Sozialer Wandel und Kohäsion: Ambivalente Veränderungsdynamiken [1. Aufl.] 978-3-658-25764-4;978-3-658-25765-1

Die Prozesse sozialen Wandels in gegenwärtigen Gesellschaften verlaufen nicht fortschrittslogisch widerspruchsfrei, sond

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German Pages VII, 260 [257] Year 2019

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Sozialer Wandel und Kohäsion: Ambivalente Veränderungsdynamiken [1. Aufl.]
 978-3-658-25764-4;978-3-658-25765-1

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VII
Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung – Eine Einleitung (Barbara Thiessen, Clemens Dannenbeck, Mechthild Wolff)....Pages 1-13
Ambivalenter Wandel in ambivalenten (Krisen)Zeiten (Clarissa Rudolph)....Pages 15-29
Deutschlands Wandel zum modernen Einwanderungsland – Folgen für die Diskussion sozialer Ungleichheit und gerechter Migration (Ludger Pries)....Pages 31-43
Soziale Arbeit - Herausforderungen und Risiken (Jan Keller)....Pages 45-60
Sozialpolitische Dimensionen von sozialem Wandel und Kohäsion (Ute Fischer)....Pages 61-77
Geschlechterverhältnisse im sozialen Wandel – Die Bedeutung von Care-Theorien für Soziale Arbeit (Barbara Thiessen)....Pages 79-97
Diskursive Schauplätze Geschlecht und Sexualität – Zur Normalisierung von Gewalt (Elisabeth Tuider)....Pages 99-114
Sexualpädagogik als Beitrag zum grenzwahrenden Umgang mit Kindern und Jugendlichen (Anja Henningsen)....Pages 115-129
Kindeswohlgefährdung und der Verlust sozialer Kohäsion – Zur Notwendigkeit proaktiver Prävention durch Schutzkonzepte in Organisationen Sozialer Arbeit (Mechthild Wolff)....Pages 131-144
Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit zwischen Vision und Wirklichkeit Ein Zwischenresümee (Gunda Voigts)....Pages 145-163
Zu kurz gesprungen. Auf dem Weg zu gleichwürdiger Teilhabe und Nicht-diskriminierung? Kritische Anmerkungen zum Inklusionsdiskus, wie wir ihn kennen (Clemens Dannenbeck)....Pages 165-179
Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession im Kontext von Flucht (Nivedita Prasad)....Pages 181-199
Die Schule als (Re)Produzentin sozialer Ungleichheit? Antimuslimischer Rassismus im deutschen Bildungssystem (Veronika Knauer)....Pages 201-221
Modelle von Taubsein und Gehörlosigkeit an der Grenze zwischen Selbstbehauptung und Fremdzuschreibung (Carmen Böhm, Uta Benner)....Pages 223-237
Klinische Sozialarbeit und Soziale Ausschließung (Carmen Böhm)....Pages 239-256
Back Matter ....Pages 257-260

Citation preview

Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung

Barbara Thiessen · Clemens Dannenbeck Mechthild Wolff Hrsg.

Sozialer Wandel und Kohäsion Ambivalente Veränderungsdynamiken

Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung Reihe herausgegeben von Sigrid Bathke, Landshut, Deutschland Uta Benner, Landshut, Deutschland Hubert Beste, Landshut, Deutschland Stefan Borrmann, Landshut, Deutschland Clemens Dannenbeck, Landshut, Deutschland Dominique Moisl, Landshut, Deutschland Karin-Elisabeth Müller, Landshut, Deutschland Mihri Özdogan, Landshut, Deutschland Barbara Thiessen, Landshut, Deutschland Mechthild Wolff, Landshut, Deutschland Eva Wunderer, Landshut, Deutschland

Soziale Ungleichheit bezeichnet ein zentrales gesellschaftliches Phänomen, das mit der Entwicklungsgeschichte der Sozialen Arbeit und anderer Sozialwissenschaften untrennbar verbunden ist. Spätestens mit dem Aufkommen des modernen Industriekapitalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der gesellschaftspolitische Hintergrund geschaffen, auf dem sich Soziale Arbeit als Organisationsinstanz entsprechender Hilfen und Unterstützungsleistungen herausbilden konnte. Während in der fordistischen Phase der Nachkriegsgeschichte die Auswirkungen der Polarisierungsprozesse in den unteren Segmenten der Gesellschaft noch einigermaßen hinreichend abgefedert werden konnten, treten die Konsequenzen dieser „gespaltenen Moderne“ in der neoliberalen Ära immer deutlicher zu Tage. Für die Sozialwissenschaften ist damit ein verstärkter theoretischer wie empirischer Forschungsaufwand verbunden, um die Folgen dieser sozialpolitischen Verwerfungen besser verstehen und darstellen zu können. Das Institut „Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung (IKON)“ legt seinen Fokus einerseits auf die Eruierung dieser tiefgreifenden strukturellen Transformationsprozesse, um andererseits aber auch gesellschaftliche Kohäsionsmomente herausarbeiten zu können, die den zunehmenden Spaltungsprozessen entgegen wirken können. Zentral ist dabei die Analyse der Stärkung von Teilhabe und Lebensbewältigungskompetenzen. So vielfältig wie die zu bearbeitenden Problemstellungen fallen die sozialen Felder aus, in denen kohäsionsbezogene Alternativen zu erforschen sind. Dazu gehören beispielhaft die Kinder- und Jugendhilfe, die Herausforderungen der Pflege und Gesundheitsförderung, die Analyse von Geschlechterverhältnissen und Care sowie Formen der Arbeitsteilung im Kontext von Familie und Beruf, die intersektoralen Prozesse sozialer Ausschließung im Bereich abweichenden Verhaltens und sozialer Kontrolle, die Fragen der Integration, der Inklusion/ Exklusion und Migration sowie der Bereich der betrieblichen Restrukturierung und des demographischen Wandels. „Kohäsion“ bedeutet so verstanden immer auch die Suche nach gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten jenseits von eindimensionalen Kausalitäten. Die grundsätzliche Möglichkeit und das grundlegende Erfordernis einer Gestaltbarkeit von Gesellschaft stehen daher im Vordergrund der maßgeblichen wissenschaftlichen Anstrengungen, die sich auch durch eine Ausrichtung auf externe gesellschaftliche Zwecksetzungen auszeichnen und fachliche Debatten anregen wollen. IKON verfolgt insoweit eine Forschungsprogrammatik, die auf eine etablierte und auch selbstverständliche Forschungspraxis auf dem Gebiet der Hochschulen für angewandte Wissenschaften abzielt, auch um ihre gesellschaftliche Stellung und strategische Gewichtung weiter zu konsolidieren. Zu betonen ist dabei eine Eigenständigkeit und Selbstverantwortung von Forschung. Denn gerade die immer noch wachsenden allgemeinen Ansprüche an die Regulierungsfähigkeit und Steuerungskraft des sozialen Bereichs machen eine entsprechende Grundlegung, die maßgeblich durch empirische Forschung ausgeformt wird, schlicht unverzichtbar.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16176

Barbara Thiessen · Clemens Dannenbeck · Mechthild Wolff (Hrsg.)

Sozialer Wandel und Kohäsion Ambivalente Veränderungsdynamiken

Hrsg. Barbara Thiessen Hochschule für angewandte ­Wissenschaften Landshut Hochschule Landshut Landshut, Deutschland

Clemens Dannenbeck Hochschule für angewandte ­Wissenschaften Landshut Hochschule Landshut Landshut, Deutschland

Mechthild Wolff Hochschule für angewandte ­Wissenschaften Landshut Hochschule Landshut Landshut, Deutschland

Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung ISBN 978-3-658-25765-1  (eBook) ISBN 978-3-658-25764-4 https://doi.org/10.1007/978-3-658-25765-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis 1

Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung - Eine Einleitung ........................ 1 Barbara Thiessen, Clemens Dannenbeck, Mechthild Wolff Sozialer Wandel und Kohäsion: Grundlegende Perspektiven

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Ambivalenter Wandel in ambivalenten (Krisen)Zeiten ............................... 15 Clarissa Rudolph

3

Deutschlands Wandel zum modernen Einwanderungsland – Folgen für die Diskussion sozialer Ungleichheit und gerechter Migration ............. 31 Ludger Pries

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Soziale Arbeit - Herausforderungen und Risiken ........................................ 45 Jan Keller

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Sozialpolitische Dimensionen von sozialem Wandel und Kohäsion ........... 61 Ute Fischer

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Geschlechterverhältnisse im sozialen Wandel – Die Bedeutung von Care-Theorien für Soziale Arbeit ................................................................ 79 Barbara Thiessen

VI

Inhaltsverzeichnis

"Eins vor, zwei zurück" - Wirkungen und Nebenwirkungen im institutionellen Kinder- und Jugendschutz 7

Diskursive Schauplätze Geschlecht und Sexualität – Zur Normalisierung von Gewalt .................................................................. 99 Elisabeth Tuider

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Sexualpädagogik als Beitrag zum grenzwahrenden Umgang mit Kindern und Jugendlichen ................................................................... 115 Anja Henningsen

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Kindeswohlgefährdung und der Verlust sozialer Kohäsion Zur Notwendigkeit proaktiver Prävention durch Schutzkonzepte in Organisationen Sozialer Arbeit.................................................................. 131 Mechthild Wolff

Inklusion und Diversity zwischen Vision und Wirklichkeit 10 Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit zwischen Vision und Wirklichkeit Ein Zwischenresümee ................................................................................ 145 Gunda Voigts 11 Zu kurz gesprungen. Auf dem Weg zu gleichwürdiger Teilhabe und Nichtdiskriminierung? Kritische Anmerkungen zum Inklusionsdiskus, wie wir ihn kennen .................................................................................... 165 Clemens Dannenbeck 12 Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession im Kontext von Flucht ...... 181 Nivedita Prasad

Inhaltsverzeichnis

VII

13 Die Schule als (Re)Produzentin sozialer Ungleichheit? Antimuslimischer Rassismus im deutschen Bildungssystem .................... 201 Veronika Knauer 14 Modelle von Taubsein und Gehörlosigkeit an der Grenze zwischen Selbstbehauptung und Fremdzuschreibung ............................................... 223 Carmen Böhm, Uta Benner 15 Klinische Sozialarbeit und Soziale Ausschließung .................................... 239 Carmen Böhm

Autorinnen und Autoren…………………………………………………257

Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung – Eine Einleitung Barbara Thiessen, Clemens Dannenbeck, Mechthild Wolff

Sozialer Wandel und die Folgen seines beschleunigten Vollzugs können als Grunddisposition moderner Gesellschaften gesehen werden (Rosa 2013). Ökonomische Bedingungen, materielle Verhältnisse, sozialstrukturelle Ordnungen und Wertorientierungen haben sich in den letzten 200 Jahren häufig verändert (Giddens 1995; Weymann 1998). Die Wandlungsfähigkeit der Moderne kann geradezu als ihr Stabilitätsfaktor angesehen werden. Dabei vollziehen sich die Prozesse des Sozialen Wandels im Spätkapitalismus nicht fortschrittslogisch widerspruchsfrei, sondern vielfältig gebrochen. Soziale Verwerfungen, geschlechtliche Ungleichheitslagen und Exklusionsmechanismen, führen dann ihrerseits zu Anlässen von Veränderungsprozessen (Rucht 1994). Als höchst bedeutsam für die Dynamik sozialstruktureller Ordnungen haben sich ökonomische Wandlungsprozesse erwiesen (Heinze 2006). Gegenwärtig zeigen sich bedeutende soziale Veränderungen, die eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung für die Gestaltung von Ökonomie, Technik, Ökologie, Digitalisierung und sozialem Zusammenleben darstellen. Hintergrund ist der sozio-ökonomische Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft, der bereits in den 1970er Jahren eingesetzt hat. Die Krise der fordistisch-keynesianischen Gesellschaftsformation ist gekennzeichnet durch die Globalisierung von Märkten und Kapital sowie verstärkte Wanderungsbewegungen. Sie ist markiert durch Wissensexplosion und -verfall gleichermaßen und eine damit einhergehenden Bedeutungssteigerung von Bildung und lebenslangem Lernen. Hinzu kommen beschleunigte und neu vernetzte Kommunikationskulturen (Hradil 2015; Ostner/Marten/Neyer 2012; Treptow 2012; Olk 2009). Inzwischen wurde auch deutlich, dass das Ende der OstWest-Konfrontation nicht zum Ende der Geschichte beigetragen hat, aber sehr wohl zu einer Erschütterung der großen Erzählungen – erst des realexistierenden Sozialismus, dann auch des neoliberalen Finanzkapitalismus. Vor diesem Hintergrund erfahren z.B. auch marxistische gesellschaftstheoretische Perspektiven, Kritische Theorien etc. wieder eine Relektüre (Butollo/Nachtwey 2018; Lagasnerie 2018). Die sozialen Folgen zeigen sich in einem demografischen Wandel, der in Deutschland durch eine (anhaltend) niedrige Geburtenrate sowie (deutlich) längere Lebenszeiten gekennzeichnet ist. Diese Expansion der Lebensspanne wirft nicht nur neue Fragen bezüglich einem „gesunden Altern“ auf, sondern betrifft © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 B. Thiessen et al. (Hrsg.), Sozialer Wandel und Kohäsion, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25765-1_1

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Barbara Thiessen, Clemens Dannenbeck, Mechthild Wolff

Fragen der Lebensqualität in allen Lebensphasen. Die Entgrenzung und Flexibilisierung von Arbeitsprozessen führt auf individueller und zunehmend auf organisatorischer und gesellschaftlicher Ebene dazu, dass Erziehungsziele und -praxen, Beziehungsmuster sowie individuelle Gesundheit und Psychohygiene neu definiert werden müssen. Eine weitere gravierende Folge betrifft die zunehmende soziale Disparität, die mit einem Rückbau wohlfahrtsstaatlicher Absicherungen einhergeht und zu Krisenerscheinungen der Demokratie führt (Nachtwey 2016). Die veränderten beruflichen Anforderungen bedeuten auch erhebliche Veränderungen in der Gestaltung familialer Fürsorgebeziehungen, die als ein Durchlässigwerden der Grenzen zwischen Erwerb und Familie, Privatem und Öffentlichem, Arbeitszeit, Fürsorgezeiten und Freizeit beschrieben werden können: Familien haben im Kontext der späten Moderne ihre Gestalt, ihren typischen Verlauf sowie ihr Innenleben erheblich verändert. (Jurczyk/Lange/Thiessen 2014). Ebenso wurden im Bereich der Erwerbsarbeit Entwicklungs- und Produktionsabläufe den neuen Anforderungen von Dienstleistungs- und Wissensökonomien folgend verändert: Gefragt sind heute Teamfähigkeit, Kreativität und Eigeninitiative sowie die Anwendung wissenschaftlichen Wissens in diversifizierten Belegschaften. Vor dem Hintergrund deutlich veränderter Geschlechtsrollenmuster, die sich vor allem bei Frauen seit den 1970er Jahren zeigen und sich in Westdeutschland durch eine verstärkte Bildungs- und Erwerbsorientierung auszeichnen, stellt sich zunehmend die Frage der Verteilung familialer und generationaler Fürsorge neu. Die Entkopplung weiblicher Lebensläufe von Care-Arbeit stellt eine historische Befreiung dar. Das heißt aber auch: Care bzw. die Sorge um Andere macht sich nicht (mehr) ‚von allein’, d.h. nicht mehr als weiblicher „Liebes-Dienst“, der im unsichtbaren Privaten der Familie vorausgesetzt werden kann (Thiessen 2017). Zu beobachten ist eine neue Kommodifizierung von Care im privaten und verberuflichten Spektrum (Aulenbacher/Dammayr 2014). Kurz gefasst: Die Auswirkungen der beschleunigten Modernisierungsprozesse eröffnen ebenso Befreiungspotenziale wie problematische Entwicklungen. Dies zeigt sich beispielsweise in neuen Formationen von Exklusion und Dequalifizierung sowie in einer zunehmenden Gefährdung der psychischen und physischen Gesundheit. Der Zusammenhalt postfordistischer Gesellschaften bedarf daher einer neuen Orientierung an sozialer Gerechtigkeit und stellt zugleich spezifische Anforderungen an die Soziale Arbeit. Hierzu sind profunde Analysen zu Ausschlussprozessen und Wiederaneignung von Handlungsfähigkeiten gleichermaßen notwendig. Sie sind in der Schnittmenge sozial- und politikwissenschaftlicher, pädagogischer, psychologischer, rechtlicher sowie gesundheits- und kulturwissenschaftlicher Zugänge anzusiedeln. Dabei braucht die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit den postmodernen Unübersichtlichkeiten eine Ausrichtung an inklusiven und ermächtigenden Prinzipien sozialer Kohärenz.

Eine Einleitung

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Zugleich sind gouvernementale Praktiken, die an neoliberale Vorstellungen der Selbstoptimierung anknüpfen, ebenso (selbst)kritisch zu untersuchen, wie Potenziale neuer Selbstbestimmungsperspektiven auszuloten. Hier zeigen sich etwa im Gesundheitsbereich neue, individualisierende Anforderungen im Hinblick auf präventives Gesundheitsverhalten, Beratung und Intervention, aber auch Big Data und soziale Kontrollfunktionen. Die zentrale Zukunftsfrage stellt sich daher nach sozialem Zusammenhalt. Im Begriff der „social cohesion“ wird an einen Grundbestandteil des europäischen Sozialmodells angeschlossen, der seit 2000 als die zentrale europäische Strategie der Wohlfahrtsstaats- und Sozialpolitik gilt (Council of the European Union 2010). Das Institut Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung an der Hochschule Landshut hat sich bereits 2015 in einem Workshop mit der Fragestellung befasst, welche Herausforderungen sich gegenwärtig durch Prozesse sozialen Wandels in unterschiedlichen Forschungs- und Entwicklungsfeldern zeigen. Ausgangspunkt der gemeinsamen Diskussionen stellt das Spannungsfeld zwischen gegenwärtigen konzeptionellen, normativen, ggf. auch gesetzlichen Veränderungen dar, die zentrale Felder Sozialer Arbeit und Gesundheit betreffen (wie etwa die UN-Behindertenrechtskonvention, Neuregelungen im Kinderschutz, Präventionskonzepte im Feld sexueller Gewalt, Gender Mainstreaming in Institutionen, Gleichstellung von privaten Lebensformen) und deren Aus- und Nebenwirkungen, veränderten Intentionen im institutionellen Umsetzungsprozess, unterschiedlichen Folgen je nach Milieu, Herkunft, Status, Geschlecht. Gefragt wird nach übergreifenden sozialpolitischen Prozessen und Veränderungsdynamiken vor dem Hintergrund postfordistischer Gesellschaften und neoliberaler Globalisierungsprozesse. Kurz: Was folgt aus veränderten, ‚verbesserten‘ normativen Vorgaben in ausgewählten Feldern Sozialer Arbeit und Gesundheit? Welche Verbindung wird zu weiteren gesellschaftlichen Feldern und Veränderungsprozessen gezogen? Welche Aus- und Nebenwirkungen zeigen sich je nach Praxisfeld auf Klientel, Betroffene sowie Situierung der Profession Sozialer Arbeit? In der vorliegenden Publikation, die zugleich den ersten Band der Institutsreihe darstellt, stellen Institutsangehörige sowie Kooperationspartner_innen und Gäste ihre Bezüge zu sozialem Wandel und Kohäsion vor dem Hintergrund ihrer Forschung her. Im ersten Teil mit der Überschrift „Grundlegenden Perspektiven im Kontext von Sozialem Wandel und Kohäsion“ macht Clarissa Rudolph den Aufschlag. Ihren grundlegenden Überlegungen gibt sie die Überschrift: Ambivalenter Wandel in ambivalenten (Krisen)Zeiten. Ihr Ausgangspunkt, dass Wandlungsprozesse schon immer die Menschheitsgeschichte begleiten, kann angesichts der aktuellen Debatte um einheitliche „völkische“ Kulturen nicht prominenter platziert sein. Ihren Schwerpunkt legt Rudolph jedoch auf die bespielhafte Analyse einzelner

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Barbara Thiessen, Clemens Dannenbeck, Mechthild Wolff

Transformationsprozesse und Politikfelder, in denen sich ambivalente Wirkungen von Veränderungsdynamiken zeigen. Vorangestellt wird eine knappe Skizzierung relevanter Krisen- und Gerechtigkeitsdiskurse. Genauer untersucht sie im Anschluss zwei für Soziale Arbeit überaus bedeutsame Handlungsfelder und deren ambivalente Wandlungsprozesse, nämlich erstens die Bereiche Arbeit, Existenzsicherung, Bildung und zweites Geschlechterverhältnisse. Abschließend plädiert sie für einen normativen Orientierungsrahmen, bei dem ein sozialer Ausgleich innerhalb der Gesellschaft entwickelt wird, der gleichermaßen individuelle Freiheit eröffnet als auch eine solidarische Gesellschaft rahmt. Noch bevor 2015 der Anstieg der Flüchtlingsmigration einsetzte, publizierte Ludger Pries einen Aufsatz zu Deutschlands Wandel zum modernen Einwanderungsland – Folgen für die Diskussion sozialer Ungleichheit und gerechter Migration. Bedeutsam ist, dass sein Ausgangspunkt, nämlich die historische Weigerung in Deutschland, die steten Migrationsbewegungen als wesentliche Realität zur Kenntnis und zum Ausgangspunkt angemessener politischer Gestaltung zu nehmen, bis heute (fast ist zu sagen: zunehmend) wirksam ist, obgleich sich Deutschland seit Beginn der Dekade 2010 selbst als modernes Einwanderungsland bezeichnet. Mit diesem Wandel sind vielfältige alte und neue Fragen verbunden. Inwiefern darf bzw. sollte Migrationspolitik durch nationale Egoismen und eine instrumentelle Haltung gegenüber den Migrierenden bestimmt sein? Inwieweit sollte Migrationspolitik auch oder vor allem durch Aspekte der globalen sozialen Ungleichheitsverhältnisse und der sozialen Gerechtigkeit bestimmt werden? Die Antworten, die Ludger Pries bereits 2015 skizziert hat, sind nach wie vor aktuell und bedeutsam. Jan Keller von der Universität in Ostrava, Tschechien, formuliert in seinem Beitrag wesentliche aktuelle Herausforderungen und Risiken für Soziale Arbeit. Der Fokus seiner Ausführungen richtet sich auf unterschiedliche Trends, mit denen Soziale Arbeit als ein Bereich im Dienstleistungssektor konfrontiert ist und damit den gleichen Deformationen ausgesetzt wird, von denen in der heutigen Phase der Modernität die Sphäre der Dienstleistungen als Ganze betroffen ist. Zur Analyse rekurriert er auf die Arbeiten von Luc Boltanski und Laurent Thévenot. Daraus gewinnt er eine Typologie für verschiedene Bedeutungen des Begriffs Dienstleistung und Soziale Arbeit. Unter dem Titel Sozialpolitische Dimensionen von sozialem Wandel und Kohäsion befasst sich Ute Fischer mit Sozialpolitik als einem Instrument moderner Governance zur Flankierung gesellschaftlicher Veränderungen im Kontext sozialer Wandlungsprozesse. Wie gut die gegenwärtige Sozialpolitik diese Aufgabe meistert, wird von Fischer untersucht. Dazu skizziert sie jene Aspekte des sozialen Wandels, die eine sozialpolitische Herausforderung darstellen und zeigt normative Rahmungen auf, woran sich eine den Wandlungsdynamiken angemessene Sozialpolitik erkennen und messen lässt. Hierzu entwickelt sie ein

Eine Einleitung

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aufschlussreiches Kohärenzmodell. Exemplarisch diskutiert sie am novellierten Sozialgesetzbuch II, welchen Charakter die gegenwärtige sozialpolitische Ausrichtung besitzt. Mit dem Vorschlag eines Bedingungslosen Grundeinkommens lotet sie dessen kohärenzstiftende Potenziale als sozialpolitische Alternative aus. Den letzten Beitrag in diesem ersten Teil bestreitet Barbara Thiessen mit der Analyse von Geschlechterverhältnissen im sozialen Wandel und fokussiert dabei die Bedeutung von Care-Theorien für Soziale Arbeit. Leitend ist ihr dabei die These, dass Soziale Arbeit als „Gedächtnis sozialer Konflikte“ erhebliches Potenzial für die Analyse und Bewältigung aktueller carebezogener Krisendynamiken birgt. Im Kern untersucht sie daher das Verhältnis von Gender und Caren und verknüpft damit die Frage, wie Care in Ökonomie und Gesellschaft eingebunden ist und welche Bedeutung caretheoretische Ansätze in der Sozialen Arbeit als einem wesentlichen Handlungsfeld moderner Bildungs- und Wohlfahrtsstaaten zukommt. Mit Rückgriff auf die Care-Debatte in der Genderforschung und vor dem Hintergrund einer kursorischen Spurensuche in den Denktraditionen der europäischen Geistesgeschichte, der kritischen Theorie und ausgewählten Theorien Sozialer Arbeit, identifiziert Thiessen theoretische Lücken und praktische Handlungspotenziale. Sie plädiert für eine reflektierte „Fürsorgerationalität“ und für den professionsbezogenen Umgang mit sozialen Problemen und Bildungsherausforderungen. Im zweiten Teil des Bandes mit der Überschrift „`Eins vor, zwei zurück´" Wirkungen und Nebenwirkungen im institutionellen Kinder- und Jugendschutz“ werden einige Diskurse aufgegriffen, die angesichts der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche neu geführt werden. Es geht hier vor allem um die Frage, wie Organisationen der Erziehung und Bildung mit der Problematik von Gewalt in Familien, in der Peergroup, in den Medien, aber auch in den professionellen Organisationen selbst, umgehen können oder sollen. In den Beiträgen wird deutlich, dass die Themen Gewalt und Sexualität gesellschaftlich seit jeher hart umkämpft sind, zumal im Diskurs darüber immer auch grundlegende Machtstrukturen, Vorstellungen von Normalität und Abweichung, von Rollenzuschreibungen sowie Konzepte für das friedliche Zusammenleben in unserer Gesellschaft mit verhandelt werden. Wie offen, tolerant, sensibilisiert und selbstkritisch Menschen in professionellen Organisationen mit den Themen Gewalt, Sexualität und Macht umgehen, kann darum auch als ein Seismograph für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft gesehen werden. Hierbei zeigen sich jedoch neben Fortschritten auch Paradoxien und Widersprüchlichkeiten. Elisabeth Tuider analysiert in ihrem Beitrag „Diskursive Schauplätze Geschlecht und Sexualität – Zur Normalisierung von Gewalt“ die beispiellose mediale Hetzkampagne, die auf die Veröffentlichung des Buches „Sexualpädagogik der Vielfalt: Praxismethoden zu Identitäten, Beziehungen, Körper und Prävention für

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Barbara Thiessen, Clemens Dannenbeck, Mechthild Wolff

Schule und Jugendarbeit“ folgte, welches sie im Jahr 2012 bei Beltz Juventa mitherausgegeben hat. Sie zeigt auf, dass es in den letzten Jahrzehnten wichtige sexuelle Liberalisierungstendenzen im Hinblick auf die medizinisch-psychiatrisierende Sicht auf sexuelle ‚Perversionen`, die Gleichstellung und Anti-Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und sexuelle Identitäten gab. Im Sinne einer „widersprüchlichen Gleichzeitigkeit“ entlarvt sie akribisch, was Gegenstand der medialen Kampagne war, die auf die didaktischen Vorschläge für schulische Sexualerziehung in dem Buch folgte. Die Kommentator_innen, die sich auf den Plan riefen, einte ihr gemeinsamer vehementer Hass, Sexismus, Rassismus und Nationalismus. Deren Versuch Sexualität und Geschlecht wieder neu zu moralisieren und zu einer Regulierung und Normierung des Sexuellen beizutragen, versteht sie als „roll back“. Zugleich rahmt Tuider diesen Versuch, Judith Butler folgend, als gesellschaftliches Band, das hier fatalerweise durch Gewalt gestiftet wird und in der Folge sogar letztlich wieder in Angst mündet. Anja Henningsen befasst sich in dem Beitrag „Sexualpädagogik als Beitrag zum grenzwahrenden Umgang mit Kindern und Jugendlichen“ mit einer nötigen Neupositionierung von sexualpädagogischer Arbeit in Organisationen der Erziehung und Bildung. Sie zeichnet nach, dass sich die jüngsten Angriffe auf die Professionalität der Sexualpädagogik (siehe Beitrag Tuider) als ein überdauerndes Thema darstellen. Es zeigt sich hier, wie Sexualität in den Schlepptau politischer Mächte genommen und zum gesellschaftlichen Steuerungsinstrument wird. Henningsen spricht im foucaultschen Sinne von „Sexualität als Bio-Macht“, also als Mittel der Kontrolle oder Befreiung. Hier zeigt sich zudem, wie Lust und Reproduktion politisiert werden. Angesichts dieser Bedeutung bedarf es einer gut aufgestellten Sexualpädagogik. Jedoch nimmt Henningsen bei Sexualpädagog_innen aktuell eine mangelnde öffentliche Anerkennung bzw. gar Feindseligkeit wahr und zudem muss sich Sexualpädagogik politisch legitimieren, weil Sexualerziehung von einigen Akteur_innen nicht als staatliche Aufgabe gesehen wird, sondern in die Zuständigkeit von Eltern zurückgeführt werden soll. Henningsen beschreibt Irritationen unter Eltern und pädagogischen Fachkräften, weil diese sich beunruhigt fragen, ob Sexualität überhaupt ein pädagogisches Thema sein sollte. Neben diesen Irritationen ist Sexualpädagogik vor dem Hintergrund von sexuellen Missbrauchsfällen in professionellen Organisationen und Forderungen nicht einfacher geworden. Kommen repressive Schutzvorstellungen hinzu, die bis zum kategorischen Verboten von Körperkontakt reichen, ist auch hier eine Neujustierung, also eine Sexualpädagogik in einer grenzwahrenden Ausrichtung, gefragt. Henningsen tritt letztlich für einen fachlichen Zusammenhalt und eine stärkere Verschränkung von Schutzkonzepten und sexualpädagogischen Konzepten ein. Sie zeigt auf, dass Sexualität nicht zum Störfaktor in Organisationen der Er-

Eine Einleitung

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ziehung und Bildung und auch nicht zum Privatthema reduziert werden darf. Vielmehr ist mit Sexualität ein Bildungsauftrag verbunden, wobei Bildungsangebote zum Thema Sexualität an den Bedürfnissen von Jugendlicher ausgerichtet werden sollten. Dies erfordert zunächst die Selbstreflexion Professioneller, zumal Professionelle immer auf die eigene sexuelle Orientierung, das geschlechtliche Selbstverständnis und auf Rollenvorstellungen sowie im weitesten Sinne auf Ansichten von Lebens- und Familienplanung zurückgeworfen werden. Mechthild Wolff argumentiert im abschießenden Beitrag „Kindeswohlgefährdung und der Verlust sozialer Kohäsion – Zur Notwendigkeit proaktiver Prävention durch Schutzkonzepte in Organisationen Sozialer Arbeit“ mit Rückgriff auf Fallskizzen und auf die ACE-Studie von Vincent J. Felitti (2007), dass jegliche Form von Gewalt – immer gedacht als Machtmissbrauch – dazu führen kann, dass diese lebenslang gesundheitliche (Teilhabe-)Beeinträchtigungen erfahren müssen und darum abgehängt werden können von sozialer Kohäsion. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf die weltweit hohen Prävalenzraten von sexuellem Missbrauch und die kürzlich vorgenommene Einstufung des Phänomens als Epidemie durch die World Health Organization (WHO). Lebenslange bio-psychosoziale Folgen bestehen im Verlust von Wohlergehen, aber auch in der Verdrängung der Menschen an die sozialen Ränder der Gesellschaft oder in Organisationen Sozialer Arbeit jeden Lebensalters. Hinzu kommen gesellschaftliche Folgen, die Wolff hier am Beispiel der Traumafolgekostenstudie (2012) anspricht. Daraus schlussfolgend zeigt sie auf, dass professionelle Organisationen der Hilfe und Unterstützung, Behandlung, Therapie und Freizeit lange Zeit nicht die Notwendigkeit gesehen haben, frühkindliche Traumatisierungen früh zu erkennen, um die lebenslangen Risiken zu minimieren. Daraus ergibt sich für Wolff die Notwendigkeit von proaktiven Strategien der Früherkennung in Form von Schutzkonzepten oder besser: Schutzprozessen. Passgenaue Präventionsmaßnahmen sollen in Organisationen helfen die Discloser-Bereitschaft zu fördern, also dazu motivieren, dass sich Menschen schneller anvertrauen, so dass Hilfe früh einsetzen kann. Schutzkonzepte sollen auch zur Stärkung von Achtsamkeit für „schwache Signale“ beitragen. Wolff verweist in ihrem Fazit auf die Notwendigkeit eines fehlerfreundlichen Selbstverständnisses Sozialer Arbeit, eine machtreflektierte Beziehungsgestaltung zwischen Adressat_innen und Professionellen sowie ein Curriculum, das die Schattenseiten professioneller Organisationen thematisiert. Der 3. Teil des Bandes trägt die Überschrift „Inklusion und Diversity zwischen Vision und Wirklichkeit“. Er ist geleitet von der Einsicht, dass die gesellschaftspolitische nicht weniger als die pädagogische Debatte um Inklusionsorientierung im Kontext der Anwendung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) spürbar in die Defensive geraten ist. Bei-

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Barbara Thiessen, Clemens Dannenbeck, Mechthild Wolff

nahe 10 Jahre nach Ratifizierung der UN-BRK steht die sich auf den menschenrechtlichen Begründungszusammenhang der UN-BRK berufende Forderung nach einer ’inklusiv(er)’ auszurichtenden Gesellschaft nicht nur aufgrund der Wirksamkeit von Finanzierungsvorbehalten unter Beschuss, sondern auch angesichts der allenthalben erkennbaren Entsolidarisierungstendenzen, die in letzter Konsequenz zu einer unübersehbaren Krise der Demokratie geführt haben. Statt ‚Inklusion einfach (zu) machen’ (so das Motto des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Umsetzung der UN-BRK), formieren sich identitätspolitische Interessen in den sozialen Konflikten der Abstiegsgesellschaft sowohl aus der Mitte als auch an den Rändern der Gesellschaft (Nachtwey 2016). Statt einer gesellschaftspolitischen Leitlinie, die sich an der Gewährleistung sozialer Teilhabe für alle orientiert, stehen Grenzziehungen und -sicherungen nach innen und außen im Zentrum politischen Gestaltungswillens. Ob die Einladung zur ‚Inklusion’ also mehr noch ist, als ein verbalakrobatischer Etikettenschwindel realpolitischer Symbolpolitik, von dem etwa Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen nur dann profitieren, wenn ihre generös entdeckten Ressourcen sich als ökonomisch verwertbar beweisen, steht in Frage. Becker (2015) bringt dies auf den Punkt: Als könnten wir „von intakten ‚Innenräumen’ sprechen, in die nun alle einzuladen sind. Diese gesellschaftlichen ‚Innenräume’ sind allerdings alles andere als gastlich. Sie sind, nehmen Sie nur den Arbeitsmarkt, sogar ausgesprochen brutal, konkurrenz- und leistungszentriert. Viele Menschen haben in diesem Raum bereits ihre ‚Aufenthaltslizenz’ eingebüßt oder halten den dort vorfindlichen Bedingungen kaum mehr Stand. Es müsste daher auch und vor allem darum gehen, diese Ausgrenzungsdynamik einmal wirklich und ehrlich zu bilanzieren und ihre Ursachen zu beseitigen“ (https://www.nachdenkseiten.de/?p=27514). Auch im (sozial)pädagogischen Diskurskontext hat sich der Wind gedreht. Hieß es in der Anfangszeit nach Ratifizierung der UN-BRK beispielsweise noch, von dieser seien Impulse für eine strukturelle Veränderung des Bildungssystems in Deutschland abzuleiten, „gegen die die Verkürzung des Gymnasiums (G8) eine pädagogische Petitesse ist“ (Spiewak 2012), scheint es nun längst Anderes und Wichtigeres zu geben, als die Forderung nach gleichwürdiger und –berechtigter Teilhabe aller an Bildung, zur grundlegenden Frage von Bildungsgerechtigkeit zu machen. Digitalisierung lautet mittlerweile das konsensfähige bildungspolitische Ziel, die Überwindung des Kreidezeitalters in der Grundschule gilt als vordringlichste Aufgabe zur Herstellung eines zukunfts- und global konkurrenzfähigen Bildungssystems. Vision und Wirklichkeit in einer sich als inklusionsorientiert begreifenden Gesellschaft klaffen mehr den je auseinander, misst man deren Zustand am Maßstab der UN-BRK. Gunda Voigts befasst sich aus der Perspektive der Kinder- und Jugendarbeit mit dem Spannungsverhältnis von Inklusion zwischen Vision und Wirklichkeit. Die Kinder- und Jugendarbeit firmiert dabei als ein gesetzlich definierter Ort, an

