1.2022]. Etwa das 2018 bekannt gewordene Datenleck von Facebook, bei dem Daten von bis zu 87 Millionen Usern mit der Datenanalysefirma Cambridge Analytica geteilt wurden, vgl. Tagesschau.de, FacebookDatenskandal. Bis zu 87 Millionen Nutzer betroffen, [5.1.2022]. Es wurden zahlreiche Anleitungen publiziert, die verschiedene Techniken zur Geheimhaltung vermittelten, etwa die Werke: N. N., Wie sichert man sich vor Brief-Erbrechung und deren Verfälschung? In drey verschiedenen Abhandlungen. Nebst Siegel- und Schrift-Cabinetten für den Liebhaber, Lübeck / Leipzig 1797; N. N., Mysterienbuch alter und neuer Zeit, oder Anleitung geheime Schriften lesen zu können, geschwind und kurz schreiben zu lernen, in gleichen Chiffern aufzulösen. Nebst einem Anhange die Blumenchiffern der Morgenländerinnen zu verstehen und nachzuahmen, Leipzig 1797 oder J[ohann Joseph Heinrich] B[ücking], Anweisung zur Geheimen Correspondenz systematisch entworfen, Wolfenbüttel 1804. Ein gravierender Unterschied zur staatsnahen Post ist hierbei, dass ein Großteil der Webmail-Anbieter sowie soziale Plattformen und Messengerdienste in privater Hand sind und ihren Firmensitz oft im Ausland haben, wodurch die Rechtslage häufig unklar ist. Betreiber sozialer Netzwerke legen zudem ihre Algorithmen nicht offen und kooperieren oft nicht mit staatlichen Stellen, wodurch die Strafverfolgung bei Rechtsbruch erschwert wird.

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auf bestimmte Schlagwörter durch künstliche Intelligenz bzw. Wortfilter nicht entdeckt werden können. Begriffe und Wendungen, die in einigen Gemeinschaften oder Kontexten als moralisch fragwürdig gelten, werden verfremdet, etwa Beleidigungen, Gewaltäußerungen oder sexuelle Anspielungen.24 Eine Methode ist seit Anfang der 2000er Jahre der Einsatz der sogenannten ,Leetspeakʻ, wobei Buchstaben durch Ziffern und Sonderzeichen ersetzt werden, die ihnen in der Gestalt ähneln.25 Ähnlich werden auch Emojis genutzt, um Nachrichten zu codieren, indem sie Buchstaben, Silben oder Wörter nach phonetischer und / oder optischer Ähnlichkeit ersetzen.26 Für die Verwendung muss der Kommunikationspartner sie dechiffrieren können. Neben dem Verschleierungseffekt hat der Gebrauch von geheimen Codes zusätzlich den Effekt, dass eine Art Geheimbund konstituiert wird, denn durch das (implizite) Abkommen zur Geheimhaltung verbindet ein geteiltes Geheimnis die Personen miteinander.27

3 Bildversand Kleine Mitsendungen in Form von Bildelementen innerhalb einer Nachricht oder als Beigaben können der Stärkung der Bindung, dem Verschaffen von Nähe, dem Mitteilen weiterer Informationen oder der näheren Illustration von Beschriebenem dienen. Die Spielräume sind hierbei genau so groß, wie es das Kuvert oder die zugelassene Maximalgröße des Dateianhangs hergeben. Auf dem Briefpapier können Zeichnungen oder Sonderzeichen, verzierte Schriftzeichen oder eine bildhafte Schriftzeichenanordnung den visuellen Modus beliebig erweitern. Größere Zeichnungen in Briefen waren allerdings selbst im 18. und frühen 19. Jahrhundert noch selten, während es nicht unüblich war, Beigaben wie Scherenschnitte bzw. Schattenrisse oder Skizzen

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Vgl. etwa für die kenianische Sprachgemeinschaft, Sandra Barasa, Leetspeak in linguistic taboos. A study of Social Network Sites in Kenya, in: Studies in Taalbeheersing, 4 (2013), S. 49–58. Etwa wird „3“ oder „€“ für „E“; „!“ oder „1“ für „I“; „@“ oder „4“ für „A“ verwendet. „Leetspeak“ kam Anfang der 2000er innerhalb der Computerspiele- und -programmierszene auf, steht für „Elite speak“ und wird üblicherweise mit „1337“ (also „leet“ für „elite“) bezeichnet. Teilweise ersetzen auch mehrere (Sonder-)Zeichen zusammen einen Buchstaben, wie etwa „|)“ für „D“. Somit gibt es Ähnlichkeiten mit der unten angeführten ASCII-Art. Das Wort „Brief“ könnte in leetspeak mit „8R13f“ ausgedrückt werden. Vgl. etwa Kayla Steinberg, People are using coded language to avoid social media moderation. Is it working?, [4.11.2021]. Vgl. Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, hrsg. von Otthein Rammstedt (zuerst 1902), Frankfurt a. M. 1992, S. 422. Dieser Geheimbund kann jedoch auch durch den Codegebrauch in öffentlich übermittelten Nachrichten geformt werden.

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mitzusenden.28 Scherenschnitte dienten der Vergegenwärtigung der abwesenden Person und ermöglichten in Hoch-Zeiten der Lavater’schen Physiognomieansätze einen ersten optischen Eindruck von sich mitzuteilen, da sich Korrespondenzpartner teilweise auch nach Jahrzehnten der Korrespondenz nie persönlich getroffen und gesehen haben. Diese Scherenschnitte wurden mit dem Aufstreben des Bürgertums beliebt. Der Trend zum Porträtieren lässt sich zunächst aus dem Schmuckbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger des 18.  Jahrhunderts ableiten, das mitunter der Nobilitierung ihrer selbst durch Anlehnung an Fürstentum und Adel diente.29 Der Schattenriss war eine kostengünstige Möglichkeit für das Kleinbürgertum, ähnlich den Adeligen und Wohlhabenden eine Art Porträt von sich herzustellen und es – im Miniaturformat – auch in Briefen zu versenden, um dem Wort und der Handschrift ein Gesicht, wenigstens ein Profil, zu verleihen, etwa Georg Christoph Lichtenbergs Profil (Abb. 1).

Abb. 1: Scherenschnitt, Georg Christoph Lichtenberg zeigend (aus: Silhouetten aus der Goethezeit. Aus dem Nachlasse Johann Heinrich Mercks, hrsg. von Leo Grünstein, Wien 1909, Tafel LI). 28

29

Vgl. Rolf-Bernhard Essig, Gudrun Schury, Bilderbriefe. Illustrierte Grüße aus drei Jahrhunderten, München 2003, S.  [24]. Vgl. auch Andrea Hübener, Jörg Paulus, CC (Carbon Copy), BCC (Blind Carbon Copy) und DC (Data Compression). Vervielfältigen, Verbergen und Verdichten von Bild und Schrift in Briefen des 18. und 19. Jahrhunderts (in diesem Band, S. 269–292). Vgl. Leo Balet, E. Gernhard, Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert, hrsg. und eingeleitet von Gert Mattenklott, Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1973, S. 166.

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Im elektronischen Datenverkehr lassen sich lediglich virtuelle Objekte bzw. Bilder versenden, etwa in Form einer eingefügten oder an eine Nachricht angehängten Datei oder in Form einer Verlinkung, die auf ein an anderem Ort gespeichertes Bild verweist. Innerhalb der Nachricht begrenzen Datei- oder Postfachgrößen den Versand. Das ,Selfieʻ, also das fotografische Selbstporträt, ist eine im 21.  Jahrhundert besonders beliebte Form der Bildversendung; auch hier tritt ein Vergegenwärtigungseffekt ein.30 Der Begriff wird seit den 2000er Jahren verwendet, die Praxis der Selfie-Anfertigung wurde besonders mit der Verbreitung von Smartphones mit eingebauter Frontkamera beliebt. Diese Selbstporträts sind kontrollier- und veränderbar, etwa durch diverse Filter oder Bildbearbeitungsprogramme; sie können, im Gegensatz zum Schattenriss, innerhalb von Sekunden und ohne fremde Hilfe angefertigt werden. Sie ermöglichen dem Empfänger, den Körper oder das Gesicht des Absenders zum aktuellen Zeitpunkt, eventuell kurz vor oder nach Verfassen einer Nachricht, digital vermittelt zu sehen, der Absender kann sich so zeigen, wie er gesehen werden will. Allerdings handelt es sich hierbei um eine recht junge Entwicklung, für die erst die technischen Voraussetzungen geschaffen werden mussten. Für die maschinengestützte Kommunikation standen zunächst nur behelfsmäßig aus dem vorhandenen Zeichensatz erzeugte Bilder zur Verfügung, die notwendig linear waren und innerhalb der Layoutvorgaben und -begrenzungen entwickelt wurden. Dies begann bereits kurz nach Einführung der Schreibmaschine mit der sogenannten Schreibmaschinenkunst. Ab den 1890er Jahren wurden in den U.S.A. Schreibmaschinenkunstwettbewerbe abgehalten.31 Diese Kunstform wurde mittels ASCII auch auf Computern fortgeführt und war vor der Einführung grafikfähiger PCs die einzige Möglichkeit, digitale Bilder zu kreieren. Aus der Zweckentfremdung der 128 Zeichen wurde die sogenannte ASCII-Art geschaffen.32 Eine Rose kann so innerhalb einer Zeile mit folgenden Zeichen dargestellt werden: @>–}–. Zugleich wurden Emoticons33 populär, die der Mitteilung von Stimmungen oder Gefühlen dienen, das bekannteste ist der Smiley :–).34 Sie waren der Zwischenschritt hin zu Emojis, die erstmals 2010 in Unicode (Version 6.0) aufgenommen wurden.35 30

31

32 33 34

35

Vgl. etwa Gabriel Faimau, Towards a theoretical understanding of the selfie. A descriptive review, in: Sociology Compass, 14/12 (2020), S. 1–12, hier S. 4, [18.1.2022]. Kate OʼRiordan, ASCII Art, in: Steve Jones (Hrsg.), Encyclopedia of New Media. An Essential Reference to Communication and Technology, Illinois 2002, S. 15–16, hier S. 15. Vgl. ebd. sowie [18.01.2022] ‚Emoticon‘ ist ein Schachtelwort, zusammengesetzt aus ‚Emotion‘ und ‚Icon‘. Der erste Beleg für die Verwendung des Smileys „:–)“ in elektronischer Kommunikation stammt aus einer Nachricht auf einem bulletin board der Carnegie Mellon University von Scott E. Fahlman vom 19. September 1982, 11:44 Uhr. Vgl. Benjamin Zimmer, The prehistory of emoticons, [21.9.2007]. Siehe Unicode®  6.0.0, veröffentlicht im Oktober  2010, [1.7.2022].

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Codierte Nähe

4 Blumenversand Neben Bildern ließen und lassen sich auch Blumen in Briefen versenden. Blumen sind nicht nur hübsche Gaben, sondern können, beruhend auf der „Idee einer typologischen Lesbarkeit von Natur“,36 ebenfalls codiert sein. Alexander Schwan zufolge bedeutet „die Ingebrauchnahme von Blumensprache, Grenzen des Sagbaren zu markieren und zu überschreiten. Was scheinbar nicht gesagt werden kann, weil es moralische Grenzen oder die Grenzen emotionaler Verbalisierung verhindern, wird durch die Blume dennoch zum Ausdruck gebracht“.37 Die Wahl der Blume war besonders ab dem späten 18. Jahrhundert nicht nur individuellen Vorlieben unterlegen,38 sondern es existierte eine Art eigener Blumensprache oder Blumencode, bekannt geworden durch Mary Wortley Montagus Briefe aus Istanbul (1763–67)39 und Charlotte de Latours Le Langage des fleurs (1819).40 Die darin aufgeführten Deutungsoptionen speisen sich aus tradierten Bedeutungszuweisungen, literarischen Beispielen oder der Kreativität der Verfasserinnen. Beverly Seaton hat für die ,Grammatikʻ der Signifikaten von Latours Blumensprache grob drei Klassen identifiziert: charakterliche Qualitäten, Gemütszustände sowie Situationen oder Aspekte des Liebeslebens.41 Beispielsweise konnte das Geißblatt, je nach Schlüssel, für „Darf ich hoffen?“42 oder „Je länger, je lieber“43 stehen, die Brombeere für „Zürne nicht länger“44 oder „Du erregst mir Furcht und Hoffnung“.45 Zudem konnten mittels sogenannter Blumenuhren nonverbal Uhrzeiten für (geheime) Verabredungen mitgeteilt werden; eine Nelke etwa kann für „elf Uhr“ stehen. Zur Differenzierung zwischen Blumensprache und 36

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39

40 41

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43

44 45

Alexander Schwan, Blumen müssen oft bezeigen, was die Lippen gern verschweigen. Floriographie als Sprache der Emotionen, in: Viktoria Räuchle, Maria Römer (Hrsg.), Gefühle Sprechen. Emotionen an den Anfängen und Grenzen der Sprache, Würzburg 2014, S. 199–221, hier S. 211. Ebd. S. 206 (im Original mit Hervorhebungen). Isabel Kranz, Sprache ohne Worte, Welt ohne Medien. Die Blumensprache als nostalgischer Code, in: Dies., Alexander Schwan, Eike Wittrock (Hrsg.), Floriographie. Die Sprache der Blumen, Paderborn 2016, S. 133–147, hier S. 138. [Mary Wortley Montagu], Letters of the Right Honourable Lady M--y W---y M----e written, during her travels in Europe, Asia and Africa, to persons of distinction, men of letters, etc., 4 Bde., London 1763–1767. Charlotte de Latour, Le Langage des fleurs, Paris 1819. Beverly Seaton, A nineteenth-century metalanguage, Le Langage des Fleurs, in: Semiotica, Bd. 57, Nr. 1–2  (1985), S. 73–86, hier S. 81. N. N., Neue vervollständigte Blumensprache. Der Liebe und Freundschaft gewidmet, Quedlinburg / Leipzig 51834, S. 15. Johann M. Braun (Hrsg.), Taschenbuch der Blumensprache oder Deutscher Selam, Stuttgart 1843, S. 61. Vervollständigte Blumensprache (Anm. 42), S. 9. Braun, Selam (Anm. 43), S. 57.

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Blumenuhr sollte ein „seidenes Bändchen“ um die Blumen gebunden werden, ein weißes zeigt die Tag-, ein blaues die Nachtstunden an.46 Der Einsatz solcher Codes setzt allerdings eine vorherige Einigung auf einen Schlüssel, etwa eine spezifische Publikation, voraus. Um die vergänglichen Blumengaben in einem Brief verschicken zu können, müssen sie gepresst und somit konserviert werden – wie in diesem englischsprachigen Brief von Elisabeth Wilhelmine van Nuys an August Wilhelm Schlegel (Abb. 2).

Abb. 2: Blumenkranz in einem Brief von Elisabeth Wilhelmine van Nuys an August Wilhelm Schlegel [1808] (Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden). Van Nuys und Schlegel hatten 1799 und 1808 eine Liebesaffäre miteinander (der abgebildete Brief stammt vermutlich aus dem Jahr 1808).47 Bei diesem auf Englisch verfassten Brief handelt

46 47

Vervollständigte Blumensprache (Anm. 42), S. 45. Von den insgesamt 22 Dokumenten, die von van Nuys an Schlegel überliefert sind, ist kein einziges mit einer Anrede an ihn versehen, keines der Dokumente unterschrieb sie mit ihrem klar identifizierbaren Namen. Fünf der Dokumente sind in Teilen oder vollständig auf Englisch verfasst, so auch dieses: Von Elisabeth Wilhelmine van Nuys an August Wilhelm Schlegel [1808], Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Sign.: Mscr.Dresd.App.2712,B,22,22 (3 S. auf Doppelbl., 12,5 x 10,3 cm), hier Digitalisat nach August Wilhelm Schlegel. Digitale Edition der Korrespondenz [Version-01-20], , S. 1–2.

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es sich wahrscheinlich um eine Beilage oder einen Paketbegleitbrief, denn van Nuys sandte offenbar ein Buch mit; außerdem wird darin ein Treffen angesprochen. Der Brief ist unsigniert und enthält keine Personennamen. Die Verwendung der englischen Sprache dient mutmaßlich dazu, gegenüber neugierigen Bekannten oder Hausangestellten den Inhalt der Nachricht zu verbergen. Der beigelegte Blumenkranz wurde vermutlich aus Anemonen oder Heckenrosen gebunden, die, je nach Publikation, für „Hoffnung erhält den armen Dulder aufrecht“,48 „Vergelte nicht mit bittrem Hohne“49 oder „Schlag deine Trauer in den Wind“50 stehen können. Doch kann bezüglich der Bedeutung des Blumenkranzes nur spekuliert werden; zur Decodierung müsste bekannt sein, ob Anemonen – sofern es sich tatsächlich um selbige handelt – für Schlegel und van Nuys eine spezielle persönliche Bedeutung hatten, ob sie auch in anderen Briefen erwähnt wurden oder ob die Korrespondenten Zugriff auf Handbücher zur Blumensprache hatten.51 Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist der Kranz als Liebesgabe zu werten, die die Bindung stärken kann und soll, auch wenn verbalsprachlich darauf im Brief kein Bezug genommen wird. 2022 kann man, wie schon um 1900,52 den Versand eines Blumenstraußes beauftragen, der dann an einem anderen Ort der Welt überreicht wird. Doch handelt es sich hierbei um vermittelte Gaben, denn es wird nur der Auftrag versendet, die Blumen selbst erst vor Ort zusammenund zugestellt – somit geht mit dieser Form des Blumenversands ein Verlust des Auratischen einher; der Empfänger erhält nicht dasjenige Objekt, das der Sender sah, berührte und wählte. Daneben gibt es mittlerweile auch digitale Blumengrüße; mittels Emojis können Piktogramme von Blumen direkt in eine Nachricht eingefügt werden. Den 2013 begründeten ‚Emojipedia Archives‘ – dem größten digitalen Nachschlagewerk für Emojis – zufolge stehen derzeit mindestens 24 verschiedene Blumen- und Pflanzenemojis zur Verfügung.53 Die Bedeutung ist kontext- und gruppenabhängig, zumal Emojis je nach Ausgabemedium, Plattform oder Betriebssystem anders dargestellt werden (Abb. 3).

48 49 50 51

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53

Vervollständigte Blumensprache (Anm. 42), S. 7. Braun, Selam (Anm. 43), S. 5. Ebd. S. 56. Einigen Briefstellern sind im Anhang Einführungen in die Blumensprache beigegeben. Etwa im populären Briefsteller von Amalia Schoppe, Briefsteller für Damen oder faßliche Anweisungen alle Arten von Briefen zu schreiben […]. Mit […] einem Anhang enthaltend […] die Blumensprache, Leipzig 31851, ab S. 513. Vgl. Markus Krajewski, (Un-)Vermittelte Anfänge. Eine kurze Geschichte der weltweiten Blumengrüße, in: Aage A. Hansen-Löve, Annegret Heitmann, Inka Mülder-Bach (Hrsg.), Ankünfte. An der Epochenschwelle um 1900; München 2009, S. 249–265. Vgl. Emojipedia, Unterpunkt ‚Nature‘, [18.1.2022].

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Abb. 3: Übersicht über die Darstellung verschiedener Blumenemojis. Neben tradierten Symbolbedeutungen der jeweiligen Blume werden sie noch mit weiteren, teilweise individuellen, oft aber gruppeninternen Bedeutungen angereichert. Ein Blumenstrauß 💐 wird generell zum Ausdruck von Dank und Wertschätzung, zur Gratulation, aber auch zum Muttertag oder Valentinstag verwendet;54 die Hibiskusblüte 🌺 soll für Liebe, Freude, Schönheit stehen,55 wird unter Jugendlichen aber auch dafür genutzt, um zum gemeinsamen Drogenkonsum aufzurufen; die aufrechte Rose 🌹 steht für Liebe und Schönheit oder, neben dem Nutzernamen auf sozialen Plattformen, als Erkennungsmerkmal dafür, dass der 54 55

Eintrag ‚Bouquet‘ in Emojipedia, [18.1.2022]. Eintrag ‚Hibiscus‘ in Emojipedia, [18.1.2022].

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Accountinhaber sozialistischer Gesinnung ist; die geknickte Rose 🥀 steht für Liebeskummer, Enttäuschung, Trauer, Verlust oder dient der ironisierenden Kommentierung solcher Empfindungen,56 das vierblättrige Kleeblatt 🍀 steht für Glück oder für Irland.57 Auch hier kommt es wieder auf den Kontext an; die Bildzeichen können lediglich dekorative Elemente sein oder gruppenintern eigene Bedeutungen haben. Dabei birgt die dynamische Darstellung von Emojis Irritationspotenzial, da Emojis eventuell nicht erkannt oder gar nicht erst angezeigt werden. Diese stilisierten Blumenbilder können im Gegensatz zu mitgesendeten Blumen, wie dem Kranz von van Nuys, nur innerhalb des linearen Datensatzes der Nachricht eingefügt werden, allerdings um den Preis einer Modusreduktion. Denn während eine beigelegte Blume optisch, haptisch und olfaktorisch wahrgenommen werden kann, verbleiben Blumen-Emojis im fluiden visuellen Modus.

5 Fazit Korrespondierende bedien(t)en sich im 19. wie im 21. Jahrhundert im schriftlichen Austausch neben sprachlichen auch nichtsprachlichen Elementen. Para- und nonverbale Zeichen können, wie gezeigt wurde, mit zusätzlichen Botschaften versehen sein, die es zu dechiffrieren und insbesondere auch editorisch zu berücksichtigen gilt. Solche Zeichen sind im analogen und digitalen Privatkontakt einerseits kultur-, andererseits gruppenspezifisch und werden teilweise entsprechend internen Regeln und Codes eingesetzt. Codes wiederum können nicht nur der Informationsverarbeitung, sondern auch der Verschleierung von Informationen dienen, die nur einem eingeweihten oder im Fall der automatischen Durchsuchung nur einem menschlichen Kreis zugänglich sind. Die größte Differenz zwischen Privatnachrichten des 19.  und 21.  Jahrhunderts resultiert wohl aus den unterschiedlichen (technischen) Möglichkeiten sekundärer und tertiärer Medien sowie der Statik bzw.  Dynamik von Nachrichten. In der analogen wie digitalen Kommunikation werden Bilder und Blumen versendet, allerdings unter verschiedenen Rahmenbedingungen und innerhalb der Grenzen des gewählten Kanals. Während im Briefverkehr Objekte verschickt werden, werden in der digitalen Kommunikation nur körperlose binäre Daten übertragen. Zwar unterscheiden sich Form, Gestalt, Modi und Übertragungsweg bei analogen und digitalen Nachrichten, doch die Praktiken und sozialen Funktionen von Blumen- und Bildgaben bleiben: Nähe herstellen, ob durch die Gabe, die Zuwendung bzw. Aufmerksamkeit oder durch die Nutzung eines gemeinsamen Codes. 56 57

Eintrag ‚Wilted Flower‘ in Emojipedia, [18.1.2022]. Eintrag ‚Four Leaf Clover‘ in Emojipedia, [18.1.2022].

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Siehe Anlage Zur Funktion von Beigaben zu Briefen und von Attachments an E-Mails am Beispiel der Briefe Friedrich und Dorothea Schlegels Cosima Jungk, Tim Porzer

1 Einleitung Was könnten vier Flaschen Wein, ein Kanarienvogel, Schattenschnitte, ein Rosenstock und ein Buch gemeinsam haben? Man wird vermutlich nicht gleich darauf kommen, aber sie waren allesamt Beigaben zu Briefen von Jean Paul, einem der produktivsten Briefschreiber in der Umbruchzeit um 1800.1 Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich am Beispiel zweier Zeitgenossen Jean Pauls mit dem Phänomen der Briefbeigaben. Er behandelt das Phänomen nicht nur in synchroner, sondern auch in diachroner Perspektive und weitet sich dadurch zum Medienvergleich aus. Denn was der Brief um 1800 geleistet hat, leistet spätestens seit der Zeit um 2000 die E-Mail. Beigaben zu Briefen und Attachments an E-Mails verhalten sich, so unsere These, in vielen Hinsichten funktional äquivalent. Während die Kommunikationsformate und deren mediale Infrastruktur einer kontinuierlichen Weiterentwicklung unterliegen, haben die Kommunikationsbedürfnisse im Kern überdauert. Schon in der Romantik diente der Brief als Instrument zur Gruppenbildung und wechselseitigen Vernetzung. Interaktive Phänomene wie das Weiterleiten von Briefen sowie die gezielte Mehrfachadressierung, die heute als selbstverständliche Leistungen moderner digitaler Kommunikationsformate gelten, lassen sich schon um 1800 beobachten. Das Anreichern von Briefen durch Beigaben unterschiedlicher Medialität und Materialität entwickelte sich im 19.  Jahrhundert endgültig zur gängigen Praxis, bildet in der Forschung 1

Vgl. Jean Paul, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. III.  Abt., Bd.  6: Briefe 1809–1814, hrsg. von Eduard Berend, Berlin 1952, S. 429f.

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Cosima Jungk, Tim Porzer

zur Briefkommunikation aber weiterhin einen Spezialfall, der bisher nicht ausreichend berücksichtigt worden ist. Dies zeigt sich auch in der Randstellung, die Beigaben zu Briefen in den Editionswissenschaften innehaben.2 Sie führt häufig zu einer Vernachlässigung der Besonderheiten von Beigaben auch in digitalen Briefeditionen, denen neue und andere Möglichkeiten der Berücksichtigung zur Verfügung stünden.3 Der vorliegende Beitrag konzentriert sich in historischer Perspektive auf Beigaben zu Briefen von und an Friedrich und Dorothea Schlegel und vergleicht die dort beobachtbare Praxis mit dem Einsatz von Attachments an E-Mails. Brief und E-Mail werden dabei gleichermaßen als Transportmedien für Beigaben unterschiedlicher Materialität verstanden. Damit rücken historische Briefpraktiken in den Kontext aktueller Kommunikationsformate. Wir plädieren dafür, Beigaben und Attachments als teilautonome Textelemente in Kommunikationsverhältnissen zu verstehen, mit denen sich soziale Teilhabe vertiefen und verbreiten lässt. Es soll gezeigt werden, dass sich in den Briefen von und an Dorothea und Friedrich Schlegel ein breites Spektrum an Beigaben mit unterschiedlichen Funktionen findet. Einerseits dienen sie dem Zweck, bereits gefestigte persönliche Beziehungen zu Familienmitgliedern und Freunden zu intensivieren. Anderseits sollten durch Beigaben neue Korrespondenzen erschlossen und lose Kontakte gefestigt werden. Gegenüber Unbekannten stellen sie Verbindlichkeit her und können potentiell karrierefördernde ‚weak ties‘ knüpfen. Auf der Beziehungsebene unterstützen Beigaben die Regulierung von Distanz und Nähe, die zu den generellen Leistungen der Briefkommunikation gehört. Um diese Thesen zu plausibilisieren, sollen die unterschiedlichen Beigabentypen zunächst näher bestimmt werden. Dabei wird der Brief als Objekt und Gabe, die durch materielle Zusätze angereichert werden kann, verstanden. Zudem wird die Briefpraxis des 19. Jahrhunderts charakterisiert, weil sie den Kontext der von uns untersuchten Beigabenpraxis bildet. Auf dieser Grundlage werden sodann die Beigaben zu Briefen von und an Friedrich und Dorothea Schlegel in den Zeiträumen zwischen 1811 und 1814 sowie zwischen 1823 und 1828 untersucht.4 Nach 2

3

4

Vgl. Wolfgang Lukas, Die Briefbeigabe. Aspekte einer Pragmasemiotik des Briefes, in: Waltraud Wiethölter, Anne Bohnenkamp (Hrsg.), Der Brief – Ereignis & Objekt. Frankfurter Tagung, Frankfurt a. M. / Basel 2010, S. 255–267; Gabriele Radecke, Beilage, Einlage, Einschluss. Zur Funktion und Differenzierung von Briefbeigaben und ihrer editorischen Repräsentation am Beispiel von Theodor Fontanes Briefwechseln mit Bernhard von Lepel und Theodor Storm, in: Anne Bohnenkamp, Elke Richter (Hrsg.), Brief-Edition im digitalen Zeitalter, Berlin / Boston 2013, S. 165–177. Eine kursorische Betrachtung verschiedener Briefeditionen belegt, dass Beigaben in den meisten analogen und digitalen Editionen nicht systematisch erfasst werden. Selbst wenn sie erwähnt werden, fehlt eine Unterscheidung der unterschiedlichen Formen und eine Bestimmung ihrer Funktionen. Die von uns ausgewählten Briefe umfassen sowohl die private als auch die geschäftliche Korrespondenz des Ehepaares. Das ist deshalb geboten, weil aus der Perspektive der Beigaben die in der literaturwissenschaftlichen Briefforschung übliche Präferenz des Privatbriefs vor dem Geschäftsbrief revisionsbedürftig erscheint. Beide Typen von Briefen haben partiell ähnliche kulturelle Funktionen, die eine auf das Ästhetische fixierte Literaturwissenschaft in der Regel übersieht.

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Siehe Anlage

einer Unterscheidung der verschiedenen Formen sollen auch die Funktionen der Beigaben analysiert werden. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse werden daraufhin auf einer abstrakteren, medienvergleichenden Ebene mit Beobachtungen zur E-Mail zusammengeführt. Schließlich wird die Argumentation rekapituliert und ein Ausblick auf weitere Forschungen skizziert.

2 Systematische und historische Voraussetzungen 2.1 Systematische Überlegungen Wer sich mit Beigaben beschäftigt, kann auf erste Angebote zu einer terminologischen Differenzierung zurückgreifen. Gabriele Radecke hat im Ausgang von der editorischen Praxis den Terminus ‚Beigabe‘ „als Oberbegriff für alle Schriftstücke und weitere[n] Objekte“ vorgeschlagen, die eine absendende Instanz gemeinsam mit dem Brief an einen Adressaten5 auf den Weg bringt.6 Bei der Differenzierung in verschiedene Formen folgt sie zum einen dem Kriterium der über Absender und Adressat des Briefwechsels hinaus am Kommunikationsprozess beteiligten Personen und zum anderen dem Status der beigegebenen Objekte. Als ‚Einlage‘ können dann Briefe dritter Personen gelten, die über den Absender des Transportbriefes an den Adressaten gesendet werden.7 Der Verfasser der Einlage nimmt damit indirekt an der Briefkommunikation teil und nutzt den Absender als Vermittler und Transporteur seines Briefes. Als ‚Einschluss‘ ist dagegen ein zusätzlicher Brief des Absenders zu bezeichnen, der über den Adressaten des Transportbriefes an eine dritte Person gelangen soll. Hier fungiert der Adressat als Vermittler.8 Unter dem Begriff ‚Beilage‘ sind schließlich alle Gegenstände zu verstehen, die vom Absender des Briefes gemeinsam mit einem Brief an einen Empfänger versendet werden.9 Renate Moering differenziert diese Gegenstände weiter aus in „Arbeiten auf Papier“, „Objekte“ und „organische Dinge“.10 Was die Funktion der uns in erster Linie interessierenden Beigaben betrifft, so können sie als teilautonome Elemente in Kommunikationsverhältnissen verstanden werden, die unmittelbar

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6 7 8 9

10

Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird im vorliegenden Beitrag das generische Maskulinum gebraucht. Radecke, Beilage, Einlage, Einschluss (Anm. 2), S. 169. Vgl. ebd. S. 171. Vgl. ebd. S. 172. Vgl. ebd. S. 170f. Es fehlt an einem Terminus für den um 1800 nicht seltenen Fall einer Beigabe von Briefen Dritter an Dritte. Renate Moering, Briefbeigaben, in: Anne Bohnenkamp, Waltraud Wiethölter (Hrsg.), Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe Museum 11. September bis 16. November 2008. Frankfurt a. M. / Basel 2008, S. 191–214, hier S. 191.

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Cosima Jungk, Tim Porzer

zum Brief gehören.11 Das rückt sie in texttheoretischer Perspektive funktional in die Nähe der Peritexte12. Für Wolfgang Lukas sind sie als Objekte außerhalb des Brieftextes präsent, wie auch als Zeichenfolge im Brieftext, die auf das Objekt referiert.13 Generell kann für alle Formen von Beigaben festgehalten werden, dass sowohl im Brief auf die Beilage, Einlage oder den Einschluss hingewiesen wie auch dem Adressaten der Beigabe die Sendung in einem anderen Brief angezeigt werden kann.14 Dabei findet sich im Transportbrief in der Regel eine kurze Notiz, die oft die Form einer ausführlicheren Erläuterung annimmt, wie mit der Beigabe zu verfahren ist. Soll sie etwa weitergegeben werden, wird auch dies im Brief angesprochen und mit einer entsprechenden Bitte versehen. Durch die Weitergabe einer Einlage kann sogar ein neuer Kontakt zwischen Vermittler und Empfänger entstehen. So etwa im folgenden Beispiel: Noch bitte ich Sie, die Einlage gütigst abgeben zu wollen, und wenn sich Gelegenheit dazu darbietet, bey Herrn Prf Sartorius die Bitte zu unterstützen, daß auch er dem Deutsch.[en] Mus.[eum] nicht entziehen möge, was er dem vaterländ[ischen] zugewandt u zugedacht hatte.15

Auch wenn Brief und Anlage in der Praxis häufig vom Adressaten unmittelbar nach dem Empfang getrennt werden, ist ihre Zusammengehörigkeit von der Forschung unlängst erkannt und nutzbar gemacht worden. Beigaben ermöglichen Aufschlüsse über die Biografie der an der Briefkommunikation beteiligten Personen und deren Beziehung zueinander. Sie können als „wesentliche Ergänzungen der Brieftexte“16 verstanden werden, die „das Verhältnis des Briefschreibers zu seinem Adressaten und dessen Familie“17 näher beschreiben.

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15

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17

Vgl. Radecke, Beilage, Einlage, Einschluss (Anm. 2), S. 173. Der Begriff Peritext geht auf Gérard Genette zurück und bezeichnet eine Form von Paratext (textbegleitende Elemente), der werkintern mit dem Basistext in Verbindung steht. Beispiele für Peritexte bilden z. B. gliedernde Überschriften innerhalb eines Textes. Vgl. Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a. M. 52014. Vgl. Lukas, Briefbeigabe (Anm. 2), S. 259. Vgl. Rainer Baasner, Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis, in: Ders. (Hrsg.), Briefkultur im 19. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 1–36, hier S. 11. Friedrich Schlegel an Arnold Hermann Ludwig Heeren, 30. November 1811, in: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe, Abt. 3, Bd. 28. Während der Erhebung gegen Napoleon, hrsg. von Cosima Jungk, Anke Lindemann, Paderborn 2022, S. 157–159, hier S. 158. Karl Ernst Laage, Zur Edition von biographischen und autobiographischen Briefbeilagen am Beispiel der Storm-Briefbandreihe, in: Jochen Golz (Hrsg.), Edition von autobiographischen Schriften und Zeugnissen zur Biographie, Tübingen 1995, S. 355–362, hier S. 361. Ebd. S. 358.

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Siehe Anlage

Sich mit Anlagen zu beschäftigen, bedeutet immer auch den Brief als Objekt und damit seine Materialität in den Blick zu nehmen. Der Brief wird dabei zum Trägermedium „konkreter Inskriptionen“18 sowie „zur Übermittlung von Beigaben“19. Grundlegend dafür ist das Verständnis von der Briefkommunikation als Beziehungsarbeit, wobei der Brief als Tauschobjekt die Briefpartner gedanklich und kommunikativ näherbringt und dabei distanzregulierend wirkt.20 Eng damit verbunden ist die Möglichkeit, den Brief als Gabe zu versenden, der die Beziehung der Korrespondenzpartner intensivieren soll.21 „Der Austausch von Briefen, das Berühren, Schreiben und Lesen, Abschicken und Empfangen sind performative Akte gegenseitiger Zuwendung.“22 Die Möglichkeit, den reziproken Austausch von Briefen als Austausch von Gaben zu verstehen, bringt Brief und Beigabe semantisch und funktional zusammen. Die Anreicherung des Briefes durch gedruckte oder handschriftliche Texte oder Objekte soll die Distanz zwischen den Korrespondenten weiter verringern und deren Beziehung intensivieren. Die Hinzufügungen können die Beziehung der Korrespondenzpartner allerdings auch gefährden, da sie Hierarchieverhältnisse offenlegen und die Erwartung einer Gegengabe vermitteln. Teilweise kann sich über die Briefbeigaben ein „regelrechtes Tauschsystem konstituieren“.23

2.2 Historische Voraussetzungen Das Versenden von Briefen als Einlage und Einschluss hat historisch gesehen zunächst postalische und finanzielle Gründe.24 Um im 19. Jahrhundert einen Brief zu versenden, standen dem Absender verschiedene Möglichkeiten offen. Zu ihnen gehörte der Versand durch die

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Katrin Henzel, Materialität des Briefs, in: Marie Isabel Matthews-Schlinzig u. a. (Hrsg.), Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Bd. 1, Berlin / Boston 2020, S. 222–231, hier S. 222. Radecke, Beilage, Einlage, Einschluss (Anm. 2), S. 177. Siehe zum Brief als Medium auch Udo Thiedeke, Der Brief als individualmediale Kommunikationsform. Eine mediensoziologische Beobachtung, in: Marie Isabel Matthews-Schlinzig u. a. (Hrsg.), Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Bd. 1, Berlin / Boston 2020, S. 187–202. Vgl. dazu Robert Vellusig, Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert, Wien / Köln u. a. 2000; Nikolaus Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988. Vgl. Jochen Strobel, Der Brief als Gabe, in: Marie Isabel Matthews-Schlinzig u. a. (Hrsg.), Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Bd. 1, Berlin / Boston 2020, S. 254–268. Jochen Strobel, Zur Ökonomie des Briefs – und ihren materialen Spuren, in: Martin Schubert (Hrsg.), Materialität in der Editionswissenschaft. Berlin / New York 2010, S. 63–77, hier S. 66. Lukas, Briefbeigabe (Anm. 2), S. 257. Vgl. Radecke, Beilage, Einlage, Einschluss (Anm. 2), S. 173.

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reitende oder fahrende Post. Der Briefverkehr war zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch die erheblichen Kosten für Material und Porto hauptsächlich finanziell gut situierten Personen zugänglich. Das Porto, das in der Regel vom Empfänger gezahlt wurde, richtete sich nach dem Gewicht der Sendung und der Distanz zum Absendeort. Daher agierten auch Reisende als Brieftransporteure. Sie nahmen Korrespondenzen aus ihrem Heimatort oder von einem Zwischenziel mit und wurden im Gegenzug in die Gesellschaft eingeführt. Die Bündelung mehrerer Briefe zu einer Sendung war deshalb von Vorteil.25 Briefe weiterzubefördern und dadurch „das Gespräch mit Dritten führen zu dürfen“ war eine „geschätzte soziale Interaktion“,26 die teilweise an das Patronagewesen des 18.  Jahrhunderts anknüpfte,27 und unterschied den Transport durch Reisende von einem Versand per Post. Der Versand von Briefen und ihren Beigaben folgte im 19. Jahrhundert einer pragmatischen Nutzungsstrategie, bei der es um Kosten- und Zeitersparnis sowie um Transportsicherheit ging. Die Briefschreiber des 19. Jahrhunderts waren sich des intimen Charakters des Briefes und des prekären Status des Briefgeheimnisses bewusst. Dieses Wissen hatte direkten Einfluss auf die Wahl des Sendungsformats und der Siegelungspraxis. Gesiegelte oder in einen separaten Umschlag verpackte Einlagen und Einschlüsse in Briefen wahrten gegenüber dem Vermittler, zumindest der Intention nach, die Privatsphäre von Verfasser und Adressat, während ungesiegelte Briefe die Möglichkeit boten, weitere Leser miteinzubeziehen. Formen eines taktischen Briefversands lassen sich auch bei Friedrich Schlegel beobachten. Das belegt die Vielzahl an „Geschäftsbriefen, die zu verfassen er unaufhörlich genötigt war“.28 Sowohl für seine publizistischen und literarischen Aufgaben im Dienste Österreichs als auch für die Bekanntmachung seiner literarischen, historischen und philosophischen Projekte waren Pflege und Ausweitung eines möglichst weit reichenden Korrespondenznetzwerks unerlässlich. Durch das Versenden eigener Werke und Ankündigungen konnten Netzwerke der Empfänger für Werbezwecke nachgenutzt werden. Das führte zu einer Erweiterung des autorzentrierten, sternförmigen Korrespondenznetzwerkes, indem sich periphere Knoten/ Briefkontakte vernetzten oder neu entstanden, auch wenn nicht immer eine längerfristige Verbindung bezweckt wurde.29 25 26 27

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Vgl. Baasner, Briefkultur (Anm. 14), S. 11. Ebd. S. 11. Vgl. Nacim Ghanbari, Netzwerktheorie und Aufklärungsforschung, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 38 (2013), S. 315–335. Hermann Patsch, Briefe, in: Johannes Endres (Hrsg.), Friedrich Schlegel-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2017, S. 280–290, hier S. 280. Vgl. Jochen Strobel, Brief und Netzwerk, in: Norman Kasper, Jana Kittelmann, Jochen Strobel, Robert Vellusig (Hrsg.), Die Geschichtlichkeit des Briefs. Kontinuität und Wandel einer Kommunikationsform, Berlin / Boston 2021, S. 39–64, hier S. 43f.

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Siehe Anlage

3 Briefanlagen bei Friedrich und Dorothea Schlegel Die Beigaben in der Korrespondenz von Friedrich und Dorothea Schlegel werden ab Band 26.2 für die noch ausstehenden Briefbände der Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe systematisch erfasst. Das ermöglicht erstmals eine gezielte Auswertung der empfangenen und versendeten Beigaben. Im Kontext des Aufsatzes werden die in den Bänden 28 und 31 (in Bearbeitung) thematischen Zeiträume von 1811 bis 1814 und 1823 bis 1828 exemplarisch untersucht, um Formen und Funktionen der dort auftretenden Beigaben zu erfassen. Von 1811 bis 1814 waren insgesamt 89 Briefe von und 61 Briefe an das Ehepaar Schlegel mit Beigaben versehen.30 Thematisch betrifft ein Großteil der Briefe dieser Lebensphase das Zeitschriftenprojekt Deutsches Museum.31 In Einladungsbriefen versucht Schlegel Freunde und Bekannte, aber auch neue BeiträgerInnen zur Teilnahme zu bewegen. Den Briefen an letztere liegt als Beilage meist eine gedruckte Ankündigung der Zeitschrift bei (zehn Ankündigungen für den 1. Jahrgang 1812, neun Ankündigungen für den 2. Jahrgang 1813), um deren Verbreitung er bittet. Beilagen empfängt Schlegel für das Deutsche Museum in Form von Beiträgen (ca. 25), die ihm postalisch zugesandt wurden. Umgekehrt fügt er acht Briefen Hefte des Deutschen Museums bei. Im reziproken Austausch von Einladungen, Ankündigungen, Beiträgen und Belegexemplaren entwickelt sich im geschäftlichen Briefwechsel ein ganzes Tauschsystem verschiedener Beigaben. Durch Einschlüsse, z. B. im Schreiben an Ludwig Fürst zu Oettingen-Wallerstein, versucht Schlegel einerseits neue Kontakte zu knüpfen, in diesem Fall zu Kronprinz Ludwig von Bayern,32 und andererseits alte Kontakte, etwa zu Henrik Steffens,33 wiederaufleben zu lassen. Ein Blick in die Briefe Friedrich Schlegels zwischen 1823 und 1828 zeigt, dass sich sein Korrespondenznetzwerk mittlerweile stark verkleinert hat. Neben Christine von Stransky korrespondiert er hauptsächlich mit Ferdinand Schnorr von Carolsfeld, Joseph von HammerPurgstall und Gotthilf Heinrich Schubert. Die Briefpartner verbindet nun ein gemeinsames Interesse am Katholizismus, an christlicher Mystik und an der Hieroglyphenforschung. Das wird auch in den Beilagen deutlich. In dieser Zeit ist Friedrich Schlegel um Anschluss an die führenden Persönlichkeiten der katholischen Restauration in Bayern bemüht. Zu diesem Zweck setzt er Briefe und deren 30

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Dorothea Schlegels Anteil daran ist, auch aufgrund der geringeren Anzahl überlieferter Briefe, deutlich niedriger als derjenige Friedrich Schlegels. Friedrich Schlegel, Deutsches Museum, Wien 1812–1813. Vgl. Friedrich Schlegel an Johann Kaspar Kohler, 25. November 1813, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 28 (Anm. 15), S. 523f. Vgl. Friedrich Schlegel an Johann Gustav Gottlieb Büsching, 8. Januar 1812, in: ebd. S. 183–186.

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Beigaben gezielt ein und versendet eigene Gedichte und Gebete. Empfänger sind unter anderen der katholische Theologe Johann Michael Sailer und der Münchner Kanonikus Franz Xaver von Schwäbl. Im Zeitraum von 1823 bis 1828 wurden 68 Briefe des Ehepaares mit Beigaben versehen. Zumeist handelt es sich dabei um Arbeiten Friedrich Schlegels, insbesondere um einzelne Bände seiner Sämtlichen Werke (6) oder um Exemplare seiner Philosophie des Lebens (4). Versendet werden sie an Bekannte, Freunde und Gönner. Besonders vielseitig sind die Beilagen zu den Briefen Friedrich Schlegels an Christine von Stransky. Den auf dem gemeinsamen katholischen Glauben aufbauenden Briefen Schlegels lagen religiöse Gebete und Gedichte sowie Bände der Sämtlichen Werke, Vorlesungsankündigungen und eine Konzeption der Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte bei. Ebenfalls erhielt sie eine Eintrittskarte zu den Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, zu denen Frauen nicht zugelassen waren. Alleine dem Brief Friedrich Schlegels an Christine von Stransky vom 19. Dezember 1825 waren Beilagen verschiedenster Art angefügt: Texte wie ein Exemplar des Hieroglyphenlieds, eine Zeichnung des Hieroglyphenblatts und diverse Objekte. Neben einer goldenen Münze versandte Schlegel mit dem Brief organisches Material wie eigene Haare und ein Stück eines Zahns und Materialien zur magnetischen Behandlung wie eine Glasröhre mit Baumwolle und einen Faden.34 Im Brief werden die Beigaben und ihre Funktion ausführlich erläutert. Durch die Vielfalt der Beigaben wird der Brief für die Empfängerin zu einer Art ‚Wunderkammer‘. Die Korrespondenz Dorothea Schlegels ist geprägt vom Briefwechsel mit ihren Söhnen, den Malern Johannes und Philipp Veit. Dabei spielen Zeichnungen und Skizzen als Beilagen eine wichtige Rolle. Der Fortschritt der künstlerischen Fertigkeiten wird von den Söhnen präsentiert, Werkpläne werden erläutert und zur Diskussion gestellt.35 Beigefügte Bilder dienen aber auch religiösen Zwecken. So legt Klemens Maria Hofbauer einem Brief Dorotheas an Justinus Kerner nicht nur einige Grußzeilen, sondern auch ein Andachtsbild bei.36 Typische Beigaben in Geschäftsbriefen sind Ankündigungen für eigene Projekte, Bücher oder Briefe Dritter. Besonders häufig finden sich in der privaten und geschäftlichen Korrespondenz Bankanweisungen und Schuldscheine. Dies hängt einerseits mit der prekären 34

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Vgl. Friedrich Schlegel an Christine von Stransky, 19. Dezember [1825], in: Friedrich Schlegels Briefe an Frau Christine von Stransky geborene Freiin von Schleich, Bd.  1, hrsg. von Max Rottmanner, Wien 1907, S. 391–395. Vgl. Johannes Veit an Dorothea Schlegel, 9.  März  1813, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 28 (Anm. 15), S. 400. Vgl. Dorothea Schlegel an Justinus Kerner mit einer Nachschrift von Klemens Maria Hofbauer, 22. Januar 1812, in: ebd. S. 201–203.

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Siehe Anlage

finanziellen Situation Friedrich Schlegels zusammen, andererseits unterstützte das Ehepaar aber auch Familienmitglieder und Freunde. Gebrauchsgegenstände sind hauptsächlich der familiären Korrespondenz beigefügt. So hat Dorothea Schlegel ihrem Sohn Philipp seidene Hosen an seinen Ausbildungsort in Dresden und während der Befreiungskriege „wollene Geschenke“ ins Feldlager geschickt. 37 Johannes Veit erhält in Rom blaue Farbe aus Wien38 und Philipp Veit bekommt als Freiwilliger Schokolade, die ihm im Feld in Notsituationen helfen soll. 39

4 Funktion Die untersuchten Briefwechsel zeigen, dass Friedrich und Dorothea Schlegel Beigaben nutzen, um soziale Teilhabe zu vertiefen und auszudehnen. Beigaben zu ihren Briefen sollen insbesondere in Privatbriefen und unter bereits bestehenden Kontakten dazu beitragen, die Beziehung weiter zu intensivieren. Darüber hinaus bieten sie in Geschäfts- und Freundschaftsbriefen Möglichkeiten zum kollaborativen Arbeiten und zu gemeinsamer Reflexion. So war es nicht nur üblich, Briefe und Texte in Gesellschaft vorzulesen, sondern Texte und Briefe konnten – etwa bei den Romantikern – durch Ergänzungen und Streichungen und sonstige kritische Anmerkungen gemeinschaftlich bearbeitet werden.40 Beigaben dienen dazu, räumliche Distanzen zu überbrücken, indem sie die Empfänger an der aktuellen Lebens- und Gedankenwelt des Absenders teilhaben lassen. In seinem Briefwechsel mit Christine von Stransky hat Friedrich Schlegel besonders markant Beilagen eingesetzt, um die religiös motivierte Beziehung zu intensivieren und zu singularisieren. Das zeigt sich etwa, wenn er zusammen mit seinem Brief vom 7. November 1823 die theologische Abhandlung Maria als Vorbild und Spiegel der christlichen Vollkommenheit, das Gebet um die Fürbitte der allerseeligsten Jungfrau und das Gebet für die Kirche versendet. Dazu schreibt er: Dieses Blatt, was ich hier einlege, ist ganz allein nur für Sie […]; wollten Sie aber ja Ihrem geistlichen Freunde den Aufsatz u das Gebet mittheilen, so bitte ich ausdrücklich, daß Sie die drey letzten Bitten weglaßen; […] Wenn Sie mich nun fragen würden, was und

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Vgl. Dorothea Schlegel an Philipp Veit, 24. Februar 1811, in: ebd. S. 61f.; Dorothea Schlegel an Philipp Veit, 21. bis 24. November 1813, in: ebd. S. 519–522. Vgl. Dorothea Schlegel an Johannes Veit, 4. Juni 1812, in: ebd. S. 259–263. Vgl. Dorothea Schlegel und Friedrich Schlegel an Philipp Veit, 19. September 1813, in: ebd. S. 492f. Vgl. Patsch, Briefe (Anm. 28), S. 281f.

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Cosima Jungk, Tim Porzer wozu das Ganze eigentlich soll und was ich denn damit will; so kann ich für jetzt weiter nichts sagen als […] den vollkommnen Zusammenklang unsrer Seelen, in der gemeinsamen Andacht – ich bin auch überzeugt, daß Sie eine trostreiche Erhebung darin finden werden[.]41

Die Briefstelle verdeutlicht die Intention Schlegels beim Versand der Beilagen. Sie sollen als christliche Erbauungsvorlagen seiner Briefpartnerin Trost spenden und die als exklusive Seelenverwandtschaft verstandene Verbundenheit mit ihr stärken. Die Beilagen regulieren die räumliche Distanz auf ein Minimum herunter und sollen, analog zu den erwähnten Andachten, unmittelbare Nähe und Teilhabe ermöglichen. Letztlich geht es um eine Form von spiritueller Realpräsenz. Darüber hinaus enthält die zitierte Passage Hinweise zum Umgang mit den Beilagen. Sie bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Mitteilen und Verschweigen. Schlegel verbietet geradezu die Weitergabe bestimmter Textteile an Dritte, schließt sie aber für andere Elemente und Passagen der Beilagen ausdrücklich nicht aus. Offenbar liegt ihm sowohl an exklusiven als auch an extensiven Beziehungen zu Gleichgesinnten und beides lässt sich über die Beilagen regulieren. Zu seinen Arbeitsproben fordert Schlegel im Gegenzug Rückmeldung, Kritik und Ratschläge ein. Dass Christine von Stransky das erkannt hat und der Forderung nachgekommen ist, zeigt der Brief vom 13. bis 15. Dezember 1823: Dieses [eine enge spirituelle Verbindung trotz der räumlichen Distanz] sehe ich schon aus der innigen Freude, mit welcher Sie das erste kleine Gebet an Jesus aufgenommen haben; und da Ihnen von dem andern Aufsatze, grade ‚die drey letzten Bitten‘ am meisten zusagten, so kann mir gar kein Zweifel mehr übrig bleiben, daß ich grade den rechten Punkt getroffen habe[.]42

Den Beilagen im Briefwechsel Friedrich und Dorothea Schlegels kommt darüber hinaus auch eine dokumentarische Funktion zu. Sie zeigt sich dann, wenn Bilder und Zeichnungen versendet werden. So schickt Philipp Veit während seines Aufenthaltes in Nennhausen 1813 eine Zeichnung seines Mentors Friedrich de La Motte Fouqué nach Wien, um Friedrich und Dorothea Schlegel einen visuellen Eindruck von ihm zu vermitteln.43 Die Zeichnung wird zum 41

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Friedrich Schlegel an Christine von Stransky, 7. November 1823, Handschrift: St. Bonifaz, München, Sign.: Varia 125. Friedrich Schlegel an Christine von Stransky, 13.  bis 15.  Dezember  1823, in: Schlegel, Briefe an Stransky (Anm. 34), S. 154–170, hier S. 160f. Vgl. Philipp Veit an Friedrich Schlegel und Dorothea Schlegel, 9. Juli 1813, in: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe, Bd. 28 (Anm. 15), S. 458–460.

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„anwesende[n] Substrat des abwesenden Gesprächspartners“.44 Sie erzeugt eine Form von Realpräsenz. In eine ähnliche Richtung, nun aber massiv emotional aufgeladen, weist die Ankündigung eines Porträts von Christine von Stransky an Friedrich Schlegel. Dieser reagiert entzückt: „Meine liebe Christine, ich habe das größte Verlangen nach Ihrem Bilde […]; ich bin sehr begierig danach und es gewährt mir einen großen Trost, solange ich noch nicht zu Ihnen gelangen kann.“45 Die ersehnte Beilage soll die Distanz zwischen den Korrespondenten überbrücken und die Suggestion physischer Nähe erzeugen. Wenn sich dann der Versand verzögert und die ersehnte Gabe ausbleibt, sorgt das für Frustration und Ungeduld und kann sogar die Beziehung der Briefpartner gefährden. Eine ähnliche Funktion wie das Porträt, aber in erneut gesteigerter Form, haben im Briefwechsel Friedrich Schlegels mit Christine von Stransky organische Beilagen. Wenn Friedrich Schlegel ein Büschel seiner Haare und ein Stück eines Zahnes verschickt, wird die Realpräsenz gewissermaßen physisch greifbar. Ihr Vorbild hat diese Praxis im Reliquienkult der christlichen Kirche, den Friedrich Schlegel hier im Kontext der romantischen Liebessemantik modernisiert. Zugleich befindet man sich in psychologischer Perspektive im weiten Feld des Fetischismus. Nähe kann auch im Austausch über den Brief einer dritten Person erzeugt werden, der als Einschluss oder Beilage mitgesandt wurde. So hat Karl August Varnhagen von Ense seiner späteren Frau Rahel Levin einen Briefentwurf an Dorothea zugeschickt46 und indem sich beide darüber austauschen, versichern sie sich ihrer wechselseitigen Sympathie. Im doppelten Sinne entstehen dabei Korrespondenzen. Gegenüber externen Personen stellen Briefbeigaben Verbindlichkeit her und ermöglichen die Erschließung neuer Korrespondenten. Handschriftliche oder gedruckte Beilagen sind mit der Erwartung einer qualifizierten Reaktion, gegebenenfalls auch mit der Hoffnung auf berufliche Vorteile verbunden. Das gilt etwa für Friedrich Schlegel, wenn er 1811 druckfrische Exemplare seiner Vorlesungen Über die neuere Geschichte an Freunde und hohe Würdenträger verschickt. Die Beilage dient als Referenz für seine Arbeiten und bildet zugleich den Schreibanlass. Das Übersenden einer Arbeitsprobe ermöglicht den Erstkontakt, zugleich möchte sich Schlegel für mögliche Anstellungen empfehlen und auf sich aufmerksam machen. Da die Gabe einen Dank erfordert, ermöglichen ihm die Konventionen der Briefkultur, auch mit bisher unbekannten

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Vellusig, Schriftliche Gespräche (Anm. 20), S. 27. Friedrich Schlegel an Christine von Stransky, 30. Januar 1822, Handschrift: St. Bonifaz, München, Sign.: Varia 125. Vgl. Karl August Varnhagen von Ense an Dorothea Schlegel, [zwischen 6. und 19. April 1812], in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 28 (Anm. 15), S. 242f.

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Personen in Kontakt zu treten. Kommt es zu einem Dankschreiben des Empfängers, dann ist damit auch eine neue Korrespondenz etabliert. Strategische Nutzungen der Beilagenpraxis wie diese können ,weak ties‘ knüpfen, welche die Karriere entscheidend beeinflussen können. Inwiefern Beilagen zu Geschäftsbriefen die Kontakte zu Außenstehenden festigen und Verbindlichkeit herstellen können, belegen Schlegels Briefe an Johann Michael Sailer vom 1. Dezember  1827, dem das Gedicht Ariel beigefügt wurde,47 und an Franz Xaver Schwäbl vom 27. Juni 1828, dem ein Exemplar der Vorlesung über Philosophie des Lebens beilag.48 Beide Empfänger antworten Schlegel in einem gemeinsamen Brief vom 15.  September  1828. Während der einflussreiche Bischof Sailer einen Rechercheauftrag zum Orden der Redemptoristen an Schlegel erteilt, dankt der Münchner Kanonikus Schwäbl für das Druckwerk und stellt in Aussicht, sich persönlich für Schlegels Freundin Christine von Stransky einzusetzen.49 Schlegels Versuch, Anschluss an die katholische Restauration in Bayern herzustellen, war erfolgreich. Zugleich ist der Auftrag einer derart einflussreichen Person wie Sailer als potentiell karrierefördernder Vertrauensbeweis zu verstehen. Auch Schwäbls Zusage belegt den vermutlich gezielt herbeigeführten Erfolg der Beilagenpraxis. Um neue Kontakte zu knüpfen, werden auch Kontakte des Empfängers genutzt, der damit als Vermittler auftritt und die Beilage oder den Einschluss weiterleitet. Der erste Kontakt erfolgt zwischen Absender und Vermittler, der den Brief und die Beigabe in Empfang nimmt. Der Vermittler bringt dann seinerseits den Absender mit dem Empfänger der Beigabe in Verbindung. Im Falle der beigefügten Ankündigungen für das Deutsche Museum bittet Schlegel etwa um Weitergabe an Bekannte des Empfängers. Dabei bleibt der tatsächliche Empfänger unbestimmt, Schlegel kennt ihn unter Umständen gar nicht. Die vom Vermittler kontaktierten Personen wenden sich im Idealfall direkt an Schlegel. Der Vermittler dient also als Relais-Station. Sein soziales Netzwerk wird nachgenutzt. Die persönliche Fürsprache des Vermittlers bildet eine weitere, erneut an das Patronagewesen erinnernde Komponente für das Versenden von Beilagen, Einlagen und Einschlüssen. Sie steigert die Erfolgsaussichten des Anliegens. Schlegel hat 1811 etwa ein Exemplar seiner Vorlesungen über die Hofdame Josephine O’Donell von Tyrconnel an die Kaiserin von Österreich geschickt, die damit als Vermittlerin und Fürsprecherin fungierte.50 47

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Vgl. Friedrich Schlegel an Johann Michael Sailer, 1. Dezember 1827, in: Anton Döberl, Bausteine zu einer Biographie des Bischofs J. M. von Sailer, in: Historisch-politische Blätter 155 (1915), S. 153–168, hier S. 156f. Vgl. Friedrich Schlegel an Franz Xaver Schwäbl, 27. Juni 1828, in: ebd. S. 158–160. Vgl. Johann Michael Sailer und Franz Xaver Schwäbl an Friedrich Schlegel, 15. September 1828, in: Briefe an Friedrich Schlegel, hrsg. von Heinrich Finke, Köln 1917, S. 81f. Vgl. Friedrich Schlegel an [Josephine Gräfin O’Donell von Tyrconnel], [etwa zwischen 29. April und 5. Mai 1811], in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 28 (Anm. 15), S. 93.

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Siehe Anlage

Aufgrund seiner Kontakte in Rom wird auch Johannes Veit für Schlegel eine wichtige Relais-Station. Mit seiner Hilfe versucht er, einzelne Bitten verbindlicher zu gestalten: „Liebster Johann, ich bitte Sie nebst den herzlichsten Grüßen, die beyden Einlagen an Müller u Plattner gütigst zu besorgen, u den Inhalt meiner Briefe bey Beyden auch mündlich zu unterstützen.“51 Umgekehrt fungiert Friedrich Schlegel als wichtiger Fürsprecher und Relais-Station der Brüder Grimm in Wien. So bittet ihn etwa Wilhelm Grimm um das Weiterleiten eines Briefes: [I]ch habe in der Einlage den Herrn Kovachich zu Pest gebeten mir davon […] eine Abschrift zu verschaffen. Da ich seine Adreße nicht weiß, ist nun meine Bitte an Sie, ihm diesen Brief sobald als möglich, […] zukommen zu laßen, wollten Sie ein paar empfehlende Worte hinzufügen, so wäre dies eine besondere Güte, für die ich sehr dankbar seyn würde.52

Hier wird auch ein praktischer Aspekt des Briefversands deutlich: Grimm ist die Adresse des ihm persönlich unbekannten Empfängers Kovachich nicht bekannt. Jacob Grimm wiederum wendet sich mit der Bitte an Friedrich Schlegel, einen Brief an Joseph Anton von Pilat weiterzugeben. Grimm erhofft sich durch Schlegels engen Kontakt zu Pilat höhere Erfolgsaussichten bei der Beschaffung des Ulfilas für seine Deutsche Grammatik: Herr von Pilat, wenn er meinen Brief aus Ihrer Hand bekommt, wird sich dann ohne Zweifel nachdrücklicher dafür verwenden. Haben Sie die Güte das Schreiben nach der Durchlesung mit irgend einem gleichgültigen Siegel zu bedrücken.53

Indem Jacob Grimm seinen Brief nicht siegelt, lädt er Friedrich Schlegel zur Lektüre ein und macht ihn so zum Mitwisser seines Anliegens. Auch das erhöht die Aussichten, am Ende das Gewünschte zu erhalten. Letztlich lässt die Form einer Beigabe immer auch Rückschlüsse auf die Beziehung der Korrespondenten zu. Dies gilt nicht nur in privaten Konstellationen, wie die überschickten Haare zeigen, sondern auch für Handschriften, Drucke und Zeichnungen, die bei weiterer Ausdifferenzierung verschiedene Vertrautheitsstufen nahelegen. Manuskripte und Werkpläne setzen ein gewisses Vertrauen zum Empfänger voraus, da es sich um sensible Arbeiten handelt. Ankündigungen hingegen werden auch losen Bekanntschaften und Unbekannten zugeschickt.

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Friedrich Schlegel an Johannes Veit, 16. Oktober 1812, in: ebd. S. 303–307, hier S. 306. Wilhelm Grimm an Friedrich Schlegel, 16. Februar 1814, in: ebd. S. 552–554, hier S. 503. Jacob Grimm an Friedrich Schlegel, 25. Februar 1824, Handschrift: Dortmund, Stadt- und Landesbibliothek, Sign.: Atg. 3721.

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Handelt es sich bei Beigaben um Geld, so kommen nahezu unweigerlich Abhängigkeitsverhältnisse in den Blick. Wenn etwa Friedrich Schlegel trotz seiner angespannten Finanzlage Christine von Stransky Anweisungen über hohe Geldbeträge sendet, zeigt dies einerseits seine Fürsorge, andererseits ihre Abhängigkeit von Zuwendungen. Umgekehrt zeigen Geldforderungen in Briefen und mitgeschickte Rechnungen ein distanziertes Verhältnis der Korrespondenzpartner an – sei es aufgrund einer reinen Geschäftsbeziehung oder im Zuge einer Entfremdung einstiger Freunde.

5 Brief und E-Mail als Transportmedium im Vergleich Betrachtet man E-Mails als Transportmedien für Beigaben unterschiedlicher Form und Funktion, so lassen sich Parallelen, aber auch Unterschiede zur Briefpraxis des 19.  Jahrhunderts feststellen. Die Forschung zum Verhältnis von Brief und E-Mail beschäftigt sich bisher überwiegend mit den sprachlichen und stilistischen Merkmalen beider Kommunikationsformen.54 Die unter dem Aspekt der Beilagenpraxis relevanten Möglichkeiten zum Anhängen von Attachments, zu einer gezielten Mehrfachadressierung durch Carbon Copy (Cc) und Blind Carbon Copy (Bcc) sowie die Weiterleitungsfunktion wurden dagegen kaum berücksichtigt. Statt eines systematischen Vergleichs der Transportmedien Brief und E-Mail, der den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde, sollen hier lediglich einige vom historischen Vergleich inspirierte Beobachtungen bezüglich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Funktionsweise und der praktischen Nutzung festgehalten werden. Eine grundlegende Gemeinsamkeit beider Kommunikationsformen liegt in ihrem Anwendungsbereich. Beide dienen der Übermittlung privater und geschäftlicher Mitteilungen.55 Insbesondere die funktionalen Möglichkeiten der E-Mail wie das Einrichten eines E-MailVerteilers, das Einbeziehen Dritter durch Cc und Bcc sowie die Weiterleitungsfunktion von empfangenen Nachrichten zeigen, dass interaktive Phänomene der romantischen Briefpraxis

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Siehe dazu etwa Jana Hoffmannová, Olga Müllerová, Ein Privatbrief auf E-Mail: immer noch ein Brief oder eher eine Plauderei?, in: Bernd Neumann (Hrsg.), Dialogue Analysis and the Mass Media, Tübingen 1999, S. 55–64; Caroline König, Rosina Ziegenhain, Neuere Kommunikationsmedien im Vergleich zum Brief – E-Mail, SMS, WhatsApp, Facebook, in: Marie Isabel Matthews-Schlinzig u. a. (Hrsg.), Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Bd. 2, Berlin / Boston 2020, S. 1508–1517; Arne Ziegler, E-Mail – Textsorte oder Kommunikationsform? Eine textlinguistische Annäherung, in: Arne Ziegler, Christa Dürscheid (Hrsg.), Kommunikationsform E-Mail, Tübingen 2002, S. 9–32. Vgl. Ziegler, E-Mail (Anm. 54), S. 25.

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mit dem Ziel der Gruppenbildung und Vernetzung in die Funktionsweise der elektronischen Nachrichten integriert worden sind. Auch die E-Mail ermöglicht eine kollaborative Leserschaft, indem Mitteilungen simultan an einen ausgewählten und geschlossenen Verteilerkreis versandt werden können. Was verloren geht sind allerdings die haptischen Eigenschaften des Briefes und sein materieller Status als Einzelobjekt.56 Der E-Mail-Verteiler sowie die Cc- und Bcc-Funktionen entsprechen der epistolarischen Mehrfachadressierung und dienen der Kommunikation bereits vernetzter Personen. Das Weiterleiten von Mails belegt eine funktionale Nähe zur Briefeinlage und zum Briefeinschluss, wodurch auch zuvor noch nicht in Kontakt stehende bzw. in den Kommunikationsprozess involvierte Personen miteinander verbunden werden können. Der Empfänger einer E-Mail übernimmt dann die Rolle des Nachrichtenübermittlers.57 Das Hinzufügen von Beilagen zu Briefen hat in den E-Mail-Attachments ein funktionales Äquivalent gefunden: „Die verschiedenen fakultativen Briefbeilagen waren eine Urform der heutigen E-Mail-Attachments.“58 In beiden Fällen fungieren entweder der Brief oder die EMail als primäre Transportmedien. Damals wie heute werden skriptural-textuelle oder graphisch-visuelle Anlagen an Freunde, Geschäftspartner, Institutionen oder interessierte Kreise versendet. Wie im Brief ist das Versenden mit der Erwartung angemessener Reaktionen verknüpft und wird daher taktisch eingesetzt.59 Attachments dienen beispielsweise „der Übersendung fertiger oder halbfertiger Dokumente zur Kenntnis oder weiteren Bearbeitung (ähnlich wie Anlagen in herkömmlichen Briefen)“.60 Zu den markanten Unterschieden zwischen Brief und E-Mail, die es gleichfalls festzuhalten gilt, gehören die Transportgeschwindigkeit, der Umfang, die Materialität, die Kosten und 56

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Siehe zu den Parallelen von Mehrfachadressierung im 19. Jahrhundert und den Funktionen Cc und Bcc der E-Mail auch die Beiträge im Rahmen der Tagung von Rotraut Fischer Die „löbliche Sitte des Apostolischen Briefumlaufs“. Mehrfachadressierung und erweiterte Lektüre im Netzwerk der Marburger Romantiker. Mit einem Blick auf digitale Kommunikationsformen (in diesem Band, S. 55–67) sowie von Andrea Hübener und Jörg Paulus zu CC (Carbon Copy), BCC (Blind Carbon Copy) und DC (Data Compression). Vervielfältigen, Verbergen und Verdichten von Bild und Schrift in Briefen des 18. und 19. Jahrhunderts (in diesem Band, S. 269–292). Das Hinzufügen weiterer Personen in Cc beim Beantworten einer Nachricht kann ebenfalls für die gezielte Vernetzung und Erweiterung des Kommunikationskreises eingesetzt werden. Jörg Meier, Vom Brief zur E-Mail – Kontinuität und Wandel, in Arne Ziegler, Christa Dürscheid (Hrsg.), Kommunikationsform E-Mail, Tübingen 2002, S. 57–75, hier S. 65. Siehe zum Feedback-Anspruch von textuellen oder graphischen Anlagen auch Valérie Leyhs Beitrag Briefe und poetische Episteln als Instapoetry der Aufklärungszeit? Elisa von der Reckes Briefwechsel mit Johann Wilhelm Ludwig Gleim und dem Halberstädter Freundeskreis (in diesem Band, S. 37–54). Ulrich Schmitz, E-Mails kommen in die Jahre. Telefonbriefe auf dem Weg zur sprachlichen Normalität, in: Arne Ziegler, Christa Dürscheid (Hrsg.), Kommunikationsform E-Mail, Tübingen 2002, S. 33–56, hier S. 35.

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die Zugänglichkeit der transportierten Texte. Während der Umfang von Briefen im Fall der E-Mail, bei der es sich um eine elektronische Nachricht handelt, deutlich schrumpft und die Materialität sich tendenziell verflüchtigt, wird die Form der Beigaben um materielle Objekte (Haare oder Kanarienvögel) vermindert, dabei aber medial immens erweitert. Nun können „im Anhang (Attachments) alle Arten digitaler Dokumente übermittelt werden“61, darunter „Ton-, Bild-, Film- und Hypermedia-Dateien“.62 Eine Einschränkung gib es lediglich durch die maximal versendbare Dateigröße. Die E-Mail stellt gerade in „Situationen, in denen eine schnelle Rückmeldung besonders wichtig ist oder ein Brief höhere Kosten verursachen würde“, die in Sachen Zeit- und Kostenersparnis aktuell am weitesten optimierte Kommunikationsform dar.63 Zu ihren Vorteilen zählen eine „schnelle und bequeme Produktion und Distribution“ sowie die Funktionen „Reply, Quote, Attachment“.64 Der Gebrauch von E-Mails weist zwei Tendenzen auf, die auch für den Umgang mit Attachments relevant sind. Erstens ist die E-Mail neben dem herkömmlichen Brief in Abgrenzung zu Messengerdiensten das primäre Kommunikationsmedium für offizielle Anlässe. Sie wahrt Distanz und garantiert Verbindlichkeit. Zudem ist zu beobachten, dass die Mail kaum noch für Plaudereien eingesetzt wird, sondern mit der Erwartung konkreter Informationsübermittlung verbunden ist. Zweitens nimmt die Häufigkeit von Attachments fortwährend zu. Im Vergleich zum Brief weisen E-Mails eine höhere Transportsicherheit auf, doch können auch sie – wie im Fall der verlorenen Briefe – ihren Empfänger verfehlen. Schließlich bedrohen Cyberangriffe und Computerviren das Briefgeheimnis bei elektronischen Nachrichten in ähnlicher Weise wie der unsichere Postversand den Brief im 19. Jahrhundert. Ein letzter Aspekt betrifft die Archivierung von Beigaben. Für das Verhältnis von Brief und Beilage wurde die übliche Trennung beider Entitäten durch den Empfänger wiederholt beklagt, da die Beigaben oft nicht (mit)archiviert wurden.65 Zahlreiche Beilagen zu Briefen sind verloren und selbst wenn sie überliefert sind, sind sie archivarisch häufig vom Versandbrief getrennt und nur schwer wiederzuvereinigen. Als elektronische Nachricht bietet die E-Mail für dieses Problem eine Lösung, da sie nicht nur Transportmedium ist, sondern zugleich als digitales Archiv für die gemeinsame Aufbewahrung von Text und Anhang genutzt werden kann. Das gilt auch dann, wenn in der Praxis eine Reproduktion des Anhangs und eine sofortige

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Ebd. S. 33. Ebd. S. 34. König, Ziegenhain, Neuere Kommunikationsmedien (Anm. 54), S. 1511f. Schmitz, E-Mails kommen in die Jahre (Anm. 60), S. 34. Vgl. Radecke, Beilage, Einlage, Einschluss (Anm. 2); Lukas, Briefbeigabe (Anm. 2).

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Siehe Anlage

und dauerhafte Trennung durch Download und Speichern auf einem lokalen Datenträger verbreitet ist.

6 Rück- und Ausblick Anhand einer synchronen und diachronen Annäherung an Briefbeigaben fokussierte der Beitrag deren Funktionalisierung bei Friedrich und Dorothea Schlegel. Durch den Medienvergleich zwischen Brief und E-Mail rückten zudem funktionale Äquivalenzen der beiden Kommunikationsformate als Transportmedien in den Mittelpunkt. Dabei wurden Parallelen zwischen der Kommunikationspraxis der Romantik und der Gegenwart sichtbar gemacht. Beigaben und Attachments können Mitteilungen bereichern, was sie für eine gezielte Verwendung nutzbar macht. Friedrich und Dorothea Schlegel versenden unterschiedliche Beigabentypen mit dem taktischen Ziel, soziale Teilhabe zu vertiefen und zu verbreiten. Insbesondere in privaten Briefwechseln mit Freunden und Bekannten dienen Beilagen der Intensivierung der Beziehungen. Sie wirken distanzregulierend, indem sie Nähe erzeugen können. Einlagen und Einschlüsse konturieren Korrespondenznetzwerke. Sie machen Absende- und Empfängerinstanzen zu Vermittlern, wodurch Briefnetzwerke verschiedener Personen nachgenutzt werden können und neue Korrespondenzen entstehen. Verbindlichkeit und Referenzen werden durch die Fürsprache der Vermittler einerseits und mitgesandte Beilagen andererseits erzeugt. Die E-Mail führt den bereits im 19.  Jahrhundert eingesetzten Optimierungstrend bezüglich des Kommunikations- und Postwesens fort. Die für das Netzwerken der Romantiker wesentlichen Funktionen des Briefes – das Hinzufügen von Beigaben, die Mehrfachadressierung und das Weiterleiten von Nachrichten – sind in der Gegenwart selbstverständliche Leistungen moderner Kommunikationsformate. Bezüglich dieser Leistungen legen Beobachtungen zum praktischen Einsatz der E-Mail nahe, dass diese mittlerweile zunehmend auf Attachments, Weiterleitung und Gruppenadressierung ausgelegt ist, wohingegen Privatgespräche Messengerdiensten vorbehalten sind. Der im Rahmen des Beitrags auf Beobachtungen in der praktischen Anwendung beruhende Vergleich zwischen Brief und E-Mail bietet einen Ausgangspunkt für weiterführende Forschungen. Insbesondere ein systematischer Vergleich zwischen den funktionalen Analogien und Differenzen beider Kommunikationsformate mit einem konkreten Textkorpus an E-Mails scheint hier vielversprechend. Im Hinblick auf das Phänomen der Briefbeigaben besteht das vermeintlich bedeutendste Desiderat weiterhin in der terminologischen Ausdifferenzierung. Hier wäre eine noch 187

Cosima Jungk, Tim Porzer

feingliedrigere Bestimmung der beigegebenen Briefe sowie der unterschiedlichen Beilagen wünschenswert. Bezüglich der vielfältigen Beilagentypen könnten deren Medialität und Materialität sowie deren Funktionen für eine terminologische Bestimmung nutzbar gemacht werden.

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Der Körper im sozialen Medium Brief Arten und Funktionen der Thematisierung von Körper und Krankheit in Briefen aus dem Umfeld des Dichters Jean Paul Selma Jahnke

Die Beschäftigung mit dem Körper und seiner Funktionstüchtigkeit bestimmt das menschliche Leben als anthropologische Grundkonstante, zugleich ist sie unweigerlich geprägt von den philosophischen, religiösen und medizinischen Diskursen, den Normen und Erklärungsmustern der jeweiligen Zeit und Gesellschaft, innerhalb derer sie erfolgt. Briefe werden als Untersuchungsgrundlage und Quellenmaterial zur Erforschung spezifischer Diskurse und der Medizingeschichte allgemein bereits seit langem genutzt, bilden sich doch in dieser „einzigartigen Kommunikationsform […] mit einer seltenen Frische und Lebendigkeit […] die unterschiedlichsten persönlichen und kollektiven Erfahrungen, die sich um Gesundheit und Krankheit drehen,“ ab.1 Eine besondere und für die Forschung ergiebige Gattung bilden dabei die Ärztebriefe des 16. und 17. Jahrhunderts, mehrheitlich auf Latein und in der Tradition der humanistischen Gelehrtenbriefe,2 und das weite Feld der Patientenbriefe, auch als Konsiliar- oder 1

2

Vincent Barras, Martin Dinges, Krankheit in Briefen, in: Dies. (Hrsg.), Krankheit und Gesundheit im deutschen und französischen Sprachraum. 17.–21. Jahrhundert, Stuttgart 2007, S. 7–22, hier S. 7. Der Band allein vereinigt 18 Studien zu unterschiedlichen Korrespondenzen, Epochen und Fragestellungen, u. a. Hubert Steinke, Krankheit im Kontext. Familien-, Gelehrten- und Patientenbriefe im 18. Jahrhundert, in: ebd. S. 35–44; Carmen Götz, Krankheit als Effekt kultureller Konstruktionen während der Aufklärung. Das Beispiel der Hypochondrie, in: ebd. S. 111–122; Monika Meier, Tödliche Krankheiten und „eingebildete“ Leiden. „Hypochondrie“ und „Schwindsucht“ im Briefwechsel zwischen Jean Paul und Johann Bernhard Herrmann. Mit Ausblicken auf die Literatur und Ästhetik Jean Pauls, in: ebd. S.167–183. Auf breiter Basis werden Briefe als Quellen zu Medizingeschichte und Anthropologie ausgewertet in Bettina Brockmeyer, Selbstverständnisse, Dialoge über Körper und Gemüt im frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 2009. Vgl. die Datenbank Ärztebriefe im deutschsprachigen Raum, Projekt unter der Leitung von Michael Stolberg an der Universität Würzburg, betreut durch die Bayerische Akademie der Wissenschaften, [29.6.2022]. Zu über 52  000  Briefen sind bereits Basisdaten

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Selma Jahnke

Konsulationskorrespondenz bezeichnet, also Briefe, in denen Fernkonsultation und ärztliche Betreuung stattfinden durch Beschreibung der Symptome von Seiten der Patient*innen und durch Ferndiagnosen, Rezepte und Behandlungsratschläge von Seiten der Ärzteschaft.3 Was für Spielarten der Thematisierung von Körperlichkeit und insbesondere Krankheit in Briefen aus der Zeit um 1800 zu finden sind, soll Gegenstand der folgenden Betrachtung sein, und zwar mit dem Fokus darauf, welche Funktionen das Themenfeld für die soziale Dynamik unter den Korrespondent*innen erfüllen kann. Untersuchungsgrundlage bildet hauptsächlich die digitale Edition der Briefe aus dem Umfeld des Dichters Jean Paul,4 ergänzt um einige weitere zeitgenössische Briefbeispiele. Die Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld eignet sich in ihrer Konzeption besonders, Fragestellungen zur Interaktion in einem Briefnetzwerk und zu dynamischen Prozessen in Gruppenkonstellationen zu untersuchen. Das edierte Textkorpus setzt sich aus Korrespondenzen der Briefpartner*innen Jean Pauls untereinander zusammen: u.  a.  den Briefen innerhalb seiner Kernfamilie, also zwischen seiner Frau Caroline Richter und den drei Kindern Emma, Max und Odilie, den Briefen innerhalb der Herkunftsfamilie Caroline Richters, deren Schwestern Minna Spazier, Ernestine Mahlmann und Auguste Mayer aufgrund eigener Arbeiten und aufgrund ihrer Ehemänner zum Teil aktiv am literarischen und verlegerischen Leben der Zeit teilnahmen, und deren Vater Johann Siegfried Wilhelm Mayer als Obertribunalrat am Berliner Kammergericht in der Berliner und der Hofgesellschaft gut vernetzt war, und den Briefen innerhalb verschiedener Freundeskreise Jean Pauls und Geschäftspartnerschaften. Diese Briefe geben zum einen interessante, bisher schwer zugängliche Hintergrundinformationen über Jean Paul, sein Leben, sein Werk und auch die Art, in der er auf seine Korrespondenzpartner*innen gewirkt hat. Zum anderen aber bieten sie mit den so unterschiedlichen und mehrheitlich wenig bekannten 210 Akteur*innen unterschiedlichen Geschlechts und Standes und verschiedener Konfessionen eine Vielstimmigkeit, die auch unabhängig von der Figur Jean Pauls interessante Beobachtungen zulässt. Besonders die Netzwerkphänomene der spezifischen Briefkultur der Zeit – das gemeinsame Verfassen und Lesen, das Abschreiben, Mitschicken und Weitergeben von Briefen – werden in der Edition sichtbar

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4

durchsuchbar. Siehe zu dem Projekt und dem Forschungsstand über Ärztebriefe auch Tilmann Walter, Ärztebriefe (16. und 17. Jahrhundert), in: Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, hrsg. von Marie Isabel Matthews-Schlinzig, Jörg Schuster, Gesa Steinbrink und Jochen Strobel, Berlin / Boston 2020, Bd. 2, S. 705–715. Einen Forschungsüberblick bietet Markus Schiegg, Patientenbrief, in: Handbuch Brief (Anm.  2), Bd. 2, S. 570–581. Diese Briefe werden derzeit ediert in der Digitalen Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke, Michael Rölcke, 2020–2022, in: Jean Paul  – Sämtliche Briefe digital, hrsg. im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller, Frederike Neuber, 2018–2022, [29.6.2022].

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Der Körper im sozialen Medium Brief

durch verschiedene Verlinkungsfunktionen innerhalb der Briefe, durch die Angabe einer möglicherweise erweiterten Leserschaft, von Beilagen und Postwegen (soweit bekannt) in den Metadaten und durch den möglichen Einstieg in das Briefkorpus über definierte Korrespondenzkreise und Themenschlagwörter. Die mittlere Größe der Edition mit zum jetzigen Stand 1485 Briefe von bis zum Abschluss im Jahr 2023 geplanten rund 2000 lädt gleichermaßen zu qualitativen wie quantitativen Erkundungen ein. Zusätzlich umfasst die Edition auch die Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul selbst in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen dritten Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe (1952–1964)5 und macht auch diese Briefe, wenn auch bisher noch nicht nach Themen und Korrespondenzkreisen, so doch im Volltext digital durchsuchbar. In den Social Media der Gegenwart hat das Thema Gesundheit einen herausragenden Stellenwert, wie der sogenannte Werte-Index dokumentiert. Seit 2009 wird dieser Index alle zwei Jahre erhoben, seit 2021 gibt es das häufigere Vermelden von Zwischenständen in Form von sogenannten Updates: Mehrere Marktforschungsunternehmen6 werten dazu über drei Millionen Postings in deutschsprachigen Social Media-Kanälen aus (seit den Updates sind es im Verhältnis zu den kürzeren Erhebungszeiträumen sogar noch mehr). Als Kanäle angegeben werden Facebook, Twitter, seit 2016 auch Instagram; unbenannt bleiben weitere Foren, Blogs und Kommentarfunktionen. Mit diversen (größtenteils ebenfalls unbenannten) Analysetools wird aus 15 vorher ermittelten, zentral verhandelten Werten ein Ranking der zehn Werte erstellt, die der Social Media-Gesellschaft aktuell besonders wichtig sind (neben Gesundheit etwa Freiheit, Familie, Erfolg, Sicherheit, Gemeinschaft, Natur, Anerkennung, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit). Der Wert ‚Gesundheit‘ rangiert dabei von Beginn der Erhebung an unter den ersten vier Platzierten und war auch bei der letzten Erhebung vor Ausbruch der Coronapandemie, die im Februar 2020 veröffentlicht wurde (der Erhebungszeitraum endete am 30. September 2019), zum wiederholten Mal auf Platz eins, in dem ersten und bislang einzigen darauffolgenden Update behauptete das Thema die Spitzenposition erwartungsgemäß weiterhin.7 Das korrespondiert mit der Wichtigkeit, die das Thema ‚Krankheit bzw.  Gesundheitszustand‘ im Korpus der Briefe aus dem Umfeld des Dichters Jean Paul hat. Auf der Startseite der 5

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Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3.  Abt. der Historisch-kritischen Ausgabe (1952–1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller, Frederike Neuber, 2018, in: Jean Paul  – Sämtliche Briefe digital, hrsg. von  Dens., 2018, [29.6.2022]. Ursprünglich die Marktforschungsunternehmen Bonsai Research, Trendbüro, Kantar und die dfv  Mediengruppe, seit dem Update 2022/1 wird statt der beiden letztgenannten Institute die Unternehmensberatung Fritz Classen als weitere Herausgeberin geführt. Der neue Werteindex. Wie Deutschland denkt und fühlt, [29.6.2022].

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Edition kann man das Verzeichnis der Themenschlagworte ansteuern. Die aktuell 156 Themen, die sich unter 66 Oberthemen gliedern, wurden nicht im Voraus systematisch erstellt, sondern sukzessive während der Arbeit an den Briefen angelegt, entsprechend der thematischen Gewichtung, die die Briefe jeweils dominierte. Sie reichen von ‚Abschied‘ bis ‚Zurückweisung, Widerspruch‘, sind in einigen Fällen (z. B. ‚Bildung‘) weit gefasst, in anderen ganz spezifisch auf eine begrenzte Thematik bezogen (z.  B.  ‚Johann Ernst Wagners Kunstschulplan‘). Von daher sind diese Themen wesensmäßig verschieden von den Werten des heutigen Werteindexes, der nicht zur Erschließung eines bestimmten Korpus dient, sondern der Erfassung eines Zeitgeistes zu kommerziellen Zwecken wie erfolgreiches Produktdesign und Werbeansprache. Trotzdem ist es interessant, dass auch im Themenranking der Edition der Umfeldbriefe das Thema ‚Krankheit bzw. Gesundheitszustand‘ im Verlauf der Jahre stets aktuell bleibt.8 ‚Krankheit / Gesundheit‘ ist momentan als Themenschlagwort 209 Briefen zugeordnet und damit hinter ‚Reisen‘ (359 Zuordnungen) und dem für die Briefkultur essentiellen Thema ‚Brief‘ (267 Zuordnungen) auf Platz drei. Das Korpus umfasst Briefe von besonders vielen Schriftsteller*innen, Verlegern und Zeitschriftenredakteur*innen – trotzdem ist ‚Krankheit / Gesundheit‘ vor den verlegerischen Fragen (186 Zuordnungen) gelistet, ebenso wie vor ‚Festlichkeiten‘ (170 Zuordnungen, zu denen auch das häufig zugeordnete Unterthema ‚Geschenke‘ zählt), ‚Finanzen‘ (167 Zuordnungen) und ‚Familie‘ (159 Zuordnungen).

1 Auge, Hand, Mund und Nase – Organe der Perzeption Möchte man die Art vergleichen, in der Körperlichkeit in der Briefkultur vergangener Jahrhunderte und den Social Media von heute verhandelt wird, fallen zunächst fundamentale Unterschiede auf. Die Social Media von heute sind bilddominiert, wenn es um Körper geht. Der Körperkult, der in Beauty-Blogs, Schmink- und Fitnesstutorials gepflegt wird, die Hashtags zu Bodybuilding, Bodyshaming und Bodypositivity sind an Bild- und Filmdateien gekoppelt und haben keine Entsprechung in den Briefen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Welten entfernt erscheint eine Zeit, in der ein Vater seiner Tochter ein Bild schickt, das er von sich hat anfertigen lassen, und dazu bedauernd schreibt: auch habe ich nichts dagegen, daß Du es ändern läßest, so weit es nehmlich verzeichnet ist, e. g. die Nase. Alles übrige wird wohl bleiben müßen; und bin ich wohl selbst Schuld.

8

Zu den Möglichkeiten der Erstellung und Auswertung von Topic-Rankings in digitalen Briefeditionen siehe Frederike Neuber, Historische Korrespondenzen und Social Media Analytics. Eine experimentelle Analyse der Briefe aus Jean Pauls Umfeld (in diesem Band, S. 247–267).

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Der Körper im sozialen Medium Brief Denn ich haße die steife Attitude beym Mahlen, u jedes Affectirte Air. ich suchte vielmehr das höchst ungenirte; […] so daß mich Frisch öfters an mehr Haltung erinnerte. […] Ist mein Bild bey analytischer Genauigkeit dem Original nicht gleich, so thut mir es für diejenigen leyd, die im Original mehr zu finden wißen, als in der Copie. ich darf dazu nichts sagen.9

Gerade in der Familie Mayer, der Herkunftsfamilie von Jean Pauls Ehefrau Caroline Richter, werden immer wieder Portraits hin- und hergeschickt, um die entfernten oder verstorbenen Familienmitglieder zu vergegenwärtigen, und jedes Mal sind diese Anschauungsmaterialien mit der Klage über ihre Unähnlichkeit mit den abgebildeten Personen versehen.10 Auch wenn Körperlichkeit in den Briefen in der Regel nicht über bildliche Darstellungen anschaulich gemacht wird, ist das Auge doch das zentrale Organ zur Rezeption von Briefen und

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Von Johann Siegfried Wilhelm Mayer an Caroline Richter, 9. bis 12. Januar 1808, in: Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm.  4), [29.6.2022]. In den Briefen von Caroline Richter an Johann Siegfried Wilhelm Mayer vom 26. April 1802 (in: ebd. ) und vom 30. Mai 1802 geht es um ein Portrait der kürzlich verstorbenen jüngsten Schwester Auguste Mayer, deren Bildnis Caroline Richter vom Vater erbittet, um dann enttäuscht zu konstatieren: „es ist sonderbar, daß mir die überschikte Zeichnung so sehr von der Natur abzuweichen scheint – das Auge allein scheint mir ähnlich, aber die Einbiegung von der Stirn zur Nase zu tief – die übrigen Züge scheinen mir durchaus unähnlich“ (Von Caroline Richter an Johann Siegfried Wilhelm Mayer, 30. Mai 1802, in: ebd. ). Ähnliches schreibt die mittlere Schwester Ernestine Mahlmann am 28. Januar 1803 an Vater Mayer (in: ebd. ). Caroline Richter sendet ihrem Vater am 11. Juli 1804 ein Portrait von sich selbst und bedauert: „– wäre doch dis kleine Bild von mir, was ich Ihnen beilege, fähig, Ihnen meine Erinrung anschaulich zumachen – ein sonst im Treffen sehr glüklicher Maler zeichnete es – aber leider verfehlte er dismal die Ähnlichkeit, um die mir bei Ihnen so viel zu thun war.“ (Von Caroline Richter an Johann Siegfried Wilhelm Mayer, 11. Juli 1804, in: ebd. ). Ein andermal geht es wiederum um Zeichnungen von Mayer und seiner dritten Frau, die nach Bayreuth gesendet werden: „Es thut mir leyd, daß das überschikte nicht beßer ausgefallen ist, wozu denn freylich etwas Seelen Malerey gehört.“ (Von Johann Siegfried Wilhelm Mayer an Caroline Richter, 19. August (?) 1806, in: ebd. ). Ein gutes Jahr später gibt es statt einer Zeichnung ein Bild, jedoch: „Meine Frau u mehrere finden, Frisch habe mich nicht in meinem besten Moment gefaßt. Allein ich denke Dir soll das Bild doch zur Erinnerung dienen.“ (Von Johann Siegfried Wilhelm Mayer an Caroline Richter, 1. Dezember 1807, in: ebd. ). Auch bei der Silberstiftzeichnung von Ludwig Buchhorn, die „allgemeines Anerkentniß gefunden hat“, bedauert der Vater, dass die Kopien, die er nun der Tochter schickt, leider „nicht so gut gerathen“ sind (Von Johann Siegfried Wilhelm Mayer an Caroline Richter, nach 1815 (?), in: ebd. [29.6.2922]).

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wird als solches thematisiert, wie es auch für die Briefabfassung unerlässlich bleibt, insofern es nämlich in direktem Zusammenspiel mit der Schreibhand und zur Entzifferung der Handschrift scharf genug sein muß. Im Korpus der Umfeldbriefe belegen dies besonders eindrücklich die schwer zu entziffernden Briefe der von Jugend an unter Augenproblemen leidenden Charlotte von Kalb, deren Sehkraft mit den Jahren noch weiter nachlässt: „Mein Auge ist sehr schwach, aber auch sowohl das körperliche Organ, dessen mein Geist bedarf, um anhaltend mich zu beschäftigen.“11 Und so bittet sie um Verständnis: „Lesen Sie meine horrible Schreibweise mit Geduld […]: auch dies hält mich auf, mich öfter mit Entfernten zu unterhalten.“12 Der Verleger Julius Hitzig lässt sich aufgrund seiner Sehschwäche sogar ein besonderes Briefpapier drucken, auf dessen einer Seite mit hübscher Bordüre eingerahmt zu lesen ist: Eine mit einer langjährigen Unterleibskrankheit zusammenhängende Schwäche meiner Augen hat seit den letzten Monaten einen so hohen Grad erreicht, dass ich des Gebrauches des linken Auges gänzlich beraubt bin, und auch das rechte, nach ärztlicher Vorschrift, ängstliche schonen muss. […] ich bitte daher meine Freunde um geneigte Entschuldigung, wenn ich, wie sehr mich auch ein inneres Bedürfnis grade unter den gegenwärtigen Umständen zu ausführlicheren Mittheilungen auffordert, in Beantwortung ihrer geneigten Zuschriften nur das Allernothwendigste berühren kann. Berlin, zu Anfang des Jahres 1832. Julius Eduard Hitzig13

Krankt das Auge, krankt die Kommunikation: Der gedruckte und vervielfältigte Text, der die dritte Seite des Doppelblattes einnimmt, auf dessen übrigen Seiten Platz für handschriftliche Zeilen bleibt, macht auf den ersten Blick den Makel augenfällig, für den er sich entschuldigt. In der Zeit vor der breiten Verfügbarkeit von Schreibmaschine oder Computer, also Medien, die schnell und individuell Drucktypen zu erzeugen ermöglichen, gehören Auge und Hand(schrift) unmittelbar mit der „Mittheilung“ der Briefkommunikation zusammen, nur durch sie gelingt die Vermittlung von „innerem Bedürfnis“ und Reaktion auf die „gegenwärtigen Umstände“. Ein genormter Vordruck, der nicht von den Briefschreibenden individuell gestaltet auf die Adressat*innen reagieren kann, bleibt als Kommunikationsmittel verkümmert und rudimentär. 11

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Von Charlotte von Kalb an Caroline Richter, 9. bis 12. März 1814, in: ebd. [29.6.2022]. Von Charlotte von Kalb an Caroline Richter, 19. März 1815, in: ebd. [29.6.2022]. Von Julius Eduard Hitzig an Helmina von Chézy. Berlin, den 17. Juli 1832, Biblioteka Jagiellońska Krakau, Sammlung Varnhagen, 47. Zitiert ist S. 3; S. 1 und 2 sind handschriftlich gefüllt und bilden den eigentlichen Brief.

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Der Körper im sozialen Medium Brief

Die Schrift ist in der Briefkommunikation jedoch nicht die einzige Möglichkeit, Botschaften zu übermitteln. Im Gegensatz zu den digitalen Medien, die (zumindest bisher noch) keine überzeugende Möglichkeit bieten, Materialität zu ersetzen oder zu simulieren, ermöglichen Briefe als physische Überlieferungsträger vielfältige Vergegenwärtigungsmöglichkeiten von Körperlichkeit. Durch die sinnigen Spiele der Hände auf dem Papier, der Küsse und Tränen, die in der Briefkultur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts virtuos in Szene gesetzt werden, geraten Briefe zu Berührungsreliquien. Wiethölter formuliert: „Die Post befördert nicht nur Briefe; anhand dieser Briefe befördert sie zugleich Körper, die sich in die Briefe eingetragen, sich im materiellen Sinne eine epistolare Existenz verschafft haben.“14 Berühmt ist der mit getrockneten Tränentropfen übersäte Brief der Anna Louisa Karsch, den sie Johann Wilhelm Ludwig Gleim nach einem Abschied hinterherschickt: „zürnen Sie nicht, mein vortrefflicher Freund, dass ich Ihnen diese Thränen nachkommen lasse, es sind Kinder meiner Liebe, die mein Herz unterdrücken mußte“.15 Die Körperflüssigkeit auf dem Papier, das der Adressat in der Hand hält, ob fingiert oder nicht, stellt unmittelbar eine körperliche Verbindung zwischen den Korrespondent*innen her. Im Korpus der Jean Paul’schen Umfeldbriefe finden sich keine Tränen (sieht man von einigen Farbflecken ab, zu denen Jean Paul jedoch klarstellt: „Die Flecken sind keine Thränen, wie man sie oft in Briefen findet, weil ich keine rothen und grünen zu weinen habe“16), aber Küsse werden dem Papier vielfach aufgedrückt. Paul Emilie Thieriot schickt seinem besten Freund Emanuel (erst ab 1814 trägt er den Nachnamen Osmund) einen Schattenriss seiner selbst und schreibt: „Nimm den Kuß, den ich dem schwarzen Affen [seinem Schattenriß], der diesem Blatt zur Unterschrift dienen soll, als Ueberschrift aufdrüke.“17 Und Emanuel antwortet: „Ich bin Deinem Willen zuv o r gekommen und Dein Brief war schon geküßt, eh’ ich ihn erbrach; aber ich bin ihm doch auch n a c h gekommen.“18 Die vielen Präfixe – über, unter, vor und nach – gestalten die Berührung in diesem Beispiel plastisch in Raum und Zeit. 14

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Waltraud Wiethölter, Von Schreib- und Schriftkörpern. Zur Materialität der Briefschreibeszene, in: Der Brief. Ereignis & Objekt, hrsg. von Waltraud Wiethölter, Anne Bohnenkamp, Frankfurt a. M. / Basel 2010, S. 92–133, hier S. 113. Anna Louisa Karsch an Johann Ludwig Gleim, 1. Juli 1761, abgebildet in Waltraud Wiethölter, Rolle rückwärts? Von der brieflichen Typographie zum Brief, in: Der Brief. Ereignis & Objekt (Anm. 14), S. 723, hier S. 9. Von Jean Paul an Paul Emile Thieriot, 13. Bis 14. November 1806, in: Briefe von Jean Paul (Anm. 5), [26.08.2022]. Von Paul Emile Thieriot an Emanuel, 11. September 1802, in: Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm. 4), [26.08.2022]. Von Emanuel an Paul Emile Thieriot, 1.  und 3.  Oktober  1802, in: ebd. [26.08.2022]. Ähnliche Kußspiele finden sich etwa im Brief von Amöne Otto an Paul Emile Thieriot, 25. Mai 1802 (in: ebd. ), in dem ein „zurückgelassenes Kußpapier“ gesendet wird, oder im Brief von Emanuel an Caroline Goldschmidt, 10. und 11. Januar 1803 (in: ebd.

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Nicht nur Auge, Hand und Mund, auch die Nase kann in epistolare Begegnungen einbezogen werden. Es sind mehrere Briefe aus der Verlobungszeit Jean Pauls mit Caroline – damals noch Mayer – überliefert, die darum kreisen, dass Jean Pauls Berliner Mitbewohner Hans Georg von Ahlefeld Caroline Mayer einige Tropfen von Jean Pauls Parfum zukommen lassen soll, als dieser sich fern von Berlin aufhält. Caroline Mayer schreibt: Vergeben Sie mir wohl, wenn ich Sie beym Wort halte, und um einige Tropfen von Ihres Freundes Salbungs Oel bitte? Es hat etwas magisches, was mich in seine Nähe versezt. Lachen Sie nicht, daß ich eines so sinnlichen Mittels bedarf, ich b e d a r f  deßen nicht. Doch es ist der lezte elektrische Schlag, der fast die Täuschung vollendet.19

Ahlefeld wiederum berichtet Jean Paul brieflich davon, dass er Caroline Mayer und ihre Schwestern antraf, wie sie gemeinsam den Duft einsogen.20 Jean Paul versieht Ahlefelds Brief zur Erinnerung noch mit einigen Erläuterungen u. a., dass er das Parfum von Ernestine Hake, einer anderen Freundin aus Nauen, erhalten habe.21 Der „Elektrische Schlag“ der körperlichen Präsenz, von dem Caroline Mayer schreibt, verbindet also nicht nur die beiden Liebenden, sondern auch den Mitbewohner, die Schwestern und schließt sogar die entfernte Freundin ein in die durch Briefe evozierte Sinnlichkeit. Die Briefe werden nicht nur Träger von körperlicher Zuwendung oder Orte der körperlichen Begegnung, sondern tatsächlich Repräsentanten der Körper ihrer Verfasser*innen und das nicht unbedingt nur in für die Adressat*innen. Auch vermittelter Körperkontakt mit Dritten ist auf diese Weise möglich. Thieriot schreibt, dass er „beiliegenden Eva u Lips-Brief“, also von seiner Freundin Eva und deren Bruder Philipp Hoffmann, die er unbedingt von Emanuel geschätzt wissen möchte, „am Sonntag früh mit Deinem [Emanuels] zugleich“ bekam, „so daß die Couverte sich geküßt hatten“.22 Körper und Brief können als Substitute füreinander stehen, so auch in dem Fall, in dem Thieriot sich in seinen Einschlagtüchern im Pariser Bett als kuvertierter Brief fühlt,

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[26.08.2022]), in dem Fr[eun]d O[tto] bittet, „seinen Dank durch einen Kuß, den er Ihrem Portrait […] aufdrückte“, zu schicken. Von Caroline Mayer an Hans Georg von Ahlefeldt, Ende Juni  1800 (?), in: ebd. [29.6.2022]. Von Hans Georg Ahlefeld an Jean Paul, 29. Juni 1800, in: Jean Paul, Sämtliche Werke. Historischkritische Ausgabe, 4. Abt., Bd. 3.2: Briefe an Jean Paul 1799–1800, hrsg. von Markus Bernauer, Berlin 2009, S. 335–337. Jean Pauls nachträgliche Bemerkungen sind gedruckt im Kommentar zum Brief von Hans Georg Ahlefeld an Jean Paul, 29. Juni 1800, ebd. S. 743–747, hier S. 744. Von Paul Emile Thieriot an Emanuel, 4.  Januar  1806, in: Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm.  4), [26.08.2022].

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Der Körper im sozialen Medium Brief

während Emanuel als Papier per Post in einem Umschlag aus Bayreuth zu ihm kommt: „Gestern Abend endlich kam mir das Glük im Schlafe. Ich stekte schon unter dem Bett-kouvert, als Du im papiernen zu mir kamst. Du kannst Dir denken, daß ich beide zugleich erbrach.“23

2 Fragen nach der Gesundheit – Dringlichkeit und Evokation von Nähe Sichtet man in der Edition der Umfeldbriefe die Briefe, denen das Thema ‚Krankheit bzw. Gesundheitszustand‘ zugewiesen wurde, findet sich zunächst eine Fülle von wechselseitigen besorgten Fragen nach der Gesundheit der Briefpartner*innen und den Antworten darauf, häufig als erstes Thema direkt nach Begrüßung und eventuell einem Einleitungssatz, der den letzten Briefkontakt benennt. Ein typischer Briefanfang von Caroline, mittlerweile verheiratete Richter aus Coburg, an ihren Vater Johann Siegfried Wilhelm Mayer in Berlin lautet: Mein inniggeliebter theurer Vater, Sie können nicht denken, wie unbeschreiblich mich Ihr gütiger liebender Brief überraschte, da ich nach tausend Möglichkeiten Ihres Schweigens, endlich fürchtete, Sie zürnten mit mir. Worüber? wußte ich mir zwar nicht zu erklären, […]. Gott sei Dank, da es nicht so war – aber daß Sie krank, b e d e u t e n d krank waren, und wir Ihre Kinder wusten von nichts – […], das ist entsezlich! […] Was fehlte Ihnen liebster Vater – die A r t Ihrer Krankheit ist mir wichtig.24

Hier ein entsprechender Briefanfang des Vaters an die Tochter: Meine liebe Caroline! Warum läßt Du mich so lange auf eine Antwort von Dir warten? Mich quält die Sorge für Deine Gesundheit, seitdem Du Deinen Unfall auf dem Ball gemeldet hast. Da es aber nur Deinen Fuß betroffen hat, so wirst Du wohl im Stande seyn, meiner Unruhe durch eine Zeile ein Ende zu machen.25 23

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Von Paul Emile Thieriot an Emanuel, 17. Februar bis 11. März 1803, in: ebd. [26.08.2022]. Von Caroline Richter an Johann Siegfried Wilhelm Mayer, 18.  Mai  1804, in: ebd. [29.6.2022]. Von Johann Siegfried Wilhelm Mayer an Caroline Richter, 15. April 1809, in: ebd. [29.6.2022].

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Ebenfalls ein häufiger Einstieg in einen Brief ist der Bericht des Verfassers oder der Verfasserin von einer eigenen Erkrankung, zum Beispiel im Brief von Jean Pauls Schwägerin Minna Spazier an Johannes Daniel Falk: Einen Brief wie den Ihrigen, mein Theurer Freund so lange unbeantwortet zu laßen, kann nur ein außerordentlicher Umstand rechtfertigen, und diesen kann ich leider zu meiner Entschuldigung anführen. Ich habe vier Wochen am Scharlachfieber krank gelegen […].26

Die Häufigkeit solcher Briefanfänge ist durch zweierlei bedingt: einerseits durch das kommunikative Apriori, die Tatsache, dass es zu Briefen vor dem Einzug der Telekommunikation keine alternativen Kanäle zum Nachrichtenaustausch gab und die Postgeschwindigkeit zwischen verschiedenen Städten mindestens einen, eher mehrere Tage betrug. Die Frage nach dem Befinden der entfernten Korrespondenzpartner*innen stellte sich also grundlegend und drängend. Die Dringlichkeit geht etwa aus einem Brief hervor, in dem sich Caroline Richter beim Vater nach dem Zustand der noch zuhause lebenden jüngeren Schwester Auguste erkundigt: Sagen sie mir das bester Vater, wenn Sie mir schreiben, und wenn es Ihre Zeit erlaubt nur einige Worte mehr, über die Art der Krankheitsäußerungen, ob sie Fieber und Auswurf hat, und ob sie das Bett hüten muß, ich möchte jeden Tag von ihr hören denn es ist so schrecklich nie ihren gegenwärtigen Zustand zu erfahren, sondern den, in den sie vor 14 Tagen war.27

Auguste starb nur zehn Tage nach Abfassen dieses Briefes. Die im Brief beschriebene Qual über die durch den Postweg verzögerten Lebenszeichen wird vor diesem traurigen Hintergrund unmittelbar verständlich. Zweitens zielt das Sprechen über den Körper, zumal zu Beginn des Briefes, direkt in den Nahbereich des Gegenübers und stellt im seit der Antike beschworenen Gespräch unter Abwesenden des brieflichen Austausches eine imaginäre körperliche Nähe her. Das ist vergleichbar mit den Beschreibungen der eigenen Schreibsituation als Briefbeginn oder dem Ausmalen der Situation der Adressat*innen in vielen Briefen, die einen imaginären

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Von Minna Spazier an Johannes Daniel Falk, 23.  Februar  1805, in: ebd. [29.6.2022]. Von Caroline Richter an Johann Siegfried Wilhelm Mayer, 4. Januar 1802, in: ebd. [29.6.2022].

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Der Körper im sozialen Medium Brief

Gesprächsort eröffnen. Dass bei dem Aufrufen von körperlicher Nähe der Grad der Intimität fein ausgelotet werden muss, sieht man in Jean Pauls Umfeld in den Briefen, die der Schriftsteller Johann Ernst Wagner an den Weimarer Kanzler Friedrich von Müller schreibt. Es geht um den Einsiedlerbandwurm, unter dem Müllers Frau Minna leidet. Wagner schreibt: Meine Frau sagte mir gestern, als ich mich in Erinnerungen über Sie und die köstliche Minna freute, dieses liebe Weib sey, wie sie gehört, (von Schwendlers glaube ich) in Liebenstein nicht ganz geheilt worden. Meine Frau […] sagte mir, was ich nicht gewusst, M. leide am Solitaire – ich will das plagende Ungeheuer mit seinem schönsten, und wirklich prächtigen, nemlich dem französischen Namen nennen – 28

Wagner eröffnet in seinem Brief also zunächst den gemeinsamen Begegnungsraum („in Erinnerung an Sie und die köstliche Minna“), versammelt gemeinsame Freund*innen in der brieflichen Begegnung (seine eigene Frau und das Ehepaar Schwendler) und stellt dann eine nahezu anstößige Nähe her, indem er den Körper der Ehefrau Müllers mit seinem intimen Leiden thematisiert. Um diese potenzielle Grenzüberschreitung abzufedern, benennt er den parasitären Eindringling auf Französisch und weist ausdrücklich auf diese ästhetische Höflichkeit hin. Noch poetischer wird es im folgenden Brief, in dem eine besonders findige Biene der antiken Mythologie und aromatische Kräuter gegen den unerfreulichen Wurm beschworen werden: Hätt’ ich doch die Flügel der Hybläischen Biene und die Untrüglichkeit ihres Instinkts, damit ich jenen Tropfen der Heilung, der g e w i ß irgendwo für s i e glänzt, suchen und saugen und bringen könnte, möchte er nun im sizilischen Quendel oder im unerträglichen Baldrian heimisch seyn!29

Zu sehen ist hier eine Gradwanderung zwischen reizvoller und unangemessener Intimität, zwischen vertraut freundschaftlicher Sphäre und Intimsphäre, eine Gradwanderung, die dem Schreiber bei den Adressaten in jedem Fall Aufmerksamkeit und die Erzeugung einer gewissen Erregung sichert.

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Von Johann Ernst Wagner an Friedrich von Müller, 9.  November  1808, in: ebd. [29.6.2022]. Von Johann Ernst Wagner an Friedrich von Müller, 9. Januar 1809, in: ebd. [29.6.2022].

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3 Schwarmintelligenz – geteiltes Wissen unter medizinischen Laien Das nächste, das ins Auge fällt bei der Durchsicht der Briefe mit dem Themenschlagwort ‚Krankheit  / Gesundheit‘, ist die basale Funktion der Briefe, Informationen über eigene Krankheiten oder Krankheiten von Menschen aus dem nahen Umfeld einzuholen bzw. Ratschläge an andere zu auszuteilen. Die unzähligen Foren, in denen medizinische Laien heutzutage im Internet ihre Erfahrungen mit Krankheiten, Behandlungsmethoden und Ärzt*innen austauschen, stehen einer Vielzahl an Briefen gegenüber, in denen sich Korrespondent*innen wechselseitig über Behandlungsmethoden ihrer jeweiligen Leiden informieren, zum Teil sehr konkret. Das Zeitalter der Konsultationskorrespondenz neigt sich eigentlich seinem Ende zu: Während der Frühen Neuzeit und vor allem im 17. und 18. Jahrhundert (durch das verbesserte Postwesen) erfolgte ein Großteil der ärztlichen Praxis der europäischen Eliten über Briefwechsel. Die Gattung der Patientenbriefe und der ärztlichen Konsiliarbriefe, also die direkte Korrespondenz zwischen Ärzten und Patienten, nahm jedoch seit Beginn des 19. Jahrhunderts und im Verlauf rapide ab. Gründe waren die steigende Ärztedichte einerseits, ein neues Krankheitsverständnis und neuartige empirische Diagnoseverfahren, die Ferndiagnosen zuwider liefen andererseits. Parallel dazu lässt sich in den Umfeldbriefen eine Steigerung des Informationsaustausches unter Laien feststellen. Hier als Beispiel ein regelrechtes Rezept mit Packungsbeilage, das Johann Siegfried Mayer an seine Tochter Caroline Richter sendet. Meine liebe Caroline, Zuerst über Deinen bösen Fuß, wovon ich so viel Erfahrungen an mir gemacht habe. Sollte er nicht in der Heilung seyn, so folge meiner Methode. Du brauchst aus der Apotheke für einige Groschen unguentum simplex womit unser Gerike die gefährlichsten Wunden stilt. Du beträufst eine dünne Charpie damit; legst eine in lau gewärmten extractus Saturni (der auch für ein Paar Groschen zu haben ist) durchnäßte leinene vier doppelte Compresse darauf. und bedeckst diese Compresse mit einem doppelt gefalteten Stük Tobacks-Bley.

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Der Körper im sozialen Medium Brief Wenn Dich die Wunde reitzt, verbindest Du sie von neuen; träufelst aber bey jedem Verbande, lauwarmes ordinaires Waßer mit einem Schwamm in die Wunde, um Reinigung u Heilung zu befördern. Um des lästigen Verbandes mit einer Bandage überhoben zu seyn, die sich so oft verrückt; laß Dir in der Apotheke sogenanntes Hefte Pflaster scheeren; u lege zwey, Finger breite Streifen queer über die Bley Compresse – so daß sie an den Fuß selbst ankleben. Diese laßen nicht loß; und dienen selbst bey mehr als einen Verbande. Auf dise Art hoffe ich Dich bald gesund zu sehen. Denn ich habe einmal ein halbes Jahr an einer solchen Wunde, wegen schlechter, oder vielleicht eigennütziger Behandlung der Chirurgi, gelitten.30

Für diese Art von Ratschlägen unter medizinischen Laien werden außer den eigenen Erfahrungswerten die Kenntnisse der engeren und weiteren Bekanntschaft angezapft. Dies als Crowdsourcing oder Schwarmintelligenz zu benennen, scheint übertrieben angesichts der kleinen Gruppen, die hier agieren, aber im Kleinen kann man doch von Netzwerken des Wissens sprechen. Der Schriftsteller Johann Ernst Wagner schreibt an den Kanzler Müller in Bezug auf den oben erwähnten Einsiedlerbandwurm der Ehefrau, von dem sie während einer Kur in Liebenstein nicht hatte kuriert werden können: [Ich] vermuthete, daß die dortigen Ärzte wohl das ganz untrügliche und als solches in der ganzen Schweiz a n e r k a n n t e ‚Schwachheimsche Mittel‘ wohl nicht kennen müssten. Ich erschrak, daß ich das alles nicht gewußt hatte, und eile Ihnen zu berichten, daß – wenn dieß der Fall ist – ich Sie himmelhoch bitte, es mir sogleich zu melden. Ich kann und will, da meine Frau mit den […] Schwachheimschen Erben verwandt ist, und einer der letztern noch leben soll, der das Recept besitzt, sogleich schreiben und es Ihr verschaffen. Es soll nie gefehlt haben, auch in den verwickeltsten Fällen und bey den grössten Verspätungen.31

Der nächste Brief beginnt mit: „Mein verehrtester Freund! Noch immer lief kein Bericht aus der Schweiz ein!“,32 aber der darauffolgende Brief vermeldet:

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Von Johann Siegfried Wilhelm Mayer an Caroline Richter, 29.  Dezember  1812, in: ebd. [29.6.2022]. Von Johann Ernst Wagner an Friedrich von Müller, 9. November 1808 (Anm. 28). Von Johann Ernst Wagner an Friedrich von Müller, 9. Januar 1809 (Anm. 29).

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Selma Jahnke Mein Allerbester! Endlich diesen Morgen ist das anliegende Recept aus der Schweiz gekommen. Es sieht mir verdammt einfach aus – und auch – b e k a n n t , möchte ich sagen. Doch ich verstehe nichts davon. Es ist ein Familienrezept; und Ihre Ärzte werden schon wissen, von welcher Bedeutung es seyn kann.33

Im kleineren Maßstab also als in digitalen Medien, aber anwendungsbezogen, konkret und unter Einbezug persönlicher Netzwerke wird medizinisches Wissen über Briefkorrespondenzen geteilt.

4 Heterogenität des medizinischen Diskurses Die Gleichzeitigkeit von ärztlich verbürgtem medizinischen Fachwissen und alternativen Methoden (seien es Hausmittel oder neuartige Ansätze) findet sich in vielen Briefen, die neben Informationsweitergabe auch die Aushandlung von Standards dokumentieren. In Bezug auf die kranke jüngere Schwester Auguste schreibt Caroline Richter dem Vater: Das was mich einiger maaßen erhebt, ist das Beispiel aus Gustchens eigner Familie: der junge Siegfried, der wie Sie sich erinnern werden, als ein 17jähriger Jüngling die heftigste Brustkrankheit mit einem Lungen Auswurf hatte und jezt noch lebt. Ich erinnere mich dunkel eines Mittels gegen diese entsezliche Krankheit, davon die Geh. R. Dörfer einmal sprach, welches die J. Langhans besäße. Ich weis liebster Vater, daß Sie gegen alle Hausmittel die der Arzt nicht verordnet eingenommen sind. Aber ich bitte Sie, forschen Sie danach, in einem Fall, wo die Hofnung an zu sinken droht, darf man ja wohl das äußerste versuchen, und wenn es nichts hilft schadet es ja auch nichts.34

Die in vielen Kontexten konstatierte Umbruchssituation um die Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert führt auch im Bereich der Medizin zu einer Gleichzeitigkeit und Heterogenität verschiedener Entwicklungen und Ansätze. Noch immer gewährleisten nichtakademische Handwerkschirurgen und Bader einen großen Teil der medizinischen Versorgung, während zugleich die Ärztedichte steigt. An den Universitäten tritt neben die klassische Humoralpathologie und die von Paracelsus, Descart und Georg Ernst Stahl geprägten theoretischen Lehren ein neuer empirischer Ansatz und beginnt seinen Siegeszug in der Ausdifferenzierung der 33

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Von Johann Ernst Wagner an Friedrich von Müller, 9. Februar 1809, in: Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm. 4), [29.6.2022]. Von Caroline Richter an Johann Siegfried Wilhelm Mayer, 4. Januar 1802 (Anm. 27).

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Naturwissenschaften.35 Gleichzeitig entwickelt sich aus den verschiedenen Theorien aus dem 18. Jahrhundert des Körpers als eines Systems, das durch Nerven und Reize gesteuert wird, – in Opposition zu den mechanistischen Theorien der Aufklärung (Brownianer, Galvanismus) und in Kombination mit Schellings Naturphilosophie – zu Beginn des 19. Jahrhunderts die romantische Medizin, die organische wie anorganische Materie als beseelt definiert und sich als anschlussfähig für Anthropologen, Dichter und Philosophen erweist.36 In das Bündel dieser romantischen Reformlehren gehört unter anderem der Mesmerismus bzw. organische Magnetismus, für den sich Jean Paul besonders interessiert. Der Mediziner Karl Bursy, der Jean Paul 1816 in Bayreuth besuchte, berichtet, wie hungrig Jean Paul auf Informationen über den neuen Ansatz wartet: „Jean Paul hatte seit langer Zeit nichts über Magnetismus erfahren, weil er aus der Ferne nur das weiß, was gedruckt wird. ‚Warum lassen die Menschen nichts darüber drucken?‘ rief er öfters aus; ‚man lebt ja in Bayreuth wie in einem Sack.‘“37 In der Fränkischen Provinz informiert sich Jean Paul also, da er die dünne Publikationslage beklagt – wenn nicht zufälligerweise ein kundiger Besucher wie Bursy durchreist – über Briefkorrespondenzen mit Freund*innen und Bekannten über die Neuheiten in der Mesmerismusszene, auch hier zum Teil über Bande durch Korrespondenzen seiner Frau, deren Vater trotz fortgeschrittenen Alters in Berlin „noch jetzt ein Collegium beym Prof. Erman über Magnetismus (nicht den Mesmerschen) über Electricität und Galvanismus“38 hört, und an welche Henriette von Ende aus Heidelberg schreibt, dass der Theologe Friedrich Heinrich Christian Schwarz wiederum Jean Paul ausrichten lasse, er habe neue „details über eine Somnambule, welche diesen Sommer in Wisbaden war […], welche die Ansichten des lieben Jean Paul vom Magnetismus […] sehr bestätigen“.39 Die Heterogenität des medizinischen Diskurses führt dazu, dass in Briefen Orientierung gesucht wird. Neben dem spektakulären Mesmerismus, den Jean Paul auch selbst praktiziert

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Zu den konkurrierenden Ansätzen und dem umkämpften Bereich des medizinischen Wissenskorpus vgl. Jens Lachmund, Gunnar Stollberg, Patientenwelten, Krankheit und Medizin vom späten 18. bis zum frühen 19. Jahrhunderts im Spiegel von Autobiographien, Opladen 1995, S. 24–50 und S. 67– 130; Wolfgang Eckart, Geschichte der Medizin, Berlin / Heidelberg 1990, S. 169–200 und 249–252. Rita Wöbkemeier, Erzählte Krankheit. Medizinische und literarische Phantasien um  1800, Stuttgart  1990, dort besonders das Kapitel „Krankheit und Medizin im Umfeld der Naturphilosophie Schellings“, S. 26–64. Karl Bursy, Tagebuch [Auszug], in: Jean Pauls Persönlichkeit in Berichten seiner Zeitgenossen, hrsg. von Eduard Berend, Weimar 22001 (zuerst 1956), Nr. 146, S. 146–155, hier S. 149. Von Johann Siegfried Wilhelm Mayer an Caroline Richter, 21.  und 27.  November  1814, in: Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm.  4), [29.6.2022]. Von Henriette von Schwarz an Caroline Richter, 27. November 1815, in: ebd. [29.6.2022].

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und in seine literarische Produktion einfließen lässt,40 begegnen uns die neue Disziplin der Orthopädie,41 Gesundbeter42 und Hellseher,43 die Trink- und Badekuren der Kurbäder,44 die alkoholischen Rezepturen, die Jean Paul gegen jedwedes Leiden bei Groß und Klein in seinem Umfeld empfiehlt45 und weitere Therapieformen. Das erste Drittel des 19.  Jahrhunderts lädt seine Zeitgenossen ein, zumindest die Gebildeten unter ihnen, sich aus der Fülle jeweils eigene

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Jürgen Barkhoff, Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik, Stuttgart / Weimar 1995, Kapitel 4: Allmagnetische Versöhnung. Jean Paul und der organische Magnetismus, S. 137–160. Jean Pauls jüngste Tochter Odilie wird aufgrund einer Skoliose vom März 1822 bis zum Januar 1823 in das 1816 neugegründete Orthopädische Institut des Begründers der orthopädischen Therapie Johann Georg Heine geschickt. Zu ihren Erfahrungen dort vgl. die Briefe zu diesem Themenschlagwort in der digitalen Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm.  4), [29.6.2022] und die Lesung mit Erläuterungen zu diesem Thema unter dem Titel Vielstimmigkeit am 30.10.2020 an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften,

[29.6.2022], ab 1:01:45. Ebd. und in den Briefen und Erläuterungen zum katholischen Wundertäter Alexander Leopold Franz Emmerich, Prinz von Hohenlohe-Waldenburg-Schillingfürst in der digitalen Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm.  4), [29.6.2022]. Z. B. im Brief von Henriette von Ende an Caroline Richter, 2. Juli 1818, Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm. 4), und im Brief ders. an Caroline Richter, 23.  April  1818, in: ebd. [29.6.2022]. Jean Paul selbst konsultiert in Heidelberg den Hellseher Auth, wie hervorgeht aus dem Brief von Jean Paul an Caroline Richter, 23. bis 28. Juni 1818, in: Briefe von Jean Paul (Anm. 5), [29.6.2022]. Als Beispiel der Fülle an Möglichkeiten hier eine Passage aus einem Brief Johann Siegfried Wilhelm Mayers: „Nun erst zu Deinem Rath das Töplitzer Bad zu brauchen […]. Allein ich bin durch die Reise nach Landek und deren großen Kostbarkeit abgeschreckt, mich diß Jahr weit auszubreiten. ich werde daher bloß die Freyenwalder Quellen benutzen, die mich schon vor geraumen Jahren von der Gicht befreyet haben, werde aber nicht Freyenwalde selbst, sondern deßen zu N e u s t a d t E b e r s w a l d e , 6–7. Meilen von Berlin sich ergießende Quellen d a r u m benutzen, weil Neustadt chemisch untersucht, stärker als Freyenwalde ist.“ Von Johann Siegfried Wilhelm Mayer an Caroline Richter, 3. April 1818, in: Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm. 4), [29.6.2022]. So schildert etwa Caroline Richter: „Mein Mann versteht sehr viel von der Kunst  – […] kürzlich rettete er ein s t e r b e n d e s Kind […], das einem h a l b jährigen Keuchhusten erlag – die Ärzte hatten ihm die lezten Reizmittel – Moschus – China gereicht, und sein Ziel auf noch höchstens 16 Stunden gesezt – da rieth mein Mann den sich weigernden Ärzten u Eltern dem 1 1/4tel jährigen Kinde ihm 1–2 Theetaßen des ältesten stärksten Weins auf einmal zu geben – dann wieder, wenn es Durst äußerte  – und das Kind l e b t i ß t s c h l ä f t seit drei Wochen!“ Von Caroline Richter an Johann Siegfried Wilhelm Mayer, 18.  Mai  1804, in: ebd. [29.6.2022].