Eine Einleitung

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dem junge Menschen zugleich gesellschaftliche Integration erleben sollen als auch politische Bildung in Bezug auf verantwortete Partizipation erfahren. Es stellt sich also die Frage, welchen Beitrag die Kinder- und Jugendarbeit in theoretischer Ausrichtung und praktischer Umsetzung in ihrer Funktion, zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beizutragen, leisten kann und vor welche Herausforderungen struktur-organisatorisch, handlungspraktisch und disziplinär sie sich gestellt sieht, angesichts der Aufgabe, die UN-BRK zur Anwendung gelangen zu lassen. Der Beitrag wirft zunächst einen Blick zurück auf das, was bisher geschah und unterzieht dann die ausgelösten fachpolitischen und konzeptionellen Debatten einer Überprüfung hinsichtlich ihrer praxisverändernden Wirkung und fragt danach, welchem Inklusionsverständnis sich die beobachtbaren Tendenzen letztlich verdanken. Eine wenig optimistisch gestimmte Zwischenbilanz der im Namen von Inklusion in den letzten Jahren erfolgten (bildungs)politischen Entscheidungen und Aktivitäten zieht Clemens Dannenbeck. Er macht dabei weniger Elemente eines Sozialen Wandels als vielmehr Anzeichen eines Diskurswandels aus, der jedoch mindestens zur Aushöhlung des Sinn- und Kernbestands der UN-BRK geführt hat, möglicherweise aber auch den Boden bereitet hat, für neue, unreflektierte und zunehmend kritikresistente Grenzziehungen systematischer Aus- und Einschlüsse. Notwendig wäre hingegen nicht nur eine Kritik des herrschenden Inklusionsdiskurses, sondern eine kritische Wendung des Inklusionsverständnisses selbst, das sich verabschiedet von einem „Mehr an Integration soweit es finanziell machbar erscheint“ und stattdessen erkennt, dass menschenrechtlich begründete Teilhabe im Sinne der UN-BRK die gesellschaftstheoretische Frage nach der Praxis der Grenzziehungen zwischen Normalität und Abweichung, zwischen dem Recht, Rechte zu haben und als illegitim zu gelten, zwischen Solidaritätswürdigkeit und Subalternität stellen. Die ‚Inklusionslüge’ (Becker 2015) entfaltet ihre Wirkkraft unter dem Banner eines vorgeblichen gesellschaftlichen Zusammenhalts, das jede Form der Kritik, die sich nicht populistisch ausbuchstabieren lässt, diskreditiert. „Diese Rhetorik ist nichts anderes als eine Weise – durch eine Art magische Beschwörung, deren Zauberformel, die zu jeder Gelegenheit und in jedem Register rezitiert wird, in der Rede vom ‚Band’, von der ‚Gemeinschaft’ und vom ‚Gemeinsamen’ -, die Herrschaft, die Unterdrückung und die Ausbeutung (in ihrem mehrdimensionalen Charakter) zu verneinen. Ein Versuch, die aufbegehrenden und kämpfenden Bewegungen zu beenden, sie einzuspannen, damit sie die Welt so akzeptieren, wie sie ist und sich mit dem Platz begnügen, den sie in ihr einnehmen, und mit dem Status, der ihnen in ihr zugewiesen wird“ (Eribon 2018, S. 62). Inklusion mag zwar im Kopf beginnen, ist im Kern aber nicht auf guten Willen und wertschätzende Haltung zu reduzieren, sondern auf einen unhintergehbaren Impuls zur gesellschaftstheoretisch fundierten

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Kritik an den herrschenden Verhältnissen, die Mechanismen des Aus- und Einschlusses etablieren und exekutieren. Der Beitrag von Nivedita Prasad fokussiert den Blick wieder auf die Profession Soziale Arbeit, lässt aber zugleich deutlich werden, dass sich aus dem Selbstverständnis einer Menschenrechtsprofession in der Arbeit mit Geflüchteten Herausforderungen ergeben, die ohne eine (selbst)kritische Reflexion, die die gesellschaftliche Rolle der Profession im politisch durchdrungenen Diskurs- und Handlungsfeld hinterfragt, nicht zu realisieren ist. „Daher ist ein klares Mandatsverständnis in diesem Feld der Sozialen Arbeit eminent wichtig, um Soziale Arbeit im professionellen Sinne auszuüben“ (S. 181). Nivedita Prasad unterscheidet in ihrem Beitrag Menschenrechte als Analyseinstrument, auch und gerade für die Situation von Geflüchteten in Deutschland von Menschenrechten als Referenzrahmen im Umgang mit mandatswidrigen Forderungen und Handlungen. Anhand der Schilderungen praktischer Beispiele werden dabei die drei Mandate der Sozialen Arbeit in ihrem spannungsreichen Wechselverhältnis zueinander diskutiert. Die Erfahrungen in der Arbeit mit Geflüchteten lassen die Wahrnehmung eines Politischen Mandats in der sozialen Arbeit als unverzichtbar erscheinen, wohingegen Nivedita Prasad vor allem ein Schweigen der Profession wahrnimmt. Der Beitrag schließt mit methodischen Vorschlägen für die Realisierung eines Politischen Mandats als Basis einer menschenrechtsbasierten Sozialen Arbeit mit Geflüchteten. 2017 wurden über 1.000 Übergriffe auf Muslime und islamische Einrichtungen registriert (Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Kleine Anfrage der Fraktion die Linke), die Dunkelziffern nicht berücksichtigt. Entsprechende Vorfälle wurden 2017 erstmals als eigener Straftatbestand auch statistisch erfasst. Im Unterschied beispielsweise zu antisemitischen Straftaten hält sich hingegen die öffentliche Empörung in diesem Fall in Grenzen. Antimuslimischer Rassismus bildet so gesehen die Form von Rassismus in Deutschland, der am meisten Toleranz entgegengebracht wird. Veronika Knauer analysiert vor dem Hintergrund eines Forschungsprojekts zur politischen Bildung antimuslimischen Rassismus im deutschen Bildungssystem. Ausgehend von gesellschaftlichen Diskursen über Muslime wird die Bedeutung kulturalistischer Stereotype und rassistischer Einstellungsmuster und Verhaltensweisen untersucht. Diese werden kontrastiert mit dem empirischen Kenntnisstand zu Phänomenen der Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Dabei geraten individualisierende und defizitorientierte Erklärungsansätze in die Kritik und es wird nach der Rolle und Funktion von Schule selbst bei der Reproduktion von Benachteiligung, Diskriminierung und rassistischer Anrufung von Muslimen gefragt. Es geht um einen Erklärungs- und Wirkungszusammenhang zwischen gesellschaftlich erzeugten rassistischen Wissensbeständen und

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deren Bedeutung im und für den schulischen Alltag, der auch als Erfahrungsraum von antimuslimischen Rassismus analysiert wird. Carmen Böhm und Uta Benner beschreiben sozio-historisch erzeugte Konstrukte von Taubsein und Gehörlosigkeit zwischen Selbstbehauptung und Fremdzuschreibung, die zugleich eine Schnittstelle zwischen Deaf Studies und Disability Studies bilden. Während in den Deaf-Studies ein kulturelles Modell von Taubheit dominiert, das gegen eine ableistische Dominanzgesellschaft in Stellung gebracht wird und als politisches Projekt auf die kulturelle Eigenständigkeit und den Anspruch auf Wertschätzung und Anerkennung als gesellschaftliche Minderheit in einer kulturell heterogenen Gesellschaft pocht, positionieren sich Teile der Disability Studies noch stärker im Kontext eines sozialen Modells von Behinderung. Das kulturelle Modell von Taubheit, wie es sich im Entwurf einer Deaf Community manifestiert, wirft neben seiner dominanzkritischen Funktion auch Fragen der Identifikation, Grenzziehung und legitimierten Zugehörigkeit auf, was sich beispielsweise an der Selbst- und Fremdpositionierung von Früh- und Spätertaubten zeigen lässt. Die Autorinnen schlagen vor, sich an einem menschenrechtlichen Modell von Behinderung zu orientieren, um „derzeitige bewegungspolitische Standpunkte und Zielsetzungen kritisch zu hinterfragen und damit ‚identitärem Stillstand’ vorzubeugen“ (S. 235). Abschließend nimmt Carmen Böhm die Klinische Sozialarbeit, als gegenüber generalistischer Sozialer Arbeit spezialisierte Form des professionellen Umgangs mit spezifischen Phänomenen sozialer Ausschießung in ihrem Beitrag zur Kohäsion kritisch in den Blick. Neben einer Professionsskizze Klinischer Sozialer Arbeit, wird ein Verständnis sozialer Ausschließung präzisiert, das gesellschaftsund ungleichheitstheoretische Anknüpfungspunkte betont sowie auf die Bereitschaft zur handlungspraktisch wirksamen professionellen Selbstreflexion und fachdisziplinären kritischen Hinterfragung der eigenen theoretischen Voraussetzungen anregen möchte. Dies erfolgt vornehmlich mit Blick auf den Gesundheitsbereich als einem der zentralen Handlungsfelder Klinischer Sozialer Arbeit. „Dabei hat Klinische Sozialarbeit die grundlegende Aufgabe mit generalistischer Sozialer Arbeit gemein, sich in Zeiten neoliberaler Selbstverantwortung der Individuen mit dem ambivalenten Potenzial ihres Auftrags ‚Hilfe zur (gesundheitlichen) Selbsthilfe’ zu leisten auseinander zu setzen – soll sich das Spannungsfeld ‚Hilfe und Kontrolle’ nicht zu Gunsten der ‚Hilfe zur (Selbst-)Kontrolle’ auflösen“ (S. 254). Die interdisziplinären Beiträge dieses Bandes zeigen: Die gegenwärtigen Wandlungsprozesse bedeuten für die Wissenschaft Soziale Arbeit und hier vor allem Gender Studies, Deaf Studies, Inklusionsforschung, aber auch Forschung zum Kinderschutz erhebliche Herausforderungen und bescheren vielfältigen Forschungsbedarf. Eindimensionale Antworten verkürzen die komplexen und gegenläufigen Dynamiken von sozialen Öffnungen und Schließungen, medialen

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Auf- und Abwertungen, beruflichen Möglichkeiten und gleichzeitigen Prekarisierungen. An der Herstellung dieses Sammelbandes hat eine Reihe von Menschen mitgewirkt, denen wir danken möchten. Zunächst richtet sich unser Dank an alle Autor_innen für ihre verbindliche und engagierte Mitarbeit, für ihre anregenden Beiträge und nicht zuletzt für ihre Geduld bis zur leider immer wieder verzögerten Drucklegung. Für die Unterstützung der Organisation im Institut Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung auch bei der Vorbereitung und Durchführung der internen Workshops danken wir Manuela Ziegler und Andrea Räbiger. Die Erstellung des Manuskripts verdanken wir Rebecca Petz und Annika Hudelmayer.

Literatur Aulenbacher, B.; Dammayr, M. (Hrsg.) (2014): Für sich und andere sorgen. Krise und Zukunft von Care in der modernen Gesellschaft. Weinheim und Basel: Beltz Juventa. Butollo, F.; Nachtwey, O. (Hrsg.) (2018): Karl Marx. Kritik des Kapitalismus. Schriften zur Philosophie, Ökonomie, Politik und Soziologie. Berlin: Suhrkamp. European Council (2000): Presidency Conclusions. Lisbon European Council 23. and 24. March 2000. (http://europa.eu.int/comm/dg1a/dwn/agenda2000/strong/strongen.pdf)(Council of the European Union 2010): social cohesion. Giddens, A. (1995): Politics, Sociology and Social Theory. Encounters with Classical and Contemporary Social Thought. Cambridge: Polity. Heinze, R. G. (2006): Wandel wider Willen : Deutschland auf der Suche nach neuer Prosperität, Wiesbaden: VS, Verl. für Sozialwissenschaften. Hradil, S. (2015): Die wachsende soziale Ungleichheit in der Diskussion. Eine Einführung, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Oben – Mitte – Unten. Zur Vermessung der Gesellschaft, Bonn: Bundeszentrale 2015, Schriftenreihe Band 1576, S. 10-29. Jurczyk, K.; Lange, A.; Thiessen, B. (Hrsg.) (2014): Doing family – Familienalltag heute: Warum Familienleben nicht mehr selbstverständlich ist. Weinheim und München: Beltz Juventa. Lagasnerie, G. (2018): Denken in einer schlechten Welt. Berlin: Matthes & Seitz. Nachtwey, O. (2016): Die Abstiegsgesellschaft: Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Berlin: Suhrkamp. Olk, T. (2009): Staatsbürgerschaft und Sozialstaatsreform - Der Bürger als Anspruchsberechtigter Entrepreneur oder zivilgesellschaftlicher Aktivbürger? In: Der Pädagogische Blick. Zeitschrift für Wissenschaft und praxis in pädagogischen Berufen. 17. Jg., H. 2, S. 68-80. Ostner, I.; Marten, C.; Neyer, G. (2012): Neue Risiken, neue Politiken - Familienpolitischer Wandel in Deutschland, Österreich und der Schweiz. In: Bertram, H.; Bujard, M. (Hrsg): Soziale Welt, Sonderband 19: Zeit, Geld, Infrastruktur - zur Zukunft der Familienpolitik.. Baden-Baden: Nomos, S. 115-137.

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Rosa, H. (2013): Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Berlin: Suhrkamp. Rucht, D. (1994): Modernisierung und neue soziale Bewegungen. Deutschland, Frankreich und USA im Vergleich. Frankfurt/New York: Campus. Thiessen, B. (2017): „Entlastet von häuslichen Pflichten“ – ein trügerisches Emanzipa-tionsideal. In: Kursbuch 192 Frauen II, S. 62-78. Treptow, Rainer (2012): Wissen, Kultur, Bildung Beiträge zur Sozialen Arbeit und Kulturellen Bildung. Weinheim: Beltz/Juventa. Weymann, A. (1998): Sozialer Wandel. Theorien zur Dynamik der modernen Gesellschaft, Weinheim/München: Juventa.

Ambivalenter Wandel in ambivalenten (Krisen)Zeiten Clarissa Rudolph

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Einführung: Wandel ist immer

Aktuelle Debatten über Flüchtlingskrisen, kulturelle Verwerfungen, Abschottungen und Nationalisierungen zeichnen ein merkwürdiges Bild einer modernen Gesellschaft: Flüchtlinge werden als andere, fremde Menschen konstruiert, von denen eine Bedrohung ausgeht, die v.a. darin besteht, dass sich etwas verändert. Als ob die „deutsche Kultur“ und die „deutsche Nation“ nur einen einzigen Ursprung hätten, der immer gleich geblieben sei. Dabei ist das „deutsche Volk“ schon jeher aus Zuwanderung entstanden und haben sich „unsere Kultur“, die Werte und Spielregeln unseres Zusammenseins stetig verändert. Wer wollte behaupten, dass ein Leben in Regensburg heute genauso verläuft wie vor 200 Jahren? 1 Und wie schrecklich wäre das, wenn sich unsere Gesellschaft nicht verändern würde, wenn wir nicht lern- und entwicklungsfähig wären. Gleichwohl, und auch das zeigen uns die vielen politischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Krisen derzeit, ist Wandel nicht immer per se positiv. Kriege, die Zurückdrängung von Menschenrechten, die wiederholten Störfälle in Atomkraftwerken und auch die Flüchtlingsbewegungen weltweit weisen darauf hin, dass Wandel und Veränderung auch rückwärts gerichtet sein können und deshalb immer auch der normativen Orientierung und Bewertung bedürfen. Orientierungen bedürfen aber immer auch einer gesellschaftlichen Debatte und der Partizipation aller. Seit der Jahrtausendwende etwa lassen sich in der Bundesrepublik Deutschland eine Reihe von Transformationsprozessen beobachten, die von kritischen Sozialwissenschaftler_innen und Akteur_innen des Sozialen als problematisch und in ihren Wirkungen als ungerecht bezeichnet werden. „Die neoliberale Hegemonie, verstanden als öffentliche Meinungsführerschaft des Marktradikalismus, stellte in der Bundesrepublik allgemein verbindliche Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen auf den Kopf. Galt der soziale Ausgleich zwischen Klassen, 1

Abgesehen davon, dass es auch vor 200 Jahren schon unterschiedliche Lebensentwürfe und -wege gab; unterschiedlich für Geschlechter, Schichten, Bildung etc.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 B. Thiessen et al. (Hrsg.), Sozialer Wandel und Kohäsion, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25765-1_2

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Schichten und Individuen früher als Hauptziel jeder staatlichen Politik, so steht Siegertypen heute alles, ‚Leistungsunfähigen‘ bzw. ‚-unwilligen‘, die der Gemeinschaft zur Last fallen, hingegen nichts zu“ (Butterwegge 2014, S. 334). Wenngleich solche Aussagen zunächst einsichtig erscheinen, sind mir die Deutungen und Interpretationen mitunter zu schematisch. So wie (sozialer) Wandel nicht per se positiv oder negativ ist, so sind seine Folgen und Wirkungen ebenfalls nicht per se problematisch oder ungerecht. Vielmehr zeigen sich in den einzelnen Transformationsprozessen und Politikfeldern durchaus ambivalente Wirkungen, die ich im Folgenden beispielhaft nachzeichnen möchte. Nach einer knappen Skizzierung der Krisen(diskurse) werde ich deshalb anhand zweier Beispiele Veränderungsprozesse und die daraus resultierenden Ambivalenzen nachzeichnen. Ich schließe mit einem Blick auf einen möglichen Orientierungsrahmen für die Bewertung von Wandel.

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Krisen- und Gerechtigkeitsdiskurse

„Die Moderne ist, gerade in ihrer kapitalistischen Formation, eine aus sich heraus krisenhafte Gesellschaft“, so fassen Appelt u.a. (2013, S. 7) die Analysen sozialwissenschaftlicher Autor_innen zusammen. „Krise war immer…“ formuliert Cornelia Klinger und bezieht dies auf die unzureichende gesellschaftliche Gestaltung von Lebensführung und -sorge, genauer gesagt darauf, dass Lebenssorge patriarchal, staatlich und ökonomisch vermachtet ist (vgl. Klinger 2013). Es lassen sich noch viele andere Krisen finden: Finanzmarktkrise, Krise der Demokratie, Parteienkrise, Krise der Männlichkeit, Flüchtlingskrise, Eurokrise etc. Krisen, so scheint es, sind wie sozialer Wandel Ausdruck gesellschaftlicher Entwicklung bzw. gehen Krisen dem sozialen Wandel voraus. Derzeit allerdings, und dies wäre zu diskutieren, scheinen die Krisen eine Folge des Wandels zu sein, weil insbesondere im ökonomischen und sozialpolitischen Bereich so starke Verwerfungen entstanden sind, dass die Grundlagen der Gesellschaft ihre Stabilität verloren haben. Was als Krise verstanden wird, ist abhängig von dem Standpunkt, der Perspektive, mit der man auf die gesellschaftlichen Verhältnisse blickt (vgl. Appelt u.a 2013, S. 8). Daraus folgt aber auch, dass Krisen ambivalent sind: was den einen eine Krise, ist den anderen eine Befreiung. Nicht nur Wandel ist ambivalent, sondern auch Krisen sind es. Mir geht es im Kontext dieses Beitrages vor allem um die Krise des Wohlfahrtsstaates und damit verbunden um die Krisen gesellschaftlicher Leitbilder, die dem Wohlfahrtsstaat zugrunde liegen und den daraus resultierenden Wirkungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die Krise des deutschen (europäischen)

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Wohlfahrtsstaates wurde in den 1980er/90er Jahren als ein Staats- und Steuerungsversagen diagnostiziert, das v.a. zu Arbeitslosigkeit und Inflation, zu einer Explosion staatlicher Transferleistungen bei gleichzeitig Unterfinanzierung des Sozialstaates, aber auch zu mangelnder internationaler Wettbewerbsfähigkeit angesichts zunehmender Globalisierungsprozesse führte (zur Skizzierung dieser Diskurse vgl. z.B. Dingeldey 2006; Lessenich 2008; Butterwegge 2014). Gerhard Schröder, Bundeskanzler der rot-grünen Bundesregierung von 1998-2005, formulierte die Herausforderung und Antwort auf die Krise in seiner Regierungserklärung zur Agenda 2010 dahingehend, dass es darum ginge „die Substanz des Sozialstaates zu erhalten. Deshalb brauchen wir durchgreifende Veränderungen“ (Schröder 2003). Das Credo dieser Veränderungen fasste Schröder so zusammen: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen“ (ebd.). Dieser politische Wandel wurde als Folge eines Sachzwanges inszeniert und als alternativlos präsentiert – Krisen, so wird suggeriert, kommen plötzlich und unerwartet und müssen dann genauso plötzlich (und unerwartet?) gelöst werden. Durch die vermeintliche Dringlichkeit von Krise werden die Ansprüche an Lösungsangebote von vornherein reduziert: nur die wichtigsten Fragen müssen beantwortet, die dringlichsten Probleme gelöst werden. Dadurch war es im Kontext der Neujustierung der Sozialpolitik zu einer Renaissance einer Debatte über „soziale Gerechtigkeit“ bzw. über differenzierte Formen der Gerechtigkeit gekommen, als normative Rahmung und Zielformulierung von Sozialpolitik: Gleichheit und Gerechtigkeit wurden zu Chancengleichheit und Teilhabe. Während die Einen in der Liberalisierung von Sozialpolitik einen Angriff auf soziale Gerechtigkeit identifizierten, befanden andere, dass die bisherige Fixierung auf soziale Gleichheit zu einer „fürsorglichen Vernachlässigung“ der unteren Schichten geführt habe, wie es Paul Nolte formuliert (2004, in: Forst 2005, S. 24). Folglich hält er auch soziale Gerechtigkeit für verzichtbar, denn was hätte man von sozialer Gerechtigkeit, „wenn alle arm sind und unfrei obendrein?“ (Nolte 2010, in: Nullmeier 2010, S. 11). Nolte hält soziale Gerechtigkeit, weil sie als Verteilungsgerechtigkeit fungierte, für diskreditiert. Stattdessen plädiert er für „Freiheit – Wohlstand – Demokratie – nachhaltige Entwicklung in ökonomischer und ökologischer Hinsicht“; und wenn man dieser Ziele verfolgt, dann wäre soziale Gerechtigkeit weitgehend obsolet (vgl. ebd.). Denn soziale Gerechtigkeit ist den neuen Spannungslinien von Ungleichheiten, z.B. denen zwischen den Generationen, zwischen den Geschlechtern oder auch zwischen Migrant_innen und „einheimischer Bevölkerung“ nicht angemessen, weil sie mit materieller Umverteilung nicht auszugleichen seien – vielmehr sei die „Förderung von Bildung, von sprachlicher und kultureller Teilhabe (...) Schlüssel der sozialen Integration.“ (Nolte 2005, S. 23). Diese Perspektive steht im Einklang mit einer Zuspitzung von Gleichheit auf Chancengleichheit

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bzw. Chancengerechtigkeit, als Voraussetzung für Teilhabegerechtigkeit; ein Begriff, der derzeit Konjunktur hat und der für ein „wesentlich restriktiveres Sozialstaatsverständnis“ steht, da er sich als begriffliche Alternative zur Verteilungsgerechtigkeit durchgesetzt hat (vgl. Nullmeier 2010; s.u.). In diesem Sinne ist er anschlussfähig an eine Abkehr von ausgleichenden Verteilungswirkungen; und vor allem ist damit das Individuum als Gestalter_in des eigenen Lebens in den Mittelpunkt gerückt, das scheinbar jenseits von strukturellen Rahmenbedingungen für Herausbildung und Nutzbarmachung der human ressources verantwortlich ist und das in einem Spannungsfeld von De- und Regulierung sowie Pluralisierungs- und Normierungsprozessen steht.

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Wandlungsprozess I: Arbeit, Existenzsicherung, Bildung

In der Sozialpolitik gilt die Agenda 2010 bzw. die Etablierung des aktivierenden Sozialstaats seit Ende der 1990er Jahre als fundamentale Veränderung. In Abkehr vom versicherungsbasierten Sozialsystem Bismarckscher Prägung wurde mit dem SGB II eine bedürftigkeitsorientierte steuerfinanzierte Grundsicherung eingeführt, die allerdings nur unter der Bedingung ausbezahlt wird, dass der_die Antragstellende aktiv zur Beendigung der Hilfebedürftigkeit beiträgt. Damit wird unter dem Motto des „Fordern und Fördern“ das Paradigma der Aktivierung umgesetzt: Die Bürgerinnen und Bürger sind selbstverantwortlich für ihre Lebenslagen und deshalb hilft ihnen nicht der Staat bei der Bewältigung von schwierigen Lebenslagen, sondern er hilft ihnen, sich selbst zu helfen. Was verändert sich dadurch und wie sind die Wirkungen zu bewerten? Die soziale Sicherung in Deutschland ist seit jeher an Erwerbsarbeit gebunden. Das Versicherungssystem hatte als Adressaten die (männlichen) Erwerbstätigen; in der Höhe gekoppelt an ihren Lohn zahlten die Erwerbstätigen in die verschiedenen Versicherungen ein und erhielten bei Bedarf, also im Versicherungsfall (Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter, Unfall), eine Lohnersatzleistung, die sich in der Höhe ebenfalls am Einkommen orientierte. Ziel war es, in schwierigen Lebensphasen vorübergehend eine Unterstützung zu leisten, um für den Arbeitnehmer und seine Familie den erreichten sozialen Status erhalten zu können. Damit waren Normierungs- und Normalisierungsprozesse inkludiert, die sich im Normalarbeitsverhältnis des männlichen Arbeitnehmers und der Normalbiografie seiner Ehefrau, die sich vordringlich um die Kinder und die Aufrechterhaltung des Haushalts kümmerte, ausdrückten. Mit der Implementierung des aktivierenden Sozialstaates haben sich sowohl das Normalarbeitsverhältnis pluralisiert als auch der Adressat_innenkreis erweitert: auch von Frauen wird ein Beitrag zur Existenzsicherung durch Erwerbstätigkeit erwartet; da sie weiterhin für die (Organisation

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von) Care-Arbeit zuständig sind, erfolgt ihr Beitrag oftmals als Zuverdienerin in Teilzeit. Durch die Pluralisierung der Arbeitsverhältnisse insbesondere durch die Ausweitung des Niedriglohnsektors und die Implementierung atypischer und prekärer Beschäftigungsverhältnisse kann das Versprechen der Arbeitsgesellschaft, dass nämlich Arbeit (d.h. Erwerbsarbeit) existenzsichernd ist, immer seltener eingehalten werden. Insbesondere die Verknüpfung der eingeschränkten Zumutbarkeitskriterien mit dem Fordern und Fördern hat zum Ausbau des Niedriglohnsektors beigetragen: Von 1995 bis 2013 ist der Anteil der Niedriglohnbeschäftigen von 18,7 auf 24,4% aller Beschäftigen angestiegen (Kalina/Weinkopf 2015, S. 3)2. Ein besonders hohes Risiko haben geringfügig Beschäftigte (Minijobber_innen), unter 25-Jährige, gering Qualifizierte sowie befristet Beschäftigte (ebd.); insgesamt 60% der im Niedriglohn Beschäftigten sind weiblich. Viele dieser prekär Beschäftigten erhalten zusätzlich Leistungen der Grundsicherung und unterliegen damit dem Aktivierungsregime. Und selbst mit dem Bezug der Transferleistungen liegen sie oftmals unterhalb der (relativen) Armutsschwelle. Das wachsende Segment ehrenamtlicher Unterstützungsarbeit wie die Tafeln oder Kleiderkammern sind Ausweis dieser Entwicklung. Weder Arbeit noch staatliche Transferleistungen schützen in jedem Fall vor Armut und auch die gesellschaftliche Teilhabe ist nicht mehr garantiert. Obwohl Arbeit also nicht mehr für alle erreichbar ist und Arbeit zudem nicht vor Armut schützt, entfaltet die aktivierende Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik einen umfassenden normierenden Charakter, der Arbeit noch mehr in den Mittelpunkt gesellschaftliche Inklusion stellt. Während wir im Bereich der privaten Lebensverhältnisse von einer Pluralisierung der Lebensformen sprechen, steht im öffentlichen Bereich die Erwerbsarbeit im Fokus und zwar für alle Mitglieder der Gesellschaft. Ziel ist für alle die Teilhabe am Erwerbsarbeitsmarkt und zwar unter jeglichen Bedingungen. Unter dieses Ziel werden alle weiteren Bereiche des Lebens subsumiert: Bei Bildungsprozessen geht es nur noch um Ausbildung oder Qualifizierung, bei Auszeiten stellt sich die Frage, ob sie im beruflichen Lebenslauf darstellbar sind und auch private Lebensentscheidungen und Prozesse der Familiengründung werden daraufhin geprüft, ob sie die Chancen auf dem Arbeitsmarkt minimieren oder verbessern3. Entsprechend wurde auch die Sozialpolitik ausgerichtet: Die Jugendhilfe ist immer stärker auf die Bildungs- und Erwerbsintegration ausgerichtet, bei der Einführung des Elterngeldes geht es nicht um eine langfristige Vereinbarkeit von verschiedenen Lebensbereichen, sondern darum, 2

Mit deutlichen Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschland: In Ostdeutschland betrug 2013 der Niedriglohnanteil 38,5%, in Westdeutschland 21,1% (ebd.). 3 Geschlechterpolitisch stellen sich diese Aspekte allerdings unterschiedlich dar: So haben Mädchen/Frauen zwar die besseren Schulabschlüsse, aber noch immer die schlechteren Chancen auf dem Arbeitsmarkt und die Familiengründung stellt für Frauen eher ein Hindernis bei der Erwerbsintegration dar, während sie für Männer oftmals der Startschuss in ihre tatsächliche Berufskarriere bedeutet.

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die berufliche Auszeit zu minimieren; Vermittlungshemmnisse werden in der Vermittlungsarbeit der Jobcenter nur dann relevant, wenn sie die Erwerbsintegration erschweren. Auch viele Bereiche der Sozialen Arbeit stehen unter der Vorgabe, die Beschäftigungsfähigkeit der Klient_innen zu erhöhen und die Projektförderung wird daran bemessen, ob die Klient_innen wieder in Arbeit gehen (können) oder nicht. Ambivalent zeigt sich dieser Politikbereich in mehrfacher Hinsicht: Gerade weil Arbeit sich weiterhin so stark als gesellschaftliches Integrationsmedium erweist, eröffnet eine solche arbeitszentrierte Politik den Zugang zu diesem Medium für bisher von Arbeitsmarkt exkludierte Gruppen, z.B. für Frauen (s.u.) oder auch Migrant_innen4. Damit erscheinen eigenständige Existenzsicherung ebenso möglich wie die Auflösung von Abhängigkeitsverhältnissen, sei es in Partnerschaften oder vom Staat. Und tatsächlich sind die Erwerbsquoten dieser Gruppen gestiegen. Zudem könnten flexiblere Arbeitsverhältnisse durchaus den veränderten Anforderungen an flexiblere Lebensführungen durch die Pluralisierung der Lebensformen entsprechen. Bei der Bewertung sind somit„(i)m Einzelfall (…) Fragen der Freiwilligkeit, der möglichen Alternativen, der erwerbsbiografischen Situation und des Hauskontextes zu berücksichtigen“ (Walwei 2015, S. 240). Nicht jedes atypische Beschäftigungsverhältnis ist auch prekär. Allerdings, und dies zeigt die Bedeutung des Sanktionsregimes im SGB II, gilt Freiwilligkeit nur für privilegierte und oftmals qualifizierte Beschäftigungsverhältnisse, während die Zielgruppen der Arbeitsmarktpolitik sich an die Normierungsprozesse anpassen müssen. Zudem hat eine solch ausgerichtet Arbeitsmarktpolitik keine Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit und der möglichen Integration von Menschen, die nicht erwerbstätig sein wollen oder können. Durch die normative Überhöhung von Arbeit, Arbeit, Arbeit bleiben für diejenigen, die sich diesen Vorstellungen entziehen (müssen), wenig Perspektiven in der Gesellschaft. Eine vermeintlich sozialpolitische Antwort darauf, das bedingungslose Grundeinkommen, könnte zumindest auf der materiellen Ebene die Situation der Erwerbslosen tendenziell (je nach materieller Ausstattung) verbessern. Allerdings kann auch ein bedingungsloses Grundeinkommen keine Alternative für die gesellschaftliche, subjektive und normative Dimension von Arbeit bieten: Soziale Platzierungen, Selbstbestimmung und Selbstbewusstsein werden eben auch über Arbeit vermittelt und können nicht materiell ausgeglichen werden. Eine arbeitspolitische Antwort auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse war 2015 die Einführung des Mindestlohns. Damit sollten die Auswüchse der Arbeitsmarktpolitik insbesondere in Form der Ausweitung des Niedriglohnsektors eingedämmt und Arbeit armutsfester werden. In einer ersten Zwischenbilanz zeigt sich, 4

Das im Mai 2016 vom Bundeskabinett beschlossene Integrationsgesetz weist dezidiert für geflüchtete Menschen den Weg der Integration über Arbeit und Bildung (Sprache).

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dass seit Einführung des Mindestlohns in den Branchen, die stark von geringfügiger Beschäftigung dominiert sind, ein Anwachsen sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse und ein Abbau von Mini-Jobs festzustellen ist (vgl. Amlinger u.a. 2016; vom Berge u.a. 2016). Gleichzeitig gelten aber auch heute noch einige Ausnahmen vom Mindestlohn (z.B. für Langzeitarbeitslose). Zudem ist auch der Mindestlohn von demnächst 9,19€ nicht armutsfest; dies gilt je nach Haushaltskonstellation und noch mehr in Bezug auf eine armutsfeste Rente, die mit dem Mindestlohn nicht erworben werden kann (Butterwegge 2016). Eine andere „Antwort“ zeigt sich in der politischen und öffentlichen Debatte um die soziale Lage, die Sozialpolitik und soziale Spaltungsprozesse hinsichtlich einer zunehmenden Bedeutung von Bildung. Zentrale Argumentation dabei ist, dass erstens Armut insbesondere durch Arbeitslosigkeit entstehe und zweitens von Arbeitslosigkeit überproportional Menschen mit geringen Qualifikationen, ohne Schulabschluss oder Ausbildung betroffen sind. Darüber hinaus gebe es vermehrt „vererbte“ geringe Bildung, was sich z.B. darin ausdrückt, dass Kinder von Akademikern zu 83% studieren, während es bei Kindern von Nicht-Akademikern nur 23% sind (vgl. Armut- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2008: XIX). Infolgedessen, so die weitere Argumentation, müssten die Bildungschancen gerade der Kinder aus sog. sozial schwachen Familien verbessert werden. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hatte deshalb 2011 z.B. ein Bildungspaket für Kinder aus ökonomisch schwachen Familien entwickelt, mit dem Schulbedarf, Schulbeförderung, kulturelle Teilhabe (in Höhe von zehn Euro monatlich) sowie Mittagessen in Betreuungseinrichtungen und bei Bedarf Nachhilfe direkt finanziert werden. Diese Regelung war und ist stark umstritten, weil die Förderung nur auf Antrag und oftmals direkt an den Anbieter erfolgt. Die Eltern würden andernfalls, so die Unterstellung, direkte Zahlungen nicht den Kindern zukommen lassen, sondern für andere Zwecke ausgeben. Hintergrund dieser sozialpolitischen Maßnahme ist nicht nur ein problematisches Menschenbild von Leistungsbeziehenden von sozialen Transferleistungen. Vor allem spiegelt es die Ansicht wider, dass „Bildung die soziale Frage des 21. Jahrhunderts“ sei bzw. geht es um die „Chancengleichheit des 21. Jahrhunderts“ (Allmendinger/Leibfried 2005, S. 59). Hier wiederholt sich ein Strukturmerkmal deutscher Sozialpolitik, die schon immer weniger in Infrastruktur, sondern stärker in direkte Transferleistungen investierte, hier in individuelle Bildungsprozesse im Kontext der Eigenverantwortung. Bildungspolitik, die derzeit als Ersatz oder Ergänzung von Sozialpolitik implementiert wird/werden soll, soll individuelle Bildungschancen erhöhen, ohne aber etwas an den materiellen Ungleichheiten und – fast noch tragischer – an dem Ungleichheit reproduzierenden Bildungssystem zu verändern. Und trotzdem: Das Unbehagen gegenüber diesen partiellen Bildungsinitiativen rührt ja nicht daher, dass Bildung und Bildungserfolge nicht besser zu verteilen wären, sondern v.a.