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Therapieformen zusammenzubasteln, und scheint darin unserer Gegenwart nicht unähnlich. Medium der Informationen und Aushandlungsprozesse ist jedoch die Briefkultur. Geteilt wird übrigens nicht nur das Wissen über Krankheiten in Briefen, sondern auch das Leid darüber. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Brief Caroline Richters aus dem Strebejahr Jean Pauls an die Freundin Anna Margaretha Fanny von Reitzenstein, deren Stieftochter schwer erkrankt ist. Caroline Richter begrüßt die Freundin als „Geistesschwester“ und schildert ihre Erfahrungen bei der Pflege ihres totkranken Mannes mit seinen Launen und ihren eigenen Gefühlen.46 Das Briefbündnis lässt an Selbsthilfezusammenschlüsse unter pflegenden Angehörigen von heute denken. Der Brief wird hier zu einem Schutzraum, in dem sich Menschen mit ähnlicher Belastung unter Ausschluss der Außenwelt ihrer gemeinsamen Erfahrung versichern und gegenseitig stärken können.

5 Krankheitsgewinn Der bereits zu Wort gekommene Ernst Johann Wagner ist im Kosmos der Umfeldbriefe ein Virtuose beim Thema Krankheit. Wenn man im Register das Themenschlagwort ‚Krankheit / Gesundheit‘ anwählt, erscheint er auf Platz drei derjenigen, die das Thema in ihren Korrespondenzen besonders oft verhandeln, wobei man bedenken muß, dass die beiden vor ihm Platzierten – Caroline Richter und ihr Vater Johann Siegfried Mayer – mit viel mehr Briefen insgesamt im Korpus vertreten sind. Wagner erkrankt schwer an sogenannter Rückenmarksdarre, einer Form der heute als Neurosyphilis bezeichneten Krankheit, die jahrelang sein Leben prägt und zu einem frühen Tod mit 43  Jahren führt. Diese Krankheit, unter der er zweifelsohne schwer leidet, setzt er nichtsdestotrotz in seinen Briefen gekonnt in Szene. Es gibt die rührende Inszenierung einer Wunderheilung, als ein Medikament (Phosphorsäure) für kurze Zeit seine Leiden lindert, die er über einen Brief an eine Freundin am Meiningischen Hof seiner Gönnerin, der Herzogin von Meiningen, zutragen lässt, bei der er sich (nicht ohne Hinweis auf seine unmündigen Kinder) anlässlich eines ihres Geburtstages in Erinnerung bringt: […] als ich endlich frei in die Mitte des Saales trat, meinen Stock weggab, und unter Aufsicht der Umstehenden mit der linken und rechten Hand mich zur Erde bückte, und allein wieder emporrichtete, da erscholl ein rührendes und glaubensvolles Bravo. Die brave Hausmutter fiel mir mit hellüberquellenden Augen um den Hals, und es that mir

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Von Caroline Richter an Anna Margaretha Fanny von Reitzenstein, 20.  November  1825, in: ebd. [29.6.2022].

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Selma Jahnke innig, innig wohl, so frei dastehend zum erstenmal wieder e i n e D a m e in die Arme zu schließen […]47

In ausführlichen Beschreibungen der Krankheit und des nahenden Todes (z. B. an Fichte in Berlin oder den Verleger Göschen) versteht er es, sich selbst als bescheidenen und dankbaren Zeitgenossen zu inszenieren, Empathie zu wecken und darüber finanzielle und soziale Unterstützung zu generieren.48 Wagner gelingt es, die Inszenierung seiner Krankheit in bare Münze zu wandeln.

6 Jean Pauls Vorbericht zu dem Kranken- und Sekzions-Berichte von meinem künftigen Arzte (1817) Schließen möchte ich mit einem einzigartigen und doch zu Entstehungszeit und -kontext symptomatisch passenden Textereignis. Cornelia Ortlieb stellt in ihrem Beitrag in diesem Band Jean Pauls Vorliebe für Flaschenpostsendungen in die Zukunft dar.49 Mit einer solchen Flaschenpost haben wir es hier zu tun. Jean Paul bereitet als Vorarbeit für den Autopsiebericht, den ein Arzt in der Zukunft (nach seinem Tod) verfassen wird, eine Selbstanamnese vor, in der er ein Leiden beschreibt, das ihn schon lange plagt: Mein Theil-Übel ist bei übrigens größter Gesundheit dieses: Unter Verhältnissen, die ich angeben werde, setzen der Athem und der Puls […] aus, alsdann hol’ ich unwillkührlich, heftig Luft, wie nach dem schwindenen Leben, schnappend Athem, worauf das Blut wie mit einem Stoße gegen den Kopf fährt.50

Wie versprochen führt er detailliert und in Jean Paul’scher Manier aus, unter welchen Umständen ihn das Übel ereilt, nicht ohne genauestens seine Lebensgewohnheiten zu beschreiben: 47

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Von Johann Ernst Wagner an Louise Henriette von Könitz, 9. August 1809, in: ebd. [29.6.2022]. Vgl. etwa den Brief von Johann Ernst Wagner an Johann Gottlieb Fichte, 30. Dezember 1809, in: ebd. oder den Brief dess. an Georg Joachim Göschen, 14.  September  1805, in: ebd. [29.6.2022]. Cornelia Ortlieb, Von Hand zu Hand über Zeit und Raum. Billett-Gaben, soziale Maskenspiele und Briefe aus dem Himmel bei Jean Paul und Benedikt David Arnstein, mit Ausblicken zu Goethe und Mallarmé (in diesem Band, S. 131–153). Jean Paul, Vorbericht zu dem Kranken- und Sekzion-Berichte von meinem künftigen Arzte, in: Wahrheit aus Jean Pauls Leben, [hrsg. von Christian Otto und Ernst Förster], Bd. 8, Breslau 1833, S. 359–371, hier S. 359.

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Der Körper im sozialen Medium Brief Zu den kleinen Schändlichkeiten […] [die den Anfall auslösen] gehören Abbrechung des Morgenschlafs – Abends drei Gläser Punsch zuviel – zu langes Magnetisiren – geistige Anstrengung durch Lesen, nicht sowol philosophischer Werke als anatomischer und physiologischer. An einem kalten Wintermorgen könnt’ ich mich mit Hallers Physiologie durch ein dreistündiges Lesen umbringen.51

Er umreißt dann selbst eine Diagnose Schon seit Jahren verfocht ich gegen mehrere Aerzte die Diagnose, daß das Uebel bloß augenblickliche Lähmung der L u n g e n n e r v e n sei […]. [Es handelt sich um eine] Opportunität zum L u n g e n s c h l a g f u ß , bei welchem das Gehirn gesund, die rechte Herzkammer und Lunge blutstrotzend und die linke blutleer gefunden wird […]. Hohnbaum stellte neuerdings mit vieler Gründlichkeit diesen Schlagfuß als eine neue Gattung auf, den man nach meinem Ableben etwa den Jean Paulschen nennen könnte […].52

Aber Jean Paul belässt es mit diesem Text nicht dabei, ihn als Sendung für die Zukunft aufzubewahren. Er lässt ihn durch seine Frau Caroline an deren Vater Johann Siegfried Mayer nach Berlin senden.53 Der soll ihn an Jean Pauls Freund, den Arzt Gottfried Langermann weitergeben. Dieser möchte die Selbstanamnese bitte wiederum an die beiden bekannten Berliner Ärzte Heim und Hufeland übermitteln. Schwiegervater Mayer überwacht die geordnete Briefweitergabe in Berlin und meldet den Stand der Fernkonsultation brieflich nach Bayreuth.54 Hufeland und Heim senden nun gemeinsam eine Diagnose, Rezepte und Medizin nach Bayreuth, und auch die Nachricht, dass Hufeland Jean Pauls Werk eifrig rezipiere.55 Jean Paul lässt via Schwiegervater Mayer Dank an die beiden ausrichten, über die Wirkung der Medizin berichten und außerdem noch, dass auch er Hufelands Veröffentlichungen lese.56 An seinen Freund Emanuel sendet Jean Paul die Selbstanamnese, damit dieser sie dem Wundarzt Georg 51 52 53

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Ebd. S. 363. Ebd. S. 364f. Von Jean Paul an Johann Gottfried Langermann, 1. Dezember 1817, in: Briefe von Jean Paul (Anm. 5), [29.6.2022]. Der vermittelnde Brief von Caroline Richter an Johann Siegfried Wilhelm Mayer ist nicht überliefert. Von Johann Siegfried Mayer an Caroline Richter, Dezember 1817, in: Briefe aus Jean Pauls Umfeld (Anm. 4), [29.6.2022]. Von Christoph Wilhelm Hufeland und Ernst Ludwig Heim an Jean Paul, 16. Dezember 1817, in: Jean Paul, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, IV. Abt., Bd. 7: Briefe an Jean Paul 1815–1819, hrsg. von Markus Bernauer, Berlin 2013, Nr. 81, S. 132f. Von Jean Paul an Johann Siegfried Wilhelm Mayer, 10. Januar 1818, in: Briefe von Jean Paul (Anm. 5), [29.6.2022].

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Friedrich Pfeffer vorlegen soll, aber nur kurz, damit es nicht in der Stadt herumgetratscht wird.57 Schließlich schickt Jean Paul den Text auch noch an Heinrich Voß nach Heidelberg – weniger als aktuelle Auskunft über seine Gesundheit, denn zur literarischen Unterhaltung.58 In diesem Jean Paul’schen Verschickungsspiel spiegeln sich sowohl die noch nicht ganz aus der Mode gekommene Tradition der Fernkonsultation und zugleich die hypertrophe Informationsakquise eines medizinischen Laien, der sich seine Therapie in der zeitgenössischen Heterogenität der Ansätze selbst zusammenstellt. Es zeigt sich das Potenzial, über die briefliche Thematisierung des eigenen Körpers Netzwerke zu gestalten. Darüber hinaus wird die Möglichkeit einer Selbstinszenierung über das Thema Krankheit deutlich. Jean Paul präsentiert eine Konstituierung des ‚Ich‘ und eine Selbstermächtigung gegen die Unübersichtlichkeit der Gegenwart und Kontingenz des Körpers im brieflichen Zusammenspiel.

7 Fazit Die Durchsicht der Briefe, die das Thema ‚Krankheit / Gesundheit‘ in der digitalen Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld behandeln, hat gezeigt, dass seine starke Präsenz verschiedene Gründe hat. Zunächst bedingt die mediale Infrastruktur des Zeitalters, dass der Brief sich zur Distanzkommunikation über wichtige Themen anbietet: Es gibt wenig andere Kanäle, die Briefpost ist gut ausgebaut und relativ schnell und zuverlässig (wenn auch nach heutigem Maßstab langsam). Zweitens ist die hohe Frequenz des Themas bedingt durch die gattungspoetische Vorgabe einer simulierten Gesprächssituation in Briefen, für die Nähe schriftlich zwischen den entfernten Korrespondenzpartnern erzeugt werden soll. Die Thematisierung des Körpers dient ähnlich wie die Thematisierung der Räume, in denen sich die Korrespondent*innen aufhalten, der Herstellung eines virtuellen Begegnungsraums und einer Vergegenwärtigung der Akteur*innen darin, die Thematisierung von Krankheiten zielt in den intimen Nahbereich und drückt explizit Zuwendung aus. Drittens laden die materiellen Spezifika des Mediums Brief wie die Verschickung von Hand zu Hand und der papierene Körper des Briefes selbst, der zum Substitut des Körpers der Briefschreibenden werden kann und eine sinnliche Perzeption ermöglicht, zur Koppelung mit Sinneseindrücken und Metaphern der Körperlichkeit ein. Viertens erzeugt die Heterogenität der medizinischen Diskurse um die Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert Verunsicherung und Unübersichtlichkeit, zugleich aber auch neue

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Von Jean Paul an Emanuel Osmund, 26. Dezember 1817, in: ebd. [29.6.2022]. Von Jean Paul an Heinrich Voß, 31.  März  1818, in: ebd. [29.6.2022].

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Möglichkeiten und Hoffnungen, sodass der briefliche Informationsaustausch unter Laien und die Suche nach Orientierung und Aushandlung von Normen viele Briefe prägen. Fünftens bietet die Briefgattung mit ihrem Kennzeichen der Selbstreflexivität besondere Spielräume der Selbstinszenierung, Selbstermächtigung und künstlerischen Gestaltung dieses zu allen Zeiten brisanten Themas, wie das vorgestellte Vexierspiel von Jean Paul zeigt, das die Spezifika und Potentiale von Gattung, Thema und Kontexten der Entstehungszeit nutzt und zu einem hybriden Netzwerkereignis transformiert.

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Säkulare Konfessionen Brautbriefe um 1830 Roman Lach

Helmut Pfotenhauer hat auf die intensive Auseinandersetzung mit Jean Paul in Adalbert Stifters früher Erzählung Der Condor hingewiesen, thematisch in Gestalt der Ballonfahrt, mit der er sich an Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch, den zweiten Komischen Anhang zum Titan anlehnt, vor allem aber stilistisch, in der „Metaphernseligkeit, die alles Draußen mit einem Inneren überblendet und für alles einen Vergleich, eine Übertragung, eine Möglichkeit der Anverwandlung findet.“ Auch die durchgehend bestehende Drohung eines Umschlagens in die Negativität, das „Befremden, das Verzagen des Ich vor der Welt, das Umkippen der Sprache vom Triumph des Bezeichnens ins Uneindeutige, Zweifelhafte, Machtlose fast“ fänden sich bei Jean Paul vorgeprägt. Bald darauf habe sich Stifter durch stilistische Reduktion, „Verkargung und Verkarstung der Sprache“ aus dieser Bedrohung gerettet.1 Ebenso findet Pfotenhauer in Adalbert Stifters Briefen, besonders den frühen an Fanny Greipl und die Wiener Jugendfreunde, einen „Nachhall von Jean Paul“, der auf eine „Strukturverwandtschaft des Schreibens“ zurückzuführen sei, „ohne dass er [Stifter] dessen Briefe gekannt haben dürfte“. Wie für Jean Paul sei für Stifter der Brief nicht „Ersatz für das Gespräch, sondern gesteigertes Gespräch, eigentliches Gespräch“, wie dieser behandele Stifter „seine Briefe wie literarische Werke“2 – und reflektiert schon in den frühesten auf deren spätere Publikation. „Beiden ist eine Schreibobsession eigen, die wohl aus dem Erschrecken über die Kleinheit des Ich herrührt: angesichts des sich entleerenden Kosmos, der heraufziehenden Massengesellschaft.“3 Nun gab es für Stifter durchaus in der aus acht zum Teil mehr als 400 Seiten umfassenden „Heftlein“

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Helmut Pfotenhauer, Stifters Jean Paul. Neue Anmerkungen zu einem alten Thema – Am Beispiel des „Condor“, in: Jahrbuch des Adalbert Stifter Instituts des Landes Oberösterreich 20 (2013), S. 13–33, hier S. 14. Ebd. S. 20. Ebd.

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bestehenden Reihe Wahrheit aus Jean Paul’s Leben4 die Möglichkeit, Einsicht in Jean Pauls Briefe zu erhalten (worauf mich Markus Bernauer freundlicherweise hingewiesen hat). Vor allem aber deuten Stifters Anleihen bei Jean Paul und die wiederholte explizite Bezugnahme auf diesen auf eine bewusste und programmatische Selbstverortung als „Jean Paulianer“. Das ist in der Zeit eines Paradigmenwechsels von der formalen Vielfalt und Experimentierlust des Vormärz hin zu einem mehr und mehr dogmatisch formulierten programmatischen Realismus, wie er sich seit Goethes Tod zunächst schleichend vollzieht, nicht ohne Bedeutung. „Die Geschichte der deutschsprachigen Literatur im 19.  Jahrhundert läßt sich lesen  – bis hin zu Wilhelm Raabe und Stefan George – als eine Geschichte der Verdrängung und der Wiederentdeckung Jean Pauls“,5 bemerkt Pfotenhauer im einleitenden Teil seines Aufsatzes. Bei Stifter wie auch bei Georg Büchner wurden immer wieder Anleihen und Nachwirkungen Jean Pauls ausgemacht. Friederike Biron findet sie in der Zerrissenheit des Lenz, und sogar in den kühnen Metaphern und den Hofattacken des Hessischen Landboten.6 Bei Mörike wären diese im Einzelnen noch aufzuzeigen, aber es ist auffällig, wie in den dreißiger Jahren für alle drei Autoren jeanpaulisierendes Schreiben – kosmische Metapher, Montage disparaten Materials, das Spiel mit Identitäten – zunächst im Brief und von dort ausgehend in den in engem Zusammenhang mit dem Briefschreiben stehenden literarischen Texten – die Möglichkeit bietet, zu einer eigenen literarischen Stimme zu finden. Die Verschriftlichung von bis ins psychologisch Prekäre gehenden Krisensituationen (unglückliche Liebe, metaphysischer Zweifel) scheint dabei sowohl Schreibanlass zu sein, als auch Voraussetzung des Experimentierens mit den genannten Schreibverfahren. Wie für Jean Paul ist für alle drei Autoren der Brief Experimentierstätte, um nicht zu sagen der eigentliche Ort des experimentellen Schreibens. Alle arbeiten in ihren Briefen Schreibverfahren aus, die ins Werk übernommen werden. Alle stehen quer zu den in der zweiten Jahrhunderthälfte aufkommenden realistischen Bestrebungen. Von den Vertretern des programmatischen Realismus werden sie bekämpft, wie Büchner, abgelehnt, wie Stifter oder nur als Lyriker akzeptiert, wie Mörike, dessen Maler Nolten der Literaturkritiker Julian Schmidt ebenso verurteilte wie die Werke Büchners.7

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Wahrheit aus Jean Paul’s Leben, zusammengestellt von Christian Otto und Ernst Förster, 8  Bde., Bd. 1–6 Breslau, Bd. 7–8 Schneeberg 1826–1833. Pfotenhauer, Stifters Jean Paul (Anm. 1), S. 14. Friederike Biron, Geistige Verwandtschaft. Jean Paul und Georg Büchner, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10 (2013), S. 101–114, hier S. 108. Vgl. Julian Schmidt, Georg Büchner, in: Die Grenzboten, Leipzig 1851, S.  121–128, [1.11.2020], sowie zu Mörikes Maler Nolten: Ders., Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert, Bd. 2: Das Zeitalter der Restauration, Leipzig 31856, S. 423–425.

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Für die Abkehr vom gesprächshaften Duktus des Briefs im 18. Jahrhundert konnte Jean Paul diesen Autoren mit seinem Werk ein Vorbild sein, auch, weil es in seinen Romanen Reflektionen aufs Briefeschreiben ebenso wie ausgewachsene Briefe gibt. Der vielleicht wichtigste für Stifter, der sich selbst immer wieder mit dem Schoppe des Titan vergleicht, ist hier wohl der „lange Brief“ Schoppes an Albano. In dessen melancholisch-depressivem Ton, dem „Ins-Breite-Gehen“ des Schreibens als Ausdruck einer Innen und Außen gleichermaßen erfassenden, alles einverleibenden Ich-Aussprache, findet Stifter in dieser Zeit ein Modell für seine eigene Suche nach der ihm adäquaten literarischen Form, die sich auch in der Maßlosigkeit des Umfangs, des Über-mehrere-Tage-Schreibens, Ergänzens, des Einmontierens von Berichten und Texten ganz anderer Textsorten – journalistischen, Liedern – ausdrückt. Auch wenn er diese Schreibweise später verwirft, sieht es für einen Moment so aus, als hätte Stifter in dieser Art des „Schoppicismus“8 einen Weg für sein eigenes Schreiben gefunden. Es ist nicht der lange, behaglich erzählende Brief des späten 19. Jahrhunderts, es sind Montage, exzentrische Metaphern, extatisches Schreiben, was Stifter und seine Zeitgenossen hier finden. Traumhaftes und Traumatisches werden zusammengefügt, visionsartig verknüpft, das verbindende Prinzip ist das der Assoziation. Sprünge und Brüche werden inszeniert, um die Glaubwürdigkeit des Bekenntnisses zugleich zu untermauern und ironisch zu unterlaufen. So erreicht das Bekenntnis hier ein Stadium der Virtuosität und Künstlichkeit, das es so vorher nicht gab. Anders als bei Jean Paul stehen diese Briefe dabei nicht eingebunden in ein Briefnetzwerk, und das Netzwerk bildet nicht den hauptsächlichen Vergleichspunkt zu den im vorliegenden Sammelband in den Blick genommenen Formaten der sozialen Netzwerke. Es ist vielmehr die Hybridität und Offenheit der Formen zwischen Fiktion, Autobiographie und Geständnis, Tagebuch, Literatur und Kritik, die die Briefe des Vormärz in ihrer von Jean Paul abgeschauten formalen Offenheit mit den Schreibweisen des Internets verbindet. Weniger durch seine weitverzweigte Korrespondenz, die den Zeitgenossen und den Autorinnen und Autoren des 19. Jahrhunderts in Auszügen dank der Sammlung von Otto und Förster in Teilen durchaus bekannt sein konnte,9 als durch den stilbildenden Duktus seiner Romane, die kühne Metaphorik, die Inbezugsetzung von Innenschau und kosmischer Perspektive, den Humor, die Ironie der von ihm erfundenen Gestalten prägt der sich nach Rousseau nennende „Jean“ Paul Friedrich Richter auch den epistolaren Stil der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der Zeit des Vormärz. Sein nicht mehr am Gespräch, sondern an rigoroser komplexer Schriftlichkeit ausgerichtetes Schreiben10 ist Vorbild einer weit verbreiteten Experimentierlust 8

9 10

Adalbert Stifter, Briefwechsel. Sämmtliche Werke, Bde. 17–24, hrsg. von Gustav Wilhelm, 8 Bde., Prag / Reichenberg 1919–1939, Bd. 1, S. 56. Vgl. Anm. 4. Vgl. Jörg Paulus, Jean Paul, in: Handbuch Brief. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, hrsg. von Marie Isabel Matthews-Schlinzig, Jörg Schuster, Gesa Steinbrink, Jochen Strobel, Bd. 2: Historische Perspektiven – Netzwerke – Zeitgenossenschaften, Berlin / Boston 2020, S. 997f.

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in Briefen, wo stilistische Richtlinien weniger streng sind und Maßregelung durch das dichte System literarischer Kritik, das sich mittlerweile etabliert hat, nicht droht. Die Brautbriefe von Eduard Mörike an Luise Rau (1830–33), von Georg Büchner an Wilhelmine Jaegle (1834–37) und Adalbert Stifters Briefe an Fanny Greipl (1829–35) fallen in denselben Zeitraum, in dem das aus den Umständen bürgerlicher Eheanbahnung hervorgegangene Genre des Brautbriefs sich zu einer regelrechten Kunstform ausbildet.11 Im Brautbrief wird die oftmals aufgrund fehlender ökonomischer Sicherheit enorm ausgedehnte Verlobungszeit überbrückt durch wechselseitig erschriebene Annäherung, Vorbereitungen des zukünftigen gemeinsamen Lebens, oft auch in Form einer vom männlichen Partner ausgehenden „Erziehung der Braut“, was mitunter, etwa bei Kleist, als Schulmeisterei kritisiert wurde. Vor allem aber ist der Brautbriefwechsel ein Ort, an dem das gezwungenermaßen getrennte Paar seiner Sehnsucht Raum gibt. Hier ist sicherlich der Ausgangspunkt des vielbesprochenen monologischen Briefs des 19. Jahrhunderts zu suchen, der den Schreibern ein literarisches Experimentierfeld bietet, das, wie Kristin Rheinwald von Eduard Mörikes Brautbriefen schreibt, nicht allein als „Werkstatt der Poesie“ fungiert,12 sondern in einem engen Wechselverhältnis von literarischem Schaffen und Korrespondenz die ästhetische Grenze überschreitet und die Bereiche von Kunst und Leben ineinander führt. *** Mein Schweigen quält dich wie mich, doch vermochte ich nichts über mich. Liebe, liebe Seele, vergibst du? Eben komme ich von draußen herein. Ein einziger, forthallender Ton aus tausend Lerchenkehlen schlägt durch die brütende Sommerluft, ein schweres Gewölk wandelt über die Erde, der tiefbrausende Wind klingt wie ein melodischer Schritt. Die Frühlingsluft löste mich aus meinem Starrkrampf. Ich erschrak vor mir selbst.13

Von Büchners Briefen ist nur ein Bruchteil und sind nur Bruchstücke erhalten. Sein Bruder Ludwig hat nur die Teile zur Edition ausgewählt, die nach seinem Dafürhalten geeignet und von Interesse waren, so dass eine derartige Passage, losgelöst von der Kommunikation über Alltägliches, von an die Empfängerin gerichteten Fragen – das übliche Beiwerk des Briefwesens –, einen vielleicht allzu exzeptionellen Eindruck macht und zu Fehlschlüssen über den oft 11

12 13

Vgl. Susanne Ledanff, Nachwort in: Dies. (Hrsg.), „Bist du Luftbild oder Leben?“ – Brautbriefe aus zwei Jahrhunderten, Frankfurt a. M. / Berlin 1991, S. 361–362. Kerstin Rheinwald, Eduard Mörikes Briefe. Werkstatt der Poesie, Stuttgart / Weimar 1994, S. 231. Georg Büchner an Wilhelmine Jaegle, 8.  bis 9.  März  1834, in: Georg Büchner, Sämtliche Werke. Briefe und Dokumente, Bd. 2: Schriften, Briefe, Dokumente, hrsg. von Henri Poschmann, unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann, Frankfurt a. M. 1999, S. 380f.

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beschworenen Monologcharakter dieser Briefe, die Selbstbezüglichkeit ihres Verfassers verleiten mag. Ingo Breuer betont im Handbuch Brief, dass auch in den fünf erhaltenen Schreiben aus dem Frühjahr 1834, zu denen der im Folgenden zitierte wie auch der berühmte, in Dantons Tod eingegangene „Fatalismusbrief“ gehört, Konventionen des Liebesbriefs befolgt würden, im Rahmen des Paargesprächs explizit auf gemeinsame Diskussionen über Literatur, Kunst und Philosophie verwiesen werde, so dass nicht leichtfertig auf dem Krisenhaften, Selbstbezüglichen und Wahnhaften der Büchnerʼschen Briefschreiberpersona beharrt werden sollte.14 Dennoch ist, was man hier zu lesen bekommt, ungewöhnlich. Das Gefühl des Gestorbenseins war immer über mir. Alle Menschen machten mir das hippokratische Gesicht, die Augen verglast, die Wangen wie von Wachs, und wenn dann die ganze Maschinerie zu leiern anfing, die Gelenke zuckten, die Stimme herausknarrte und ich das ewige Orgellied herumtrillern hörte und die Wälzchen und Stiftchen im Orgelkasten hüpfen und drehen sah,– ich verfluchte das Conzert, den Kasten, die Melodie und  – ach, wir armen schreienden Musikanten, das Stöhnen auf unsrer Folter, wäre es nur da, damit es durch die Wolkenritzen dringend und weiter, weiter klingend, wie ein melodischer Hauch in himmlischen Ohren stirbt? Wären wir das Opfer im glühenden Bauch des Peryllusstiers, dessen Todesschrei wie das Aufjauchzen des in Flammen sich aufzehrenden Gottstiers klingt. Ich lästre nicht. Aber die Menschen lästern. Und doch bin ich gestraft, ich fürchte mich vor meiner Stimme und – vor meinem Spiegel. Ich hätte Herrn Callot-Hoffmann sitzen können, nicht wahr, meine Liebe? Für das Modellieren hätte ich Reisegeld bekommen. Ich spüre, ich fange an, interessant zu werden. –15

Es ist unverkennbar, dass hier ein, wie Henri Poschmann es nennt, „verdichtendes Schreibverfahren“ zum Einsatz kommt, in das „Ausdrucksweisen einmal aus poetischen, einmal aus physiologischen, nicht zuletzt auch philosophischen und religiösen Referenztexten“ aufgenommen sind, und dass dabei ein „Echoraum der Wortbedeutungen und Stimmungsgehalte“ geschaffen werden soll, „indem [der] Bezugshorizont durch diskursüberkreuzende Intertextualisierung erweitert wird“.16 Dabei scheint die Adressierung durch die Ansprache der Partnerin sowie die geäußerte Sehnsucht nach einem Wiedersehen mit der Geliebten bereits gegeben und 14

15

16

Ingo Breuer, Literarische Außenseiter um 1800. Jakob Michael Reinhold Lenz, Heinrich von Kleist, Georg Büchner, in: Handbuch Brief, Bd. 2 (Anm. 10), S. 1064f. Georg Büchner aus Gießen an Wilhelmine Jaegle in Straßburg, 8. bis 9. März 1834, in Georg Büchner, Sämtliche Werke, Bd. 2 (Anm. 13), S. 380f. Henri Poschmann, Briefe, in: Büchner Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. von Roland Borgards, Harald Neumeyer, Stuttgart / Weimar 2009, S. 146.

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gesichert, die exorbitante Ausführung der Schilderung aber ihre Berechtigung in sich selbst, in ihrer Gestalt als Sprachkunstwerk, zu haben, so dass die Funktion der Stelle zwischen Konfession und Kunstübung nicht eindeutig festzustellen ist. Bernhard Böschenstein und vor ihm bereits John William Smeed haben auf die stilbildende Bedeutung Jean Pauls für die Bildsprache, das metaphorische Verfahren, den, wenn man so will, protoexpressionistischen Stil Georg Büchners gerade auch in seinen politischen Schriften hingewiesen.17 In der Rede des toten Christus finden sich Muster des Fatalismus und Nihilismus wieder, die die literarischen Texte Büchners prägen. „Jean Paul hat Büchner ein Instrument zur Entlarvung klassizistisch-idealistischer, aber auch materialistischer Ilusionen an die Hand gegeben.“18 Dabei ist die oben zitierte Stelle aus einem Brief an Jaegle weit mehr als eine Dekonstruktion oder eine Kontrafaktur idealistischen Liebesbriefschreibens. Sie ist auch Schilderung eines psychischen Zustands, die man als ein Zeugnis des Wahnsinns ansehen würde, wäre im Bekenntnishaften, Zerrissenen, in der Darstellung von Folterszenen nicht ein hohes Maß an ästhetischer Gestaltungskraft erkennbar, die bei aller Disparatheit der Bilder eine stilistische Einheit herstellt. Auch hier gemahnen kosmische Metaphorik und Totalperspektiven, Bilder imaginierter Todes- und Sterbeerfahrungen, Maschinenmetaphern und abrupte Wechsel zwischen Mikro- und Makrokosmos an Jean Paul. Indem sich Büchner aber als „Callot-Hoffmann“ tituliert, und damit die Jean Paul’sche Bildwelt mit der karikaturhaften Schreibweise von dessen Schüler verbindet, bedient er sich eines zeitgenössischen, auf die Darstellung von Eduard Hitzig zurückgehenden biographischen Klischees über Hoffmanns Wahrnehmungsverschiebungen, um sich selbst in der Maske Hoffmanns in diesem Tableau auftreten zu lassen. Schroffe Fügungen, Sprünge, die Brutalität und Grellheit der Bilder hingegen stellen gegenüber diesen Vorbildern eine Extremisierung dar, heben den Eindruck des Leidenden, Krankhaften hervor. Der erste Teil ist ganz der Evokation von Klängen  – immer im Bereich des Lauten, Schmerzhaften, Misstönigen – gewidmet. Die Vertausendfachung der Lerchen macht deren Gesang zu einem bloßen lauten Ton. Die mechanische Musik der Drehorgel, der Schrei des im Bauch des eisernen Stiers verglühenden Periles stiften eine Schreckensmusik, die nicht aus dem Bereich des Ausdrucks der Seele, sondern aus dem Affekthaften, aus dem Unmenschlichen zu kommen scheint. In der Gestalt des Periles, wird dabei auch das Motiv des im eigenen Werk zu Tode gefolterten Künstlers angespielt. Die Furcht vor der eigenen Stimme leitet demgegenüber dann in die stumme zweite Hälfte über:

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18

Bernhard Böschenstein, Umrisse zu drei Kapiteln einer Wirkungsgeschichte Jean Pauls. Büchner – George – Celan, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 10 (1975), S. 187–204; John William Smeed, Jean Paul und Georg Büchner, in: Hesperus (Blätter der Jean Paul-Gesellschaft) 22 (1961), S. 29–37. Böschenstein, Umrisse (Anm. 17), S. 190.

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Säkulare Konfessionen […] hätte ich einen Weg für mein Inneres, aber ich habe keinen Schrei für den Schmerz, kein Jauchzen für die Freude, keine Harmonie für die Seligkeit. Dies Stummsein ist meine Verdammniß. Ich habe dir’s schon tausendmal gesagt: Lies meine Briefe nicht, – kalte, träge Worte! Könnte ich nur über dich einen vollen Ton ausgießen; – so schleppe ich dich in meine wüsten Irrgänge.19

Der rechte Ton für den Schmerz kann nicht mehr gefunden werden, erklärt das BriefschreiberIch, weder Schrei, noch Harmonie, noch Jauchzen – nichts was dem Lärmen der Außenwelt im ersten Teil entspricht, stattdessen stumme minotaurische Labyrinthe des Innern, die metaphorisch für die irrenden Sätze stehen, die die Geliebte lieber nicht lesen soll. In der Beschwörung der Geliebten als Bild findet sich schließlich die Legitimation und der Anlass dieses panischen Berichts, die Wiederbegegnung mit der Braut steht als Ideal – wie bei Dante – über den Höllenbildern: „Ich lechze nach einer seligen Empfindung, die wird mir bald, bald, bei dir.“20 Zugleich aber wird die Empfängerin in diese ‚Saison en enfer‘ hineingezogen. Der Schreibende scheint ganz mit seiner Qual beschäftigt, und doch erfüllt er einen konventionellen Zweck des Brautbriefs – die Abwesenheit der Geliebten durch Sprache zu überbrücken, Sehnsucht auszusprechen und zugleich zu überwinden. Büchners Verweis auf E.T.A. Hoffmann legt dabei eine Spur in die literarische Tradition dieses Schreibens. Mit dem Vergleich mit „Callot-Hoffmann“, der Furcht vor dem eigenen Spiegelbild, den Assoziationen des Wahnsinns, spielt Büchner auf eine Schreibweise an, der man seit Walter Scott und Goethe immer wieder mangelnde Kontrolle durch ein klar definiertes, gesundes Ich zum Vorwurf gemacht hat.21 Stattdessen findet der Strom der Assoziation von Bildern und Gedanken seine Einheit weniger durch den gemeinsamen Bezug auf eine Identität als in arbiträren Analogien oder Übereinstimmungen. Der dröhnende Gesang der Lerchen, der Maschinenton der Drehorgel und der Schmerzensschrei des Folteropfers, die nacheinander genannt werden, sind nicht durch die Semantik einer Entwicklung miteinander verbunden, sondern über die Eigenschaft des Lauten und Schmerzhaften. Das Heraufbeschwören einer Grenzsituation ermöglicht ein Schreiben, in dem Wirklichkeitsebenen, Traum und Realität als Fakten nebeneinander montiert werden, ein Schreiben, das es so nur im Brief geben zu können scheint, das man aber in den Wahnsinnsschilderungen des Lenz wiederfinden wird, die der programmatische Realismus, namentlich Julian Schmidt,

19 20 21

Georg Büchner an Wilhelmine Jaegle (Anm. 15). Ebd. Vgl. Goethe: „die krankhaften Werke des leidenden Mannes“, zit. nach: Hartmut Steinecke, E.T.A. Hoffmann und Walter Scott, die „Coryphäen der jetzigen Romandichter“ – Romanmodelle um 1820, in: „In Spuren gehen …“: Festschrift für Helmut Koopmann, Tübingen 1998, S. 193–209, hier: S. 205.

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so entschieden ablehnte.22 Der Brief ist hier nicht „Gelebtes“, das anschließend in Literatur übertragen wird, sondern die literarische Arbeit und das Verfassen von Briefen stehen als Schreibprozesse in so enger Verzahnung und Wechselwirkung miteinander, dass zwischen der Gebrauchsform des Briefs und dem literarischen Schreiben nicht mehr unterschieden werden kann. Die Sprache dieses Briefs, schreibt Christian Schärf, sei eine Sprache vom „Abgrund der Sprachlosigkeit“.23 Es ist eine Sprache, die den Identitätsverlust bewusst als Kunstmittel nutzt, eine Übung im nicht-auktorialen Schreiben. In gemäßigterer Form findet sich dies auch bei Mörike und Stifter. *** Bei Eduard Mörike steht laut Kristin Rheinwald häufig der „Blick in die eigene Seele […] über weite Strecken des Briefs im Mittelpunkt“.24 Zugleich wird auf Freunde individuell eingegangen, die Sprache, die Evokationen werden jeweils angepasst, bestimmte Formulierungen gewählt, so dass etwa Mörikes Freund Wilhelm Waiblinger über dessen Briefe schreibt: „Manchmal fühl ich bei Mörike etwas, das mir noch kein Freund gab, – etwas unaussprechlich Heimisch-Kindlich-Gemüthliches.“25 Ob aber dieser ausgeprägte Wille zur Gestaltung, wie Rheinwald nahelegt, ein Manko an „Authentizität“ bedeutet, „der Brief nicht als Ausdruck von Authentizität verstanden werden [darf], […] stattdessen zur Dichtung gerechnet werden [muss]“26 – ob eine solche Trennung zwischen authentischer Äußerung und Dichtung hier sinnvoll ist, ist fraglich. Eigene Erfahrung und Literarisierung stehen im Brief in einem merkwürdig gespannten Verhältnis, Erfahrung wird nicht Literatur  – also eine durch erhöhte Komplexität, Fiktionalisierung und Absage an den kommunikativen Anspruch aus alltäglichen Kontexten des Schreibens und Sprechens herausgehobene Weise der Sprachverwendung –, sondern Literatur erscheint als Teil der Kommunikation, bzw. ist Kommunikation. Ich hatte vor etwa 3. Wochen einen Brief an Dich, allerliebste Luise, angefangen: Er ließ sich zu einem rechtschaffen großen an, u. ich schilderte Dir von vornherein mit ernstlichem Leidwesen den Schaden, den die hießigen Weinberge durch jene überallbekannte 22

23

24 25 26

Julian Schmidt, Georg Büchner, in: Die Grenzboten, Zeitschrift für Politik und Literatur 10 (1851), S. 121–128, hier S. 122, [22.5.2022]. Christian Schärf, Werkbau und Weltspiel. Die Idee der Kunst in der modernen Prosa, Würzburg 1999, S. 26. Rheinwald, Eduard Mörikes Briefe (Anm. 12), S. 22. Ebd. S. 29. Ebd. S. 35.

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Säkulare Konfessionen Frost Nacht litten, und den ich mit Erstaunen, theils über die Sache selbst, theils über meine bisherige Gleichgültigkeit u. Unverstand in dergleichen Dingen, des Morgens, zwischen den Mäuerchen auf u. niedersteigend, in Augenschein nahm. [...]– jeder Wind spielt mit dem Rauch unserer Altäre, u. Wir sehen entmuthigt in d. todte Asche, die übrig bleibt. Auf jeden Fall, verehrungswürdiges Frauenzimmer! Ihr Herr Bruder E. mein Freund, hat mir eh er kürzlich seine Reiße antrat, den Auftrag gegeben, Ihnen, aus 3erley Briefanfängen von verschiedenen Zeiten, wenigstens Einen als Beweiß seines guten Willens zuzuschicken. Es war Abend gegen 10 Uhr (er stand gerade vom Pult auf, legte die Arbeit weg und schnitt an einem andern Tisch ein paar frische Rettige in Ermangelung eines ordentlichen Messers  – mit der Rasierklinge, nebst Butter) da fiel ihm in Überlegung seiner vorhabenden Reiße ein, daß er seiner Fräulein Schwester noch nicht geschrieben, und that Seufzer, deren ich drey zählte und lächelte dann ein weniges und gab mir obbemeldete Commission.27

Mörikes Brief an die Schwester Luise aus dem Sommer 182528 hat man in der Forschung lange die darin aufgebaute Fiktion abgenommen. So schreibt 1971 Hans Egon Holthusen, der Brief sei zusammen mit dem gleichaltrigen Tübinger Theologen Rudolf Flad, der ein Auge auf Luise geworfen hatte, verfasst worden.29 Der kritischen Ausgabe der Werke Mörikes zufolge ist der Brief jedoch eindeutig allein von Mörikes Hand.30 Nur satirisch wird also eine völlig zufallsgeleitete, jede Subjektivität leugnende Entstehungsweise desselben behauptet. Mörike zeigt sich in den Briefen dieser Zeit als Leser des Titan und mehr noch E.T.A. Hoffmanns, den er häufig erwähnt. In Kater Murr’scher Manier werden „Fundstücke“ – drei angefangene Briefe, die Flad vorgeblich zur Auswahl gehabt, und aus denen er sich für den vorliegenden entschieden hätte – zur Disposition gestellt und das Ergebnis, der endgültige Brief, einem gleichgültigen mechanischen Prinzip, dem Zufall zugeschrieben. Gegenüber etwa der „Buchmacherei“ von Jean Pauls Schulmeisterlein Wuz ist das Verfahren des Katers Murr das rücksichtslosere, mechanischere  – ganz ohne Absicht verwendet der Kater Blätter, die der

27

28 29

30

Eduard Mörike an Luise Mörike, 3. oder 10. Juni 1825, in: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 10: Briefe 1811–1828, hrsg. von Bernhard Zeller, Anneliese Hofmann, Stuttgart 1982, S. 99-100. Eduard Mörike an Luise Mörike, 3. oder 10. Juni 1825 (Anm. 27), S. 99f. Hans Egon Holthusen, Eduard Mörike in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek b. Hamburg 1971, S. 40. Mörike, Werke und Briefe, Bd. 10 (Anm. 27), S. 423: „Fingierter Briefteil, zum Teil in bewußt historisierender Form, der in den bisherigen Veröffentlichungen Flad zugeschrieben wurde, aber eindeutig von Mörike geschrieben ist.“

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Kapellmeister Kreisler auf der Vorderseite bereits beschrieben hat, für seine eigenen Aufzeichnungen. Gerade die Intentionslosigkeit dieses Verfahrens und die Grobheit gegenüber der idealischen Bedeutung, die Kreisler seinen Notaten gibt, machen den komischen und kontrastiven Effekt der Murrschen Texte aus, das Nebeneinander von Idealismus und Katzendünkel, die Missachtung der materialen Aura. Ein ähnlicher Kontrast entsteht in Mörikes Brief dadurch, dass sowohl der Anfang, der die Frostschäden im Weinberg zum Anlass nimmt für melancholische Reflexionen über die Vergänglichkeit, als auch das Ende, das protokollarisch wie in einem Logbuch Momente und Erlebnisse erfasst, aber auch schmerzhafte Erinnerungen an den vor einem Jahr gestorbenen Bruder August oder an die erste Begegnung mit der geheimnisvollen und beunruhigenden Maria Meyer, Auseinandersetzungen mit der eigenen seelischen Verfassung sind, mit Schicksalsschlägen und schmerzhaften Erinnerungen, die Mörike beschäftigen. Der melancholische Einstieg bezieht sich auf einen früher geschriebenen Brief, von dessen Schilderung die obige nur ein knappes Resümee ist oder zu sein vorgibt. Er geht über in ein Lob des schwesterlichen Schreibfleißes und der „Luft voll bescheidener Lebenslust“31 in ihrem letzten Brief, und indem dergestalt der Gegensatz zwischen beiden Geschwistern: die Zuversicht und Demut der Schwester, der er seinen „entgegengesezten Wahn“, seine „Eitelkeit, der Tod aller Religion“ entgegensetzt, ins sprachliche Bild tritt, steigert er sich in Zerknirschung und Schwermut hinein: „u. wir sehen entmuthigt in d. todte Asche, die übrig bleibt“.32 Abrupt wird diese melancholische Stimmung unterbrochen durch einen Auftritt, muss man es nennen, die Übernahme der Feder durch eine andere Person, die in steifem, lächerlich-umständlichen Duktus sich als der bereits zuvor einmal erwähnte Flad vorstellt, ein Freund Mörikes, der Luise Mörike Avancen machte – und der im geschwisterlichen Privatmythos offenbar zu einer ähnlich karikaturhaft überzeichneten Figur geworden war, wie der erfundene Wispel des Maler Nolten (dort der erste Überbringer der todesahnungsvollen Bilder Noltens) und der Wispeliaden. Dieser Flad erklärt nun, im Auftrag Mörikes den Briefanfang aus drei unterschiedlichen ausgewählt zu haben, um ihn Luise „wenigstens als Beweis seines guten Willens“ (sich überhaupt einmal schriftlich bei ihr zu melden) zukommen zu lassen.33 Dergestalt werden die traurigen Reflektionen und der intime Duktus des Anfangs entpersönlicht und – insofern als der sich durch seine Auslassungen als etwas beschränkt darstellende erfundene Flad allen tieferen Reflektionen verständnislos gegenübersteht und sich damit aus dem Kreis der Intentionsfähigen ausschließt – die Zufälligkeit der Textzusammenstellung behauptet. Das nimmt einerseits der zuvor geäußerten Schwermut die Schwere – weil jede Art von psychologischer 31 32 33

Ebd. Ebd. Ebd. S. 100.

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Motivation vom Zufall abgelöst wird, schafft einen ‚comic relief‘, der übergeht in witzige Szenen, wie die Beschreibung des mit dem Rasiermesser Rettich schneidenden Mörike, und vertieft doch zugleich durch den komischen Kontrast und die behauptete Unabsichtlichkeit der Übermittlung den Eindruck der Aufrichtigkeit und Tiefe des Geständnisses. Gesteigert und übertroffen wird dieses aber durch die zum Schluss erfolgende Beifügung eines echten Auszugs aus Mörikes Tagebuch, in dem intimste Geheimnisse ausgesprochen werden. Indem diese gewissermaßen in die Hand des tölpelhaften Flad gelegt sind, mischen sich Farce und Selbstentblößung auf groteske Weise. Er schreibt ein Art Tagbuch auf höchst ungezwungene Wische, davon Ihnen eines zu deschiff riren geben will: In Urach gewessen mit Hartlaub. In einer seltsamen Gefühlsverschränkung von Erinnerungen an meinen hiesigen aufenthalt und an

[private Sigle für den verstorbenen

Bruder August] unaufhörlich Thränen vergossen. Die alten lieben Pläze liefen im Taumel vor meinen Augen vorbey  –  –  – Winterhüttlein. Farth gegen Seeburg  – (rechts übern Wald gieng auf der Reise nach Scheer der Mond auf – Luisens Freudiges Erstaunen – ich im Kapuzinermantel) Billardzimmer bey Pichtler – die Bänke,

vor 1 Jahr so behaglich

mit uns sass und rauchte und sang – – – –. Heimweg – Zigeunerin – ihr auffallender Blick auf mein Gesicht – – –34

Was Mörike in Briefen an Freunde oft mit fiktiven Figuren wie Wispel macht, die er Passagen in ihrem eigentümlichen, lächerlichen Stil schreiben lässt, wird hier mit der Inszenierung einer realen Person veranstaltet. Das Spiel bestätigt Vertrautheit, hat aber auch etwas Gewaltsames, den Charakter eines fiktional eingerahmten ‚Bekenntnisses‘, eines ‚Opfers‘ in Gestalt des echten Tagebuchauszugs. Fiktion, Hohn und Bekenntnis sind hier nicht zu trennen. Ironie scheint geradezu mit dem Bekenntnis einherzugehen. Ja, im distanzierenden Mittel der Ironie scheint eine Übereinstimmung der beiden Briefpartner hergestellt zu werden, etwas, worum Mörike in den späteren Schreiben an eine andere Luise – die Braut und Geliebte Luise Rau – mühevoll ringen wird: Der Brief wird lang, ohne daß ich bis jezt erreichte, was ich eigentlich jedesmal will nemlich: Dir r e c h t r e c h t nahe zu kommen! Dich ganz in mich hineinschauen lassen. Der Brief und meine Liebe sollten in einander aufgehen.35

34 35

Eduard Mörike an Luise Mörike, 3. oder 10. Juni 1825 (Anm. 27), S. 100. Eduard Mörike an Luise Rau, 4. Januar 1830, in: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 11: Briefe 1829–1832, hrsg. von Hans-Ulrich Simon, Stuttgart 1985, S. 70.

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Im Gegensatz zu den mutwilligen, oft ironischen Briefen an die Schwester gelten Mörikes Brautbriefe an Luise Rau, was poetische Schilderung, frische der Liebessprache und Witz der Erzählungen betrifft, als Prototypen biedermeierlicher Liebesbriefe und werden überhaupt zu den schönsten Beispielen des Genres Liebesbrief gezählt, obwohl die Verlobung 1834 aufgehoben wurde. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass man gerade in dieser Qualität den Grund für das Scheitern der Beziehung gesucht hat. Mattenklott und Schlaffer behaupteten, „Poetisch schrieb nur ein Bräutigam an seine Braut – wie Mörike an Luise Rau –, der nicht im Ernst an die Heirat dachte. Wer es ernst meinte, war in allem Vorgefühl von Glück dennoch ängstlich darum besorgt, die passende Ehefrau nach seinem Bild und Sinn zu ‚formen‘.“36 Doch zum einen waren es wahrscheinlich wie bei Stifter und den Eltern von Fanny Greipl vor allem ökonomische Erwägungen – die berufliche Unstetheit und Unentschlossenheit des Bräutigams –, was zur Aufhebung der Verlobung führte, zum anderen muss die Auffassung von der „Formung der Braut“ im Brautbrief für einen Großteil der Korrespondenzen in diesem Genre auch im Hinblick darauf relativiert werden, dass es häufig einfach darum ging, der zukünftigen Partnerin eine, wenn auch eingeschränkte, Möglichkeit zu geben, sich Allgemeinbildung zu erwerben. Auch Mörike lässt Luise Rau an seinen Bildungserfahrungen teilnehmen, macht ihr Lektürevorschläge und schickt ihr Lesestoff. Stifters Albrecht stellt in den Feldblumen die wissenschaftlich und künstlerisch gebildete und schaffende Frau über die mit Handarbeiten und Haushalt beschäftigte. Die Aufwertung weiblicher Bildung ist ein Fortschritt der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der nicht im Widerspruch zu einer romantischen Auffassung der Liebe steht. Erst der programmatische Realismus wird beides für unvereinbar erklären. Luise Rau wird in diesem nur einseitig erhaltenen Austausch – sie verlangte nach der Trennung ihre Briefe zurück  – dabei nicht in andere Kreise integriert. Auch die Aussagen der Freunde über Luise Rau deuten auf keine nähere Bekanntschaft mit ihr hin. Dennoch sind die Briefe, die Mörike an sie schreibt – Kristin Rheinwald hat das dargestellt – eng mit der in diesen Jahren besonders intensiven schriftstellerischen Arbeit, vor allem der Entstehung des Maler Nolten verbunden. Darüber hinaus sind sie womöglich nicht nur „Werkstatt und Reservoir“37 der zeitgleich entstehenden Gedichte und des Romans, sondern der Brief selbst erscheint als eine neuartige Literatur, er ermöglicht eine Offenheit und Vielschichtigkeit des Schreibens, in der nicht allein im E.T.A. Hoffmann’schen Sinne die Ebenen von Wirklichkeit und Geisterreich ineinanderzugreifen vermögen, sondern er ist auch persönlicher Bericht, in dem Fiktionalisierung, Zitat und Parodie hierarchielos verknüpft und nebeneinander gestellt werden können. 36

37

Gert Mattenklott, Hannelore Schlaffer, Heinz Schlaffer (Hrsg.), Deutsche Briefe 1750–1950, Frankfurt a. M. 1988, S. 297. Rheinwald, Eduard Mörikes Briefe (Anm. 12), S. 74.

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An einem Beispiel möchte ich zeigen, wie bei diesem Ineinandergreifen der verschiedenen Textbaustellen Luise Rau – ebenso wie andere Briefpartner und Freunde – einbezogen wird, wenn es auch scheinbar zunächst um einen Text von Friedrich Theodor Vischer geht, den dieser Mörike zur kritischen Begutachtung zugeschickt hat. Vischer spekulierte damals, Anfang 1832, noch auf eine Karriere als belletristischer Autor und sandte Mörike mehrere sehr unterschiedliche Erzählungen zur Kritik zu. Mörike antwortet mit Proben des Maler Nolten, die Vischer kritisiert. Der Ton ist freundschaftlich, aber nicht frei von Furcht vor der Kritik des anderen bzw. vor dessen Reaktion auf Kritik, eine verzögerte Antwort wird schnell der Verstimmung zur Last gelegt, die eine Bemerkung über die literarische Arbeit verursacht haben könnte. Vischer hatte die Groteske Ein Traum um einen Selbstmörder, die hoffmanneske Liebeserzählung Cordelia, und die humoristische Idylle Freuden und Leiden des Skribenten Felix Wagner geschickt. Im Antwortschreiben vermutet Mörike, dass sich hinter der geheimnisumwobenen Protagonistin ‚Cordelia‘ Pauline Abele, ehemals Wächter, verbirgt. Analog zum Maler Nolten, wo Mörike in der Figur der Elisabeth seine Liebe zu Maria Meyer verarbeitet, setzt er ein gleiches Verfahren der Übertragung bei Vischer voraus. Offenbar war „der leicht entflammbare Vischer“38 1826 eine Zeitlang in diese verliebt gewesen und hat dieser verflossenen Liebe in seiner in deutschen Künstlerkreisen in Rom spielenden Erzählung ein etwas makabres Denkmal gesetzt, denn die zur vollendeten Schönheit idealisierte Heldin wird am Ende von dem in wahnsinniger Liebe zu ihr entbrannten Wilhelm ermordet, so wie es in einem Gemälde, zu dem sie Modell gesessen hatte, vorgebildet gewesen war. Über ihre Rolle als rätselhafte Schönheit hinaus, Wiedergängerin der Shakespeare’schen Cordelia, der Lieblingstochter des King Lear, bleibt diese Heldin jedoch recht farblos, so dass Mörikes Vermutung sich kaum auf bestimmte Eigenschaften der Figur stützen kann. Er nutzt diese jedoch, um den für das Vorbild unvorteilhaften Abstand zur literarischen Gestalt herauszustellen: Hast Du bei Ihr das Original vor Augen gehabt das ich vermuthe (nur aus Äußerlichkeit, vermuthe) so muß ich Dir entw. zu Deinem Trost oder zu Deinem Ärger, jedenfalls zu Ehren Deines unbewußten Idealisirenden Genius u. M e n s c h e n versichern, Du hast keinen Einzigen wahren Zug, was eigentliche S e e l e betrifft, getroffen. Dort ist Manier der Seele (Gott weiß woher) geschöpft vielleicht aus einem u r s p r ü n g l . wahren nachher aber analogisch von tausend fremden Seiten her erweiterten und t ä u s c h e n d angeeigneten Charakterkorn. Bei Dir ist helle aus dem Grund perlende Natur. Oder entstand etwa der unaufgelöste Rest, den ich in Deiner Cord. so schön finde vielleicht durch die ängstliche Grenze, durch die Lücke die Du in Deinem Original fandest 38

So Hans-Ulrich Simon in: Mörike, Werke und Briefe, Bd. 11 (Anm. 35), S. 424.

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Roman Lach und die Du als Künstler nun, statt der Leere, in eine ahnungsvolle Fülle umzuwandeln gewußt hättest, und auch wohl dem Liebhaber, nemlich Dir, zu Gefallen umwandeln mußtest? Mir ists Eins.39

Mörike betont den Abstand zwischen Vorbild und Literarisierung, die „ängstliche Grenze“, die „Lücke“, die durch „ahnungsvolle Fülle“ mehr betont als aufgehoben erscheint. Im Unausgesprochenen, in der Leerstelle findet Mörike Hinweise auf ein Ungenügendes, ein unaufgelöstes Problem, das durch die Kunst nur sichtbarer wird. Die Differenz zu Vischers trotz aller Sympathie für das Groteske auf dem Realistischen beharrender Poetik tritt in dessen Antwort hervor, obwohl er Mörikes Vermutung bestätigt: Cordelias Züge sind allerdings von P. entlehnt. Daß sie idealisiert ist, ist natürlich. Ich wußte auch zur Zeit, da ich heidenmäßig in sie verliebt war, daß ihre Sentimentalität erborgt, und ihr wahrer Charakter eine derbe Sinnlichkeit sei, die ich übrigens nicht verdammen konnte, da sie etwas Naives und Homerisches hat. Sie ist und bleibt wunderschön – was kann man machen? Die Schönheit behält ihr Recht.40

Zugleich habe er „im Theodor wieder mich selbst gegeben“, und daher leide „das Ganze noch an Subjektivität“.41 Vischer sieht den Prozess der Idealisierung für eine selbstverständliche Gestaltungsarbeit des Autors an, wo Mörike den Schaffensprozess mit psychologischem Interesse beobachtet und auf den „unbewußten“ Idealisierungsvorgang aus ist. Anders gesagt: Vischer denkt das Werk klassisch vom Ende her, vom Werk in seinen harmonisch geordneten Teilen, während Mörike auf den Entstehungsvorgang sieht. Es ist kaum möglich, hier das Gespräch über Literatur von der Kritik an Vischers Liebesverblendung in der Wirklichkeit zu trennen. Es ist von beidem die Rede und über Bande wird noch Luise Rau in dieses Gespräch einbezogen, der Mörike von Vischers Antwort berichtet und ihr obenstehenden Absatz abzüglich des ersten Satzes vollständig zitiert, wobei er erklärt, er könne ihr „einiger zu kecken Späße wegen“42 nicht den ganzen Brief schicken. Zumindest in der in Robert Vischers Edition des Briefwechsels dargebotenen Form findet sich jedoch nichts in Vischers Brief, das unter ein derartiges Verdikt fallen könnte. Es scheint, als ziele er darauf, Luise Rau an der Wechselbeziehung von Erleben und literarischem Schaffen teilhaben zu lassen, ist sie doch zudem selbst mit 39

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41 42

Eduard Mörike an Friedrich Theodor Fischer, 20. und 26. Februar 1832, in: Mörike, Werke und Briefe, Bd. 11 (Anm. 35), S. 261. Friedrich Theodor Vischer an Eduard Mörike, 27. März 1832, in: Briefwechsel zwischen Eduard Mörike und Friedrich Theodor Vischer, hrsg. von Robert Vischer, München 1926, S. 61. Ebd. S. 60. Eduard Mörike an Luise Rau, 8. April 1832, in: Mörike, Werke und Briefe, Bd. 11 (Anm. 35), S. 277.

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Pauline Wächter befreundet. Daher schiebt er nach: „Ich schrieb Dir dieses ohne alle A b s i c h t ab, liebes Herz. Du wirst Dich durch unsere Ansicht nicht kränken lassen. Du weißt doch, wie viel Dir die Freundin gegolten hat und ferner gelten darf.“43 – Eigenartig erscheint die Indiskretion, die Mörike hier gegenüber dem Freund begeht, die zugleich die Geliebte in ein unbehagliches Verhältnis zur Feundin bringen könnte. Zudem verschweigt er Vischer, der seine Texte wegen sich eventuell auftuender Publikationsgelegenheiten möglichst eilig zurückwünscht, dass er den Skribenten Wagner an Luise Rau weitergeleitet hat. Wie, um sie zumindest von fern an den poetologischen Briefgesprächen zwischen ihm und dem Freund teilnehmen zu lassen, hatte er ihr letztere Erzählung mit der Bitte geschickt, sie nach der Lektüre sofort zurückzusenden, sie sei nicht zum Weitergeben gedacht und er brauche sie in einer Woche wieder. Mörike weist Luise Rau insbesondere auf einen Exkurs über die Natur des Traums in dieser Erzählung hin. Das Berichten von Träumen, auch Erscheinungen, an denen Mörike, ein Leser der okkultistischen Schriften Justinus Kerners44, besonderes Interesse hatte, nimmt einen bedeutenden Platz in den Briefen an Rau ein. Oft wird auch auf ein ‚Beim Anderen-Sein‘, einen spirituellen Rapport hingewiesen, der nicht nur metaphorisch zu verstehen zu sein scheint („Denke, wie mir heut beym Umkleiden das schwarze Band und Kreuz auf meiner Brust ins Auge fällt, erschrak ich ganz sonderbar, und eine Sekunde lang standst Du vor mir, halbtraurig wie eine Nonne.“).45 Der Brief beginnt auch mit einem solchen Hinüberscheinen von dem zuletzt empfangenen Brief Luises, der auf rotem Papier geschrieben war, zu der Morgensonne, die durch die farbige Gardine hindurch das Papier auf seinem Tisch ebenfalls rot färbt. Derartige Bilder der Transformation und des Transitorischen gibt es viele in diesen Brautbriefen. Immer wieder führen äußere Eindrücke in ein häufig auch so genanntes Inneres, über das dann die geistige Verbindung zur Partnerin hergestellt wird, wenn „Alles, was uns umgibt, verschwindet u. versinkt und die innerste Seele die Wimpern langsam erhebt und wir, wenn ich so sagen darf, nicht mehr uns selbst, sondern den allgemeinsten Geist der Liebe, mit dem wir schwimmen 43 44

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Ebd. S. 277. Anders als sein Freund Vischer, der in den Freuden und Leiden des Skribenten Felix Wagner Kerners Seherin von Prevorst nur als Anlass für Komik heranzieht, bleibt Mörike, der mit einem Bericht über einen Spuk im Cleversulzbacher Pfarrhaus selbst einen Beitrag zu Kerners Magikon liefert, dem Okkulten gegenüber zwiegespalten und lässt etwa in den Ausgangsszenen des Maler Nolten durchaus Raum für okkultistische Erklärungen des Geschehens, wenn man nicht mit Friedrich Sengle sogar eine Vereinigung des „Natürlichen mit dem Übernatürlichen“ in der finalen „Todesvermählung mit Elisabeth“ sehen will. Vgl. Friedrich Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848, Bd. III: Die Dichter, Stuttgart 1980, S. 700. Siehe hierzu: Bettina Gruber, Die Seherin von Prevorst. Romantischer Okkultismus als Religion, Wissenschaft und Literatur, Paderborn / München u. a. 2000, S. 176–187. Owen, den 26. November 1829, in: Mörike, Werke und Briefe, Bd. 11 (Anm. 35), S. 49.

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wie im Element, empfinden.“46 Ein „ächt J e a n P a u l ’sches Gleichniß“ nebenbei gesagt, das nicht zu denjenigen gehört – den mechanischen, technizistischen – die er „nicht leiden kann“, wie er in einem früheren Brief bekannt hatte.47 Nach einer schwärmerischen Beschreibung der Landschaft um Ochsenwang, wo er seit knapp einem Vierteljahr Pfarrer ist, erfolgt über mehrere Seiten der minutiöse Bericht über einen Ausflug mit einem Schulmeister, später mit dem Freund Franz Bauer, auf den er besagte Erzählung von Vischer mitnimmt, die er unterwegs zu lesen beabsichtigt und mit dem Schreiben selbst auch an Luise schicken wird, so dass der Brief im Grunde um diese Erzählung herumgeschrieben erscheint. Kaum hat die Schilderung der Wanderung in frischer Eichendorff-Manier begonnen, wird in den Ruf des Kuckucks, der eben noch naiv begrüßt wurde, der düstere Ton eines „Leichengeläute[s]“ eingeschaltet, eine Verdunkelung der Tonart, die nicht wirklich zur Melancholie, sondern eher in eine bizarre Zwischenstimmung überleitet. Während der Schulmeister, der ihn bisher begleitet, „die Leiche mit anzusehen“ geht, beginnt Mörike, auf Bauer wartend, bei einem Bier im Wirtshaus die Vischer’sche Erzählung zu lesen. Hier erwähnt er insbesondere die bereits genannte Passage über die Natur der Träume, die ihm an dem Text gefallen habe, und die ihn motiviert, die Erzählung Luise Rau zuzuschicken. Sehr umständlich wird nun berichtet, wie es dazu kommt, dass, weil Bauer sich so spät einstellt, man zuletzt beschließt, die Nacht in der Nähe in einer Herberge zu verbringen. Die bereits unklar zwischen Ironie und Unheimlichem changierende Stimmung setzt sich hier fort, eine Atmosphäre des Zwischenwirklichen herrscht vor. Im Spaß warf ich den [Hund] J o l i auf diesen BreterHimmel und entdeckte mit Erstaunen, daß dort eine vierschrötige KinderWiege aufgestellt war (von der mir der Teufel sogleich in den Kopf sezte, es liege ein todtes Kind darin). Wir lachten eine Weile über dieß merkwürdige Nachtlager, endlich schlief B. ein, ich aber las mit glockenhellen Sinnen die Erzählung zum Schlusse, legte die Papiere bei Seit, steckte die Pfeife aufs Neue an und verfiel in eigene Phantasien. Hat es gegen 11. Uhr in selbiger Nacht nicht an Dein Kammerfenster mit Geisterfingern geklopft? Ich streifte mehr als einmal daran hin! Meine Gedanken zuckten wie stilles Wetterleuchten über Deinem schlafenden lieben Gesichtchen. – Ich konnte kein Auge zuthun und weckte den Kameraden, der denn (wahrhaftig eine seltene Tugend!) sich sogleich willig und munter finden ließ noch ein Stündchen zu schwätzen. Abermals KüchenLatein, weil wir die Wandnachbarschaft nicht kannten. Ich gäbe was drum, wenn ich wüßte, was mir diese Nacht geträumt hatte! Ich fühlte nur nachher, daß es ein Chaos von Schönem und Widrigem war. Indeß erwachten wir

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Ochsenwang, den 8. April 1832, in: ebd. S. 272. Plattenhardt, den 11. November 1829, in: ebd. S. 45.

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Säkulare Konfessionen aufs Heiterste. Wer konnte auch anders; draußen stand der Vorbote des Mai wie ein Engel mit hohen Goldflügeln, wovon nur der Eine noch nicht recht entfaltet war –.48

Es folgen melancholische Gedanken zu Goethes Tod, von dem er kürzlich erfahren hat, und ein Zitat der wütenden Auslassungen seines Freundes Mährlen über die zeitgenössische deutsche Ignoranz gegenüber Goethe. Er fügt obengenannte Stelle aus Vischers Brief über dessen unglückliches Verhältnis mit Pauline Abele ein. Zwiespältiges, Misstöne, wie sie durch derartige in der Art seiner ‚Musterkärtchen‘49 eingeschobene Zitate verursacht werden, sind zahlreich in diesem Brief. Auch lässt Mörike, ähnlich wie im oben besprochenen Brief an die Schwester, Bekannte in karikaturhaften Kurzauftritten „dreinsprechen“, wie „HE. Schwager Denk“50, der sich streng über Mörikes mangelnden Ordnungsgeist äußert. Zum Abschluss stellt Mörike ihr sein neues Schreibbuch für Kollektaneen vor, in das ‚Fremdes‘ – also Fundstücke aus anderen Schriftstellern, Zeitschriften, und ‚Eigenes‘, nämlich „Gedanken, – Einfälle, – L i n e ä und Merkzeichen für künftige Arbeiten. Züge aus dem Leben – Bemerkungen – an mir selbst – an Andern. usw.“51 eingetragen werden sollen, das also im Grunde nichts anderes als eine Entsprechung zu dem sein soll, was er auch in dem vorliegenden Brief praktiziert: ein Sammelsurium des Erlebten, Gelesenen, des Heterogenen und Disparaten, das durch eine merkwürdig aufgekratzte Melancholie zusammengehalten wird, die als Stimmung über allem liegt. Als eine ‚praktische Poetik‘ erscheint so dieser Brief, der Luise Rau mit der Erzählung zugleich einen Einblick in die eigenartigen Zusammenhänge zwischen Erleben, literarischer Verarbeitung und der Rezeption von Literatur verschafft. Auch Vischer gegenüber tritt er für eine solche von der Verarbeitung des Materials her gedachte Poetik ein. Dieser selbst hatte sich wegen der von Mörike erwähnten, in seine Erzählung eingeschobenen längeren Erörterung über den Traum unzufrieden geäußert. Ihm schien, er hätte das Ganze in einen Dialog aufspalten müssen. Die Ausführungen des Pfarrers erscheinen ihm wie die unorganisch eingefügten Abhandlungen in romantischen Romanen, als ein willkürlich angeklebter Fremdkörper.52 48 49

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Eduard Mörike an Luise Rau, 8. April 1832, in: Mörike, Werke und Briefe, Bd. 11, (Anm. 35), S. 273f. Eduard Mörike an Friedrich Theodor Vischer, 13.  Dezember  1837: „Zwischen mir und meinen Freunden war und ist zum Theil noch die Einrichtung, daß wir einander ‚Musterkärtchen‘ schicken. Dieß sind kleine, selbsterlebte Anekdoten, hauptsächl. charakteristische Züge aus unserer nächsten Umgebung, ohne viel Witz, wenn sie nur lustig oder bezeichnend sind.“ Vgl. Eduard Mörike, Werke und Briefe, Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 12: Briefe 1833–1838, hrsg. von Hans-Ulrich Simon, Stuttgart 1986, S. 147; vgl. Rheinwald, Eduard Mörikes Briefe (Anm. 12), S. 147–154. Ebd. S. 278. Ebd. „Eine wahre ästhetische Sünde ist die lange Abhandlung über Somnambulismus. Ich hätte die verschiedenen Ansichten über die Sache in verschiedenen Personen objektivieren müssen, wenn in diese Partie hätte Leben kommen sollen, allein dazu waren meine Personen untauglich, und so spricht

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Mörike dagegen steht solchen Montagen viel offener gegenüber, wenn er ihm antwortet: Und überdieß wäre die Frage, ob man nicht berechtigt wäre, neben dem eigentlichen Roman und der Novelle, ein besonder Genre aufzustellen, das, ohne auf höchste Nothwendigkeit im Innern Organischen Anspruch zu machen, doch in der Stellung und Ausdehnung der sinnlichen Theile sich einiger Symmetrie befleißend, – eine anspruchslose, für sich interessante Geschichte als den Träger einiger gleichfalls für sich interessirenden durch schwächere Motive mit der Fabel verknüpften Idee gebrauchte.  – Obgleich der Kunst jede Willkür etwas Fremdes ist und bleibt und sich in Werken höherer Gattung, dergleichen Deine Cordelia ist, durch unausbleibliches Mißbehagen augenblicklich selbst bestrafen würde, so hat sie, merkwürdigerweise, zuweilen die größten Reize voraus.53

Das Einschieben erörternder Passagen in einen fiktionalen Rahmen – solche Akte der „Willkühr“, die in „Werken der höheren Gattung“ „unausbleibliches Mißbehagen“ auslösen würden, haben einen Reiz, muss man hinzufügen, dem Mörike in späteren Jahren selbst immer weniger vertrauen wird, wenn man an die Überarbeitung des Maler Nolten denkt (die jedoch nicht ausschließlich auf ihn allein zurückgeht). Hier jedoch scheint eine Aufgeschlossenheit gegenüber dem Verfahren der Textmontage auf, an dem Vischer zu zweifeln beginnt, und das Mörike sich im Brief – und ansatzweise auch im Maler Nolten noch erlaubt. Über diesen Punkt wird es langfristig aber zur Entfremdung zwischen den beiden Freunden kommen, wie Martina Todesko ausführt, jenen, wie Vischer es gegenüber Mörike nennt, „Ähnlichkeitspunkt […] eines grübelnden Selbstbewußtseins, das dann der ganzen Weltbetrachtung die Farbe des Humors gibt“,54 denn, wie er 16 Jahre später schreibt, „dies Gemeinschaftliche ist freilich auch der Grund des Entzweiungszunders in uns“.55 Während Vischer sein grübelndes Selbstbewusstsein in Richtung des poetischen Realismus domestiziert, gelingt dies – aus Vischers Perspektive – Mörike nur unzureichend. Es ist geradezu, als würde Mörike in dem Vorgang der Einbeziehung

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der Pfarrer eigentlich allein. In dieser Weise ist aber eine solche Abhandlung ganz gegen das Wesen der Erzählung.“ Friedrich Theodor Vischer an Eduard Mörike, 27. März 1832, in: Eduard Mörike und Friedrich Theodor Vischer, Briefwechsel, hrsg. von Robert Vischer, München 1926, S. 61–62. Eduard Mörike an Friedrich Theodor Fischer, 14. Mai 1832, in: Mörike, Werke und Briefe, Bd. 11 (Anm. 35), S. 281. Friedrich Theodor Vischer an Eduard Mörike, 28. Januar 1831, zit. nach Martina Todesko, Poesie, Philosophie, Ästhetik. Zum Briefwechsel zwischen Vischer und Mörike, in: hrsg. von Barbara Potthast, Alexander Reck, Friedrich Theodor Vischer. Leben – Werk – Wirkung, Heidelberg 2011, S. 137– 151, hier S. 149. Vischer an Mörike, 21. Dezember 1847, in: ebd. S. 151.

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Luise Raus in diese Debatte vorführen, wie willkürliche Fügung erzählerische Zusammenhänge zu stiften vermag, die jenseits realistischer Erzählprinzipien liegen. In den besagten Ausführungen zum Traum in Vischers Erzählung formuliert der Pfarrer eine Poetik des Traumhaften, die an Tiecks Bemerkungen über das Wunderbare bei Shakespeare erinnern, indem sie einen Realismus des Traumhaften behauptet, eine Art Duplizität der Welt aus Traum und Wirklichkeit, die gleichberechtigt nebeneinander stehen. […] Im Traume wird nichts bloß gedacht. Im Traume hat Alles Fleisch und Bein. Der Träumende legt seine eigenen Gedanken in den Mund fremder Gestalten, und wundert sich dann, als hättʼ er von diesen eine Neuigkeit erfahren. Er spielt Theater, und weiß nicht, daß er selber hinter den Coulissen steht, seine lebendigen Puppen an unsichtbaren Fäden leitet und für sie spricht. Z. B. ich träume, mir gebe Jemand ein Räthsel auf. Ich bemühe mich vergeblich, es zu errathen; ja ich ärgere mich, daß der Andere so klug sei und ich so einfältig. Wer hat denn aber das Räthsel gemacht? Bin denn nicht ich es, der da träumte? Freilich diese Unterscheidung zwischen meinem Ich und der Welt ist hier nicht ganz am Orte. Ich stehe im Traume nicht mehr so außer und neben den Dingen, um mir über dieselben meine beliebigen Gedanken zu machen. Nicht ich bin es, der sich rühmen dürfte, er habe einen herrlichen, tiefwahren Traum gedichtet. Die Dinge schauen sich selbst in mir an. So erkennt Gott die Dinge, weil sein eigenes Wesen durch sie strömt.56

Schon oft wurde bemerkt, wie bei aller scheinbaren biedermeierlichen Schlichtheit und Glätte in Mörikes Werk das Thema und Problem einer Unausgeglichenheit zwischen Innen und Außen vorherrscht. Ein hoffmanneskes Bild des Künstlers in Widerspruch zum Publikum, das ihn nicht versteht, erratisch dreinfahrende Ideen und Fantasmen, die den Ausgleich mit der Wirklichkeit stören, ein Bewusstsein für das Beunruhigende und Beängstigende in der Wirklichkeit, die ein ausgeglichenes Verhältnis zur Umwelt schwierig machen und als Wahnsinn immer drohend über ihm schweben, werden auch im Maler Nolten thematisiert, zu dem parallel diese Briefe entstehen. ***

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A. Treuburg [d. i. Friedrich Theodor Vischer], Freuden und Leiden des Scribenten Felix Wagner, in: Jahrbuch schwäbischer Dichter und Novellisten, hrsg. von E. Mörike, W. Zimmermann, Stuttgart 1836, S. 1–88, hier S. 42f. Erneut in: Friedrich Theodor Vischer, Dichterische Werke, Bd. 5: Allotria, Leipzig 1917, S. 7–83, hier: S. 43f.

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Auch Adalbert Stifter ist in frühen Briefen an Freunde (Adolf Freiherr von Brenner und Sigmund Freiherr von Handel) in Hoffmanns, und vor allem in Jean Pauls Spuren unterwegs. Seine stilistischen Anleihen bei letzterem sind fast überdeutlich. Immer wieder auch vergleicht er sich und sein Schreiben mit Schoppe, dem melancholischen Humoristen des Titan. Die erhaltenen Briefe fallen vornehmlich in die Jahre 1836 und 1837, die Zeit der endgültigen Trennung von Franziska Greipl, in der aber noch nicht endgültig die Entscheidung für Amalia Mohaupt, die er später heiraten wird, gefallen ist. Der ausgestellte Witz und Mutwille stehen in den Briefen an die Freunde in starkem Kontrast zu dem ängstlichen Ton der sieben erhaltenen Briefe an Fanny Greipl, in denen beständig jedes Wort umgedreht wird, Missverständnisse ausgeräumt und Verhaltensweisen und Gefühle umständlich erklärt werden müssen. Der Ton in den Briefen an die Freunde strotzt dagegen vor Selbst- und Sprachgewissheit. Er findet sich wieder in der mit ihrer Handlungszeit in diesen Zeitraum verlegten Erzählung Feldblumen, deren Jean Paul-Einflüsse die Forschung schon festgestellt hat.57 Im Einfügen von Gedichten und Zitaten, im Mitschicken eigener und fremder Texte (oder immerhin dem Wunsch, solche, wie Schutt von Anastasius Grün, mitzuschicken, wenn nur genug Geld dafür da wäre58), in den kosmischen, meteorologischen und szientifischen Metaphern, auch in einzelnen makaberen Vergleichen („am allertraurigsten war der hohe Markt, er war der Grèveplatz der Freundschaft“59) eifert Stifter in den Briefen an beide Freunde deutlich dem Vorbild Jean Pauls und seines in der ganzen Verzagtheit des sich ankündigenden Wahnsinns zwiespältigen Geschöpfes Schoppe nach. In sehr ähnlicher Weise wie Schoppe inszeniert er sich gegenüber beiden Freunden als zerknirschter säumiger Briefschreiber, so dass durchaus der Eindruck entsteht, es ginge hier darum, sich in eine Rolle und einen Stil einzuarbeiten. Wie Schoppe – und wenige Jahre zuvor Mörike – schreibt er an beide Freunde lange Briefe, deren ausgedehnten Entstehungszeitraum er durch zwischengeschaltete Markierungen der Schreibetappen betont: „Mehrere Tage sind wieder hin, ohne daß ich Dir das Schreiben fortsezen konnte“60, „Es ist doch verdammt, daß es jetzt 11 schlägt! Siehst du??!!“61: […] in Zukunft, habe ich nur 1/1 Terzie Zeit, so schreibe ich an dem Angefangenen um ein I-Tüpfelchen weiter, und in Kürze kommt noch ein Brief zusammen – aber aussehen mag e r !! […] In Zukunft will ich (ja, vermög meines närrischen Temperamentes muß ich

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Vgl. Pfotenhauer, Stifters Jean Paul (Anm. 1), S. 14. Adalbert Stifter an Adolf Freiherr von Brenner, 4.  Februar  1836, in: Stifter, Briefwechsel, Bd.  1 (Anm. 8), S. 40. Ebd. S. 42. Adalbert Stifter an Sigmund von Handel, 24. Juni 1836, in: Stifter, Briefwechsel, Bd. 1 (Anm. 8), S. 55. Ebd. S. 54.

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Säkulare Konfessionen sogar) in das andere Extrem verfallen, und Dir unaufhörlich schreiben –  –  –  – dieser Brief läuft immer fort, ich breche nur hier ab, um so schnell als möglich die erste Lieferung fort zu kriegen, morgen schreib’ ich weiter, und trage in einem fort in die Staatskanzlei, vielleicht bekommst Du 20 solche Blätter auf einmal, aber dann thue mir den Gefallen, und lese sie nach den Nummern, ohnehin hätte dieser Brief vor einen andern gehört, den Du jezt vielleicht schon in Händen hast, und in dem kein Wort von einer Ursache meines langen Schweigens steht.62

Mit dem anderen Freund will er „am Papier wohnen, essen, schlafen, spazieren gehen, –  – kurz, recht zu Hause sein – […] deshalb ängstet’s mich, wenn ich soll zum Papiere sizen […]“63 Seit ich aber diese Schreibfaulheitstheorie heraus habe, seitdem kehre ich auch gegen die Praxis aus derselben vor, und lege ein Blatt auf den Tisch und schreibe, als wär’ es nicht wahr, daß ich in einer halben Stunde fort muß, und plözlich fahr’ ich auf und davon – und im Wiedernachhausegehen fang’ ich auf der Gasse schon an mentaliter weiter zu schreiben, und fahre dann im Zimmer freundlich fort.64

Parallel entsteht mit diesen Briefen die Erzählung  – gegenüber den Freunden spricht er von seinem „Roman“ – Feldblumen, bei der bereits die Kapitelüberschriften mit den zum Teil wenig bekannten volkstümlichen Namen derartiger Gewächse und der vermeintlichen taxonomischen Struktur, die sie über den Fortgang der Handlung legen, an Jean Paul gemahnen (was von einem nur sehr sporadisch sich zwischen den Briefen Albrechts an seinen Freund Titus einschaltenden „Sammler und Referenten der obigen Blätter“65 mittendrin einmal ironisch kommentiert wird: „Der Leser quält sich ab über den Zusammenhang der Feldblumen mit dem Inhalt der Kapitel – es ist keiner – außer, wo doch ein kleiner ist.“66) Auch biographisch finden sich Parallelen zwischen dieser Erzählung und Stifters Situation, der wie sein Briefschreiber Albrecht zwischen zwei Frauen stehend in der Freundschaft einen Ausweg aus den Liebesirrungen sucht. Die Unfähigkeit, eine Frau zu finden, die ihn liebt, nennt er dabei seinen „Schoppicismus“. „Aber euch Alle lieb’ ich, wie ein toller,

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Adalbert Stifter an Adolf Freiherr von Brenner, 10. November 1836, in: Stifter, Briefwechsel, Bd. 1 (Anm. 8), S. 59f. Adalbert Stifter an Sigmund von Handel, 17. Juni 1836, in: ebd. S. 53. Ebd. S. 53f. Adalbert Stifter, Feldblumen (Journalfassung), in: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 1.1, hrsg. von Helmut Bergner, Ulrich Dittmann, Stuttgart u. a. 1978, S. 157. Ebd. S. 108.

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redlicher Schoppe, in euch find’ ich den lieben Anklang, ihr stoßt euch nicht an meinen Disteln.“67 Und schon hier – später wird er sich gegenüber dem Verleger Heckenast, der die beiden Jugendfreunde als Vertrauter und Ansprechpartner in literarischen wie lebenspraktischen Fragen ablöst, noch konkreter dahingehend äußern  – denkt er an eine Veröffentlichung dieser Briefe und fordert Sigmund von Handel auf, seine Schreiben unbedingt aufzuheben. Was will denn der Mensch noch mehr, um einem fernen Geliebten sehr zu schreiben und toll und zärtlich zu sein? Meine Werke werden alle in Briefen geschrieben, und ich beschwöre meine Freunde, bei denen die Kapitel ad mea omnia herum liegen, in denen ich wizig, verständig, schwärmerisch und Alles bin, nach meinem Tode Alles herauszugeben. Sonst fahre ich ab und bin kein Schriftsteller gewesen.68

Mit den Werken in Briefen sind ganz offensichtlich die Briefe an die Freunde gemeint, die Stifter aufzuheben bittet, und keinesfalls nur das Manuskript des Briefromans Feldblumen, wie Gustav Wilhelm in den Anmerkungen der Prager Ausgabe vermutete. Stifter formuliert hier eine Auffassung von Literatur, die ganz im Sinne von Jean Paul ist: Seine Briefe sind Teil seines ‚Werks‘. Die einzelnen Schreiben bilden die Kapitel darin. Dies bedeutet nicht, dass die Trennung von fiktivem und faktualem Schreiben aufgehoben wird, sondern dass jedes Schreiben, gleich welcher Art, Anspruch hat, als Teil eines Werks betrachtet zu werden. Diese Aussage, so scherzhaft sie ist und so sehr sie auch Ausdruck einer augenblicklichen Krise sein mag, in der Stifter fürchtet, mit keinem seiner literarischen Produkte an ein Ende zu kommen (dass der 31-Jährige dabei bereits an seinen Tod denkt, ist wieder einmal ein Schoppicismus), wird doch auch für sein weiteres Schreiben von Belang sein, sowohl, was die Briefe als Bestandteil des Werkes betrifft, die er noch zu Lebzeiten Heckenast gegen Honorar zur Publikation überlässt, als auch, weil zwischen dem Briefeschreiben und dem literarischen Schaffen eine enge Beziehung besteht. In den Briefen wird die Autorpersona Stifter kreiert, zumindest der schoppisierende Jean Paul-Epigone der Feldblumen. Wenn dieser jedoch auch bald schon abgetan wird und dem sich selbst domestizierenden Spracharbeiter des Spätwerks Platz macht, der das Kontrolle-Gewinnen durch Sprache in seinen Briefen wie seinen literarischen Arbeiten zum Thema macht und nur insgeheim auf den früheren Stifter zurückverweist, bleiben das „Insistieren auf Schriftlichkeit“69 und die enge Verzahnung von Briefeschreiben und literarischer Arbeit konstitutiv für Adalbert Stifters Schreibverfahren. 67 68 69

Adalbert Stifter an Sigmund von Handel, 24. Juni 1836, in: Stifter, Briefwechsel, Bd. 1 (Anm. 8), S. 56. Adalbert Stifter an Sigmund von Handel, 8. Februar 1837, in: ebd. S. 65. Paulus, Jean Paul, in: Handbuch Brief (Anm. 10), Bd. 2, S. 998.

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„Halte künftighin meine Briefe hübsch in Ordnung“ Darstellung von Netzwerken in einer digitalen Edition Ursula Caflisch-Schnetzler

Sharen, Liken und Retweeten  – einen Gedanken teilen und diesen auch weiterleiten sowie eine Meinung für gut oder weniger akzeptabel halten und damit eine Diskussion auslösen – für diese ‚Funktionen‘ ist das neugierige und gern auch mal streitliebende 18. Jahrhundert als „Zeitalter des Briefs“1 par exellence bekannt. Briefe prägten bilateral und als Kommunikationsnetzwerke die Diskurse der Zeit, wurden als fiktive Briefe gedruckt2 oder flossen real in Werke ein3 und manifestierten sich auch literarisch als neue poetische Form im Briefroman.4 Zu den oben genannten Begriffen aus den heutigen sozialen Medien finden sich im 18. Jahrhundert durchaus Parallelen. Briefe  – wie heutige Textnachrichten  – wurden auch damals zumeist personalisiert an eine Person versandt, fanden jedoch beim gemeinsamen Lesen, bei einer Abschrift oder Kopie desselben durchaus auch eine erweiterte Leserschaft oder wurden vom Empfänger ohne die Einwilligung des Schreibers weitergeleitet oder gar gedruckt, wie

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Reinhard M. Nickisch, Brief, Heidelberg 1991, S. 29–92; Georg Steinhausen, Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes, 2 Tle., Berlin 1889/1891, T. 2, S. 245. Johann Caspar Lavater, Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe (JCLW), hrsg. im Auftrag der Forschungsstiftung und des Herausgeberkreises Johann Caspar Lavater, Zürich 2001ff., Bd.  II: Aussichten in die Ewigkeit, hrsg. von Ursula Caflisch-Schnetzler, Zürich 2001; vgl. auch: Friedrich Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, in: Die Horen, 1. Jg., Hefte 1, 2 und 6, Tübingen 1795. Vgl. u. a. Johann Caspar Lavater, Vermischte Schriften. Zweyter Band, Winterthur [1781], S. 1–262; vgl. Lavater, Ausgewählte Werke (Anm.  2), Bd.  V, Werke 1772–1781, hrsg. von Ursula CaflischSchnetzler, S. 413–623 (Briefe und Auszüge aus Briefen). [Johann Wolfgang Goethe,] Die Leiden des jungen Werthers, Leipzig 1774; [Sophie von La Roche,] Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Von einer Freundin derselben aus Original-Papieren und andern zuverläßigen Quellen gezogen, hrsg. von C. M. Wieland, Leipzig 1771.

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das Beispiel der Briefe von Johann Joachim Spalding an Ludwig Gleim zeigt.5 Die unerwartete Publikation seiner Korrespondenz führte bei Spalding zu großer Irritation und zu einer von ihm verfassten „Beilage“, in welcher sich der Berliner Theologe darüber sehr verärgert zeigte, dass „Dinge, die für das Publikum so durchaus ohne Nutzen“ seien und „unter dem unverletzlichen Schirm der damaligen genauesten Vertraulichkeit geschrieben“ wurden, „der allgemeinen Kenntniß und Beurtheilung preis gegeben“ wurden.6 Gleim hatte den Nutzen dieser Briefe als allgemein wichtiges Kulturgut erkannt und führte daher den mit Spalding in Briefen geführten thematischen Diskurs aus utilitaristischen Gründen auch in den öffentlichen gelehrten Raum. Der Brief wurde im 18. Jahrhundert zum sozialen Medium des Gelehrtendiskurses, befreit von Latinität und Rhetorik. Im deutschen Sprachraum entwickelte sich die Sprache innerhalb der Gesellschaft über die breite Anwendung als Medium vernakulär zu einer Gelehrten- und literarischen Sprache.7 Indem Briefe seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vorwiegend deutsch verfasst wurden und man sich nun auch des „eigenen Verstandes“8 für neue Ideen und Wissensbereiche bediente und hin auf eine allgemeine Glückseligkeit des Menschen zielte, erweiterten sich die Themenfelder und vergrößerte sich der soziale Kreis der sich daran beteiligenden Personen.9 Briefe dienten in ihrer Diskursivität im Zeitalter der Aufklärung der sozialen Vernetzung und führten zum Aufbau von gelehrten Sozietäten und der Entwicklung der Gesellschaft und Sprache. Sie lösten in dieser von Gattungsnormen entgrenzten Funktion eine eigentliche Kulturrevolution aus.10

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[Ludwig Gleim,] Briefe von Herrn Spalding an Gleim, Leipzig  / Frankfurt 1771. Im „Vorbericht“ schreibt der Herausgeber der gegenwärtigen Briefe, dass er „vor vielen Jahren schon, mit Herrn Klopstock und Herrn Gleim, zusammen in einer Gesellschaft“ gewesen sei, „in welcher gewünschet wurde, daß der Herr Gleim seinen gelehrten Briefwechsel herausgeben möchte. Herr Klopstock trat diesem Wunsche bey! Meine Freunde leben aber noch, sagte Herr Gleim, würden sieʼs erlauben? Man muß sie nicht fragen, sagte Herr Klopstock!“ Ebd. S. 2–4. Vgl. Ursula Caflisch-Schnetzler, Die Bedeutung von Kommunikationsnetzwerken für die Entwicklung der deutschen Sprache im 18. Jahrhundert, in: Michael Prinz, Jürgen Schiewe (Hrsg.), Vernakuläre Wissenschaftskommunikation. Beiträge zur Entstehung und Frühgeschichte der modernen deutschen Wissenschaftssprache, Berlin / Boston 2018, S. 87–100. Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift, Dezember-Heft 1784, S. 481–494. Vgl. dazu auch: Michael Maurer, Briefe/Korrespondenz, in: Werner Schneiders (Hrsg.), Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, S. 69–70; hier S. 69: „Man rückte von der Gelehrtensprache, vom lateinischen Periodenbau und von der Kanzleisprache ab, um eine Selbstverständigung unter ‚Gebildeten‘ zu ermöglichen, die allen Bildungswilligen offenstand.“ Norman Kaspar, Jana Kittelmann, Jochen Strobel, Robert Vellusig (Hrsg.), Die Geschichtlichkeit des Briefs. Kontinuität und Wandel einer Kommunikationsform, Berlin  / Boston 2021, S.  1–20 (Einführung).

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„Halte künftighin meine Briefe hübsch in Ordnung“

Einer der wichtigsten Player war dabei Johann Caspar Lavater (1741–1801).11 Obschon sich der Zürcher Theologe und Philosoph immer auch wieder über die Belastung der Menge seiner Korrespondenz beschwerte12 und sich daher vornahm, „ohne Noth, keinen neuen [Briefwechsel] mit jemanden anzufangen“,13 weitete er dennoch gezielt sein Netzwerk auf eine thematische Vollständigkeit hin aus.14 Um diese zu erreichen, integrierte er die schriftliche Kommunikation bald schon in sein Werk und ließ somit das Wissen um die Inhalte seiner Briefe einer erweiterten Leserschaft zukommen.

Abb. 1: Johann Caspar Lavater, Künstler unbekannt (Sammlung Johann Caspar Lavater, Zürich, SJCL_GR_2). 11 12

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Zu Lavaters Werk und Wirken vgl. So schreibt Lavater z. B. am 16. Juni 1773 an Johann Georg Zimmermann, dass „nebst unzähligen Geschäften und Besuchen – wenigstens 45. unbeantwortete Briefe“ zu erledigen seien (vgl. Zentralbibliothek Zürich, Familienarchiv Lavater, Sign.: 589d.2) und sein späterer Biograf Ulrich Hegner (1759–1840) hält in der Lebensbeschreibung von Lavater fest, dass „doch immer zwischen 400–600 unbeantwortete Briefe“ vor ihm gelegen hätten. Vgl. Ulrich Hegner, Lebensbeschreibung, 1752–1798, S. 173, gedruckt in: Horst Weigelt, Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 1991, S. 120. Vgl. Lavater, Ausgewählte Werke (Anm.  2), Bd.  IV: Werke 1771–1773, hrsg. von Ursula CaflischSchnetzler, S. 775 (Unveränderte Fragmente). Vgl. ebd. „Nur Einen [Briefwechsel] noch, sagte ich, mit einem Manne, den du [seine Frau] nicht kennest, der muß mir, wills Gott, noch werden; ohne den kann ich nicht fortkommen […].“ – Vgl. dazu auch Lavaters Korrespondentenverzeichnis in: Lavater, Ausgewählte Werke (Anm. 2), Ergänzungsband. Verzeichnisse der Korrespondenz und des Nachlasses in der Zentralbibliothek Zürich, hrsg. von Christoph Eggenberger, Marlis Stähli, Zürich 2007.

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Zu Johann Caspar Lavater gäbe es viel zu sagen: Sei es zu seinen Wurzeln in der Zürcher Aufklärung,15 zu seinen zahlreichen Werken,16 seinem Amt als Pfarrer an der Waisenhauskirche und später an der Kirche St. Peter in Zürich; sei es zu seiner politischen Tätigkeit,17 zu seinem Einfluss auf die deutsche Sprache als Wissenschaftssprache im 18. Jahrhundert18 oder zur Physiognomik19 und zur Sammlungskultur20. Einer der wichtigsten Aspekte ist jedoch sein epistolares Werk, sein Netzwerk mit gut 1900 Briefpartnerinnen und Briefpartnern,21 einem ‚Who ist Who‘ des 18. Jahrhunderts. Nebst den Besucherströmen aus aller Welt nach Lavaters Heimatstadt Zürich hat dieses Korrespondenten-Netzwerk mit in der Zwischenzeit über 23 000 bekannten Briefen Lavater in einem nie abbrechenden ‚Gespräch‘ mit ganz Europa schriftlich verbunden,22 wie Lavater im Januar 1781 an den Juristen und Schriftsteller und späteren Herausgeber von Schillers erster Gesamtausgabe Christian Gottfried Körner schreibt.23 Johann Caspar Lavater wurde 1741 in Zürich geboren und starb daselbst mit 59 Jahren am 2.  Januar  1801 aufgrund einer Schussverletzung.24 Er hinterließ ein Œuvre von über vier15

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Vgl. dazu: Ursula Caflisch-Schnetzler, „Wegzuleuchten die Nacht menschlicher Lehren, die Gottes Wahrheit umwölkt“. Johann Caspar Lavaters literarische Suche nach dem Göttlichen im Menschen, dargestellt an den Wurzeln der Zürcher Aufklärung, in: Anett Lütteken, Barbara MahlmannBauer (Hrsg.), Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung, Göttingen 2009, S. 497–533. Vgl. Lavater, Ausgewählte Werke (Anm.  2), Ergänzungsband. Bibliographie der Werke Lavaters, hrsg. von Horst Weigelt, Niklaus Landolt, Zürich 2001. Vgl. Lavater, Ausgewählte Werke (Anm.  2), Bd.  I/1: Jugendschriften 1762–1769, hrsg. von Bettina Volz-Tobler, Zürich 2008, S.  37–187 (Der ungerechte Landvogt); Lavater, Ausgewählte Werke (Anm. 2), Bd. VIII: Patriotische Schriften 1798–1801, hrsg. von Dominik Sieber, Zürich 2015. Vgl. Caflisch-Schnetzler, Kommunikationsnetzwerke (Anm. 7). Vgl. Lavater, Ausgewählte Werke (Anm. 2), Bd. IV (Anm. 13), S. 517–708 (Von der Physiognomik). Vgl. Gerda Mraz, Uwe Schögl (Hrsg.), Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater, Wien / Köln / Weimar 1999; Patrick Poch, Ein Zürcher Kunstschatz in Wien – Johann Caspar Lavaters Physiognomisches Kabinett, in: NOLI ME NOLLE. Jahresschrift 2020 der Sammlung Johann Caspar Lavater, S. 6–20; Andreas Moser, Ein „undruckbares physiognomisches Cabinettchen“. Zur Intermedialität bei Lavater, in: ebd. S. 40–62; vgl. [18.12.2022]. Vgl. Lavater, Ausgewählte Werke (Anm. 2), Ergänzungsband. Verzeichnisse der Korrespondenz und des Nachlasses (Anm. 14). Seit 2017 werden im Forschungsprojekt Johann Caspar Lavater: Historisch-kritische Edition ausgewählter Briefwechsel (JCLB) alle Briefe von und an Lavater als Netzwerk (vgl. [28.06.2022]) aufgenommen und die wichtigsten Korrespondenzen daraus digital und als Print-Edition herausgegeben. Vgl. [18.12.2022]. Lavater an Christian Gottfried Körner, 9. Januar 1781, vgl. Lavater, Ausgewählte Werke (Anm. 2), Bd. V (Anm. 3), S. 573 (Vermischte Schriften): „Denken Sie sich an meine Stelle; Das ist in einen Mittelpunkt hinein, in den so viele hundert Linien individueller Menschen zusammenlaufen […].“ Vgl. Nachricht von einem fatalen Vorfall den Pfarrer Lavater betreffend. Geschehen Donnerstags Nachmittags. Den 26.IX.1799 [S. l. 1799], vgl. Lavater, Ausgewählte Werke (Anm. 2), Ergänzungsband.

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hundert Werken;25 zahlreiche Manuskripte liegen noch ungedruckt in der Zentralbibliothek Zürich26 sowie in Archiven und privaten Sammlungen weltweit. Besonders wichtig für das Verständnis der Person und des Werks und Wirkens von Lavater ist jedoch sein gigantisches Briefkorpus. In seiner Korrespondenz sprengte Lavater mit seiner unbändigen Neugier die Grenzen des vorgegebenen Wissens, nahm die Themen der Zeit auf und prägte diese selbst in den Bereichen Theologie, Philosophie, Psychologie, Anthropologie, Pädagogik, Literatur und Kunst entscheidend mit. Bei der Erarbeitung von Lavaters Werken in der historisch-kritischen Werkedition27 wurde neben zahlreichen neuen Forschungsfragen zum 18. Jahrhundert auch Lavaters Publikationsform seiner real verfassten Briefe erkannt. Wie man über die Quellen nachweisen konnte, gab Lavater seine Briefe nicht nur in fiktiver Form heraus, wie in seinem gelehrten Werk, den Aussichten in die Ewigkeit, in Briefen an Johann Georg Zimmermann; er setzte bewusst und gezielt real geschriebene und versandte Briefe in seine Werke ein,28 um seine theologischen und philosophischen Gedanken in dieser personalisierten Form nicht nur an eine Person und den damit verbundenen Personenkreis zu richten, sondern einer breiteren Leserschaft und damit – analog der Apostelbriefe – einer erweiterten Gemeinde mitzuteilen. Lavater und seine Zeitgenossen spannten mit ihren Korrespondenzen ein Netzwerk über ganz Europa. Man war sich der Bedeutung der eigenen Briefe bewusst und erkannte diese als Teil des Gesamtwerks. Daher bemühte man sich auch um deren Rezeption (man denke nur an die zahlreichen Autodafés bestimmter Korrespondenzen) und Überlieferung.29 Die Bedeutung von Lavaters Korrespondenzen für dessen Werk und Wirken und sein Einfluss auf die Briefkultur und die Netzwerke des 18. Jahrhunderts machen evident, dass diese Briefe nicht nur aus der Perspektive der im Hinblick auf die Rezeption bedeutenden Namen – Goethe, Herder, Wieland u. a. m. – gelesen werden dürfen, sondern als Ganzes für eine vernetzte Briefkultur im 18.  Jahrhunderts stehen. Diese Erkenntnis eröffnet der heutigen Forschung neue Felder, welche mit der Digitalisierung, Datengenerierung und Visualisierung – in

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Bibliographie (Anm. 16), Nr. 254. Vgl. Lavater, Ausgewählte Werke (Anm. 2), Ergänzungsband. Bibliographie (Anm. 16). Vgl. Lavater, Ausgewählte Werke (Anm. 2), Ergänzungsband. Verzeichnisse der Korrespondenz und des Nachlasses (Anm. 14). Vgl. [18.12.2022]. Vgl. Lavater, Ausgewählte Werke (Anm. 2), Bd. IV (Anm. 13) (Unveränderte Fragmente); vgl. Lavater, Ausgewählte Werke, Bd. V (Anm. 3) (Vermischte Schriften). Vgl. Johann Wolfgang Goethe an Lavater, 6. März 1780, Universitätsbibliothek Leipzig, Slg. Hirzel, B 114; vgl. Johann Wolfgang Goethe, Briefe, Bd. 4/I (1780–1781), Texte, hrsg. von Elke Richter, Héctor Canal, S. 28–30, hier S. 29: „Halte künftighin meine Briefe hübsch in Ordnung und lass sie lieber heften wie ich mit den Deinigen auch thun werde, denn die Zeit vergeht und das wenige was uns übrig bleibt, wollen wir durch Ordnung, Bestimmtheit und Gewissheit in sich selbst vermehren.“

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ständiger Weiterentwicklung der technischen Möglichkeiten  – in der Born Digital Edition Johann Caspar Lavater: Historisch-kritische Edition ausgewählter Briefwechsel (JCLB) seit 2017 umgesetzt wird.30 Im Forschungsprojekt JCLB werden sämtliche Briefe von und an Lavater digitalisiert und deren Metadaten aufgenommen. Mit der historisch-kritischen Edition der bedeutendsten Korrespondenzen aus diesem Brieffundus kann in JCLB das Umfeld des Autors, können die Diskurse der Zeit und damit auch die gezielt intendierten Netzwerkstrukturen des 18. Jahrhunderts erschlossen werden. In dieser strukturierten Form einer digitalen Edition sind Zusammenhänge aufzeigbar, können Suchfunktionen angelegt und eine Visualisierung und thematische Erschließung der Intensivität und Dichte der gesamteuropäischen Vernetzung Lavaters im Hinblick auf ein breites Themenspektrum und ein internationales europäisches Korrespondentennetzwerk hin evident gemacht werden. Wie im 18. Jahrhundert erkannt, so spielt auch im 21.  Jahrhundert die Frage nach der Langzeitarchivierung dieses epistolaren Werks sowie deren Vernetzung eine zentrale Rolle, damit sich das Wissen in der Forschung auch heute „in sich selbst vermehren“31 kann.

1 Spektren an Themen in Lavaters Korrespondentennetzwerk Beim Zürcher Theologen, Philosophen und Autor Lavater muss man nicht fragen, o b er mit einer bekannten Person des 18.  Jahrhunderts kommunizierte, sondern vielmehr, in welcher Form und Intensität er dies getan hatte. Lavater suchte sich seine Korrespondenzpartner zumeist ganz gezielt nach Themen- und Wissensbereichen aus. So schreibt er am Dienstag, den 10. November 1772 in sein Tagebuch: Indem ich gegen Abend mit meiner Frau Thee trank, klagte ich über die Menge meiner Geschäffte, und berathschlagte mich mit ihr über die Einschränkungen meines Briefwechsels  – Ich nahm mir vor, ohne Noth, keinen neuen mit jemandem anzufangen  – Nur Einen noch, sagte ich, mit einem Manne, den du nicht kennest, der muß mir, wills Gott, noch werden; ohne den kann ich nicht fortkommen; für den hat mein Herz schon mehr geschlagen, als ich sagen dürfte; dem wollte ich schon zehnmal

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Das Forschungsprojekt wurde von 2017 bis 2020 vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanziert; seit 2021 liegt die Förderung bei der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) Vgl. die Online-Edition https://www.jclavater-briefwechsel.ch/home [18.12.2022]. Vgl. Johann Wolfgang Goethe an Lavater, 6. März 1780 (Anm. 29).

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„Halte künftighin meine Briefe hübsch in Ordnung“ schreiben; weil ich aber nicht wußte, wo er war, weil ich auf einen Brief vor 4 Jahren keine Antwort erhalten hatte, und hauptsächlich, weil es mich unbescheiden dünkte, ohne nähere Veranlassung einen solchen Mann zu bemühen, so unterließ ichs … und dieser war – N. 32

„N.“ ist niemand anders als der in Bückeburg als Konsistorialrat wirkende Johann Gottfried Herder, Verfasser der 1772 von der Berliner Akademie preisgekrönten Abhandlung über den Ursprung der Sprache, von dem Lavater noch gleichentags einen Brief erhalten wird33 und dessen Werk er auch dem damaligen königlich britischen Hofrat und Leibarzt Johann Georg Zimmermann aufs wärmste empfiehlt.34 Lavater wählte mit seiner Korrespondenz gezielt Personen aus, mit denen er einen „ZusammentreffungsPunkt“35 hatte, welcher ihn interessierte und in seinem Denken und Wirken weiter bringen konnte. Den wohl umfangreichsten und für ihn bedeutendsten Briefwechsel führte der Zürcher Theologe mit dem um fast zwanzig Jahre älteren gelehrten Schweizer Arzt Johann Georg Zimmermann.36 Zimmermann wurde zu Lavaters eigentlichem Sparring-Partner: Man

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Lavater, Ausgewählte Werke (Anm. 2), Bd. IV (Anm. 13), S. 774–776 (Unveränderte Fragmente). Ebd. S.  776–777 (Unveränderte Fragmente): „Eine Freundin kam, weil ich etwas unpäßlich war, mich eine Stunde zu besuchen, – wir redeten viel Gutes, das ich itzt nachzuhohlen nicht Zeit habe. Leonhard [ein Bediensteter] brachte mir einen Brief von der Post – Eine unbekannte Handschrift – ‚Wieder ein neuer Brief‘, sagte ich gelassen zu meiner Freundin, ‚und erst diesen Abend nahm ich mir vor, ohne dringende Noth mich in keinen neuen Briefwechsel einzulassen‘ –! Ich zerbrach das Siegel – sah nach der Unterschrift – N.! rief ich zweymal aus; N.! o du guter, guter Gott! Ists möglich – Ich wollte lesen, und konnte nicht – erzählte – stammelte – legte den Brief weg – O du väterliche, freundschaftliche, zärtliche Fürsehung meines Gottes! – Die geheimsten Wünsche meines Herzens gewährest du mir, ehe ich sie ausgesprochen hatte.–“ Lavater an Johann Georg Zimmermann, 4. Mai 1773, Zentralbibliothek Zürich, Sign.: FA Lav Ms 589d: „Hast du H e r d e r n v o n d e r S p r a c h e gelesen, – geh hin, wenn du es noch nicht gethan hast, u. verkauf alle Bücher, u. kauf dieses Buch – u. merk, dass so was in Deütschland noch nicht gesehen worden u. dass unter uns ein grosser Prophet auferstanden, u. wahre himmlische Weisheit uns wieder heimsuchen will.“ Lavater an Johann Georg Zimmermann, 15.  März  1775, Zentralbibliothek Zürich, Sign.: FA Lav Ms 589d: „L i c h t e n b e r g könnte mein Freünd werden, wenn wir nur E i n e n ZusammentreffungsPunkt wählten. Seit ich die Welt besser kenne, liegts mir mehr ob, die Menschen nur von d e r Seite gegeneinander zuwenden, wo sie sich anziehen — nicht mehr wie ehemals ganze Menschen mit ganzen Menschen zusammenzuschmelzen — Wer kann verschiedener seyn, wie Goethe u. ich? u. wer mehr zusammenhangen? Mehr — wol! Aber wer fester, an den wenigen Punkten, die sich berühren? S u c h e n mag ich indess keine Freünde mehr. Ich habe g e n u g . K o m m e n mir u n g e s u c h t mehr, mag ichs annehmen.“ Der Briefwechsel Lavater – Johann Georg Zimmermann liegt mit dem Online-Gang von JCLB am 15. November 2022 ediert vor. Vgl. Anm. 30.

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kämpfte zeitweise mit harten Bandagen,37 doch waren die beiden fast ein Gelehrtenleben lang eng als Freunde und Diskussionspartner miteinander verbunden.38 Der zuerst in Brugg, ab 1768 in Hannover tätige renommierte Arzt Zimmermann förderte Lavaters Werke, besonders dessen Physiognomische Fragmente, wählte in der über sechshundert Briefe zählenden Korrespondenz auch klare Worte gegenüber dem Jüngeren, vor allem dann, wenn dieser in seinem Werk zu theologisch wurde oder gar von Wundern sprach, schützte ihn jedoch wie ein Löwe gegen Angriffe von außen und sonnte sich auch gerne in dessen Ruhm.39 Der Briefwechsel zwischen den beiden wurde in Zürich und Brugg, später Hannover von befreundeten Personen mitgelesen, obschon Zimmermann dies nur für den engsten Kreis goutierte.40 In ihrer Korrespondenz äußern sich Lavater und Zimmermann zu den verschiedensten Themenbereichen, Werken und Personen. Neben dem Mehrwert an Wissen ist dies aus heutiger Sicht insofern interessant, als die Wahrnehmung von Personen des 18. Jahrhunderts durch die Rezeption und Fokussierung auf einzelne Exponenten teils gezielt verwischt oder in eine bestimmte Richtung gelenkt wurde. Verschwunden ist zu einem gewissen Teil auch die intensive Auseinandersetzung, sind die klaren, teils sogar deftigen Bezeichnungen und Statements auf die unterschiedlichen Sichtweisen der einzelnen Protagonisten und deren Werke. Ein einheitlicher Kanon zu einer Person und zu deren Werk wurde oft zu Gunsten (oder Ungunsten) über die gerade im 18. Jahrhundert so diversiv geführten Diskussionen zu den verschiedensten Themenbereichen in den Korrespondenzen und Rezensionsjournalen gesetzt. Dies entzieht dem Jahrhundert des Aufbruchs im Nachhinein oft das Feuer der Neugier auf 37

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Lavater an Johann Georg Zimmermann, 3. Mai 1765, Zentralbibliothek Zürich, Sign.: FA Lav Ms 589b: „Ich bin nicht böse auf Sie, wenn Sie mir schon einen Brief geschrieben haben, dem ich nicht die Ehre anthun mögte, ihn unter der Sammlung Ihrer übrigen Briefe zudulden. – Ich sende ihn also zurük; ich habe ihn zweymal gelesen nichts draus copirt, und will keinem Freünde nichts davon sagen.“ Lavater an Johann Georg Zimmermann, 12.  Dezember  1765, Zentralbibliothek Zürich, Sign.: FA Lav Ms 589b: „Ach Gott, wie bin ich so glüklich, zu meinen vielen liebenswürdigen Freünden auch noch S i e zum Herzensfreünd zu haben.“; Johann Georg Zimmermann an Lavater, 3. Mai 1765, Zentralbibliothek Zürich , Sign.: FA Lav Ms 533: „Ich war der Freündschaft für Sie nicht müde, aber die Wahrheit zu gestehen ich war in einer hypochondrischen Laune (wie Sie sich sehr wohl ausdrücken) unserer Correspondenz für eine Weile müde. Diesen Gedanken hätte ich aber verflucht, wenn ich geglaubt hatte, daß unsere Correspondenz unterbrechen so viel heisse als die Bande unserer Herzen zu zerreissen.“ Lavater an Johann Georg Zimmermann, 30.  April 1775, Zentralbibliothek Zürich, Sign.: FA Lav Ms 589d: „Lieber Freünd, dein Streben u. Arbeiten für meinen Ruhm ist mir zwar ein unumstößlicher Beweiss deiner edeln, treüen Freündschaft, aber – genau betrachtet, macht’s mir bange! Wenn meine Schriften nicht w ü r k e n , was hilft Ruhm? u. wenn sie w ü r k e n Ist diess nicht mehr, als aller Ruhm!“ Johann Georg Zimmermann an Lavater, zwischen 3. und 13. März 1766, Zentralbibliothek Zürich, Sign.: FA Lav Ms 533: „Freund, wenn meine Briefe an dich Briefe an das Publicum seyn sollen, so höret unsere Correspondenz auf.“

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„Halte künftighin meine Briefe hübsch in Ordnung“

Neues, noch Unbekanntes, Faszinierendes und setzt die Freundschafts- und Streitkultur in ein anderes Licht und zeigt sie damit nicht als das, was sie damals innerhalb der Gelehrtenwelt gewesen ist. So ist denn kaum bekannt, dass Herders Werk, welches Lavater bekanntlich lange Zeit über alles verehrte, in Zürich stark umstritten und nur bedingt in der dortigen Gelehrtenwelt akzeptiert war.41 Man weiß auch kaum, dass der bekannte Theologe, Philosoph und Pädagoge sowie Verfasser der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste, Johann Georg Sulzer, welcher vom preußischen König Friedrich II. hoch geschätzt wurde und in einem regen Briefwechsel mit Johann Georg Zimmermann stand,42 von Zimmermann widerspruchslos in den Briefen mit Lavater als träger Denker taxiert wurde.43 Aus der Korrespondenz zwischen Lavater und Zimmermann kann man auch herauslesen, dass Lavater Albrecht von Haller in jungen Jahren in Bezug auf die 1766 verfasste Abhandlung von der unausdenklichen Theilbarkeit des Raumes u. der Zeit44 als Referenz anerkannte,45 Zimmermann jedoch, der Haller bekanntlich als Arzt und Biograf beschrieb46 und ihn offiziell hoch schätzte, den alternden Haller bei seinem Besuch in der Schweiz als einen alten, inkontinenten Trottel bezeichnete.47

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Vgl. dazu Lavater an Johann Gottfried Herder, 6.  April  1775, Zentralbibliothek Zürich, Sign.: FA  Lav  Ms  564: „Und in Zürich, wir beyd [Johann Conrad Pfenninger und Lavater] und Hess [Johann Jacob Hess] ausgenommen – so wahr ich lebe, s a i s i e r t dich keine Seele. Schad der Lichtzeit, die so wahr ich lebe, so finster – ist, dass man sie greifen kann.“ Vgl. Johann Georg Sulzer, Johann Georg Sulzer  – Johann Jakob Bodmer. Briefwechsel. Kritische Ausgabe, hrsg. von Elisabeth Décultot, Jana Kittelmann, 2 Bde., Göttingen 2020, Bd. 1, S. XXXVIII (Einleitung), Anm. 122. Lavater an Johann Georg Zimmermann, 23.  Dezember  1766, Zentralbibliothek Zürich, Sign.: FA Lav Ms 589b: „Weil aber Sulzer w e n i g denkt, selten denkt, und ich viel, so habe ich mich oft neben Sulzer verführen lassen, zuvermuthen: Sulzer sey ein mittelmässiger Kopf. Sulzer war zu träg zudenken.“; Lavater an Johann Georg Zimmermann, 19./21. März 1775, Zentralbibliothek Zürich, Sign.: FA Lav Ms 589d: „S u l z e r verbarmt mich in seiner öftern innern L e e r h e i t . Er hat sich zulange dem N i c h t d e n k e n , den Z e r s t r e ü u n g e n überlaßen […].“ Vgl. Zentralbibliothek Zürich, Sign.: FA Lav Ms 55a. Vgl. Ursula Caflisch-Schnetzler, Johann Caspar Lavater. Jugendjahre. Vom Wert der Freundschaft, Zürich 2023, S. 181–242. Lavater an Johann Georg Zimmermann, 29.  Oktober  1766, Zentralbibliothek Zürich, Sign.: FA Lav Ms 589b: „Diese Abhandlung ist der Naturforschenden Gesellschaft gewiedmet. Sie ist mehr physisch als metaphysisch. Es fehlt mir izt hauptsächlich noch die Kenntnis der Hypothesen von Haller u. andern, die der Beweiß von der unendlichen Theilbarkeit über die anscheinende Unmöglichkeit wegsetzt. Ich habe einmal sagen gehört Haller süponire, Jedes Bild jeder Gedanke lasse einen physischen Eindruk im Hirn. Wo kann ich das nachlesen?“ Das Leben des Herrn von Haller von D. Johann Georg Zimmermann, Stadt-Physicus in Brugg, Zürich 1755. Johann Georg Zimmermann an Lavater, 11.  September  1775, Zentralbibliothek Zürich, Sign.: FA Lav Ms 533: „Haller […] empfieng mich den 30. August schlechter als man einen Hund empfängt. […] der Sauertopf pisste indessen und fiel immer unserer Konversation mit seinem Harn in die Quere. […] und [ich] schwur auf meine Seele daß ich diesen Klotz bis zu meiner Abreise nicht wieder sehen wolle.“

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Für die Rezeption von literarischen Texten eine äußerst interessante Trouvaille aus dem Briefwechsel Lavater – Zimmermann ist das Gedicht, welches Band I von Lavaters Physiognomischen Fragmenten beschließt. Bekannt ist, dass die Manuskripte zu den einzelnen Bänden von Lavaters Physiognomischen Fragmenten zur Korrektur und Einsicht nach Frankfurt, später nach Weimar an Goethe geschickt wurden.48 Zimmermann seinerseits überwachte das Werk und war froh, dass Lavaters „S c h w ä r m e r e y, Göthens (von mir vermuthete) F r e y d e n k e r e y, und d e i n und Göthens G e n i e“ nach Zimmermanns Begriffen „ein g a n t z vortrefliches Medium von E n g e l und von M e n s c h “ seien,49 was sich auch in den Physiognomischen Fragmenten widerspiegeln sollte. In der Korrespondenz zwischen Lavater und Zimmermann vor der Publikation des ersten Bandes geht es in den Jahren 1774 und 1775 im Speziellen auch um dessen Abschluss. Er sollte ganz besonders sein und das Werk in seiner ganzen Intention und Innovation zusammenfassen. Als Zimmermann die letzten Bogen des ersten Bandes der Physiognomischen Fragmente jedoch gedruckt in Händen hielt, fiel die Enttäuschung, ja die Entrüstung über das dort gesetzte „Lied eines physiognomischen Zeichners“ äußerst heftig aus: Auch deine Physiognomik ist nun gantz in meinen Händen. Von der Gierigkeit mit welcher ich nach dem lezten Bogen gegriffen habe, hast du keinen Begriff. Du erinnerst dich doch was du mir von dem Beschluß geschrieben (dem einzigen einfältigen Beurtheilungspunkt etc.) in dem alle Kraft und Stärke des gantzen Werkes zusammengepresst seyn sollte, den der Löwe Göthe selbst zu stark finde, zu dem sich Licht und Kraft des gantzen Werkes verhalten sollen wie zum Feüer des Himmels das blasse Licht einer Lampe?  – und was fand ich? Herr Jesus – d a s L i e d e i n e s p h y s i o g n o m i s c h e n Z e i c h n e r s 50. Ja wohl sagtest du den 5. May mit gröstem Rechte: „Laß mich, lass mich meinen Gang gehen! Tret ich a u s s e r meinen K r e i s , bin ich verloren!“ Aber warum sagst du das auch nicht jenen Freünden die dich veranlasset haben das genievollste Werk, das jemals aus einer menschlichen Feder geflossen ist, so saft und kraftlos zu beschliessen? […] Liebe Seele wie konnte doch dein starker Kopf sich so weit vergessen, daß du an diese wichtige Stelle das schlechteste Lied hinsetztest, das du in deinem Leben gemacht hast? Bedenkʼ doch einmal diese 48

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Lavater an Johann Georg Zimmermann, 11./12.  März  1775, Zentralbibliothek Zürich, Sign.: FA  Lav  Ms  589d: „Beruhige dich in den Stunden der Angst, die ich ganz i n d i r fühle, mit dem Gedanken, d a s s j e d e Z e i l e d u r c h G o e t h e s H ä n d e g e h t , der mein wahrer B r u d e r ist.“; vgl. auch Eduard von der Hellen, Goethes Anteil an Lavaters Physiognomischen Fragmenten, Frankfurt a. M. 1888. Johann Georg Zimmermann an Lavater, 14. Dezember 1774 bis 17. Februar 1775, Zentralbibliothek Zürich, Sign.: FA Lav Ms 534. Vgl. Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Bd. I, Leipzig / Winterthur 1775, S. 272: „Beschluß. Lied eines physiognomischen Zeichners.“

242

„Halte künftighin meine Briefe hübsch in Ordnung“ Zeilen Ein l u s t g e r Springbrunn wirst du mir Aus tausend Röhren s p i e l e n . Mein Gott, das ist ja wie ein Bänkelsänger gesungen! – Verzeih, verzeih mir, meinen Ärger um deiner Ehre willen. […] Gestern schrieb ich an Reich, und setzte ihm die Pistole auf die Brust um zu wissen, ob nicht dieser f a d e Gellertsche Magister deinen b l i t z e n d e n Schluß weggestrichen, und dagegen das Lied des physiognomischen Zeichners hingesetzet habe?51

Lavater geht nur kurz auf Zimmermanns Gezeter ein, indem er lapidar schreibt: „L i e d des physiognomischen Zeichners ist von G o e t h e beygefügt. – ist nicht reintönend, u. etwas gezwungen doch Genie!“52

2 Nachhaltigkeit der Datenstrukturen und Modellierung von digitalen Editionen bei gleichzeitiger Wertschöpfung des Quellbestandes Das Forschungsprojekt Johann Caspar Lavater: Historisch-kritische Edition ausgewählter Briefwechsel (JCLB) erschließt und visualisiert die Netzwerkstruktur von Lavaters gesamter Korrespondenz auf Grund der erarbeiteten Metadaten. Die daraus ausgewählten Briefwechsel werden in digitaler Form online und als Printausgabe historisch-kritisch ediert.

Abb. 2: Startseite der Historisch-kritischen Edition ausgewählter Briefwechsel.

51 52

Johann Georg Zimmermann an Lavater, 22. Mai 1775, Zentralbibliothek Zürich, Sign.: FA Lav Ms 534. Lavater an Johann Georg Zimmermann, 30.  Mai  1775, Zentralbibliothek Zürich, Sign.: FA Lav M 589d.

243

Ursula Caflisch-Schnetzler

Dies geschieht in enger Zusammenarbeit mit dem Trier Center for Digital Humanities (TCDH), der Zentralbibliothek Zürich (ZB) und der IT-Abteilung der Universität Zürich, der S3IT (Service and Support for Science). Die Langzeitarchivierung der Metadaten wird national über das Swiss National Data and Service Center for the Humanities (DaSCH) erfolgen.