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daher, dass einerseits Bildung in diesem Kontext vorwiegend einen instrumentellen Charakter hat und andererseits von dem stark eingeschränkten Begriff der Teilhabegerechtigkeit. Frank Nullmeier verweist in seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff darauf, dass Teilhaberechte auch dahingehend interpretiert werden könnten, dass sie Ansprüche auf jene staatlichen Leistungen oder Interventionen beinhalten, „die erforderlich sind, um an der Nutzung von Freiheitsrechten überhaupt teilhaben zu können. (...) Das Verständnis von Grundrechten als Teilhaberechten kann durchaus als Kernbegriff einer Konzeption sozialer Gerechtigkeit fungieren“ (Nullmeier 2010, S. 33) – und hätte dabei den Vorteil, aus dem vermeintlichen Widerspruch von Freiheit und Gleichheit/Gerechtigkeit herauszutreten. Zudem könne Teilhabegerechtigkeit dann eine tiefere Relevanz erreichen, wenn Bedarfe und sozialpolitische Leistungen nicht von Vorleistungen abhängig gemacht werden, sondern als etwas Notwendiges, Erforderliches erscheinen. In der Bestimmung dessen, was Bedarfe ausmacht, sollte dann auch die Mehrdimensionalität von Lebenslagen in die Bedarfsdefinition eingehen, also z.B. Geschlecht, Anzahl der Kinder, Alter, räumliche Situation etc. „Im Teilhabebegriff“, so Nullmeier, „wird daher nicht auf eine Ressource fokussiert, sondern auf das Ensemble einer sozialen Lage. Teilhabe meint umfassende Einbeziehung in die wesentlichen gesellschaftlichen Vorgänge und Institutionen“ (ebd.). Gleichwohl bleibt aber auch in dieser Interpretation, dass sich Teilhabe/-gerechtigkeit erstens überwiegend auf die Sicherung der Basisinklusion bezieht und zweitens für wirtschaftsliberale Interpretation offen bleibt (vgl. ebd.). Hier könnte die Rückbesinnung auf und Einbeziehung eines emanzipatorischen Bildungsbegriffs (vgl. Mollenhauer 1968) in die Frage sozialer Gerechtigkeit als Grundlage einer emanzipatorischen Sozialpolitik hilfreich sein; emanzipatorisch in dem Sinne, dass Bildung nicht nur als Anpassungsleistung und Qualifizierung dient, sondern als Ermöglichung eines selbstbestimmten autonomen Lebens (s.u.). Bildung ist wichtig für Emanzipationsprozesse und auch wichtig, aber nicht hinreichend für den Ausgleich sozialer Ungleichheiten. Hier müssen auch andere politische und gesellschaftliche Prozesse greifen. Bildung ist nicht die soziale Frage, sondern Teil der sozialen Frage, die qualitative und quantitative Teilhabe ermöglichen will, die Demokratie als Lebensform begreift.

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Wandlungsprozess II: Geschlechterverhältnisse

Die ungleiche Verteilung von Arbeit und die damit unterschiedliche Präsenz der Geschlechter in den Sphären der Öffentlichkeit und der Privatheit verweist auf einen weiteren Wandlungsprozess bzw. auf die Frage, inwieweit sich denn die Geschlechterverhältnisse verändert hätten, inwieweit also sich die Gesellschaft einer Geschlechtergerechtigkeit angenähert hat (Rudolph 2015). Ich greife dazu einige schon genannte Aspekte nochmals auf. Im Zuge der Umgestaltung der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik wurde ein Leitbild der Geschlechterverhältnisse implementiert, das sich vom klassischen Ernähermodell abwendet und die Erwerbsintegration von Frauen fördert (bzw. fordert). Das sog. adult worker-Modell erwartet von allen erwerbsfähigen Erwachsenen, dass sie zur eigenen Existenzsicherung bzw. der ihrer Familien beitragen (vgl. Brand/Rudolph 2014). Sowohl bei Einführung des SGB II als auch des neuen Unterhaltsrechts wurde argumentiert, dass damit die Gleichberechtigung beim Zugang in den Arbeitsmarkt gefördert und somit ein wesentlicher Beitrag zur Gleichstellung der Geschlechter geleistet würde. Es scheint, als würden sich Aktivierungsprozesse und Gleichstellungsstrategien vortrefflich ergänzen (kritisch: Auth u.a. 2015). Und tatsächlich zeigt sich, dass der Anteil weiblicher Erwerbstätigkeit deutlich gestiegen ist, und dabei insbesondere die Erwerbstätigkeit von Müttern, die ja gesellschaftlich stark umstritten war (und ist). Allerdings zeigen sich im Hinblick auf die Arbeitsverhältnisse und die Qualität von Arbeit anhaltende Ungleichheiten in den Geschlechterverhältnissen. Trotz besserer Schulabschlüsse von Mädchen und ihrem deutlich gestiegenen Anteil im Studium, der mittlerweile bei ca. 48% aller Studierenden liegt (vgl. Stat. Bundesamt 2016), unterscheiden sich Zugänge zum Arbeitsmarkt, Beschäftigungsverhältnisse und Karrierechancen von Männern und Frauen immer noch deutlich. Frauen haben nicht nur einen überdurchschnittlich hohen Anteil am Niedriglohnsektor und bei den Minijobber_innen; etwa die Hälfte aller weiblichen Erwerbstätigen arbeiten Teilzeit, der Gender Pay Gap liegt bei knapp 22% und der Gender Pension Gap, also die Differenz bei den eigenständig erworbenen Rentenleistungen, liegt bei 57% (WSI GenderDatenPortal 2016). Erwerbstätigkeit von Frauen und Männern ist zudem von einer andauernden geschlechtsspezifischen Berufswahl gekennzeichnet. Das adult worker-Modell impliziert also zunächst eine bessere Erwerbsintegration von Frauen. Und gerade für Frauen galt der Zugang zum Arbeitsmarkt als entscheidender Bestandteil für einen Emanzipationsprozess, und zwar sowohl aufgrund der Möglichkeit zur ökonomischen Unabhängigkeit, aber auch zur „Menschwerdung des Weibes“, so schon Hedwig Dohm (1874: 47). Gleichzeitig, und das gilt schon seit Anbeginn der Berufstätigkeit von Frauen, erfolgt die Er-

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werbsintegration eben oftmals unter prekären Bedingungen, womit sowohl Existenzsicherung als auch Selbstbestimmung und Emanzipation wieder infrage gestellt werden (vgl. Graf/Rudolph 2014). Dies gilt auch für die ‚Angebote‘ des SGB II, d.h. die vermeintlichen Modernisierungsaspekte der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik werden durch ihre Zwänge und Restriktionen wieder eingeschränkt (vgl. Rudolph 2012). Im adult worker-Modell werden weiterhin Konzeptionen der Normalarbeitsverhältnisse zugrunde gelegt, ohne dass sie für Frauen im Rahmen der Arbeits- und Geschlechterverhältnisse zu erreichen sind. Was bleibt, folgt man Stephan Lessenich (2008, S. 106), sind Frauen als „soziale Investitionsgüter“ des investiven Sozialstaats, der es sich gar nicht mehr leisten könne, auf Frauen als Teilnehmerinnen am Arbeitsmarkt zu verzichten. Diese Kritik, die sich v.a. auch gegen die Programmatik der aktivierenden Sozialpolitik richtet, ist in weiten Teilen nachvollziehbar, verkennt aber seinerseits die Ambivalenz dieser Politik und ihrer Umsetzung. So zeigen Studien, in denen Arbeitslose und Leistungsbeziehende befragt wurden, dass diese „weiterhin Erwerbstätigkeit mit Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und einem Mehr an Freiheit verbinden, auch wenn die Möglichkeiten, dies realisieren zu können, beschränkt sind. (…) Man könnte (…) sagen, dass Beschäftigung und gesellschaftlich relevante Tätigkeiten in den Augen der Gesellschaftsmitglieder eine zentrale Bedeutung sowohl für ihr eigenes Leben als auch für die Gesellschaft haben“ (Graf/Rudolph 2014). Selbst wenn die Motive der Arbeitsmarktpolitik kritisch zu bewerten sind, so entfaltet sie durchaus Wirkungen mit emanzipatorischem Charakter5. Problematisch ist aber insbesondere, dass sich die Konzeption des adult worker-Modells ausschließlich auf die Regulierung und Öffnung von Erwerbsarbeit richtet. Dies hat zur Folge, dass die Organisation und Bewältigung privater CareArbeit weiterhin in der Verantwortung der Familien und Haushalte bleibt und somit, im Kontext bestehende geschlechtlicher Arbeitsteilung, in maßgeblicher Verantwortung von Frauen. Bisher wurde diese Anforderung, unterstützt von einer Familien- und Vereinbarkeitspolitik, die sich maßgeblich an Frauen richtet, erfüllt, indem Frauen vielfach in atypische Beschäftigungsverhältnisse gehen. Die Armutsgefährdung von Alleinerziehenden oder die absehbare weibliche Altersarmut zeigt, dass eine solche Politik keine Perspektive hat und dass die Care-Krise (vgl. z.B. Aulenbacher/Dammayr 2014; Rerrich/Thiessen 2014) nicht weiterhin so zu bewältigen sein wird, ‚dass die Frauen das schon irgendwie machen werden‘. 5

Vielfach ist diesem Argument entgegnet worden, dass dies nur auf Frauen zuträfe, die gut qualifiziert sind und gut entlohnt arbeiten. Unsere Studien haben wir aber mit SGB II-Leistungsbeziehenden durchgeführt, also (Nicht-)Erwerbstätigen, die eher aus dem Niedriglohnsektor mit geringeren Qualifikation kommen. Natürlich gibt es in diesem Bereich auch einen relevanten Anteil von Menschen, die Arbeit bzw. die Arbeitsbedingungen bzw. die Arbeitsmarktpolitik als Zwang empfinden – dies ist auch der Grund warum ich mehrfach darauf verwiesen habe, dass die Qualität von Arbeit stärker im Zentrum der Analyse und der Politik stehen müsste (vgl. z.B. Rudolph 2012). Gleichwohl kann auch schlechte Arbeit Momente von sozialen Kontakten, eigenem Einkommen etc. haben.

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Hier setzen einzelne zaghafte familienpolitische Ansätze in der Integration von Männern in die Care-Arbeit an, wie z.B. die sog. Vätermonaten des Erziehungsgeldes und diverse Modellprojekte (Männer in die Kitas u.ä.). Um hier tatsächlich zu Veränderungsprozessen zu gelangen, müsste sich die Frage nach gesellschaftlichen Leitbildern im Hinblick auf Formen partnerschaftlichen Zusammenlebens und der Verteilung von privater Familien- und Hausarbeit neu stellen, v.a. auch im Kontext der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, da sich wie gezeigt die Leitbilder wechselseitig ergänzen. Allerdings kann es hier weniger darum gehen, wie z.B. im ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung gefordert, ein konsistentes Leitbild für alle zu entwickeln (vgl. BMFSFJ 2011), sondern im Sinne der Vielfältigkeit von Lebensformen und Lebensphasen die sozialpolitische Absicherung von Vielfalt zu ermöglichen. In den 1990er Jahren lief unter dem Stichwort der „echten Wahlfreiheit“ eine eher konservativ ausgerichtete Debatte, die v.a. den konservativen Parteien ermöglichen sollte, das Konzept der Ernährermodells mit einer zufriedenen Hausfrau weiter zu vertreten – im Sinne einer Wahl zwischen den Lebensformen einer erwerbstägigen Frau oder einer Hausfrau. Abgesehen davon, dass sich dieses Konzept nur an Frauen richtete, hat sich gezeigt, dass es genau die entweder-oder-Perspektive ist, die zur Verengung von Lebensformen führt6. Die Ermöglichung einer echten und im Laufe des Lebens wiederholten Wahlfreiheit für Alle könnte hingegen eine Perspektive für ein neues Leitbild sein7. Der zweite Gleichstellungsbericht greift diese Perspektive mit dem earner- und carer-Modell auf (BMFSFJ 2017).

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Autonomie im Sozialstaat

Was sich also in diesen veränderten Prozessen und dem sozialen Wandel ausdrückt ist ein Spannungsverhältnis zwischen bestimmten Freiheitsversprechen und bestimmten Normierungen. Die Pluralisierung von Lebensverhältnissen, neue Modelle der Geschlechterverhältnisse aber auch bestimmte Aspekte der Aktivierung ermöglichen mehr Menschen neue Handlungs- und Lebensoptionen und damit auch mehr Freiheitsmomente. Das Ganze ist aber eingespannt in alte oder neue Normierungen. Eine der wichtigsten Normierungen ist dabei als Kristallisationspunkt Arbeit, die v.a. in Form der Erwerbsarbeit über soziale Platzierungen und gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten verfügt.

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Und im Effekt dazu geführt hat, dass sich Frauen eben gegen Kinder entscheiden. Hier wäre z.B. an Martha Nussbaums Fähigkeitsansatz anzuknüpfen, die gerade im Kontext ihrer Liste von grundlegenden Fähigkeiten, die jedem Menschen garantiert sein müssen, die Freiheit betont, die Fähigkeiten in Tätigkeiten umzuwandeln (vgl. Nussbaum 2003). 7

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Die Kritik an den Normierungs- und Ungleichheitsprozessen kann allerdings nicht darin münden, umstandslos den „alten Sozialstaat“ zu verteidigen. Das wäre insofern höchst problematisch, als der fürsorgende Sozialstaat ein patriarchaler, kapitalistischer und nationalstaatlich ausgerichteter Sozialstaat war. Weder der fürsorgende noch der aktivierende Sozialstaat sind somit Zukunftsmodelle, gleichwohl kann man trotzdem auf Entwicklungen, die stattgefunden haben, neue Chancen aufsetzen. Mehr Teilhabe an Bildung oder eine Integration in den Arbeitsmarkt sind ja durchaus Entwicklungen, die nicht immer nur schlecht sind, die aber differenziert in ihren Ausrichtungen und Wirkungen zu betrachten sind. Dabei ist aber insbesondere das Verhältnis von Normierungen und Normativität zu diskutieren, da Sozialpolitik und Sozialer Wandel der Orientierung an bestimmten Normen bedürfen, wie z.B. der Gerechtigkeit und der Solidarität. Micha Brumlik schlägt hierfür die Orientierung an der Autonomie der Menschen vor: "Theorien Sozialer Arbeit und Sozialer Bildung haben und hatten stets zwei freilich eng miteinander verbundene Themen im Blick, auf denen sie sowohl ihre normativen Zielvorstellungen, als auch ihre professionellen und politischen Strategien entwickeln: Kompetente, autonome handlungsfähige Personen sowie die gesellschaftlichen Randbedingungen, die die Entwicklung dieser menschlichen Eigenschaften verhindern" (Brumlik 2013, S. 41). An die Zielvorstellung der Autonomie lässt sich eine Perspektive anschließen, die Sigrid Betzelt und Silke Bothfeld (2014) mit dem Konzept der individuellen Autonomie entwickelt haben. Sie gehen darin davon aus, dass die Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen selbstverantwortlich und schutzbedürftig sind. In der Sozialpolitik der individuellen Autonomie stehen die Ziele individueller Schutz der Einzelnen und die soziale, ökonomische, kulturelle und politische Teilhabe gleichberechtigt nebeneinander, wofür es nachhaltige Strukturen braucht, die die individuellen Handlungsfähigkeiten stärken. Damit bekommen die Menschen Freiräume, in denen sich sowohl individuelle als auch unternehmerische Freiheit entwickeln kann, die auch gewachsenen staatsbürgerlichen Erwartungen an ein selbstbestimmtes Leben gerecht werden. Allerdings beschränkt sich der Kontext, den Betzelt/Bothfeld skizzieren, ausschließlich auf die Arbeitsmarktintegration und auf die Erwerbsarbeit, womit es als Orientierung in der Arbeitsmarktpolitik durchaus Sinn macht, als gesellschaftliche Perspektive aber noch zu kurz greift, da zwar Erwerbsarbeit ein wesentliches Vergesellschaftungsmedium darstellt, aber als alleiniger Bezugspunkt zu einer Hierarchisierung von Tätigkeiten beiträgt. Eine mögliche Erweiterung des Konzeptes könnte in der von Kurz-Scherf und anderen (2009) formulierten Trias der komplexen Gleichheit, der sozialen Freiheit und der emanzipatorischen Solidarität liegen, die auf Nancy Frasers Konzept der komplexen Gleichheit zurückgeht. Fraser (1996) benennt sieben Bereiche, in denen die Gleichheit sich umsetzen muss, unter anderem z.B. in der Verhinderung der Ausbeutung oder auch im Kampf gegen Armut. Es zählt aber auch der Kampf gegen die Marginalisierung von Care

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Arbeit dazu, d.h. eine Integration von Care Arbeit in gesellschaftliche Prozesse und eine Umverteilung von Care Arbeit. Zentral dabei ist, “daß die Männer dazu gebracht werden sollen, in einem stärkeren Maße so zu werden, wie die Frauen heute sind“ (ebd., S. 492). Sie argumentiert damit gegen reine Anpassungs- und Angleichungsprozesse an männliche Normalbiographien und männliches Normalleben. Die hier genannte soziale Freiheit entspricht dann weitgehend dem, was Betzelt und Brothfeld als Autonomie formuliert haben und mit der emanzipatorischen Solidarität wird darauf verweisen, dass das Ganze nicht nur eine individuelle Perspektive hat, sondern dass es einen stärkeren Ausgleich auch innerhalb der Gesellschaft geben muss, also dass zu einer individuellen Freiheit auch eine solidarische Gesellschaft gehört. Was all diese Ansätze eint, ist weiterhin der Bezug auf einen starken Sozialstaat, der hier nicht als Gegensatz zur Freiheit und Autonomie verstanden wird, sondern der als Gewährleister für die Entwicklung und Wahrnehmung von Freiheit und Autonomie gilt.

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Deutschlands Wandel zum modernen Einwanderungsland – Folgen für die Diskussion sozialer Ungleichheit und gerechter Migration1 Ludger Pries

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich die beiden deutschen Staaten, die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik, nicht als Migrationsländerdefiniert und wahrgenommen. Für beide deutsche Staaten widersprach dies der historischen Wirklichkeit – Deutschland war immer ein Drehpunkt intensiver Wanderungsprozesse. Seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts beginnt sich die alte und kontrafaktische Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung grundlegend zu verändern: Deutschland hat sich zum modernen Einwanderungsland entwickelt und beschreibt sich zunehmend auch so. Mit diesem Wandel sind vielfältige alte und neue Fragen verbunden. Inwiefern darf bzw. sollte Migrationspolitik durch nationale Egoismen und eine instrumentelle Haltung gegenüber den Migrierenden bestimmt sein? Inwieweit sollte Migrationspolitik auch oder vor allem durch Aspekte der globalen sozialen Ungleichheitsverhältnisse und der sozialen Gerechtigkeit bestimmt werden? 1

Wandel zum modernen Einwanderungsland

Migration ist so alt wie die Menschheit. Gerade Europa und das Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland war seit Jahrtausenden Drehscheibe intensiver Wanderungsprozesse. Seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts und während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stimulierte die Industrialisierung gewaltige Auswanderungsbewegungen und gleichzeitig massive Einwanderungen. Die Politik gezielter binationaler Abkommen zur Arbeitswanderung begann bereits in den 1920er Jahren (unter anderem mit Litauen, Polen und der Slowakei). Die beiden von Deutschland begonnenen Weltkriege induzierten – neben dem millionenfachen Tod von in Konzentrationslagern, auf den Schlachtfeldern, bei Massenerschießungen und in Zwangsarbeit umgekommenen Menschen – eine 1

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags Ferdinand Schöningh. Ersterscheinen in: Martin Dabrowski, Judith Wolf, Karlies Abmeier (Hrsg.) (2015): Migration gerecht gestalten, Paderborn, S. 11-24. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 B. Thiessen et al. (Hrsg.), Sozialer Wandel und Kohäsion, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25765-1_3

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bis dahin in Europa in diesem Ausmaß nicht gekannte (Zwangs-)Mobilität von Menschen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten allein auf den Territorien der beiden deutschen Staaten BRD und DDR etwa 40 Millionen Menschen Migrationserfahrungen (Bade 2000, S. 284f.) – bei einer damaligen Gesamtbevölkerung beider deutscher Staaten im Jahre 1950 von etwa 69 Millionen Menschen. Ab dem Ende der 1950er Jahre begann dann bereits mit der sogenannten Gastarbeiterpolitik die Einwanderung von Millionen Menschen vor allem aus dem Mittelmeerraum und später auch Mittel - und Osteuropa. All dies konnte nicht verhindern, dass sich noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts die Aussage ‚Die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland‘ wie ein „Mantra der defensiven Erkenntnisverweigerung“ (Bade 2012, S. 26) in der BRD als mehrheitsfähig erwies. Im Jahre 1979, also vor mehr als 35 Jahren verfasste der frühere Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen Heinz Kühn im Auftrag des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt das Memorandum „Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der BRD“. Für die damalige Zeit recht kühn konstatierte das Memorandum, Deutschland sei faktisch ein Einwanderungsland. Bis die politische Elite diese Sichtweise teilte und auch in der Bevölkerung eine solche Selbstwahrnehmung mehrheitsfähig wurde, sollten noch weitere zwei Jahrzehnte vergehen (Mehrländer/Schultze 2001). Klaus J. Bade, der Gründungsvorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), verurteilte schon früh die kontrafaktische Selbstbeschreibung Deutschlands als Nicht-Einwanderungsland. Mit der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und den Grünen im Jahre 1998 und darauffolgend im Staatsangehörigkeitsgesetz von 2000 und dem Zuwanderungsgesetz von 2005 wurde ein grundlegender Wandel in der offiziellen Politik auf Bundesebene eingeleitet, der bis heute parteiübergreifend anhält. Auch in der Bevölkerung wird heute weitgehend realisiert, dass ein Fünftel aller hier Lebenden eine Migrationsgeschichte im engeren Sinne hat und dass Einwanderung – bei zweifelsohne damit verbundenen Herausforderungen – vor allem eine soziokulturelle, ökonomische und soziodemographische Bereicherung darstellt. Wie ist dieser Politikwechsel der letzten fünfzehn Jahre gesamtgesellschaftlich zu beurteilen? Handelt es sich nur um einen oberflächlich-instrumentellen Schwenk vor dem Hintergrund der Debatten um demographischen Wandel? Oder hat sich bei den politischen Eliten das Verständnis von Migration und Integration in Deutschland tiefgreifender verändert? Fand ein allgemeiner und grundlegender Reflexions- und Lernprozess in Politik und öffentlicher Meinung, bei Verbänden und Behörden statt? Nicht nur der über ein Jahrzehnt währende gezielte Terror der rechtsradikalen NSU-Gruppe gegen als ‚Ausländer‘ und ‚Fremde‘ Etikettierte (der fast zeitgleich zum eben skizzierten Politikwechsel beobachtet werden konnte), sondern auch der behördliche und politische Umgang damit bis zum Prozessbeginn gegen den NSU im Frühjahr 2013, lassen ernsthafte

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Zweifel daran aufkommen. Gibt es eine kritische Reflexion darüber, welche Identitätskonflikte und psychisch-sozialen Verwundungen der Slogan ‚Deutschland ist kein Einwanderungsland‘ bei Generationen von Einwanderern ausgelöst hat? Sind die sozialen, die kulturellen, die politischen und auch die ökonomischen Schäden taxiert worden, die durch diese, nur historisch verstehbare fatale Wahrnehmungsstörung verursacht wurde? Schon diese Fragestellungen können helfen, zwei einfache und extreme Positionen hinsichtlich des erwähnten Politikwechsels kritisch zu hinterfragen. Die eine Haltung würde lauten: Deutschland ist in der Migrationsund Integrationspolitik umgeschwenkt und hat seine Hausaufgaben bereits erledigt. Die andere Position könnte heißen: Die bisherigen Veränderungen sind nur kosmetischer Natur und eigennützigem Zweckdenken geschuldet, eine wirkliche Aufarbeitung der Fehler im Bereich Migration und Integration hat bisher noch nicht stattgefunden. In diesem Beitrag wird argumentiert, dass die Wahrheit zwischen diesen beiden Extremen liegt. Deutschland ist auf einem guten Wege, die Themen Migration und Integration grundlegend neu zu überdenken. Wir befinden uns nicht vor oder nach, sondern mitten in einem gesellschaftlichen Paradigmenwechsel. Dieser ist für einige Themenfelder (wie der Zuwanderung Hochqualifizierter) und bei einigen gesellschaftlichen Gruppen (z.B. bei politischen Eliten und Nicht-Regierungsorganisationen) bereits weit vorangeschritten. Auf anderen Gebieten (etwa der Aufarbeitung des Unrechts, welches mit dem Schlachtruf ‚Deutschland ist kein Einwanderungsland‘ Millionen von Zuwanderern zugefügt wurde) und in anderen Teilbereichen der Gesellschaft (wie den öffentlichen Arbeits- und Ausländerbehörden) bleibt noch sehr viel zu tun (vgl. zur Zuwanderung z.B. OECD 2013). Immer mehr Menschen und auch viele Politiker nehmen dem Thema Migration und Integration gegenüber zunehmend eine grundsätzlich positive Haltung ein. Migration und die damit verbundenen Fragen der Teilhabe von Zuwanderern werden nicht mehr ausschließlich in der Problem-, Defizit-und Konfliktperspektive thematisiert. Immer mehr werde deren Chancen und Potentiale gesehen. Gleichwohl ist dieser Richtungswechsel ein noch sehr ‚zartes Pflänzchen‘. Das wird etwa bei dem Thema der doppelten Staatsbürgerschaft deutlich, wo gerade für die jetzt 18- bis 23-jährigen Nachkommen von Einwanderern, die nicht aus EU-Mitgliedsstaaten (sondern z.B. aus der Türkei, Afrika oder Asien) stammen, noch erheblicher Handlungsbedarf besteht. Von den im Jahre 2011 mindestens seit zehn Jahren in Deutschland lebenden Ausländern wurden nur 2,3% eingebürgert, das sind knapp 107.000 Menschen; die Hälfte hiervon konnte die alte Staatsangehörigkeit behalten, hat also eine doppelte Staatsangehörigkeit; von den knapp sieben Millionen in Deutschland Lebenden mit ausländischer Staatsangehörigkeit stellen diejenigen mit türkischer Staatsangehörigkeit mit 23% die größte Gruppe – Angehörigen dieser Gruppe wird verhältnismäßig seltener (nur in jedem vierten Einbürgerungsfall) die doppelte Staatsangehörigkeit gewährt (BAMF 2013, S.

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216ff. und S. 233f.). Nicht nur am Beispiel der doppelten Staatsangehörigkeit ließe sich zeigen, dass wir noch ziemlich am Anfang einer offenen und nachhaltigen, humanen und solidarischen Migrations- und Integrationspolitik stehen. Dies würde auch bei Themen wie der Praxis der Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse, der Chancengleichheit bei Bewerbungen oder der inter- und transkulturellen Kompetenzen und Kulturen in Behörden offenbar. Nicht zuletzt lässt sich auch in Deutschland – wie in vielen anderen Staaten der EU – im Hinblick auf die dramatische Lage der Flüchtlinge im Nahen Osten und der verzweifelten Versuche vieler Menschen, über das Mittelmeer Zuflucht in der EU zu finden, jenseits der beherzten und spontanen Hilfsbereitschaft vieler tausender Bürger auf der politischen Ebene eher das St.-Florians-Prinzip und die Verantwortungsweitergabe an andere identifizieren. Zwei Gründe sind für die Vorläufigkeit und Instabilität der Einstellungsveränderungen ausschlaggebend. Zum einen ist der Richtungswechsel bisher vorwiegend utilitaristischer Natur. Die Notwendigkeit einer Neubesinnung wird nicht aus einer kritischen Vergangenheitsbewältigung abgeleitet, sondern fast ausschließlich mit zukünftigen demographischen und Arbeitsmarktproblemen begründet. Zum anderen werden Fragen der Migration und Integration noch sehr stark in einem nationalstaatlich begrenzten „Containerdenken“ erörtert, tatsächlich aber ist die Globalisierung und Transnationalisierung des menschlichen Zusammenlebens in den letzten Jahrzehnten enorm vorangeschritten. Wieder aufkeimende nationale oder regionalistische Egoismen und Bewegungen widersprechen dem nicht, sie sind in aller Regel gleichsam ein rückwärtsgewandtes Aufbegehren gegen die Komplexität und globale Verwobenheit der Welt und auch der lokalen Probleme. Dies lässt sich am Thema der sozialen Ungleichheit und Gerechtigkeit gut zeigen, weil diese in Zeiten der Globalisierung nicht mehr allein auf den eigenen kleinen Sprengel bezogen diskutiert werden kann.

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Transnationalisierung sozialer Ungleichheit

Soziale Ungleichheit ist die systematisch ungleichmäßige Verteilung von Zugangschancen zu knappen materiellen und immateriellen Ressourcen (Ein-kommen, Wohnen, Absicherung gegen Lebensrisiken, saubere Umwelt, soziale Anerkennung usw.) nach sozialen Positionen und sozialen Gruppen, aus der eine nicht mehr zufällig-individuelle, sondern strukturelle soziale Verschiedenwertigkeit von Lebensbedingungen und Lebenschancen entsteht. Soziale Ungleichheit ist also etwas anderes als die Unterschiedlichkeit von Menschen und Gruppen nach Merkmalen wie Sprache, Geschlecht, Hautfarbe oder Religion. Erst wenn solche Unterschiedlichkeiten dauerhaft und regelmäßig mit unterschiedlichen Zugangschancen zu begrenzt vorhandenen und begehrten materiellen und immateriellen

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Gütern verbunden sind, wird dies in der Soziologie soziale Ungleichheit genannt. Soziale Ungleichheit in diesem Sin-ne wirft deshalb immer auch die Frage der sozialen Gerechtigkeit auf. Der räumliche Bezugsrahmen für die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit hat sich über die letzten Jahrhunderte ständig erweitert (Pielage et al. 2012). Die Zugangschancen zu begehrten Ressourcen und deren Verteilung nach sozialen Gruppen beziehen sich für die Menschen immer auf die von ihnen jeweils erfahrbaren und lebenspraktisch relevanten Sozialräume. In der vorindustriellen Zeit war dies für die große Mehrheit der Menschen die örtliche Gemeinschaft des Stammes, Dorfes oder der lokalen Ansiedlung, in der direkte persönliche Begegnungen möglich waren. Während dieser Zeit bezog sich soziale Ungleichheit in Europa auf den Erfahrungsraum der jeweiligen feudalständischen Ordnung. Mit dem industriellen Kapitalismus wuchs die Bedeutung von Städten, neuen Kommunikationsmitteln wie Presse, Rundfunk und öffentlicher Meinung im Rahmen nationalstaatlich verfasster Gesellschaften. Soziale Ungleichheit wurde vorwiegend als durch soziale Klassen in Nationalgesellschaften geprägt wahrgenommen, und der Klassenkampf der Arbeiterbewegungen war trotz aller Rhetorik internationaler Solidarität vor allem national ausgerichtet. Mit der Globalisierung von Wertschöpfungsketten, Finanzströmen, Transportmöglichkeiten und Kommunikationstechnologien wie dem Internet erweitert sich für immer mehr Menschen der wahrgenommene Bezugsraum sozialer Ungleichheit über die nationalstaatlichen ‚Container‘ hinaus. Im 21. Jahrhundert wird die soziale Verschiedenwertigkeit von Lebensbedingungen und Lebenschancen zunehmend in einem transnationalen und globalen Zusammenhang erlebt (Pries 2008). Die Zugangschancen zu knappen materiellen und immateriellen Ressourcen werden nicht mehr nur im nationalgesellschaftlichen Referenzsystem sozialer Klassen realisiert, sondern auch als systematische Ungleichverteilung nach Regionen und Ländern. Der im 19. und 20. Jahrhundert vorherrschende national eingefasste Klassenkampf um soziale Teilhabechancen wird zunehmend ergänzt, aufgeweicht und teilweise ersetzt durch die kollektive Mobilisierung von Anspruchsgruppen, die sich nach sozial relevanten Kriterien wie ethnischer Zuschreibung, Geschlecht, Lebensstilen, Religion oder allgemein kultureller Identität (selbst) definieren. Dabei bestimmt sich soziale Ungleichheit in einem Mehrebenensystem von lokal, regional, national, transnational, glokal bis global. Solche Prozesse der Ausdifferenzierung und Erweiterung von Bezugsräumen sozialer Ungleichheit zeigen sich praktisch etwa dadurch, dass an jedem Ort der Welt heute die jeweiligen Erwerbsbedingungen und -chancen mit dem Hinweis auf entsprechend andere Verhältnisse an anderen Orten verhandelt werden. Dies betrifft Investitionen, Werkseröffnungen oder Betriebsschließungen, Einkommens-, Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen oder auch die Hinnahme massiver Umweltschädigungen.

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Die soziale Ungleichheit variiert innerhalb derselben globalen sozialen Klasse von abhängig Beschäftigten bestimmter Wirtschaftssektoren (z.B. manuelle Montagearbeit oder Softwareentwicklungsarbeit) oder von Angehöri-gen bestimmter Berufsgruppen (z.B. Ärzte) nach den jeweiligen Ländern bzw. Regionen oft genauso stark oder gar stärker als zwischen den sozialen Klassen einer Nationalgesellschaft. Dies war zwar vor Jahrhunderten als „objektive Tatsache“ auch schon so, war aber kein relevanter „soziologischer Tatbestand“, weil diese sozialen Ungleichheiten zwischen Ländern und Kontinenten für das Welterleben, die soziale Praxis und die Lebensstrategien der Menschen fast keine Bedeutung hatten. Dies änderte sich langsam seit einigen Jahrhunderten mit dem Aufkommen beschränkter grenzüberschreitender Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten. Im 21. Jahrhundert aber können alle Menschen der Welt durch Massenmedien über alle Regionen des Globus für sie handlungsrelevante Informationen beziehen und preiswerte direkte soziale Interaktionsbeziehungen durch Telefon, Emailen oder soziale Netzwerke pflegen. Das globalisiert auch die Frage der Ungleichheit und mit ihr die der Gerechtigkeit. Unter diesen Umständen gewinnt internationale Migration als dauerhafte Veränderung des Lebensmittelpunktes erheblich an Bedeutung. Sie ist gleich-ermaßen der individualisierte Klassenkampf von unten des 21. Jahrhunderts: Wahrgenommene globale soziale Ungleichheit induziert Migration. Ausgestattet mit allen aus Fernsehen und Filmen bekannten Klischees des guten Lebens in den reichen Ländern und Metropolen machen sich immer mehr Menschen auf den Weg, ihre Zugangschancen zu knappen materiellen und immateriellen Ressourcen zu verbessern – häufig sind diese begehrten Güter einfach nur: irgendeine bezahlte Arbeit und Wohnung, einigermaßen berechenbare Lebensumstände sowie Sicherheit vor Verfolgung. In vielen kleineren Ländern wie Haiti oder Jordanien, Moldawien oder Bosnien-Herzegowina erreichen die Geldrücküberweisungen von Arbeitsmigranten eine Größenordnung, die über einem Fünftel des gesamten Bruttoinlandsproduktes des Herkunftslandes entspricht. Allein nach China, Indien, Mexiko oder die Philippinen werden jährlich jeweils zig Milliarden US-Dollar als remittances von Arbeitsmigranten überwiesen. Weltweit werden etwa eine viertel Milliarde Menschen als internationale Migranten gezählt, neun Zehntel davon ist durch Arbeitssuche motiviert. Etwa drei Mal so viele Menschen – über 700 Millionen – wandern aber innerhalb ihres Geburtslandes, alleine etwa eine viertel Milliarde Menschen in China. Für große Länder wie China, Indien oder Brasilien ist interne Wanderung hinsichtlich klimatischer, rechtlicher, kultureller und sozio-ökonomischer Unterschiede – also auch für Fragen sozialer Ungleichheit – oft mindestens so schwerwiegend und folgenreich wie etwa die internationale Migration zwischen zwei EU-Nachbarländern wie Deutschland und den Niederlanden oder Frankreich. Internationale und nationale Binnenmigration betrifft also direkt etwa eine Milliarde Menschen. Legt man

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eine Familie mit weltweit durchschnittlich vier Mitgliedern zugrunde, dann ist global also durchschnittlich jede zweite Familie direkt von Binnen- oder internationaler Migration betroffen. Soziale Ungleichheitsforschung ohne Berücksichtigung der internationalen Migration ist nicht (mehr) denkbar. Grundsätzlich gilt: Soziale Ungleichheit erzeugt Migration und: Migration beeinflusst soziale Ungleichheit.