Abb. 3: Beteiligte Institutionen. Born Digital Editionen wie JCLB konzipieren sich von Grund auf neu und denken auch die machbaren Möglichkeiten und Fragen der Persistenz, der Nachhaltigkeit und Nachnutzbarkeit der Daten, der Vernetzung (auch über die Editionsgrenzen hinaus) und der zu berücksichtigen Rechte in ihrer Konzeption von Anfang an mit. Daten müssen bekanntlich nach den FAIR-Prinzipien angelegt sein, daher einen weltweit eindeutigen Identifikator haben (findable), standardisiert abrufbar sein (accessible), eine formale, allgemein zugängliche gemeinsam genutzte Sprache verwenden (interoperable) und auch weiter nutzbar sein (reusable). Für den Workflow von JCLB wird in der Zentralbibliothek Zürich die gesamte dort vorhandene Korrespondenz von und an Lavater digitalisiert, mit Metadaten versehen und als TIFFs (Tagged Image File Format) auf die Bibliotheks-Plattform e-manuscripta gestellt. Von dort importiert das TCDH die Digitalisate als JPEGs (Join Photographic Experts Group) in JCLB. Neben dem Bestand in der Zentralbibliothek Zürich werden über eine gezielte Suche weltweit zudem weitere Briefe von und an Lavater in Bibliotheken, Archiven und in Privatsammlungen eruiert, als Digitalisate in einer bestimmten Qualität aus den Institutionen bestellt, je nach Format für JCLB beschnitten und deren Metadaten für den Import über das TCDH aufgenommen. 244

„Halte künftighin meine Briefe hübsch in Ordnung“

Das TCDH stellt das in Trier entwickelte, XML basierte Transkriptionstool transcribo als interaktives Werkzeug zur Transkription der Manuskripte zur Verfügung. Dieses, wie auch die virtuelle Forschungsumgebung zur Erfassung, Erschließung, Analyse und Kommentierung des Briefkorpus FuD, wurden und werden in enger Zusammenarbeit mit dem Forschungsprojekt in Trier auf das Editionsprojekt JCLB angepasst und weiter entwickelt. Die modulare interaktive internetbasierte Online-Plattform zur Präsentation des gesamten Briefbestandes sowie zur Erforschung und Visualisierung von Kommunikationsstrukturen und inhaltlichen Zusammenhängen wird ebenfalls in enger Zusammenarbeit zwischen Forschung und Entwicklung aufgebaut. Eine Vernetzung der nach FAIR-Prinzipien erstellten Daten ermöglicht zudem eine Zusammenarbeit über die Editionsgrenzen hinaus. So ist eine Schnittstelle mit der Goethe-Edition im Aufbau; Schnittstellen zu weiteren digitalen Editionen sind geplant. Dank der Datenhomogenisierung ist zudem eine Verbindungen zu bereits bestehenden digitalen Plattformen (GND/metagrid.ch etc.), Literaturverwaltungsprogrammen (Zotero) und Bilddatenbanken möglich. Die digitale Online-Präsentation von JCLB verdeutlicht den dualen Aufbau der Edition in Netzwerk und Briefwechsel. Je nach Forschungsfrage kann eine Visualisierung auf verschiedenen Ebenen analysiert und präsentiert werden, da die Daten ergänzbar sind, korrelieren und sich interdisziplinär verbinden. Damit können auch einzelne Forschungsfragen aus den verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen aus den Briefwechseln extrahiert, verglichen und auf Forschungsaspekte hin untersucht werden. Philologische digitale Editionen haben mit der Aufnahme dieser ungeheuren Datenmengen ganz neue Möglichkeiten der Erforschung und Visualisierung von Quellen. In der engen Zusammenarbeit mit den verschiedenen Partnerinstitutionen rund um die Frage nach einem standardisierten Datenaufbau für JCLB und deren Nachhaltigkeit und Nachnutzung wird die Interoperabilität zentral. Die Voraussetzungen dafür finden sich in den Kompetenzzentren für Digital Humanities und in nationalen Infrastrukturen und Forschungsplattformen für Editionen, in denen ein standardisierter Wissenstransfer gewährleistet ist. Mit der digitalen Edition und damit einer äußerst genauen, hoch aufgelösten Abbildung von Quellen in reproduzierter Form wird die Materialität eines Quelldokuments auch außerhalb der Gedächtnisinstitutionen und damit für die Forschung öffentlich einsehbar. Die Digitalisierung des Originals zeigt auch dessen Materialität, so dass in einer digitalen Brief-Edition die Handschrift, das Papier, die Faltung des Briefes, das Wasserzeichen, die Spuren der Beförderung, der Druck der Feder, die Tinte, der Schreibbogen der Handschrift, die Art der Korrekturen, die Art und Farbe des Siegels sowie – falls noch vorhanden – das Kuvert und die schriftlichen Beigaben erkennbar werden. Mit der Digitalisierung der Briefe wird deren Sichtbarkeit zum unverzichtbaren Teil der Edition, was neue Forschungsfragen auch in Bezug auf deren Materialität, die Transportwege etc. aufwirft. 245

Ursula Caflisch-Schnetzler

Der Digitalisierungsprozess der gesamten Lavater-Korrespondenz hat auch Einfluss auf den Originalbestand. Dieser wird vor der Digitalisierung der Briefe in der Zentralbibliothek Zürich vollständig durchgesehen und gereinigt (bei Schäden wie Tintenfraß oder Ausriss auch entsprechend restauriert) und über die Metadaten neu katalogisiert. Die Materialität der LavaterBriefe kann daher nach deren Digitalisierung nicht nur online über die Bibliotheksplattform e-manuscripta und über die mit ihr verbundene digitale historisch-kritischen Lavater-Edition eingesehen werden, sondern ist mit diesem Prozess auch nachhaltig im Originalbestand des Lavaternachlasses der Zentralbibliothek Zürich für weitere Jahrhunderte in bestem Zustand erhalten. Wie Goethe 1780 mahnend an Lavater geschrieben hatte, sich um seine Korrespondenz zu kümmern, so ist man mit der Digitalisierung im 21. Jahrhundert ebenfalls bemüht, die Briefe von und an den Zürcher Theologen und Philosophen Johann Caspar Lavater weiterhin ‚hübsch in Ordnung‘ zu halten. Mit dem Forschungsprojekt Johann Caspar Lavater: Historisch-kritische Edition ausgewählter Briefwechsel ist es zudem möglich, das gesamte Briefkorpus von Lavater mit „Bestimmtheit und Gewissheit“ durch die digitale Aufarbeitung und Vernetzung und durch den Erhalt des Bestandes „in sich selbst [zu]vermehren“.53 Anhand der generierten Daten in der Edition und den Netzwerkstrukturen können neue Erkenntnisse und Schwerpunkte in der Aufklärungs-Forschung gesetzt werden, was nicht nur der Wissenschaft zu Gute kommt, sondern das Feld auch weiteren interessierten Personen öffnen wird. Im 18.  Jahrhundert entwickelte sich die deutsche Sprache über die Korrespondenzen zu einer eigentlichen gelehrten Kultur- und Schriftsprache. Briefe dienten nicht ausschließlich der bilateralen Konversation, sondern wurden auch als Abschriften und in gedruckter Form multipliziert und damit als soziales Medium ins allgemeine Kulturgut überführt. Mit den ‚Funktionen‘ des gemeinsamen Lesens, Kopierens und Weiterleitens von Briefen sowie der inhaltlichen Öffnung auf ein erweitertes Publikum hin war man damals  – wie es heute in den sozialen Medien verstärkt der Fall ist – bereits einer breiteren öffentlichen Meinung ausgesetzt, welche im Zeitalter der Aufklärung noch für den Gebrauch des ‚eigenen Verstandes‘ postulierte, jedoch mit diesem kulturellen Wandel bereits verstärkt Einfluss auf das eigene Werk und Wirken ausübte.

53

Vgl. Johann Wolfgang Goethe an Lavater, 6. März 1780 (Anm. 29).

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Historische Korrespondenzen und Social Media Analytics Eine experimentelle Analyse der Briefe aus Jean Pauls Umfeld Frederike Neuber

1 Einleitung Wenn es Kontinuitäten zwischen der Briefkultur um 1800 und den Social Media der Gegenwart gibt,1 sollten die Strukturen und Praktiken beider Kommunikationsräume auch mit gleichen oder zumindest ähnlichen Methoden untersuchbar sein, so lautet die Eingangsthese dieses Beitrags. Während wissenschaftliche Editionen traditionell Gegenstand und Ergebnis qualitativer Forschung sind, in denen der Einzeltext oder wenige Texte im Zentrum der Bearbeitung und Argumentation stehen, werden die umfangreichen Datenkorpora der Social Media vorrangig aus quantitativer Perspektive analysiert, und zwar in den verschiedensten Disziplinen. Durch den digitalen Wandel der Gesellschaft ist das Sammeln, Überwachen, Analysieren und Visualisieren von Informationen aus den sozialen Medien im letzten Jahrzehnt unter anderem für Kommunikationswissenschaft, Wirtschaft, Informatik, Politik und öffentliche Verwaltung

1

Zahlreiche Beiträge, die Kontinuitäten und Diskontinuitäten von ‚analoger‘ und ‚digitaler‘ Kommunikation beleuchten, finden sich in diesem Band; für weitere siehe u.  a.  Caroline König, Rosina Ziegenhain, Neuere Kommunikationsmedien im Vergleich zum Brief. E-Mail, SMS, WhatsApp und Facebook, in: Marie Isabel Matthews-Schlinzig, Jörg Schuster, Gesa Steinbrink, Jochen Strobel (Hrsg.), Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Berlin / Boston 2020, S. 1508– 1517; Stephan Elspaß, Alter Wein und neue Schläuche? Briefe der Wende zum 20. Jahrhundert und Texte der neuen Medien. Ein Vergleich, in: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie, 64  (2002), S. 7–31; Joachim Höflich, Julian Gebhardt, Vermittlungskulturen im Wandel. Brief, E-Mail, SMS, in: Dies. (Hrsg.), Vermittlungskulturen im Wandel. Brief, E-Mail, SMS, Frankfurt a. M. 2003, S. 39–61.

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Frederike Neuber

immer relevanter geworden.2 Diesem Kontext entstammen die Social Media Analytics, die als interdisziplinäres Forschungsfeld und Querschnittsmethode wissenschaftliche Verfahren zur Auswertung von sozialen Interaktionen und Inhalten entwickeln.3 Das dabei entstehende ‚distant reading‘4 der Kommunikation, das sich von der Detaillektüre einzelner Texte löst, schafft eine abstrakte und übergeordnete Perspektive auf große Textmengen,5 in der allgemeine Merkmale und Muster der Social Media-Kommunikation erkennbar werden. Ein Transfer der Methoden der Social Media Analytics auf historische Korrespondenzen kann nicht nur einen neuen Blick auf die Strukturen und Dynamiken epistolarer Kommunikation generieren, sondern eröffnet auch einen digitalen Spielraum, in dem sich ‚Social-Media-haftigkeit‘ der Briefkultur um 1800 entfalten kann. Anhand der Korrespondenz im Umfeld Jean Pauls, geführt von Familie, Freundinnen und Kolleginnen des Schriftstellers, erprobt der Beitrag einen Methodentransfer von Social Media Analytics auf die Untersuchung historischer Briefkommunikation. Seit 2019 wird ein ausgewählter Briefbestand aus Jean Pauls Umfeld an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ediert und erscheint seit 2020 als Teilkorpus auf der Editionsplattform Jean Paul – Sämtliche Briefe digital.6 Ausgehend von dem Verständnis des Umfeldes als ‚Social Media-Community um 1800‘ vergleicht der Beitrag zunächst die Charakteristika von Daten aus 2

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Für einige Beiträge aus verschiedenen Kontexten siehe Klaus Bruhn Jensen, A Handbook of Media and Communication Research. Qualitative and Quantitative Methodologies, New York / London 32020; Markus Strohmaier, Maria Zens, Analyse Sozialer Medien an der Schnittstelle zwischen Informatik und Sozialwissenschaften, in: Christian König, Matthias Stahl, Erich Wiegand (Hrsg.), Soziale Medien. Gegenstand und Instrument der Forschung, Wiesbaden 2014, S. 73–95; Stefan Stieglitz, Tobias Brockmann, Linh Dang Xuan, Usage of social media for political communication, in: Proceedings of 16th Pacific Asia conference on information systems, Ho Chi Minh City 2012; Daniel Zeng, Hsinchun Chen, Robert Lusch, Shu-Hsing Li, Social media analytics and intelligence, in: IEEE Intelligent Systems, 25.6 (2010), S. 13–16. Vgl. Stefan Stieglitz, Linh Dang-Xuan, Social media and political communication. A social media analytics framework, in: Social Network Analysis and Mining, Jg. 3, H. 4 (2013), S. 1277–1291, hier S. 1290. Unter dem maßgeblich von Franco Moretti geprägten Schlagwort ‚distant reading‘ versteht man Methoden und Verfahren der digitalen Literaturwissenschaft zur computationellen Analyse von großen Mengen an Textdaten. Das Lesen einzelner Texte wird demgegenüber als ‚close reading‘ bezeichnet. Vgl. Franco Moretti, Conjectures on World Literature, in: New Left Review, 1 (2000). Neben quantitativen Analysen von Daten der sozialen Medien, die numerisch-statistische Ergebnisse liefern, kommen qualitative Verfahren vorrangig in Userstudien wie Interviews oder Fokusgruppen zum Einsatz. Qualitative Verfahren können tiefe Einblicke in Verhaltensweisen der User geben, sind aber meist wesentlich aufwendiger durchzuführen und ihre Ergebnisse nicht generalisierbar bzw. repräsentativ. Vgl. Karen E. Sutherland, Strategic Social Media Management. Theory and Practice, Singapur 2020, hier S. 14–16. Digitale Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld, bearbeitet von Selma Jahnke, Michael Rölcke, 2020–2022, in: Jean Paul – Sämtliche Briefe digital, hrsg. im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen

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Historische Korrespondenzen und Social Media Analytics

Editionen und Social Media und illustriert den Analyseworkflow. Es folgt die Übertragung von drei Metriken der Social Media Analytics auf das Korpus der Umfeldbriefe, die Aufschlüsse über die Rolle der Korrespondentinnen im Korpus, die Gewichtung der verhandelten Inhalte sowie die Tonalität der Kommunikation geben. Anhand dieser exemplarischen Analysen werden Potenziale, Herausforderungen und Ergebnisse des experimentellen Methodentransfers sichtbar und diskutierbar.

2 Jean Pauls Umfeld als Social Media-Community Soziale Netzwerke sind kein reines Internetphänomen. Konstitution und Dynamik digitaler Netzwerke wie Facebook, Twitter und Instagram weisen Ähnlichkeiten zu den Briefnetzwerken des 18. und 19. Jahrhunderts auf. In beiden Kommunikationsräumen formieren sich Communities, d.  h.  Gruppen von Individuen, die Bekanntschaften und Interessen teilen. Das Umfeld Jean Pauls konstituiert sich durch die gemeinsame Bekanntschaft zum Schriftsteller, direkt oder über Dritte.7 Zu dem derzeit aus 1156 Briefen bestehenden Editionskorpus (Stand Juni 2022, v.5.0)8 zählen u. a. Caroline Richters Korrespondenz jenseits der Briefe mit ihrem Ehemann Jean Paul, die Briefe ihrer Schwester, der Berufsschriftstellerin Minna Spazier, sowie die Korrespondenzen von Jean Pauls Freunden, darunter der vielvernetzte jüdische Kaufmann Emanuel (Osmund). Innerhalb des Umfeldkorpus lassen sich verschiedene Kommunikationszirkel ausmachen, darunter das ‚Familiennetz‘ des Ehepaars Richter mit den Kindern Emma, Max und Odilie oder die Korrespondenzgruppe, die sich während Jean Pauls Zeit in Weimar bildete, der u. a. Caroline Richter und Johann Gottfried Herder angehören. Wie in den Social Media von heute (Stichwort Influencerinnen) gibt es auch in der Umfeldcommunity einige Personen, darunter Caroline Richter, die Kommunikation besonders stark bündeln.9

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Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller, Frederike Neuber, 2018–2022, [29.6.2022]. Wenn von Jean Pauls ‚Umfeld‘ die Rede ist, dann sind damit die Akteurinnen gemeint, deren Briefe für die Edition ausgewählt wurden. Das tatsächliche Umfeld war freilich wesentlich größer und ist – das liegt in der ‚Natur‘ des Umfelds – nicht klar eingrenzbar. Siehe Daten der Edition Jean Paul  – Sämtliche Briefe digital (Version  5.0), hrsg.  im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert Miller, Frederike Neuber, 2018–2022, Versionspaket , Daten [29.6.2022]. Damit stimmt überein, dass Schreibhandlungen zur Pflege des Umfeldes und der Kontakte mit Familie, Freunden und Bekannten eher als geschlechterspezifisch weibliche Domäne gelten; siehe David Barton, The Social Nature of Writing, in: David Barton, Roz Ivanic (Hrsg.), Writing in the

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Frederike Neuber

Charakteristisch für die Briefkommunikation um 1800 ist deren Multipolarität. Briefe wurde oft gemeinschaftlich verfasst, waren an mehrere Personen gerichtet oder wurden von Dritten, die nicht zum expliziten Empfängerkreis gehörten, gelesen oder gar kommentiert. Ähnlich verhält es sich heute in den sozialen Medien, in denen Postings oft öffentlich oder teilöffentlich sind, und von Dritten kommentiert und geteilt werden. Ebenso wie diese Postings stehen auch die Umfeldbriefe, wie die Briefkultur um 1800 im Allgemeinen, im ständigen Spannungsfeld von Privatheit und Öffentlichkeit, wobei die Bedeutung dieser Begriffe kontextuell gebunden und wandelbar ist.10 Die Kommunikationsformen der Korrespondentinnen sind damals wie heute teilweise konventionalisiert, um den eigenen sozialen Stand oder Beziehungen und Haltungen zu bestimmten Personen oder Themen auszudrücken. Während in den Social Media rhetorische Marker wie Emojis die Tonalität des Geschriebenen unterstützen, ist die ‚Stimmung‘ in historischen Briefen dem Text und seiner sprachlichen Gestaltung inhärent.11 Der ‚Kitt‘ der epistolaren Kommunikation sind gemeinsame Themen und Interessen. Ähnlich wie Userinnen auf Instagram unter den Hashtags #travelgram oder #instatravel von ihren Reisen berichten, ergeben sich im Umfeldnetzwerk thematische Bündelungen der Briefe zum Thema Reisen, wenn auch ohne Markierung durch ein entsprechendes Hashtag.12 Sowohl in den Social Media des World Wide Web als auch im sozialen Medium Brief gestalten die User die Inhalte selbst (i. e. ‚user generated content‘), weshalb diese „Informationen zu allen möglichen Lebensbereichen enthalten [können], die kaum professionell oder institutionell gefiltert würden oder den Anspruch hätten, Teil einer soziopolitischen Öffentlichkeit zu sein.“13 Dies gilt auch für die Edition der Umfeldbriefe, die durch die Verhandlung von Themen wie Kindererziehung, Feierlichkeiten, Finanzen und Krankheiten Einblicke in das Leben bürgerlicher Kleinfamilien um 1800 gibt.

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Community, Newbury Park  1991, S.  1–13; Joachim R.  Höflich, Kommunikationswissenschaft, in: Handbuch Brief (Anm. 1), S. 96–107, hier u. a. S. 104. Zum einen ist der Grad des Öffentlichen im Internet nicht mit der des Briefes um 1800 vergleichbar. Zum anderen definiert sich Privatheit meist individuell. Vgl. Dirk Hermanns, Andrea Koenen, Bertram Konert, René Michalski, Werkstattbericht: Interdisziplinärer Diskurs über den Wandel der Privatheit und die Rolle der Medien, in: Ralph Weiß, Jo Groebel (Hrsg.), Privatheit im öffentlichen Raum. Medienhandeln zwischen Individualisierung und Entgrenzung, Opladen 2002, S. 557. In Briefen wie in E-Mails sind die Formulierungen bei Anrede und Grußformel beispielsweise Marker für den Grad der Intimität zwischen Korrespondentinnen; vgl.  Bettina Beer, Ethnologie, in: Handbuch Brief (Anm. 1), S. 125–140, hier S. 137. Durch die Intermedialität der Nachrichten auf Social Media-Kanälen wie Instagram, YouTube oder TikTok, die im Wesentlichen aus (bewegten) Bildern bestehen, kann man keine direkte Analogie zwischen Reiseberichten aus sozialen Medien und Reiseschilderungen aus historischen Briefen ziehen. Das Bedürfnis, über die Planung und das Erlebnis ‚Reisen‘ zu berichten, stellt aber ein Kontinuum dar. Vgl. Ingo Breuer, Reisebriefe, in: Handbuch Brief (Anm. 1), S. 611–629, hier S. 628. Strohmaier, Zens, Analyse Sozialer Medien (Anm. 2), hier S. 73.

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Historische Korrespondenzen und Social Media Analytics

3 Editionsdaten als ‚Smart Data‘ Auch wenn es sich sowohl bei Social Media-Inhalten als auch bei digitalen Editionstexten im Kern um Datensätze handelt,14 unterscheiden sich diese in einigen Punkten grundlegend. Datensätze sozialer Netzwerke kann man über technische Schnittstellen, Screen Scraping oder über spezielle Monitoring-Tools beziehen,15 oft in Echtzeit. Auch wenn die Daten der Social Media für Auswertungen meist vorverarbeitet werden, beispielsweise durch die Extraktion von Metadaten, ist die Überlieferung relativ unmittelbar auch Analysedatensatz. Demgegenüber wird die Überlieferung historischer Korrespondenzen durch die digitale Edition bzw. ihre Kodierung repräsentiert, in welcher editorische Entscheidungen über die Erfassung und Erschließung des Textes zum Tragen kommen.16 Die Distanz zwischen originärer Kommunikation und Daten ist bei Briefkorpora damit grundsätzlich größer als bei Social Media-Datensets. Neben der Distanz zwischen Daten und Überlieferung unterscheiden sich Social MediaKorpora und Editionsdaten vor allem in Qualität und Umfang. Die „Sozialen Medien [bieten] zwar eine Überfülle von Informationen (Big Data), aber zunächst einmal keine hoch-qualitativen Daten im herkömmlichen Sinn“,17 wie sie in digitalen Editionen vorliegen und welche in die Kategorie ‚Smart Data‘ fallen, die Christoph Schöch wie folgt definiert: Smart data is data that is structured or semi-structured; it is explicit and enriched, because in addition to the raw data, it contains markup, annotations and metadata. And smart data is ‚clean‘, in the sense that imperfections of the process of capture or creation have been reduced as much as possible, within the limits of the specific aspect of the 14

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Zum Verständnis von Editionen als Daten siehe Patrick Sahle, Zwischen Mediengebundenheit und Transmedialisierung. Anmerkungen zum Verhältnis von Edition und Medien, in: editio, Bd.  24 (2010), S. 23–36. Vgl. Jensen, A Handbook of Media and Communication Research (Anm. 2), S. 319. Bei technischen Schnittstellen bzw.  Application Programming Interfaces (APIs) obliegt es den Anbieterinnen der Daten, welche Informationen sie herausgeben, u.  a.  Twitter stellt seine Daten über APIs zur Verfügung. (Screen) Scraping ist bei der Datenaggregation wesentlich aufwendiger und bezeichnet die Sammlung von Daten über Website-Frontends, d. h. über die graphische Benutzeroberfläche. Kommerzielle Monitoringtools integrieren meist Netzwerke wie TikTok oder Facebook und bieten über Dashboards verschiedene Analyseoptionen an, die Unternehmen v. a. dazu nutzen, um zukünftige Entwicklungen wie Trends und Kundeninteressen zu prognostizieren. Die editorische Bearbeitungsschicht kann den Informationsgehalt der Überlieferung einerseits reduzieren, wenn beispielsweise textkritische Phänomene stillschweigend normalisiert werden, sie andererseits aber auch mit neuem Wissen anreichern, beispielsweise durch die Referenzierung von Personennamen auf Normdatensätze. Strohmaier, Zens, Analyse Sozialer Medien (Anm. 2), S. 74.

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Frederike Neuber original object being represented. This also means that smart data tends to be ‚small‘ in volume, because its creation involves human agency and demands time.18

Mit 1156 Dokumenten, die als Briefe eine Textlänge von einigen Seiten nicht überschreiten, ist das Korpus der Umfeldbriefe sowohl aus Sicht der Social Media Analytics als auch aus Perspektive der quantitativen Textanalyse ein eher kleines, aber ein ‚intelligentes‘ Datenset. Die Briefe liegen im Standardformat XML vor und sind nach den Richtlinien der Text Encoding Initiative (TEI),19 dem De-Facto-Standard zur Kodierung wissenschaftlicher digitaler Editionen erfasst.20 Mit der TEI werden sowohl strukturelle Informationen zur Textgestalt (z. B. Überschrift, Absatz, Zeile) als auch inhaltlich angereicherte Informationen (z. B. zu textkritischen Phänomenen, zu Personen- oder Ortsnamen) explizit kodiert. Damit kann man diese Informationen nicht nur in einer digitalen Edition visualisieren, sondern sie auch computergestützt auswerten, um Muster, Beziehungen und Anomalien in Bezug auf das Gesamtkorpus festzustellen. Entscheidend für ‚smarte Daten‘ ist außerdem das Vorhandensein und die Qualität von Metadaten, d. h. von Informationen, mit denen das eigentliche Datenset beschrieben wird. Für die im Beitrag anvisierten Analysen sind vor allem zwei Informationstypen relevant: Briefmetadaten und (thematische) Verschlagwortung. Die strukturierte Erfassung der Briefmetadaten mit dem TEI-Element umfasst Informationen zu Senderinnen, Sendedatum und -ort sowie Empfängerinnen. Diese sind, wenn vorhanden, mit Normdatensätzen verlinkt, darunter die Identifikatoren der Gemeinsamen Normdatei (GND) und der geografischen Datenbank GeoNames.21 Die Verwendung von Normdaten und Standards erfüllt verschiedene Funktionen22 und stellt die Weichen für kontextualisierbare Analysen, in denen man bestimmte Fragen an die Brieftexte 18

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21

22

Christof Schöch, Big? Smart? Clean? Messy? Data in the Humanities, in: Journal of the Digital Humanities, 2.3 (2013). Word Wide Web Consortium w3c, Extensible Markup Language 1.0,  2008, ; TEI Consortium, TEI P5. Guidelines for Electronic Text Encoding and Interchange (Version 4.4.0), 2022 [29.6.2022]. Das Kodierungsschema der Umfeldbriefe orientiert sich an zwei TEI-Subsets: dem Basisformat des Deutschen Textarchivs und ediarum.BASE, welches der Software ediarum, mit der im Rahmen der Umfeldbriefe ediert wird, zugrunde liegt. Siehe Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), DTABf Deutsches Textarchiv  – Basisformat, 2011–2020, ; Dies. (Hrsg.), ediarum  / ediarum.BASE.edit (Version 2.0), bearbeitet von Stefan Dumont, Nadine Arndt, Sascha Grabsch und Lou Klappenbach, 2011– 2022, [29.6.2022]. Gemeinsame Normdatei, ; GeoNames, [29.6.2022]. U. a. ermöglicht die Verwendung von Normdaten die Einbindung der Metadaten in andere Kontexte, wie beispielsweise in den Webservice correspSearch, der Briefmetadaten verschiedener Editionen

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Historische Korrespondenzen und Social Media Analytics

in Bezug zu Personen oder Zeiträumen setzen kann. Im Gegensatz zu den Sende- und Empfangsinformationen zählt die Verschlagwortung der Dokumente nicht zu den gängigen Metadatenkategorien in Korrespondenzeditionen. Um die Vielstimmigkeit der Umfeldcommunity in den Daten abzubilden, wurde ein zweigliedriges Schlagwortsystem aus Korrespondenzkreisen und Themen implementiert. Die Verschlagwortung erfolgt briefweise innerhalb des TEI-Abschnitts mit Referenz auf zwei Registertaxonomien.23 Zu den thematischen Schlagworten zählen u. a. ‚Reisen‘ (147 Briefe), ‚Berufliches‘ (17) und ‚Bittschreiben‘ (15).24 Allgemeine Themen sind in der zweistufigen Taxonomie weiter ausdifferenziert, darunter ‚Reisen‘ in u. a. ‚Ausflüge‘ (7 Briefe), ‚Besuche‘ (117) und ‚Jean Pauls Besuche in Heidelberg‘ (7).

4 Workflow und Vorbereitung der Analysen Das Vorgehen bei der Analyse der Umfeldbriefe orientiert sich im Wesentlichen am Social Media Analytics Framework 25 von Stefan Stieglitz und Linh Dang-Xuan, die das Modell im Kontext von Social Media Analytics zur Untersuchung politischer Kommunikation vorgeschlagen haben. Die fünf Schritte des Analyseworkflow sind jedoch generalisierbar: 1.) die Definition einer Zielstellung der Analyse, 2.) die Sammlung von Daten, 3.) die Vorverarbeitung der gesammelten Daten für die Analyse (engl. preprocessing), bei der beispielsweise irrelevante Informationen aus den Daten entfernt werden, 4.)  die eigentliche Datenanalyse und 5.)  der Ergebnisbericht.26

23

24

25 26

aggregiert. Siehe Stefan Dumont, Sascha Grabsch, Jonas Müller-Laackman (Hrsg.), correspSearch. Briefeditionen vernetzen (Version 2.0.0), Berlin 2021, [29.6.2022]. Beide Kategoriesysteme, Korrespondenzkreise und Themen, fungieren in der digitalen Edition als Register, über die man auf die Briefe zugreifen kann und die Gemeinsamkeiten zwischen Briefen, auch wenn sie unterschiedlichen Teilkorrespondenzen entstammen, sichtbar machen. Die Verschlagwortung entsteht parallel zur Erschließung der Edition, d.  h. sie kann sich bei wachsender Briefmasse verändern oder erweitern. Siehe Themen in Briefen aus dem Umfeld Jean Pauls, Edition der Umfeldbriefe (Anm. 6), [29.6.2022]. Die Korrespondenzkreise bündeln Briefe nach Bekanntschaftsverhältnissen. Zwei größere Korrespondenzkreise bzw.  Teilcommunities im Umfeld sind der ‚Caroline Richter-Kreis‘ (189 Briefe), der die Korrespondenz um Jean Pauls Frau aggregiert, oder der ‚Zeitung für die elegante Welt-Kreis‘ (113 Briefe), in dem sich die Korrespondenz um die von Jean Pauls Schwager Karl Spazier 1800 gegründete gleichnamige Zeitschrift sammelt. Siehe Korrespondenzkreise im Umfeld Jean Pauls, in: ebd. [29.6.2022]. Stieglitz, Dang-Xuan, Social media and political communication (Anm. 3). Bei der Datenanalyse (4.) wird zwischen drei Forschungsfeldern differenziert: Themen der Kommunikation, die vorrangig durch Text Mining-Verfahren ermittelt werden, Stimmung der

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Frederike Neuber

Abb. 1: Umfeldbriefe im Analyseworkflow. Den Ausgangspunkt zur Analyse der Umfeldbriefe (Abb.  1) bilden die drei Untersuchungsfelder zur Rolle von Korrespondentinnen, zur Gewichtung der verhandelten Inhalte sowie zur Tonalität der Kommunikation. Orientiert an diesen Fragenfeldern wurden die Editionsdaten zu zwei Analysedatensets vorverarbeitet (engl. preprocessing), welche auf die Aspekte reduziert sind, die für die geplanten Metriken relevant sind:27 Erstens, ein Metadatenkorpus in XML aus editorisch angereicherten Informationen wie Titeldaten, Korrespondenzmetadaten und Themenschlagworten.28 Zweitens, ein Textkorpus (plain text) bestehend aus den Brieftexten, deren Orthografie und historische Varianz mit der Software CAB29 normalisiert wurde.30

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Kommunikation, identifiziert im Verfahren der Sentiment Analyse, und Kommunikationsstrukturen, ausgewertet in Netzwerkanalysen. Bedingt durch den geringen Strukturierungsgrad von Social Media-Daten schlägt das Modell von Stieglitz und Dang-Xuan vorrangig Verfahren des maschinellen Lernens zur Analyse vor, während die Analysen in diesem Beitrag auch auf den ‚smarten‘, d. h. strukturierten, Editionsdaten basieren (abgesehen von der Sentimentanalyse). Die Analysedatensets sind samt Ergebnisdaten und Visualisierungen auf GitHub verfügbar; siehe Frederike Neuber, jeanpaulanalytics (GitHub-Repositorium), 2023, [29.6.2022]. Die Themenschlagwörter aus der zweistufigen Taxonomie (siehe Abschnitt zu den Editionsdaten) wurden auf die Ebene der Oberbegriffe (59 an der Zahl) zurückgeführt, insofern es sich nicht ohnehin schon um solche handelte. Siehe Bryan Jurish, Finite-state Canonicalization Techniques for Historical German, Potsdam 2012; Deutsches Textarchiv, DTA::CAB Web Service (v1.115), Berlin, [29.6.2022]. Die sprachliche Normalisierung wurde vorgenommen, um lexikonbasierte Analysen zu ermöglichen (siehe Abschnitt zu Sentiment Analysis). Das Textdatenset wurde mit dem Tool SentText für die Ermittlung der ‚Stimmung‘ bzw. der Tonalität der Kommunikation ausgewertet, die Ergebnisse mit Microsoft Excel visualisiert. Zu SentText siehe Thomas Schmidt, Johanna Dangel, Christian Wolff, SentText. A Tool for Lexicon-based Sentiment

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Historische Korrespondenzen und Social Media Analytics

Im konkreten Analyseteil wurde den Fragen der drei benannten Felder an die Briefe mithilfe von drei Metriken bzw.  Kennzahlen der Social Media Analytics nachgegangen, deren Definition an späterer Stelle erfolgt: Reach, Share Of Voice und Sentiment Analysis. Die ersten beiden Kennzahlen wurden statistisch-numerisch ermittelt, die dritte mit dem Text MiningVerfahren Sentiment Analysis.31 Die Eingabe und Verarbeitung der Daten wurde im Verlauf des Experiments in einer Art ‚Analysespirale‘ mehrfach angepasst, parallel zum wachsendem Verständnis über die Datengrundlage und die Parameter der Analyse sowie über die gewonnenen Ergebnisse. Um den Leserinnen die Ergebnisse anschaulich zu kommunizieren, wurden verschiedene Visualisierungen getestet und vorbereitet.32

Abb. 2: Jahrweise Verteilung der Briefe im Korpus. Im Vorfeld der eigentlichen Analysen wurde eine ‚Bestandsaufnahme‘ der Daten und Informationen, die für die Auswertungen relevant sind, vorgenommen: Insgesamt korrespondieren

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Analysis in Digital Humanities, in: Thomas Schmidt, Christian Wolff (Hrsg.), Information between Data and Knowledge. Information Science and its Neighbors from Data Science to Digital, Glückstadt 2021, S. 156–172; SentText (Tool), [29.6.2022]. Für weitere Ausführungen siehe den Abschnitt zu Sentiment Analysis. Die Ergebnisse der drei Analysen  – Zahlenwerte in Tabellen  – wurden durch Verarbeitungen in XSLT und / oder mit dem Tool SentText erstellt und anschließend mit Microsoft Excel in verschiedenen Diagrammen visualisiert.

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189 Personen in verschiedenen bzw. mehreren Rollen in der Umfeldcommunity (Verfasserin, Empfängerin und Mitleserin). Die 1156 Briefe im Umfeldkorpus haben 109 Verfasserinnen, wobei 85  Briefe von mehr als einer Person erstellt wurden. 129  Personen haben Briefe explizit empfangen, wobei 15 Briefe mehr als eine Empfängerin haben. 26 Personen haben bei 259 Briefen anderer Empfängerinnen mitgelesen (ohne selbst explizit Empfängerin zu sein). Eine jahrweise Zählung der Briefe zeigt ein starkes Ungleichgewicht der Briefmenge zwischen den Jahren (Abb. 2). Die relativ geringe Anzahl an edierten Briefen aus den Jahren 1812–1815 hängt vermutlich u. a. mit der napoleonischen Besatzung und den Befreiungskriegen zusammen, die das Postwesen beeinträchtigt haben. 1823 / 24 sind viele der Kernkorrespondentinnen des Korpus bereits verstorben, z.  B.  Jean Pauls Sohn Max und der Romanschriftsteller Johann Ernst Wagner.

5 Reach Um die Rolle von Personen für das Kommunikationsnetz im Umfeld Jean Pauls zu bestimmen, kann man die Reichweite (engl. reach) als Kennzahl aus Online-Marketing und Social Media Analytics heranziehen. Je nach Kontext kann die Definition der Kennzahl variieren, wobei über die Reichweite allgemein ausgedrückt wird, wie viele Personen erreicht werden können, und zwar je nach Kontext durch verschiedene Kommunikationsträger wie Personen, Social Media-Plattformen, Websites im Allgemeinen sowie Werbeträger und Marken, die über Websites präsentiert werden.33 Für das Korpus der Umfeldbriefe wird die Reichweite der Verfasserinnen in den Blick genommen. Um den multipolaren Kommunikationsstrukturen des Umfelds Rechnung zu tragen, wird nicht die Anzahl von Briefen, die eine Person allein oder gemeinschaftlich verfasst hat, sondern die Anzahl der damit erreichten Empfängerinnen, im Folgenden als ‚Empfangskontakt‘ bezeichnet, als Bezugsgröße der Rechnung genommen. Bedingt durch die multipolaren Kommunikationsstrukturen liegt die Summe aller Empfangskontakte mit 1435 höher als die Summe der Briefe (1156), wobei hier direkte Empfängerinnen und Mitleserinnen von Briefen gleichermaßen mitgezählt werden. Im Schnitt hat jede Verfasserin rund 13 Empfangskontakte generiert, allerdings haben von den 109  Verfasserinnen lediglich 22  Personen 13 oder mehr Empfänger erreicht, d. h. nur rund 20 %. Allein die fünf aktivsten Verfasserinnen 33

Die Anzahl der erreichten Personen bemisst sich bei Webseiten beispielsweise an der Nummer der Zugriffe. Zur Reichweite siehe beispielsweise Manfred Bruhn, Unternehmens- und Marketingkommunikation. Handbuch für ein integriertes Kommunikationsmanagement, München 22012, S. 1153; Franz-Rudolf Esch, Andreas Herrmann, Henrik Sattler, Marketing. Eine managementorientierte Einführung, München 52017, S. 310.

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machen mit 792 Empfangskontakten rund 64 % der Kommunikation im Korpus aus: Caroline Richter (289 Empfangskontakte), ihr Vater Johann Siegfried Wilhelm Mayer (192), ihr Sohn Max Richter (109), der Romanschriftsteller Johann Ernst Wagner (103) und Jean Pauls Freund und Kaufmann Emanuel Osmund (99). Im derzeitigen Datenbestand liegt also eine enorme Ballung der Kommunikation auf allein fünf Verfasserinnen, wobei Caroline Richter 23 % aller Empfangskontakte generiert.

Abb. 3: Brutto- und Nettoreichweite der zehn Verfasserinnen mit der höchsten Nettoreichweite. Die Zählung der Empfangskontakte legt die Gewichtung einzelner Korrespondentinnen im Korpus offen, sagt aber nur bedingt etwas über deren Reichweite im Umfeld Jean Pauls aus. Es wird daher zwischen der Summe aller Empfangskontakte einer Person, bei der die Überschneidungen von gleichen Empfängerinnen nicht berücksichtigt werden, und der Zahl der verschiedenen Empfängerinnen, die erreicht wurden, unterschieden. Im Online-Marketing differenziert man diese beiden Größen als Bruttoreichweite und Nettoreichweite.34 Eine Auswertung und Visualisierung der zehn Senderinnen mit der höchsten Nettoreichweite ergibt

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Vgl. Bruhn 2012, S. 1153; Anne Marx, Media für Manager. Was Sie über Medien und Media-Agenturen wissen müssen, Wiesbaden  22012, hier S. 95–96. Die Nettoreichweite kann man in absoluten Zahlen angeben oder in Bezug auf eine Zielgruppengröße prozentual bestimmen. Vorliegende Berechnung erfolgt in absoluten Zahlen.

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folgendes Bild zur Rolle der Korrespondentinnen im Korpus (Abb. 3): Caroline Richter, deren hohe Bruttoreichweite bereits angesprochen wurde, hat gleichzeitig die höchste Nettoreichweite (brutto 298  / netto  48). Ihr Vater, Johann Siegfried Wilhelm Mayer, der anteilig die zweithöchste Summe an Empfangskontakten aufweist, hat eine verhältnismäßig geringe Nettoreichweite (192 / 8), da ein Großteil seiner Korrespondenz die Briefe mit seiner Tochter ausmachen. Jean Paul, der als ‚eigenständiger‘ Korrespondent nicht im Umfeldkorpus vertreten ist,35 ist durch gemeinschaftliche verfasste Briefe mit Caroline und seiner Tochter Emma in der Aufstellung vertreten (60 / 15). Der Korrespondent mit der vierthöchsten Bruttoreichweite von 103  Empfangskontakten, Johann Ernst Wagner, hat die zweithöchste Nettoreichweite im Korpus (103  / 29). Der Romanschriftsteller kontaktierte ab 1802 viele Personen in ganz Deutschland, um Werbung für eine von ihm geplante Kunstschule zu machen.36 Daneben sticht Heinrich Voß bei der Auswertung ins Auge, da er eine geringe Bruttoreichweite, aber 50 % Empfangskontakte ohne Überschneidung der gleichen Personen hat (18 / 9). Seine Briefe wurden von den Editorinnen gezielt danach ausgewählt, ob sie Schilderungen über Jean Pauls Besuche in Heidelberg beinhalten.37 Emanuel Osmund, fester Protagonist des Umfelds, hat die gleiche Nettoreichweite wie Voß, aber wesentlich mehr Empfangskontakte generiert (99 / 9).38 Die Kennzahlen Brutto- und Nettoreichweite verdeutlichen in ihrer Einfachheit, dass die Menge an geschriebenen Briefen nicht zwangsläufig etwas über den Vernetzungsgrad einer Korrespondentin innerhalb des Korpus aussagt. In einem nächsten Analyseschritt könnte man ergänzende Parameter wie z. B. die Brieflänge oder die Menge an erwähnten Personen in die Berechnung aufnehmen, um die Intensität der Kommunikation weiter zu messen. Ebenfalls

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Für die Briefe von Jean Paul, die Eduard Berend Mitte des 20. Jahrhunderts ediert und publiziert hatte, vgl. Digitale Neuausgabe der Briefe von Jean Paul in der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abt. der Historisch-kritischen Ausgabe (1952–1964), überarbeitet von Markus Bernauer, Norbert Miller, Frederike Neuber, 2018, in: Jean Paul – Sämtliche Briefe digital, Dies. (Hrsg.), 2018, [29.6.2022]; für die im Druck erschienenen An-Briefe vgl. Jean Paul, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, 4. Abt.: Briefe an Jean Paul, 9 Bde., hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Christian Begemann, Markus Bernauer, Norbert Miller, Berlin 2003–2017. Auch im Umfeld sucht Johann Ernst Wagner nach Unterstützern, siehe seine Briefe u. a. an Georg Joachim Göschen, 6.  Februar  1805, Edition der Umfeldbriefe (Anm.  6), ; An Christian Freiherr Truchseß von Wetzhausen, 8. März 1808, in: ebd. ; An Friedrich von Müller, 4. März 1808, in: ebd. [29.6.2022]. Siehe dazu Michael Rölcke, „Sei vorsichtig mit diesem Briefe […]. Es ist ein Privatbrief.“ Copy & paste in Heinrich Voß’ Berichten über Jean Pauls Besuche in Heidelberg (in diesem Band, S. 91–112). Andere Korrespondentinnen wie Ernestine Mahlmann (Bruttoreichweite 47  / Nettoreichweite 3) und Charlotte von Kalb (47 / 2), die eine relativ hohe Bruttoreichweite haben, sind aufgrund ihrer geringen Nettoreichweite nicht in der Aufstellung vertreten.

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denkbar wäre die Anwendung der Metrik auf bestimmte Korrespondenzkreise, um innerhalb dieser Kreise jeweils reichweitenstarke Akteurinnen auszumachen.

6 Share of Voice Von den Personen zu den Inhalten der Kommunikation. Im digitalen Marketing gibt die Metrik des Share of Voice Auskunft über die Sichtbarkeit und Relevanz einer Marke oder eines Themas in den sozialen Medien.39 Übertragen auf die Umfeldbriefe kann man mit dieser Kennzahl ermitteln, welche Rolle verschiedene Themen in der Gesamtkommunikation spielen.

Abb. 4: Share of Voice der drei am häufigsten vergebenen Themenschlagworte.

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Vgl. Christoph Burmann, Tilo Halaszovich, Michael Schade, Rico Piehler, Identitätsbasierte Markenführung, Wiesbaden  32018, S.  266. Im Bereich der Social Media Analytics werden heutzutage oftmals Verfahren des maschinellen Lernens wie Topic Modeling eingesetzt; alternativ wird das Vorkommen von Themen oder Marken auf Basis von Erwähnungen, Hashtags oder speziell definierten Keywords untersucht. Vgl. Dimitrios Milioris, Topic Detection and Classification in Social Networks. The Twitter Case, Cham 2017, u. a. S. 13; zu den Potentialen von Topic Modeling für digitale Editionen am Beispiel der Briefe aus Jean Pauls Umfeld siehe Ulrike Henny-Krahmer, Frederike Neuber, Topic Modeling in Digital Scholarly Editions, in: Bernhard Geiger Ulrike Henny-Krahmer, Fabian Kaßner, Marc Lemke, Martina Scholger (Hrsg.), Machine Learning and Data Mining for Digital Scholarly Editions, Norderstedt 2023.

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Als erster Schritt der Analyse wurden die manuell vergebenen Themenschlagworte ausgewertet.40 Berücksichtigt man in der Analyse nur die erste Ebene der Thementaxonomie, dann gibt es 59 verschiedene Schlagworte, die bis dato insgesamt 2880  mal vergeben wurden, womit jedem Brief im Schnitt rund 2,5 Themen zugewiesen sind. Die fünf am häufigsten vergebenen Schlagworte sind ‚Reisen‘ (247), ‚Krankheit bzw. Gesundheitszustand‘ (199),41 ‚Verlage / Verlegerisches‘ (169), ‚Familie/n‘ (152), ‚Finanzen‘ (144). Setzt man die Anzahl der erwähnten Themen in Bezug zu den Jahren, um das Auf- bzw. Abflammen bestimmter Kommunikationsinhalte zu untersuchen, sind absolute Zahlen nicht aussagekräftig. In Zeiträumen, für die besonders viele Briefe überliefert und in die Edition aufgenommen sind, wie beispielsweise die Jahre 1808 bis 1811 (siehe Abb. 2), sind folglich auch mehr Themen verzeichnet. Als relative Metrik eignet sich daher der Share of Voice, mit dem man die anteilige Sichtbarkeit und Relevanz einer Marke oder eines Themas in den sozialen Medien in Bezug auf alle erwähnten Marken bzw. Themen beziffern kann.42 Um die Ermittlung des Share of Voice in einer Analyse übersichtlich zu gestalten, umfasst eine exemplarische Auswertung die drei am häufigsten vertretenen Themen im Umfeldkorpus (Abb. 4). Bei der Ergebnisbetrachtung fällt auf, dass das Schlagwort ‚Verlage / Verlegerisches‘43 für Briefe der Jahre 1812 / 13 und 1822 bis 1824 nicht vergeben wurde. Im ersten Zeitraum hängt dies teilweise damit zusammen, dass es um die zwei ‚Protagonistinnen‘ zu diesem Thema, Johann Ernst Wagner und Minna Spazier, in diesen Jahren still(er) wurde. Johann Ernst Wagner war im Frühjahr 1812 nach Krankheit verstorben, Spazier erholte sich in diesem Zeitraum von einer Krankheit.44 Die Berufsschriftstellerin nahm die Korrespondenz zum Thema nach einigen Jahren wieder auf (im Korpus ab 1816) und führte sie bis 1821 fort. Die relative Intensivierung des Themas ‚Verlage  / Verlegerisches‘ um 1825 / 26 erklärt sich wiederum dadurch, dass Caroline Richter nach dem Tod Jean Pauls am 40 41

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Siehe dazu den Abschnitt zu Editionsdaten als ‚Smart Data‘ sowie Anm. 23 und 24. Siehe zum Thema ‚Krankheit bzw. Gesundheitszustand‘ Selma Jahnke, Der Körper im sozialen Medium Brief. Arten und Funktionen der Thematisierung von Körper und Krankheit in Briefen aus dem Umfeld des Dichters Jean Paul (in diesem Band, S. 189–209). Vgl. Roland Fiege, Social Media Balanced Scorecard. Erfolgreiche Social Media-Strategien in der Praxis, Wiesbaden 2012, S. 102. Siehe die Übersicht zum Schlagwort ‚Verlage / Verlegerisches‘, Edition der Umfeldbriefe (Anm. 6), [29.6.2022]. Siehe zu Krankheit und Trennung den Abschnitt der Sentimentanalyse in diesem Beitrag. Was die Thematisierung von verlegerischen Themen angeht, so war Minna Spazier bis ca. 1810 u. a. intensiv in Korrespondenzen rund um die von Jean Pauls Schwager Karl Spazier gegründete und am 1801 erschienene Zeitung für die elegante Welt involviert. Nach dem Tod Karl Spaziers hoffte Minna Spazier auf die Übernahme der Redaktionsleitung, wurde aber von Jean Pauls anderem Schwager Siegfried August Mahlmann schließlich aus der Redaktion gedrängt. Siehe das Briefverzeichnis des Zeitung für die elegante WeltKreis, Edition der Umfeldbriefe (Anm. 6), [29.6.2022].

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25. November 1825 mit der Organisation und den Verhandlungen zur Herausgabe der Gesamtausgabe der Werke Jean Pauls befasst war und darüber u. a. mit den Verlegern Eduard Vieweg und Johann Leonhard Schrag korrespondierte.45 Das Thema ‚Reisen‘ ist in allen Jahren des Korpus präsent, allerdings kann man dabei ebenfalls An- und Abstiege des Share of Voice ausmachen. Im Jahre 1812 könnte die vergleichsweise geringe Thematisierung mit der napoleonischen Besatzung bzw. den Befreiungskriegen zusammenhängen, da die Reisetätigkeiten der Gesellschaft dadurch grundsätzlich etwas eingeschränkt waren. Vergleichsweise stark fällt der Share of Voice im Jahre 1812 für das Thema ‚Krankheiten bzw. Gesundheitszustand‘ aus, was u. a. damit zusammenhängt, dass Johann Ernst Wagner zu dieser Zeit an einem „fakeligem Nerfenfieber“46 litt, was in verschiedensten Briefwechseln47 thematisiert wurde und an dem er kurze Zeit später verstarb. Die Inhalte der Briefe und die Ermittlung des Share of Voice lassen sich schlüssig zueinander in Bezug bringen. Abgesehen von der Ermittlung der Kennzahl für Themen, könnte man beispielsweise einen personenbezogenen Share of Voice berechnen. Mit den in den Briefen vorgenommenen Personenindizierungen als Grundlage wäre auswertbar, welche Personen zu welchem Zeitpunkt anteilig besonders relevant in der Kommunikation des Umfelds sind.

7 Sentiment Neben dem ‚wer‘ und dem ‚worüber‘ der Kommunikation, ist das ‚wie‘ in Social Media Analysen hoch relevant, d. h. die Tonalität des Geschriebenen. Eine Methode, um Emotionen, Stimmungen, Bewertungen und Einstellungen in Texten auszuwerten, ist Sentiment Analysis (auch als Opinion Mining oder Sentimentanalyse bezeichnet). Sie trägt dazu bei, die Gefühle und Meinungen von Userinnen gegenüber einem Thema oder einer Marke zu identifizieren.48 Sentimentanalysen kön45

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Die Gesamtausgabe der Jean Paulschen Werke sind ein eigenes Unterthema von ‚Verlag / Verlegerisches‘, dem ausschließlich Briefe ab Oktober 1825 zugeordnet sind: Thema ‚Gesamtausgabe (Jean Pauls sämmtliche Werke)‘, Edition der Umfeldbriefe (Anm.  6), . Von Antonie von Mützschefahl an Emanuel. Meinigen, 31. Dezember 1811 bis 1. Januar 1812, in: ebd. [29.6.2022]. U.  a. tauschen sich Johann Ernst Wagners Söhne Carl und Anton mit Christian Freiherr Truchseß über die Krankheit des Vaters aus; siehe von Christian Freiherr Truchseß von Wetzhausen an Carl und Anton Wagner, 2.  Januar  1812, in: ebd. ; Von Carl und Anton Wagner an Christian Freiherr Truchseß von Wetzhausen, 6. Januar 1812, in: ebd. [29.6.2022]. Carlos A. Iglesias, Antonio Moreno, Editorial, in: Dies. (Hrsg.), Sentiment Analysis for Social Media, Basel  2020, S.  1–4. Häufig kommt die Methode zur Analyse der politischen Stimmungslage zum Einsatz; siehe Melanie Siegel, Jennifer Deuschle, Barbara Lenze, Marina Petrovic, Sascha Starker,

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nen auf Verfahren des maschinellen Lernens basieren und bzw. oder lexikonbasiert unter Verwendung von Techniken des Natural Language Processing und des Text Minings erfolgen.49 In einer lexikonbasierten Analyse, wie sie für die Umfeldbriefe vorgenommen wurde, wird – kurz gefasst – jedem Wort bzw. Satz in einem Dokument ein Wert zugewiesen, der auf einer positiven oder negativen Gewichtung in einem Wörterbuch basiert. Die Werte reichen von +1 bis -1, wobei 0 neutral, 1 stark positiv und -1 stark negativ ist.50 Die Kombination aller Sentimentwerte der positiven und negativen Wörter im Text ergibt den Sentiment Score für einen Gesamttext, d. h. im Fall der vorliegenden Analyse für einen Brief. Da Gefühle oft an Ereignisse geknüpft sind,51 wird die Methode für die Umfeldbriefe dazu eingesetzt, besonders einschneidende Ereignisse – ob positiv oder negativ – in den Briefen einzelner Senderinnen auszumachen. Zunächst wurde die ‚Stimmung‘ aller Senderinnen, die mehr als 20 Briefe im Korpus verfasst haben, mit dem Tool SentText52 konvolutvergleichend ausgewertet. Von den 14  Konvoluten weisen die Texte von 13 Senderinnen einen positiven Sentiment Score auf, wobei die Brieftexte von Jean Pauls und Caroline Richters Freundin Henriette Freifrau von Ende und die des Romanschriftstellers Johann Ernst Wagner die positivsten Scorewerte aufweisen. Von Ende war eine alleinstehende, unabhängige und wohlhabende Frau, deren Briefe u. a. von den Italienreisen mit ihrem Sohn Leopold handeln und einen überschwänglichen und positiven Duktus haben (Sentiment Score +0.00944).53 Johann Ernst Wagners Briefe zeugen grundsätzlich von

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Automatische Erkennung von politischen Trends mit Twitter – brauchen wir Meinungsumfragen noch?, in: Information. Wissenschaft & Praxis, 68,1 (2017), S. 67–74. Bing Liu, Sentiment Analysis: Mining Opinions, Sentiments and Emotions, Cambridge 2015, S. 121f. Die Lexika werden meist manuell erstellt und verwenden unterschiedliche Messungen von Emotionen als Grundlage. Da orthografische Varianz dazu führen kann, dass der Abgleich zwischen Text und Wörterbuch nicht funktioniert, wurden die Brieftexte im Vorfeld der Analyse mit der Software CAB normalisiert (siehe Anm. 29); für vorliegende Analyse wurde das Wörterbuch SentiWS verwendet, vgl. Robert Remus, Uwe Quasthoff, Gerhard Heyer, SentiWS. A Publicly Available German-language Resource for Sentiment Analysis, in: Proceedings of the 7th International Language Resources and Evaluation, Valetta 2010, S. 1168–1171. Ein grundsätzliches Problem bei der Anwendung von Sentimentanalysen auf historische Texte ist, dass Sentimentlexika vorrangig Gegenwartssprache abbilden. Die Normalisierung des historischen Sprachstandes fängt diese Problematik nur teilweise ab, denn einige Ausdrücke und Formulierungen der Zeit um 1800 finden sich nicht in den Sentimentwörterbüchern. Dadurch wird ein Großteil der Wörter im Dokument als ‚neutral‘ klassifiziert und hat keinen Einfluss auf den Sentiment Score. Vgl. Thomas Schmidt, Manuel Burghardt, Christian Wolff, Herausforderungen für Sentiment Analysis bei literarischen Texten, in: Manuel Burghardt, Claudia Müller-Birn (Hrsg.), INF-DH 2018, Bonn 2018, S. 5. Federico Alberto Pozzi, Elisabetta Fersini, Enza Messina, Bing Liu (Hrsg.), Sentiment analysis in social networks, Amsterdam 2016, S. 178. Siehe Anm. 30. Jean Paul schreibt über Freifrau von Ende, er könne an ihr „nicht genug Güte, Ausbildung und Originalität loben“ (siehe den Brief von Jean Paul an Caroline Richter, 18.  Juli  1817 bis

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großem Gottvertrauen, gekoppelt an eine positive ‚alles-wird-gut‘-Mentalität (+0.008797).54 Auff ällig an der Auswertung der 14 Briefkonvolute ist das untere Ende der Sentimentskala, an dem die 21 Briefe des Verlegers Friedrich Arnold Brockhaus stehen, deren Sentiment Score den einzigen kumulativen Negativwert hat (-0.000518).55

Abb. 5: Sentimentanalyse der Briefe von Friedrich Arnold Brockhaus.

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20. Juli 1817, Edition der Briefe von Jean Paul (Anm. 35), . Freifrau von Ende schätzt nicht nur die Freundschaft und den postalischen Kontakt mit Jean Paul, sondern auch den mit seiner Frau: „Ihr lieber Brief, beste Frau Legationsräthin, machte mir unendlich viel Freude. Bey dem vielen Sprechen von Ihnen, mit Ihrem lieben Mann, ist immer der Wunsch, daß Sie doch mitreden könnten und dies thaten Sie nun, durch Ihren lieben Brief.“; Von Henriette von Ende an Caroline Richter, 20.  August  1817, Edition der Umfeldbriefe (Anm.  6), [29.6.2022]. Für einen Diskurs zu Vernunft, Philosophie und Gott siehe den Brief von Johann Ernst Wagner an Christian Freiherr Truchseß von Wetzhausen, 12. August 1808, in: ebd. [29.6.2022]. Die Briefe richten sich an vier verschiedene Empfängerinnen: Buchhändler und Verleger Friedrich Bornträger (12 Briefe), der in Altenburg ansässige Kammerverwalter und Publizist Ernst Karl Friedrich Ludwig (7), Caroline Richter (1) und Jurist und Schriftsteller Friedrich Ferdinand Hempel (1). Siehe Briefe von Friedrich Arnold Brockhaus, in: ebd. [29.6.2022].

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Eine chronologische und briefweise Visualisierung des Sentiment Score der Brockhaus-Briefe zeigt, dass vier Scheitelwerte, d. h. vier Brieftexte, signifikant hervorstechen, die im Positivbzw. Negativbereich den Wert 0,01 bzw. -0,01 überschreiten (Abb. 5). An den Scheitelwerten (referenziert über Kleinbuchstaben) kann man unmittelbar den Verlauf von Brockhaus Liebesbeziehung mit der Berufsschriftstellerin und Schwester Caroline Richters Minna Spazier ablesen: a) An Friedrich Bornträger, 28. August 1810: Seit Anfang August ist Brockhaus mit Spazier verlobt, welche offenbar im Zusammenhang mit dem von ihr bei Brockhaus herausgegebenen Taschenbuch Urania Zwist mit Rahel Varnhagen hatte,56 wofür Bornträger in einem vorhergehenden Brief wohl Verständnis geäußert hatte. In dem, was Sie mir über Minna sagen, erkenne ich Ihr gefühlvolles theilnehmendes Freundesgemüth. Ich danke Ihnen dafür. Ich vertraue und glaube, Alles wird wohl werden. Nur Muth, Thätigkeit und festes Wollen, moralisch gut zu handeln! Ich und Minna vertrauen für dort auf Sie. Vertrauen Sie auf uns!57

b) An Friedrich Bornträger, 21. November 1810: In der Zwischenzeit ist Minna an einem Nervenfieber erkrankt und ist laut Brockhaus nicht wiederzuerkennen. Unter Fieber wird Spazier redselig über vergangene Liebschaften und über ein uneheliches und früh verstorbenes Kind. Wo soll ich Worte hernehmen, um Ihnen den namenlosen Jammer auszudrücken, worin ich gestürzt bin! […] Schon in meinem letzten Briefe muß ich Ihnen gesagt haben, daß Minna krank sei. Sie ist es geblieben – sie ist es noch – sie ist – entsetzen Sie sich nicht – sie ist – wahnsinnig! […] In einer Stunde, die sie glaubte ihre Todesstunde werden zu sollen, hat sie mir über alle ihre seitherigen Verhältnisse die vollständigsten Aufschlüsse gegeben und mir die schriftlichen Belege darüber zu Händen gestellt! Diese Aufschlüsse machen es mir unmöglich – ihr je meine Hand zu geben!58

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Varnhagen hatte in dem von Spazier herausgegebenen Urania. Taschenbuch für das Jahr 1810 den Beitrag „Die Strafe im Voraus“ (S. 180–210) beigesteuert; über den Streit sind keine Details bekannt. Siehe den Brief von Friedrich Arnold Brockhaus an Friedrich Bornträger, 1.  Mai  1810, in: ebd. [29.6.2022]. Von Friedrich Arnold Brockhaus an Friedrich Bornträger, 28. August 1810, in: ebd. [29.6.2022]. Von Friedrich Arnold Brockhaus an Friedrich Bornträger, 21.  November  1810, in: ebd. [29.6.2022].

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c) An Friedrich Bornträger, 15. Januar 1811: Es deutet sich an, dass die Beziehung zwischen Brockhaus und Spazier auseinandergehen wird, nicht nur, weil Brockhaus sich durch Spaziers krankheitsbedingten Charakterwandel zunehmend von ihr distanziert, sondern auch, weil die Familie Spaziers die Trennung der beiden forciert. Von meiner Reise nach Berlin mit der armen Minna in der furchtbarsten Kälte, von unsern Beschwerden auf derselben, meinen Sorgen und meinem Jammer, von unserer Ankunft im Hause des Vaters, von der Scene der Zusammenkunft mit diesem und Julius, von dem allgemeinen und besondern Benehmen des Vaters und der (Stief-)Mutter, endlich von der herzzerreißenden Stunde des Abschieds und der Trennung.59

d) An Ernst Karl Friedrich Ludwig, 26. März 1811: Brockhaus und Spazier haben sich getrennt. Der Verleger wirkt einerseits betroffen, andererseits erleichtert: Heute etwas über der armen Minna Schicksal. Gestern erhielt ich von Karolinen Briefe. Auch sie betrachtet unsere Trennung – Minna’s und meine – als entschieden durch den Willen des Vaters. Mein Herz zuckt krampfhaft bei dieser Entscheidung, denn Minna war mir unendlich und ist mir noch sehr teuer. Mein Verstand tritt aber der Entscheidung des Vaters mit Beifall bei.60

Die Sentimentanalyse macht das Auf und Ab der Gefühle Brockhaus’, wie sie in den Briefen ausgedrückt werden, geradezu minutiös nachverfolgbar. Exemplarisch wird damit an einer überschaubaren Textmenge deutlich, dass das Verfahren, angewandt auf ein größeres Textkorpus, Stimmungen und Ereignisse identifizierbar machen kann. Ein anderes Anwendungsszenario von Sentiment Analysis wäre beispielsweise einen Zusammenhang zwischen behandelten Themen und Stimmung herzustellen, um herauszufinden, welche Gesprächsinhalte positiv bzw. negativ konnotiert sind.

8 Fazit Auch wenn es sich bei der Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld nicht um ‚Big Data‘ handelt, zeigen die Analysen, dass sich aus den hoch strukturierten und informationsreichen Daten

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Von Friedrich Arnold Brockhaus an Friedrich Bornträger, 15. Januar 1811, in: ebd. [29.6.2022]. Von Friedrich Arnold Brockhaus an Ernst Karl Friedrich Ludwig, 26. März 1811, in: ebd. [29.6.2022].

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Erkenntnisse über die im Korpus abgebildete Community ableiten lassen.61 Durch die drei experimentell auf die Umfeldbriefe übertragenen Konzepte Reach, Share of Voice und Sentiment wurde gezeigt, dass man historische Briefkorpora nicht nur mit den Social Media der Gegenwart vergleichen, sondern ihre Kommunikationsstrukturen auch mit Methoden der Social Media Analytics untersuchen kann. Dabei sind zwei Aspekte der Datengrundlage für die Konzeption und Deutung der Analysen relevant: Zum einen liegt es in der Natur des Umfelds, keine klar definierbaren Ränder zu haben, weshalb es an den Editorinnen ist, diese durch die Selektion bzw. den Ausschluss von Quellen zu bestimmen; darüber hinaus kann das Auswahlkorpus je nach Überlieferungslage Lücken aufweisen. Zum anderen ist das Briefkorpus der Edition ein wachsender Datensatz, weshalb sich die Ergebnisse durch die Integration weiterer Korrespondenzen zukünftig verändern können. Für die Kommunikation und Deutung der Analysen ist es aufgrund beider Aspekte unabdingbar, die Ergebnisse auf die Datengrundlage zu beziehen und nicht auf die tatsächliche Korrespondenzrealität im Umfeld. Überdies müssen die Ergebnisse, meist Zahlenwerte, in eine für die Leserinnen verständliche Form gebracht, d. h. visualisiert werden. Wie die Analyse selbst ist die Generierung von Visualisierungen ab einer bestimmten Datenmenge meist mit einer Reduktion von Komplexität verbunden, damit Übersichtlichkeit und Lesbarkeit gewahrt bleiben.62 Damit ist eine gewisse Menge an Daten zwar einerseits die Voraussetzung, damit Analysen sinnhaft eingesetzt werden können (nämlich dann, wenn man nicht mehr alle Texte l e s e n kann), andererseits aber auch eine Herausforderung für die visuelle Kommunikation der Ergebnisse. Insgesamt stellt der Blick auf die Daten aus der ‚Vogelperspektive‘ Sachverhalte und Zusammenhänge des Korpus heraus, die den Leserinnen für gewöhnlich nicht explizit in einer Edition veranschaulicht werden. Selbst bei einem noch überschaubaren Korpus von 1156 Briefen muss man davon ausgehen, dass sich die Leserinnen nicht mehr mit jedem Brief im Detail beschäftigen können. Somit können selbst einfache Metriken wie die Reichweite einen Überblick schaffen und das Verständnis der Leserinnen für Gewichtungen und Beziehungen im Korpus schärfen, was wiederum auch die Beforschung der Kommunikationsstrukturen im Umfeld befördert. Ungleichgewichte im Korpus, beispielsweise in der Zahl der Dokumente pro Jahr, können durch anteilig konzipierte Metriken wie den Share of Voice ausgeglichen werden. Jenseits

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Allgemeiner formuliert in danah boyd, Kate Crawford, Critical Questions for Big Data, in: Information, Communication & Society, 15,5 (2012), S. 662–679, hier S. 670: „The size of data should fit the research question being asked; in some cases, small is best“. Im Fall der Reichweitenberechnung umfasst die Visualisierung nur die zehn Korrespondentinnen mit der höchsten Nettoreichweite (anstatt alle 109 Senderinnen), für die Ermittlung des Share of Voice wurden lediglich die drei am häufigsten vergebenen Schlagworte anteilig in Beziehung gesetzt (und nicht alle 59!), bei der Sentimentanalyse nach Senderinnenkonvoluten wurden nur die Verfasserinnen von mindestens 20 Briefen berücksichtigt.

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der Metadaten kann man mit entsprechenden Verfahren und Tools auch die Kommunikation in den Brieftexten selbst auswerten, um beispielsweise durch Sentimentanalysen positive oder negative Stimmungslagen und Ereignisse zu identifizieren. In allen drei Analysenbeispielen gibt die quantitative Perspektive den Impuls, in das Korpus und auf einzelne Brieftexte zu ‚zoomen‘, also ‚distant reading‘ und ‚close reading‘ zu verbinden. Die wissenschaftliche Detailerschließung der Briefe bleibt damit weiterhin zentrales Instrument der Forschung, kann aber durch quantitative Analysen um ein überblick- und erkenntnisgenerierendes Instrument ergänzt werden. Lässt man den Gedanken zum Abschluss freies Spiel und stellt sich das Dashboard eines Social Media Monitoring-Tools als Teil einer digitalen Edition der Umfeldbriefe vor, auf dem man als Leserin verschiedene Analyseübersichten und  -optionen hat, dann wäre dies eine gänzlich neue, durch die Social Media geprägt Perspektive auf die Briefkultur um 1800. Ein solches ‚Editions-Dashboard‘ setzen. wäre ein spielerischer und gegenwartsbezogener Zugang zur Kommunikation in Jean Pauls Umfeld, der gerade die junge Leserschaft für historische Korrespondenzen und wissenschaftliche Editionen begeistern könnte.

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CC (Carbon Copy), BCC (Blind Carbon Copy) und DC (Data Compression) Vervielfältigen, Verbergen und Verdichten von Bild und Schrift in Briefen des 18. und 19. Jahrhunderts Andrea Hübener, Jörg Paulus

Bruno Latour hat die Parole ausgegeben, „das Soziale flach zu halten“.1 Für ihn bedeutet dies, bei der Erkundung der sozialen Welt zunächst den Wegen der Akteure zu folgen und deren Vernetzung zu beobachten. Richtet man den Blick spezifisch auf das Feld der sogenannten ‚sozialen Medien‘ – in Latours Sinne wären dies Assemblierungen von heterogenen Akteuren wie Nutzern, Smartphones, Apps sowie infrastrukturellen und ‚atmosphärischen‘ Medienumgebungen –, dann heißt das auch, jenen Phänomenen die Aufmerksamkeit nicht zu verweigern, die am Rand der sozialen Aggregationsprozesse zu finden sind. Nicht das Integral vorab gegebener sozialer Gruppen und Kräfte – die Jugend, regionale Avantgarden, globale Unternehmen und ihre Interessen  – sollten am Anfang der Analyse stehen, sondern die scheinbar beiläufigen soziotechnischen Verfahren, die die Handlungen der Beteiligten formatieren. Diesen randständigen Praktiken wäre – im Zusammenhang der sozialen Medien – auch ein epistemischer Vorrang einzuräumen gegenüber traditionellen sozialwissenschaftlichen Kategorien wie denen des Privaten und des Geschäftlichen. Dieser „Reassemblierung des Sozialen“ folgen auch unsere nachfolgenden Überlegungen.2 Nicht eine von den Kategorien ‚business‘ versus ‚private‘ arrangierte Gegenüberstellung von TikTok oder Instagram auf der einen Seite, LinkedIn oder XING auf der anderen, bildet das Hintergrundbild unserer Überlegungen, sondern deren technologisch und gesellschaftlich wechselseitig verschränkte Emergenz.3

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3

Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Berlin 2010, S. 286. Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford 2005, lautet der englische Originaltitel des in Anm. 1 verzeichneten Buches von Bruno Latour. Stefan Münker, Emergenz sozialer Öffentlichkeiten. Die sozialen Medien im Web 2.0, Berlin 2009.

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Andrea Hübener, Jörg Paulus

Konkret orientieren wir uns an der Formatierung der Seite. In seiner Apologie der „vernetzten Generation“ hat der französische Mathematiker und Philosoph Michel Serres das Seitenformat als transformatives Element unserer soziotechnischen Umbruchszeit herausgearbeitet, jenes „jahrtausendealte Format, das für uns Menschen, zumindest die abendländischen, beinahe so maßgeblich ist wie das Hexagon für die Bienen“ und dem „ohne unser Wissen […] noch die neuen Technologien […] verhaftet bleiben“.4 Anknüpfend an Walter Ong fragt sich Serres, ob das „Zeitalter der Seite, die uns formatiert hatte“, im Zeitalter der sekundären Oralität und Virtualität an ihr Ende gelangen werde.5 Schon 1982 hatte Ong in Orality and Literacy. The Technologizing of the Word statuiert: „Homer and television can illuminate one another.“6 Die Spuren von Praktiken, die Briefe auf jeweils ganz bestimmte Weise formatieren, adressieren und prozessieren, lassen sich sowohl in Briefautographen als auch in Abschriften und Kopien von Briefautographen finden. Diese besitzen durchgängig einen ikonischen Aspekt, der sich eben im B i l d modus der Briefseite zu erkennen gibt und auf einem Zeigen und Sagen beruht,7 das dem Entziffern der auf der Seite versammelten Schriftzeichen entweder vorausgeht oder mit ihm verschränkt ist. Außer den Brief-Schreibern und Adressaten sind daran weitere Akteure wie die Post, das Papier, intendierte oder nicht-intendierte Mit-Leser sowie spätere Instanzen der Zensur und der Archivierung beteiligt.8 Medienmaterialistisch argumentierend, wird im Folgenden anhand ausgewählter Beispiele gezeigt, wie Briefe als Schauplätze von multiagentiellen Kommunikations- und Bearbeitungsprozessen verstanden werden können, als Gefüge heterogener Akteure, nämlich von Menschen, Dingen und Institutionen, die sich über vielerlei Vermittlungsschritte bis in unsere Zeit fortschreiben. Die aus E-MailKorrespondenzen vertrauten Kürzel CC (Carbon Copy) und BCC (Blind Carbon Copy) sowie das Kürzel DC (für Data Compression), auf die wir uns dabei beziehen, spiegeln zunächst einmal nur heuristisch das Spiel dieser historischen Gefüge.

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Michel Serres, Erfindet Euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, Berlin 2013, S. 31. Ebd. S. 56. Walter Ong, Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, London / New York 1982, S. 2. Vgl. Andrea Hübener, Epistolar-Dramaturgien. Zeigen und Sagen im Brief als Bild, in: Jennifer Clare, Susanne Knaller, Rita Rieger, Renate Stauf, Toni Tholen (Hrsg.), Schreibprozesse im Zwischenraum. Zur Ästhetik von Textbewegungen, Heidelberg 2018, S. 129–153. Zu den Objekteigenschaften eines Briefes von seiner Konzeption bis zur Archivierung vgl. den ausgezeichneten Katalog: Anne Bohnenkamp, Waltraud Wiethölter (Hrsg.), Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, Frankfurt a. M. / Basel 2008.

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CC (Carbon Copy), BCC (Blind Carbon Copy) und DC (Data Compression)

I CC und DC im Papierleben um 1800 Sogenannte Briefkopierbücher sind Dokumente, an denen die Verschränkung sozialer Tatsachen exemplarisch demonstriert werden kann. Die Dokumentation von ausgehender Post durch Verfertigung von Abschriften und Duplikaten war in der Zeit um 1800 eine bereits fest etablierte Praxis im Geschäftsleben,9 namentlich in Verlagen.10 Sie diente dazu, die verschickten Informationen verfügbar zu halten.11 Für die private Anverwandlung solch merkantiler Praktiken ist Jean Pauls Praxis des Führens von Briefkopierbüchern ein prominentes (und doch in seiner Gesamtheit noch nicht näher erforschtes) Beispiel.12 Schon sehr früh in seiner Biographie, als seine Schriftstellerkarriere allenfalls eine Wunschvorstellung war, hat Jean Paul die merkantile Praxis der händischen Buchführung von ausgehender Post in Briefausgangsbüchern umgesetzt. Initiationsmoment waren zunächst einige in ein Buch eingetragene Briefkonzepte. Das erste entsprechende Dokument ist bereits eines der verrechenbaren Erfahrungen: Aus Leipzig, dem von ihm neu bezogenen Studienort schreibt der damals achtzehnjährige Jean Paul an einen vormaligen Lehrer, den Rektor Karl August Werner in Schwarzenbach an der Saale: „Ich bin gesund in Leipzig angelangt. Die Stad ist schön; wenn man eine Stad schön nennet, die grosse Häuser und lange Gassen hat – für mich ist sie noch einförmig. Und die herliche Gegend – die Sie mir 9

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Vgl. Rabea Limbach, Die Briefkopierbücher der Speyerer Handelshäuser Joh.  Hein.  Scharpff und Lichtenberger & Co. (1815–1840). Handeln in institutioneller Unsicherheit, Stuttgart 2018. Umfangreich sind beispielsweise Briefkopierbücher des Cotta-Verlags im Cotta-Archiv des Deutschen Literaturarchivs in Marbach archiviert; zur Auswertung von Verlagskopierbüchern vgl. exemplarisch: Karen Lehmann, Zur Provenienz der Bach-Kantatensammlung Hans Georg Nägelis. Dokumente aus dem Briefkopierbuch 1804/06 des Verlages Hoffmeister und Kühnelt in Leipzig, in: Bericht über die wissenschaftliche Konferenz zum V. Internationalen Bachfest der DDR in Verbindung mit dem 60. Bachfest der Neuen Bachgesellschaft, Leipzig 1988, S. 403–409. Das CC von E-Mails trifft als von Carbon Copies abgeleitetes Kürzel den Sachverhalt also in diesem Falle nicht ganz genau, der Gesendet-Ordner der E-Mail wäre vielmehr das eigentliche zeitgenössische Analogon: gleichsam ein CC an sich selbst. Zur kulturtechnischen und medienphilosophischen Deutung von Briefkopierbüchern, vgl. Jörg Paulus, Andrea Hübener, Fabian Winter, Einleitung: Eigensinnige Agenten. Zur auffällig unauffälligen Existenz von Duplikaten, Abschriften und Kopien in natur/kulturtechnischen Prozessen, in: Dies., Duplikat, Abschrift & Kopie. Kulturtechniken der Vervielfältigung, Wien / Köln u. a. 2020, S. 7–19; Fabian Winter, Das Briefkopierbuch als Archiv. Geschichte, Ästhetik und Theorie, Diss. Weimar 2021. Jean Paul selbst nennt die Briefabschriftbücher „Korrespondenzbücher“ und folgt damit dem merkantilen Paradigma, das er mit diesem Begriff auch selbst assoziiert: „Mein Korrespondenzbuch macht, dass ich […] den großen Ruf eines scharfen Geschäftsmannes einhandle.“ (Jean Paul, Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe, III. Abt., Bd. 1: Briefe 1780–1793, hrsg. von Eduard Berend, Berlin 1956, Einleitung, S. X), vgl. dazu auch: Hans Esselborn, Jean Pauls frühe Briefe an Verleger. Eine Alternative zum empfindsamen Briefdiskurs, in: Ingo Breuer, Katarzyna Jaśtal, Paweł Zarychta (Hrsg.), Gesprächsspiele & Ideenmagazine. Heinrich von Kleist und die Briefkultur um 1800, Köln / Weimar u. a. 2013, S. 285–296.

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Andrea Hübener, Jörg Paulus

versprachen – die find’ ich um Leipzig herum nicht.“13 Die epistoläre Protokollierung der Erfahrung geht im Modus des Konzepts (die Ausfertigung des Briefes ist nicht überliefert) in eine A r c h i v i e r u n g der Erfahrung über, welche der Tendenz zur „Archivwerdung“ der in sozialen Medien generierten Daten, ihrer Einbettung in ein integrales Erinnerungsdispositiv, durchaus entspricht.14 Diese Sammlung von Eindrücken wird dann im Brief Jean Pauls in einer Art doppelter Buchführung mit den Vorhersagen des Schulmanns abgeglichen: „In vielen Sachen ist’s hier so, wie Sie mir vorausgesagt haben – in andern aber ist’s anders.“15 Das prognostische Trefferverhältnis wird sodann auf Reichstaler und Pfennig und in Hinblick auf zahlreiche weitere lebenspraktische Details dem Empfänger vorgerechnet und im Kopierbuch, das in den ersten Monaten der epistolären Buchhaltung ja eigentlich noch ein Konzeptbuch ist, für die Zukunft vorgehalten. Während es hier noch – wie in Geschäftskopierbüchern – vor allem um pragmatische Dinge geht, die dokumentiert und archiviert werden, rücken in der weiteren Ausformung von Jean Pauls Briefkopierbüchern zunehmend Fragen der produktiven Archivierung p o e t i s c h e r Daten in ihrer spezifisch empfindsamen Formung in den Vordergrund. Das dabei zur Anwendung kommende schreibprozessuale Verfahren lässt sich besonders gut nachverfolgen in den Fällen, in denen die entsprechenden Originalbriefe erhalten sind, wie zum Beispiel im Falle eines Briefes vom Sommer 1796 an die Offiziers-Gattin Wilhelmine von Kropff in Bayreuth. In der Ausfertigung des Briefes liest man unter anderem die Zeilen: Hof. d. 22 Jul. 96. Endlich, unvergessene und unvergesliche Freundin, bin ich wieder auf Ihrem – Nähtisch. Drei Wochen lang tauchte das Schiksal – wenn ich so sonderbar sprechen darf – meinen Kopf bald in Morgenroth, bald in Abendroth, bald in Blumenkelche, bald in Regenbogen und sättigte mich ganz: d. h. ich war 3 Wochen lang in Weimar. Aber eben so lange müst’ ich schreiben, wenn ich Ihnen eine Geschichte der Reise und des Aufenthalts zufertigen wolte. Mündlich brauch’ ich weniger Zeit und geniesse mehr Lohn, weil ich Sie dan nicht blos anreden sondern auch ansehen kan. Meine Weimarsche Geschichte ist die eines Papillons: ein Leben auf Blumenblättern, keines auf papiernen. […] Aus diesem Tempe-Thal kam ich nun hier vor einem Berg von Geschäften an; ich hatte wegen der neuen Bekantschaften nicht blos neue Briefe sondern auch neue litterarische Arbeiten zu machen. […] Für Ihre Reisebeschreibung, die ich leider mit keiner erwiedere, dankt Ihnen mein Herz: Ihr kunstloses 13

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15

Jean Paul an Rektor Werner, Ende Mai 1781, in: Jean Paul, Sämtliche Werke (Anm. 12), III. Abt., Bd. 1, S. 6, 23–26. Vgl. John S. Seberger, Into the archive of ubiquitous computing: the data perfect tense and the historicization of the present, in: Journal of Documentation 78/1 (2021) [15.1.2022]) sowie die dort angegebenen Aufsätze zur Archivierungsfunktion sozialer Medien. Jean Paul, Sämtliche Werke (Anm. 12), III. Abt., Bd. 1 (Anm. 11), S. 6, 28–30.

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CC (Carbon Copy), BCC (Blind Carbon Copy) und DC (Data Compression) und gefühlvolles, festes und schönes wirft darin seine Wärme in jedes fremde. – Das Schiksal bringe Sie, Theuere, geheilt und froh zurük!  –  – Ihre Ankunft wird die meinige nach Bayreuth beschleunigen. Ach die Ihrige in Hof hoff ich nicht mehr; obgleich mein Wunsch wäre daß Sie vom nahen Markte etwas brauchten und es also selber kauften, und wärens nur Wünsche von mir für Sie: Ihre Seele und Ihre Schreibfeder vergesse Ihren Freund Richter nicht!16

Für das Konzentrat im Briefkopierbuch (vgl. Abb. 1) verwendet Jean Paul Abkürzungen und Kürzel wie sie auch in administrativen und geschäft lichen Schreibpraktiken Anwendung fanden – und wie sie sich in ähnlicher Form in den reduzierten Formeln sozialer Medien wiederfinden. Zudem wird der Datenumfang durch Jean Pauls proto-stenographisches Verfahren reduziert, indem Redundanzen wie gleichlautende Wortendungen weggelassen und Zahlwörter durch Zahlzeichen ersetzt werden (und nichts anderes passiert ja auch heute in Dateienkompressionsverfahren, in diesem Fall gibt es also tatsächlich eine historische Referenzkette entlang von Zeichenoperationen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart):

Abb. 1: Jean Pauls Briefkopierbuch, 22. Juli 1796 (Staatsbibliothek zu Berlin, Nachlass Jean Paul, Fasz. XXIV, 4). 16

Jean Paul, Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe, III. Abt., Bd. 2: Briefe 1794–1797, hrsg. von Eduard Berend, Berlin 1958, S. 224f., Nr. 360.

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Andrea Hübener, Jörg Paulus Kropf. 22 Jul 96 Drei Woch tauchte ds Schiks. mein Kopf bald in Abdroth bald in Morgenroth bald in Blumenkelch bald in Regenbog u sättig es ganz. Me Gschicht ist di e Papilons, e Leb af Blumenblätt, ks af papier. Aus ds. Tempe Thal kam ich vor e Berg v Gschäften an. Ihr festes Herz wirft dar se Wärm in jed frde.17

Charakteristisch für Jean Paul ist das Spiel mit Selbstreferenzialität, das oft mit leichten semantischen Abweichungen einhergeht: In der Ausfertigung des Briefes auf Briefpapier wird das Schmetterlingsleben auf Blumenblättern, von dem er spricht, gegen die bloß „papiernen“ Blätter ausgespielt, in der Kopie verschärft sich der Kontrast ins Substantivische. Das papierene Leben in der Ausfertigung wird in der Abschrift zum Leben auf dem Papier, zu einem Buchstabenleben. Umgekehrt erklärt sich der im poetischen Florilegium der Abschrift auf den ersten Blick überraschende Hinweis auf Geschäftliches durch seine bildlich-selbstreferentielle Evidenz: Die Paperwork-Topographie wird deshalb von einem Medium ins andere übertragen, weil ihre Verzeichnung eine Etappe der Ersteigung des Arbeitsbergs ist und weil sich dies ins poetische Bild fügt, das den Weg vom „Tempe-Thal“ (Weimars) zum Berg der Geschäfte im fränkischen Home-Office evozieren soll. Zum Paperwork gehört auch der senkrechte Strich am linken Rand des Briefexzerpts, wodurch dieses als ‚weiterverwertet‘ markiert wird. Im literarischen Werk Jean Pauls lassen sich zahlreiche Resonanzen der hier versammelten empfindsamen Gedanken-Stichwort-Ensembles finden – das idyllische Tempetal in Thessalien ist in den Romanen ebenso eine Art abundantes ‚Meme‘ wie die Vergleichung und Kontrastierung von Blumenblättern und Papierblättern und von Abend- und Morgenrot. Dabei muss die markierte Passage im Briefkopierbuch nicht notwendigerweise der Ursprungsort der entsprechenden Bild- und Gedankenfügung sein, es können dort auch vorausgehende Figurationen aufgenommen werden, im vorliegenden Zusammenhang zum Beispiel aus einem Absatz des Romans Siebenkäs, in dem die Relation zwischen Natur (Sonnenlicht, Blumenkelch) und (Brief-) Papier genau entgegengesetzt gedacht wird wie im postierten Brief: Briefe werden dort (im Roman) zugleich als Archive eines von Naturmetaphern durchwirkten Buchstabenlebens gedacht: Ich bitte den Leser hier, den Geist der Sanftmuth jedem Laute […] aber noch mehr jedem Blatte einzublasen: denn wahrlich, wenn Ihnen Ihre Korrespondenten ein schriftliches Pereat längst verziehen haben, so schwillet doch, wenn den Korrespondenten das Sauerampfer-Blättgen wieder in die Hände fällt, der alte Sauerteig […] wieder auf.18

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Staatsbibliothek zu Berlin, Nachlass Jean Paul, Sign.: Fasz. XXIV/4. Jean Paul, Blumen- Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel, Erstes Bändchen, Matzdorff, Berlin 1796, S. 139.

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CC (Carbon Copy), BCC (Blind Carbon Copy) und DC (Data Compression)

Die Säure verweist dabei auf ‚vergiftete‘ Äußerungen des Zorns, die der empfindsam-satirische Schriftsteller „nur in seinem Dintefasse und seiner Schreibfeder […], aber nicht in seinem Herzen“ haben sollte.19 Solcherart wird die ubiquitäre Archivierung der negativen Affekte zugleich zur Garantie der Bewahrung der positiven, die als „Schäfer-Briefe“ in den archivischen „Briefgewölben“ verwahrt werden,20 sodass bei neuerlicher Aushebung aus dem Gewölbe der „Anblick der geliebten Hand, des willkommnen Siegels und der lieblichen Worte und der papierne Spielraum so mancher Entzückung […] auf das Herz wieder den Sonnenschein der veralteten Liebe“ würfe und „sich wie ein beschienener Blumenkelch wieder der kleinen Vorzeit aufthun“ würde.21 Noch stärker als die Exzerpthefte, in deren Schatten die Briefkopierbücher in der Erforschung von Jean Pauls Schreibsystem noch immer stehen,22 sind letztere in die s o z i a l e Praxis literarischer Kommunikation eingebunden, nicht weniger als jene sind sie daran beteiligt, Jean Paul als empfindsamen, ständig das eigene Schreiben re-flektierenden Autor zu formatieren.23 Da Rekursivität als eine grundlegende Charakteristik der Wirkung von Kulturtechniken zu betrachten ist,24 sollte diese empfindsame Formatierung – ihre überwältigende kulturelle Wirkung vorausgesetzt – ihrerseits in den administrativen und merkantilischen, namentlich buchhändlerischen, Kontexten ein Echo finden, in denen sie zuvor ja vorformatiert worden waren. Schwenkt man in diesem Sinne von den empfindsam-enthusiastischen Figurationen literarischer „paper knowledge“ in Briefkopierbüchern25 zu jenen Praktiken zurück, die im Verlagsleben der Zeit herrschten, so müsste man solche Echos verzeichnen können. Man sollte freilich nicht erwarten, dass Verleger oder Verlegerinnen nur deshalb, weil einer ihrer Autoren sich durch literarische Transformation empfindsamer Daten aus Briefen und Exzerptheften in Publikationen eine herausragende Rolle im literarischen Feld erschrieben hatte, nun ihrerseits den Verzeichnungsstil 19 20 21 22

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Ebd. Ebd. Ebd. S. 140 Zur Exzerptheft-Praxis vgl. Christian Helmreich, Die Geburt des Romans aus dem Geist der Gelehrsamkeit. Anmerkungen zu Jean Pauls Exzerptheften, in: Elisabeth Décultot (Hrsg.), Lesen, Kopieren, Schreiben. Lese- und Exzerpierkunst in der europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts, Berlin 2014, S. 243–270; zur kulturtechnischen Verschränkung vgl. Bettine Menke, Ein-Fälle – aus Exzerpten. Die ‚inventio‘ des Jean Paul, in: Renate Lachmann (Hrsg.), Die Rhetorik als kulturelle Praxis, Paderborn 2008, S. 291–307. Zur Schaltstelle der Briefkopierbuchführung vgl. Jörg Paulus, „An der Hand, im Briefe und im Buch“. Jean Pauls Distributions-System der Liebe und der Lebens-Mittel, in: Jahrbuch der Jean-PaulGesellschaft 2017, S. 5–27. Zur Bestimmung von Kulturtechniken als Ketten von rekursiven Operationen vgl. Erhard Schüttpelz, Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken, in: Archiv für Mediengeschichte 6 (2006), S. 87–110, sowie Harun Maye, Was ist eine Kulturtechnik?, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1, 1 (2010), S. 121–136. Lisa Gitelman, Paper Knowledge. Towards a Media History of Documents, Durham / London 2014, S. 21f.

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ihrer Verlagskorrespondenz änderten. Die Rückkoppelung ist vielmehr als ein komplexer, diverse Akteure einbeziehender Actor-Network-Prozess zu denken. Von den Verlegern, mit denen Jean Paul korrespondierte, haben sich Kopierbuchfragmente u. a. im Brief-Archiv des Vieweg-Verlags der Technischen Universität Braunschweig erhalten. Auch im Kopierbetrieb dieses Verlagshauses werden Redundanzen wie die briefstellerischen Standardformeln in der Regel abgekürzt und weggelassen. Vor allem aber geht es ganz wesentlich und scheinbar ganz wörtlich – und in der Regel ganz nüchtern – um jene Güter, die bei Jean Paul stets im Zwischenraum zwischen wörtlicher und metonymischer Bedeutung gehandelt werden: Blätter und Blüten, Papiere und Pflanzen, Tinten und Schreibfedern. Auch wenn Verleger nicht durchs Verlegen empfindsamer Literatur zu empfindsamen Unternehmern werden, wird ihre kulturtechnische Arbeit davon affiziert, dass sie diese Materien mit ihren Autoren teilen. Und die Arbeit gegen das „Pereat“ der Dokumente verdichtet sich auch bei ihnen im zunehmend vollständigen Führen von Briefkopierbüchern, auch wenn diese Praxis unter einem anderen Modus der Präposition steht, wie Bruno Latour in Anlehnung an William James sagt:26 Der Verlag verlegt Bücher, der Autor schreibt sie – beide agieren somit in unterschiedlichen Modi der Existenz. In der Kulturtechnik des Kopierbuchs aber sind diese Modi miteinander verschränkt. Für den Verleger freilich hat die Formatierung der Seite ein anderes ‚Backend‘, auf das weder seine Autoren und Autorinnen noch seine Leser und Leserinnen Zugriff haben. Dies wird in einer fragmentarisch überlieferten Briefkopie aus dem Jahr 1815 deutlich, in der es um Papierqualitäten, -formate und -preise geht: […] daß ich Ihnen für das noch zu erwartende nicht mehr als 11 ½ p Ballen in L’dor […] zahlen kann, besonders da Sie baares Geld verlangen und ich die hiesige Accise auch davon zahlen muß. Sollten Sie dies Papier daher anderweitig besser verkaufen können, so thun Sie Es […] Den Rest des GR Papiers erwarte ich nun geleimt, nur breit wie das erste gepackt, aber schärfer gepresst, damit es ein besseres Ansehn erhält und der mir übersandten Probe gleich kommt. Die Uebersendung eilt nicht[,] nur werde ich, wenn Sie mir das Druck\median/-papier liefern wollen, dies Ende dieses Monats erwarten.27

Aus solchen Dokumenten fällt Licht auf die von dem kanadischen Medientheoretiker Harold Adam Innes unter dem Begriff der „staples“ zusammengefassten infrastrukturellen Voraussetzung des mobilen Transportmediums Papier.28 Wenn hier vom Median-Papierformat die Rede 26

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Bruno Latour, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, aus dem Französischen von Gustav Rößler, Berlin 2014, S. 91–117. Vieweg-Verlag an Unbekannt, Oktober oder November 1815, Vieweg-Archive, Technische Universität Braunschweig. Vgl. Harold Adam Innes, Imperien und Kommunikationswege (1950), in: Andreas Ziemann (Hrsg.), Grundlagentexte der Medienkultur, Wiesbaden 2019, S.  289–296; in Fortschreibung der Position

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ist, dann wird damit ein Papierformat benannt, das „in der Größe das Mittel zwischen dem gemeinen Papiere und dem Regal-Papiere hält“29 und damit auf ein vor allem auch ästhetisch akzentuiertes Zusammenrücken der Papierformate um 1800 hinausläuft.30 Während aber Jean Paul seine Briefkopierbücher integral und mit großer Sorgfalt aufbewahrt hat – und diese Dokumente so auch nach seinem Tod im Sinne eines „Nachlassbewusstseins“ der Folgegenerationen erhalten blieben,31 wurden die Kopierbücher des Vieweg-Verlags zu einem späteren Zeitpunkt in Einzelblätter aufgelöst, um die Korrespondenzen nach der alphabetischen Ordnung der Korrespondenten in Mappen archivieren zu können. Da aber die Seiten in der Regel doppelseitig beschrieben waren, fielen diesem Verfahren viele Briefe zum Opfer, die für weniger wichtig erachtet wurden. In der Regel wurden zusammenhängende Korrespondenzen zur Archivierung ausgewählt; Einzeldokumente, die auf den Rändern oder Rückseiten der auserwählten Dokumente zu finden waren, wurden dann – statt wie heute in den digitalen Abfallkorb verschoben zu werden – durch Ausstreichung annihiliert (so auch das oben zitierte Brieffragment). Die Rettung der abjekten Papierobjekte auf den Rändern und Rückseiten verdankt sich indes einzig jener spezifischen Medienqualität des Papiers, eine Vorder- und eine Rückseite zu besitzen. Diese recto-verso-Qualität des Mediums Papiers wird dann in der Folgezeit zum entscheidenden Faktor in der technischen Rationalisierung von Kopierbuch-Praktiken.

II CC, DC und BCC. Vervielfältigen, Verdichten und Verstecken im Briefkopierbuch Das folgende Briefbeispiel stammt aus einem in England produzierten Copying Book, das auf den Rückseiten transluzenter Blätter spiegelschriftliche Kohlekopien – jene Carbon Copies, auf die bekanntlich das Kürzel CC zurückgeht – versammelt, die auf den Vorderseiten mehr oder weniger gut lesbar werden. Das Copying Book, zu der die Briefkopie gehört, ist ursprünglich

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von Harold Innes hat Jussi Parikka die ‚Staples‘ der neuen (und nicht nur der ‚sozialen‘) Medien erforscht, vgl. Jussi Parikka, A Geology of Media, Minneapolis 2015, passim. Lemma „Median“ in: Johann Georg Krünitz, Oekonomische Enzyklopädie, oder allgemeines System der Staats- Stadt Haus- und Landwirthschaft, online-Ausgabe [15.2.2022]. Die eher seltene ‚Frontend‘-Perspektive auf das Median-Papier stellt in der Regel dessen ästhetische Qualitäten in den Vordergrund, so ist vom „niedlichen Format“ des Medianpapiers in Zeitungen der Zeit die Rede, vgl. Donnerstags-Blatt, Zürich, 26.8.1790, [15.2.2022]. Kai Sina, Carlos Spoerhase (Hrsg.), Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750–2000, Göttingen 2017.

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Teil einer in London produzierten Kopiermappe, die nach einem von Ralph Wedgewood senior 1806 patentieren Verfahren funktioniert. Hierbei wird unter ein transluzentes Blatt des Kopierbuches ein zweiseitig beschichtetes Kohlepapier und wiederum darunter ein Postpapier gelegt. Beim Beschriften der Vorderseite des transluzenten Blattes mit einem zur Mappe gehörenden Metallgriffel (mit oder ohne Jadespitze) entstehen gleichzeitig zwei Kopien: eine spiegelverkehrte (I) auf der Rückseite desselben Blattes im Kopierbuch, und eine zweite spiegelrechte (II) auf dem eingelegten Postpapier. Diese Kopie wird wie ein Original behandelt und geht an den Empfänger. Anders als die Blätter des Buches, die den Abdruck der Rückseite auf der Vorderseite sichtbar machen sollen, kann das undurchsichtige Postpapier auf beiden Seiten beschrieben werden.32 Für die vorliegende Abbildung des Blattes aus einem Copying Book sind die auf seiner Vorderseite eher blass durchscheinenden Schriftzeilen der Rückseite erst durch digitale Kontrastverstärkung lesbar gemacht worden. Das Blatt ist in der rechten oberen Ecke eigenhändig mit „30.“ in dunkelbrauner Tinte foliiert. Auf seinem oberen Viertel finden sich die abschließenden Zeilen eines Briefes samt Grußformel, und unmittelbar darunter bis zum Ende der Seite ein vollständiger Brief mit Angabe von Ort und Datum, Anrede und Unterschrift. Die oberen Zeilen beschließen einen vierseitigen Brief, der im Copying-Book auf S. 27 beginnt und dort auf den 17. Dezember 1832 datiert ist. In ihm richtet sich Hermann von Pückler-Muskau an Sarah Austin (1793–1867), die seinen literarischen Erstling, die anonym erschienenen Briefe eines Verstorbenen von 1830/31 ins Englische übersetzt hat. Beide führen seit spätestens 1831 einen vertraulichen Briefwechsel.33 Direkt unter diesen Zeilen wendet sich Pückler nur einen Tag später, am 18. Dezember 1832, an Lucie von Pückler-Muskau, die er wie üblich mit „Schnucke“ anredet. Der Brief schließt mit einer kurzen Nachschrift vom 19. Dezember und ist mit „Lou“ unterschrieben.

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Als Medium von handlichem Format (eines mittelgroßen Laptops), geringer Störanfälligkeit und ortsunabhängiger Benutzbarkeit ist die Kopiermappe als Akteur eines sich im 19. Jahrhundert beschleunigenden und funktionell ausdifferenzierenden Datenverkehrs zu betrachten. Als ortsunabhängige Kopiertechnik, die ein Schreiben auch während des Reisens per Postkutsche erlaubt, ermöglicht sie ein frühes ‚Texten‘ auch während der Bewegung der Schreibenden, bzw. ein ‚Texten‘, das durch die eigene Bewegung zusätzlich befördert wird. Die Kopiermappe ist in dieser Hinsicht zu den „portable media“ zu rechnen, vgl. dazu Martin Stingelin, Matthias Thiele (Hrsg.), Portable Media. Schreibszenen in Bewegung zwischen Peripatetik und Mobiltelefon, München 2009; zu detaillierten Erläuterungen des Kopierverfahrens, bei dem anstelle eines Brieforiginals gleichzeitig zwei bis drei voneinander verschiedene Kopien entstehen, vgl. Andrea Hübener, Copierbuch und Copiermaschine. Originale Kopien – Kopien ohne Original – Kopien als Originale, in: Paulus, Hübener, Winter, Duplikat (Anm. 11), S. 41–65. Zu Austins Reaktion auf Pücklers Kopierbriefe und deren Implikationen vgl. ebd. S. 50–53 u. 62–64; zum Briefwechsel Austin / Pückler v. a. in Hinblick auf Sarah Austin, die Pückler bis dahin nur aus Briefen kennt, vgl. Lotte und Joseph Hamburger, Contemplating adultery. The Secret Life of a Victorian Woman, New York 1991.

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CC (Carbon Copy), BCC (Blind Carbon Copy) und DC (Data Compression)

Abb. 2: Hermann von Pückler-Muskau an Sarah Austin, Muskau, 17. Dezember 1832, S. 4, und an Lucie von Pückler-Muskau, Muskau, 18.–19. Dezember 1832, S. 1; Kohledurchschrift (I), Kontrast digital verstärkt (Biblioteka Jagiellońska Krakau, Sammlung Varnhagen, 176, Copying Book Nr. IV). 279

Andrea Hübener, Jörg Paulus

Beide Briefe weisen Gemeinsamkeiten und bezeichnende Unterschiede nicht nur in den jeweils verwendeten Orts- und Personennamen auf, die aber mit Blick auf die hier im Vordergrund stehende mediale Fragestellung vernachlässigt werden können. Beide Empfängerinnen erhalten jeweils eine Briefkopie (II) auf Postpapier: Austin einen vierseitigen Brief, dessen vierte Seite nur zu einem Viertel beschriftet ist, und Lucie von Pückler-Muskau einen einseitigen Brief, der auf Höhe des zweiten Drittels der Seite einsetzt. Beide Briefe verraten nichts von ihrer zeitlichen und topologischen Nachbarschaft im Copying Book. Auf diesem Blatt finden sich alle drei mit den Kürzeln CC, BCC und DC identifizierbaren Aspekte versammelt: Das CC ganz handgreiflich in den Carbon Copies beider Briefe, das BCC für Blind Carbon Copies insofern, als die Schreiberinnen aus der ihnen jeweils vorliegenden Nachricht nicht erkennen können, dass die an sie verschickten Kopierbriefe in der ersten Kopie des Kopierbuchs z. T. auf einer gemeinsamen Seite stehen. Im Falle des Briefs an Lucie wird die Empfängerin sogar dazu verleitet, den auf der Briefkopie (I) für Sarah Austin reservierten Platz auf der Kopie (II) als Devotionalabstand und damit als traditionelles Zeichen der Hochschätzung zu lesen. Die mit dem Kürzel DC benannte Verdichtung schließlich lässt sich für die genannte Seite des Kopierbuchs insofern konstatieren, als aus Gründen des einzusparenden Platzes die auf dem Postpapier getrennten Briefe sich hier ein Blatt teilen. Die Aufhebung der bis dato im privaten Briefverkehr geltenden Distinktionen ist nicht die einzige, die das Kopierbuch einführt. Das Format der Copying Books (21 x 26  cm) gibt zugleich das Format für das Postpapier vor und setzt damit eine weitere Egalisierung durch, die im Briefverkehr Pücklers keinesfalls selbstverständlich ist, dass nämlich die bürgerliche Sarah Austin einen Brief im selben Papierformat wie die adlige Lucie erhält – was beiden Empfängerinnen allerdings ebenfalls entgehen muss. Für diese Briefkopien kommt nicht wie sonst in Pücklers Briefen glattes und helles Papier englischer Mühlen zum Einsatz, sondern ein ins Graue spielendes mit rauer Oberfläche. Dies mag den Unmut einiger Adressatinnen der Briefkopien zusätzlich befördert haben, die an ihnen vor allem den Verlust ehemals geschätzter Briefeigenschaften beklagen. 34 Die Artikulation von Verlusterfahrungen im Zusammenhang der vorliegenden briefstellerischen Innovation durch kopierte Briefe spiegelt vergleichbare Reaktionen auf Kommunikationsformen via E-Mail und Social Media, die ihrerseits an früheren Normen des Schriftverkehrs gemessen werden.

34

Vgl. auch Hübener, Copierbuch (Anm. 32).

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CC (Carbon Copy), BCC (Blind Carbon Copy) und DC (Data Compression)

III DC von Schrift und Bild. Comic strip avant la lettre und Bade-Zeitung im Brief

Abb. 3a: Hermann von Pückler-Muskau an Lucie von Pückler-Muskau, London, 7. Oktober 1827 (Biblioteka Jagiellońska Krakau, Sammlung Varnhagen, 164, [S. 22v]). 281

Andrea Hübener, Jörg Paulus

Im vorliegenden dritten Beispiel geht es um eine besonders auffällige Verdichtung picturaler und skripturaler Zeichen und Graphismen35 in einer Art Bilderfries, der die gesamte Breite der Seite, aber nur ein Viertel ihrer Höhe einnimmt. Zu sehen sind darin insgesamt vier Szenen, die wie in Vorformen der Comicstrips beschriftet und von Tintenlinien wie Panels eingefasst sind. Eine durchgehende waagerechte Tintenlinie unter den Zeichnungen grenzt diese ebenfalls gegenüber den folgenden Schriftzeilen so ab, dass dabei einige Großbuchstaben der obersten von ihnen durchkreuzt werden. Die Zeichnungen greifen auf Frühformen des bildlichen Erzählens zurück, das die Stationen einer Geschichte durch eine Folge von Bildern umsetzt und um Spruchbänder ergänzt, die den Figuren als wörtliche Rede zugeordnet sind. Sie erinnern zugleich an Darstellungsformen zeitgenössischer Karikaturen, wie sie auch für erste Bildgeschichten – etwa diejenigen von Rodolphe Töpffer, dessen erste Geschichte Les amours de M. Vieux Bois im selben Jahr wie der vorliegende Brief entsteht36 – charakteristisch sind und für spätere Comicstrips typisch werden. In den vorliegenden Panels gibt es noch keine Sprechblasen – ebenso wenig wie bei Töpffer –, aber die Schreibrichtung der eingefügten direkten Rede zeigt bereits innerhalb der Szenen an, welcher der Figuren sie jeweils zuzuordnen ist. Die vorliegende Seite und die unmittelbar vorausgehende entstehen am 7. Oktober 1827 und sind Teil eines umfangreichen und über mehrere Tage sich erstreckenden Briefes von mehr als elf Doppelblättern, den Pückler an Lucie von Pückler-Muskau schreibt. Er befindet sich zu dieser Zeit auf einer mehrjährigen Reise durch Großbritannien, während die von ihm seit 1826 bereits geschiedene Lucie von Pückler-Muskau an seiner Stelle die Geschäfte in Muskau führt. Sie verfolgt dabei auch das eigene Projekt der Etablierung eines Kur-Bades, das der chronisch verschuldeten Standesherrschaft und dem in Muskau entstehenden Landschaftsgarten als Einnahmequelle dienen soll – bis dahin mit wenig Erfolg. Auf dieses Projekt bezieht sich die vorliegende Briefseite, die mit ihren vier karikaturistischen Szenen auf einen am selben Abend erhaltenen Brief Lucies antwortet. Eine nähere Betrachtung der vorliegenden Seite lässt erkennen, dass Pückler, nachdem er die vor einer Pulvertonne mit darauf stehender Kerze sitzende Heidschnucke unter die unmittelbar vorausgehende Schriftzeile gezeichnet hat, zunächst im Schriftmodus seinen Brief

35

36

Sabine Mainberger, Art. Graphismus/Graphismen, in: Ludger Kühnhardt, Tilman Mayer (Hrsg.), Bonner Enzyklopädie der Globalität, 2 Bde., Wiesbaden 2017, Bd. 1, S. 419–431. Vgl. Rodolphe Töpffer, Die Liebesabenteuer des Monsieur Vieux Bois, in: Ders., Komische Bilderromane, 2 Bde., hrsg. von Anne Gabrisch, Berlin / München u. a. o. J. [1967], S. 153–246. Töpffers Bildergeschichten werden erst ab den 30er Jahren von ihm veröffentlicht. Es ist nicht unmöglich, dass Pückler, der vielfältige Kontakte nach Frankreich unterhielt, diese Bildgeschichte schon vor ihrer Veröffentlichung kennengelernt hat, ohne dass sich das bisher durch einen expliziten Hinweis belegen lässt.

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CC (Carbon Copy), BCC (Blind Carbon Copy) und DC (Data Compression)

fortsetzt, und erst danach die drei außen liegenden Szenen hinzufügt und diese sukzessive um Anteile wörtlicher Rede und Bildtitel ergänzt – offenbar verlockt vom verbliebenen leeren Platz und von der Herausforderung durch die eigene Zeichnung, deren Evokationskraft sich als bilderzählerischer Sprengsatz erweist.

Abb. 3b: Bildausschnitt aus dem Brief Hermann von Pückler-Muskaus an Lucie von Pückler-Muskau. Die Transkription der hier notgedrungen ausschnitthaft zu berücksichtigenden Seite versucht der Seitengestaltung durch die integrale Wiedergabe aller darauf vorhandenen Zeichen samt Korrekturen in ihrer topologischen Anordnung auf dem Blatt nahezukommen, muss aus Platzgründen aber auf den originalen Zeilenfall verzichten.37 Hier zunächst die wenigen Schriftzeilen vor und nach dem Bilderfries. Die Schriftanteile innerhalb der Zeichnungen, die sich hier nicht als Teil der Bilder in ihrer topographischen Anordnung wiedergeben lassen, werden in den Erläuterungen nachgetragen:

37

Der Zeilenfall im Briefmanuskript wird hier durch Zeilenendzeichen (|) markiert; weitere Angaben zum Schrift träger und den Wiedergabeformen der Zeichen in den Anmerkungen. Fehler wie die vergessenen Anführungsstriche unten vor Beginn der wörtlichen Rede und die Verwendung von schließenden Anführungsstrichen unten statt oben, die damals möglich, heute aber falsch sind, werden hier nicht korrigiert.

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Andrea Hübener, Jörg Paulus [22v] […] Uebrigens arme Schnucke scheint dir doch beinahe | über die Attaque des verzognen Bade Kindes die | Galle übergelaufen zu seyn, u. die Stelle: lasse | nicht mein armes Kind ohne das Muskau | nicht Muskau seyn würde„ hat mich malitiös | lächeln gemacht, denn ich sah Schnuke schon | vor mir mit einem Bein auf der Pulver- | tonne. [Zeichnungen zum Muskauer Badeleben, in der Mitte ein sitzendes Schaf vor einer mit „Pulver | u. Bier“ beschrifteten aufrecht stehenden Tonne] Mein Brief an Dittig u. die Oekonomie | Comissarien war sehr gut, denn mir liegt weniger | daran, ob mir \wir/ etwas Sandfeld mehr oder weniger | bekom̅ en, sondern daß der Plan realisirt wird | [am linken Rand oben] Bey der nächsten Edition des Hermansbades können diese kleinen | Scitzen als passende Vignetten dienen.38

Die Zeichnungen gehen vom gezeichneten Schaf im Zentrum des Bilderfrieses aus, das offenbar die als „Schnucke“ angeredete Adressatin „mit einem Bein auf der Pulvertonne“ darstellen soll. Jene später entstandenen Szenen zeigen links ein Panel, das etwa ein knappes Drittel des Frieses einnimmt und im Innern mit „Dreck noch emal, oder das | Moorbad.“ beschriftet ist. Es zeigt eine Moorbadewanne, aus der links ein Kopf im Profil herausragt, der nach rechts oben blickt und zwei Arme hinausstreckt, deren Verlängerung die Worte „Hülfe, ich ersticke!“ bilden. Der Bildhintergrund oben links zeigt in perspektivischer Verkleinerung eine als „Der Herr | Doctor“ beschriftete stutzerhafte Figur mit Krückstock im Profil, von deren Kopf ein waagerechtes Schriftband „Ich kom̅ e schaun.39“ ausgeht. Das Panel oben rechts nimmt etwa ein Viertel der Höhe des Bildfrieses und etwa zwei Drittel der Seitenbreite ein. Es zeigt einen links mit „Feuerspritze | u. Droschke des | Hermansbades“ beschrifteten vierrädrigen Karren mit Deichsel rechts, auf dem zwei Gestalten im Profil zu sehen 38

39

Biblioteka Jagiellońska Krakau, Varnhagen-Sammlung, Briefkonvolut Nr.  164: Hermann von Pückler-Muskau an Lucie von Pückler-Muskau, London, 6.  bis 7.  [Oktober  1827], Doppelblatt 37,2/18,6 x 22,6 cm, Papier, mittelfest, beige, leicht gelblich, etwas gebräunt, zusätzlich 1x quer gefaltet, Wasserzeichen „Smith & Co | Turkey Mill | 1825“; 4  S. vollständig beschriftet (21r–22v), br. Tinte; Teil eines umfangreichen abgeschickten Briefes, der sich über mehrere Tage u. noch über das angegebene Datum hinaus erstreckt. Fortlaufende spätere eigenhändige Paginierung jeder Briefseite, braunrote Tinte, 1251–1254, hier 1254. Wiedergabe von lateinischer Kurrentschrift durch serifenlose Lettern, spätere Einfügungen mit \ / markiert. Weitere Details der autopsierten Briefseiten bleiben ausgespart. Überschreibung von „schon“. Vgl. auch den mit einer Entzifferungshilfe versehenen Ausschnitt der Seite, der in nur wenigen Punkten von der hier vorgeschlagenen Transkription abweicht, bei Petra Kabus, Briefe an eine Geschiedene. Der Briefwechsel zwischen Lucie und Hermann von Pückler-Muskau während dessen Englandreise 1826–29, in: Stiftung Fürst-Pückler-Museum. Park & Schloß Branitz (Hrsg.), Die grüne Fürstin. Lucie von Hardenberg – die Frau Fürst Pücklers, S. 47–62, hier S. 57.

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CC (Carbon Copy), BCC (Blind Carbon Copy) und DC (Data Compression)

sind, deren rechte einen Wasserstrahl auf eine dem Wagen zugewandte Figur im Profil rechts richtet, die von diesem Strahl umgerissen wird, wie das über den Körpermittelpunkt gehobene rechte hintere Bein, der bereits in Schräglage abgebildete Körper und der nach hinten ausgestreckte, vordere Arm andeuten. Die zu der Figur gehörende wörtliche Rede findet sich in ihrem Rücken, rechts im Bild: „Herr Jesus! Das | ist mein Ende!“ Dabei hat es sogar den Eindruck, sofern das bei der sehr kleinen Zeichnung der zweiten Figur rechts auf dem Wagen keine Täuschung ist, als schwebe ihr Hut ein Weniges über deren Kopf – gewissermaßen als Ausdruck ihres Entsetzens. Das vierte Panel, rechts von der sitzenden Schnucke, auf derselben Höhe wie Schaf und Tonne, von etwa der halben Höhe des Bilderfrieses und einem Drittel seiner Breite, zeigt zwei Figuren im Profil, die eine Bahre samt darauf liegender Figur tragen. Der linken von beiden, einer weiblichen Figur im Kleid ist eine leicht ansteigende Schriftzeile zugeordnet, die direkt bei ihrem Mund beginnt: „Bläsche! Der steht wohl nich wider uf?“ Die ihr gegenüberstehende Figur rechts mit breitkrempigem Hut ist über dem Kopf und rechts davon als „Polizey – Bade – Garten | u. Gasthofs | Inspector“ bezeichnet und die ihr zugeordnete wörtliche Rede durch eine Tintenlinie abgetrennt: „Der Ratzenfänger | bin ich ja, | Stetz lustig | hesa, hopsasa.“ Direkt darunter, aber durch einen Strich darüber eigens abgetrennt und etwas weiter in das Panel mit der sitzenden Schnucke hineinragend, findet sich die Unterschrift, die sich über diese vierte Szene hinaus auch auf alle vier beziehen lässt: „Gründliche Cur durch das russische | Dampfbaad!“ Pücklers Bildfolge antwortet offenbar auf Lucies Bericht vom Badeleben in Muskau und insbesondere ihren Satz: „lasse nicht mein armes Kind ohne das Muskau nicht Muskau seyn würde“, der vermutlich ebenfalls aus dem eben erhaltenen Brief stammt.40 Der Schreiber zitiert ihn gleich zweimal: in den Briefzeilen über dem Bilderfries, und – übersetzt in die wörtliche Rede des „verzognen Bade Kindes“ innerhalb der Zeichnung in der Ich-Form – als: „Muskau wäre ohne michnicht Muskau!“, die aber nun der gezeichneten Haidschnucke in den Mund bzw. ins Maul gelegt ist. Die Metapher „Schnucke auf der Pulvertonne“ als Bild für Lucies sich explosiv entladenden Zorn wird wörtlich genommen und in seinen Konsequenzen für die Badegäste durchgespielt. Aus der allegorischen Darstellung einer zornigen Schnucke (der in barocker Manier mit der gezeichneten Pulver-Tonne das Attribut schneller Entflammbarkeit zugeordnet wird) entwickelt sich eine ganze Katastrophen-Serie mit letalem Ausgang, die Pückler nach Art eines Moritatensängers der Adressatin zu Belehrung und Vergnügen vor Augen stellt. Der abschließende Vorschlag, die „Scitzen“ als Vignetten in „der nächsten Edition des Hermansbades“ – einer Badezeitung oder Werbebroschüre – zu verwenden, ist vermutlich ironisch zu verstehen, nimmt jedoch ebenfalls den Moritat-Gestus auf. Die gedrängte Darstellung, die es erlaubt, alle Bilder gleichzeitig zu erfassen und miteinander in Beziehung zu setzen, vermittelt den Eindruck einer zeitlichen Beschleunigung des dargestellten 40

Die Briefe Lucies an Hermann sind mit sehr wenigen Ausnahmen bis 1833 nicht überliefert.

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Geschehens. Die Detailfreude der „Scitzen“ macht eine überschießende Energie des im Medium von Zeichnung und Schrift erzählenden Schreibers erkennbar, dem der zugemessene Raum der Briefseite bald zu eng wird. Zur Komprimierung des mittels Bild und Schrift Erzählten tragen außer den gezeichneten Szenen selbst die winzigen Schriftzüge bei, die sich den bislang noch freien Raum darin zurückerobern. Gegenüber den bereits existierenden Briefzeilen oberhalb und unterhalb des für die Zeichnung reservierten Platzes erzwingen die zu den Skizzen gehörenden Schriftzüge schließlich eine zusätzliche Abgrenzung in Form der durchgezogenen Tintenstriche oberhalb und unterhalb der Szenenfolge. Diese Striche dienen als Lesehilfe für Lucie und als Barriere nicht nur zwischen der Bild-Text-Sequenz und dem übrigen Brief, sondern auch zwischen unterschiedlichen Referenzebenen von Schrift: a) ihrer thematischen Bestimmung der Bilder, b) der mündlichen Rede der gezeichneten Figuren, die umgangssprachlich und dialektal gefärbt ist, und c) der restlichen Briefzeilen, aus denen ein Brief-Ich spricht, das von dem in Bild und Schrift präsenten Erzähler im Innern des Frieses zu unterscheiden ist. Mit diesem Fries spiegelt Pückler in der Rolle des Sensationsreporters der Adressatin die eigenen Erlebnisse in Form eines dramatisierten Bild-Schrift-Gefüges zurück. Seine Rückspiegelung erkennt Lucies Briefen Unterhaltungswert zu und macht Muskau zum Schauplatz komisch-dramatischer Ereignisse, die in der wörtlichen Rede des Inspectors mit Papageno zugleich die Zauberflöte anklingen lassen. Die Darstellung dieser Ereignisse rückt der Adressatin auch das Fehlen des abwesenden Besitzers von Muskau, des Absenders, vor Augen, der seinerseits Gegenstand zeitgenössischer englischer Karikaturen ist, die ihn als belachenswerten Mitgiftjäger zeigen.41 Der Bilderfries verlangt in seiner Zeichenverdichtung eine eingehende, intensive Lektüre von Bild und Text, die das Geschriebene zu entziffern erlaubt und den Entstehungsprozess der Szenen erkennbar macht. Dies kann man dem Entpacken einer zuvor komprimierten Bilddatei vergleichen. Der vom Betrachter und Leser nachvollziehbare Prozess der zunehmenden Verdichtung der beschrifteten Zeichnungen wird dabei wesentlich von der als Begrenzung fungierenden Schriftzeile darunter („Mein Brief an Dittig […]“) eingeleitet, die damit selbst als eine Art graphisches Äquivalent zu einem zip-Befehl anzusehen ist – der freilich nicht eine bereits vorhandene Datenmenge komprimiert, sondern dafür sorgt, dass alle picturalen und skripturalen Zeichen, die in den noch verbliebenen Leerraum oberhalb dieser Schriftzeile eingetragen werden, diesem Befehl folgen. So entsteht der topologische Eindruck eines im Bildfries repräsentierten unbändigen fiktiven Erzählens, das – durch die Briefzeilen oben und unten in Schach gehalten – zu dessen auch metaphorisch zu verstehender Verdichtung führt. Auf diese Weise verursachen die übrigen Briefzeilen der Seite, die untereinander einen gewöhnlichen Zeilenabstand aufweisen, die zunehmende

41

Vgl. die von Pückler selbst gesammelten Karikaturen, u. a. AN. ELECTION BALL, in: Fürst-Pückler-Park Bad Muskau (Hrsg.), Englandsouvenirs. Fürst Pücklers Reise 1826–1829, Zittau 2005, S. 11, Abb. 3, oder Inconveniences of a Crowded DrawingRoom, ebd. S. 55, Abb. 1.

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CC (Carbon Copy), BCC (Blind Carbon Copy) und DC (Data Compression)

Komprimierung des Bild-Textes zwischen ihnen, in dem wiederum ein erdichtetes reges Muskauer Badeleben und -sterben repräsentiert ist, das seinerseits nichts von zu erwerbenden Parkflächen und Geldsorgen wissen muss, die ein Thema der sie umgebenden Briefzeilen bilden.

IV DC und CC, Sharen und Retweeten. Verdichten, Teilen und Verbreiten im Brief

Abb. 4: Annette von Droste-Hülshoff an Levin Schücking, Meersburg, 16.–17. April 1844 (Deutsches Literaturarchiv Marbach, A: Droste-Hülshoff, [S. 2v]). 287

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Das vierte der Beispiele weist Ähnlichkeiten mit dem vorausgehenden insofern auf, als es sich hier ebenfalls um das Resultat einer erkennbar zeitlich gestaffelten Beschriftung handelt und nachträglich eingefügte Linien die Lektüre der Seite und ihre funktionelle Differenzierung verdeutlichen. Die abgebildete Briefseite enthält dicht gedrängte und auf den ersten Blick kaum zu entziffernde Schriftzeichen. Das Bild der Seite gleicht einem Schriftgewebe, in dem Unterund Durchstreichungen samt unterschiedlichen Sättigungsgraden der Tintenstriche ein unregelmäßiges Muster bilden. Am linken Rand wird eine Schriftspalte, die etwa ein Viertel der Seite einnimmt, rechts und unten von einer Tintenlinie eingefasst. Sie versammelt im Innern fünf Gedichtstrophen. Diese sind voneinander durch Geviertstriche getrennt und durch einen sonst weitgehend eliminierten schmalen Leerraum begrenzt. Die restlichen drei Viertel der Seite werden von einem weiteren Schriftteppich ausgefüllt, der sich eng um die genannte Spalte herumlegt und bis unmittelbar an die Blattränder reicht. Die Seite ist die letzte eines Briefes, den Annette von Droste-Hülshoff vom 16.  bis zum 17. April 1844 an Levin Schücking schreibt. Der Brief bestand ursprünglich aus einem Doppelblatt im Hochformat mit vier vollständig beschrifteten Seiten und wurde zu einem späteren Zeitpunkt in zwei Einzelblätter geteilt.42 Die vorliegende Seite ist 21,7 cm hoch und 13,7 cm breit und entspricht damit fast dem heutigen A5-Format, ist im Vergleich dazu jedoch um ca. 1 cm schmaler. Die hohe Dichte der Schriftzeichen darauf kann ein Vergleich mit der Kritischen Briefausgabe, deren Seitenspiegel nur um weniges kleiner als der der Briefseite ist, illustrieren. Die handschriftliche dreiviertel Seite nimmt darin mehr als drei Seiten ein.43 Um die winzige Schrift auf dem Original zu entziffern, sind wir im Archiv auf eine Lupe angewiesen – die Digitalisierung nimmt uns dieses Werkzeug gleichsam aus der Hand, was uns allen natürlich zugutekommt. Das erwähnte Schriftfeld am linken Rand schließt mit seinen fünf Strophen das letzte von insgesamt sechs Gedichten ab, die der Brief von Seite eins an versammelt. Droste hat sie, wie den folgenden Briefzeilen zu entnehmen ist, bereits am Vortag, dem 16. April, für Schücking abgeschrieben. Die abschließenden Briefzeilen der Seite werden von der Schreiberin als „Apendix“44 zu den mitgeteilten Gedichten samt hinzugefügten Varianten bezeichnet. Erst diesen Zeilen wird am oberen Rand der Seite rechts die Angabe von Ort und Datum

42

43

44

Zur Gestalt des Briefes und zum Verbleib seiner ersten Hälfte vgl. den Kommentar in: Annette von Droste-Hülshoff, Historisch-kritische Ausgabe. Werke, Briefwechsel, hrsg. von Winfried Woesler, Tübingen 1978–2000, Bd.  X.1,  X.2: Briefe 1843–1848 und Kommentar, bearbeitet von Winfried Woesler, Tübingen 1992 und 1996, Bd. X.2, Nr. 332, S. 943f. Vgl. Annette von Droste-Hülshoff an Levin Schücking, 17.  April  1844, in: ebd. Bd.  X.I., Nr.  332, S. 186–189. In der Historisch-kritische Ausgabe werden den Editionsregeln zufolge die Briefe immer nur mit dem belegbaren oder zu erschließenden Versendedatum angegeben. Vgl. den Druck ebd. S. 186.