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Migration und Gerechtigkeit

Wenn soziale Ungleichheit als systematische Chancenungleichverteilung nach sozialen Positionen und Gruppen ungerecht ist, dann stellt sich aufgrund der wachsenden Verflechtung mit Aspekten der Migration die Frage: Welche Migration ist gerecht? Ist es gerecht, wenn einige Länder wie Kanada oder Malta die Einwanderung nur von Hochqualifizierten und Reichen zulassen und damit selektiv und ohne Gegenleistung von den Ausbildungsleistungen und Ressourcen der Herkunftsländer profitieren? Ist es gerecht, wenn aus kleinen und ärmeren Ländern Afrikas über drei Viertel aller dort ausgebildeten Ärzte in reichere Länder auswandern und ihren Herkunftsländern keinerlei regulierte Kompensationen (sondern allenfalls vorübergehende individuelle remittance-Zahlungen) zuteilwerden? Ist es gerecht, die Auswanderung von Menschen grundsätzlich einzuschränken (wie dies etwa in Kuba oder China der Fall ist)? Ist es umgekehrt gerecht, wenn Länder wie Indien oder Bangladesch zur Erhöhung ihrer Deviseneinnahmen massiv die vorübergehende Gastarbeiter-Wanderung eines Teils ihrer Bürger fördern wohlwissend, dass diese in Ländern wie Kuwait oder Saudi-Arabien als völlig rechtlose Arbeitssklaven behandelt werden? Ist es gerecht, wenn Deutschland über ein Jahrzehnt lang die Einwanderung von Ärzten und qualifiziertem Pflegepersonal aus Rumänien und Bulgarien gutheißt und hervorgehoben wird, dass 31 Prozent der zwischen 25- bis 64-jährigen Neuzuwanderer aus diesen beiden Ländern einen akademischen Abschluss haben (im Vergleich zu nur 19 Prozent Akademikern der entsprechenden Vergleichsgruppe ohne Migrationshintergrund; vgl. SVR 2013: S 103; IAB-Kurzbericht 16/2013), wenn später dann unter Hinweis auf die seit Beginn des Jahres 2014 bestehende volle Arbeitnehmer-Freizügigkeit für Bulgaren und Rumänen eine Debatte über die angebliche „Armutszuwanderung in die Sozialsysteme“ begonnen wird? Ist es gerecht, dass Deutschland die eigenen Versäumnisse in der Ausbildung medizinischen Fachpersonals durch diese Art der Einwanderung Hochqualifizierter kompensiert, die in den Herkunftsländern durchaus regionale Engpässe in der medizinischen Versorgung zur Folge haben: „Bulgaria‘s medical field suffers from brain drain. Each year between 500 and 600 doctors choose to continue their careers abroad, while around 600 new doctors are

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graduating each year in the whole country” (Ionescu 2014; vgl. auch FontanellaKhan 2014)? Das Völkerrecht vertritt den Grundsatz, dass nationalstaatlich verfasste Gesellschaften bzw. soziale Gemeinschaften die Zugehörigkeit zu ihrem Sozialraum grundsätzlich autonom regeln können (sollten). Somit könne es auch kein Grundrecht auf Einwanderung geben, sondern allenfalls eine Verabredung der souveränen Staaten bzw. Gemeinschaften zur Einhaltung bestimmter Mindestnormen etwa des Flüchtlingsschutzes. Angesichts der zunehmenden Transnationalisierung und Globalisierung der Lebensbezüge erscheint eine solche Position alleine nicht mehr auszureichen. Jede Beschränkung oder auch Förderung bestimmter Wanderungsbewegungen wirft unmittelbar Fragen ihrer Auswirkungen auf soziale Ungleichheit in Herkunfts-, Ankunfts- und eventuellen weiteren Ländern und damit Gerechtigkeitsfragen auf. Dies heißt umgekehrt nicht, dass eine einfache Laissezfaire-Politik gegenüber grenzüber-schreitenden Wanderungen gerecht wäre – man denke nur an den zu erwarten-den Migrationsstrom gerade gut Ausgebildeter in die bereits reichen Länder und die damit verbundene mögliche Verschärfung globaler Ungleichheiten. Gerechte Migration kann es nur geben, wenn die Interessen der Herkunftsund der Ankunftsländer sowie der Migrierenden selbst explizit Berücksichtigung finden. Gerechte Migration bedarf deshalb immer der Verhandlung und kollektiven Regulierung. Letztere kann sich auf Kompensationen an Herkunftsländer, auf Entwicklungsaspekte zirkulärer Migration und von Geldrücküberweisungen oder auf die Verhinderung von brain drain und die Förderung von brain gain beziehen. Eine rein utilitaristisch-nationale Perspektive (wie in vielen Einwanderungsregeln nach Punktesystemen) erscheint vor diesem Hintergrund ebenso ungerecht wie die Leugnung globaler Verantwortung und die Anwendung des St.Florians-Prinzips im Falle lokal oder regional zugespitzter Migrations- und Fluchtprobleme. Denn solche Fälle von Klimakatastrophen oder Bürgerkriegen haben immer auch weit über den unmittelbaren Krisenherd hinausgehende Ursachen und Bezüge. Dies zeigt sich deutlich in Afghanistan, dem Nahen Osten oder Somalia. Menschen, die aus solchen Gebieten in der EU Zuflucht und Asyl suchen, stoßen dabei auf ein in der Theorie und Normenfestsetzung zwar schönes und anspruchsvolles ‚Gemeinsames Europäisches Asylsystem‘ (GEAS), allerdings lässt dessen praktische Implementierung noch sehr zu wünschen übrig. Eine diesen Normen angemessene Behandlung von Asylsuchenden findet in verschiedenen EU-Mitgliedsländern nicht immer statt (EASO 2014). Selbst diejenigen, die die Mittelmeerküsten der EU erreichen, können also nicht immer mit einem fairen und funktionierenden Asylverfahren rechnen. Sehr viele Flüchtlinge kommen allerdings gar nicht erst in Europa an. Wenn zwischen 2000 und 2013 mindestens

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23.000 Menschen im Mittelmeer bei dem Versuch starben, auf der Flucht vor Verfolgung, Elend und ausweglosen Lebenslagen die EU zu erreichen, dann kann Europa kaum für sich beanspruchen, ein System gerechter Migration bereits verwirklicht zu haben2. Ohne die Ursachen von Flucht und Auswanderung aus absoluter Verzweiflung zu identifizieren und erfolgreich zu bekämpfen, wird der Strom von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen nicht versiegen. Es zeigt sich: Die Verwirklichung gerechter Migration hängt eng mit dem Abbau sozialer Ungleichheit im globalen Maßstab zusammen. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass sich die Formen von grenzüberschreitenden Wanderungen erheblich ausdifferenzieren. Denn Migration erfolgt nicht nur als einmaliger und dauerhafter Wohnortwechsel von Land A nach Land B bei über einige Generationen erfolgender schrittweiser vollständiger Assimilation im Ankunftsland. Es gibt zunehmend auch komplexe Formen von Mehrfachpendelwanderungen (z.B. von Polen nach Großbritannien und Schweden) oder von zirkulären Wanderungen (z.B. zwischen Nordafrika und den Ölstaaten des Nahen Ostens). Migration nimmt zunehmend multidirektionale und komplexe Formen an. Hunderttausende deutscher Rentner leben in Spanien oder im Süden der Türkei, sie kommen in regelmäßigen Abständen nach Deutschland oder pendeln zwischen mehreren Lebensmittelpunkten. Viele türkeistämmige Rentner pendeln ebenfalls zwischen der Türkei und Deutschland. Ähnliche Alterswanderungen sind auch zwischen den USA und Mexiko zu beobachten, wobei wohlhabendere USA-Rentner wegen des Klimas und ärmere Amerikaner wegen der niedrigeren Lebenshaltungskosten zumindest einen Teil des Jahres in Mexiko verbringen. Auch für Studierende und Akademiker wird internationale Wanderung zu einem normalen Bestandteil ihrer Lebensstrategie. Weniger beachtet wurde bisher die internationale Migration, die innerhalb von Unternehmen oder Non-Profit-Organisationen z.B. in der Form von Trainee-Programmen oder Expatriate-Versendungen stattfindet. All dies zeigt, dass die Grenzen zwischen klassischer internationaler Migration und flexiblen Formen grenzüberschreitender Mobilität immer mehr verschwimmen. Häufigere Migrationen werden zum Bestandteil normaler Lebensverläufe. Das Alltagsleben einer wachsenden Zahl von Migranten, ihre Erwerbserwartungen und Karrierewege, ihre Haushaltsstrategien und biographischen Orientierungen sind nicht in nur einer lokalen Gemeinde, in nur einer Nationalgesellschaft verankert, sie spannen sich vielmehr in transnationalen Sozialräumen über mehrere Plätze in unterschiedlichen nationalen Gesellschaften auf (Pries 2008). Hieraus ergeben sich auch Konsequenzen für das Verständnis von gerechter Migration sowie von Integration und Teilhabe. Migrationsbezogene Teilhabe bezieht sich auf die möglichst chancengleiche Teilhabe von Einwanderern, aber auch von Pendlern und zirkulären Migranten an allen für sie wichtigen gesellschaftlichen Lebensbereichen. Sie ist nicht notwendigerweise 2

Vgl. hierfür https://www.detective.io/detective/the-migrants-files

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eine Einbahnstraße im Sinne einer festgelegten stufenförmigen Sequenz immer stärkerer Loslösung von der alten und Anpassung an die neue Gesellschaft. Integration sollte nicht eine erzwungene Entweder-oder-Entscheidung, sondern eine Sowohl-als-auch-Einladung im Hinblick auf Loyalitäten, Heimatgefühle, identitäre Verortungen und Lebensperspektiven sein. Integration ist kein eindimensionaler Zustand, sondern ein permanenter und vieldimensionaler Prozess der ökonomischen, kulturellen, sozialen und politischen Teilhabe im Sinne der Mobilisierung von Fähigkeiten (Amartya Sen). Integration ist schließlich auch nicht notwendigerweise gesellschaftliche Teilhabe an nur einem Ort oder in nur einem Land. Tatsächlich können Menschen Identitäten plurilokal zwischen bestimmten Regionen und über Ländergrenzen hinweg entwickeln, etwa als Deutsch-Türken oder Bayern-Europäer. Soziale Integration ist letztlich dann erreicht, wenn die Zugangschancen zu den in einem Sozialraum als relevant erachteten Gütern und sozialen Positionen für Eingewanderte, transnational Mobile und Nicht-Migranten gleichmäßig verteilt sind.

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Migration, soziale Vielfalt und gesellschaftlicher Zusammenhalt

Die Vielfalt sozialen Lebens hat in den letzten Jahrzehnten enorm zugenommen. Ob es um Glaubens- oder Geschlechterorientierungen, Erwerbsformen, Familienarrangements oder soziale Klassenlagen, um Lebensstile oder soziale Milieus geht: Die meisten Menschen stimmen sicherlich der Aussage zu, dass das Zusammenleben vielfältiger geworden sei. Viele Faktoren haben hierzu beigetragen, neben Individualisierungsprozessen und der Globalisierung von Kommunikation und Reisen ganz sicherlich auch die grenzüberschreitende Migration. Wer aus einem anderen Land, sei es nun die Schweiz oder Südafrika, nach Deutschland einwandert, bringt seine/ihre eigene Sprache, Religion, kulturellen Bräuche, Essgewohnheiten, Feiertage und spezifischen Werte und Normen mit. Die Unterscheidung eines „Wir“ und „die Anderen“ mag im Falle von Eingewanderten aus der Schweiz nicht so augenfällig sein wie bei solchen aus Südafrika. Im Hinblick auf Hautfarbe, Körperstatur und Kleidung mögen Eingewanderte aus der Schweiz den in Deutschland Lebenden ähnlicher erscheinen. Viele Studien zeigen allerdings, dass auch zwischen scheinbar sich nahestehenden Kulturen vielfältige und tief gehende Unterschiede bestehen können. Akademiker, die aus Deutschland in die Schweiz auswanderten, kamen zum Teil frustriert zurück, weil sie das Schwyzerdütsch einfach nicht erlernen konnten und so Fremde blieben. Eine gängige Argumentation lautet nun: Jedes Land bzw. jede Gesellschaft vertrage nur ein bestimmtes Maß an sozialer Vielfalt; zu viel Migration bzw. Einwanderung könne deshalb den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden. In

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ganz Europa und darüber hinaus in fast allen Ländern der Welt sind entsprechende Argumente zu hören. Gerade rechtsnationale und populistische Parteien begründen ihre Ablehnung von (zu viel) Migration mit solchen Hinweisen. Auch in Deutschland waren und sind Aussagen wie „das Boot ist voll“ oder „Deutschland kann nicht noch mehr Flüchtlinge verkraften“ an der Tagesordnung. Vor dem Hintergrund unserer Geschichte sollten wir besonders vorsichtig mit solchen Argumenten umgehen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist interessant, dass die subjektiven Empfindungen einer Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in keiner Weise mit dem tatsächlichen Ausmaß des Anteils eingewanderter Menschen aus anderen Kulturen korreliert. Im Gegenteil finden sich nicht selten die größten Vorurteile gegenüber Migranten in solchen Regionen (Städten oder Ländern), in denen der Anteil Zugewanderter vergleichsweise klein ist. Dies gilt etwa im Vergleich der neuen Bundesländer mit dem Ruhrgebiet oder dem Großraum Frankfurt. Im Jahre 2013 lag Deutschland mit einer Nettozuwanderung von fast 440.000 Menschen laut OECD-Angaben nach den USA an Platz zwei aller Einwanderungsländer. Setzt man allerdings das Gesamtvolumen an Einwanderung ins Verhältnis zur Bevölkerung eines Landes, dann ist die Emigrationsrate in Deutschland nur halb so hoch wie in Australien. In der Schweiz ist der Anteil an Eingewanderten je nach Bezugsgröße mindestens doppelt so hoch wie in Deutschland. Während bei uns einige beklagen, dass die Zahl der Flüchtlinge in 2013 um die Hälfte höher lag als in 2012 und am liebsten wieder „das Boot ist voll“ rufen würden, muss daran erinnert werden, dass diese Zahl im Jahre 1992 mehr als dreimal so hoch war wie im Jahre 2013. All diese Beispiele zeigen: Gesellschaftlicher Zusammenhalt wird nicht durch Migration gefährdet (sonst müssten die sozialen Konflikte in der Schweiz oder Australien wesentlichen größer sein als in Nicht-Einwanderungsländern), sondern vor allem durch ein unzeitgemäßes Verständnis davon, wie soziale Integration funktioniert. Schon seit über hundert Jahren haben Soziologen wie Émile Durkheim oder Georg Simmel festgestellt, dass sozialer Zusammenhalt nicht nur und in modernen Gesellschaften nicht in erster Linie aus Gleichartigem oder homogenen Teilen erwächst, sondern vor allem durch das Bewusstsein der Unterschiedlichkeit und des Aufeinanderangewiesenseins der verschiedenen sozialen Gruppen. Mechanische Solidarität findet sich nach Durkheim vor allem in segmentären Gesellschaften, die ähnlich wie die Ringe des Ringelwurms aus gleichen Elementen, durch das Prinzip der Ähnlichkeit ihrer Teile und die Mechanismen gemeinsamer Traditionen und Sitten zusammen gehalten werden. Organische Solidarität dagegen prägt moderne, hochgradig arbeitsteilige, ausdifferenzierte Gesellschaften; sie entsteht aus dem Wissen um die wechselseitige Abhängigkeit der unterschiedlichen Teile eines Ganzen. dem Stichwort Managing Diversity wird die Produktivität von kultureller Vielfalt in Organisationen betont.

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Gesellschaftlicher Zusammenhalt entsteht nicht durch absolute Gleichheit oder Gleichschaltung, sondern durch Verschiedenheit und das Bewusstsein, dass nur in dieser Verschiedenheit Gesellschaft überhaupt funktionieren kann. Soziale Integration wird gefährdet durch systematische Ausgrenzung, durch Nicht-Gewährung von Teilhabechancen und Zugehörigkeitserfahrungen für bestimmte Teile der Bevölkerung. Die bedeutendsten Gefährdungen gesellschaftlichen Zusammenhalts der letzten Jahrzehnte (z.B. Ex-Jugoslawien, Afghanistan, mittleres Afrika, Ukraine, Naher Osten) beruhten nicht auf Migration, sondern auf Ethnisierungen und anderen partikularistischen Mobilisierungen, die soziale Integration durch mechanische Solidarität und kulturelle Homogenisierung (oft auf der Grundlage unausgesprochener ökonomischer Interessen und politischer Machtbestrebungen) erreichen wollten. Im Zeitalter globalisierter Informations-, Waren- und Menschenströme kann es keine abgeschotteten Inseln von Wohlstand und Glück, von Zusammenhalt durch Gleichförmigkeit geben. Migration spiegelt den legitimen Versuch von Millionen Menschen wider, ihre Lebensumstände zu verbessern. Sie ist für stark alternde Gesellschaften wie die deutsche unverzichtbar und kann ein Motor für soziale Innovation sein. Migration und soziale Ungleichheiten hängen eng miteinander zusammen. Gerade in den reichen Ländern müssen sie in einem erweiterten Rahmen von sozialer Gerechtigkeit erörtert werden.

Literatur Bade, K. J. (2000): Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München: C.H. Beck. Bade, K. J. (2012): Migration und Integration: Historische Erfahrungen und aktuelle Herausforderungen. Festvortrag auf der Veranstaltung ‚Vielfalt macht den Unterschied‘ in Freiburg, Historisches Kaufhaus, 13.9.2012. https://www.freiburg.de/pb/site/Freiburg/get/412761/Vielfalt macht den Unterschied_Vortrag_Prof_Bade.pdf, [11.2014]. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) (2013): Migrationsbericht 2011. Migrationsbericht des BAMF im Auftrag der Bundesregierung. http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Migrationsberichte/migrationsbericht-2011.pdf?__blob=publicationFile, [19.11.2014]. European Asylum Support Office (EASO) (2014): Annual Report. Situation of Asylum in the European Union 2013. Luxembourg: Publications Office of the European Union. doi:10.2847/28516. Fontanella-Khan, J. (2014): Romanians despair that wealthy Britain is taking all their doctors. In: Financial Times 14. January 2014. http://www.ft.com/ cms/s/0/f4c0b7347c70-11e3-b514-00144feabdc0.html, [11. 2014]. IAB-Kurzbericht (Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung)(2013): Arbeitsmigration oder Armutsmigration? IAB-Kurzbericht Nr. 16, August 2013. Nürnberg:IAB.

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Ionescu, L. (2014): Emigration from Eastern Europe with a focus on Brain Drain. http://pure.au.dk/portal/files/75142686/Luiza_Ionescu_Emigration_from_Eastern_Europe_with_a_focus_on_Brain_Drain.pdf, [18.11.2014]. Mehrländer, U.; Schultze, G.(Hrsg.) (2001): Einwanderungsland Deutschland. Neue Wege nachhaltiger Integration. Bonn: Dietz. OECD(2013): Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte: Deutschland. Paris: OECD Publishing. http://www.heilbronn.ihk.de/ximages/1438095_oecdzuwand.pdf. Pielage, P.; Pries, L.; Schultze, G. (Hrsg.) (2012): Soziale Ungleichheit in der Einwanderungsgesellschaft. Kategorien, Konzepte, Einflussfaktoren. Dokumentation einer gemeinsamen Tagung der Sektion „Migration und ethnische Minderheiten“ (MueM) der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) und des Gesprächskreises „Migration und Integration“ der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES).Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung. Pries, L. (2008): Die Transnationalisierung der sozialen Welt. Sozialräume jenseits von Nationalgesellschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Pries, L. (2014a): Integration als Eröffnung gesamtgesellschaftlicher Teilhabechancen. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche undprivate Fürsorge, Jg. 94, H. 2 S. 49-54 und H. 3, S.122-126. Pries, L. (2014b): Transnationalisierung sozialer Ungleichheit und gerechte Migration. In: Mau, S.; Schöneck-Voß, N. (Hrsg.): (Un-)gerechte (Un-)gleichheiten? Berlin: Suhrkamp, S.175-184. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integration (SVR) (2013): Erfolgsfall Europa? Migrations- und integrationspolitische Folgen und Herausforderungen der EU-Freizügigkeit für Deutschland. Jahresgutachten 2013. Berlin: SVR.

Soziale Arbeit - Herausforderungen und Risiken Jan Keller

Es ist nicht einfach, eine kurz gefasste, inhaltsreiche und für alle akzeptable Definition der Soziale Arbeit zu formulieren. Sicher ist man sich aber darüber einig, dass die Sozialarbeit in den Bereich der Dienstleistungen gehört und eine ganze Reihe von typischen Eigenschaften der Dienstleistungen aufweist. Der Fokus meiner Ausführungen wird sich auf unterschiedliche Trends richten, mit denen die Soziale Arbeit als ein Bereich im Dienstleistungssektor konfrontiert ist und damit den gleichen Deformationen ausgesetzt wird, von denen in der heutigen Phase der Modernität die Sphäre der Dienstleistungen als Ganze betroffen ist. Zur Analyse dieses ziemlich komplizierten Problems kann man einen Gedankenapparat in Anspruch nehmen, den schon vor einem Vierteljahrhundert Luc Boltanski und Laurent Thévenot in ihrer Arbeit „Über die Rechtfertigung” (Boltanski/Thévenot 1991) entwickelt haben. In dieser Studie widmen sich die Autoren den Arten und Weisen, mit denen Menschen in einem bestimmten Zeitraum das rechtfertigen, was sie tun. Im Grunde genommen erweiterten sie die Theorie der Macht-Legitimation von Max Weber im Allgemeinen auf die menschliche Tätigkeit. Es ist bekannt, dass Max Weber drei Arten unterscheidet, mit denen diejenigen, die über Macht verfügen, ihre Machtansprüche rechtfertigen (Weber 1922). Einzelne Formen der Herrschaft unterscheiden sich voneinander darin, was den Herrschern den Anspruch darauf gibt, zu herrschen, und womit die Pflicht derjenigen, die unten stehen, begründet wird, denjenigen, die oben stehen, Folge zu leisten. Boltanski und Thévenot erweiterten diesen Ansatz auf weitere Bereiche des menschlichen Handelns. Sie zeigen, wie in verschiedenen Typen der Gesellschaften und zu verschiedenen Zeiten begründet wird, wonach Menschen streben sollen, was ein Zeichen vom Erfolg ist und womit im Gegenteil die Erfolglosen charakterisiert werden. Beide Autoren unterscheiden insgesamt sechs Bedeutungswelten, die sich deutlich voneinander unterscheiden und die oft in einem direkten Gegensatz zueinander stehen. Sie unterscheiden sechs Arten davon, was hoch geschätzt ist und wonach Menschen streben. Für uns ist ihre Typologie in dem Sinne interessant, als wir mit ihrer Hilfe verschiedene Bedeutungen des Begriffs Dienstleistung allgemein und verschiedene Seiten der Sozialarbeit im Einzelnen erörtern können.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 B. Thiessen et al. (Hrsg.), Sozialer Wandel und Kohäsion, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25765-1_4

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Jan Keller

Zuerst sind jene sechs Prioritätswelten kurz zu erwähnen und zu beachten, auf welche Art und Weise der Bereich von Dienstleistungen von einzelnen Welten beeinflusst wird. 1

Die Welt der Inspiration

Hier ließen sich die Autoren ohne Zweifel von Webers Konzept der charismatischen Herrschaft inspirieren. Die Welt der Inspiration ist die Welt der Spontaneität, Emotionen und Erregung. Es handelt sich um eine Verletzung der Ordnung, die im religiösen Bereich von Propheten, in der Politik von Revolutionären und im Bereich der Wissenschaft und Kunst von genialen Erfindern und Schöpfern vollbracht wird. Alles Etablierte wird in Zweifel gezogen, die bis jetzt anerkannten Regeln werden übertreten. Dominierend ist die Sehnsucht nach Kreativität, danach, etwas Neues zu erkunden. Natürlich geht es um eine wenig stabile Welt, wobei ein außerordentlicher Aufschwung immer früher oder später wieder in eingefahrene Bahnen zurückgeführt wird. Es geht um einen radikalen Bruch mit den bisherigen Regeln, um einen besonderen Augenblick, in dem sonst maßgebende Maßstäbe, wie Nützlichkeit, Wirksamkeit, Rentabilität und kalter Verstand, mit Verachtung bedacht werden. Was hielt aus dieser Welt Einzug in das Konzept der Dienstleistung? In unserem Kulturbereich kommt das Verständnis von „Dienst” aus dem Christentum. Ein Urbild des Dienstes ist ein Dienst an Gott, der den Menschen nicht demütigt, sondern im Gegenteil erhebt. Das alte ursprüngliche Motiv des Dienstes bestand darin, etwas Höherem, Überweltlichem zu dienen. Nach der Verweltlichung wird daraus eine Dienstleistung nach den höchsten Idealen, etwas, was einen Mensch hell leuchten lässt, was ihn überragt und was ihn emporhebt. Ein Dienst im Sinne einer höheren Mission. Der europäische Feudalismus übertrug diesen Moment des Dienstes in einen breiteren gesellschaftlichen Rahmen. Im Dienste Gottes oder eines Herrschers zu sein, war für einen Dienstleistenden sozial erhebend. Schon Weber betonte, dass dies ein kennzeichnendes Element unserer Kultur ist. Außerhalb Europas galt, dass das Dienen aus einem Menschen einen Sklaven macht, doch in Europa war es im Gegenteil möglich, durch einen treuen Dienst geadelt zu werden, in der sozialen Hierarchie nach oben aufzusteigen. In der Welt der Inspiration ist der Mensch bereit, alles aufzugeben, alles, was für die Ewigkeit zu gelten schien, in Zweifel zu ziehen, und sich seiner Mission, die ihn innerlich bereichert und sozial emporhebt, voll zu widmen. In der Sozialarbeit kommt dieses Element in der Form einer selbstlosen Hilfe für alle Hilfsbedürftigen vor. Man hilft, weil man an die Gültigkeit eines höheren Prinzips glaubt, sei es aus humanitären oder solidarischen Gründen. An erster

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Stelle stehen da nicht die erworbenen Fertigkeiten, sondern die Fähigkeit zur Empathie, zur Einfühlung in die Situation eines anderen Menschen. Sollte die Sozialarbeit nur dieses Element umfassen, wäre sie sinnlich im höchsten Maße erhebend, doch was das Professionelle betrifft disqualifizierend. Sie könnte von ausnahmslos jedem, der es mit anderen gut meint und der vom Schicksal der Leidenden berührt ist, durchgeführt werden. Die Ausbildung in der Sozialarbeit wäre dann überflüssig, da der Mensch schon als ein Mitleid fühlendes Wesen auf die Welt kommt und fachliches Wissen in diesem Verständnis von Dienstleistung keinen Platz hat.

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Die Welt des Hauses

Wie die Welt der Inspiration von dem Modell der charismatischen Herrschaft von Max Weber inspiriert wurde, so findet man einige Parallelen zwischen der Welt des Hauses und dem Modell der traditionellen Herrschaft von Weber. Es geht dabei nicht nur um die im Rahmen des Haushalts selbst zu entwickelnden Beziehungen. Nach dem gleichen Prinzip funktionieren zwischenmenschliche Vernetzungen überall da, wo man im Rahmen von relativ kleinen Gruppen auf der Basis von informellen Beziehungen kooperiert. Zu dieser Welt gehören also auch Klientelismus-Beziehungen oder das Funktionieren der Mafia. In allen diesen Fällen sind die Beziehungen streng hierarchisch geordnet. Es herrscht eine rigide Ordnung, die mit Hinweisen auf die Tradition, auf die Sitten vergangener Generationen sowie auf die Unmöglichkeit, die bestehende Hierarchie in Frage zu stellen, aufrechterhalten wird. Da die Macht in diesen Fällen nicht von den einzelnen Personen zu trennen ist, lassen sich die Mechanismen dieser Welt nur wenig zur Beeinflussung von Sachen aus der Ferne nutzen. Der Willen eines Herrn ist ein Gesetz, bei dem sich keiner der Untertanen erlaubt, dieses in Zweifel zu ziehen. Die führenden Tugenden in dieser Welt sind Nachhaltigkeit, Charakterbeständigkeit sowie die persönliche Treue. Da die Autorität in dieser Welt gewohnheitsmäßig gegeben ist, genießen die Älteren mehr Achtung als die Jüngeren, die Erfahreneren mehr als die Anfänger. Diese Tugenden bestimmen auch den Charakter von Dienstleistungen, die in dieser Welt in Richtung nach oben geleistet werden. Ein uraltes Vorbild solcher Dienstleistungen waren Dienstleute, die ihren Herrn bedienten. Sie lebten im Haus ihres Herrn und sie gehörten zu den Mitgliedern seines erweiterten Haushalts. Als Bindemittel dient hier vor allem ein beiderseitiges Vertrauensverhältnis. Untertanen empfinden gegenüber ihren Herren eine solche Dankbarkeit und ein solches Pflichtgefühl, wie man es nur mit der Verehrung eines Familienoberhauptes vergleichen kann. Herren verhalten sich gegenüber den Untertanen warmherzig, doch nicht familiär. Sie fühlen sich für die Untertanen verantwortlich, sie geben sich als

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ihre gnädigen Beschützer. Die Diener sind stolz auf die Person, die sie bedienen, die Bedienten empfinden einen gnädigen Respekt auch gegenüber den Geringsten unter den Dienern. Die von den Dienstleistenden genossene Anerkennung entspricht nicht nur exakt dem Rang ihrer Position in der Hierarchie, sondern vor allem der Tatsache, welchem Maße an Prestige sich ihre Herren in der Gesellschaft erfreuen. Diejenigen, die betrügen und den Regeln nicht nachzukommen gewillt sind, haben die größte Strafe, die es für sie in dieser Welt gibt, zu gewärtigen – sie werden aus dem Familienkreis, aus dem Haus, wo sie ihre Stelle haben und wo ihre Identität gesichert ist, ausgeschlossen. Sie werden zu einem ‚Niemand‘. Für die Analyse der Sozialarbeit und ihrer Problematik ist dieses Modell der Dienstleistung am wenigsten anwendbar, da hier eine offensichtliche Hierarchie zwischen den Subjekten der Interaktion gegeben ist. Aus dieser Perspektive könnten wir allerdings über die informelle Autorität, die der_die Sozialarbeiter_in in den Augen seiner Klient_innen gewinnen kann, sowie über die Aufgabe von informellen Elementen in der Interaktion Klient_in – Sozialarbeiter_in nachdenken. Aus einem kritischen Blickwinkel kann die Reduzierung der Autorität des Wissens und der Autorität, über die der Sozialarbeiter_in gegenüber dem Klient_innen verfügt, thematisiert werden. Darüber hinaus gibt es auch ein weiteres bedeutendes Thema. In der Welt des Hauses ist das Private eng damit verflochten, was man auch das Professionelle nennen könnte. Diese enge Verbundenheit ist einer der Stützpfeiler der Widerstandsfähigkeit der gegebenen Welt. Für die Sozialarbeit stellt eine solche Verbundenheit jedoch eines der vorrangigen Risiken für ihre Durchführung, ihre Wirksamkeit und ihren Status dar.

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Die Welt der Meinung

Dieser Fall mag in der angedeuteten Typologie überraschend wirken, doch in der Welt der Medien und virtuellen Realität ist er in vollem Maße gerechtfertigt. In dieser Welt gilt, dass die Sachen so sind, wie sie präsentiert werden, dass sie sind, wie sie der Mehrheit in dem gegebenen Moment zu sein scheinen. Die Wahrheit ist das, was momentan den Meinungen der Anderen entspricht. In dem Augenblick, in dem die Meinung sich ändert, sieht auch die Wahrheit anders aus. Der Erfolg in dieser Welt ergibt sich auf Grund einer zustimmenden Meinung, der Misserfolg gleicht einem Interessensverlust durch die Anderen. Das betrifft Stars und Berühmtheiten, Produkte, Kunstartefakte, also eigentlich all das, was zum Träger eines bekannten Namens, einer Marke, eines Logos wird. In dieser Welt ist derjenige groß, der sichtbar, berühmt, bekannt und anerkannt ist. Doch dies gilt nur so lange, wie jemand eine solche Reputation genießt. Während dieser Zeit

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identifizieren sich Menschen mit ihm, sie lassen ihn nicht aus den Augen und folgen ihm. Seine tatsächlichen Persönlichkeitsqualitäten müssen dabei gar nicht wesentlich sein. Über eine strategische Stellung verfügt da kein Glaubensbote und nicht einmal ein Familienoberhaupt, sondern ein Meinungsführer, der imstande ist, die Meinungen zu prägen. Es ist nicht wesentlich, was jemand tatsächlich tut. Wichtig ist, dieses mit einer guten Kampagne zu begleiten, die an das Publikum die richtige Botschaft aussendet. Dies betrifft Bürger_innen, Wähler_innen, Konsument_innen sowie Klient_innen. In dieser Welt ist eine Dienstleistung natürlich nur das, was als Dienstleistung präsentiert wird. Eine richtige Werbung schafft es, einen Schein der Professionalität zu schaffen, wohingegen die tatsächliche Professionalität ohne eine richtige Werbung von niemandem geschätzt wird. Diese Welt gibt denjenigen die größten Möglichkeiten, die sich andere Menschen unterordnen wollen. Es reicht ihnen vollkommen, sich für ihre Diener_in auszugeben und sie von ihrer Unentbehrlichkeit zu überzeugen, auch wenn ihr ‚Beitrag‘ im besseren Fall nur virtuell und im schlechteren Fall sogar schädlich sein kann. Auf diese Art und Weise dienen der Gesellschaft gerne Politiker_innen, Bankier_innen sowie Soldat_innen. Dies betrifft aber auch ganze Firmen. Naomi Klein (Klein 1999) zeigt, inwieweit es den Mächtigsten genügt, für sich selbst nur die Kontrolle über ein bekanntes Logo zu behalten, während alle anderen Dienstleistungen von ihren Lieferanten, Sublieferanten und externen Mitarbeiter_innen an entfernten Außen-Arbeitsplätzen für sie geleistet werden. Die Sozialarbeit ist in dieser Welt in erheblichem Maße verletzlich. Es gilt da, dass der Schein und die Realität das gleiche sind. Zur Schaffung eines genügend glaubwürdigen Scheins ist ein beträchtlicher finanzieller Einsatz notwendig, also gerade das, worüber nicht einmal die professionell stärksten Arbeitsplätze für die Sozialarbeit verfügen. Umso mehr Raum öffnet sich in der Welt der Meinung denjenigen, die imstande sind, in den Schein der Professionalität angemessen zu investieren. Hier tut sich ein Feld für das grenzenlose soziale Konstruieren auf. Tatsächliche soziale Probleme können in der Welt der Meinung künstlich bagatellisiert werden, wohingegen praktisch aus dem Nichts Pseudoprobleme geschaffen werden, je nach dem Bedarf desjenigen, der die Gelegenheit nutzen möchte, sich damit zu beschäftigen und diese zu ‚lösen‘. Die Stellung der Sozialarbeiter selbst ist in dieser Welt nicht beneidenswert. Den Konstruktionen von laienhaften Klient_innen wird hier der vollkommen gleiche Wert beigemessen wie der Interpretation professioneller Sozialarbeiter_innen. Der Status eines_einer Dienstleistenden wird dadurch degradiert und das Maß des Prestiges eines_r Sozialarbeiters_in hängt davon ab, ob sich Klient_innen dafür entscheidet, ihm_ihr Wertschätzung zukommen zu lassen.

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Jan Keller Die staatsbürgerliche Welt

Die Autoren verstehen die staatsbürgerliche Welt als eine Welt, in der die Menschen nicht ihre privaten individuellen Interessen verteidigen, sondern sich für die Verteidigung der öffentlichen Interessen engagieren. Sie verhalten sich wie Vertreter_innen von Gruppen und Gemeinschaften, deren Mitglieder sie sind. Im Gedankengebäude dieser Gemeinschaften steht an oberster Stelle das Interesse der Humanität als Ganzes. Zur staatsbürgerlichen Welt gehört all das, was die zwischenmenschliche Solidarität betrifft, sei es auf der Ebene der Gruppen oder der des gesamten Staates, also zum Beispiel in Form der Sozialpolitik, der Sozialfürsorge und der Umverteilung. Im direkten Gegensatz zur Welt des Hauses spielt sich das Geschehen in dieser Welt auf der öffentlichen und nicht auf der privaten Bühne ab. Als Akteur_innen treten auf dieser Bühne ganze Gruppen auf, die etwas mehr sind als die reine Summe ihrer Mitglieder, sowie die ganze Gesellschaft, für die das Gleiche gilt. Der „Große“ ist da nicht ein Prophet, auch kein Familienoberhaupt und keine Berühmtheit, sondern derjenige, der nach demokratischen Regeln ein Mandat zur Vertretung der Anderen erhalten hat. Er_Sie bringt das gemeinsame Interesse zum Ausdruck und mobilisiert die Anderen zum Erreichen dieses Interesses. Diese Welt wird ständig dadurch gefährdet, dass die Personen, welche die Anderen repräsentieren sollen, ihre öffentliche Stellung zur Verteidigung ihrer privaten egoistischen Interessen nutzen. Der Dienst bedeutet in dieser Welt die Verteidigung des öffentlichen Interesses gegenüber den partikularen Interessen. Alle Beteiligten sind hier gleich, der_die Mandatträger_in vertritt nur vorübergehend Mitglieder einer Gruppe, zu welcher er_sie selbst gehört. Er_Sie dient dabei keinen konkreten Personen, sondern zuvorderst einem nicht-persönlichen gemeinsamen Interesse sowie Prinzipien, die über jedes Mitglied der Gruppe hinausreicht. Im Zweifelsfall dient er_sie ganz und gar überpersönlichen Entitäten wie beispielsweise der Heimat oder der Menschheit. Diese Art des Dienstes widersetzt sich dem Risiko der Korruption, die darin besteht, dass die öffentliche Stellung zu rein privatem Nutzen missbraucht wird. Im Fall der Sozialarbeit ist ihr Charakter des öffentlichen Dienstes historisch gegeben. Sie entwickelte sich als Bestandteil des Aufbaus einer öffentlichen Sphäre des modernen Staates. Sie ist ein Bestandteil des Zugangs aller bedürftigen Bürger zu grundlegenden sozialen Rechten. Der Zugang dazu ist für die breite Öffentlichkeit kostenlos, er dient denjenigen, die keine Mittel haben, einen selbst finanzierten Schutz gegen soziale Risiken sicherzustellen. Er ist ein Bestandteil eines Komplexes von dekommodifizierten Dienstleistungen des Sozialstaates.