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CC (Carbon Copy), BCC (Blind Carbon Copy) und DC (Data Compression)

(„Meersburg d i7ten April | 44“) vorangestellt. Die Gedichte sind für einen von Schücking geplanten Musenalmanach gedacht. Die Tintenlinie, die die Gedichte oben links auf der Seite einfasst, ist nicht nur eine Lesehilfe für die schnelle Orientierung auf der Briefseite, sondern zugleich Grenzlinie zwischen zwei verschiedenen Schreibzeitpunkten (16. bzw. 17. April 1844), Textsorten (Gedichtstrophe und persönliche Briefzeilen) und deren Adressierungen (potentielle Leser der Gedichte, zu denen Schücking als ihr erster Leser gehört, und Schücking als persönlicher Adressat der Briefzeilen). Die Auswahl der Varianten und die Endredaktion der Gedichte überantwortet die Schreiberin dabei Schücking, der seit 1843 Redakteur der Allgemeinen Zeitung in Augsburg ist.45 Die Briefzeilen enthalten außerdem Rückmeldungen zu den Druckfahnen für ihre im selben Jahr bei Cotta erscheinenden Gedichte in Buchform, die – anders als der halbanonym erschienene erste Gedichtband von 1838 – unter Drostes vollem Namen erscheinen sollen. Die hier sichtbare Schreibintensität ist also auch eine Schreibarbeit am Ausbuchstabieren des eigenen Namens. Erst die letzten Zeilen kurz vor Briefende gehen – mit Hinweis auf das Ende der Seite und den vor der Tür stehenden „Postschluß“ – noch eilig auf Schückings neuestes Trauerspiel Günther ein und rufen ihm in Vorfreude auf seinen kurz bevorstehenden Besuch in Meersburg Grüße an ihn selbst und seine Frau zu. Die Gestaltung dieser Briefseite ist keinesfalls singulär. In den meisten der erhaltenen Briefe Drostes wird der zur Verfügung stehende Platz maximal ausgenutzt, so dass auf ihren Seiten so gut wie kein Leerraum übrigbleibt – was sicherlich auch als Ausdruck eines nicht EndenKönnens im persönlichen Austausch mit dem Adressaten gelesen werden kann. Die Winzigkeit der Schriftzeichen ist auch mit der starken Kurzsichtigkeit der Droste begründbar, die sie offenbar zwang, beim Schreiben ihr Gesicht sehr dicht über das Papier zu beugen. Das mit der Verdichtung der Zeichen zu reduzierende Briefporto, das nach Gewicht berechnet wurde, dürfte ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Die Kleinheit und Dichte der Schriftzeichen in den Briefen an Schücking stellen zugleich einen relativ wirksamen Schutz vor unliebsamen Mitlesern und gegen ein erstes überfliegendes Lesen nichtbefugter Dritter dar. Die Kleinheit der Schriftzeichen bewirkt außerdem, dass der Empfänger, der die Zeilen lesen möchte, sich genau wie die Schreiberin der Zeilen dicht über das Briefblatt beugen muss. Damit wird gegen eine vor allem von Droste wiederholt beklagte und bezifferte Entfernung beider Korrespondenten über das Medium Brief buchstäblich Nähe zum Adressaten und mittelbar zur Urheberin des Briefs hergestellt. Eine solcherart hergestellte Nähe wäre ein Musterbeispiel für das, was man als medienanthropologische Verschränkung bezeichnen kann, durch die zwei Augenpaare

45

Da der von Schücking geplante Musenalmanach nicht realisiert werden kann, erscheint ein Teil der Gedichte (Der sterbende General, Mondesaufgang, Gemüth, Sylvesterabend) schließlich an anderen Orten, vgl. Droste-Hülshoff, Historisch-kritische Ausgabe (Anm. 42), Bd. X.2, S. 945, und unten.

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durch Schrift und Papier miteinander verkoppelt werden. Als Verdichtungsoperation bildet sich dabei ein Schriftsatz heraus, den man in Analogie zum Kompressdruck, also dem zusammengedrängten Schriftsatz ohne Durchschuss, als Kompressskriptur bezeichnen könnte. In Bezug auf die hier thematisierte Verdichtung der Zeichen und heutige Kommunikationsformen bleibt festzuhalten, dass der vorliegende Brief eine klar erkennbare Zweckbindung zu erkennen gibt, wie sie für zeitgenössische Verlegerbriefwechsel typisch ist, im Austausch zwischen miteinander vertrauten Korrespondenten beiderlei Geschlechts dieser Zeit jedoch schon deshalb eine Seltenheit darstellt, weil die Möglichkeiten der Publikation für Frauen vergleichsweise begrenzt sind. Dabei ist es vorrangig der Aufbau des Briefes, der seine Ausrichtung an publizistischen Zwecken nahelegt: An erster Stelle stehen die übersandten sechs Gedichte für Schücking, an den erst auf der letzten Seite auch einige persönliche Briefzeilen gerichtet sind, die überwiegend von den vorangestellten Gedichten und Textvarianten, Aufgaben für den Adressaten in Hinblick auf die Redaktion der neuen Gedichte und die Korrektur bereits gesetzter Druckfahnen zu sprechen scheinen. Während Gedichte und die Errata-Liste als die wichtigsten Beigaben der Nachricht im heutigen E-Mail-Verkehr vermutlich Anhänge bilden würden, die zur Weiterleitung geeignet sind, könnten die Erläuterungen zu ihnen neben den persönlichen Mitteilungen im E-Mail-Text selbst Platz finden. Im vorliegenden Brief produziert die erwähnte spätere Teilung seines Doppelblattes, „dessen erste Hälfte nur Gedicht-Reinschriften […] enthielt,“46 mit dieser ersten Hälfte zugleich so etwas wie die Vorform eines solchen digitalen Gedicht-Anhangs, der in vielen zeitgenössischen Briefen oft auch durch eine Briefbeilage realisiert wurde. Die abgetrennte erste Briefhälfte, auf der vom vierten Gedicht noch die restlichen elf Zeilen fehlen, wird durch diese Abtrennung nachträglich in eine Auflistung von Gedichten verwandelt, die weitergereicht oder als Briefbeilage verschickt werden konnte – auf Kosten der Gestalt des ursprünglichen Briefs und des vierten Gedichts, das damit auseinandergerissen wird. Schücking dürfte derjenige sein, der das Briefblatt geteilt hat, um die Gedichte der ersten Hälfte kopieren zu lassen oder das Blatt direkt weiterzugeben, die zweite Hälfte mit den für ihn bestimmten Korrekturhinweisen und persönlichen Mitteilungen aber behalten zu können. Alle vier der auf dem ersten abgetrennten Briefblatt enthaltenen Gedichte erscheinen noch in den nächsten drei Jahren,47 die beiden Gedichte der zweiten, vermutlich bei Schücking verbliebenen Blatthälfte aber erst in den Letzten Gaben von 1860, nach Drostes Tod. Dies legt nahe, dass das Abtrennen der ersten Briefhälfte einen Publikationsvorteil für die darauf befindlichen Gedichte bedeutete. Sie waren in dieser Form umso leichter von Hand zu Hand oder als Briefbeilage weiterzugeben oder abzuschreiben, als 46 47

Ebd. S. 943f. Vgl. ebd. S. 945. Im Falle des vierten Gedichts (Sylvesterabend) fehlen auf der 2. Briefseite (1v) noch elf Verse (54–64) von der 3. Briefseite (2r), die zum genannten Zweck zu ergänzen waren.

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CC (Carbon Copy), BCC (Blind Carbon Copy) und DC (Data Compression)

sie keinen persönlichen Brief als „Apendix“ wie den der zweiten Briefhälfte besaßen. Umgekehrt erscheinen damit die konkreten Briefzeilen, die Schücking nicht ohne Not aus der Hand geben konnte oder wollte, als ein Publikationshindernis für die darauf verbliebenen Gedichte. Die hier thematisierte Verdichtung der Zeichen steht mit dieser Frage in keinem ursächlichen, wohl aber bildlich-metonymischen Zusammenhang: Während die ersten drei Seiten aufgrund der dort abgebildeten Gedichte relativ viel Leerraum aufweisen, ist dieser Leerraum auf der betrachteten letzten Seite des Briefs auf ein Minimum reduziert und die Dichte der Schriftzeichen besonders hoch. Dies suggeriert neben einer aus den gedrängten Tintenzeilen sprechenden Informationsfülle für die letzte Seite des Briefes auch ein zwar nicht physikalisches, aber sich optisch mitteilendes spezifisches ‚Gewicht‘ von Seite und Blatthälfte im Unterschied gegenüber dem ersten Blatt. Während dieses, gewissermaßen vom Ballast des folgenden „Apendix“ befreit, seinen Weg zu den verschiedensten Publikationsorten findet, verharrt die zweite Briefhälfte beim Adressaten. Die genannte Dichte der letzten Seite nun erschließt sich  – einer heutigen Zip-Datei vergleichbar – ähnlich wie im vorangehenden Beispiel – dem Adressaten erst in einer Art des entpackenden Lesens, bei dem er auch jene nur für ihn bestimmten persönlichen Bemerkungen und Botschaften entdecken kann, die einer oberflächlichen Lektüre des Briefes entgehen können. Diese Botschaften verstecken sich in diesem vermeintlich allein dem publizistischen Weiterleben der eigenen Gedichte dienenden Brief als Kassiber einer fortdauernden Zuneigung für den Adressaten, der (wie die Schreiberin in anderen Briefen wiederholt dankbar anerkennt) großen Anteil an der Ausbuchstabierung von Drostes Autornamen hat und nimmt: durch den gemeinsamen brieflichen Austausch über die eigenen Dichtungen ebenso wie durch den von ihm für sie bei Cotta ausgehandelten Verlagsvertrag und die Überwachung der Drucklegung ihrer Gedichte, für die sie sich im Vorhinein Eingriffe Schückings verbietet, der Änderungswünsche äußern, aber nur von ihrer Hand stammende „Lesarten zur Auswahl“ verwenden darf, da sie „nicht die kleinste Pfauenfeder in [ihrem] Krähenpelz leide“.48

V Fazit „In vielen Sachen ist’s […], wie Sie vorausgesagt haben  – in andern aber ist’s anders“. Was kann dies in Hinblick auf die sozialen Medien unserer Zeit bedeuten, was kann es z u s ä t z l i c h

48

Annette von Droste-Hülshoff an Levin Schücking, 8. Januar 1844, Droste-Hülshoff, Historisch-kritische Ausgabe (Anm. 42), Bd. X.I, Nr. 323, S. 133–137, hier S. 136: „in meinem Krähenpelz“; vgl. auch Bernd Kortländer, Droste-Editionen, in: Bodo Plachta (Hrsg.), Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte, Tübingen 2005, S. 55–76, hier S. 56.

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bedeuten zur trivialen Feststellung, dass es ‚Unterschiede und Gemeinsamkeiten‘ gibt? Das durch die Verwendung des Jean-Paul-Zitats hervorgerufene Hysteron-Proteron in unserer Argumentation soll in erster Linie als Caveat-Signal verstanden werden. Vorhersagen sind immer auch selbst Medienereignisse, die wir im Rückblick nicht mehr unabhängig von dem, was wir als ihr späteres Eintreffen oder Ausbleiben betrachten, zu denken vermögen. Dass die Verschränkung von Briefbild und Brieftext und ihre kulturtechnische Entfaltung soziale Effekte zeigt und hervorbringt (zum Beispiel Effekte der Selbstversicherung im Übergang vom Konzept zur Abschrift, der Kanonisierung in Form von archivierender Neubewertung und Aussonderung, der sozialen Entdifferenzierung in Form der Status-Integration auf einem Blatt) heißt noch nicht, dass diese Effekte mit ähnlichen Effekten der sozialen Medien unserer Zeit gleichgesetzt werden könnten. Man verfiele damit jener von Alexandre Koyré und nach ihm von Georges Canguilhem bereits in den 1960er Jahren diagnostizierten wissenschaftshistorischen „Precursitis“, dem Zwang, immer und überall in der Vergangenheit Vorläufer rezenter Praktiken und Erkenntnisse auffinden zu müssen.49 Wenn wir also Schreibpraktiken des 18. und 19. Jahrhunderts im Lichte heutiger Routinen der Datenorganisation betrachtet haben, dann konnte es nicht darum gehen, die digitalen Praktiken und Repräsentationsformen aus den analogen der Vergangenheit abzuleiten. Wie wir schon hervorgehoben haben: Eine der Besonderheiten kulturtechnischer Operationen liegt in ihrer Rekursivität. Von jedem bestimmten Punkt aus, an dem man sich gerade befindet, werden vorhergehende Ereignisse zwingend neu bestimmt. Die Gegenwart treibt fortwährend einen Handel mit der Vergangenheit – und sie, die Gegenwart, legt dabei gleichsam den Umrechnungskurs fest. Und so sind für uns heute eben „die Bits […] eine Art Zeichengeld“ geworden, „eine Recheneinheit, durch die alle Zeichensysteme miteinander verrechnet werden – ein ‚allgemeines Äquivalent‘ der Zeichen“, wie Bernhard Siegert es formuliert hat.50 Unser Interesse galt dabei vor allem den schreibpraktischen Währungseinheiten der Vergangenheit – und diese sind bekanntlich ebenso kompliziert und komplex wie es die finanziellen Währungssysteme des 18. und 19. Jahrhunderts gewesen (oder vielmehr: für uns geworden) sind. Und jeder Editor und jede Editorin weiß, dass es freilich ans Unmögliche grenzt, diese Währungseinheiten in die hypothetische Zusammensetzung aktueller „Warenkörbe“ umzurechnen.

49

50

Alexandre Koyré, La révolution astronomique. Copernic, Kepler, Borelli, Paris 1961, S. 79; Georges Canguilhem, Etudes d’histoire et de philosophie des sciences, Paris 1968, S. 20. Bernhard Siegert, Zwischen den Säulen des Herkules. Das Archivo General de Indias in Sevilla, in: Trajekte 2 (2001), S. 8–11, hier S. 10.

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Private und öffentliche Kommunikationsstrategien in den Korrespondenzen und Briefen von Ferdinand Gregorovius Angela Steinsiek

Korrespondenten, so kann man dem Allgemeinen verdeutschenden und erklärenden Fremdwörterbuch des Johann Christian August Heyse (1764–1829), des Großvaters von Gregorovius’ Freund Paul Heyse (1830–1914), entnehmen,1 nennt man einerseits einen Briefschreiber, andererseits aber einen Berichterstatter großer Zeitungen aus dem Ausland – eine noch heute geläufige doppeldeutige Definition. Korrespondenten waren zu allen Zeiten aber nicht einfach Journalisten, sie waren mitunter vielmehr eine Art Influencer mit einer schillernden Identität. Am Beispiel des Historikers Ferdinand Gregorovius, geboren in Königsberg 1821 (sein 200. Geburtstag wurde im Oktober 2021 mit einer Tagung in Rom begangen), gestorben in München 1891, will ich das im Folgenden skizzieren. Gregorovius ist weltberühmt geworden als Verfasser der achtbändigen Geschichte der Stadt Rom Mittelalter (Cotta 1859–1872) und bis heute hochangesehen für die fünf Bände der Wanderjahre in Italien (Brockhaus 1856–1877). Daneben hat er aber unzählige Briefe geschrieben – und er war, was bisher kaum bekannt ist, über viele Jahre als Korrespondent von deutschen Zeitungen in Italien tätig. Den Briefen gewidmet ist ein Forschungsprojekt, das von der DFG getragen wird. Seit dem Start der digitalen Edition der Gesammelten deutschen und italienischen Briefe konnten wir gut 3300 Briefe v o n und a n Gregorovius in fast 90 nationalen und internationalen Archiven und privaten Sammlungen nachweisen (Stand Juni 2022), von denen wir etwa ein Drittel in der jeweiligen Originalsprache edieren werden. Die weitaus größte Zahl dieser Korrespondenzen war bis anhin weder publiziert geschweige denn kommentiert

1

Johann Christian August Heyse, Otto Lyon (Hrsg.), Allgemeines verdeutschendes und erklärendes Fremdwörterbuch. Mit Bezeichnung der Aussprache und Betonung der Wörter nebst genauer Angabe ihrer Abstammung und Bildung, Hannover 211922 (Reprint Hildesheim, New York 1978), S. 469.

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worden  – gänzlich unbekannt waren neben den meisten der rund 600 italienischen Briefe auch die gut hundert Briefe an Mathilde von Humboldt (1830–1897), einer Enkelin Wilhelm von Humboldts, etwa 400 Verlagsbriefe an Brockhaus und Cotta, Dutzende Briefe an Adolf Friedrich Graf von Schack (1815–1894), Briefe an Friedrich Theodor Vischer (1807–1887), Rudolf Virchow (1821–1902), um nur einige zu nennen. Damit eröffnet seine Korrespondenz einen vollkommen neuen Blick auf den Grandseigneur der Mediävistik und Erfolgsautor. Die Briefe relativieren und korrigieren frühere Forschungsergebnisse und geben Anlass zu zahlreichen neuen Fragestellungen im Kontext der Wissenschafts- und Kulturgeschichte, der Verlagsund Journalismusgeschichte, aber auch zum Verhältnis von Zunft- und Privatgelehrtentum. Beispielhaft lässt sich über einen Zeitraum von vierzig Jahren der Aufbau eines internationalen Gelehrtennetzwerks von einem Historiker verfolgen, der sich selbst allerdings vor allem als Schriftsteller verstand – was seiner akademischen Rezeption durchaus nicht zuträglich war. Dabei wurde er immer wieder von Verlagen um Gutachten und von Gelehrten um Expertisen zu aktuellen Fachfragen ersucht. Seine in den Briefen verhandelte Methodik als Historiker wie als Philologe ist oft von staunenswerter Modernität,2 sein zeitpolitisches Urteil hochreflektiert. Und nicht zuletzt sind die Briefe ein historisches Dokument des Risorgimento von einem kritischen Zeitzeugen, der im Zuge des radikalen Umbaus von Rom zur italienischen Hauptstadt zu einem engagierten Akteur wird. Analogien zu den digitalen Kommunikationsformen sharen, liken und retweeten lassen sich im Medium des analogen Briefes im Korpus der Gregorovius-Briefe ganz zwanglos finden. Ohne die Entsprechungen zu den modernen Medien und ihren Begrifflichkeiten allzu sehr zu strapazieren, wurden die Briefe von mehreren Personen verfasst oder an mehrere Empfänger geschrieben, sie wurden, erlaubt oder unerlaubt, weitergereicht, man las sie einander vor oder nahm in Briefen gegenüber Dritten dazu Stellung oder zitierte sie. Und natürlich ist der Ton der Briefe konkret abhängig von der persönlichen Beziehung, der gesellschaftlichen Stellung oder der Intention der Korrespondenten. So rät Gregorovius seinem langjährigen Freund Raffaele Mariano (1840–1812), der mit dem Brockhaus-Verlag über die Aufnahme eines Artikels in der Zeitschrift Unsere Zeit verhandelte, was er selbst in seiner Verleger-Korrespondenz lebenslang aufs peinlichste beherzigte: Erlauben Sie mir Ihnen vorzuschlagen, mit der Absendung des Artikels an Brockhaus eher zu zögern als zu eilen. Denn das letztere würde so aussehen, als läge es Ihnen besonders viel daran, Mitarbeiter von Unsere Zeit zu sein, und es würde den Charakter

2

Etwa in der Einbindung faksimilierter Handschriften im Anhang seiner Lucrezia Borgia-Biographie (Stuttgart: Cotta 1874) oder als Herausgeber der Briefe Alexander’s von Humboldt an seinen Bruder Wilhelm (Stuttgart: Cotta 1880).

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Private und öffentliche Kommunikationsstrategien abschwächen, welchen ich von vornherein Ihrer Beteiligung gegeben habe. Je vornehmer man Redactionen und Verleger behandelt, desto besser fährt man mit ihnen.3

Die nahezu vollständig erhaltene Verlagskorrespondenz von Gregorovius mit Cotta und Brockhaus erlaubt nicht nur einen Blick in die Werkstatt eines außerhalb akademischer Strukturen publizierenden Autors. In den Briefen lässt sich sein Aufstieg zum Erfolgsautor und seine Entwicklung vom Schriftsteller zum Historiker nachverfolgen, der seine Verlagsverträge bis ins Kleinste mit großem Geschäftssinn und äußerster Hartnäckigkeit in einem stets pointiert formellen Ton verhandelte. Finanziell ist Gregorovius schon 1870, zwei Jahre vor dem Abschluss seiner Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter so gut gestellt, dass er Cotta bittet, „irgend welche praktische Wertpapiere zu kaufen“4; 1880 verlangt er von Brockhaus für den Abdruck seiner Reiseschilderungen aus Griechenland in Rücksicht auf sein „Alter als Schriftsteller“ dasselbe Honorar, „welches die Höchsthonorirten“ Autoren des Leipzigers Verlags bekommen.5 Die zahlreichen Neuauflagen seiner Schriften begannen Gregorovius bereits zu dieser Zeit, „eine gute Rente abzuwerfen“,6 zudem suchte er in seinen Verlagsverträgen seine Rechtsnachfolger abzusichern. Als Ferdinand Gregorovius im Frühling des Jahres 1852 italienischen Boden betrat, war diese Erfolgsgeschichte noch nicht absehbar. Hatte der als Schriftsteller, aber vor allem als Journalist hochproduktive Autor seine angestammten Follower in Königsberg nach großer Enttäuschung über die misslungene Revolution von 1848 doch gerade endgültig hinter sich gelassen. In Königsberg war der Theologe und promovierte Philosoph linkshegelianischer Schule einer der führenden Köpfe der radikalen demokratischen Bewegung. Gregorovius war der Hauptbeiträger ihres Organs, der Neuen Königsberger Zeitung, für die er von Ende Mai 1848 bis zur Einstellung des Blattes Ende Juni 1850 eine große Anzahl von Artikeln geschrieben hatte. Während seine Beiträge im Kulturteil namentlich gezeichnet waren, erschienen die insgesamt 92 politischen Leitartikel von Gregorovius anonym unter seiner Chiffre (einer doppelten 3

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Brief von Ferdinand Gregorovius an Raffaele Mariano vom 26.  Juni  1881, in: Ferdinand Gregorovius. Poesie und Wissenschaft. Gesammelte deutsche und italienische Briefe (digitale Edition), hrsg. von Angela Steinsiek, hier unter Mitarbeit von Katharina Weiger, Anna Maria Voci, Deutsches Historisches Institut in Rom 2017–2023, [8.7.2022]. Abkürzungen in den Briefzitaten wurden stillschweigend aufgelöst, sind aber in der digitalen Edition durch Kursivierung kenntlich gemacht. Brief von Ferdinand Gregorovius an die J. G. Cotta’sche Buchhandlung vom 25. April 1870, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Cotta-Archiv, Cotta-Briefe, 106. Brief von Ferdinand Gregorovius an Eduard Brockhaus vom 25. September 1880, Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, Bestand 21083, Archivalnr. 224, 207. Brief von Ferdinand Gregorovius an Raffaele Mariano vom 2. Februar 1883, Florenz, Privatarchiv Anrep.

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Wellenlinie), deren Identität mindestens seinen Weggefährten mit Sicherheit bekannt war.7 Die Brücken abgebrochen hatte Gregorovius auch zu seinen Mitstreitern, die neben ihm ihre Meinung in eben dieser Neuen Königsberger Zeitung geäußert hatten: beispielsweise Rudolf Gottschall (1823–1909), Fanny Lewald (1811–1889) und Adolf Stahr (1805–1876). In seinem zweiten, italienischen Lebensabschnitt musste Gregorovius sich seinen Leserkreis, und damit sein finanzielles Einkommen, erst erschließen. Nahezu unmittelbar knüpfte er hier an seine journalistische Vergangenheit an, auch wenn er an Ludwig Walesrode (1810–1889) in seine Heimat schrieb: Ich weiß gar nicht mehr, wie es in Preußen steht, noch bekümmert mich Politisches mehr als im Allgemeinen. Ich halte dafür daß es besser ist nach Sicilien zu gehen, als sich über Politik das Leben zu verbittern.8

Von der engagierten Teilhabe des jungdeutschen Leitartiklers wechselte Gregorovius in Italien zur historischen Reiseschilderung, womit er ein neues, später vielfach nachgeahmtes Genre in die Literatur einführt. Für seinen italienischen Erstling Corsica (Cotta 1854) erfindet er zudem die Erzählerfigur Gregorovius, den bestinformierten, eingeweihten Reisenden, der über die Jahre mit der Person Gregorovius mehr und mehr verschmilzt. Das geeignete Medium seiner historisch-literarischen Schilderungen aus dem Sehnsuchtsland Italien war Cottas Allgemeine Zeitung, in der Gregorovius ein halbes Jahr nach seiner Ankunft eine Reihe von Artikeln über Korsika platzieren konnte.9 Die europaweit verbreitete Tageszeitung hatte schon Generationen von Reisenden ernährt, die für die tägliche Beilage als dem führenden Feuilleton für das Bildungsbürgertum Deutschlands schrieben. Dass der junge, noch unbekannte Gregorovius seine Arbeiten in dieser prestigiösen Zeitung 7

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Öffentlich gelüftet wurde dieses Geheimnis erst lange nach dem Tod von Gregorovius durch die Publikation zweier indiskreter Briefe seines Königsberger Freundes Louis Köhler. Vgl. Eduard Loch, Zwei Briefe Louis Köhlers über seine gemeinsame Reise mit Ferdinand Gregorovius im Jahre 1848, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte von Ost- und Westpreußen, Jg. 16, 1, 1941, S. 1–10. Gregorovius’ politische Artikel aus der Neuen Königsberger Zeitung wurden nach dem einzig nachweisbaren vollständigen Exemplar einer Bibliothek im polnischen Olsztyn (Allenstein) erst jüngst in einer kommentierten Edition wieder abgedruckt: Ferdinand Gregorovius, Europa und die Revolution. Leitartikel 1848–1850, hrsg. von Dominik Fugger, Karsten Lorek, München 2017. Brief von Ferdinand Gregorovius an Ludwig Walesrode vom 21. bis 27. August 1853, in: Ferdinand Gregorovius, Briefe nach Königsberg, hrsg. von Dominik Fugger, Nina Schlüter, München 2013, S. 44f. Vgl. Allgemeine Zeitung, 29.9. bis 4.12.1852 und 16. bis 22.2.1853; die Artikel gingen in Gregorovius’ bei Cotta gedruckten Erstling Corsica (1854) ein. Dazwischen wurde Ein Besuch auf Elba (jetzt bereits anonym) abgedruckt, vgl. ebd. 13.1. bis 22.1.1853.

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Private und öffentliche Kommunikationsstrategien

unterzubringen vermochte, führte ihn als Autor in der literarischen und intellektuellen Welt ein. Äußeres Zeichen seines Erfolgs war, dass seine Beiträge ab dem Erscheinen seiner Figuren. Geschichte, Leben und Scenerie aus Italien im Jahr 1856, in denen viele seiner in der Allgemeinen Zeitung erschienenen Reiseschilderungen zusammengefasst wurden, nur noch mit einer festen Chiffre (γρ) gezeichnet waren,10 den griechischen Lettern für ‚Gr‘, die regelmäßige Leser leicht den jeweiligen Autoren zuordnen konnten (Abb. 1). Zeitgleich manifestiert sich in den Briefen von Gregorovius sein Erfolg in der einsetzenden Korrespondenz mit der im Londoner Exil lebenden Schriftstellerin Malwida von Meysenbug, einer eminent wichtigen Schlüsselfigur des 19. Jahrhunderts, die wie ein Seismograph intellektuelle und literarische Neuerungen wahrnahm und mit zahlreichen Schriftstellern und Künstlern in engem Kontakt stand, mit denen sie ausgedehnte Briefwechsel unterhielt.11 Im November 1856 wandte sich auch der Franz Kugler-Schüler Friedrich Eggers (1819–1872) an ihn, um ihn als Beiträger für kunstgeschichtliche Beiträge aus Italien für das 1850 von ihm gegründete Deutsche Kunstblatt zu gewinnen – was Gregorovius ablehnte,12 wie er auch späterhin konsequent jede Auftragsarbeit ablehnte.13

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Die Reiseschilderung Aus der Campagna von Rom erschien in 14 Folgen vom 15.12.1856 bis 6.5.1857 in der Allgemeinen Zeitung. Malwida von Meysenbug hatte sich wie Gregorovius in jungen Jahren für die Philosophie Hegels interessiert und in der Märzrevolution von 1848 engagiert. Seit 1853 war sie in London die Erzieherin der Töchter des russischen Philosophen, Schriftstellers und Publizisten Alexander Herzen (1812–1870), Olga (1850–1953) und Natalie (1844–1936). Sie hatte sich brieflich an Gregorovius gewandt, weil sie plante, in Rom eine deutsche Schule zu gründen – was ihr Gregorovius ausredete; siehe den Brief von Ferdinand Gregorovius an Malwida von Meysenbug vom 24. August 1856, in: Gregorovius, Poesie und Wissenschaft (Anm. 3), [8.7.2022]. Der letzte erhaltene Brief von Gregorovius an Meysenbug stammt aus dem Jahr 1870, also aus der Zeit, bevor sie die engste Vertraute des von Gregorovius wenig geschätzten Richard Wagner und seiner Frau Cosima wurde, in dessen Bayreuther Hause sie im Sommer 1873 sogar wohnte. Gregorovius wies darauf hin, dass sein Interesse an der Kunst allein seinen historischen Arbeiten diene und er derzeit am ersten Band seiner Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter (1859) arbeite (Brief von Ferdinand Gregorovius an Friedrich Eggers vom 11.  November  1856, ebd. [8.7.2022]). So beispielsweise im Brief an seinen einstigen Königsberger Weggefährten Rudolf von Gottschall, der ihn nach dem Abschluss seiner Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter (1872) zur Mitarbeit an der bei Brockhaus geplanten Reihe Der neue Plutarch: Biographien hervorragender Charaktere der Geschichte, Literatur und Kunst (1874–1888) aufforderte. Ihn ließ Gregorovius wissen: „Wenn ich überhaupt meiner Natur nach im Stande wäre, eine mir von außen zukommende, also nicht in mir selbst entstandene Aufgabe zu behandeln, so würde mich doch der Mangel an Zeit daran hindern.“ (6. Oktober 1872, ebd. [8.7.2022])

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Abb. 1: Für Beiträge von Ferdinand Gregorovius erstmalig verwendete Sigle in der Allgemeinen Zeitung (Beilage zu Nr. 351, Augsburg: Cotta 15. Dezember 1856, S. 5609). Die in der Allgemeinen Zeitung für den Autor etablierte Chiffre taucht auch außerhalb des Briefwechsels mit dem Cotta-Verlag in der für Gregorovius relevanten Doppelbedeutung als sichtbares Zeichen seines Bekanntheitsgrades einerseits und als schützender Code unter Eingeweihten andererseits auf: Wie heikel eine ‚Enttarnung‘ dieser Chiffre in Italien selbst war, verdeutlicht ein Schreiben von Gregorovius an die ihm eng befreundete römische Archäologin Ersilia Caetani Lovatelli (1840–1925) aus dem Jahre 1871, in der er sich über die unautorisierte Übersetzung seines politischen Artikels Der Sturz des Papstthums in Rom aus der Allgemeinen Zeitung empörte. Sie war mit seinem vollen Namen in einem römischen Blatt abgedruckt worden.14

14

Unter seiner Sigle abgedruckt als Der Sturz des Papstthums in Rom, in: Beilage zu Nr.  206 der Allgemeinen Zeitung vom 25.7.1871, S.  3685f., [8.7.2022]. Die italienische Übersetzung erschien u.  d.  T. Il potere

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Private und öffentliche Kommunikationsstrategien Ich hatte für die ‚Allgemeine Zeitung‘ einen Artikel über den Untergang des politischen Papstthums geschrieben, um die öffentliche Meinung in meinem Vaterlande, die sich nicht überall der gewaltsamen Transformation des römischen Staates günstig gezeigt hat, ein wenig zu beeinflussen. Ich unterzeichnete diesen etwas heftigen Artikel mit meiner gewohnten Chiffre, die in meinem Vaterlande wohl bekannt ist. Ein Römer nun, höchst indiskret, wenn er mein Freund, abgefeimt und perfid, wenn er mein Feind ist, hat ohneweiteres den Artikel übersetzt und darauf mit meinem vollen Namen drucken lassen. Man schrie ihn in ganz Rom aus und schleppte ihn sozusagen durch den Schmutz des niedrigsten Boulevard-Journalismus. Meine Freunde avisierten mich mit Unwillen davon. Und wahrhaftig, ich war über den Mißbrauch meines Namens und diese Indiskretion geradezu bestürzt. Die Folge davon wird sein, daß die vatikanische und überhaupt eine jede Bibliothek Roms mir nun für immer hermetisch verschlossen bleibt. Ich bin davon so angewidert, daß jene indiskrete That meine Absicht sehr beeinflußt, Rom für immer zu verlassen.15

Für einen Privatgelehrten in Rom, der für seine Forschungen auf die Archive der Familien aus altem römischem Adel angewiesen war und erst Recht für den Autor der Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, dessen konfessionelle und nationale Überparteilichkeit Gregorovius stets hervorgehoben hatte, machte es einen Unterschied, ob seine im patriotisch-belehrenden Ton vorgetragene Überzeugung von der deutschen Sendung unter seinesgleichen in Deutschland zur Diskussion stand oder ob in seinem Gastland unter seinem vollem Namen in der parteiischen Tageszeitung La Libertà von dem „illustren deutschen Wissenschaftler“ zu lesen war: Die Deutschen haben den Italienern zum Besitz von Rom verholfen, weniger durch die Riesenschlacht von Sedan, als durch die viel riesigere Arbeit der rationalistischen, die Welt überall reformirenden Ideen. Diese erst haben jene mittelalterliche Verflechtung von Theologie und Politik, von Kirche und Staat zerstört, welche die unchristliche Gestalt des weltlichen Papstthums und des Kirchenstaats allein möglich und erklärlich gemacht hat.16

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temporale e la Storia (in: La Libertà. Gazzetta del Popolo Giornale Politico Quotidiano, Jg. 2, 212, Rom 4.8.1871, S. 1). Brief von Ferdinand Gregorovius an Ersilia Caetani Lovatelli vom 6. September 1871, in: Gregorovius, Poesie und Wissenschaft (Anm. 3), hier unter Mitarb. von Katharina Weiger, [8.7.2022]. Gregorovious, Der Sturz des Papstthums in Rom (Anm. 14), S. 3686.

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Fünf Jahre später verlangte Gregorovius in einem Schreiben an den Herausgeber der Zeitschrift mit dem programmatischen Titel Im neuen Reich gar, den Abdruck seines Artikels Tarent17 nur mit seiner in der Allgemeinen Zeitung gebräuchlichen Chiffre zu versehen: Ich wünsche nur meine Ziffer γρ unter den Artikel gesetzt zu sehen, ganz wie ich es mit der Allgemeinen Zeitung seit langen Jahren zu halten gewohnt bin, und um so mehr als ich noch vor Kurzem dem Chefredacteur derselben18 es abschlug, diese Ziffer mit meinem vollen Namen zu vertauschen. Sie ist in Deutschland, so denke ich, bekannt genug.19

Es blieb der einzige Artikel, den Gregorovius in Im neuen Reich veröffentlicht hat, vermutlich weil sein gedruckter Beitrag nicht wunschgemäß mit seiner in der Allgemeinen Zeitung üblichen Chiffre, sondern mit „F. Gr.“ überschrieben war.20 Die genannten Beispiele aus der Korrespondenz von Gregorovius illustrieren, dass seine Autorschaft unter der Sigle in der Allgemeinen Zeitung zeitgenössisch ein mehr oder weniger offenes Geheimnis war, das Gregorovius ganz bewusst und mit Bedacht nutzte, sein öffentliches Selbstbild zu etablieren und zu kontrollieren. Heute sind wir zur Identifikation seiner zahllosen Beiträge in der Allgemeinen Zeitung allerdings entweder auf die Briefe von Gregorovius angewiesen oder auf die Honorarbücher und Redaktionsexemplare im Marbacher Cotta-Archiv, wollen wir die etwa dreißig Jahrgänge dieser Zeitung à 6000 Seiten nicht durchblättern. Ein noch besser gehütetes Geheimnis, das zunächst nur näherungsweise durch die jetzt neu edierten Briefe gelüftet werden konnte, ist, dass Gregorovius über Jahre tagespolitischer Korrespondent der Berliner National-Zeitung war: Nachdem Gregorovius dem Redakteur Eugen Zabel (1851–1924) erfolgreich seinen Freund, den Althistoriker Franz Rühl (1845–1915) als Berichterstatter über das anstehende Erste Vatikanische Konzil vorgeschlagen hatte,21 der zeitgleich Ende 1869 für ein halbes Jahr nach Rom kommen wollte, schrieb Gregorovius an Ludwig Friedländer (1824–1909) nach Königsberg, er selbst habe seine „früheren Corrispondenzen für

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Ferdinand Gregorovius, Tarent, in: Im neuen Reich. Wochenschrift für das Leben des deutschen Volkes in Staat, Wissenschaft und Kunst, Jg. 6, Bd. 1, Leipzig 1876, S. 661–686. Otto Braun (1824–1900) war seit 1869 (bis 1889) Herausgeber und Schriftleiter der Allgemeinen Zeitung. Brief von Ferdinand Gregorovius an Konrad Reichard vom 29. Februar 1876, in: Gregorovius, Poesie und Wissenschaft (Anm. 3), [8.7.2022]. Gregorovius, Tarent (Anm. 17), S. 661. Brief von Ferdinand Gregorovius an Franz Rühl vom 16. September 1869, in: Ferdinand Gregorovius, Poesie und Wissenschaft (Anm. 3), [8.7.2022].

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Private und öffentliche Kommunikationsstrategien

die National-Zeitung definitiv niedergelegt“22. Und tatsächlich findet sich in der National-Zeitung vom 7. Dezember 1869 nicht nur die erste Korrespondenz aus Rom unter einer bis dahin nicht auftauchenden Sigle (±, es handelt es sich um Franz Rühl), sondern auch als Fußnote die Redaktionsnotiz: „Unsere Leser werden unser Bedauern theilen, daß unser langjähriger hochgeschätzter Korrespondent aus Gründen, die wir anerkennen müssen, von seiner bisherigen Thätigkeit zurückgetreten ist.“ (Abb. 2)23

Abb. 2: Erster Artikel von Franz Rühl und Redaktionsnotiz zum Ausscheiden von Gregorovius in der National-Zeitung (Nr. 571, 7. Dezember 1869). 22

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Brief von Ferdinand Gregorovius an Ludwig Friedländer vom 6. Januar 1870, in: Ferdinand Gregorovius, Briefe nach Königsberg (Anm. 8), S. 96f. National-Zeitung, Jg. 22, Nr. 571, Berlin 7.12.1869, S. 1 (Morgen-Ausgabe).

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Wie gründlich Gregorovius den Schleier der Diskretion über seine zehn Jahre währende Korrespondenten-Tätigkeit für das Berliner Blatt gebreitet hatte, erhellt der Umstand, dass diese in seinen Briefen lediglich andeutungsweise Erwähnung findet – und das auch erst, nachdem er bereits nicht mehr für die National-Zeitung schrieb. Am 8. Dezember 1869 teilte Gregorovius Ignaz von Döllinger (1799–1890), der um informelle „Notizen über Personen, Zustände, Machinationen“ des bevorstehenden Ersten Vatikanischen Konzils (1869–1870) gebeten hatte,24 erst auf dessen wiederholte Anfrage etwas nebulös mit: Auch abgesehen von diesen Gründen nötigt mir meine wissenschaftliche Stellung zu Rom wie meine persönliche in ihr die Diskretion des Schweigens ab: ich habe daher, wenn ich früher Correspondenzen politischer Natur unterhielt, diese vollkommen abgebrochen und verschiedene Aufforderungen zu Auslassungen über die Gegenwart, welche an mich von Deutschland aus ergangen sind, principiell abgelehnt.25

Über Gregorovius’ langjährige Korrespondenten-Tätigkeit informiert war sicher der mit ihm eng befreundete Berliner Altertumsforscher und Buchhändler Gustav Parthey (1798–1872): In seinem Brief vom 20. Februar 1870 – also wenige Monate später – gedenkt Gregorovius offenbar seiner jahrelangen tagespolitischen Korrespondenzen aus Rom, als er Parthey schreibt: „Die Allgemeine Zeitung wird Sie über unsere conciliaren Antiquitäten gut unterrichtet haben. […] Es ist doch merkwürdig hier zu sein, als stiller Beobachter.“26

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Briefe von Ignaz von Döllinger an Ferdinand Gregorovius vom 12.  Oktober  1869 und 1.  Dezember 1869, in: Friedrich Seebass, Ignaz von Döllinger und Ferdinand Gregorovius. Unbekannte Dokumente ihrer Freundschaft, in: Deutsche Rundschau, Jg. 80, H. 1, 1954, S. 151–153. Unter pseudonymer Verfasserschaft „Janus“ waren im Herbst von Döllinger unter dem Titel Der Papst und das Concil (Leipzig 1869) die überarbeitete Fassung seiner zwischen dem 10. und 15. März 1869 in der Allgemeinen Zeitung zuerst gedruckten Angriffe gegen die Infallibilisten (Das Concilium und die Civiltà) als Separatdruck erschienen. Brief von Ferdinand Gregorovius an Ignaz von Döllinger vom 8.  Dezember  1869, in: Ferdinand Gregorovius, Poesie und Wissenschaft (Anm.  3), [8.7.2022]. Gregorovius war von Döllinger selbst hinterbracht worden, „daß man in München mich als Verfasser der Artikel bezeichne, welche die ‚Allgemeine Zeitung‘ wider den Papst brachte; das habe [… er] Döllinger gesagt. Wenn die ‚Allgemeine Zeitung‘ Artikel über römische Fragen bringt, so schiebt man sie mir oft genug in die Schuhe.“ (Ferdinand Gregorovius, Römische Tagebücher 1852–1889, München 1891, Eintrag vom 13.  September  1869, S.  263; vgl. auch ebd. die Einträge vom 24.  und vom 24.  bis 29. September 1869, S. 264f.). Brief von Ferdinand Gregorovius an Gustav Parthey vom 20. Februar 1870, in: Ferdinand Gregorovius, Poesie und Wissenschaft (Anm. 3), [8.7.2022].

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Private und öffentliche Kommunikationsstrategien

Wann genau Gregorovius damit begonnen hatte, für die 1848 gegründete liberale National-Zeitung Korrespondenzen zu schreiben, und welche Texte im Einzelnen von seiner Hand stammen, konnte erst jetzt geklärt werden, weil sich das Verlagsarchiv der Zeitung nicht erhalten hat. Anders als in der Allgemeinen Zeitung blieben die Chiffren hier nicht über viele Jahre für einen Autor reserviert, um – ganz im Sinne von Gregorovius – deren Identität zu schützen. Eine ganz unlösbare Aufgabe ist es aber nicht, denn ganz beliebig fand der Wechsel der Chiffren nicht statt. Zudem lassen sich von dem oben definierten Endpunkt aus regelmäßige zeitliche und inhaltliche Interferenzen zwischen den Korrespondenznachrichten von Gregorovius und seinem Tagebuch ausmachen.27 Ein kurzes Beispiel mag das verdeutlichen. In seinem Tagebuch notierte Gregorovius am 30. April und am 7. Mai 1865 über Franz Liszt, der vom päpstlichen Kammerherrn Bischof Gustav Adolf zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1823– 1896) die niederen Priesterweihen empfangen hatte: Am 21. [April] gab Liszt im Palast Barberini sein Abschiedskonzert. Dilettanten sangen und spielten; er spielte die Aufforderung zum Tanz und Erlkönig – ein sonderbarer Abschied von der Welt. Niemand ahnte, daß er schon die Abbatenstrümpfe in der Tasche trug. Am folgenden Sonntag erhielt er im St. Peter die Tonsur und erste Weihe von Monsignor Hohenlohe. Er trägt jetzt das Mäntelchen des Abbé […]. Dies ist das Ende des genialen Virtuosen, einer wahrhaft souveränen Persönlichkeit. […] Ich sah gestern Liszt als Abbate gekleidet – er stieg aus einem Mietwagen; sein schwarzseidenes Mäntelchen flatterte ironisch hinter ihm her – Mephistopheles als Abbé verkleidet. So endet Lovelace. (Abb. 3)28

Seine zeitgleiche Korrespondenz in der National-Zeitung erläutert den Tagebucheintrag: Franz Liszt wird bereits als Priester in Rom gesehen; er trägt wie jeder andere Weltgeistliche den Dreispitz, das seidene Abbatemäntelchen, Schuhe und Strümpfe. Die Metamorphose des berühmten Musikers übte einige Tage wenigstens auf die Fremden den Reiz einer Theatralischen Ueberraschung aus, und bot ihnen einigen Stoff zur Unterhaltung dar. Rom selbst hat von dem Schicksal des Herrn Liszt kaum Notiz genommen; auf dieser unermeßlichen Weltbühne giebt es keine Größen, noch bleibt hier eine Gestalt überhaupt auffallend; eine jede sinkt schnell ins Indifferente oder in die Nullität herab. Man 27

28

Vgl. Angela Steinsiek, Ferdinand Gregorovius als römischer Korrespondent der „National-Zeitung“ in Berlin. Ausgewählte Artikel, in: Dies. (Hrsg.), Ferdinand Gregorovius in seinem Jahrhundert. Der Historiker und Schriftsteller neu gelesen. Internationale Tagung aus Anlass der Edition der Briefe und des 200. Geburtstages, Köln 2023, S. 319–358. Ferdinand Gregorovius, Römische Tagebücher (Anm. 24), S. 194–195.

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Angela Steinsiek lächelte nicht einmal in Rom. Der berühmte Virtuos Franz Liszt, welcher mit der Aufforderung zum Tanz auf seinem letzten Konzert von der Welt Abschied genommen zu haben scheint, ist bereits in der Menge anderer Abbaten und Geistlichen verschwunden.29

Abb. 3: Korrespondenten-Nachricht vom 9. Mai 1865 aus Rom in der National-Zeitung (Jg. 18, Nr. 226, Berlin 16. Mai 1865). Dass seine Korrespondenzen aussetzten, wenn Gregorovius auf Reisen war oder er nachvollziehbar auch Berichte von seinen Reiseorten nach Berlin gesandt hat, versteht sich, ohne dieses 29

Korrespondenten-Nachricht aus Rom, 9. Mai, in: National-Zeitung, Jg. 18, Nr. 226, Berlin 16.5.1865, S. 2 (Abend-Ausgabe).

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Private und öffentliche Kommunikationsstrategien

Thema hier weiter zu vertiefen. Worum es mir hier ging, war, anhand dieser Beispiele zu zeigen, dass die Vermischung von Tagebüchern, Schriften, privater und öffentlicher Korrespondenz bei Gregorovius System hat. Was in den privaten, professionellen, halböffentlichen und öffentlichen Briefen von Ferdinand Gregorovius an Gelehrte, Schriftsteller, Journalisten, Künstler, Verleger, Standespersonen, Freunde und an Familienmitglieder immer wieder auffällt, ist, wie sehr er sich selbst als eine Person öffentlichen Interesses und als Teil des öffentlichen Diskurses gesehen und inszeniert hat. Die Privatperson lässt sich nur in wenigen Briefen finden, noch weniger finden sich intime Schreiben. Die Bekenntnisse, die ein Gregorovius niederschreibt, sind zumeist die des Schriftstellers und Historikers. Mit anderen Worten: Gregorovius schreibt sowohl in seinen Briefen als auch in seinen Tagebüchern fast durchgängig im Ton seiner Publikationen als die halböffentliche Person, für die die Kontrolle über die öffentliche Wahrnehmung einen sehr großen Stellenwert hat. In vielerlei Hinsicht findet sich dieser Zug selbst in seinen berühmt gewordenen Reiseschilderungen, der 1856 begonnenen fünfbändigen Essay-Sammlung seiner Wanderjahre in Italien: sie lassen sich als eine Folge von Reisebriefen oder Reiseberichten über seine Archivreisen lesen, die er über Jahre für sein im Entstehen begriffenes Hauptwerk, die Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, unternommen hat, in denen Gregorovius seine Leser im Medium der literarischen Gattung der Reiseschilderung mit auf seine Reisen zu historischen Schauplätzen, antiken Ruinen, mittelalterlichen Monumenten und auf Volksfeste nimmt. Noch deutlicher wird diese Verschmelzung von Schriftsteller, Erzählerfigur und Briefschreiber, wo wir seine privaten Reisebriefe mit seinen Publikationen vergleichen können. Als Gregorovius im Frühjahr 1882 eine mehrmonatige Orientreisereise unternimmt, schreibt er seinen Geschwistern nahezu täglich vielseitige Briefe. Vieles spricht dafür, dass Gregorovius diese unmittelbar entstandenen Reisebriefe an seine Geschwister in München nach seiner Rückkehr als Grundlage seiner schon vorab mit Brockhaus verabredeten Publikation zu benutzen gedachte.30 Darauf 30

Im Brief von Eduard Brockhaus vom 12.  Februar  1882 informiert Gregorovius seinen Verleger über die bevorstehende Abreise und bietet die literarischen Früchte dieser Fahrt an: „Meine Reise nach dem Orient, welche ich am 1.  März anzutreten gedenke, ist keine Studienreise; ich will nur die Anschauungen des Altertums durch die Kenntniß der Culturcentren des Ostens mir vervollständigen. Aber dennoch hoffe ich, daß ich manche Frucht mit mir bringen werde, und bin gerne bereit, dies und jenes Ihrer Revue ‚Unsere Zeit‘ zu übergeben.“ (Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, Bestand 21083, Archivalnr. 224, 252). Gedruckt wurden: Von Kairo nach Jerusalem. Aus meinem Tagebuche, in: Unsere Zeit, Brockhaus, Leipzig 1883, Bd.  1, S.  24–45, [8.7.2022]; Aus den Ruinen von Sardes. 1882, in: Zeitschrift für Allgemeine Geschichte, Kultur-, Litteratur- und Kunstgeschichte. Bd. 1, Cotta, Stuttgart 1884, S. 721–754, [8.7.2022]; Ritt nach dem Todten Meer. Aus meinem Tagebuche, in: Unsere Zeit, Bd. 1, Brockhaus, Leipzig 1884, S. 81–99, [8.7.2022].

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deuten die nachträglichen Bleistiftanstreichungen und Einklammerungen von Stellen familiären oder privateren Inhalts in den Handschriften hin (Abb. 4).31 Auch wenn sich der Transformationsprozess im Einzelnen nicht so einsinnig nachvollziehen lässt, ist es doch plausibel, dass die privaten Briefe das erzählerische Gerüst und Rohmaterial bildeten, das für die Veröffentlichung um im Brief verkürzt notierte historische und literarische Kontexte ergänzt und um die privaten Informationen gekürzt wurde (wie im Beispielbrief mit Bleistift eingezeichnet). Konnte Gregorovius sich bei den nach Hause gesandten Briefen sicher sein, dass diese in der Familie bleiben, scheinen einige seiner Reisebriefe aus dem Orient ohne seine Erlaubnis an Dritte weitergereicht worden zu sein. Gegenüber seinem Freund Raffaele Mariano beschwert er sich darüber:

Abb. 4: Brief von Ferdinand Gregorovius an Julius Gregorovius und Ottilie Elgnowski vom 15. bis 16. März 1882 (Bayerische Staatsbibliothek, Gregoroviusiana 20, Elgnowski, Ottilie, 32, Bl. 1r).

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So z. B. im Brief von Ferdinand Gregorovius an Julius Gregorovius und Ottilie Elgnowski aus Kairo vom 15. bis 16. März 1882, in: Gregorovius: Poesie und Wissenschaft (Anm. 3), [8.7.2022].

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Private und öffentliche Kommunikationsstrategien Sie werden mich mit vollem Recht der Säumniß anklagen […]: die Ursache ist, um aufrichtig zu sein, der große Widerwille gegen das Schreiben von Briefen, hauptsächlich in Folge dessen, daß meine vom Orient her geschriebenen Briefe fast von allen Empfängern mit Indiscretion unter die Leute gebracht worden sind; dies hat mich verstimmt, und ich habe ohnehin mir schon lange vorgenommen, meine Correspondenzen auf 1 Minimum zu reduziren.32

Da keiner seiner  – übrigens durchaus zahlreich erhaltenen  – Reisebriefe dezidiert privaten Inhalts und Charakters ist, wird diese ausgesprochen empfindliche Reaktion auch darauf zurückzuführen sein, dass er selbst seine Reiseschilderungen aus Zeitgründen erst im Jahr darauf publizieren konnte – einige seiner in den Familienbriefen niedergeschriebenen Reiseschilderungen hat er sogar überhaupt nicht mehr verwendet. Jedenfalls hat Gregorovius die schon hier formulierte Drohung, seine „Correspondenzen auf 1 Minimum zu reduziren“ wahr gemacht. Gegen Ende seines Lebens hat er sehr viele, wenn nicht den Großteil der Briefe a n ihn vernichtet und einige seiner vertrauten Freunde veranlasst, seine Briefe v o n ihm zu vernichten. Dazu gehört die meiste Korrespondenz mit seiner Familie und mit engen Freunden, wie der gesamte Briefwechsel mit dem Landschaftsmaler Karl Lindemann-Frommel (1819–1891) und seiner Frau Auguste (1826–1876), der mit dem deutschen Botschaftsarzt in Rom, Wolfgang Erhardt (1819–1906), und die Briefe von und an seinen intimen Freund Paolo Perez (1822–1879), der 1856 zum Entsetzen von Gregorovius in den Rosminianer-Orden in Stresa eingetreten war – wo Gregorovius ihn übrigens regelmäßig besuchte.33 Auch von seiner Korrespondenz mit dem in London lebenden Literatur- und Kulturwissenschaftler Friedrich Althaus (1829–1897) sind nur wenige Briefe von Gregorovius aus vierzig Jahren überliefert – nämlich die, die Althaus nach dem Tod seines Freundes veröffentlichte, bevor er die Handschriften vernichtete. Auch von dem Briefwechsel mit seinem vertrauten Freund Wilhelm Giesebrecht (1817–1889) hat sich kein einziges Schreiben erhalten. Immer wieder einmal im Autographenhandel auftauchende Briefe bislang unbekannter Briefempfänger und  -adressaten geben eine Vorstellung davon, wie weitverzweigt das Briefnetzwerk von Gregorovius gewesen sein muss. Konkreter Anlass dieses Wunsches von Gregorovius, die eigene Korrespondenz der möglichen Veröffentlichung nach seinem Tode zu entziehen, scheint die Publikation einiger persönlicher Briefe an seine Bologneser Freundin, die Salonnière Contessa Teresa Gozzadini (1812–1881),

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Brief von Ferdinand Gregorovius an Raffaele Mariano vom 13. Juli 1882, ebd. [8.7.2022]. Siehe Ferdinand Gregorovius, Römische Tagebücher (Anm. 24), Eintrag vom 24. Oktober 1855, S. 57 und vom 2. Oktober 1856, S. 64.

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durch ihren Gatten, den Archäologen und Senator Giovanni Gozzadini (1810–1887) gewesen zu sein, der sie – neben vielen anderen Briefen – ohne Rücksprache in die ihr gewidmete Gedächtnisschrift Maria Teresa di Serego-Allighieri Gozzadini aufgenommen hatte, darunter, und das wird Gregorovius wohl am meisten irritiert haben, sogar sein Kondolenzschreiben zu ihrem Tode an den Witwer.34 An den in Rom lebenden Raffaele Mariano schreibt Gregorovius hierüber: Unterdeß ist die Gedächtnißschrift des Grafen Gozzadini ‚Maria Teresa etc‘ erschienen […] Da dies Buch 1 Object der Pietät ist, enthalte ich mich des Urteils darüber, nur beklage ich den Gebrauch den der Graf von vielen Briefen und B i l l e t i machte, unter denen auch 1 paar meiner Hand sind. Ich hatte einmal der Gräfin geschrieben, daß die Wahrnehmung, meine Studien interessirten auch die Italiener, mich ermuntert habe die Geschichte der Stadt Rom eifrig fortzusetzen; beim Copiren dieser Stelle hat Gozzadini aus den Worten i m i e i s t u d i  – g l i a m i c i s l a v i gemacht, und ich habe mich so zu 1 Slaven bekannt [es hieß hier also statt ‚mein Studium‘ ‚slawische Freunde‘ 35]. Gozzadini ist jetzt in Desperation darüber, und fragt, wie er den Fehler emendiren solle – ich werde ihm sagen, dadurch daß er alle meine Briefe vernichtet. Dieser Fall vermehrt meinen Widerwillen andre Briefe zu schreiben, als ganz indifferente, und er steigert zugleich meinen Wunsch Briefe vernichtet zu [sehen,] welche meine Freunde von mir besitzen. Ich vernichtete die aus dem Nachlaße der Frau Lindemann und des Grafen P e r e z . Auch an Sie ist mein Wunsch und meine Bitte gerichtet.36

Von den hier erwähnten nicht überlieferten Briefen seiner engen römischen Freundin Auguste Lindemann-Frommel war bereits die Rede wie auch von denen an seinen Intimus Paolo Perez, bei deren Auffindung ihm die Cousine, die jetzt verstorbene Gräfin Gozzadini behilflich war. Der hier adressierte Raffaele Mariano hielt sich übrigens nicht an den Wunsch seines zwanzig Jahre älteren Freundes: Die rund hundert Briefe von Gregorovius haben sich weitgehend im Familienbesitz seiner Nachfahren erhalten – während Gregorovius die Gegenbriefe Marianos offenbar vernichtet hat.

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Die Briefe von Gregorovius an Maria Teresa di Serego Alighieri vom 3. November 1856, 31. Januar 1857, 31. November 1863, 9. Oktober 1867 und der an Giovanni Gozzadini vom 1. Oktober 1881, in: [Giovanni Gozzadini], Maria Teresa di Serego-Allighieri Gozzadini, Bologna 1882, S. 304–307 und S. 474. Siehe im Brief von Gregorovius an Maria Teresa di Serego Alighieri Gozzadini vom 31. Januar 1857, ebd. S. 305 und in: Gregorovius, Poesie und Wissenschaft (Anm. 3), hier unter Mitarb. von Katharina Weiger, [8.7.2022]. Brief von Ferdinand Gregorovius an Raffaele Mariano vom 13.  September  1882, ebd. [8.7.2022].

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Private und öffentliche Kommunikationsstrategien

Am folgenden Tag wird Gregorovius in seinem Schreiben an Gozzadini noch deutlicher. In deutscher Übersetzung heißt es hier: Aber der Fall, so unwichtig er auch sein mag, bestätigt mir doch die Richtigkeit meines Wunsches, den ich schon wiederholt meinen Freunden gegenüber geäußert und manchmal auch gewährt habe, nämlich, dass sie so viele meiner Briefe zerreißen, wie sie haben. […] Jeder Autor, selbst ein so mittelmäßiger wie ich, ist der Zufälligkeit der Veröffentlichung von Briefen ausgesetzt, die der Schreiber entweder gar nicht oder auf eine andere Weise geschrieben hätte, wenn er sich im Augenblick des Schreibens vorgestellt hätte, dass sie eines Tages gedruckt werden würden.37

Die von Gregorovius beklagte Entstellung seines Schreibens durch diesen Transkriptionsfehler wurde zwar in der nur zwei Jahre später erscheinenden Neuauflage korrigiert. 38 Deutlich wird aus seinem Schreiben aber, dass die Publikation seiner Briefe für ihn eine doppelte Indiskretion war: Zum einen hielt er seine Korrespondenz mit der Gräfin Gozzadini für privat, zum anderen unterlief sie seinen Wunsch nach Kontrolle über sein öffentliches Bild für die Nachwelt. Giovanni Gozzadini hat sich von Gregorovius’ Empörung über die unautorisierte Veröffentlichung indes nicht nachhaltig beeindrucken lassen: Mehr als 90 Briefe von Gregorovius an Giovanni und Maria Teresa Serego Alighieri Gozzadini haben sich erhalten. 39

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Im italienischen Originalwortlaut: „Il caso però, per poco importante egli sia, pur mi approva la giustezza del mio desiderio, già ripetute volte espresso ai miei amici, e alcune volte anche esaudito, ed è, che essi straccino quante lettere di me posseggono. […] Ogni autore di qualche fama, sia essa pure mediocre quanto la mia, si vede esposto alla casualità della riproduzione di lettere, che lo scrittore o non avrebbe scritto punto, o scritto in altro modo, ove egli nel momento dello scrivere si fosse imaginato, che un dì sarebbero stampate.“ – Brief von Ferdinand Gregorovius an Giovanni Gozzadini vom 14. September 1882, in: Gregorovius: Poesie und Wissenschaft (Anm. 3), hier unter Mitarb. von Anna Maria Voci [8.7.2022]. Vgl. Maria Teresa di Serego-Allighieri Gozzadini, Seconda edizione ampliata con prefazione di Giosuè Carducci, Bologna 1884, S. 445. Bologna, Biblioteca dell’Archiginnasio, Ms. Gozzadini 442 und Carte Gozzadini e da Schio.

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Netzwerken und Selbstinszenierung um 1900 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Brief- und Social Media-Kultur Julia Nantke, Sandra Bläß

1 Einleitung Richard Dehmel bildete um 1900 gemeinsam mit seiner zweiten Frau Ida den Nukleus eines weit verzweigten Netzwerks europäischer Künstler:innen, Kulturschaffender und Intellektueller: Am Abendbrottisch der Dehmels und in ihrem Briefkasten versammelten sich 1913 alle gleichzeitigen Ungleichzeitigkeiten des Jahres: Stefan George kam und ebenso Max Brod aus Prag, Else Lasker-Schüler und Arnold Schönberg, Ernst Ludwig Kirchner und Max Liebermann.1

So beschreibt es Florian Illies in seiner populärwissenschaftlichen Abhandlung über dieses kulturhistorisch so bedeutende Jahr 1913. Diese zentrale Position der Dehmels im künstlerischen und kulturellen Leben um 1900 basierte erstens auf Richard Dehmels Ruhm zu Lebzeiten: Als Lyriker war er beim breiten Publikum äußerst beliebt und wurde – nicht zuletzt aufgrund einiger künstlerischer und privater Skandale – von der Kritik kontrovers diskutiert. Zu den privaten Skandalen gehörte Ende des 19.  Jahrhunderts Richards Beziehung mit der bereits verheirateten und überdies schwangeren Ida Auerbach, die er u. a. in seinem bekanntesten Gedicht Verklärte Nacht sowie seinem darauf aufbauenden Roman und Hauptwerk,

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Florian Illies, 1913. Was ich unbedingt noch erzählen wollte, Frankfurt a. M. 2018.

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Julia Nantke, Sandra Bläß

Zwei Menschen, verarbeitete.2 Zusammen bildeten Richard und Ida Dehmel nach erfolgter Scheidung und Wiederverheiratung den Prototyp des modernen, unkonventionellen Paars. Ihr gemeinsames Auftreten und Agieren im Kulturbetrieb bilden neben Richard Dehmels Berühmtheit die zweite Basis für die zentrale Stellung der Dehmels um 1900. Sie agierten – so die These – als Influencer:innen ihrer Zeit. Als Influencer:in sei hierbei eine Person verstanden, die über eine „reichweitenstarke Anhängerschaft (‚Follower‘/‚Community‘)“3 verfügt und diese bewusst auf- und ausbaut sowie nutzt, um Einfluss z. B. auf gesellschaftliche Entwicklungen zu nehmen. Zentral ist hierbei ebenfalls die konzise Planung der Selbstinszenierung und eines Images oder einer Marke, die gleichzeitig von den treuen Anhänger:innen als authentisch und glaubwürdig wahrgenommen wird. Wie lässt sich also dieser Status der Dehmels als Influencer:innen um 1900 überprüfen, woran können damit verbundene Praktiken4 beim Auf- und Ausbau ihres Netzwerks und ihrer Marke sowie konkretes Agieren im Kulturbetrieb abgelesen werden? Wenn Anne Baillot mit Blick auf die Netzwerke in künstlerischen Salons des 18. Jahrhunderts feststellt, dass es „keine Quellen geben [kann], die uns verraten, welche Persönlichkeiten zu jedem einzelnen Zeitpunkt welche Rolle spielten, wie laut oder leise Gespräche in Rahel Levins Zirkel waren oder wie kalt es war etc.“5, trifft dies in Teilen sicher auch auf den Salon der Dehmels zu. Bereits das Illies-Zitat deutet hier aber ein Schlupfloch an: Das Netzwerk der Dehmels war zeitgenössisch nicht nur vielfach „am Abendbrottisch“ im Haus der Dehmels in Blankenese sowie auf den häufigen dort stattfindenden Feiern zu finden – auch ‚im Briefkasten‘ der Dehmels versammelte sich alles, was um 1900 Rang und Namen hatte. Insbesondere im Zeitalter des Briefs, dem sich das Dehmel’sche Korrespondenznetz gerade noch zurechnen lässt, wurden postalisch Verabredungen getroffen, Veranstaltungen geplant und nachbesprochen, Projekte initiiert und Kontakte angebahnt. Diese Briefe sind, vor allem dank des ausgeprägten ‚Nachlassbewusstseins‘6 Ida Dehmels, umfänglich für die Nachwelt überliefert. Allein im Dehmel-Archiv der SUB Hamburg befinden sich ca. 35 000 Briefe, davon ca. 30 000 von ca. 4000 Schreibenden an die Dehmels.7 Sie 2 3

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Richard Dehmel, Zwei Menschen. Roman in Romanzen, Berlin 1903. Sandra Ziewiecki, Influencer Marketing. Eine empirische Untersuchung des Einflusses des Influencer Marketings und von Influencern auf die Kaufabsicht, Bayreuth 2021, S. 33. Zur Relevanz der Praktiken im Hinblick auf den Status von Influencer:innen vgl. Christian Fuchs, Soziale Medien und kritische Theorie. Eine Einführung, Tübingen 2021, S. 274. Anne Baillot, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Netzwerke des Wissens. Das intellektuelle Berlin um 1800, Berlin 2011, S. 11–23, hier S. 13. Kai Sina, Carlos Spoerhase (Hrsg.), Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750–2000, Göttingen 2017. Das Archiv wurde vor allem für Richard Dehmel konzipiert (vgl. Carolin Vogel, Das Dehmelhaus in Blankenese. Künstlerhaus zwischen Erinnern und Vergessen, Hamburg 2019, S. 50). Es sind deutlich weniger Briefe von Ida Dehmel erhalten als von Richard Dehmel und der aktuell noch geringe

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geben ein facettenreiches Bild der persönlichen Kontakte, Themen und Kommunikationsformen der mit den Dehmels verbundenen Akteur:innen. Diese Perspektive bildet die Basis für das Projekt Dehmel digital, in dessen Rahmen die Dokumente aktuell mit computationellen, teilautomatisierten Verfahren erschlossen und sukzessive auf einer digitalen Plattform zur Verfügung gestellt werden.8 Im Folgenden werden Beispiele aus den bislang ca. 1000 erschlossenen Briefen sowie zugehörigen Archivdokumenten genutzt, um zu zeigen, wie die Dehmels als Influencer:innen agierten. Dabei sollen sowohl Parallelen zu den aktuellen Kommunikationsstrukturen in den sozialen Medien aufgezeigt als auch Unterschiede markiert werden, die auf mediale und diskursive Spezifika der Netzwerkkommunikation um 1900 verweisen.

2 Briefe als Werkzeuge der Vernetzung und Einflussnahme 2.1 Die Briefpartner:innen der Dehmels: Follower:innen oder Kooperation unter Influencer:innen? Die Dehmels erscheinen in den Briefen als zentrale Agierende eines sozialen Netzwerks, die ihre Reichweite bewusst nutzen, um ihre Position im Kulturbetrieb sowie die von befreundeten, bekannten und/oder künstlerisch geschätzten Kolleg:innen zu stärken. Ihr Einfluss ist auch deswegen so groß, weil sie neben engen Kontakten ebenfalls viele lose Verbindungen pflegen und sich als ‚Broker‘ charakterisieren lassen. Diese sind Ronald S. Burt zufolge auch mit Personen bekannt, die andere im Netzwerk nicht kennen, sodass sie durch diese exklusiven Kontakte verschiedene soziale Gruppen miteinander verknüpfen.9 Im Briefkorpus sind für die Nutzung dieser Vernetztheit zum einen Empfehlungs- und Vermittlungsbriefe anschaulich. So wendet sich beispielsweise Stefan Zweig an Richard Dehmel, als er eine Lesereise für Émile Verhaeren durch Deutschland organisiert und eine Anlaufstelle dafür in Hamburg braucht. Richard Dehmel vermittelt ihn daraufhin an Heinrich Spiero, den

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Erschließungsgrad des Gesamtkorpus ermöglicht bislang nur erste Einblicke. Die Anzahl der Schreibenden ist übernommen aus: Helga Heim, Die Briefsammlung im Richard-Dehmel-Nachlass der Staats- und Universitäts-Bibliothek Hamburg. Prüfungsarbeit, der Hamburger Bibliotheksschule, Hamburg 1960, S. 9. Dehmel digital, hrsg. von Julia Nantke unter Mitarbeit von Sandra Bläß, Marie Flüh, 2022, [8.7.2022]. Vgl. Hannes Fischer, Erika Thomalla, Literaturwissenschaftliche Netzwerkforschung zum 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Germanistik 26. 1 (2016), S. 110–117, hier S. 113 (mit Verweis auf Ronald S. Burt, Brokerage and Closure. An Introduction to Social Capital, Oxford 2007).

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Vorsitzenden der Hamburger Kunstgesellschaft.10 In einem weiteren Brief dankt Peter Behrens Richard Dehmel nachdrücklich dafür, dass dieser ihn Harry Graf Kessler gegenüber überschwänglich angepriesen habe.11 Ida Dehmel wiederum unterstützt Julie Wolfthorn in deren Karriere, indem sie ihr Aufträge vermittelt, sie auf sehr positive Kritiken hinweist, mit denen Wolfthorn für sich werben kann, oder sie berät, mit welchen Bildern sie Aufträge gewinnen könnte.12 Zugleich war Richard Dehmel nicht nur Vermittler einflussreicher Kontakte, sondern in vielen Briefen an ihn kommt eine große Wertschätzung der Schreibenden für den Dichter und seine Meinung zum Ausdruck. So bittet beispielsweise Thomas Mann kurz nach Erscheinen der Buddenbrooks13 um seine Eindrücke, denn „Sie haben mich ja eigentlich ‚entdeckt‘, mir wenigstens die ersten Ermunterungen zuteil werden lassen.“14 Zweig diskutiert zwar mit Richard Dehmel über seine Übersetzung eines Verlaine-Gedichts, die in einem von Zweig herausgegebenen Band erscheinen soll und dessen Meinung nach zu sehr vom Original abweicht. Er formuliert seine Kritik jedoch ebenfalls sehr ehrfürchtig: „Ich hoffe, Sie, sehr verehrter Herr Dehmel, werden es mit als jungem Menschen nicht als Überhebung anrechnen, wenn ich mich bei der Auffassung dieses Gedichts gegen die Ihre wende“.15 In den bislang genannten Beispielen bilden die Briefe vor allem für die Korrespondenzpartner:innen der Dehmels Werkzeuge auf dem Weg zu einer besseren Vernetzung und der Stabilisierung ihres Status im Kulturbetrieb. Es werden Bitten vorgebracht, Gefallen erbeten und weitere Handlungen in Gang gesetzt. Für die Dehmels bieten sich in diesem Zusammenhang durch ihre Rolle als gefragte Ratgeber:innen, Vermittler:innen und Produzent:innen von ‚Content‘, der nachgenutzt werden soll, Möglichkeiten zur Einflussnahme auf Personen und Projekte. Um sich in diesem Netz positionieren bzw. Teil der Community der Dehmels werden zu können, genügte jedoch kein Klick auf einen ‚Folgen‘-Button, sondern auch hier musste, sofern es kein persönliches Kennenlernen gab, auf das Werkzeug des Briefs zurückgegriffen und darin meistens ein konkretes Anliegen formuliert werden. Gerade der ehrfürchtig-unterwürfige 10

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Vgl. Richard Dehmel, Brief an Stefan Zweig, 9.  Mai  1907, in: Dehmel digital (Anm.  8), [8.7.2022]. Vgl. Peter Behrens, Brief an Richard Dehmel, 11. September 1899, in: ebd. [8.7.2022]. Vgl. Ida Dehmel, Brieffragment an Julie Wolfthorn, o. D., in: ebd. ; Ida Dehmel, Richard Dehmel, Brief an Julie Wolfthorn, 5. Mai 1901, in: ebd. [8.7.2022]. Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Roman, Berlin 1901. Ders., Brief an Richard Dehmel, zitiert nach Marek Fiałek, Dehmel, Przybyszewski, Mombert. Drei Vergessene der deutschen Literatur, Berlin 2009, S. 31. Stefan Zweig, Brief an Richard Dehmel, 3. Mai 1902, in: Dehmel digital (Anm. 8), [8.7.2022].

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Netzwerken und Selbstinszenierung um 1900

Ton, der in manchen Korrespondenzen anklingt, erinnert an die Beziehung zwischen Influencer:innen und ihren Follower:innen. Zwar kann dort keine klare Hierarchie von Produzent:innen und Rezipient:innen bestimmt werden, allerdings sind viele Aktionen der Fans – Liken, Sharen, Verlinken, Kommentieren etc.  – reaktiver Natur und auf die Influencer:innen ausgerichtet, da sie auf deren Content bezogen sind.16 Im Vergleich dazu konnte  – nach Überwindung der anfänglichen Kennenlernhürde – in der Briefkorrespondenz eine wechselseitig aktive, langfristige Kommunikation zwischen klar definierten Korrespondent:innen entstehen, die sich deutlich von der Beziehung zwischen Influencer:innen und ihrer anonymen Follower:innenschaft unterscheidet. Das Umfeld der Dehmels war in großen Teilen ein Profinetzwerk, die daran Teilhabenden waren vielfach ebenfalls in verschiedenen Bereichen des Kulturbetriebs tätig und häufig selbst gut vernetzt. Folglich bewegten sich auch die Beratungsund Empfehlungsschreiben der Dehmels „zwischen Freundschaft und Patronage“.17 Bereits im oben ausgeführten Beispiel von Zweigs Übersetzungsband zeigt sich, dass sich keine klaren Beziehungsgefälle bestimmen lassen: Zwar ordnet sich Zweig durch seine Sprache hierarchisch unterhalb von Richard Dehmel ein, ist aber zugleich derjenige, der ihm die Mitarbeit an einem Projekt mit anderen großen Dichtern der Zeit ermöglicht. Hier deutet sich also an, dass die kommunikativen Hierarchien im Dehmel-Korrespondenznetz deutlich dynamischer und diverser sind als die durch digitale Plattformen moderierte typische Beziehung von Influencer:innen und ihren Follower:innen: Die Briefpartner:innen treten häufig auch als Gleichgestellte auf, die nicht nur von den Dehmel’schen Kontakten profitieren, sondern ebenso ihre eigene Vernetzung zum Vorteil der Dehmels ausspielen. Hier kooperieren gewissermaßen Influencer:innen untereinander, indem sie gegenseitig ihre Bekanntheit steigern und im Sinne der:des jeweils anderen netzwerken. Eine solche Beziehung auf Augenhöhe bestand beispielsweise zwischen Richard Dehmel und Detlev von Liliencron. Die Briefe zeugen davon, dass beide in der Erarbeitung ihrer literarischen Werke sehr auf den Rat des jeweils anderen setzten.18 Ebenso vermittelte hier nicht nur Richard Dehmel Kontakte, sondern auch Liliencron wird derartig tätig, indem er z. B. die Bekanntmachung mit einer hochrangigen Dame anbietet: „Sie ist sehr geistreich und – verkehrt

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Zur Kommunikation zwischen Influencer:innen und deren Community vgl. Sandra Ziewicki, Influencer Marketing (Anm. 3), S. 33f. Erdmut Jost, Eintrittskarte ins Netzwerk. Prolog zu einer Erforschung des Empfehlungsbriefes, in: Dies., Daniel Fulda (Hrsg.), Briefwechsel. Zur Netzwerkbildung in der Aufklärung, Halle a. d. S. 2012, S. 103–143, hier 104. Hier findet sich auch Genaueres zum Empfehlungsbrief und seiner Entwicklung. Vgl. u.  a. Richard Dehmel, Brief an Detlev von Liliencron, 6.  Februar  1892, in: Dehmel digital (Anm.  8), ; Detlev von Liliencron, Brief an Richard Dehmel, 25. April 1906, in: ebd. [8.7.2022].

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mit den äußersten ‚Spitzen‘ Hamb.-Alt.s. Wenn Ihr also früher oder später in diese ‚Kreise‘ wollt […], so biete ich dir die Hand dazu.“19 Auch zwischen Wolfthorn und Ida Dehmel entwickelt sich zunehmend eine Beziehung der wechselseitigen professionellen Unterstützung, als Ida Dehmel verstärkt in der Frauenbewegung aktiv wird. Wolfthorn informiert sie in ihren Briefen über die Tätigkeiten anderer Frauenverbände und vermittelt für die von Ida Dehmel gegründete Gemeinschaft Deutscher und Oesterreichischer Künstlerinnenvereine aller Kunstgattungen (GEDOK) neue potentielle Mitglieder.20 Solche Korrespondenzen, in denen es um künstlerische Kollaboration und wechselseitige Unterstützung geht, sind dazu geeignet, anstelle der Fokussierung auf Einzelpersonen eine Netzwerkperspektive auf die Produktion von Literatur und Kunst zu erlangen.21 Das verdeutlicht u. a. auch Zweigs Den Fünfzigjährigen gewidmeter Zeitungsartikel.22 Hierin ruft Zweig dazu auf, Schriftsteller:innen nicht immer erst posthum zu ehren, denn „[n]iemals […] spürt der deutsche Dichter diese Liebe am eigenen Leibe, niemals wärmt, kleidet, nährt, beglückt und begeistert sie ihn inmitten seines Schaffens.“ Während posthume Auszeichnung und Aufnahme in die Literaturgeschichte vor allem Themen der wissenschaftlichen Eliten seien, sollte man vermehrt versuchen, auch bürgerliches Publikum einzubeziehen und die Dichtenden zu feiern, die in diesem Kreis dem Zeitgeist entsprechen, in einer Weise, die ihnen wirklich zugutekäme. Zu diesem Zweck schlägt Zweig jährliche Feiern der Fünfzigjährigen vor, bei denen für jede:n Gefeierten innerhalb eines Monats deutschlandweit Theateraufführungen oder Rezitationen 19

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Detlev von Liliencron, Brief an Richard Dehmel, 5.  Mai  1905, in: ebd. [8.7.2022]. Vgl. Julie Wolfthorn, Brief an Ida Dehmel, 15.  Oktober  1930, in: ebd. ; Dies., Brief an Ida Dehmel, 18. Dezember 1930, in: ebd.  [8.7.2022]. Ida Dehmel gründete 1926/27 den ‚Bund Hamburger Künstlerinnen und Kunstfreundinnen‘, in dem Künstlerinnen verschiedenster Kunstformen und Kunstunterstützerinnen zusammengebracht wurden. Es bildeten sich andernorts diverse vergleichbare Vereine. Um diese zu organisieren, wurden sie unter der GEDOK vereint, die bis 1933 7000 Mitglieder zählte. Ida Dehmel brachte sich sehr engagiert im Vorstand ein, wurde aber 1933 durch das nationalsozialistische Regime ausgeschlossen. Vgl. Carolin Vogel, Das Dehmelhaus in Blankenese (Anm. 7), S. 248–261, 286–288. Vgl. Fischer, Thomalla, Literaturwissenschaftliche Netzwerkforschung zum 18.  Jahrhundert (Anm. 9), S. 110. Für eine genauere Betrachtung der Dehmel-Korrespondenzen unter diesem Gesichtspunkt kollaborativer literarischer Praktiken: vgl. Julia Nantke, Sandra Bläß, Marie Flüh, Literatur als Praxis. Neue Perspektiven auf Brief-Korrespondenzen durch digitale Verfahren, in: Jan Horstmann, Frank Fischer (Hrsg.), Digitale Verfahren in der Literaturwissenschaft, Sonderausgabe #6 von Textpraxis. Digitales Journal für Philologie 1,2022, [8.7.2022]. Vgl. Stefan Zweig, Den Fünfzigjährigen! Eine öffentliche Anregung, in: Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung 464 (12. September 1911), in: Dehmel digital (Anm. 8), [5.1.2023].

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stattfinden sollten. Diesen Artikel schickte er Richard Dehmel „in Treue ergeben“, doch beschränkt sich die Vernetzung durch diesen Artikel nicht auf diese beiden Dichter. Der Artikel nennt weiterhin u. a. Friedrich Hebbel, Franz Grillparzer, Gerhart Hauptmann und Arthur Schnitzler.23 Diese werden damit in einen Kontext zueinander gestellt und als zentrale Akteure des zeitgenössischen Literaturbetriebs ausgewiesen.

2.2 Aufmerksamkeit als Arbeitsgrundlage: Das Berufsbild und dessen Inszenierung bei Influencer:innen und Schriftsteller:innen Am 19. Juli 1919 schreibt Richard Dehmel an Zweig, um zeitlose Kunst zu schaffen, sei isolierte, konzentrierte Arbeit notwendig, bei der er jedoch ständig durch Korrespondenzen gestört werde24 – die Voraussetzung dafür, bedeutungsvollen ‚Content‘ zu schaffen, liegt also darin, gerade nicht permanent für die Community zugänglich zu sein. Anstatt möglichst viel und regelmäßig Output zu produzieren, wie es für das Schreiben in digitalen sozialen Medien typisch und notwendig ist, sollen wenige, aber dafür umso bedeutsamere Werke entstehen. Dieses Ideal wiederholt sich mehrfach in den Dehmel-Korrespondenzen, erscheint den Schreibenden allerdings häufig als unvereinbar mit ihrem tatsächlichen Berufsalltag: Neben den brieflichen Korrespondenzen im Sinne der eigenen Positionierung im Kulturbetrieb muss ein erhöhter Aufwand in Form von Lesungen und Werbung betrieben werden, um im modernen Literaturbetrieb Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.25 Um 1900 entstanden im Zuge der stetigen Vereinfachung und Verbilligung der Druckverfahren viele neue literarische Zeitschriften, die vor allem die günstigsten Werke veröffentlichten. Vergleichbar mit aktuellen Publikationsszenarien auf Blogs oder in sozialen Netzwerken im Internet, wo theoretisch jede:r Inhalte publizieren kann, was eine große Konkurrenz schafft und gleichzeitig die Chance verringert, so bekannt zu werden, dass man davon leben kann,26 probierten sich zur Jahrhundertwende im Zeitschriftenformat viele Lai:innen literarisch aus. Diese Personen, die nicht 23

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Bei Schnitzler, der Artikel zu sich selbst gesammelt hat, ist auch dieser archiviert, was wiederum Vernetzungen unter den Archiven belegt. Vgl. Julia Ilgner, Wiener vs. Berliner Moderne. Die kompetitive „Dichterfreundschaft“ zwischen Arthur Schnitzler und Richard Dehmel, in: Studia austriaca 29 (2021), S. 5–68, hier S. 48. Vgl. Richard Dehmel, Brief an Stefan Zweig, 19.  Juli  1919, in: Dehmel digital (Anm.  8), [8.7.2022]. Vgl. u.  a. Richard Dehmel, Brief an Detlev von Liliencron, 25.  Dezember  1891, in: ebd. ; Detlev von Liliencron, Postkarte an Richard Dehmel, 11.  Januar1902, in: ebd. ; Ders., Brief an Richard Dehmel, 25. Oktober 1903, in: ebd. [8.7.2022]. Vgl. Fuchs, Soziale Medien und kritische Theorie (Anm. 4), S. 272, 292.

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hauptberuflich schrieben, konnten sich eher günstige oder kostenlose Veröffentlichungen leisten als Menschen, die davon leben wollten. Folglich stieg die Konkurrenz auf dem Literaturmarkt massiv und es wurde zunehmend schwer, hauptberuflich literarisch zu schreiben.27 Wie in der aktuellen Internetkultur wurde deshalb auch im Kulturbetrieb dieser Zeit Aufmerksamkeit ein existenzielles Gut, da sie die Bedingung dafür bildete, möglichst frei arbeiten und damit genug Geld verdienen zu können.28 Beim näheren Hinsehen zeigt sich jedoch ebenfalls ein weiterer Unterschied im Vergleich der Schriftsteller:innen des Dehmel-Netzwerks mit gegenwärtigen Influencer:innen in Bezug auf die Inszenierung des eigenen Tuns. Auf eine Anfrage des B. G. Teubner Verlags, die Ballade Die vergessene Hortensie kostenlos nachdrucken zu dürfen, antwortete Liliencron: Mein Schuhmacher brachte mir heute meine Stiefel. Für seine Arbeit bezahlte ich ihn selbstverständlich. Ich denke, das ist auch mit geistigem Eigentum so. Ich muß Sie deshalb bitten, mir – zum mindesten mit 30 Mk. – den Nachdruck der vergessenen Hortensie zu bezahlen. Sonst erkläre ich mich mit dem Nachdruck nicht einverstanden.29

Der Verleger lehnt in seiner Antwort den Vergleich vom Beruf des Schusters mit dem des Schriftstellers ab, indem er sich auf die gesamtgesellschaftliche Aufgabe des letzteren beruft: Nicht Geld, sondern das Sprechen zur Allgemeinheit und deren Bildung sollte das Ziel der Literatur sein. Folglich werde der Verlag die Ballade nicht drucken und den Herausgebern der Anthologie empfehlen, „möglichst wenig zur Verbreitung Ihrer Werke beizutragen.“30 Während in Liliencrons Aussage also der Wunsch nach Anerkennung seiner Autorschaft als Beruf deutlich wird, der entsprechend entlohnt werden muss, plädiert der Verleger im Sinne seines eigenen ökonomischen Interesses für das Künstlerdasein rein um der Kunst willen und kann sich dabei auf eine im Kunstdiskurs des 19. Jahrhunderts etablierte Tradition stützen,31 die aktuell auch wieder die öffentlich ausgestellte Auffassung digitaler Influencer:innen prägt. 27

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Vgl. Wolfgang Martens, Lyrik kommerziell. Das Kartell lyrischer Autoren 1902–1933, München 1975, S. 17–20, 25. Vgl. Wolfgang Haas, Werbung in Zeiten von Instagram. Neue Herausforderungen für die Medienpädagogik, in: Wolfgang Deiters, Stefan Geisler, Ferdinand Hörner, Anna Katharina Knaup (Hrsg.), Die Kommunikation und ihre Technologien. Interdisziplinäre Perspektiven auf Digitalisierung, Bielefeld 2020, S. 79–100, hier S. 95; Elisabeth Sporer, (Selbst-)Inszenierungen von Autorinnen und Autoren im Internet am Beispiel von Autorenhomepages und Facebook-Fanseiten, Baden-Baden 2019, S. 44; Fuchs, Soziale Medien und kritische Theorie (Anm. 4), S. 284. Detlev von Liliencron, Brief an B. G. Teubner, o. O. am 8. November 1905, zitiert nach Martens, Lyrik kommerziell (Anm. 27), S. 26. Vgl. Martens, Lyrik kommerziell (Anm. 27), S. 26. Vgl. ebd. S. 26, 30.

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Gerade im Rahmen der gesteigerten Kommerzialisierung des produzierten Contents zielen Influencer:innen auf eine Außenwirkung als „beratende Experten“ ohne geschäftliches Eigeninteresse.32 Die kreative und unterhaltsame Gestaltung von Werbeinhalten soll den kommerziellen Charakter der öffentlichen Auftritte und produzierten Inhalte in den Hintergrund rücken33  – ein Konflikt, der in zahlreichen gerichtlichen Fällen und stetigen Gesetzesnachschärfungen als Reaktionen auf nicht (ausreichend) transparente Werbeinhalte sichtbar ist.34 Diese Strategie steht im engen Zusammenhang mit der Selbstinszenierung von Influencer:innen „als Mensch[en] ‚wie du und ich‘“35 authentischen Privatpersonen im Gegensatz zu aufwändig inszenierten Geschäftspersonas. Hier zeigt sich also ein grundlegender Unterschied zwischen der von Liliencron vertretenen Auffassung des Berufsbildes des Schriftstellers und der aktuellen Selbstdarstellung der Influencer:innen, wobei beide in den durch die Etablierung des modernen Literaturbetriebs erzeugten „Aporien der Selbst- und Fremdbestimmung“36 verhaftet bleiben bzw. diese aus entgegengesetzten Richtungen in ihrem Sinne aufzulösen suchen.37 Dass Liliencron mit seiner Meinung bezüglich des Berufs der Schriftsteller:in nicht allein stand, illustriert der ebenfalls in den Briefen gut dokumentierte Fall des Kartells lyrischer Autoren. In diesem Zusammenhang arbeiten die Schriftsteller:innen wiederum mit der Erzeugung von Aufmerksamkeit. Dabei spielt gleichzeitig das vernetzte Agieren mehrerer Gleichgesinnter eine zentrale Rolle, weil es die Möglichkeiten zur Einflussnahme auf kulturpolitische Strukturen gegenüber dem Handeln als Einzelperson verbessert. Um die Position der Autor:innen gegenüber den zunehmend als Gatekeeper agierenden Verlagen zu stärken, gründete Arno Holz 1902 das Kartell lyrischer Autoren, dessen Ziel zum einen die faire Bezahlung und Behandlung 32 33 34

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Vgl. Haas, Werbung in Zeiten von Instagram (Anm. 28), S. 89, 98. Vgl. ebd. S. 92; Ziewicki, Influencer Marketing (Anm. 3), S. 35. Vgl. Haas, Werbung in Zeiten von Instagram (Anm. 28), S. 92; Fuchs, Soziale Medien und kritische Theorie (Anm. 4), S. 289f. Haas, Werbung in Zeiten von Instagram (Anm. 28), S. 86. Thomas Wegmann, Der Dichter als „Letternkrämer“? Zur Funktion von Paratexten für die Organisation von Aufmerksamkeit und Distinktion im literarischen Feld, in: Das achtzehnte Jahrhundert, 36, 2 (2012), S. 238–249, hier S. 239. Wegmann bezieht sich in seiner Darstellung auf das 19. Jahrhundert. Hierbei handelt es sich vielleicht weniger um eine Differenz in der Auffassung vom Künstler:innenDasein zwischen 1900 und heute als vielmehr um zwei Perspektiven, die seit der Etablierung des modernen Kunst- und Literaturbetriebs parallel bestehen und gegeneinander ausgespielt werden. So zitiert beispielsweise Wegmann Friedrich Nicolais Ablehnung der ökonomischen Ausrichtung seiner Schriftsteller-Kollegen, die schrieben „um bekannt zu werden, ein Amt zu erschreiben, einem Patron ein Buch zu dediciren […]. Der gröste Haufen der Schriftsteller von Profeßion treibt ein Gewerbe so gut als die Tapetenmaler oder die Kunstpfeifer“; zitiert nach Wegmann, Der Dichter als Letternkrämer (Anm. 36), S. 239.

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von Schriftsteller:innen bei der Verhandlung mit Verlagen war. Zum anderen traten sie für die Einhaltung und Weiterentwicklung des Urheberrechts ein, das kurz vor der Gründung des Kartells dahingehend verändert worden war, dass für Nachdrucke u.  a. in Anthologien die Erlaubnis der Urheber:innen eingeholt werden musste. Zur Umsetzung seiner Ziele veröffentlichte das Kartell spezifische Satzungen, in denen festgelegt war, unter welchen Mindestbedingungen seine Mitglieder vor allem Nachdrucken ihrer lyrischen Texte zustimmen würden. Dichtende konnten in Verhandlungen mit Verlagen und Zeitschriftenherausgeber:innen mit dem Hinweis auf ihre Mitgliedschaft im Kartell ihre Verhandlungsposition stärken.38 Über Ausnahmen von den Regelungen stimmten die Gründungsmitglieder, das sogenannte Kartellkomitee (bestehend aus Holz, Liliencron, Falke, Busse, Bierbaum, Hofmannsthal und Richard Dehmel) brieflich ab, wobei der Brief wiederum sein Potenzial als ‚soziales Medium‘ und Werkzeug kultureller Einflussnahme zeigt. Dies veranschaulicht z. B. ein Brief von Heinz Möller an Richard Dehmel, in dem Möller anfragt, ob er Gedichte von Kartellmitgliedern unter dem Satzungspreis nachdrucken darf, um seine Anthologie günstig und in hoher Auflage produzieren und so möglichst vielen Menschen zugänglich machen zu können. Auf diesem Brief notierte Richard Dehmel seine eigene Auffassung: Er sei g e g e n eine Ermäßigung unsres Zeilenhonorars. Doch könnten wir die Normalauflage wohl zu 10   0 0 0 Exemplaren bewilligen; dies aber auch nur deswegen, weil mir die Person des Herausgebers ein wirklich geschmackvolles Büchelchen zu verbürgen scheint39

Dieser Brief wurde anschließend von Mitglied zu Mitglied weitergesendet, wobei jedes seine Meinung kurz unter Richard Dehmels Notiz schrieb („Deiner Ansicht“, „D A“, „Dito“) und Falke noch eine längere, wütende Ausführung darüber auf die Rückseite setzte, warum er ebenfalls zumindest auf dem üblichen Honorar beharren wolle.40 In diesem Brief kommunizieren also mehrere Personen miteinander und zwar nicht nur durch Vorlesen und persönliche Weitergabe des Briefs an andere Personen, wie dies in den Künstler:innenzirkeln des 19. Jahrhunderts üblich war.41 Stattdessen wird das ursprüngliche Dokument sukzessive weiter beschriftet und postalisch versendet. Das Verhältnis von Sendung und Empfang wird damit einem Gruppenchat oder Forum angenähert, wobei auch die Kürze der Antworten und das Fehlen oder Abkürzen von Grußformeln an digitale Medien wie Twitter oder diverse Kurznachrichtenservices 38 39

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Vgl. allgemein zum Kartell: Martens, Lyrik kommerziell (Anm. 27). Heinz Möller, Brief an Richard Dehmel, 16. Februar 1903, HANSb18474 (bezieht sich auf die ID, mit der das Dokument u. a. im Digitalisatekatalog der SUB Hamburg wiedergefunden werden kann). Vgl. ebd. Vgl. Rainer Baasner, Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis, in: Ders. (Hrsg.), Briefkultur im 19. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 1–36, hier S. 5.

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erinnern.42 Elisabeth Sporer definiert diesen Unterschied der Rezeption als den zwischen einer 1:1-Kommunikation (eine Person kommuniziert mit einer weiteren wie im klassischen Brief) und einer n:n-Kommunikation (mehrere Personen korrespondieren mit mehreren wie in vielen sozialen Medien üblich).43 Diese auf mehrere Personen angelegte Kommunikation wird intensiviert im Medium des offenen Briefs, den das Kartell häufig nutzte, da es seine Satzungen, Reaktionen auf gegenwärtige Veröffentlichungsangebote, neue Mitgliedschaften u. s. w. in der Schriftsteller:innenzeitung Die Feder regelmäßig öffentlich machte.

3 Dokumentation und Inszenierung von ‚Influence‘ im Brief Bislang wurden vor allem Briefe als konkrete Werkzeuge zum Netzwerken und zur Einflussnahme auf den Kunst- und Kulturbetrieb betrachtet. Eine große Gemeinsamkeit der Dehmels mit den Influencer:innen in den heutigen sozialen Medien besteht allerdings, wie zu Beginn bereits dargestellt, auch in deren Selbstinszenierung  – sowohl als Einzelpersonen als auch ihrer Paarbeziehung – als Marke: „Autorschaft ist Marketing und Bestsellerautoren sind Kultmarken. Eine Marke ist für den potenziellen Leser ein Qualitätssignal und damit auch ein Kaufanreiz.“44 Diese (Selbst-)Inszenierung der Dehmels und ihres gemeinsamen Lebens finden ebenfalls vielfach in den Briefen des Dehmel-Archivs statt, wobei die Dokumente in diesem Kapitel in einem anderen Maß als Werkzeuge der Dehmels als Influencer:innen betrachtet werden sollen: Sie inszenieren und dokumentieren den Status der Dehmels innerhalb des künstlerisch-kulturellen Netzwerks, indem sie von Veranstaltungen und Begegnungen berichten sowie durch mitgeschickte Entwürfe oder die detaillierte Beschreibung von Bekleidung und Interieur konkrete Elemente des Dehmel’schen Lebensstils abbilden. Sie sind Teile eines Medienensembles, zu dem außerdem andere Formate wie Gemälde, Fotos und Zeitungsartikel gehören, welches insgesamt die zeitgenössischen Möglichkeiten zur Selbstinszenierung und daran gekoppelten gesellschaftlichen Positionierung aufzeigt.

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Diese Assoziation setzt sich außerdem im zu dieser Zeit neuen Medium des Telegramms fort (kurzer gehalten für simple Botschaften und in Kleinbuchstaben und ohne Satzzeichen notiert). Vgl. z. B. Émile Verhaeren und Stefan Zweig, Telegramm an Richard Dehmel, 29. Februar 1912, in: Dehmel digital (Anm. 8), . Vgl. Elisabeth Sporer, (Selbst-)Inszenierungen von Autorinnen und Autoren (Anm. 28), S. 166. Ute Schneider, Literatur auf dem Markt. Kommunikation, Aufmerksamkeit, Inszenierung, in: Philipp Theisohn, Christine Weder (Hrsg.), Literaturbetrieb. Zur Poetik einer Produktionsgemeinschaft, München 2013, S. 235–247, hier S. 245.

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Carolin Vogel hält fest, dass Richard Dehmels Auftreten im Speziellen sehr eigen und einzigartig gewesen sein müsse, wobei eine solche Individualisierung und Hervorhebung des:der Autors:Autorin als Teil des Gesamtkunstwerks aber durchaus typisch für seine Zeit war. Von seiner Kleidung und dem äußeren Erscheinungsbild bis zu seinem Vortragsstil auf Lesungen45 sei er in vielem auffällig und unverwechselbar gewesen. Er habe zwar verschieden geartete Reaktionen ausgelöst,46 war jedoch in jedem Fall gut darin, sich und sein Werk ins Gespräch zu bringen. Auch Ida Dehmel hatte sich bereits während ihrer ersten Ehe mit dem Konsul Auerbach als Berliner Salonière mit besonderem kulturellem Engagement einen Namen gemacht. Später institutionalisierte sie ihre Funktion als Kunstförderin in der bereits erwähnten Gründung der GEDOK. Gleichzeitig wurde sie in der kulturinteressierten Öffentlichkeit als extravagante Persönlichkeit wahrgenommen.47 Sie „liebte den großen Auftritt“48 in pompösen Kleidern, wovon sowohl zeitgenössische Fotos als auch die Darstellungen in ihren Briefen zeugen. Diese modische Inszenierung erinnert erneut an aktuelle Influencer:innen, wenn Ida Dehmel seitenlang über ein einziges Outfit zu schreiben weiß49 und sich dabei als Repräsentantin von „[d]es Weibes ganze[r] Herrlichkeit“50 begreift. Dieser Stellvertreterinnen-Rolle entsprechen die zahlreichen Fotos, die teilweise in Zeitschriften veröffentlicht wurden,51 und Gemälde von Ida Dehmel, gemalt von Künster:innen wie Wolfthorn, Alma del Banco, Richard Luksch und anderen. Die diversen medialen Darstellungen Ida Dehmels, stets in aufwändiger Garderobe und publikumstauglicher Pose, konservierten die (Selbst-)Inszenierungen, sodass sie einem breiteren Publikum zugänglich wurden, und erhöhten den Grad der Aufmerksamkeit für das Ehepaar Dehmel.52 45

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Lesungen wurden, wie bereits gezeigt, teilweise über Briefe organisiert. In Briefen wird aber auch über sie reflektiert (vgl. Detlev von Liliencron, Brief an Richard Dehmel, o. D., in: Dehmel digital (Anm. 8), ) oder die eigene Inszenierung geplant (vgl. Richard Dehmel, Brief an Detlev von Liliencron vom 25. Dezember 1891, wie Anm. 25). Vgl. Vogel, Das Dehmelhaus in Blankenese (Anm. 7), S. 38. Vogel, Das Dehmelhaus in Blankenese (Anm. 7), S. 51–55. Ebd. S. 54. Vgl. Dehmel, Ida, Dehmel, Richard, Brieffragment an Julie Wolfthorn, 16.  Mai  1901, in: Dehmel digital (Anm.  8), [8.7.2022]. Eine vergleichbare Assoziation (auch zum „beratenden Experten“) weckt, wenn Ida Dehmel Wolfthorn wärmstens ihr Schlankheitsprogramm aus einem „Leibgürtel“ und einer bestimmten Teemischung empfiehlt: „[W]o [der Bauch] hin ist, wissen die Götter.“ Vgl. Ida Dehmel, Brief an Julie Wolfthorn, 27. Dezember 1906, in: ebd. [8.7.2022]. Dies., Brief an Julie Wolfthorn, Berlin im Dezember 1896, in: ebd. [8.7.2022]. Vgl. z. B. die Abbildung und den Artikel zu Ida Dehmel in der Berliner Illustrierten Zeitung vom 13. August 1908, S. 286. Vgl. Vogel, Das Dehmelhaus in Blankenese (Anm. 7), S. 54.

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Neben ihrer Selbstinszenierung sah Ida Dehmel diese Bilder aber auch immer als Teil der Repräsentation von Richard Dehmels Gesamtwerk: Sie galt als seine Muse und gehörte zu jenen „Künstlergattinnen, die sich von ihren Männern in selbst entworfenen Kleidern in Szene setzen und fotografieren ließen“.53 Ihre Selbstinszenierung bezieht sich immer auch auf ihre Rolle als Richard Dehmels Ehefrau und die Dehmels als Paar. So hatte Ida Dehmel selbst kaum künstlerische Ambition, sondern sah sich vor allem als Bewahrerin der Erinnerung an Richard.54 Ida und Richard Dehmel als Paar, das in seiner Liebe alle gesellschaftlichen Erwartungen sprengt, stilisierte auch Richard Dehmel wiederum in seinem literarischen Werk als Zwei Menschen.55 Diese künstlerische Verarbeitung der gesellschaftlich als skandalös empfundenen Beziehung und umgekehrt die Selbstinszenierung als ‚das Paar aus dem Buch‘56 markiert erneut die enge Verzahnung von Werk und Privatleben der Dehmels. Die Selbstinszenierung der beiden in den verschiedenen genannten Varianten erfolgt also im wechselseitigen Bezug aufeinander. Richard Dehmel steht als berühmter Dichter natürlich im Zentrum, aber insbesondere gemeinsam, als „Traumpaar der literarischen Jahrhundertwende“ können sie sich selbst und ihren Lebensstil „im Scheinwerferlicht der Moderne“57 inszenieren. Neben den extravaganten Abbildungen vor allem Ida Dehmels dokumentieren viele Fotos auch das nach eigenen Entwürfen gestaltete Wohnhaus der Dehmels und das dort stattfindende

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Ebd. S. 153. So berichtet Ida Dehmel Wolfthorn explizit, wie Richard ihr zur Eröffnung der ersten Ausstellung der Künstlerkolonie Mathildenhöhe feierliche Kleidung und Schmuck auswählt: „Mir zeichnet der Meine Alles; der fühlt doch besser als alle Maler zusammen was ich tragen muß.“ Vgl. Ida Dehmel, Brief an Julie Wolfthorn, Heidelberg am 9.  April  1901, in: Dehmel digital (Anm.  8), [8.7.2022]. Vgl. Ida Dehmel, Brief an Julie Wolfthorn, 2. Juli 1923, in: ebd. [8.7.2022]; Elisabeth Höpker-Herberg, Das Dehmel-Archiv der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Ein Bericht über die Geschichte und die Bestände sowie über einen Brief an Alfred Mombert, in: Auskunft 7 (1987), S. 87. Siehe Anm. 2. Vgl. Gustav Schiefler, Eine Hamburgische Kulturgeschichte 1890–1920. Beobachtungen eines Zeitgenossen, Hamburg 1985, S. 217. Zitiert nach Vogel, Das Dehmelhaus in Blankenese (Anm. 7), S. 54. Dementsprechend nennt Ida Dehmel sich und ihren Mann gegenüber Wolfthorn einmal selbst „Zwei Menschen“. Vgl. Ida Dehmel, Brief an Julie Wolfthorn, 16. August 1901, in: Dehmel digital (Anm. 8), [7.8.2022]. Diese Sichtweise entspricht auch der Außenwahrnehmung: Das Dehmelpaar wird in mehreren Briefen mit „zwei Menschen“ angesprochen. Vgl. Julie Wolfthorn, Brief an Ida Dehmel, 20.  Februar  1901, in: ebd. ; Detlev von Liliencron, Brief an Richard Dehmel, 2.  November  1902, in: ebd. [7.8.2022]; Alfred Mombert, Brief an Richard Dehmel, 1912, HANSb320289. Carolin Vogel, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), „Zwei Menschen“. Richard und Ida Dehmel. Texte, Bilder, Dokumente, Göttingen 2021, S. 9–13, hier S. 9.

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gemeinsame Leben des Paars.58 Auch das Dehmelhaus und sein Garten sind als Teil der eigenen Inszenierung zu sehen: „Ein Künstlerhaus ist Ausdruck des Selbstverständnisses des Künstlers, es kann bis hin zum gebauten Selbstporträt verstanden werden.“59 Das Haus und viele Möbel darin hat insbesondere Richard Dehmel grundlegend mitgeplant und -entworfen, weswegen das Umfeld der Dehmels das Haus als bauliche Verkörperung der Persönlichkeit des Dichters begriff. Die Fotos dokumentieren diese Inszenierung des eigenen Lebens und bilden quasi das mediale Äquivalent der für die von Illies beschriebenen zahlreichen dort stattfindenden Treffen des Netzwerks im echten Leben. Gleichzeitig spiegeln sie in ihrer sorgfältigen Inszenierung durch zahlreiche Fotos auch alltäglicherer Lebensbereiche ebenfalls einen zentralen Habitus in sozialen Netzwerken.60 Vogel hält bezüglich der Selbstdarstellung zugleich fest, dass das Haus als Privathaus angedacht und nicht jedem geöffnet war. Nichtsdestotrotz aber macht die bereits zu Richards Lebzeiten begonnene Einrichtung des Dehmel-Archivs darin deutlich, dass das Haus als Teil eines öffentlichen Nachlasses geplant war. Hierzu passen auch die deutlichen Parallelen zu Goethes Gartenhaus, die Vogel auf gegenwärtige Trends im Baustil und eine weit verbreitete Goetheverehrung und -nachahmung vor allem zu dieser Zeit zurückführt, aber auch auf das Selbstverständnis Richard Dehmels und seine Hoffnung auf künftige Verehrung.61 Ein derartiges Mitdenken der Bedeutung des eigenen Dichter-Nachlasses begründet sich aus dem ebenfalls am Beispiel Goethe geschulten ‚Nachlassbewusstsein‘, welches sich 1889 auch in Wilhelm Diltheys Forderung nach Archiven für Literatur62 niederschlägt, in deren Rahmen Dilthey Nachlässe als zentrale Quelle für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Literatur postuliert.63 Nachlassdokumente und deren Organisation sind aus dieser Perspektive Mittel des individuellen Ausdrucks, mit Blick auf eine zukünftige Zielgruppe ein Bild von sich selbst zu schaffen. Insbesondere im Hinblick auf die sorgfältige und bereits archivalisch vorstrukturierte Aufbewahrung der Korrespondenz der Dehmels bildet deren durch die Briefe

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So sehen wir beispielsweise auf Bildern, die Ida an Wolfthorn schickte, die Dehmels durch den eigenen Garten spazieren und Ida in ihrer geliebten Hängematte. Vgl. Ida Dehmel, Richard Dehmel, Brief an Julie Wolfthorn, o. D., in: ebd. [8.7.2022]. Vgl. Vogel, Das Dehmelhaus in Blankenese (Anm. 7), S. 141. Einschränkend sei hier angemerkt, dass in den meisten Fällen nicht feststellbar ist, mit wem (über die eigenen Freund:innen hinaus) diese Fotos geteilt wurden. Vgl. Vogel, Das Dehmelhaus in Blankenese (Anm. 7), S. 153, 155f. Wilhelm Dilthey, Archive für Literatur, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd.  XV: Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Ulrich Hermann, Göttingen 1970, S. 1–16. Vgl. Kai Sina, Carlos Spoerhase, ‚Gemachtwordenheit‘. Über diesen Band, in: Dies. (Hrsg.), Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750–2000, Göttingen 2017, S. 9–17, hier S. 9–13.

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dokumentierte Position als Influencer:innen um 1900 einen zentralen Aspekt dieses Bildes für die Nachwelt. Die ‚echten‘ und ,wahrhaftigen‘ Zeugnisse eines ‚gelebten Lebens‘ erweisen sich aus dieser Perspektive als Objekte der schriftstellerischen Vorausschau, Reflexion und Planung, ja mitunter sogar der künstlerischen Bearbeitung.64

Für dieses kreative „doing identity“65 müssen, ähnlich wie in der Internetkultur, Dokumente im Hinblick auf antizipierte zukünftige Interessen ausgewählt und angeordnet werden, wobei der Kreis der Rezipient:innen, auf die sich die Inszenierung richtet, noch nicht klar definierbar ist. Dass die Dehmels im Archiv eine Auswahl im Sinne des Nachlassbewusstseins vorgenommen haben, zeigt sich beispielsweise an der Vernichtung einer Antwort Theodor Fontanes auf eine Spendenaufforderung für Liliencron. Sie befürchteten, „daß das vernichtende persönliche Urteil über Liliencron den alten Fontane zu sehr kompromittierte, um aufbewahrt zu werden.“66 Wie viele Dokumente in diesem Zusammenhang vernichtet wurden, ist heute nicht mehr nachvollziehbar.67 So sind die Briefe des Dehmel’schen Korrespondenznetzes nie nur ein Medium der Selbstinszenierung gegenüber dem:der singulären Empfänger:in, weil, wie Jochen Strobel anmerkt, die Empfänger:innen nicht zwangsläufig auf die auf dem Umschlag angegebenen Adressat:innen begrenzt sein mussten: Briefe wurden nicht nur teilweise vorgelesen und weitergegeben, auch das Publikum des eines Tages zu veröffentlichenden Briefbestandes kann hierunter fallen68  – manchmal vielleicht schon beim Verfassen, in jedem Fall aber bei der Selbstarchivierung haben die Dehmels die Rolle der Briefe als Teil des zur späteren Publikation vorgesehenen Nachlasses bereits mitgedacht. Die erste Ausgabe mit Briefen Richard Dehmels erschien dann auch, herausgegeben von Ida Dehmel, bereits kurz nach seinem Tod im Jahr 1920.69

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Ebd. S. 15. Haas, Werbung in Zeiten von Instagram (Anm. 28), S. 87. Höpker-Herberg, Das Dehmel-Archiv (Anm. 54), S. 92. Vgl. ebd. Vgl. Jochen Strobel, Die Geschichte von Franz und Felice. Über Brieflektüre und Erzähltheorie, in: Lucas Marco Gisi, Urs Meyer, Reto Sorg (Hrsg.), Medien der Autorschaft. Formen literarischer (Selbst-)Inszenierung von Brief und Tagebuch bis Fotografie und Interview, München 2013, S. 69– 86, hier S. 76. Dieser Form der Inszenierung wiederum geben Herausgeber:innen und Editor:innen die Plattform und eigene Prägungen (vgl. ebd.). Richard Dehmel, Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1883 bis 1902, Berlin 1922.

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4 Zusammenfassung: Die Dehmels als Influencer:innen – Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Briefund Social Media-Kultur Richard und Ida Dehmel waren Influencer:innen ihrer Zeit. Durch ihre Position im Zentrum eines internationalen Korrespondenznetzes und ihre umfangreiche Follower:innenschaft war es ihnen möglich, Einfluss auf künstlerische Karrieren und kulturpolitische Dynamiken zu nehmen. Die Beispiele haben allerdings auch gezeigt, dass die Kommunikation innerhalb eines Briefnetzwerks anders funktioniert als in digitalen sozialen Medien: Kontaktaufnahmen erfolgen mit größerer Verbindlichkeit und die postalische Kommunikation etabliert insgesamt stabilere Strukturen, die mehr durch wechselseitige Interaktion geprägt ist, als es mit einer anonymen massenhaften Follower:innenschaft möglich ist. Der Austausch erfolgt eher in Form längerer Texte, erst die bereits stabilisierte persönliche Verbindung erlaubt in der medialen Situation um 1900 Kurznachrichten in Form von Telegrammen oder kurzen postalischen Mitteilungen ohne Anrede und Grußformel. Gerade diese Unterschiede in der Funktionslogik der Kommunikation bilden die Basis für unseren Ansatz im Projekt Dehmel digital. In dessen Anlage geht es nämlich gerade nicht darum, Richard Dehmel als Einzelperson in den Fokus zu rücken und als literarischen Star zu rehabilitieren. Vielmehr sind es insbesondere die beispielsweise in den Kartellbriefen sichtbar werdenden Teilnetzwerke, also die für den Kulturbetrieb im größeren Maßstab relevanten Personen, Institutionen und Kommunikationsformen, die im Rahmen von Dehmel digital sichtbar gemacht werden sollen.70 Dennoch ist die Rolle der Dehmels für das Projekt zentral: zum einen, weil das Netzwerk maßgeblich über deren Agieren zustande kommt und funktioniert. Und zum anderen, weil es vor allem dank Ida Dehmel für die Nachwelt erhalten geblieben ist. Eine weitere Parallele zur Kommunikation in digitalen sozialen Medien bildet die durchorganisierte Selbstinszenierung des Ehepaars Dehmel, die teilweise in den Briefen und weiteren Nachlassdokumenten selbst stattfindet und in anderen Fällen zumindest dort dokumentiert ist. Auch hier lassen sich wiederum Unterschiede zwischen ‚Influence‘ um 1900 und 2021 feststellen, die mit der medialen und gesellschaftlichen Situation um 1900 zusammenhängen: Die Präsentation als Künstler:innenpärchen hatte jenseits von Richard Dehmels Dichtung einen großen Anteil an der Anziehungskraft der Dehmels und trug zur Vergrößerung von deren ‚Follower:innenschaft‘ bei. Vergleichbar mit aktuellen Interior-, Mode- oder Livestyle-Accounts, bei denen sich auch nicht selten Kunst und Kommerz mischen, ging die Etablierung der Dehmels als Marke mit 70

Vgl. dazu auch Nantke, Bläß, Flüh, Literatur als Praxis (Anm. 21).

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einer Präsentation ihres gemeinsamen Lebens im Dehmelhaus einher: Kleidung, Schmuck, Interieur wurden extra entworfen, angefertigt und auf sorgfältig inszenierten Fotos festgehalten. Der Salon im Dehmelhaus fungierte nicht zuletzt als Ausstellungsfläche zur öffentlichkeitswirksamen Präsentation der Dehmels als Influencer:innenpärchen. Allerdings war das adressierte Publikum dieser Inszenierungen wiederum ein anderes als in den aktuellen sozialen Medien. Sie zielten vorrangig auf befreundete und bekannte Künstler:innen, Kulturschaffende und Intellektuelle, die häufig selbst, mittelbar oder unmittelbar, an der Herstellung der präsentierten Gegenstände beteiligt waren – ‚Prosumer:innen‘ sozusagen. Hier zeigt sich also wiederum eine Verschränkung von Produktions- und Rezeptionsperspektive, wie sie vielfach für die Kommunikation in sozialen Medien veranschlagt wird. Allerdings bezieht sich diese im Fall der Dehmels eher auf einen klar definierten Kreis persönlicher Bekanntschaften denn auf eine anonyme Öffentlichkeit, der das Dichterhaus und der Nachlass erst posthum zugänglich gemacht wurden. Darüber hinaus waren die medialen Möglichkeiten zur Selbstinszenierung um 1900 in deutlich geringerem Maße gegeben, als das in der aktuellen „Kultur der Digitalität“71 der Fall ist. Aus ihrer Interpretation des modernen Künstlers als Marke ist auch Ida Dehmels Tätigkeit als Kulturmanagerin ihres berühmten Mannes zu verstehen. In dieser Funktion agierte sie in der Öffentlichkeit und im Dehmelsalon, während sie im Hintergrund im Hinblick auf den erwartbaren Nachruhm ihres Mannes dessen Schriften archivierte und pflegte. Ida Dehmels Archivierungspraxis ist dabei von der Briefkultur des 19. Jahrhunderts sowie dem um 1900 zu voller Blüte gelangenden Autor:innenschaftskult und Nachlassbewusstsein geprägt. Der Unterschied der anhand der Briefe sowie weiterer Dokumente aus dem Nachlass beobachteten Formen der Selbstinszenierung zu aktuellen Formen der Präsentation des eigenen Lebens in sozialen Medien liegt vor allem darin, dass die Inszenierung auf eine deutlich weiter entfernte Zukunft bezogen ist und der Anspruch besteht, Inhalte von überzeitlichem Interesse zusammenzustellen, die ein umfängliches Bild des Verstorbenen zeichnen. Das Ziel ist also, langfristig Aufmerksamkeit zu erzeugen und zu erhalten. Bei aktuellen Influencer:innen in den sozialen Medien geht es hingegen maßgeblich um die Antizipation einer sehr nahen Zukunft: darum, neue, kurzlebige Trends möglichst frühzeitig zu erkennen, um mit immer wieder aktualisierten Inhalten das Interesse auf sich zu lenken. Die kreativ gestaltete Identität entsteht auf diese Weise fragmentarisch und immer wieder neu mittels einzelner Posts und Äußerungen.72 Instagram-Stories und Fleets auf Twitter verschwinden nach einer gewissen Zeit, Posts werden zwar archiviert, allerdings geschieht dies eher im Hinblick auf die algorithmisierte Auswertung von Massendaten als auf die spätere Relektüre durch 71 72

Felix Stalder, Kultur der Digitalität, Frankfurt a. M. 2016. Vgl. Haas, Werbung in Zeiten von Instagram (Anm. 28), S. 87.

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ein breites, kulturinteressiertes Publikum. Dennoch entstand auf der Basis von Ida Dehmels Archivierungstätigkeit das Dehmel-Archiv als Big Data-Speicher. Dessen Erschließung mit aktuellen Verfahren der Digital Humanities im Projekt Dehmel digital knüpft wiederum an die statistische Auswertung von Social Media-Daten an,73 um über die Einzelperson hinaus Informationen zum größeren Zusammenhang des Social Network zu gewinnen: Jenseits des Influencer:innen-Pärchens Ida und Richard Dehmel wollen wir das künstlerisch-kulturelle Netzwerk sichtbar machen, das die beiden durch ihre Korrespondenzen, aber auch über ihr in den Briefen dokumentiertes Agieren im ,Real Life‘ aufgebaut und mittels Archivierung für die Nachwelt bewahrt haben.

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Zur Auswertung von Briefen mit Methoden der Social Media-Analysen siehe auch den Beitrag von Frederike Neuber, Historische Korrespondenzen und Social Media Analytics. Eine experimentelle Analyse der Briefe aus Jean Pauls Umfeld (in diesem Band, S. 247–267).

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Autorinnen und Autoren M a r k u s B e r n a u e r, Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Neueren allgemeinen Geschichte und Philosophie in Basel, Marburg und Berlin, apl. Professor der Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Berlin, Leiter der Jean Paul Edition an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. S a n d r a B l ä ß , 2019–2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg im forTEXT-Projekt, seitdem bei Dehmel digital. Ihre Forschungsinteressen umfassen narrative Texte des 20. und 21. Jahrhunderts, digitale und kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft sowie (narrative) Identitätskonzepte in Texten. Ur s u l a C a f l i s c h - S c h n e t z l e r, Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Literaturkritik. Wissenschaftliche Abteilungsleiterin an der Universität Zürich, Leitung von Johann Caspar Lavater: Historisch-kritische Edition ausgewählter Briefwechsel (JCLB) und der Sammlung Johann Caspar Lavater (SJCL). R o t r a u t F i s c h e r, Literaturwissenschaftlerin, Projektmitarbeiterin im Fachgebiet Computerphilologie an der Technischen Universität Darmstadt, Arbeitsschwerpunkte sind Editionsphilologie, Briefforschung, Biographik, deutsch-italienischer Kulturtransfer im 19. Jahrhundert. A n d r e a Hü b e n e r, Studium der Neueren deutschen Philologie und Anglistik an der Technischen Universität Berlin und der University of Wales, Cardiff, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik, Technische Universität Braunschweig. C a n a n H a s t i k , Referentin für Data Literacy und Kommunikation an der Universitätsbibliothek Mannheim, tätig in den Bereichen Forschungsdatenmanagement und -infrastrukturen entlang des Forschungsdatenzyklus mit Schwerpunkt auf computergestützte Verfahren und Methoden, sowie Digital Humanities und digitale comuputergenerierte Kunst. Selma Jahnke, Studium der Neueren Deutschen Literatur und Geschichte in Freiburg, Pisa und Berlin, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Jean Paul Edition der BBAW, Mitherausgeberin 329

Autorinnen und Autoren

der Briefe aus dem Umfeld Jean Pauls; beteiligt an der Edition der Tagebücher Ludwig Pollaks und der digitalen Edition „Briefe und Texte aus dem intellektuellen Berlin um 1800“. C o s i m a J u n g k , wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Arbeitsstelle Friedrich und Dorothea Schlegel an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Koordinatorin des DFG-Projektes „Abschluss der Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe“ und Mitherausgeberin der Bände 28, 31 und 32. S o p h i a V i c t o r i a K r e b s , Studium der Germanistik, Philosophie sowie Editions- und Dokumentwissenschaft in Düsseldorf, Marburg und Wuppertal. Wiss. Mitarbeiterin bei der Friedrich-Heinrich-Jacobi-Briefwechseledition (Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig). E r w i n K r e i m , Studium der Betriebswirtschaftslehre und Pädagogik, Bankdirektor, Dozent der Bankakademie und Unternehmensberater. Die Sammlung Kreim mit Briefstellern seit den Anfängen des Buchdrucks befindet sich heute im Gutenberg-Museum, Mainz. R o m a n L a c h , Studium der Neueren Deutschen Philologie, Vergleichenden Literaturwissenschaft und Philosophie an der Technischen Universität Berlin, Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Keimyung Universität Daegu, Südkorea. Va l é r i e L e y h , Studium der Germanistik und Italianistik an der Université de Liège (B), Dissertation zu Theodor Storm und Arthur Schnitzler, Post-doc-Projekt zu Elisa von der Recke, seit 2017 Professorin für deutschsprachige Literatur an der Université de Namur (B). N o r b e r t M i l l e r, Studium der Literatur- und Musikwissenschaft sowie der Kunstgeschichte in Frankfurt am Main, München und Berlin, bis 2005 Professor für Deutsche Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Berlin, außerordentliches Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Ju l i a N a n t k e , seit 2019 Juniorprofessorin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Digital Humanities für Schriftartefakte an der Universität Hamburg, forscht über digitale Literatur und digitale Literaturwissenschaft, Literaturtheorie, Materialität und Medialität von Literatur, Editionswissenschaft, Literatur um 1900. F r e d e r i k e N e u b e r, Studium der Italianistik, Geschichte, Kunstgeschichte und Editionswissenschaften in Berlin und Rom, Promotion in Digital Humanities in Graz und Köln.

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Autorinnen und Autoren

Mitherausgeberin der digitalen Jean Paul Briefedition und Koordinatorin für den Bereich Digital Humanities an der BBAW. C o r n e l i a O r t l i e b , Studium der Neueren Deutschen Philologie, Vergleichenden Literaturwissenschaft und Philosophie an der Technischen Universität Berlin, seit April 2019 Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. J ö r g P a u l u s , Studium der Germanistik und Philosophie in Heidelberg und Berlin. Lehrtätigkeiten in Berlin, Braunschweig, Hannover, Tokyo und Breslau; seit 2016 Professor für Archiv- und Literaturforschung an der Bauhaus-Universität Weimar. T i m P o r z e r, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Arbeitsstelle Friedrich und Dorothea Schlegel der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, im Rahmen des Abschlusses der „Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe“ Mitherausgeber der Briefbände 31 und 32. A n d r e a R a p p , Professorin für Computerphilologie und Mediävistik an der Technischen Universität Darmstadt. Forschungen im Bereich der Entwicklung digitaler Analysetechnologien, digitaler Editionen und Wörterbücher, (digitale) Forschungsinfrastrukturen sowie der Reflexion von Digitalität in der philologischen Forschung und im Bereich des Kulturellen Erbes. M i c h a e l R ö l c k e , Studium der Neueren Deutschen Philologie und Geschichte an der Technischen Universität Berlin, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Jean Paul Edition an der BBAW, Mitherausgeber der Briefe aus dem Umfeld Jean Pauls; zudem wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Kritischen Moritz-Ausgabe. A n g e l a S t e i n s i e k , Studium der Neueren Deutschen Philologie, Komparatistik und Anglistik an der Technischen Universität Berlin, Mitarbeiterin der Jean Paul Edition und an der Wagner-Briefausgabe, seit 2017 am Deutschen Historischen Institut in Rom Leitung der Briefedition von Ferdinand Gregorovius. J o c h e n S t r o b e l , Studium in München, Promotion in Dresden, Lehr- und Forschungstätigkeit an der Technischen Universität Dresden, der Technischen Universität Berlin, in Sana’a, Magdeburg, Osnabrück, Marburg, Innsbruck und Mainz, apl. Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Marburg.

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Autorinnen und Autoren

E v a L . Wy s s , Professorin für Sprachwissenschaft und  -didaktik an der Universität Koblenz. Kultur- und medienlinguistische Forschung zu privater und politischer Kommunikation und ihrer Digitalisierung sowie zu Sprachnormen in Schule und Beruf in der mehrsprachigen Gesellschaft.

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Der vorliegende Band ist im Rahmen der digitalen Edition der Briefe aus Jean Pauls Umfeld an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften entstanden. Die Edition macht Briefe von rund zweihundert Personen aus dem Umfeld Jean Pauls nicht nur erstmals zugänglich, sondern präsentiert sie durch digitale Modellierung in ihrer Vielstimmigkeit, Multipolarität und Netzwerkdynamik.

www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40744-6

Soziales Medium Brief

WhatsApp mit Ludwig Tieck? Instapoetry by Elisa von der Recke? Blind Copy an Jean Paul? Gruppenchats, emoticons, hashtags, copy & paste, Social Media Analytics... Auf den ersten Blick scheint die Briefkultur des 18. und 19. Jahrhunderts Welten entfernt von der digitalen Kommunikation in den Social Media der Gegenwart. Und doch begegnen uns in 200 Jahre alten Briefen interaktive Phänomene, die integraler Bestandteil der Neuen Medien sind, weil sie den gleichen Kommunikationsbedürfnissen entspringen.

Markus Bernauer Selma Jahnke Frederike Neuber Michael Rölcke (Hrsg.)

Soziales Medium Brief Sharen, Liken, Retweeten im 18. und 19. Jahrhundert Neue Perspektiven auf die Briefkultur