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Die kaufmännische Welt

Das Geschehen in dieser Welt basiert auf dem menschlichen Begehren, kostbare Güter zu besitzen, die die weniger Wohlhabenden sich nur sehnlichst wünschen können. Man kann hier alles kaufen, es dreht sich nur um den Preis. Formal gesehen sind in dieser Welt alle Menschen vollkommen gleich genauso wie in der staatsbürgerlichen Welt. Tatsächlich sind sie jedoch ganz und gar unterschiedlich je nach ihrer Solvenz. Die Kommerzialisierung bedeutet, dass die Logik der kaufmännischen Welt auf immer mehr und mehr Objekte ausgeweitet wird. Damit wird das zu einer auf dem Markt angebotene Ware, was früher weder verkauft noch gekauft werden konnte. Die Marktverhältnisse sind frei von allen moralischen Kriterien, die einzige Richtschnur ist das Bemessen von zahlenmäßig festzulegenden Gewinnen und Verlusten. In dieser Welt sind diejenigen erfolgreich, die imstande sind, ihren persönlichen Profit aus Markttransaktionen zu maximieren. Der Misserfolg findet seinen Ausdruck einerseits in Kategorien der niedrigen Wettbewerbsfähigkeit und andererseits in Kategorien der fehlenden Solvenz. Das Erbringen von Dienstleistungen wird in dieser Welt, wie alles Andere, ausschließlich zu einer Frage der Möglichkeit, einen Gewinn zu erzielen. Welche Dienstleistung von Dienstleistenden auch immer gewährt wird, immer stehen sie in letzter Instanz in den Diensten ihrer eigenen Interessen, ihrer Einkünfte, sowie ihres Eigentums. Deswegen werden solche Dienstleistungen entwickelt, die einen hohen Ertrag versprechen. Die weniger lukrativen Dienstleistungen bieten für den Markt keine günstigen Chancen. Zugleich wird vorausgesetzt, dass privat geleistete Dienstleistungen von besserer Qualität, günstiger und effizienter als öffentliche Dienstleistungen seien. Die Funktion dieser Ideologie besteht darin, die Verschiebung öffentlicher Dienstleistungen in private Hände in den Augen ihrer Klient_innen zu rechtfertigen. Zusammen mit der Welt des Hauses neigt die kaufmännische Welt am meisten dazu, aus den Dienstleistenden untertänige Diener_innen zu machen. Während in der Welt des Hauses diese Degeneration von Dienstleistungen durch andere als ökonomische Faktoren gegeben ist, so gibt es in der kaufmännischen Welt die Möglichkeit für solvente Menschen, sich die Zeit von denen, die sie bedienen, zu kaufen. Im Bereich der Sozialarbeit zeigen sich die Tendenzen der kaufmännischen Welt im Bestreben, auch die Fürsorge für die den sozialen Risiken ausgesetzten Menschen zu kommodifizieren und zu kommerzialisieren. Aus dem Dienst am Nächsten soll eine von den Fragen der Moral ganz zu abstrahierende Angelegenheit des Marktes werden, basierend auf dem Kriterium von Kosten und Beiträgen, also auf dem Kriterium des Gewinns für den Träger. Diese Tendenz wird umso absurder, als hier diejenigen Menschen Gegenstand des Marktunternehmens werden, die aus verschiedenen Gründen auf dem Markt versagt hatten. Wenn sie schon nicht in der Lage waren, ihren Arbeitgeber_innen Gewinn in einem Standard-

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Marktmilieu zu bringen, sollten sie wenigstens für die Firmen, die im Bereich von Dienstleistungen für die am Markt Erfolglosen unternehmerisch tätig sind, gewinnbringend sein.

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Die industrielle Welt

In dieser Welt herrschen Technik und wissenschaftliche Methoden, mit deren Hilfe eine wirkungsvolle, auf funktionsfähigen Investitionen basierende, Produktion sichergestellt werden soll. Ein professioneller Zugang soll die Produktivität von schlichtweg allem, also von Firmenorganisationen, Maschinen, Menschen, usw. kontinuierlich erhöhen. Die Schlüsselwörter lauten Leistungsfähigkeit, Funktionsfähigkeit und Wirksamkeit. Dem Wettbewerb um die höhere Produktivität stehen die Inkompetenten, Unqualifizierten, die über wenig Flexibilität verfügen und sich ungenügend anpassen können, im Wege. Alle diese Kräfte stellen für das immer schneller werdende Wachstum des Systems ein Hindernis dar. Falls das System nicht expandiert, kommt es früher oder später zum Kollaps. In der industriellen Welt werden Dienstleistungen mit dem Ziel angeboten, ein möglichst wirksames Funktionieren von allem zu gewährleisten. Die Dienstleistung muss mit Rücksicht auf den Imperativ einer ständigen Leistungserhöhung von Firmen und Menschen ihr Funktionieren unter Beweis stellen. Die Dienstleistungen müssen zur Beschleunigung des Wachstums beitragen. Von einem Dienstleistenden wird Professionalität gefordert, wobei dies aber nicht unbedingt bedeutet, dass sie allen Klient_innen hilft. Vor allem muss diese dem System zu einer reibungslosen Finanzierung, zum Erreichen einer höheren Effizienz, also zu größeren Leistungen bei Output-Ersparnissen, verhelfen. Das Ziel der Sozialarbeit in diesem System besteht darin, einen_eine „defekt geworden“ Klient_in „zu reparieren“, sodass er_sie im idealen Fall imstande ist, wieder Bestandteil des Mechanismus der Produktion zu werden. Im ungünstigeren Fall ist man bestrebt, ihn_sie in einen solchen Zustand zu bringen, dass sein_ihr Überleben nicht zu viele Mittel in Anspruch nimmt, die dadurch dem Nutzen in produktiven Aktivitäten entzogen würden.

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Binärkodes der einzelnen Welten

Jede der sechs kurz beschriebenen Welten funktioniert auf der Basis eines anderen binären Codes und jede hat ihren Sieger- wie auch Verlierer-Typus: 



   

Die charismatische Welt/Welt der Inspiration funktioniert auf der Basis des Codes Außerordentliches/ Routine. Ihr Sieger ist eine charismatische Person. Der Verlierer ist hier derjenige, der seinen Glauben verloren hat. Die Welt des Hauses funktioniert auf der Basis des Codes dazugehören/ ausgeschlossen sein. Der Gewinner ist hier ein Familienoberhaupt (Clan-, Mafia-Oberhaupt), der Unterlegene ist derjenige, der Verräter wurde und die Hausregeln verletzt hat. Die Welt der Meinung funktioniert auf der Basis des Codes berühmt/unbekannt. Hier triumphiert eine Berühmtheit, während derjenige das Nachsehen hat, der wenig sichtbar ist oder in Vergessenheit geriet. Die staatsbürgerliche Welt funktioniert auf der Basis des Codes allgemeines Gute/individuelles Interesse. Es setzen sich diejenigen durch, die erfolgreich individuelle Interessen als allgemeine ausgeben können. Die kaufmännische Welt funktioniert auf der Basis des Codes Gewinn/Verlust. Vorne liegt hier ein reicher Mensch, zurückbleibt ein Armer, ein Mensch mit fehlender Solvenz. Die industrielle Welt funktioniert auf der Basis des Codes wirksam/unwirksam. Ein ‚Held‘ ist hier ein kompetenter Mensch, der ‚Looser‘ ist hier derjenige, der wenig leistungsfähig ist.

Die Argumentationskonflikte zwischen den verschiedenen Welten spiegeln sich auch in den Debatten über die Problematik der Sozialarbeit wider. Als Beispiele seien hier nur einige der Konflikte erwähnt. Der Konflikt zwischen der Welt der Inspiration und der kaufmännischen Welt: Welchen Rang soll in der Sozialarbeit ein selbstloser Dienst an einem Nächsten einnehmen und welchen im Gegensatz dazu der Imperativ, Gewinn zu machen? Der Konflikt zwischen der Welt des Hauses und der industriellen Welt: Inwieweit kann sich in den Beziehungen zwischen dem Sozialarbeiter und dem Klienten eine informelle menschliche Beziehung entwickeln einerseits und inwieweit soll andererseits diese Interaktion nach Dispositiven des Managements für die Leitung von Dienstleistungen einschließlich der Distanz auf Grund der vorgeschriebenen Rollen stattfinden?

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Der Konflikt zwischen der industriellen Welt und der Welt der Meinung: Soll die Sozialarbeit durch Sozialarbeiter oder durch gemeinnützige Organisationen, die imstande sind, ein Image ihrer Kompetenz zu schaffen, realisiert werden? Der Konflikt zwischen der staatsbürgerlichen Welt und der kaufmännischen Welt: Soll der Ausgangspunkt der Idee der Sozialarbeit die Solidarität mit den Schwächeren sein, oder sollen das Gewinn-Prinzip und das Prinzip der rein marktorientierten Lösung von sozialen Problemen herrschen? Der Konflikt zwischen der staatsbürgerlichen Welt und der industriellen Welt: Soll das Hauptkriterium des Erfolgs der Sozialarbeit die Realisierung der Solidarität mit den Schwächeren sein oder liegt der Erfolg in einer technokratisch wahrgenommenen Wirksamkeit von öffentlichen Dienstleistungen?

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Veränderung Sozialer Arbeit als Dienstleistung im sozialen Wandel

Mit Hilfe eines von Boltanski und Thévenot (1991) vorgestellten analytischen Apparats kann man gewisse Prozesse, die die Dienstleistungen im Allgemeinen und die Sozialarbeit im Besonderen in der modernen Gesellschaft durchlaufen, näher analysieren. Es sind diese drei Prozesse zu erwähnen: a) Kommerzialisierung von Dienstleistungen, b) Analyse des Sinnes von Dienstleistungen, c) Entfremdung von Dienstleistungen. Ad a) Dienstleistungen (einschließlich der Sozialarbeit) werden im Hinblick auf den Prozess der Kommerzialisierung zu einer Quelle für den Gewinn verwandelt, wie alle anderen Leistungen auch. Sie werden nur den übrigen Dingen, die am Markt angeboten werden, hinzugefügt. Das bedeutet, dass die Logik der kaufmännischen Welt alle anderen Logiken verdrängt. Sozialarbeiter_innen werden zu Agent_innen, die aus dem Angebot und dem Verkauf der Fürsorge für ihre in eine Notsituation geratenen Anvertrauten Profit ziehen wollen. Natürlich könnten sie alles andere auch anbieten, wenn sich dieses andere Produkt als profitabler erweisen würde. Sie konkurrieren miteinander, wobei die Fähigkeit, die gegebene Dienstleistung vielleicht nicht in besserer Qualität so doch günstiger anzubieten, ihnen einen komparativen Vorteil verschaffen kann. Die Qualität und ein günstiger Preis können allerdings im Bereich der sozialen Dienstleistungen kaum in Übereinstimmung gebracht werden. Ein Bestandteil der Qualität ist die dem_der Klient_in gewidmete Zeit. Ohne diese Zeit zu kürzen, ist es nicht möglich, Ersparnisse zu erreichen.

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Bei der Kommerzialisierung von Dienstleistungen wird die Tatsache außer Acht gelassen, dass nicht alles gekauft oder verkauft werden kann. Wie bekannt, gibt es Dinge (sei es menschliches Interesse, Mitleid oder Vertrauen), die wertlos ja sogar liquidiert werden, sobald sie zum Bestandteil eines Marktangebotes werden. Daneben muss man darauf Rücksicht nehmen, dass die Kommerzialisierung von Dienstleistungen setzt ihre Privatisierung voraus. Soziale Dienstleistungen sind jedoch seit jeher ein wesentlicher Bestandteil des öffentlichen, bürgerlichen Sektors. Ihre Privatisierung stört das Gleichgewicht zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, was unter anderem eine der Voraussetzungen für das Funktionieren der Demokratie ist. Auch wenn unkritische Befürworter des Marktes ohne Attribute das Gegenteil behaupten, lässt sich nicht nachweisen, dass es möglich ist, die öffentliche Wohlfahrt einzig und allein nur durch das Verfolgen privater Interessen zu realisieren. Das Verfolgen privater Interesse bedeutet eine scharfe Konkurrenz, wobei die sozial Bedürftigen in der Regel diejenigen sind, die nicht über die Voraussetzungen verfügen, in dieser harten Konkurrenz mit Erfolg zu bestehen. Für eine solche Konkurrenz eignen sich am besten junge gesunde Männer ohne Verpflichtungen (eine Ausbildung ist zwar willkommen, doch keine Bedingung). Alle anderen Gruppen der Bevölkerung sind mehr oder weniger sozial verletzlich und die Sozialarbeit sollte ihre Verletzlichkeit nicht zu einer Quelle ihres Profits machen. Hinzu kommen weitere Probleme. In der kaufmännischen Welt gibt es die Regel der emotionalen Distanz. Um Geschäfte im eigenen Interesse möglichst günstig zu führen, muss man mit einem kalten Kalkül handeln. Emotionen müssen außen vor bleiben. Wie kann man jedoch den sozial Bedürftigen nur auf Grund eines kalten Kalküls helfen? Aufgrund des kalten Kalküls kommt man zu dem Schluss, dass diese Menschen überflüssig sind und dass es für alle anderen (hauptsächlich die Jungen, Unabhängigen und Gesunden) besser wäre, sie würden nicht existieren. Aus der Sicht des Marktes gilt, dass es in dem Fall, dass eine Aktivität unrentabel also verlustbringend ist, keinen Sinn hat, diese zu betreiben. Sollte die Sozialarbeit zu einem rein marktorientierten Produkt werden, dann würde sie vor einer sehr misslichen Wahl stehen, und zwar: entweder diese als verlustbringende Tätigkeit gar nicht zu betreiben und sich um Bedürftige nicht zu kümmern, oder diese insoweit zu verändern, dass sie Gewinn bringt, auch um den Preis, dass damit alles aufgegeben wird, was ihr Sinn gegeben und was ihre Humanität gewährleistet hat. Dadurch kommt man zu dem nächsten Prozess – zur Analyse des Sinnes der Dienstleistungen. Ad b) In der jüngsten Schrift von Marie-Anne Dujarier: Le management désincarné (Dujarier 2015) wird beschrieben, wie sich die Logik der industriellen Welt des Managements von Dienstleistungen einschließlich der Sozialarbeit bemächtigte. Hier wird die Tätigkeit sogenannter Planer dargestellt, also der Men-

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schen, die sich mit dem strategischen Management beschäftigen. Es werden sogenannte Dispositive ausgearbeitet, mit deren Hilfe die Tätigkeiten in Unternehmen ferngesteuert werden, ohne Rücksicht darauf, womit sich diese Unternehmen beschäftigen. Das Wort „Dispositiv“ ist dem militärischen Wortschatz entnommen, geht auf das Ende des 18. Jahrhunderts zurück und bedeutet eine Beschreibung der Mittel, die zum Erreichen eines bestimmten militärischen Ziels zur Verfügung stehen. Die Autorin beschreibt drei Typen von Dispositiven: -

Dispositive der Finalität (diese bestimmen, was zu erreichen ist), Dispositive der Vorgehensweisen (diese legen fest, wie dabei vorzugehen ist), Dispositive des Mitmachens (diese geben Empfehlungen, wie man leistungsfähige Mitarbeiter einbeziehen soll, damit sie aktiv sind und das Gefühl haben, dass das Erreichen der Ziele in ihrem Interesse ist).

Diese Dispositive sind in sehr hohem Maße formalisiert und arbeiten mit quantifizierten Leistungen. Wenn man sie auf jedwede Tätigkeit anwenden kann, müssen sie von der jeweiligen Besonderheit einer jeden Tätigkeit abstrahiert werden. Im Grunde genommen ist für sie bei jeder Tätigkeit nur eine einzige Dimension maßgebend, nämlich die Leistungsfähigkeit. Nach Meinung von Sozialarbeiter_innen bedeutet dies, dass sie nicht für ihre Klient_innen arbeiten sollen, sondern um eine bestimmte Kennziffer zu erreichen. Sie wählen dann von ihrer Tätigkeit nur das aus, was man quantitativ zum Ausdruck bringen kann. Das Erreichen von richtigen Kennziffern wird zum Hauptziel. Statt der Lösung von Problemen schlagen sie eine Schlacht um die Zeit. Das ist auch unmittelbar nachvollziehbar: Falls sie keine stets zunehmende Anzahl von quantifizierten Leistungen vorweisen können, setzen sie sich der Gefahr von Sanktionen aus. Wenn sie jedoch ihren Klient_innen nicht helfen, drohen ihnen praktisch keine Sanktionen. Auch wenn das strategische Management den Anschein erweckt, es wäre der Hauptgegner der Bürokratie, tut es im Grunde genommen dasselbe, was jede Bürokratie auch tut – es stellt das Verhältnis von Mitteln und Zielen auf den Kopf und verwandelt die Mittel zu einem Selbstzweck der Tätigkeiten. Es führt zu einer Reihe von Paradoxien, die Marie-Anne Dujarier (2015) belegt durch Aussagen der Sozialarbeiter_innen, mit denen sie die Interviews durchgeführt hat. Damit es möglich wird, den Indikatoren der Qualität Rechnung zu tragen, ist es nötig, Dienstleistungen im Grunde genommen in einer niedrigeren Qualität zu erbringen. Man misst zum Beispiel die Zeit, um Telefongespräche zu führen. Eine hundertprozentige Qualität erreicht man, wenn man gar nicht zum Telefon greift. Die Situation wird sehr gut mit der Aussage einer Sozialarbeiterin beschrieben: „Wenn man seine Arbeit ordentlich machen möchte, dann ist es eigentlich eine gewisse Form der Unbotmäßigkeit“ (Dujarier 2015).

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In der Sozialarbeit ist es vorteilhafter, sich den Fällen zu widmen, die schneller erledigt werden können. Je komplizierter die Fälle von Klient_innen sind, desto weniger Leistung scheinen die Sozialarbeiter_innen zu erbringen. Es ist mithin besser, in Krankenhäusern Patient_innen mit „rentablen“ (also weniger komplizierten und besser zu heilenden) Krankheiten aufzunehmen. Das Ausweisen von Berichten über durchgeführte Tätigkeiten nimmt einen Teil der für diese Tätigkeiten vorgesehenen Zeit weg. Das bedeutet, dass der Vorgang, der die Prioritäten des Leistungsmanagements verfolgt, die Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Die Situation wird wieder zutreffend mit den Worten eines Sozialarbeiters beschrieben: „Je mehr statistische Angabe einzutragen sind, um nachzuweisen, dass man sich um eine größere Anzahl von Klienten gekümmert hat, um desto weniger Klienten kann man sich auf Grund der mangelnden Zeit kümmern“ (Dujarier 2015). Die tatsachliche Leistungsfähigkeit sinkt, wenn es darum geht, eine formelle Leistungsfähigkeit zu erreichen. Hier passt der Terminus „quantitativer Fleiß“. Und letztendlich werden diejenigen am besten belohnt, die es verstehen, beim Reporting über ihre Tätigkeiten die meisten Tricks anzuwenden. Letztendlich sind auch die meisten Planer, die das Ausweisen der Berichte empfehlen, im Grunde genommen gegen dieses Verfahren. Sie wissen nämlich, dass man den erhaltenen Kennziffern nicht glauben kann. So bestätigt es auch einer der Planer: „Ich weiß, dass ich Eis an Eskimos verkaufe. Wir verkaufen Projekte, die unsere Klienten gar nicht brauchen.“ (Dujarier 2015). Es gibt darüber hinaus ein weiteres Paradox: Mitarbeiter_innen werden dann zur Autonomie aufgefordert, wenn ihre gesamte Tätigkeit mit Dispositiven versehen ist. Man kann dieses Paradox allerdings erklären: Autonom zu sein bedeutet, seine eigene Initiative beim Einordnen der Klient_innen in vorgefertigte „Schubladen“ von Dispositiven zu entwickeln. Bei dieser Durchführung wird die Initiative der Mitarbeiter_innen nach der Methode „mit Zuckerbrot und Peitsche“ sichergestellt. Auf der einen Seite betont man, dass die zu verfolgenden Ziele für alle vorteilhaft sind. Sie sollen den Mitarbeiter_innen ermöglichen, ihre Kompetenzen, Autonomie, Beschäftigungsfähigkeit und ihre ganze Persönlichkeit zu entwickeln. Sicherheitshalber macht man auf der anderen Seite darauf aufmerksam, dass sich Mitarbeiter_innen in dem Fall, dass sie sich gegen diese vorteilhaften Direktiven wehren sollten, der Gefahr von harten Sanktionen aussetzen, bis zum Verlust des Arbeitsplatzes. Dies belegen die Worte eines weiteren Sozialarbeiters: „Es gilt nur das, was auf eine entsprechende Art und Weise ausgewiesen wird. Man muss immer Rechenschaft ablegen. Der Mensch wird infantilisiert. Immer wieder wird ihm klar, dass ihm die „oben“ einfach nicht glauben. Er muss sich immer wieder vor jemandem rechtfertigen. Und darüber hinaus vor Menschen, die sich in seiner Profession gar nicht auskennen.“ (Dujarier 2015). Das tatsächliche Ziel der Dispositiven besteht allerdings in einer anderen Sache. Nach dem Vorbild von privaten Firmen soll auch im öffentlichen Sektor der Konkurrenz und dem

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Wettbewerb Vorschub geleistet werden. Auf diese Art und Weise sollen die Kosten der Produktion von Dienstleistungen reduziert und der Gewinn erhöht werden. Industrielle Prioritäten sind also nur ein Weg dazu, den Vorrang des Marktes zu erreichen, und zwar wortwörtlich um jeden Preis. Die Leidenschaft für das Messen, die der charakteristische Zug dieses Managements ist, sieht wissenschaftlich aus. Tatsächlich ist sie aber nur ein Instrument im Dienste der kaufmännischen Welt, ein Instrument zur Reduktion von Kosten und zur Erhöhung des Gewinns. Im Grunde genommen geht es darum, mit weniger Mitteln mehr zu arbeiten. Mit all den Reden über die Autonomie und Selbstentwicklung wird nur diese grundlegende Wahrheit verschleiert. Ad c) Wir kommen also zu dem dritten, aus den beiden vorhergehenden folgenden Prozess, welcher „Entfremdung von Dienstleistungen“ genannt werden kann. Die Tätigkeit der Planer verfolgt den Zweck, immer mehr und weitere Dienstleistungen auf den Markt zu bringen, die hier als Gewinnquellen für ihre Betreiber dienen sollen. Die Dispositive selbst, die es möglich machen sollen, werden zu Marktprodukten. Sie werden zum Zweck des Verkaufs entwickelt und den Firmen angeboten. Da der Komplex von Führungsmethoden mehr oder weniger beschränkt ist, geht man so vor, dass im Grunde genommen die gleichen Vorgehensweisen immer wieder neue Namen erhalten und in neuen Verpackungen verkauft werden. Dies entspricht den Lehrsätzen der Manager von der Notwendigkeit ständig neuer Innovationen. Der Markt mit Dispositiven wird auf diese Weise immer breiter, ohne ein sichtbares Anwachsen von Manager-Know-how beobachten zu können. Die Angestellten müssen meistens für neue Dispositiven den Kopf herhalten. Der Grund besteht einerseits darin, dass sie sich ständig neue Methoden des Ausweisens der Berichte aneignen müssen, andererseits darin, dass sie mit weniger Mitteln mehr arbeiten müssen. Deswegen empfinden sie Widerwillen gegen Dispositive. Die Planer behaupten dann, dass die Angestellten wenig aktiv, wenig flexibel sind und dass sie sich gegen Veränderungen zur Wehr setzen. Sie können aber nicht angeben, worin die Veränderungen bestehen. Allerdings befinden sich auch die Planer selbst in einer schwierigen Situation. Man erwartet von ihnen unbedingten Gehorsam und Leistungsfähigkeit. Sie müssen akzeptieren, was man von ihnen fordert und sie dürfen keine überflüssigen Fragen stellen. Ihre dienstliche Karriere basiert auf dem Prinzip „Beförderung oder Kündigung“. Nur die Tüchtigsten halten durch. Diejenigen, die es nicht schaffen, bei diesem Takt Schritt zu halten, scheiden aus. Man verlangt von ihnen vollen Einsatz bei der Arbeit. Sie haben keine Zeit für ihr privates Leben, für die Familie, für den Haushalt. Sie wissen, dass sie jederzeit von jemand anderem ersetzt werden können. Einige von ihnen erhielten die Kündigung, kurz nachdem ihnen die Anerkennung zuteil geworden ist, dass sie exzellent sind. Ihre Arbeit kann einfach nicht vor Ort durchgeführt werden, da diese extern ist. Wie einer der Planer in

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einem Gespräch bestätigt: „Wir sind Instrumente zum Erreichen von Profit.“ (Dujarier 2015). Die Planer stellen also eine typische Service-Klasse dar. In den Worten von Pierre Bourdieu (1979) sind sie ein untergeordneter Faktor der Herrscher. Auch ihre Stellung ist paradox: Nach Meinung der meisten Mitarbeiter_innen sind sie zu teuer, doch dabei sollen sie der Organisation helfen, mit niedrigeren Kosten zu arbeiten. Man kann also von dem Prozess der Entfremdung von Dienstleistungen sprechen. Primär diente der Dienst dazu, dass jemand für jemand anderen oder für mehrere andere etwas tut. Die Entfremdung von Dienstleistungen bedeutet, dass der Dienst zu einem eigenen Leben auflebt und sich sowohl denjenigen, der den Dienst ausübt, als auch denjenigen, dem er behilflich sein soll, unterordnet. Es ist ein Teil des Prozesses, in dem eine Schöpfung zum Leben aufersteht und sich zum Herrn über seinen Schöpfer macht. Hegel (1960) beschrieb diesen Prozess in der Dialektik eines Herren und eines Sklaven, wobei der Diener über seinen Herrn die Herrschaft gewinnt. Die Bürokratie funktioniert so, dass diejenigen, die im öffentlichen Interesse dienen sollten, diejenigen beherrschen, deren Angelegenheiten sie verwalten sollten. Die Banken gewähren ihre Dienstleistungen auf die Art und Weise, die zu einer Situation führt, die man nur schwer von einer Schuldsklaverei unterscheiden kann. In unserem Fall - was wie eine Dienstleistung funktionieren sollte - werden Klient_innen wie eine Position in einem regelrechten Berichtswesen verwendet, ohne dass man ihnen helfen muss. Operative Mitarbeiter_innen werden nur in dem Fall in Anspruch genommen, dass sie in der Lage sind, im Wettbewerb ihre Kolleg_innen zu überbieten, also ihrem Betreiber einen höheren Gewinn zu verschaffen. Und die Planer_innen, die ihre Tätigkeit programmieren, werden nur wie leicht austauschbare Instrumente zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit genutzt. Das Ganze dieses Mechanismus steht in den Diensten der kaufmännischen Logik und der Logik der industriellen Welt. Das tatsächliche Ziel besteht einerseits in der Ausweitung des Gewinns, und dies über alle Maßen hinaus, und andererseits in der Erhöhung der Wirksamkeit und Funktionsfähigkeit des Systems. Und bei der höheren Wirksamkeit und Funktionsfähigkeit geht es letztendlich gleichfalls wieder um nichts anderes als um den Gewinn.

60 Literatur Boltanski, L; Thévenot, L. (1991): De la justification. Paris: Gallimard Bourdieu, P.: La distinction. Critique sociale du jugement. Paris: Minuit 1979 Dujarier, M. (2015): Le management désincarné. Paris: La Découverte Hegel, G.W.F. (1960): Fenomenologie ducha. Praha. Klein, N. (1991): No Logo. Knopf Canada and Pikador Weber, M. (1922): Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen: Mohr

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Sozialpolitische Dimensionen von sozialem Wandel und Kohäsion Ute Fischer

Gesellschaftlicher Wandel ist keine Einbahnstraße in bessere Lebensbedingungen. Er verläuft weder gradlinig noch homogen, sondern hat für verschiedene Gruppen vorteilhafte oder nachteilige Konsequenzen. Wenn sich auch in der Betrachtung von Modernisierungsprozessen ganz allgemein größere Freiheitsgrade von Lebensentwürfen und Handlungsentscheidungen auffinden lassen, so sind sie häufig von erheblichen Nebenfolgen begleitet. Zum Beispiel geht der generelle Anstieg des Wohlstandsniveaus im Deutschland der Nachkriegszeit – gemessen etwa an der Versorgung von Haushalten mit Wohnraum, Nahrung und Konsumgütern – zwar zunächst einher mit sinkender absoluter Armut (Lauterbach 2003, S. 14ff.). Mit dem Aufkommen der Massenarbeitslosigkeit in den 1970er Jahren steigt jedoch die Quote der relativen Armut auf derzeit 15,4 Prozent (Schneider et al. 2016, S. 20). Dabei zeigen sich starke regionale Differenzen und besondere Risikogruppen wie Erwerbslose, Alleinerziehende, Familien mit drei und mehr Kindern, Menschen mit niedrigem Qualifikationsniveau sowie mit Migrationshintergrund (ebd., S. 23). Es entstehen neue soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten. Aufgabe der Sozialpolitik ist es, die gesellschaftlichen Veränderungen, die sozialer Wandel auslöst, so zu flankieren, dass – auf individueller Ebene – Menschen vor existentieller Not geschützt sind, Härten abgefedert werden, aber auch Möglichkeiten vergrößert werden, sein Leben nach eigenen Vorstellungen in Würde zu gestalten. Auf gesellschaftlicher Ebene geht es zudem um Umverteilungsprozesse, um die Konkretisierung von Gerechtigkeitsvorstellungen und um die Eröffnung von Handlungsoptionen. Sozialpolitik ist wesentlich daran beteiligt, das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft auszutarieren. Die Balance zwischen Eigeninteresse und Gemeinwohlbindung, die durch Modernisierungsprozesse in Bewegung gerät, muss in neue Formen gebracht werden, damit der soziale Zusammenhalt gesichert wird. Der vorliegende Beitrag untersucht, wie gut die gegenwärtige Sozialpolitik diese Aufgabe meistert. Dazu werden zunächst diejenigen Aspekte des sozialen Wandels skizziert, die eine sozialpolitische Herausforderung darstellen (Kapitel 1). Je nach Ausrichtung sozialpolitischer Maßnahmen kann Sozialpolitik selbst zu

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 B. Thiessen et al. (Hrsg.), Sozialer Wandel und Kohäsion, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25765-1_5

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einer Verursacherin von sozialen Verwerfungen werden. So ist zunächst genauer zu erklären, woran sich eine passende, den Wandlungsdynamiken angemessene Sozialpolitik erkennen und messen lässt. Mit Hilfe eines Kohärenzmodells wird dies untermauert (Kapitel 2). Im nächsten Schritt wird exemplarisch am novellierten Sozialgesetzbuch II (SGB II) gezeigt, welchen Charakter die gegenwärtige sozialpolitische Ausrichtung besitzt. Hier fließen zur Verdeutlichung auch Ergebnisse der eigenen empirischen Forschung in Jobcentern ein (Kapitel 3). Schließlich ist zu diskutieren, wie negative Wirkungen der jetzigen Sozialpolitik vermieden werden können. Dabei wird der Vorschlag eines Bedingungslosen Grundeinkommens auf seine kohärenzstiftenden Potenziale als sozialpolitische Alternative hin befragt (Kapitel 4).

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Sozialpolitik als Antwort auf Verwerfungen im sozioökonomischen Wandel

Wird sozialer Wandel in Verbindung mit sozialpolitischen Entscheidungen diskutiert, geraten drei Ebenen in den Blick: Welche Anlässe führen zu sozialpolitischen Interventionen, welche Ziele verfolgen sie also? Auf welchem Weg sollen sie erreicht werden? Und schließlich welche Folgen sind mit ihnen verbunden? Ähnlich wie sich die Nachkriegsentwicklung in (West-)Deutschland in Phasen beschreiben lässt, finden sich auch solche typischen Einteilungen in der Sozialstaatsdiskussion. Üblicherweise werden drei Etappen der Sozialpolitik unterschieden (vgl. exemplarisch Dahme 2008). Die Nachkriegszeit bis zum Ende der Prosperitätsphase Anfang der 70er Jahre gilt demnach als expansive wohlfahrtsstaatliche Regulation. Sie ist geprägt von steigenden Wachstumsraten und einer nahezu erreichten Vollbeschäftigung durch den kriegsfolgen-bedingten Wiederaufbau und Anstieg der Wirtschaftsleistung. In einer solchen Aufwärtsspirale bestehen kaum Konflikte zwischen Wirtschaftsentwicklung und Sozialpolitik, denn der Bedarf an Sozialleistungen ist gering, während zugleich die Steuereinnahmen hoch und die Sozialversicherungen gefüllt sind. In der Idee keynesianischer Nachfragesteuerung tritt der Staat als Investor auf und sorgt zusätzlich für Wachstum, auch in Bereichen wie Bildung oder sozialer Wohnungsbau. Steigende Löhne und sicher erscheinende Beschäftigungsverhältnisse vermitteln den Anschein, dass alle Bevölkerungsgruppen Anteil an der Prosperität hätten. Die Lebensverhältnisse werden in der Tendenz für alle besser und weisen eine hohe Stabilität und damit Planungssicherheit auf. Der soziale Frieden

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ist relativ ausgeprägt bei einem starken Schutz gegen die Marktkräfte und wirtschaftliche Risiken. Durch die Weltwirtschaftskrisen Anfang und Mitte der 1970er Jahre erlahmt die Prosperitätsspirale und scheint staatliche Planung zu diskreditieren. Stattdessen soll nun den Marktprozessen möglichst störungsfreier Vorrang gewährt werden. Sozialpolitik gilt in dieser Perspektive als Hindernis einer wirtschaftlichen Belebung. Nun werden Verteilungskonflikte virulent, denn bei sinkenden Wachstumsraten und steigender, sich verfestigender Arbeitslosigkeit wird der Verteilungsspielraum enger. Zudem wird nach dem Vorbild Großbritanniens (Thatcherismus) und der USA (Reaganomics) neoklassische Angebotspolitik zur neuen Leitlinie des schlanken Wohlfahrtsstaats, indem Steuerbelastungen insbesondere für Unternehmen und gleichzeitig Sozialleistungen für Bedürftige zurück genommen werden. Infolge dieser wirtschaftlichen und politischen Entwicklung treten soziale Verwerfungen auf. Zwar setzen sich Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse fort (Beck 1986), die Ausdruck gestiegener Freiheitsgrade in der Lebensplanung und in Lebensverläufen sind. Auch starre Geschlechterarrangements geraten in Bewegung, traditionale Werte verlieren an Bindungskraft. Doch beginnt zugleich der Prozess des Abbaus von Arbeitnehmerschutzrechten und des bis dahin für männliche Beschäftigte dominanten ‚Normalarbeitsverhältnisses‘ mit seinen unbefristeten Vollzeit-Arbeitsplätzen. Bei sinkenden Reallöhnen und einer auseinander gehenden Schere zwischen Arm und Reich setzen Abstiegs- und Prekarisierungsprozesse ein, die durch die deutsche Wiedervereinigung noch intensiviert werden. Vor allem in den de-industrialisierten Regionen lassen sich Modernisierungsgewinner_innen von –verlierer_innen deutlich unterscheiden. Die Marktabhängigkeit hat zugenommen bei gleichzeitig größer werdenden Gruppen von Personen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt nicht (wieder) finden. Die Arbeitslosigkeit bleibt trotz De-Regulierung und starker Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften bis Ende der 1990er Jahre auf hohem Niveau. Diese Erfahrung führt zu einer neuen Debatte über die „Zukunft des Sozialstaats“ und einer Neuausrichtung der Sozialgesetzgebung und Arbeitsförderung. Angestoßen wurde sie unter anderem durch Anthony Giddens, dessen Werk zum „dritten Weg“ (1999) programmatischen Charakter besitzt. Nicht zufällig haben sich der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und der ehemalige Premierminister Großbritanniens Tony Blair (Labour Party) auf diese Schrift bezogen in ihrem Entwurf eines Modernisierungskonzeptes der europäischen Sozialdemokratie (Schröder/Blair 1999). Für die Entwicklung der deutschen Sozialpolitik sind diese Grundüberzeugungen relevant, da sie in der Regierungserklärung Schröders im Jahr 2003 im Rahmen der sogenannten „Agenda 2010“ Eingang gefunden haben.

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Flankiert wurde dieser Kurswechsel durch die Arbeit der „Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (Hartz et al. 2002). Deren Abschlussbericht begründete die Novellierung der Sozialgesetzbücher. Die Grundidee ist nunmehr, Wohlfahrt und Wettbewerb in eine neue Balance zu bringen. Man folgt einerseits der sogenannten Welfarization-These. So wird im anglo-amerikanischen Diskurs der Prozess bezeichnet, im Zuge dessen Sozialtransfers zu einer Gewöhnung und Verstetigung der Abhängigkeit der Arbeitsfähigen von Sozialleistungen führten. Ein Zuviel an sozialer Sicherheit, vor allem an bedingungsloser Zahlung habe negative Folgen für die Betreffenden im Sinne einer Erlahmung von Aktivität sowie für den Staat durch (zu) hohe Sozialausgaben. Diese Überlegungen fußen zudem und nicht zuletzt auf einer spezifischen Ausdeutung von Gerechtigkeit: Nur wer sich selbst nachweislich bemüht, von Sozialleistungen unabhängig zu werden, hat sie verdient. In einem „aktivierenden“ Ansatz wird der Weg gesehen, einem solchen Prozess entgegenzuwirken. Eigenverantwortung soll gestärkt werden, damit der Sozialhilfebezug eine Übergangslösung bleibt und nicht zu einer Alimentierung auf Dauer wird. Wohlfahrtsstaatlich flankiert wird das so verstandene Empowerment durch sowohl präventive Sozialpolitik in Form von Bildungsangeboten über den Lebenslauf hinweg als auch kurative Angebote von Beratung, Betreuung und Maßnahmen zur Förderung der Arbeitsaufnahme und Arbeitsfähigkeit. Die Seite der Wettbewerbsförderung umfasst andererseits eine unternehmensfreundliche Wirtschaftspolitik mit weitergehenden De-Regulierungen und Flexibilisierungen der Beschäftigungsverhältnisse. Unternehmen werden durch niedrige steuerliche Belastungen gefördert mit dem Ziel, Arbeitslosen und atypisch Beschäftigten den Wiedereintritt in die sozialen Sicherungssysteme über reguläre Erwerbsarbeit im ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Die Arbeitsmarktdaten scheinen diesen Ansatz zu bestätigen, denn zwischen 2005 und 2011 ist die Arbeitslosenquote von 11,5% auf 5,5% gesunken, was in absoluten Zahlen einem Rückgang um 1,4 Millionen Arbeitslosen entspricht (Promberger 2012, S. 36). Diese Entwicklung führt Promberger jedoch auf das Anwachsen von ungeschützten, instabilen und gering entlohnten Arbeitsplätzen im gleichen Zeitraum zurück. So wuchs „die Zahl der Leiharbeitnehmer um 525.000, die befristete Beschäftigung stieg um 850.000, die Teilzeitbeschäftigung um knapp 1,9 Millionen Personen; mehr als eine Million Menschen musste und muss zu ihrem geringen Arbeitslohn ergänzende Leistungen aus der Grundsicherung (Hartz IV) beziehen“ (ebd.). Zusätzlich zur Leitlinie der „politischen Aktivierung“ sieht Dörre (2009) als Merkmale des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus zudem eine ökonomische Landnahme und eine kulturelle Beschleunigung. Demnach weitet sich das ökonomische Prinzip des Wettbewerbs auf alle Lebensbereiche aus, umschließt auch

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Bildung sowie Gesundheit und findet sich in den Verwaltungen wie auch in der Sozialen Arbeit. Eine Beschleunigungsdynamik führe zur Entwertung von Qualifikationen, Kompetenzen und Erfahrungen, die Unsicherheit in den Lebensplänen verstärke. Ob das Regime der flexiblen Zeit, also einer diskontinuierlichen Zeiterfahrung, als Fluch oder Segen erlebt wird, hänge von den individuellen Ressourcen ab. Der neue Sozialtypus des ‚Optionenmaximierers‘ bedarf solcher Kompetenzen und Bereitwilligkeit, die unter der Chiffre des „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2007) Eingang in die Diskussion gefunden hat. Mit Lebensqualität hat dieser Zwang für die Wenigsten zu tun. Ein echter Freiheitsgewinn sei unter den gestiegenen Anpassungszwängen kaum auszumachen und sei abhängig von Alter, Qualifikation, Beruf und Geschlecht. Die skizzierten sozialen Problemlagen sind einerseits Folgen wirtschaftlicher Entwicklungen und zeigen andererseits, dass die Art und Weise, wie Sozialpolitik flankierend eingreift, selbst solche Verwerfungen erzeugt oder verstärkt. Gesetzte Ziele, eingeschlagene Wege und deren Folgen müssen also wiederum Gegenstand einer „politischen Soziologie des Sozialstaats“ (Lessenich 2012, S. 58) sein, um ihn als „Wirkungs- und Sinnzusammenhang“ (ebd.) verstehen zu können. Im Folgenden soll daher zunächst ein Schritt zurück aus der Empirie in die Theoriebildung vorgenommen werden. Es interessiert hier die Frage, ob und wie Sozialpolitik als strukturierende Struktur in einem Kohäsion stiftenden Modell beschrieben werden kann.

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Sozialpolitik als Kohäsionspolitik – ein Kohärenzmodell

Damit Sozialpolitik zu einer Kohäsionspolitik werden kann, zu einer Gestaltungsmacht, die individuelle Freiheit ebenso fördert wie gesellschaftlichen Zusammenhalt, ist es sinnvoll, die Aufgaben der Sozialpolitik in einem theoretischen Modell von Kohäsion zu verankern. Dabei wird der Akzent leicht verschoben, denn im Unterschied zur Begrifflichkeit der Herausgeber_innen soll in diesem strukturellen Betrachtungswinkel von Kohärenz statt von Kohäsion gesprochen werden. Beide Begriffe leiten sich zwar vom lateinischen Verb cohaerere für zusammenhängen ab und bezeichnen daher den Gegenstand des Zusammenhangs, der Verbundenheit oder des Zusammenhalts. Doch legt der Begriff Kohäsion mit dem Suffix -ion, das eine Abstraktion einer fortgesetzten Handlung bezeichnet (canoo.net), den Schwerpunkt auf Prozesse der Herstellung eines solchen Zusammenhangs. Für das Anliegen der

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Kohäsionsforschung, die den Zusammenhalt von Gesellschaften in Wandlungsprozessen als einen immer wieder neu zu Findenden versteht (vgl. Hochschule Landshut 2016), ist die Begriffswahl nachvollziehbar. Das Suffix -enz in Kohärenz bezeichnet dagegen einen aus dem zugrundeliegenden Verb abgeleiteten Zustand oder eine Eigenschaft. Für seine Verwendung spricht, dass die empirisch gegebene Gestalt einer sozialpolitisch geformten gesellschaftlichen Ordnung zu einem konkreten historisch und kulturell spezifischen Zeitraum analysiert und auf ihre Potenziale für die Sicherung von Kohärenz als Zustand beurteilt werden kann. Aus der Fragestellung einer Krise der Sinnstiftung heraus ist das Model ursprünglich entwickelt worden, um Quellen der Inkohärenz als Krisenursachen der gegenwärtigen Arrangements sichtbar zu machen (Fischer 2009, S. 310ff.). Wie ist also gesellschaftliche Kohärenz zu beschreiben und was muss demnach eine Kohärenz stiftende Sozialpolitik leisten? Unter Kohärenz auf gesellschaftlicher Ebene ist ganz allgemein der Zustand zu verstehen, in dem einer Gesellschaft ihre Reproduktion gelingt. Grundsätzlich argumentiert, Oevermann (1995) folgend, muss jede Gemeinschaft zu ihrem Erhalt und ihrer Weiterentwicklung Handlungsprobleme in dreifacher Hinsicht lösen. Gesorgt werden muss für die sexuelle, soziale und materielle Reproduktion des Gemeinwesens. Es muss also Nachwuchs gezeugt, gepflegt und sozialisiert werden. Für den sozialen Zusammenhalt bedarf es einer sittlichen Gegenseitigkeit als Fundament für solidarisches Handeln. Und schließlich müssen aus materieller Sicht die notwendigen Lebensgrundlagen gesichert werden wie hinreichend Nahrung, Obdach, Kleidung und weitere, auch immaterielle Güter. Diese Aufgaben lassen sich nun auf unterschiedliche Weise bewältigen. In der Moderne haben sich dafür die Sphären der Familie, des staatlichen Gemeinwesens und der Erwerbsarbeit herausgebildet. Ihrerseits weisen sie jeweils eine hohe Wandlungsdynamik auf. So haben sich Familienformen in den letzten Jahrzehnten vervielfältigt, Solidaritätsformen zeigen veränderte Strukturen und in mancher Hinsicht geschwächte Bindungskraft, Spaltungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen sind wiederum nicht unabhängig von prekarisierten Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen zu sehen. Im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ist mit dieser skizzierten Struktur noch keine Erklärung dafür gegeben, warum die Handlungsentscheidungen des Einzelnen diese dreifache Reproduktion zum Ergebnis haben. Verstehen lässt sich die – allerdings in ihren konkreten Formen immer krisenhafte – Bezugnahme über zwei sinngebende Strukturen: zum einen über den objektiven Sinn des Handelns und zum zweiten über ein normatives Verständnis von Sinn.

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Objektiven Sinn vermitteln Handlungen, denen regelhaft eine Bedeutung zukommt. Im Fall der genannten drei Bereiche ergibt sich ihre Wirkmächtigkeit aus der grundlegenden Funktion, die sie für die Aufrechterhaltung der Sozialität als Ganzer erfüllen. Wer sich um Kinder und Angehörige sorgt, wer Beiträge für das Gemeinwesen leistet, wer Leistungen auf dem Arbeitsmarkt erbringt, verrichtet letztlich Tätigkeiten, die von gesellschaftlicher Bedeutung sind. Die Erfahrung von Sinn ist also in der Lösung grundlegender Handlungsprobleme verankert. Die Handlungsimpulse und Muster der Entscheidungen des Individuums folgen – durchaus auf je eigenwillige Art und Weise – einer solchen Struktur der Sinnstiftung, weil ohne Erfahrung sinnhaften Handelns niemand leben kann. Das Erleben, über sich selbst hinaus Bedeutung für andere oder für etwas zu haben, gehört wie die Luft zum Atmen zu den basalen Überlebensnotwendigkeiten. Dieser Sachverhalt lässt sich soziologisch im Modell der Bewährungsdynamik (ebd.) theoretisch fundieren und empirisch belegen (z.B. Fischer 2009). Für die Erfahrung sinnhaften Handelns in diesem objektiven Verständnis ist eine normative Untermauerung der Übereinstimmung von individuellem Handlungsimpuls und gesellschaftlicher Notwendigkeit unabdingbar. Die Gewissheit, dass die Art und Weise, in der der Einzelne seinen Beitrag zu den gesellschaftlichen Bereichen bringt, auch auf Akzeptanz stößt, ist nicht nur vom sachhaltigen Gelingen abhängig, sondern auch von der Anerkennung durch signifikante oder generalisierte Andere. Mit andern Worten: Auch wenn eine Handlung objektiv zur Weiterentwicklung der Gesellschaft beiträgt, ist die Sinnstiftung kaum spürbar, solange das übergeordnete Kollektiv (von der Familie bis zur nationalen Vergemeinschaftung) die Tätigkeit nicht prämiert. Nur Avantgardisten, Pioniere einer Werteordnung von morgen halten habituell das Ausbleiben von Anerkennung auf Dauer aus. Und auch sie vergewissern sich meist in Gruppen von Gleichgesinnten ihres Weges. Die Funktion der normativen Versicherung der Richtigkeit des eigenen Tuns und Lassens erfüllt die jeweilige Anerkennungsordnung einer gegebenen Vergemeinschaftung. Sie transportiert einen oder auch mehrere Bewährungsmythen. Diese wirken nicht nur als kollektive Gewissheiten, also Deutungsmuster im Sinne Oevermanns (2001) handlungsleitend, sondern sie umfassen – und das ist entscheidend für die Überlegungen in diesem Beitrag – auch Überzeugungen, die in Regelwerken wie die Sozialgesetzgebung eingeschrieben sind. Hier finden politische Entscheidungen ihren Niederschlag und führen zur Ausgestaltung von Institutionen wie zum Beispiel die Behörden der Arbeitsförderung, die Infrastruktur von Kinderbetreuung und Bildung sowie ökonomische und Arbeitsmarktregulationen.

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Diese theoretische Herleitung führt zu einer Fassung von Kohärenz, die sich als Übereinstimmung der Handlungsimpulse des Individuums mit den grundlegend zu lösenden Handlungsproblemen der Gemeinschaft darstellen lässt und an deren Gelingen wesentlich eine dazu in Passung stehende Anerkennungsordnung beteiligt ist, wie folgende Abbildung zu veranschaulichen versucht.

Abb. 1: Ebenen gesellschaftlicher Kohärenz und Quellen für Kohärenzkrisen

Die Kohärenz kann nun an mehreren Stellen gestört sein und zu gesellschaftlichen Krisen führen. Solche Inkohärenzen zu beseitigen ist im Idealfall Ziel sozialpolitischer Regulation, so dass sich Widersprüche sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene aufheben lassen. Um im Rahmen dieser sozialpolitisch fokussierten Betrachtung nur zwei typische Krisenbereiche zu nennen 1: Die Anerkennungsordnung kann in Widerspruch stehen zu Handlungs- und Deutungsmustern. So kann zum Beispiel eine auf Fürsorge ausgerichtete Biografie an die Grenzen der Anerkennung und auch der sozialen Sicherung stoßen, wenn Richtung und Gegenstand der Selbstverwirklichung nicht den kollektiv verankerten Normen eines erwerbszentrierten Lebensentwurfs entspricht. Die Anerkennungsordnung kann in Konflikt geraten mit den Reproduktionserfordernissen. Wenn die drei genannten Bereiche gleiche Wertigkeit besitzen für die Weiterentwicklung der Gemeinschaft, dann müsste Sozialpolitik auch die Gleichwertigkeit der Tätigkeiten berücksichtigen. Krisenhaft wäre etwa eine Wohlfahrtssicherung, die Anrechte allein aus Erwerbsarbeit ableitet und dabei von Tätigkeiten für Familien oder das Gemeinwesen abstrahiert. 1

Vgl. für ein ausführlicheres Modell, das auch den Prozess der Ausbildung von Deutungs- und Handlungsmustern einbezieht sowie die Auswirkungen von Widersprüchen innerhalb des Normengefüges der Anerkennungsordnung auf die – oft mit Zerrissenheit verbundenen – inneren Konflikte der Individuen Fischer (2009: S 310ff.) sowie die Herleitung der Inkohärenzen aus biografischen Analysen (ebd., S. 83ff.).

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Krisenhafte Folgen beider Inkohärenzen können auf Ebene des Individuums Benachteiligungen in der sozialen Sicherung sein, sinkendes Vertrauen in staatliche Institutionen und eine nachlassende Bindung an das Gemeinwesen. Gesellschaftlich drohen nicht nur Entsolidarisierungs- und Radikalisierungstendenzen, sondern Unvereinbarkeiten können auch sinkende Geburtenraten nach sich ziehen oder einen Rückzug aus zivilgesellschaftlichem Engagement. Zusätzlich zu diesen systematischen Quellen für Inkohärenz ergeben sich weitere Krisenanlässe durch den sozialen Wandel. In Veränderungen der Familienformen und geschlechterbezogener Aufgabenverteilung zeigen sich bisherige Deutungsmuster und Handlungsroutinen als nicht mehr akzeptiert und daher auch nicht mehr funktionsfähig, wie etwa die traditionelle Trennung von Fürsorge- und Berufsleistung auf Frauen und Männer. Das gleiche gilt für veränderte Formen sozialen Engagements und prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Wenn trotz Bemühen um Arbeit für bestimmte Personengruppen kein (ausreichendes) Erwerbseinkommen zu erzielen ist, wenn trotz Ausbau der Kinderbetreuung Alleinerziehende kaum Chancen auf eine ihren Qualifikationen und Interessen entsprechende Erwerbsarbeit haben, wenn ehrenamtliches oder bürgerschaftliches Engagement nicht aufgenommen werden kann, weil die berufliche Arbeit keine Zeit, Kraft und Muße dazu lässt, ist Sozialpolitik aufgefordert, den neuen Problemlagen entsprechende Lösungen zu entwickeln. Dazu müssen auch solche Gewissheiten aufgegeben werden, die bisher zu kohärenten Lösungen geführt haben, aber den neuen Problemlagen nicht mehr entsprechen. Wie gut die jetzige Ausrichtung der Sozialpolitik die gesellschaftliche Kohärenz sichert, soll im Folgenden konkret untersucht werden anhand des Umgangs mit den Schwächsten, mit denjenigen, die deshalb hilfebedürftig sind, weil sie dem Normalmodell der Einkommenssicherung durch eigenständiges Erwerbseinkommen aus den unterschiedlichsten Gründen nicht nachkommen können. Was leistet also das novellierte SGB II mit der Grundsicherung für Arbeitssuchende für die Kohäsion?

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Das Ziel der Hartz-Reformen war es, Arbeitslosigkeit dauerhaft zu senken. Damit sollten mehrere Kohärenzprobleme beseitigt werden. Zum einen sollte Vollbeschäftigung zu einer vollständigen Integration der arbeitsfähigen Bevölkerung in den Arbeitsmarkt führen. Diese Arbeitsmarktintegration wurde gleichgesetzt mit einer gesellschaftlichen Integration. 2 Durch Beteiligung potenziell aller am Arbeitsmarkt lässt sich zum anderen der Mechanismus der Sozialversicherung aufrechterhalten. Das gilt sowohl auf Ebene der individuellen Absicherung in den Schicksalsfällen wie Krankheit, Pflegebedürftigkeit, kurzeitige Arbeitslosigkeit, Alter oder Unfall als auch auf Ebene gemeinschaftlicher Funktionssicherung und Finanzierbarkeit des Sozialversicherungssystems. Es stellt den Versuch dar, die günstigen Bedingungen der Prosperitätsspirale der Nachkriegszeit wieder herzustellen. Der Weg der konkreten Umsetzung führte über die Zusammenlegung der früheren Sozialhilfe mit der Arbeitslosenhilfe. Beide Zahlungen hatten eine andere Wirkrichtung als das heutige ALG II. Die Sozialhilfe wurde im Wesentlichen unabhängig von der Bereitschaft zur Erwerbsarbeit gewährt, und die Arbeitslosenhilfe orientierte sich in ihrer Höhe am vorhergehenden Erwerbseinkommen und versuchte in gewissem Rahmen den Lebensstandard aufrecht zu erhalten. Das durch die Zusammenlegung entstandene ALG II stellt einen Minimalbetrag an Existenzsicherung dar und ist bis auf wenige Ausnahmen an die Bedingung der Arbeitsbereitschaft gebunden. Sein genauerer Charakter lässt sich im Gesetzestext erkennen. So zeigt die Formulierung der Ziele und Funktionen in § 1 der „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ eine Ausrichtung auf die Stärkung der Eigenverantwortung im Sinne einer Re-Integration in den Arbeitsmarkt. Höchster Zweck der Grundsicherung sei es, die Hilfebedürftigkeit zu beenden. Insofern sind mit der Grundsicherung auch nicht nur eine finanzielle Zahlung (das ALG II) verbunden, sondern in erster Linie Maßnahmen zur Eingliederung in Erwerbsarbeit. Was unter „Eigenverantwortung“ verstanden wird, gibt der Gesetzgeber mit dem Ziel einer Arbeitsaufnahme vor (vgl. auch Behrend 2008, S. 17). Die gesetzlichen Vorgaben einer anerkannten Lebensweise werden im Sanktionsparagrafen (§ 31) noch deutlicher. Weigert sich ein Hilfebedürftiger festgelegte Pflichten – wie eine bestimmte Anzahl von monatlichen Bewerbungen – zu 2

Nicht nur im SGB II, sondern auch in anderen Sozialgesetzbüchern wie etwa im SGB IX „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ ist dieses Leitbild dominant, wenn als Zweck der Leistungen die Vermeidung der Einschränkung der Erwerbsfähigkeit und die Teilhabe am Arbeitsleben (§ 4 (1) Satz 2, 3) vorrangig benannt werden.

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erfüllen, droht eine Kürzung der Leistungen um in der Regel 30 % (der 416 Euro, Stand 2018) für drei Monate. Zu weiteren Pflichten zählen die Aufnahme von Arbeit, Ausbildung oder früher als 1-Euro Jobs bezeichneten Arbeitsgelegenheiten sowie Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit. Verschärft wurden auch die Zumutbarkeitsregelungen (§ 10) zur Arbeitsaufnahme etwa für Eltern von Kindern im Alter über drei Jahren, durch die Vergrößerung der für vertretbar gehaltenen Entfernungen zwischen Wohnort und Arbeitsstelle oder die zu akzeptierende Differenz zwischen der eigenen Qualifikation und dem Tätigkeitsniveau der neuen Stelle. Und schließlich werden finanzielle Einkünfte zusammenlebender Personen in einer Bedarfsgemeinschaft aufeinander angerechnet, so dass die proklamierte Eigenverantwortung nur für die Seite der Arbeitsleistung gilt, die ein jeder und eine jede zu erbringen hat, nicht aber führt sie zu individuellen Rechtsansprüchen auf Grundsicherungsleistungen. Zu erkennen ist an diesen Regelungen, dass der Fokus der Sozialpolitik auf Beschäftigungspolitik gelegt wird und die Klient_innen sich durch Anstrengungen einer Arbeitsaufnahme als würdig erweisen müssen, um die finanziellen Leistungen zu erhalten. Zum Ausdruck kommt zudem grundlegendes Misstrauen, das Hilfebedürftigen entgegen gebracht wird, sowie die Erwerbszentrierung der Sozialpolitik, die im Zweifelsfall mit Kontrollen und Zwang durchgesetzt werden soll. Auf Grundlage des skizzierten Kohärenz-Modells lassen sich nun diese Leitvorstellungen und gesetzlich verankerten Deutungsmuster beurteilen. Hier treten mehrere Inkohärenzen hervor. Gesellschaftliche Integration allein auf die Erwerbsarbeit zu beziehen, widerspricht ihrer Wertigkeit als eine unter drei zu bewältigenden gesellschaftlichen Aufgabenbereichen. Wenn Gesellschaft begriffen wird als Sozialität, die als Ganze erhalten und fortentwickelt werden soll, liegt hier eine systematische Verengung vor. Dass diese Interpretation eine historische Vorgeschichte hat, die unter anderem in der Reformation und der sich im Anschluss herausbildenden protestantischen Ethik wurzelt, widerlegt den systematischen Irrtum nicht, sondern kann nur dessen Hartnäckigkeit erklären (vgl. Fischer 2009, S. 33f.). Mit der Verengung des Integrationsgedankens und der sozialpolitischen Ausrichtung wird auch die Kohärenz zwischen Anerkennungsordnung und der Reproduktionserfordernis gestört. Wertgeschätzt werden demnach erwerbszentrierte Biografien. Lebensentwürfen, die sich anderen Zielen widmen, wird die Anerkennung insofern vorenthalten, dass sie keine Berechtigung auf Existenzsicherung erwerben. Die Ausdeutung eines würdevollen Lebens, wie es das Grundgesetz in Artikel 1 festschreibt, gilt demnach nur für Arbeitssuchende. Einer Sicherung auch der familiären und gemeinwohlbezogenen Tätigkeiten steht diese Verengung entgegen.

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Zudem lassen sich auch Zweifel und Kritik an der Zielformulierung festmachen, denn das Vollbeschäftigungsziel ist offensichtlich nur unter negativen Bedingungen zu erreichen. Angesicht des technologischen Wandels (Stichwort Industrie 4.0) werden zahlreiche Arbeitsplätze rationalisierbar. Die verbleibende notwendige Arbeit lässt sich zwar per Regulation auch verteilen auf viele Erwerbpersonen, aber der Zweck und Sinn eines solchen Vorgehens kann bezweifelt werden. Die gegenwärtige Prekarisierungstendenz durch den Versuch, Ermittlungserfolge zu erzielen durch eine Arbeitsaufnahme um jeden Preis wurde oben schon erwähnt (Kapitel 1). Hier wirft also die Sicherung der materiellen Reproduktion Fragen auf. Doch nicht nur systematisch wirkt die Leitidee des Aktivierungsansatzes krisenhaft, sondern auch die konkrete Umsetzung zeigt Quellen von Inkohärenz. Die sozialen Folgen sind inzwischen ausführlich erforscht. Unsere eigene Studie (Fischer 2016) zur Handlungslogik in Jobcentern und den Folgen von Sanktionen sowie der aktivierenden Ausrichtung der Sozialpolitik bestätigt dabei drastisch die auch von z.B. Ludwig-Meyerhofer u.a. (2007) dargelegten Handlungsdilemma der Arbeitsvermittler, die unter den gegebenen organisatorischen und normativen Vorgaben zu unprofessionellem Handeln führen. Auch der „Zwangskontext“, als den Kolbe (2012) die Sozialverwaltung charakterisiert, findet sich in unseren Ergebnissen wieder. De-autonomisierende und entwürdigende Praktiken werden durch die Aktivierungsprogrammatik systematisch angelegt. Insbesondere die Sanktionen als Kernstück des Aktivierungsgedankens sind inzwischen als verheerend belegt worden. Zwar haben sie die Eingliederung in Arbeit erhöht, so resümiert etwa eine Überblicksstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung (vgl. Ehrentraut et al. 2014), jedoch unter erheblichen, negativen Nebenfolgen wie kriminelle Beschaffungen von Geld und Waren, sowie gesundheitliche Beeinträchtigungen und familiäre sowie psychischen Belastungen (ebd., S. 34f.). Auch die Qualität der unter Sanktionsandrohung aufgenommenen Arbeit sei gesunken, da häufig in befristete, unterqualifizierte und geringer entlohnte Tätigkeiten vermittelt werde. Unsere Analysen von Interviews in Jobcentern und zum ‚Geist‘ der Arbeitsförderung zeigen weitere krisenhafte Wirkungen sowohl auf der Ebene der konkreten Interaktion als auch auf Ebene der Organisation und schließlich programmatisch als konkreter Ausdruck der Anerkennungsordnung (vgl. auch Fischer 2016). Professionelles Handeln der Beschäftigten in den Jobcentern muss sich gegen das Aktivierungsprogramm durchsetzen. Es wird gehindert durch betriebswirtschaftliches Kennzahlenmanagement z.B. bezogen auf Vermittlungs- und Sankti-

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onszahlen. Zudem befördern standardisierte Abläufe formallogisches statt fallbezogenes, den_die Klient_in ernst nehmendes Vorgehen. Neben den fachlichen Kompetenzen bedarf professionelles Handeln einer empathischen Haltung den Klient_innen gegenüber und einer mutigen Haltung der Behörde gegenüber, um eine eigene Interpretation des Aktivierungsauftrags durchzuhalten und eigene Handlungsspielräume auch jenseits formallogischer Verwaltungsregeln zu nutzen. Eigene Lebensvorstellungen der Klient_innen werden entwertet und führen zu Autonomieverlust. Exemplarische Fälle zeigen, dass jemand, der Widerstand gegen rein formales, aber inhaltlich nicht passendes Erfüllen von Vorgaben zeigt, wie z.B. Anzahl und Art der in der Eingliederungsvereinbarung festgelegten Bewerbungen, eine Sanktion erhält. Demgegenüber kann jemand eine Sanktion vermeiden, der den formalen Vorgaben ohne inhaltliche Ansprüche nachkommt. „Subversiver Gehorsam“ wird hier prämiert statt Eigeninitiative. Sanktionen, auch ihre Androhung erzielen nicht die gewünschte Wirkung. Je nach Fallcharakter de-motivieren sie, beleidigen den vorhandenen Arbeitsethos, führen zu Stress bei physisch oder psychisch Beeinträchtigten oder steigern Aggressionen. Handlungsspielräume in den Jobcentern sind vorhanden, aber begrenzt. Dabei spielen nicht nur finanziell reduzierte Mittel für bewährte Programme der Aus- und Weiterbildung oder anderer Maßnahmen eine Rolle. Sondern begrenzend wirkt vor allem das dominante Deutungsmuster, welches den Verbleib in der Langzeitarbeitslosigkeit den Betroffenen selbst zurechnet, wie es sich sogar bei empathischen Leitungspersonen findet. Institutioneller Zynismus antwortet auf ein Strukturproblem. Verdinglichende, zynische und abfällige Redeweisen über die Hilfebedürftigen oder auch missachtende Umgangsformen zeugen von erheblichem Legitimationsdruck, unter dem die Beschäftigten der Jobcenter stehen. Sie korrespondieren mit dem ‚Geist‘ der Arbeitsförderung, wie er etwa in Konzeptionspapieren der Arbeitsagentur zum Ausdruck kommt. Hier wird z.B. im bundesweit eingesetzten Beratungskonzept deutlich, dass die Klient_innen nicht als Expert_innen ihrer Lebenspraxis gesehen werden, sondern ihre eigenen Zukunftsvorstellungen für qualitativ minderwertig gehalten werden und an die institutionell vorgesehenen Zielvorgaben adaptiert werden müssten. Sanktionen – so lässt sich zusammenfassen – sind in jeder Hinsicht Ausdruck eines Scheiterns. Auf der Ebene der sozialrechtlichen Konzeption stehen sie im Widerspruch zwischen dem erwerbsförmigen Beschäftigungsgebot und sinkenden Bedarf an menschlicher Arbeitskraft mit nicht passendem Qualifikationsprofil. Zudem widerspricht der Kontrollgedanke sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen zu förderlichen Handlungsimpulsen und gelingenden Formen der Ermutigung. Im

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Behördenkontext werden Sanktionen und ihre Begründungslogik zu einer Waffe, die sich gegen die Beschäftigten selbst richtet, weil sie Zwänge im System verankert. Und für die Betroffenen entziehen sie dem Beratungsverhältnis Glaubwürdigkeit und den Eingliederungsentscheidungen Sinnhaftigkeit. Der Blick in die Empirie verdeutlicht das Ausmaß der Kohärenzstörungen in der gegenwärtigen Ausrichtung der Sozialpolitik in einem sehr existenziellen Gebiet der Grundsicherung. So stellt sich abschließend die Frage, ob es kein geeigneteres Sozialsystem gäbe als das inkohärente aktuelle System.

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Ausblick: Mehr Kohärenz mit einem BGE?

Gemessen an den Kohärenzkriterien einer langfristigen Sicherung der gesellschaftlichen Reproduktion in ihrer dreifachen Weise könnte der Vorschlag eines Bedingungslosen Grundeinkommens eine interessante sozialpolitische Alternative darstellen. Das Grundeinkommen ist ein monatlicher Betrag, den jede und jeder ohne Bedingungen erhält, ohne dass ein Bedarf besteht und ohne dass eine Gegenleistung erbracht werden muss. Er wird überwiesen ohne Überprüfung der eigenen Einkommensverhältnisse oder sonstige Nachweise von Aktivitäten. Weder muss man bürgerschaftliches Engagement vorweisen, noch die Pflege von Angehörigen oder Versuche, Arbeit zu finden. Auch Kinder und alte Menschen erhalten es, genauso wie Reiche. Das Grundeinkommen soll so hoch sein, dass der Lebensunterhalt gesichert und soziale Teilhabe möglich ist. So ein Einkommen ohne Vorleistungen und ohne Bedarf stellt das Gegenteil dar zum Leistungsprinzip des aktuellen Sozialsystems. Dieser Kurswechsel lässt sich mit drei Überzeugungen begründen. Ein Bedingungsloses Grundeinkommen ist demnach: 1.

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Gerecht, weil der gegenwärtige Wohlstand auf die Leistungen aller zurückgeht, zum einen der vorangegangenen Generationen, zum anderen auf Tätigkeiten in allen Bereichen auch außerhalb des Arbeitsmarktes. Daher haben alle das gleiche Recht auf einen Anteil daran. Sinnvoll, weil es die Freiheit des Einzelnen stärkt und eine neue Kultur der Anerkennung aller gesellschaftlich notwendigen Bereiche schafft. Damit werden wichtige Tätigkeiten außerhalb des Arbeitsmarktes aufgewertet wie die Sorge für Familien oder für das Gemeinwesen; demokratische Teilhabe wird somit gefördert.

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Machbar, weil bei vorhandener Produktivität hinreichend Wohlstand erzeugt wird, dass es finanzierbar ist. Die Entkopplung von Arbeit und Einkommen entspricht genau der längst eingetretenen Entkopplung von menschlicher Arbeitsleistung und produzierten Werten. Ein BGE erzeugt strukturell ein Gleichgewicht zwischen den gesellschaftlich notwendigen Handlungsfeldern, weil es Einkommen unabhängig von eigener Erwerbsarbeit sichert. Das BGE hat nicht den Charakter, Lohn für Leistung zu sein, für eine gezeigte Anstrengung, sondern es ist Voraussetzung für Tätigkeiten aller Art. Damit wird die Bedeutung der Erwerbsarbeit auf das Maß zurück geschraubt, das ihrer Bedeutung im Kohärenzmodell entspricht. Die Bedingungen für die Sicherung der dreifachen Reproduktion werden günstiger. Es beschreibt damit eine neue Anerkennungsordnung, indem es eine Wertschätzung der individuellen Lebensführung und aller gesellschaftlich notwendigen Bereiche zum Ausdruck bringt. Es diskriminiert nicht mehr diejenigen, die sich zu familiären oder gemeinwohlbezogenen Tätigkeiten hingezogen fühlen. Unbezahlte Tätigkeiten werden dadurch aufgewertet auf der Basis einer gesicherten Existenz, vielfältiges Engagement findet Anerkennung. Mit dem BGE geht ein Vertrauensvorschuss einher, der Solidarität fördert. So utopisch wie es klingt und so berechtigt manche Kritik oder Befürchtung ist, unter dem Maßstab eines kohärenten Sozialsystems erscheint es in beiden oben skizzierten Quellen für Inkohärenz überlegen: Individuelle Vorstellungen von einem sinnvollen Leben werden weniger in Widerspruch stehen zu einer BGE-basierten Kultur der Anerkennung als zu einer erwerbsgesellschaftlichen Konzeption (Inkohärenz a). Und der Konflikt zwischen der Anerkennungsordnung und der notwendigen dreifachen Reproduktion würde systematisch durch ihre Gleichstellung aufgehoben (Inkohärenz b). In einer Gemeinschaft, die solche Tätigkeiten wertschätzen kann, die dem Gemeinwohl zugutekommen, ohne über den Markt ökonomisch vermittelt zu sein, gelten Ehrenamt und Familienleistungen mehr als in einer erwerbzentrierten Gesellschaft. So könnte es sich insgesamt positiv auswirken auf die Sicherung des sozialen Zusammenhalts.

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Geschlechterverhältnisse im sozialen Wandel – Die Bedeutung von Care-Theorien für Soziale Arbeit Barbara Thiessen

Es überrascht nicht, dass Soziale Arbeit eine Profession ist, die von Krisen und gesellschaftlichen Transformationsprozessen profitiert. Sie verdankt ihre Begründung im ausgehenden 19. Jahrhundert den zugespitzten Notlagen und der aufgeworfenen ‚socialen Frage‘ der Industrialisierung. Auch der gegenwärtige neoliberale Umbruch zur globalisierten Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft geht mit einem enormen quantitativen Anstieg der Fachkräfte in der Sozialen Arbeit (Züchner/Cloos 2012) und qualitativem Ausbau einher und lässt auf das erhebliche Krisenpotenzial gesellschaftlicher Transformationen schließen. Susanne Maurer bezeichnet Soziale Arbeit gar als „Gedächtnis gesellschaftlicher Konflikte“ (2009) und bezieht diese Denkfigur neben Konzepten, Methoden und Verfahren auch auf die theoretischen und methodologischen Rahmungen Sozialer Arbeit (ebd., S. 169). Sie fordert dazu auf, den „Gedächtnisspeicher“ einer regelmäßigen Inspektion zu unterziehen, um Normalisierungs- und Depolitisierungsprozessen entgehen zu können (ebd.). In diesem Sinne möchte ich in meinem Beitrag den Blick, ausgehend von Beobachtungen der sich gegenwärtig zuspitzenden „crises of care“ (Phillips/Benner 1994), auf spezifische Auslassungen in theoretischen Konzepten Sozialer Arbeit richten, die sich auch in Methoden und Verfahren Sozialer Arbeit wiederfinden lassen. Da die Care-Krise vor allem auf der Spannung zwischen einerseits veränderten Erwerbsbedingungen, Wandel von Geschlechterverhältnissen, geschlechtsbezogenen Identitäten und steigender Vielfalt familialer Lebenslagen bei andererseits weitgehend beharrenden Institutionen und rechtlichen Regulierungen des Verhältnisses von Geschlecht – Familie – Erwerbsarbeit beruht, sollen in der hier folgenden Fahndung nach Anknüpfungspunkten in theoretischen Konzepten Sozialer Arbeit zu Care auch historische Rückblicke einbezogen werden. Care wird hier verstanden als die Gesamtheit der gesellschaftlich und individuell notwendigen Formen der Fürsorge und Pflege von Menschen inklusive der Tätigkeiten, die zur Wiederherstellung von Gesundheit, Arbeitskraft oder Leistungsfähigkeit notwendig sind. Hierzu zählen auch die vielfachen Formen des Sich-Kümmerns, die darüber hinausgehen: Beziehungsgestaltung, Erziehung, Pflege, nachbarschaftliche Unterstützung und Selbstsorge (Brückner 2010). Care© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 B. Thiessen et al. (Hrsg.), Sozialer Wandel und Kohäsion, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25765-1_6

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Tätigkeiten sind unbezahlt oder bezahlt, erfolgen in privaten Lebenszusammenhängen oder in Einrichtungen, sind bezogen auf Gesundheit, Erziehung, Betreuung, Pflege – kurz: die Sorge für andere, für das Gemeinwohl und als Basis die Sorge für sich selbst, Tag für Tag und in den Wechselfällen des Lebens. Care ist Zuwendung und Mitgefühl ebenso wie Mühe und Last. Cornelia Klinger (2013) hat dafür den Begriff der ‚Lebenssorge‘ geprägt. Margrit Brückner (2010, S. 43) verweist darauf, dass Care auch als eine „spezifische Zugangsweise zur Welt im Sinne einer alle Menschen einschließenden fürsorglichen Praxis“ verstanden werden kann. Die leitende These meines Beitrags ist: Soziale Arbeit birgt als „Gedächtnis sozialer Konflikte“ (Maurer 2009) vor allem im theoretischen und praktischen Wirken der Gründerinnen (Addams, Salomon und anderen) erhebliches Potenzial für die Analyse und Bewältigung aktueller carebezogener Krisendynamiken. Die genderkritische Soziale Arbeit befasst sich theoretisch und methodisch mit der Förderung individueller Eigenständigkeit vor dem Hintergrund von Angewiesenheit als menschliche Bedingtheit. Neben dem Blick auf strukturelle intersektionale Diskriminierung und Ausschlüsse werden Konzepte für geschlechtergerechte Rahmung von Angewiesenheit und Prekarität entwickelt. Wenn es also im Folgenden um das Verhältnis von Gender und Care, um vergeschlechtliche Praxen und Fürsorgetätigkeiten geht, ist damit die Frage verknüpft, wie Care in Ökonomie und Gesellschaft eingebunden ist und welche Bedeutung caretheoretische Ansätze in der Sozialen Arbeit als einem wesentlichen Handlungsfeld moderner Bildungs- und Wohlfahrtsstaaten zukommt. Im Folgenden werden zunächst aktuelle Phänomene der Care-Krise erläutert. Zweitens wird der Stand der Care-Debatte in der Genderforschung kurz referiert. Vor diesem Hintergrund wird eine – kursorische – Spurensuche entscheidender Denktraditionen in der europäischen Geistesgeschichte, der Kritischen Theorie und Theorien Sozialer Arbeit unternommen. Daraus lassen sich abschließend theoretische Lücken und praktische Handlungspotenziale formulieren.

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‚crises of care‘ – Was in der Sozialen Arbeit häufig übersehen wird…

Krisendiagnosen sind in Zeiten sozialen Wandels nahezu inflationär, allerdings werden nicht alle gleichermaßen thematisiert. Die Klimakrise ist bekannt, die Demokratiekrise auch, Wirtschafts- und Finanzkrisen führen bekanntlich die Hitlisten der Krisensemantiken an. Braucht es dazu noch eine Care-Krise, oder hängt

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sie gar damit zusammen? Im Kern geht es um weltweit zu beobachtende Schieflagen zwischen steigendem Bedarf an Care-Arbeit und zwar sowohl unbezahlt als auch bezahlt und einem nicht ausreichenden Angebot an qualitativ angemessener Care- oder Sorgearbeit (Knobloch 2013). Dieses mismatch ist auf das Engste verwoben mit dem generellen und in Deutschland besonders markanten sozialen Wandel von der Industriegesellschaft hin zur globalisierten und beschleunigten Dienstleistungs- und Wissensökonomie, der auch und wesentlich die Organisation von Gender und Care umfasst. Neue Erwerbsarbeitsmuster, pluralisierte Familienformen, veränderte Leitbilder von Mutter- und Vaterschaft, gewandelte verwandtschaftliche Versorgungsnetze, zunehmende Hochaltrigkeit sowie die Professionalisierung von bislang eher privat organisierten Tätigkeiten und Leistungen wie Kinderbetreuung und Kranken- oder Altenpflege bedingen eine Neuformierung von Care. Erwerbsarbeit – auf der einen Seite – findet zunehmend zeitlich und räumlich entgrenzt statt. Räumliche Mobilität, Intensivierung und überlange Arbeitszeiten nehmen zu (Böhm/Diewald 2012). Lebenslanges Lernen bietet neue Chancen, birgt aber auch Zumutungen. Hinzu kommt, dass veränderte Erwerbsarbeit mit ihren höheren Ansprüchen an Flexibilität, Mobilität und Arbeitsverdichtung immer weiter Zeiten von Familienleben, Erholung, Beziehungsgestaltung und Ehrenamt okkupiert und fragmentiert. Die Organisation von Care-Aufgaben – auf der anderen Seite – spiegelt jedoch noch ihre historische Entstehung im 19. Jahrhundert wider: Care wurde Frauen zugewiesen, abgewertet als ihre scheinbar natürliche Aufgabe, unsichtbar gemacht im privaten Raum der Familie oder unterfinanziert und semi-professionalisiert im sozialen Bereich organisiert. Aber inzwischen haben zahlreiche Veränderungen stattgefunden, erkennbar beispielsweise an der Zunahme von Frauen- und Müttererwerbstätigkeit, gestiegenen Bildungsansprüchen, veränderten Erwartungen an Beziehungsqualitäten, einer höheren Lebenserwartung, der steigenden Komplexität in der Gesundheitsversorgung, neuen Pflegeanforderungen und -bedarfen (Aulenbacher et al. 2014). Die Entkopplung weiblicher Lebensläufe von Care-Arbeit stellt eine historische Befreiung dar. Das heißt aber auch: Care bzw. die Sorge um Andere macht sich nicht (mehr) ‚von allein’, d.h. nicht mehr als weiblicher ‚Liebes-Dienst‘, der im unsichtbaren Privaten der Familie vorausgesetzt werden kann. Durch die erhöhte Frauen- und Müttererwerbsarbeit sind Care-Aufgaben in Familien neu zu verteilen: Erziehung von Kindern, Versorgung von Kranken und Pflegebedürftigen, Alltagsmanagement und Reinigung. Für die Analyse der gegenwärtigen Veränderungen ist es daher nötig – im Gegensatz zu den vielfachen medialen und politischen Krisensemantiken – neben

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den herausfordernden Aspekten auch die freiheitsgenerierenden und kreativen Potenziale der Neuformierungen von Care und Gender in den Blick zu nehmen. Die modernisierten Lebenspartnerschaften gehen einher mit mehr Rechten für Frauen und Kindern, Optionen auf eigene Lebensgestaltungen für beide Partner_innen, höheren Ansprüchen an Beziehungsqualität zu Partner_innen und Kindern. Damit wird aber auch beim Scheitern von Beziehungen öfter eine Trennung erwogen. Uneingelöste Partnerschaftlichkeit führt zu Beziehungsfrust, mehr Alleinerziehenden und Patchworkfamilien. Tatsächlich stellt der Widerspruch zwischen einhellig formulierter Partnerschaftlichkeit einerseits und praktizierter traditioneller Arbeitsteilung im Alltag andererseits eine wesentliche Klippe für moderne Paarbeziehungen dar. Geschlechtergerechtigkeit in der Familie gilt mittlerweile – vor allem in den gebildeten Mittelschichten – als selbstverständlich; die gelebte Praxis sieht aber genau dort zumeist anders aus. Das erste Kind gilt als Einfallstor einer Re-Traditionalisierung. Junge Männer haben den Wunsch nach aktiver oder involvierter Vaterschaft in ihren Identitäts- – mithin Männlichkeitskonzepten – verankert (Possinger 2013; Meuser 2014). Aber wenn das Kind da ist, verlängert sich die Arbeitszeit signifikant. Väter sind im Kreissaal anwesend und nehmen schon zu einem Drittel Väterzeit, allerdings ganz überwiegend nur zwei Monate, um danach beruflich durchzustarten (Peltz et al. 2017). Die Partnerinnen haben vermutlich einen wesentlichen Anteil an dieser geschlechterbezogenen Arbeitsteilung. Zu tief ist im aktuellen Weiblichkeitskonzept ‚Mutterliebe‘ eingeschrieben und die Vorstellung einer ‚natürlichen‘ Zuständigkeit (Villa/Thiessen 2009). Auch haben es Frauen zumeist versäumt bei der Berufswahl den Aspekt eines Familienlohns einzubeziehen. Das hat dann seinen Preis. Die Männer sind zwar am Wochenende und nach Feierabend deutlich aktiver mit ihren Kindern, aber die Hausarbeit übersehen sie ebenso wie ihre Väter. Hier zeigt sich ein wesentlicher Grund für Frust in Paarbeziehungen. Ungleiche Arbeitsteilung im Privaten stellt darüber hinaus ein wesentliches Gesundheitsrisiko für Mütter dar (Sperlich et al. 2011). Bemerkenswert ist, dass in unteren sozialen Milieus, in denen zwar eher noch traditionelle Geschlechterbilder zu finden sind, eine eher partnerschaftliche Arbeitsteilung im Familienalltag vorherrscht: Wenn beide in Schichtarbeit sind, müssen auch beide gleichermaßen zu Hause mit anpacken. Die meisten Familienernährerinnen finden sich ebenso eher in den unteren Einkommensgruppen: da wo eine Altenpflegerin mit zwei Kindern und einem erwerbslosen Partner erzwungenermaßen das Einkommen alleine stemmen muss (Klenner et al. 2012). Für alle Familien gilt jedoch: Erziehung ist anspruchsvoller und arbeitsintensiver geworden. Eltern sollen heute ihre Kinder für komplexe Anforderungen der Wissensgesellschaft und Arbeit 4.0 vorbereiten, sind zu Bildungscoaches geworden

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(Lange/Thiessen 2017). Eine Aufgabe, die immer noch in privater Verantwortung – mithin bei Müttern – liegt. Dies kommt einer Überforderung gleich, was sich auch daran zeigt, dass sich die Aufstiegsperspektiven von Kindern aus bildungsfernen Familien dramatisch verschlechtert haben (ebd.). Ein wesentliches Problem ist: Weder die aktuelle Organisation noch die Qualität von Care passen zu den veränderten gesellschaftlichen oder individuellen Bedingungen und Ansprüchen. Die Sorge für andere wird für die Betroffenen oft zur Zerreißprobe, und die hieraus entstehenden Folgen und Dilemmata sind individuell kaum mehr lösbar. Konstatiert werden kann daher eine umfassende Care-Krise, die von der aktuellen neoliberalen Politik verschärft wird. Das intonierte Leistungsprinzip lautet: Jeder/jede soll zunehmend auf sich gestellt die eigene Absicherung bewältigen. Zeit-Räume für private Care werden damit zum Risiko im Lebenslauf. Die Care-Krise wird auch im professionellen Bereich sichtbar. In den sozialpflegerischen Berufen ist Care immer noch Frauensache – unter männlicher Leitung (Rose/May 2014, S. 10ff.). Bemerkenswert ist eine Dynamik von zunehmenden professionellen Anforderungen und Kompetenzzuwächsen, einer Intensivierung und Verdichtung der Arbeit quer in den Bereichen der Erziehung, Pflege, Beratung und Betreuung. In der Öffentlichkeit breit diskutiert ist v.a. die Krise in den Pflegeberufen, die Zunahme an Bedarfen durch Hochaltrigkeit, Multimorbidität und steigender Operationstätigkeiten im Gesundheitssektor bei gleichbleibender personeller Pflegeausstattung. Fast ebenso bekannt sind die Probleme des Fachkräftemangels im Kita-Bereich nach dem erheblichen quantitativen Ausbau. Auch der Fachkräftemangel etwa in der Jugendhilfe wird öffentlich verhandelt. Weniger stark diskutiert wird der gestiegene qualitative Kompetenzbedarf etwa durch die paradigmatische Veränderung von der Betreuung von Kindern hin zu Bildungseinrichtungen mit individueller Förderung bei zunehmender Heterogenität der Kinder oder durch die Intensivierung Sozialer Arbeit im Kinderschutz, die mit vielfältigen Kooperationsbezügen und neuen Angebotsstrukturen einhergeht. Die veränderten professionellen Anforderungen in der Sozialen Arbeit scheinen sich bislang v.a. für negative mediale Aufmerksamkeit anzubieten. Die Medienberichterstattung über dramatisch verlaufene Kindeswohlfälle vor allem ab 2005 hatte – anders als häufig kolportiert – keinen Anstieg von Neonatiziden zur Ursache, sondern spiegelt vielmehr einen veränderten Blick auf gestiegene Ansprüche an familiale Versorgung und Kindeswohlsicherung wider (Tolasch 2016). Hervorgegangen ist aus diesen Skandalisierungen der neue Arbeitsbereich der Frühen Hilfen. Ebenso ausgeweitet wurden die Angebote ambulanter und stationärer Jugendhilfe, der Flüchtlings- und Integrationsarbeit (Thiessen/Borrmann 2018). Insgesamt zeigt sich, dass Soziale Arbeit nicht nur soziale Verwerfungen

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gesellschaftlicher Transformationen zu bearbeiten hat, ihr wachsen auch neue Aufgaben durch erhöhten und veränderten Qualifikationsbedarf in Wissensgesellschaften zu, die nicht mehr familial oder in traditionellen Bildungseinrichtungen geleistet werden können. Was kaum thematisiert wird sind neue Phänomene der Vermarktlichung von Care. Aulenbacher und Dammayr machen auf die „Rationalisierung des Sorgens und der Sorgearbeit“ (2014, S. 130) aufmerksam. Konzerne übernehmen Kliniken und Pflegeeinrichtungen, Rendite soll erwirtschaftet werden. Care wird in neuer Weise ökonomisiert und zum Markt, inklusive rationeller Organisation, Dokumentation und Qualitätsmanagements-Rhetorik sowie zunehmend dem Einsatz von Pflegerobotik. Aulenbacher nennt diese ambivalente Entwicklung zusammenfassend: ebenso eine Professionalisierung wie eine „McDonaldisierung“ von Care (ebd., S. 135). Zu befürchten ist tatsächlich, dass die Kommodifizierung von Care eher nicht einer Qualitäts- sondern vielmehr einer Renditesteigerung dienen soll. Auch im Bereich der Sozialen Arbeit zeigen sich diese Trends der Ökonomisierung. Es gibt immer mehr privat-gewerbliche Träger von der Ausbildung bis zu den Einrichtungen sozialer Dienste, eine Zunahme an Marktlogiken und Konkurrenzdruck bei der Vergabe von Betreuungsdienstleistungen durch die öffentliche Hand. Auch im privaten Haushalt hat fast unbemerkt eine Vermarktlichung stattgefunden: Aus den individuellen Notlagen der täglichen Vereinbarkeitsdilemmata ist ein Markt von ca. 4,5 Millionen Haushalten in Deutschland entstanden für zumeist irreguläre Arbeitsverhältnisse. Die Indienstnahme von Kindermädchen, AuPairs, Putzfrauen und Pflegerinnen ist eine immer selbstverständlichere Form der Entlastung von Care-Aufgaben in Familien der Mittelschichten. Weil die aus Polen, Ungarn, den Philippinen oder Rumänien stammenden care worker in ihren Familien wiederum andere Migrantinnen aus noch ärmeren Ländern oder auch Verwandte beschäftigen – hat sich eine global umspannende ‚care-chain‘ (Hochschild 2001) entwickelt. Diese geht einher mit einem care-drain in den jeweiligen Herkunftsländern – Stichworte sind „transnationale Mutterschaft“ und „skype mothering“ (Lutz/Pallenga 2012) – sowie Prekarisierung und Dequalifizierung der hier im Privaten Beschäftigten. Es wird geschätzt, dass ca. 100.000 Migrantinnen aus Osteuropa in deutschen Haushalten (zumeist illegal und prekarisiert) im Bereich der Versorgung Pflegebedürftiger tätig sind (Lutz 2009), mittlerweile dürfte sich diese Anzahl vervielfacht haben. Zumeist werden 24-Stunden-Pflegerinnen über Internetagenturen vermittelt, die Legalität vortäuschen. Durch die noch zunächst beibehaltene Schließung des deutschen Arbeitsmarktes nach der EU-Erweiterung im Jahr 2004 für die neuen Mitgliedsstaaten haben sich Formen der

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Leiharbeit etablieren können, die sich an der Grenze zur Illegalität bewegen (ermöglicht durch die Richtlinie für die Entsendung von Arbeitnehmer_innen 96/71/EG, (vgl. Lutz 2009). Die Konsequenzen für alle Beteiligten sind nicht zu unterschätzen: Die mangelnde Absicherung der Arbeitnehmerinnen, das rechtliche Risiko für die arbeitgebenden Haushalte sowie der entstehende wirtschaftliche Schaden durch Steuerausfälle und zukünftige Armutslagen im Alter aufgrund mangelnder eigener sozialer Sicherung der irregulär Beschäftigten (Kühl 2014). Zudem werden Prozesse wegen Lohnprellung, Nichteinhalten von Arbeitsabsprachen oder wegen sexueller Übergriffe, die nicht selten vorkommen, in der Regel nicht geführt (Lutz 2009). Care ist nicht nur ein Problem geschlechtsbezogener, sondern auch internationaler Arbeitsteilung – insbesondere zwischen Frauen geworden (Rerrich 2006; Thiessen 2004). Die Soziale Arbeit hat in diesem großen Feld der Beratung und Begleitung der care worker noch kaum Angebote geschaffen. Auch in den theoretischen Konzepten Sozialer Arbeit tauchen carebezogene Analysen und Rückgriffe auf die international breite und etablierte Care-Debatte nicht systematisch auf. Diese soll daher im nächsten Schritt kurz skizziert werden.

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Care: Begriffsklärung und Verortung in der (internationalen) Genderforschung

Die Forschung zu Fürsorge unter Einschluss einer kritischen Gender-Perspektive erfolgt inzwischen unter der Leitkategorie ‚Care’ (Davies 1995; Eckart/SenghaasKnobloch 2000; Tronto 2005; Brückner 2010; Klinger 2013). Menschen werden in der genderreflexiven Care-Forschung prinzipiell als gleichermaßen autonomieorientierte wie aufeinander angewiesene verstanden (Eckart 2000), so dass auch die Verletzbarkeit als menschliche Bedingtheit thematisiert wird (Butler 2003). Die Geschlechterforschung hat in diesem Zusammenhang besonders nachdrücklich und empirisch fundiert deutlich gemacht, dass Care lange als rein weibliche Sphäre und Qualität galt, was sich nicht nur kulturell oder symbolisch zeigt, sondern auch in institutionellen, juristischen und ökonomischen Dimensionen (Fraser 2001; Moser/Pinhard 2010). Unter dem Stichwort der „Reproduktionskrise“ (Aulenbacher 2013) wird in der Geschlechterforschung der Wandel der Trias Erwerbsarbeit, Sozialstaat und Familie pointiert verdichtet und darauf verwiesen, dass die bisherigen Antworten auf diesen Wandel überwiegend Verunsicherung und eine Prekarisierung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse hervorgebracht haben (Castel/Dörre 2009). Insofern sich gegenwärtig Ansprüche an Care nicht (mehr) ent-

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lang geschlechterbezogener Zuschreibungen legitimieren, und folglich immer weniger garantieren lassen, eröffnet die Forschung zu Gender und Care einen neuen Blick auf die vielschichtige und oftmals widersprüchliche Gestaltung der Für- und Selbstsorge (Klenner 2013). Eine kritische Gender-Perspektive zu Care bedeutet auch, dass Geschlecht nicht alltagsweltlich oder rein biologistisch als gegebenes Faktum verstanden wird. Vielmehr wird Gender als wirkmächtige, diskursive wie materielle und institutionell gerahmte, andauernde Konstruktion verstanden, die ihrerseits historisch und regional spezifisch ist (vgl. Lorber 1995; Villa 2012). Gleichzeitig werden in der Care-Debatte multidimensionale, also intersektionale Formen sozialer Ungleichheiten, in zum Teil neuer Weise, sichtbar: Nationale Zugehörigkeit, Geschlecht, Region, Bildungsgrad, Sexualität, Alter etc. prägen wesentlich die Art und Weise, in der Care organisiert, gedeutet, bewertet und konkret praktiziert wird. Daher brauchen sowohl die kritische Genderforschung als auch die Gleichstellungspolitik Diversity-Kategorien als Konkretisierung der Intersektionalitätsperspektive (Özbilgin et al. 2011; Grzanka 2014) im Feld von Care. Die internationale Care-Debatte hat einen zumindest 40-jährigen Vorlauf und zeigt im internationalen Vergleich den Bezug zu unterschiedlichen Wohlfahrtsregimen. Brückner hat diesen Zusammenhang im Hinblick auf unterschiedliche Entwicklungen für die USA, Skandinavien, Großbritannien und Deutschland aufgearbeitet (Brückner 2010). Bereits in den 1970er Jahren wurde im Kontext der Frauenbewegung – mit verschiedenen nationalen Schwerpunktsetzungen – Care im Zusammenhang der kritischen Analyse von Hausarbeit als Arbeit bezeichnet. Die dabei entwickelten Begriffe wie ‚Beziehungsarbeit‘ oder ‚Gefühlsarbeit‘ haben den Arbeitsbegriff nachhaltig erweitert. Als paradigmatisch gilt für Deutschland die Studie von Bock/Duden (1977): „Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit“. Die Ineinssetzung von Arbeit mit Erwerbsarbeit gilt seitdem als überholt (Jürgens 2012). Ebenso erweisen sich daraus resultierend die Konzepte von Öffentlichkeit und Privatheit neu, da Care beide Ebenen durchdringt (Rössler 2001). Aus der skandinavischen Debatte um Care resultiert die kritische Analyse personenbezogener sozialer Dienstleistungen und Arbeitsbedingungen von Frauen, die überwiegend die Beschäftigten (‚care giver‘) in den Care-Berufen stellen (Leira 1993). Hieraus entstanden eine Reihe europäisch vergleichender Studien, die deutlich gemacht haben, dass die je unterschiedlichen nationalen Traditionen von Geschlechtermustern und -verhältnissen mit den darin wurzelnden Wohlfahrtsregimen ursächlich zusammenhängen. Ausgehend von diesen Befunden wurden kritische Analysen zur sozialstaatlichen Absicherung von Care entwickelt und Care als Menschenrecht weiter politisch ausformuliert (Senghaas-Knobloch 2006; Gerhard/Klinger 2013). Aus dem US-amerikanischen Diskurs der Care-Debatte

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stammt der stärker sozialphilosophische Ansatz der Auseinandersetzung mit dem Spannungsverhältnis von Angewiesenheit und Autonomie (Butler 2001; Brückner 2010). Dabei wird Autonomie als Fiktion entlarvt und eine prinzipielle Abhängigkeit von Menschen untereinander, die jedoch im Lebenslauf variiert, festgestellt (Fraser/Gordon 1994; Nussbaum 2003). Zurückgewiesen wird damit auch die binäre Geschlechterkonstruktion einer abhängig gedachten Weiblichkeit gegenüber einem autonom gesetzten männlichen Subjekt. Ein weiterer Zweig der Care-Debatte entstammt den emanzipativen ‚Krüppelbewegungen’, die die Perspektive der ‚care user‘ oder ‚care receiver‘ einforderten und mit Ansprüchen nach sozialen Bürgerrechten verknüpften (Brückner 2011a). Zusammenfassend wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung Care als von allen Beteiligten gemeinsam gestaltete soziale Praxis verstanden, der jedoch signifikante Machtdifferenzen innewohnen (Conradi 2001). Daher sind Fragen von Gerechtigkeit und Partizipation schon immer in die genderkritische Care-Forschung einbezogen worden. Im Gegensatz zum deutschen Begriff der ‚Fürsorge‘, der historisch mit der nicht unproblematischen Geschichte der wohlfahrtsstaatlichen Fürsorge im 19. und 20. Jahrhundert, die auch mit repressiven Praxen bis hin zur Euthanasie einherging, belegt ist, wurzelt der Care-Begriff in der feministischen Kritik an der Feminisierung und Marginalisierung von Care-Arbeit.

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Sorgearbeit im Geschlechterverhältnis – folgenreiche Auslassungen in Kritischen Theorien und den Theorien Sozialer Arbeit

Welche Bedeutung kommt der Analyse geschlechtersegregierter Sorgearbeit in den Theorien Sozialer Arbeit zu? Hierzu muss zur Klärung der Positionierung von Care, Gender und Handlungsfähigkeit zunächst ein kurzer – sehr kursorischer – Rückblick auf geistes- und sozialwissenschaftlichen Theorietraditionen geworfen werden. Der von Descartes entwickelte Rationalismus setzt das Denken als aktiv und entgegengesetzt zur passiv angenommenen Natur. Das Subjekt, als handlungsund verantwortungsfähiges Ich, wird – körperlos imaginiert – im Verstand lokalisiert und gleichzeitig transzendiert: Der alles bezweifelnde Zweifel lässt nur noch das zweifelnde Ich als letzte (und erste) Gewissheit übrig (Hersch 1981). Damit liefert Descartes die entscheidende Voraussetzung für die Moderne: das Herauslösen des denkenden Subjekts aus dem Körper, aus den alltäglichen Bedürfnissen und Abhängigkeiten, aus der Welt und ihren Ressourcen, dafür ausgestattet mit dem Verstand, der die Gesetzmäßigkeiten der Natur ergründen und beherrschen

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soll. Das Subjekt wird Bürger und Träger eigener Rechte. Dies gilt jedoch nur für den „männlichen, westlichen Besitz- und Bildungsbürger“ (Klinger 2014, S. 22). Frauen, Sklaven und Besitzlose bleiben – naturrechtlich begründet – ausgeschlossen. Rousseau geht davon aus, „dass die Frau besonders dazu geschaffen ist, dem Mann zu gefallen (…) und sich zu unterwerfen“ (zitiert in: Schmid 1996, S. 329). Frau-sein wird identisch mit Da-sein für andere. Klinger pointiert: „Die Autonomie und Souveränität des Menschen als Subjekt basiert auf dem Ausschluss bestimmter Menschen vom Subjektstatus und zugleich auf der Ausbeutung ihrer lebenserhaltenden Arbeit“ (Klinger 2014, S. 23). Dieser systematische Webfehler der europäischen Moderne, nämlich der Spannung zwischen allgemeinen Freiheitsrechten und naturrechtlich begründetem Ausschluss von Frauen, erlaubt dem sich formierenden Kapitalismus Kontrolle und Zugriff auf jene Ressourcen, die er benötigt, aber nicht selbst herstellen kann, nämlich die Revitalisierung der Arbeitskraft durch häusliche Versorgungsleistungen (Becker-Schmidt 2014, S. 91). Care-Arbeit wird auf diese Weise zur Natur derjenigen, die sie erledigen, wird zur ‚Liebe‘ und aus dem Arbeitsbegriff eliminiert (Bock/Duden 1977). Gleichzeitig wird damit ein Menschenbild etabliert, dass die Angewiesenheit als conditio humana ebenso tilgt wie die Erinnerung, dass das eigene Leben sich der Fürsorgeleistung anderer verdankt (Noddings 1993). Natalität wird von Hannah Arendt (2002) als Voraussetzung für Subjektwerdung gesetzt, diese Erkenntnis bleibt jedoch folgenlos. Zudem verliert der Ökonomiebegriff im Kontext industrieller Warenproduktion die ursprüngliche Bedeutung von allgemeiner Bedürfnisbefriedigung – mithin Carebedürfnissen – sondern wird nur noch für die Analyse von Waren- und Geldtransfers genutzt (Prätorius 2015). Bemerkenswert ist, dass sich – bis heute – sowohl die klassische marxistische Kritik als auch die sich daraus weiter entwickelte Kritische Theorie Frankfurter Provenienz in ihrer Untersuchung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft mit ihren grundlegenden Herrschafts-und Unterdrückungsmechanismen als blind gegenüber dem Konnex von Hausarbeit und Mehrwertproduktion erwiesen hat. Erst die feministischen Theorien begründeten die Analyse der Vergesellschaftung entlang der Geschlechterlinien und erweiterten den Arbeitsbegriff auch auf fürsorgende Praxen (Bock/Duden 1977; zusammenfassend: Becker-Schmidt 2017 sowie Aulenbacher/Riegraf/Völker 2015). Bereits in der Kritik der politischen Ökonomie bleibt Marx die Antwort schuldig auf die Frage, „wie eine Gesellschaft generative und regenerative Prozesse in Gang hält“ (Becker-Schmidt 2014, S. 91). Auch in den neueren Theorien Sozialer Arbeit (Engelke/Borrmann/Spatscheck 2014) kommt der Analyse familialer Care als geschlechtliche Herrschaftsstruktur keine systematische Bedeutung zu. Dies ist in zweifacher Weise überraschend. Bezieht sich Soziale Arbeit erstens im Kern auf (misslungene)

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familiale Care, findet daher häufig im Raum des Privaten statt und erfordert auch in den bildungsbezogenen Feldern beziehungsorientierte Kompetenzen würden sich daher zweitens historisch eine Fülle von Anknüpfungspunkten finden lassen. Tatsächlich positionierten sich die Begründerinnen Sozialer Arbeit zumeist kritisch gegenüber kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen und sozialer Verelendung, deren Folgen sie in besonderer Weise als Mangel „an Fürsorge, an Pflege, an Erziehungsmaßnahmen“ (Salomon 1912, zitiert in: Schmidbaur 2010, S. 26) erkannten und als Ausgangspunkt Sozialer Arbeit setzten (vgl. auch Braches-Chyrek 2013). Geradezu kämpferisch kritisiert Salomon 1921 die kapitalistischen Auswüchse: „Wir sind alle unlöslich miteinander verbunden. Es gibt keinen Segen, der uns wirklich zueigen, solange nicht alle daran teil haben. Es gibt keine Not, die sich nicht an denen rächt, die sie unbeachtet lassen. Die furchtbaren Wohnungsmißstände, die durch die Gewinnsucht einzelner und die Gleichgültigkeit weiter Schichten entstanden sind, vergiften und verpesten die Luft in den Großstädten, in denen die Kinder der Armen und Reichen aufwachsen.“ (zitiert in Simmel-Joachim 1990, S. 49f.). Ihre empirischen Forschungsarbeiten widmen Salomon und Baum (1930) v.a. der Untersuchung prekärer familialer Care vor dem Hintergrund überlanger Arbeitszeiten, geringer Frauenlöhne und vielfältiger Familienformen. Ihr soziales Engagement und proklamierte Zuständigkeit für soziale Care-Arbeit verknüpfen viele Protagonistinnen der ersten Generationen von Sozialarbeiterinnen mit politischen Partizipationsforderungen (Dörner/Kinnebrock 2018). Diese sozial- und geschlechterkritischen Traditionen, die menschliche Bedürfnisse und Care-Praxen als analytischen Ausgangspunkt gesetzt haben und die noch in den frühen Theorien Sozialer Arbeit von Salomon, Addams u.a. wiederzufinden sind, werden im Prozess der Professionalisierung und Disziplinbildung Sozialer Arbeit in „unerschöpflichen Varianten“ unsichtbar gemacht (Staub-Bernasconi 2018, S. 84). Bestimmend werden ab den 1970er Jahren gesellschaftstheoretische Funktionsbestimmungen Sozialer Arbeit, die bis heute auch wesentlich für die theoretischen Konzepte der Kritischen Sozialen Arbeit (Anhorn/Bettinger 2005) sind. Ebenso erfolgt eine „Neutralisierung von Geschlecht in der Professionsdebatte“ (Ehlert 2010, S. 51) um „den Geruch des Privaten“ (Krüger 2003) abstreifen zu können und um einer vermeintlich größeren professionspolitischen Anerkennung willen. Hier wurde also die „Gedächtnisfunktion der Sozialen Arbeit“ (Maurer 2009, S. 169) erheblich eingeschränkt zulasten von grundlegendem Wissen für den Umgang mit Sorgekrisen im Kontext hierarchischer Geschlechterverhältnisse.

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Gender, Care und Soziale Arbeit: Theoretische Perspektiven und Handlungspotenziale

Was könnte eine systematische Berücksichtigung der Care-Debatte für Theorien, aber auch Handlungsansätze, in der Sozialen Arbeit bedeuten? Aus historischer Perspektive würde ein carebezogener Blick sowohl die bereits skizzierte binäre vergeschlechtlichte Zuordnung von Angewiesenheit und Autonomie als „Individualisierung der Männer auf der einen Seite und Familialisierung der Frauen auf der anderen Seite“ (Hark 2018, S. 38) als auch deren Brüchigkeit sichtbar werden. Gleichzeitig könnte der analytische und geschlechterkritische Blick auf das vielfältige und komplexe Geschehen in familialen Lebenslagen anknüpfen an die bedeutenden Studien der Begründerinnen Sozialer Arbeit. Auf theoretischer Ebene könnte das Konzept der reflektierten „Fürsorgerationalität“ (Waerness 2000) für den professionsbezogenen Umgang mit sozialen Problemen und Bildungsherausforderungen fruchtbar gemacht werden. Zugrunde liegt hier ein Verständnis von Care, das einerseits Relationalität zwischen ‚care giver‘ und ‚care receiver‘ voraussetzt im Sinne einer Berücksichtigung des Eigensinns und der Selbständigkeit der Fürsorgebedürftigen als auch der Fähigkeit der care giver, die „Dienstleistung und Hilfestellung so zu geben, daß die Fähigkeit des Empfängers, für sich selbst zu sorgen, nicht geschwächt“ wird (ebd., S. 55). Ebenso sind Grenzen der Normierungen und Standardisierungen von Care-Arbeit als auch notwendige Gestaltungsspielräume zu konzipieren. Darüber hinaus könnte Care als Leitkategorie eine Rekonzeptionalisierung von partizipativer Gestaltung des Gemeinwohls und demokratischer Mitbestimmung anregen. Tronto etwa versucht mit dem Konzept der „caring democracy“ (2013) Gesellschaft von Care-Bedarfen aus zu denken und damit das marxistische Produktionsparadigma zu verlassen. Aus ihrer Sicht bieten nämlich weder die Konzepte der politischen Ökonomie noch die liberalen Gerechtigkeitskonzepte den Rahmen, Gerechtigkeit ausgehend von der Organisation von Care zu gestalten. Care wäre damit „Herzstück des Sozialen“ und gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe (Brückner 2015, S. 30) zugleich. Daraus lassen sich vielfältige sozialpolitische Anregungen ableiten. Zentral wäre, Arbeit sowohl als Erwerbs- und herstellende Tätigkeit als auch als fürsorgende Praxis zu verstehen. Damit könnte ein postindustrieller Wohlfahrtsstaat gestaltet werden, der nicht mehr neoliberalen Gewinnmaximen unterliegt. Fraser hat bereits 2001 vorgeschlagen, die Lebensmuster derjenigen, die Sorgearbeit bislang schon in ihren Biografien einbeziehen, zur Norm für alle zu machen (Fraser 2001, S. 101). Dies sind bislang insbesondere – aber nicht nur – Frauen mit Erziehungs-

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und Pflegeverantwortung. Entsprechend müssten etwa Arbeitszeiten oder Rentenanwartschaften neu gestaltet werden. Diese „öffentliche Kultur des Sorgens“ (Brückner 2011b: S. 122) könnte sehr konkret im Sozialgesetzbuch I, § 1 verankert werden als das „Recht für andere zu sorgen und umsorgt zu werden“. Bislang noch eine Vision sind „atmende Lebensläufe“ (Jurczyk 2016), in denen über die gesamte Berufslaufbahn kürzere und längere (Teil-)Ausstiege möglich sind, die weder einkommens- noch rentenbezogen existenzbedrohende Lücken hinterlassen. Der zweite Gleichstellungsbericht (Sachverständigengutachten 2017) hat die Verknüpfung von Erwerbsarbeit und Sorgearbeit zentral gesetzt und schlägt ein „Erwerb-und-Sorge-Modell“ für alle vor (ebd., S. 45) an das angeknüpft werden kann. In der Praxis Sozialer Arbeit könnte eine weitere Entwertung der professionellen Kompetenzen zur Förderung der Alltagsversorgung und Beziehungsarbeit abgewendet werden (Thiessen/Borrmann 2018, S. 65), wenn nicht mehr ausschließlich die vermeintliche ‚employability‘ von Adressat_innen Sozialer Arbeit zentral gesetzt werden muss. Darüber hinaus ergeben sich neue Arbeitsfelder im Rahmen der lokalen Initiierung und Förderung von ‚caring communities‘ (Klie 2014, Thiessen 2015), also Räume für Care jenseits familialer oder verwandtschaftlicher Bezüge. Mit der Perspektive einer Caring Community können auch jenseits familialer Verpflichtungen verbindliche Sorgebeziehungen auf Zeit und in konkreten Sozialräumen gestaltet werden. Bislang existieren bereits Modelle für eine Neuverteilung von Care-Arbeit, wie Mentoringkonzepte für school drop outs, Leih-Omas und -Opas oder Mehr-Generationen-Häuser, wo Unterstützung und Sorgearbeit jenseits von Familien und jenseits traditioneller Geschlechterverweise angeboten werden kann. Hier lässt sich an eine Fülle von Modellen und praktischen Erfahrungen im Feld der ‚Community Care‘ (Schablon 2009) anknüpfen, Vorstellungen von Lebensführung in Verbindung mit sozialer Gerechtigkeit (Röh 2013), der Gemeinwesenarbeit (Staub-Bernasconi 2002, Stövesand 2007) und sozialraumorientierter Ansätze in der Sozialen Arbeit (Klöck 2001, Kessl/Reutlinger 2008), die für ‚caring communities‘ fruchtbar gemacht werden können. Die aktuelle Care-Krise macht deutlich, dass angemessene Care-Strukturen für alle die Grundlage eines guten Lebens sind. Dafür braucht es eine neue gesellschaftliche Kultur, in der die Sorge für sich und andere einen eigenständigen theoretischen und praxiswirksamen Stellenwert bekommt. Wenn es nicht gelingt, sozial und geschlechtergerechte Wege der Bereitstellung und Bezahlung wie auch der gesellschaftlichen Organisation von Care-Arbeit auf lokaler, nationaler und transnationaler Ebene zu entwickeln, werden soziale und ökonomische Ungleich-

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heiten verstärkt werden. Soziale Arbeit ist dafür historisch, theoretisch und methodisch gerüstet und könnte für den Transformationsprozess zur „caring democracy“ einen wesentlichen Beitrag leisten. Literatur Anhorn, R.; Bettinger, F. (Hrsg.) (2005): Sozialer Ausschluss und Soziale Arbeit. Positionsbestimmungen einer kritischen Theorie und Praxis Sozialer Arbeit. Wiesbaden: VS Springer. Arendt, H. (2002): Vita activa oder Vom tätigen Leben. München, Zürich: Piper. Arnlaug, L. (1993): The „Women-Friendly“ Welfare State? The Case of Norway and Sweden. In: Lewis, J. (Hrsg.): Women and social Policies in Europe. London: Edward Elger, S. 25-48 Aulenbacher, B. (2013): Ökonomie und Sorgearbeit. In: Appelt, E.; Aulenbacher, B.; Wetterer, A. (Hrsg.): Gesellschaft. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 105-126. Aulenbacher, B.; Dammayr, M. (Hrsg.) (2014): Für sich und andere sorgen. Krise und Zukunft von Care in der modernen Gesellschaft. Weinheim und Basel: Beltz Juventa. Aulenbacher, B.; Riegraf, B.; Völker, S. (2015): Feministische Kapitalismuskritik. Münster: Westfälisches Dampfboot. Becker-Schmidt, R. (2014): Abstraktionsprozesse in der kapitalistischen Ökonomie. Ausblendungen in der Selbstrepräsentation von Männlichkeit. Theoretische Dunkelfelder in der Kritik herrschender Care-Ökonomie. In: Aulenbacher, B.; Dammayr, M. (Hrsg.) (2014): Für sich und andere sorgen. Weinheim und Basel: Beltz Juventa, S. 89-105. Becker-Schmidt, R. (2017): Pendelbewegungen – Annäherungen an eine feministische Gesellschafts- und Subjekttheorie. Opladen: Budrich Bock, G.a; Duden, B. (1977): Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit: Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus. In: Tröger, A. (Hrsg.): Frauen und Wissenschaft: Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, 07/1976, Berlin, S. 118-199. Böhm, S.; Diewald, M. (2012): Auswirkungen belastender Arbeitsbedingungen auf die Qualität privater Lebensverhältnisse. In: WSI-Mitteilungen Nr. 2, S. 103-112 Braches-Chyrek, R. (2013): Jane Addams, Mary Richmond und Alice Salomon. Professionalisierung und Disziplinbildung Sozialer Arbeit. Opladen: Budrich. Brückner, M. (2010): Entwicklungen der Care Debatte. Wurzeln und Begrifflichkeiten. In: Apitzsch, U.; Schmidbaur, M. (Hrsg.): Care und Migration. Opladen: Budrich, S. 4358. Brückner, M. (2011a): Care – Sorgen als sozialpolitische Aufgabe und als soziale Praxis. In: Otto, H.; Thiersch, H. (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit. Reinhardt, S. 212-219.

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Diskursive Schauplätze Geschlecht und Sexualität – Zur Normalisierung von Gewalt Elisabeth Tuider

Imagine there's no countries It isn't hard to do Nothing to kill or die for And no religion, too Imagine all the people Living life in peace [...] I hope someday you will join us And the world will be as one („Imagine“, John Lennon 1971)

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Ambivalenzen und Imaginationen

In seiner oft wiedergespielten Imagination von einer friedvollen Welt besingt, ja beschwört John Lennon die grenzenlose Existenz jenseits von Besitz, Hunger und Religion. Diese Marker dienen nicht erst heute dazu, um in internationalen, wie auch nationalstaatlichen Kontexten, Gewalt, Krieg, Terror, Ungleichheiten sowie In- und Exklusionen herzustellen oder zu legitimieren. Entgegen dieser Imagination einer Welt „be as one“ (Lennon 1971) zeigen auch aktuelle Gesellschaftsanalysen mit Stichwörtern wie Prekarisierung, Fragmentierung und Polarisierung Gesellschaften in der Krise und im Umbruch auf. Analytisch wird eine in Hinblick auf Lebenslagen und Schicht „gespaltene Gesellschaft“ (Lessenich/Nullmeier 2006) und eine in globale Kontexte ausgelagerte Verarmung zugunsten des Reichtums in den Ländern des globalen Nordens als „Externalisierungsgesellschaft“ (Lessenich 2016) konstatiert, aber auch eine sich in migrantischen Milieus ausgebildete „Parallelgesellschaft“ (vgl. Heitmeyer 2003; kritisch: Bade 2004) unterstellt. Mehr denn je stellt sich also die Frage, was Gesellschaft heute zusammenhält, was also trotz aller Kontingenz- und Diversitätserfahrungen für Kohäsion sorgt. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 B. Thiessen et al. (Hrsg.), Sozialer Wandel und Kohäsion, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25765-1_7

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Elisabeth Tuider

Judith Butler (2010) hat – vor dem Hintergrund der in den Bush Regierungen begonnenen Kriege gegen Afghanistan und gegen den Irak – die Komplexität und Fragilität des gesellschaftlichen Bandes auf die Frage nach der Bedeutung von Gewalt(anwendungen) zugespitzt. Sie fragt, welche Leben heute gefährdet und betrauerbar und damit letztendlich welche Leben lebbar(er) sind (vgl. auch Butler 2005). Mit Butler können wir also den Blick nicht auf die An- oder Abwesenheit von Gewalt, sondern auf die ontologische wie auch epistemologische Frage richten, was überhaupt ein Leben ist (vgl. ebd. 2010, S. 9). Die (An)Erkennung von Leben und die (An)Erkennung als Subjekt sind bei Butler immer zentral von Normen, Konventionen und Kategorien abhängig. In diesem Spannungsfeld der Imagination einer Welt einerseits und der Bedeutung von Gewalt andererseits fragt der vorliegende Beitrag nach dem gesellschaftskonstituierenden Moment von Gewalt. Es geht dabei nicht (erneut) um eine Betrachtung von Gewalt, die diese auf Krisen- und gesellschaftliche Erosionsprozesse samt ihrer enthumanisierenden und damit Gemeinschaft verhindernden Essenz zurückführt. Es geht auch nicht um die Ausdifferenzierung von Gewaltformen und -ursachen sowie Täter/Opfer-Beschreibungen. Vielmehr geht es mir, Butler folgend, darum, den Blick auf das gesellschaftliche Band zu richten, das auch durch Gewalt gestiftet wird. Denn wenn es nicht die Utopie, die Imagination einer grenzenlosen, friedlichen Welt ist oder die Suche nach dem „guten Leben“ (buen vivir), was Gesellschaft heute zusammenhält, dann drängt sich die Frage auf, welche Funktion Gewalt gesellschaftstheoretisch erhalten muss. Am Beispiel einer „Grammatik der Härte“ (Butler/Hark 2017), wie sie in den social media und der medialen Berichterstattung über die Geschlechterforschung und die Sexualpädagogik üblich geworden ist, thematisiert der Beitrag mithin den gesellschaftlichen Zusammenhang am Beispiel der biopolitischen Regulierung von Sexualität (vgl. Foucault 1983). Denn die Diskursivierung und soziopolitische Indienstnahme des Sexuellen ist immer wieder empirisch und theoretisch kritisch beleuchtet und begleitet worden (z.B. Schmidt/Schetsche 2010). Sexuelle Bildung, insbesondere eine „Sexualpädagogik der Vielfalt“ (Tuider et. al 2012), ist eines der Felder in dem sich hassvolle Diskursivierungen rekonstruieren lassen (vgl. Tuider 2016a). So sind die letzten fünf Jahrzehnte einerseits von verschiedenen sexuellen Liberalisierungsprozessen gekennzeichnet. Als deren Folge hat sich u.a. der medizinischpsychiatrisierende Blick auf sexuelle ‚Perversionen‘ verändert (vgl. dazu z.B. Sigusch 2013), ebenso wie die Gesetzeslage hinsichtlich Gleichstellung und AntiDiskriminierung nunmehr diverse Benachteiligungen „aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen“ trachtet (vgl. §1 des Allgemeines Gleichbehandlungs-

Diskursive Schauplätze Geschlecht und Sexualität

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gesetz in Deutschland). Heute lassen sich mit Blick auf die stattgefundenen Veränderungen „widersprüchliche Gleichzeitigkeiten“ (Henningsen et. al 2016, S. 8) die Regulierung und Normierung das Sexuelle betreffend konstatieren. Auf der einen Seite z.B. konnten gleichgeschlechtliche Paare in Deutschland bereits seit 2001 qua Gesetz über die eingetragene Lebenspartnerschaft (LPartG) ihre Beziehung legitimieren, und im Juni 2017 hat der deutsche Bundestag beschlossen, die Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen, und damit die Hierarchie zwischen heterosexueller Ehe und homosexueller Partnerschaft auf rechtlicher Ebene aufzuheben. Nach jahrzehntelanger Kritik am TSG (Transsexuellengesetz) ob seiner körperverstümmelnden Implikationen wurde dieses 2011 ausgesetzt und seitdem überarbeitet. Seit 2013 steht für intersexuell geborene Kinder, jedoch nur für diese, eine dritte Option beim Geschlechtseintrag offen (vgl. dazu Plett 2014). Auf der anderen Seite lassen sich trotz dieser Veränderungen bzw. parallel zu diesen Veränderungen und der seit Ende der 1960er Jahre zu konstatierenden sexuellen Liberalisierungstendenzen auch massive Anfeindungen oder Forderungen zur Abschaffung der oben genannten Errungenschaften beobachten. Diese Anfeindungen folgen einem gewissen Muster, das die Amadeu Antonio Stiftung zuletzt als „toxische Narrative“ (2017) ausgewiesen und als eines ihrer Hauptnarrative jenes zum „Untergang der Deutschen“ erfasst hat. In diesen werden Erzählstränge zu Nation, Religion und Gewalt in einen Zusammenhang gestellt (ebd., S. 10).

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Hassvolle Diskursivierungen: Sexualität und Geschlecht

Die normative Verhandlung von Geschlecht und Sexualität lässt sich diskursanalytisch mit Blick auf die Politisierung und Medialisierung von Sexualpädagogik und Gender-Studies rekonstruieren (vgl. Henningsen et. al 2016; Tuider 2016a; Hark/Villa 2015; Villa 2017). Schetsche und Schmidt (2010, S. 9ff.) haben in Hinblick auf die immer wiederkehrenden „gefahrenpädagogischen Abwehrdiskurse“ z.B. zum Thema Onanie, Teenagerschwangerschaften sowie sexuelle Verwahrlosung die „Grundelemente“ der öffentlich medialen Darstellung ausgemacht: a) von Sexualität scheint eine schwerwiegende Gefährdung u.a. für die ‚gute Ordnung‘ der Gesellschaft auszugehen; b) diese Gefahr beinhaltet die Formulierung einer Risikogruppe, u.a. die Jugendlichen; c) Ausgangspunkt der öffentlichen Debatten sind Veränderungen im gesellschaftlichen Zusammenleben, sowie d) „Das Interesse der Öffentlichkeit (im zwanzigsten Jahrhundert primär der Massenmedien) an der behaupteten Gefahrenlage wird durch die immergleichen Diskursstrategien herzustellen versucht, etwa die selektive Auswahl von Fallbeispielen, (…), durch extrem moralisierende Zuschreibungen und die

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Fokussierung auf Schuldfragen oder auch durch den Einbau von beliebten Alltagsmythen in das aktuelle Deutungsmuster“ (ebd., S. 10). Im Kontext der Thematisierungen von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt als Thema schulischer Sexualerziehung und von Bildungsplänen können moralisierende Unterstellungen und Verdrehungen erneut seit Anfang des Jahres 2014 beobachtet werden. Welche Geschlechter und Sexualitätsnormen werden in diesen medialen und politischen Äußerungen etabliert und rekonfiguriert? Ist die derzeitige Diskursivierung von Sexualpädagogik und Gender-Studies ein politischer und gesellschaftlicher roll back oder zeigen sich in den erstarkenden antifeministischen sowie homo- und trans*-feindlichen Äußerungen (in Zeitungen, social media und Alltag) die letzten Bemühungen zur Rettung eines heteronormativen Konsenses? Oder drückt sich darin nicht vielmehr das ‚Ankommen‘ der sexuellen Liberalisierung und die Gleichstellung der Geschlechter in einem Großteil der Gesellschaft aus? Zentrales Muster1 der Diskreditierung von sexualpädagogischer Praxis und Sexualwissenschaft ist die diskursive Verkettung von Altersangabe, Reizwort (wie z.B. „Puff“ oder „Gang-Bang“ oder „Dildo“) und dem Stichwort „praktische Übungen“, wobei letzteres die Imagination nicht nur von Sexualität im Klassenzimmer, sondern auch von Sexualität zwischen ‚verführtem Kind‘ und sexualpädagogisch tätigem Erwachsenem nahe legt2. Obwohl Begriffe wie „Puff“ oder „Freudenhaus“ keine Aufreger für Jugendliche sind, wurde im Zuge der medialen Diskursivierung von Sexualität einem Vorschlag für die sexualpädagogische Arbeit mit Jugendlichen unter dem Titel „Der neue Puff für alle“ (Tuider et al. 2012, S. 75) mit Unverständnis (HNA 30.06.2014) und Ablehnung (SZ-Magazin 05.12.2014) begegnet sowie insbesondere die Angst vor „Frühsexualisierung“ (Junge Freiheit, 2014) geschürt: So unterstellte z.B. die Junge Freiheit „Sie verführen unsere Kinder“, und lautete die Anfrage der CDU an die Hamburger Bürgerschaft „Werden Hamburgs Schüler zu früh unangemessen sexualisiert?“. Im Zuge dessen wurde in der Presse die Pornographisierung des Klassenzimmers an deutschen Schulen unterstellt: Zum Beispiel in der FAZ „Angst vor ´Pornographisierung´ der Schule“ (11.11.2014) oder auf Spiegel Online: „Sexualkundeunterricht: Schüler sollen Pornos schauen. Pornos im Sexualkundeunterricht“ (19.03.2015). Oder jüngst titelt die Berliner Zeitung zu der vom Berliner Senat

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Die folgenden Ausführungen gehen auf früher verfasste Beiträge zurück, u.a. Tuider 2016 a und b. Es geht mir an dieser Stelle keinesfalls darum, Sexualisierte Gewalt und Grenzüberschreitungen an Kindern und Schutzbefohlenen, die unter der Bezeichnung „Sexualerziehung“ stattfinden und stattfanden, zu legitimieren oder zu verharmlosen. Worauf hier hingewiesen werde soll, ist, dass in der gegenwärtigen Diskursivierung von Sexualität und Geschlechtern der Sexuellen Bildungsarbeit ihre Professionalität abgesprochen, das Sprechen über Sexualität als per se grenzüberschreitend ausgegeben und jegliches pädagogische Handeln zum Thema Sexualität damit – insbesondere in der Schule – ausgeschlossen werden soll. 2

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herausgegebenen Broschüre „Murat spielt Prinzessin...“, dass es sich dabei um eine „Sex-Broschüre für Kita-Kinder“ (BZ 16.02.2018) handeln würde. Die Sorge um das Kind wird dabei mit der Gefährdung von Kindheit – verstanden als sexuelle Verwahrlosung sowie Pornographisierung durch Sexualerziehung – verwoben. Um diese Sorgen und Ängste zu schüren, wurde die schulische Sexualerziehung vom Jugendalter weit ins Kindesalter verlegt: im Verlauf eines halben Jahres wurden die Altersangaben der Jugendlichen in sexualpädagogischen Methodensammlungen von der Presse von 14 auf 7 Jahre reduziert3, d.h. die für die außerschulische und schulische Bildungsarbeit konzipierten Methoden auf Kinder projiziert und damit das scheinbare Argument der „Frühsexualisierung“ als solches u.a. durch die medial heruntergespielten Altersangaben geschaffen. Die CSU bedient in ihrem aktuellen Parteiprogramm ganz selbstverständlich die Unterstellung von Frühsexualisierung: „Eine Gesellschaftsund Bildungspolitik, die Gender-Ideologie und Frühsexualisierung folgt, lehnen wir ab“, und steht darüber ein für Ehe und Familie („Ehe und Familie stehen bei uns im Mittelpunkt“), aber auch für die Erziehungshoheit der Eltern („Rechte und Pflichten der Eltern haben Vorrang vor staatlichem Handeln. Wir bevormunden Eltern nicht. Der Staat muss die Erziehungshoheit der Eltern respektieren.“) (CSU 2016, S. 8, Zeile 372-387). Ungeachtet dessen, dass Sexualerziehung seitens der KMK 1968 zum Bildungsauftrag der Schule erklärt wurde und seitdem fächerübergreifender Bestandteil des Unterrichtsgeschehens ist, legte auch der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Wilhelm Rörig, in der taz nahe, dass allein die Thematisierung von Sexualität im Rahmen des Schulunterrichts das Schamgefühl von Kindern verletzten würde, und sie damit „leichter Opfer von Missbrauch werden“ (16.02.2015). Auch erklärte Karla Etschenberg, emeritierte Professorin für Didaktik der Biologie, in der Jungen Freiheit (14.11.2014): „Sie verführen unsere Kinder!“, wobei angeblich eine besondere Gefahr von schwullesbischen Aufklärungsprojekten ausgehen soll (Junge Freiheit, 2014). Die soziologische Erforschung einer gegebenen sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt (vgl. z.B. BZgA 2015; DJI 2016; Gegenfurtner/Gebhardt 2018) sowie ihre erziehungswissenschaftliche Thematisierung wird im antifeministischen Diskreditierungsgebaren als eine Bedrohung für ‚die Familie‘ dargestellt. Das diskursiv hergestellte ‚verführte, missbrauchte und sexualisierte‘ Kind ist dabei die Negativfolie für die Forderung einer Stärkung und Re-Etablierung der bürgerlichen (Weißen, deutschen) Kleinfamilie. Doch die unterstellte Verführung 3

Der Kolumnist des Spiegel, Jan Fleischhauer, titelte im Herbst 2014 noch auf SPON „Oralsex für den Siebtklässler“ woraus bei Rüdiger Soldt am 01.04.2015 in der FAZ die Siebenjährigen wurden.

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des Kindes, ebenso wie die gefürchtete Pervertierung des Kindes basiert nicht nur auf der Vorstellung einer zu schützenden (bürgerlichen) Familie sondern auch auf der Vorstellung einer natürlich gegebenen heteronormativen Ordnung sowie biologischen Verwandtschaft, die durch Sexualpädagogik ebenso wie durch GenderStudies bedroht werden würde.4 So interpretiert z.B. Birgit Kelle in der Freien Welt die Forschungsergebnisse aus der Familien- und Geschlechtersoziologie als Bedrohung: „Es geht inzwischen darum, alle bewährten Beziehungsmodelle – allen voran die traditionelle Familie als das weltweite Erfolgsmodell – nachhaltig zu beschädigen und weitgehend zu zerstören. Die Ehe als Beziehung von Mann und Frau wird in Frage gestellt, selbst die biologische Verwandtschaft steht zur Debatte.“ (Kelle 2015) Und für Gabriele Kuby, eine katholische Publizistin, stellt Gender (und die Gender-Studies) einen „neuen Totalitarismus“ dar. Erst jüngst konnte dem entgegen Christina von Braun zeigen, dass das Plädoyer für ‚traditionelle Werte‘ eine Reaktion auf die in den letzten 40 Jahren auf dem Gebiet von Geschlecht stattgefundene Veränderung ist, eine Veränderung die im Nachlassen sexueller Eindeutigkeiten liegt. Für traditionelle Werte einzutreten heißt nun für eine größere Geschlechterpolarität sich auszusprechen, und mithin Gesellschaft und Kultur wieder zu homogenisieren (vgl. von Braun 2017; vgl. dazu auch Hark/Villa 2015, Butler 2010). Von „Frühsexualisierung“ und „Genderismus“ bedroht werde die „heilige heteronormative Familie“ (Schmincke 2015, S. 100). Die Rekonstruktion der Diskursivierungen von Sexualität und Kindheit im Zuge der öffentlichen Thematisierung von sexueller Vielfalt lässt Imke Schmincke schlussfolgern, dass die „Chiffre Kind als moralische Waffe“ im „Kampf um heteronormative Hegemonie“ eingesetzt wird (ebd., S. 94). Im Zuge dessen wird erneut die heterosexuelle Ehe als einzige rechtlich verbriefte, biologisch natürliche und moralisch soziale (Abstammungs)Gemeinschaft sowie Verwandtschaft ausgegeben: sie bilde das Fundament sozialer Ordnung und des Zusammenhalts (ebd., S. 99). 4

Die historische Rekonstruktion der Pädophilie-Diskurse im 20. Jahrhundert von Katrin Kämpf (2015) verweist jedoch deutlich auf die Instrumentalisierung des „sexuellen Missbrauchs“ von Kindern, denn über dessen Thematisierung werden der sexuellen Liberalisierung ebenso wie der postessentialistischen Vervielfältigung von Geschlechtern eine Absage erteilt. Kämpf dazu: „Weitere Diskursfelder, die heute mit dem Pädophiliediskurs verknüpft sind, sind u.a. die juristischen Auseinandersetzungen über die Sicherheitsverwahrung von Sexualstraftätern, gesetzliche Regelungen zu Missbrauchsabbildungen, die Aufarbeitung der Pädophilie-Debatte bei der Partei Bündnis 90/Die Grünen, oder diverse Skandale um sexuellen Missbrauch innerhalb von Organisationen. Außerdem scheinen sich Pädophilie-Vorwürfe als Instrument des antimuslimischen Rassismus zu etablieren: So z.B. die Behauptung, Prophet Mohammed sei pädophil gewesen oder die Phantasie, muslimische Männer neigten generell zu Pädophilie (vgl. The innocence of muslim 2012, Pirincci 2014).“ (Kämpf 2015, S. 112)

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Die Figur des ‚reinen, unschuldigen Kindes` wird dabei angerufen, um die Zukunft der Weißen, deutschen Nation zu sichern, die es vor jeglicher Bedrohung, Verfremdung und Pervertierung zu schützen gilt. Das dabei vorgebrachte Argument des „Schutzes unserer Kinder“ kaschiert und legitimiert dabei jedoch nur eine sexistische, homo- und trans*feindliche sowie rassistische Rhetorik. Zugleich wird hierbei die anti-etatistische Haltung z.B. bei den selbsternannten Besorgten Eltern offensichtlich, die in einer deutschlandweit verschickten Broschüre schreiben: „Der Staat greift durch die Förderung von Kindertagesstätten, früher Einschulung und Ganztagsschulen nach den Kindern. Dadurch ist es dem Staat möglich, die Kinder genderkonform umzuerziehen. So werden die Kinder in ihrer Identität beraubt und beliebig lenkbar, unmündig und führungsgläubig.“ (2015, S. 12 5 ) Doch wäre „das Volk“ informiert worden, so wäre die „Gender-Gehirnwäsche im Volk“ nicht geglückt (ebd.). Auf der Basis der Angst vor sozialem Wandel sowie vor dem Verlust von (männlichen, Weißen) Privilegien wird die heterosexuelle „Normalfamilie“ und das „Familienernährermodell“ wieder zur einzigen Norm erhoben. Zur sicheren Gegenfolie der als bedrohlich skizzierten schulischen Sexualerziehung wird die Familie, konkreter: die heterosexuelle, bürgerliche (und Weiße) Familie, die als Normalität und als Norm ausgegeben wird. Kehrseite der medialen Empörungen ist also, dass sich darüber eine altbekannte Norm wieder herstellt: Sexualität wird nur dann als richtig und ‚normal‘ konzipiert, wenn sie in einer monogamen, liebevollen Beziehung zweier Individuen stattfindet und dem Zwecke der Fortpflanzung und der heterosexuellen Familienbildung dient. Mit dieser neuen, altbekannten Sexualitätsnorm ist also eine Verengung von Sexualität auf Sexualität in der Ehe zum Zwecke der Fortpflanzung verbunden. Und damit verbunden sind erneut auch Bilder von Kindheit und Jugend, die diese als ‚unschuldig‘, ‚rein‘ und damit als ‚asexuell‘ skizzieren und die normative Forderung aufstellen, dass Kinder und Jugendliche auch unschuldig, sprich nicht-sexuell, zu sein haben. Im selben Zuge, wie also den Errungenschaften der sexuellen Liberalisierung, der Gleichstellung und der Veränderungen im Geschlechterverhältnis eine Absage erteilt wird, werden Geschlechter und Sexualitäten als biologisch bedingt, binär und unveränderbar ausgewiesen. In der diskursiven Gemengelage von Sexismus, Rassismus und Nationalismus zeigen sich gewisse Muster der Angriffe auf Gender- und Queer-Studies sowie auf die Sexualpädagogik. Der Blick in die Tages-, Wochen und Online-Presse, Magazine, Onlineforen und Veranstaltungen verdeutlicht, dass die Diskreditierungsweisen von Sexualpädagogik als Teil antifeministischer bzw. antigenderistischer Diskreditierungen einzuordnen sind (Hark/Villa 2015, S. 18ff; 5

http://www.besorgte-eltern.net/pdf/broschure/broschure_wurzeln/BE_VerborgeneWurzeln_A5_v02.pdf

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Vgl. auch: Paternotte/Kuhar 2017). Deutlich wird hieran auch: Die diskursiven Diskreditierungs- und Diffamierungsfiguren werden nicht nur von einer z.B. evangelikalen oder (neu)rechten Gruppe oder einer Partei (wie z.B. der AfD) vertreten, sondern mittlerweile ergeben sich verschiedene diskursive Anschlüsse um das Themenfeld Geschlecht-Sexualität-Familie-Bevölkerung, wobei die heteronormative und biologistische Diskursivierung von einem ‚breiten Bündnis‘ verschiedener diskursiver Akteur_innen, bestehend aus rechtsextremen, rechtspopulistischen, konservativen, religiös-/christlich fundamentalistischen faschistischen und (rechts)liberalen Kreisen, voran getrieben wird (Kemper 2014 a, b; Billmann 2015; Rosenbrock 2012). Robert Claus (2014) fasst dieses antifeministische/antigenderistische Konglomerat in seiner Expertise als Interessensgemeinschaft zusammen von „Ideologen und Ideologinnen männlicher Überlegenheit und ökonomisch Prekarisierte, (Rechts)Liberale, Vertreter/-innen traditionalistischer Familienideale, Rechtsextremisten und Rechtsextremistinnen, Migranten und Migrantinnen sowie Rassisten und Rassistinnen, ehemals (pro)feministische Personen als auch nicht feministische Frauen sowie von Brüchen individueller Lebenswege in Karriere und Familienleben Betroffene und Männer, deren gewaltvoller Frauenhass jegliche soziale Bindungen außerhalb der maskulistischen Bezugsgruppe verunmöglicht“ (Claus 2014, S. 79).

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Hate Speech

In mediatisierten Empörungswellen und Moralpaniken in den social media, dem Phänomen ‚Shitstorm‘ und dem Trollen finden Namensgebungen bzw. Bezeichnungen statt, die verletzend, verunglimpfend, bedrohend, herabwürdigend und beleidigend sein können (z.B. Pritsch 2011). Die Medienwissenschaftlerin Jennifer Eickelmann charakterisiert Cybermobbing als „Gewaltakt“ und das Internet als „Waffe“ (2017, S. 163ff). Denn „mediatisierte Sprechakte und Repräsentationen im Netz können Menschen einen anerkennbaren Subjektstatus verleihen und ihnen diesen gleichermaßen entziehen“ (Eickelmann 2014, S. 8). Insbesondere im Internet zeige sich aktuell sowohl bei den Themen Geschlechterverhältnis und Feminismus (aber auch beim Thema Geflüchtete/Flucht) eine „´Enthemmtheit´“ bzw. „Verrohung“ der öffentlichen Thematisierung, die keine Diskussion in der Sache mehr kenne (Ganz/Meßmer 2015, S. 60 u. 59). Falsche Informationen zu geben, oder rationale Argumentationen zu bedienen, um sodann emotionalen Hass zu schüren, sind zwei der Kennzeichen, die auch auf rassistische Hetze zutreffen (vgl. dazu Amadeu Antonio Stiftung 2016): In der kollektiven Abwertung von ‚den Geflüchteten‘ sind rassistische häufig mit sexistischen oder antisemitischen Vorurteilen verknüpft. Sexismus oder auch Kriminalität wird dann auf ‚die Anderen‘,

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die Geflüchteten projiziert, und Modernität und Aufklärung im globalen Westen zu verortet (vgl. dazu auch: Yilmaz-Günay 2014). Geschlecht und Sexualität sind - nicht nur, aber auch - in Deutschland zu zentralen Schauplätzen islamophober und rassistischer Diskurse geworden: „Und Forderungen nach neuen oder radikalen sexuellen Freiheiten werden nur zu oft gerade von jenem, gewöhnlich von der Staatsmacht selbst eingenommenen Standpunkt aus angeeignet, von dem aus versucht wird, Europa und die Moderne als die privilegierte Sphäre zu reklamieren, in der sexueller Radikalismus seinen Platz finden kann und findet.“ (Butler 2010, S. 100) Hierbei schließen sich also homofeindliche Politiken (z.B. das Adoptionsrecht aus der Ehe für alle auszuklammern), islamfeindliche Politiken des Staates zur kulturellen Ordnung (z.B. in der Toleranzüberprüfung von bestimmten Zugezogenen hinsichtlich ihrer Einstellung zu Homosexualität) und die Instrumentalisierung von sexueller Freiheit verstanden als Modernität westlicher Gesellschaften nicht aus, sondern sie gehen Hand in Hand. Die diskursiv hergestellten Normen hinsichtlich Geschlecht, Sexualität, Familie und Verwandtschaft bedingen konstitutiv jeden Akt der Benennung. Mittels unterschiedlicher Sichtbarkeitsformate wie u.a. schriftliche Kommentare, Photoshop-Collagen oder Audioaufnahmen stelle sich im Internet eine „Daueradressierbarkeit“ (Eickelmann 2017, S. 115) her, d.h. jederzeit und beinahe allerorts bei einem Namen (an)gerufen werden zu können. Mediatisierte Empörung, so schlussfolgert Eickelmann, ist als ein „entgrenzter Subjektivationsmodus“ (ebd.) zu beschreiben. Hate speech repräsentiert nicht nur Gewalt, sondern gewaltvolles Sprechen ist Gewalt. Hate speech, so der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch (2015), ist einerseits „ein Problem des kommunikativen Umgangs“ und andererseits ein Problem in der „Verbreitung, Anstiftung, Förderung oder Rechtfertigung von Hass“. In Anbetracht der gewaltandrohenden und -ausübenden Angriffe auf die Gender-Studies sowie von Menschen, die nicht der (Zwei)Geschlechternorm entsprechen, und von Medienactivists, hat die Konferenz der Gleichstellungs- und Frauenministerinnen und -minister, -senatorinnen und -senatoren der Länder (GFMK) den Terminus „Cybersexismus“ eingebracht (vgl. Beschluss der GFMK 2014)6. Die Analysen (vgl. dazu insbes. Hark/Villa 2015; Henningsen et. al 2016; vgl. für die europäische Ebene: Paternotte/Kuhar 2017) des Phänomens Anti-

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Antifeministische, homo- und trans*feindlich Ressentiments gehen mit rassistischen, ausländerfeindlichen und völkischen Ressentiments zwar ‚Bündnisse‘ ein bzw. werden sie in der hasserfüllten Rede miteinander verwoben, doch sind sie deswegen nicht gleichzusetzen. Weder ist Rassismus mit Heteronormativität oder Homofeindlichkeit gleichzustellen, noch ist eine Diskriminierungs- und Marginalisierungsdimension per se bedeutsamer.

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Feminismus/Anti-Genderismus zeigen, dass diese auf Mechanismen von „absichtsvollen Verkehrungen und affektiven Mobilisierungen, von systematisch produzierten Missverständnissen und Irreführungen, von den Diffamierungen und Diskreditierungsversuchen der Gender Studies“ (Hark/Villa 2015, S. 18ff) basieren. In der herabsetzenden Verspottung, der diffamierenden Rede und der pejorativen Äußerung zeigt sich stets die Ausübung von Macht und Gewalt (Pritsch 2011, S. 236). Die Entschmenschlichung kommt zustande, indem „dem Diskurs eine Grenze gesetzt ist, welche die Grenzen menschlicher Intelligibilität festlegt“ (Butler 2005, S. 52). Vor allem aber ist hate speech das Mittel zur Regulierung und Re/Konfiguration von Normalität. 7 Die Felder von Sexualität und Geschlecht sind dabei jene Felder dispositiver Machtformationen, die ein wesentliches Terrain zur Anordnung, Stabilisierung und Konfigurierung sozialer Ordnungen darstellen. Die angedrohte Gewalt stellt darin eine „Ordnungsmacht“ (Ohms 2015) dar und sowohl Verspottungen als auch Vergewaltigungsandrohungen sind Mittel um jene, die aus der heteronormativen Matrix fallen oder aus dieser ausbrechen, an genau jene Matrix zu ‚erinnern‘ und sie in ihrem sexuellen und geschlechtlichen Anders-Sein mittels Gewalt zu ‚korrigieren‘ (vgl. ebd.) und ihnen damit auch den „Anspruch auf Normalität“ (Pritsch 2011, S. 237) zu entziehen. Denn Normüberschreitungen werden durch die in den social media geäußerten Kommentare und Einträge zu sanktionieren versucht, queere Geschlechter und Sexualitäten damit erneut an den sozialen Unort gedrängt bzw., mit Judith Butler gesprochen, „‘auf ihren Platz verwiesen‘, […] der aber möglicherweise gar keiner ist“ (1998, S. 13). Als Beispiele ihrer Ausformulierung von hate speech dienen Butler die usamerikanischen Debatten um die Themenfelder Prostitution, der ‚war on terror‘ seit 9/11, und der im US-Militär bis 2010 vorherrschenden Regel ‚don´t ask don´t tell‘. So sind z.B. pornographische Äußerungen nicht per se gewalttätig, sondern ihre Gewalttätigkeit bemisst sich an der ‚gelingenden‘ Zitation von Macht. Um nun die diskriminierende und verletzende Äußerung als Gewalt zu erfassen, verweist Judith Butler auf die ‚Anredeszene‘ selbst, die es zu erfassen gilt. D.h. nicht einzelne Ausdrücke oder Darstellungen per se sind Gewalt, sondern die Form ihres Gebrauchs, die in ihren „Bedingungen, die uns konstituieren“ (1998, S. 21) liegen: „Beleidigende Anrufungen rühren [...] an das grundlegende Trauma unserer 7

Die Forschung zu sexualisierter Gewalt im deutschsprachigen Raum hat diese Form und Ausübung von Gewalt erst jüngst deutlicher zur Kenntnis genommen. Es sind insbesondere jene Forschungen, die sich mit Peer Violence, also mit sexualisierter Gewalt unter Jugendlichen beschäftigen, die das Phänomen hate speech aufgegriffen haben. Anhand der Beispiele von ‚Sexting‘ und Internet Dating wird gezeigt, dass jugendliche Alltagswelten sich ins www erweitern und damit aber auch zugleich neue Gewaltformen des Cyberbullings/Cybermobbings auftreten (z.B. Vobbe 2018; Döring 2017).

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Daseinsmöglichkeiten überhaupt, die Frage, ob dieser Körper ein lebbares soziales Leben haben wird oder nicht.“ (von Redecker 2011, S. 77) Zugleich eröffnen bestimmte Formen des Sprechens auch Akte des Widerstandes, dann nämlich, wenn ein „Bruch“ (Butler 1998, S. 205) mit dem vorgängigen diskursiv hegemonialen Kontext hergestellt wird. Die in der Wiederholung von Bedeutungen stets angelegte Reiteration (also das fehlerhafte und falsche Anrufen) ebenso wie die Resignifizierung und die Dekontextualisierung von Bedeutungen (d.h. der Bruch mit dem früheren Kontext) machen den Ort der Handlungsmacht und des Widerstands aus. Als solche entsteht sie nicht jenseits der Macht sondern „an den Rändern der Macht“ (ebd., S. 220). Darüber besteht auch die Möglichkeit zwischen der verletzenden Äußerung und ihrer hassvollen Vorgeschichte einen Keil zu treiben, den Kontext so zu verändern, sodass bestimmte Konventionen ihre Autorität verlieren und Raum für andere Bedeutungen gegeben wird (vgl. Redecker 2011, S. 78).

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Gesellschaft der Angst – Lebbares Leben

Hate speech, „Toxische Narrative“ (Amadeu Antonio Stiftung 2017) und eine „Grammatik der Härte“ (Butler/Hark 2017) versammeln nicht nur codierte Darstellungen vom imaginierten ‚Anderen‘, sondern sie sind genau das Einfallstor – über ihre „Verschwörungserzählungen“ (Amadeu Antonio Stiftung 2017, S. 8) für das Schüren von Angst: Angst vor Überfremdung, Angst vor „Volksaustausch“ (ebd., S. 13), Angst vor Umerziehung, Angst vor dem Untergang des Abendlandes (vgl. Hark/Villa 2015). Nach Terrorismus und politischem Extremismus ist es die Angst vor „Spannungen durch den Zuzug von Ausländern“ (mit 61%) und die „Überforderung von Deutschen durch Flüchtlinge“ (mit 57%) die entsprechend einer Studie des Instituts für politische Wissenschaft Heidelberg die größten Ängste der Deutschen 2017 ausmachen. Der Angstindex erreichte 2016 erneut einen Höhepunkt und ist im Laufe des Jahres 2017 (von 52% auf 46%) leicht gesunken. Jedoch ist es nicht eine tatsächliche Bedrohung oder die objektive Lage als vielmehr, so gibt Heinz Bude in seiner Analyse einer „Gesellschaft der Angst“ zu bedenken, „[d]as Empfinden, im Vergleich mit signifikanten Anderen den Kürzeren zu ziehen“ (2014, S. 26). D.h. Angst haben nicht die Marginalisierten und Exkludierten und auch nicht die Vulnerablen und von Gewalt oder Krieg Bedrohten sondern diejenigen, „die etwas zu verlieren haben, die eine Ahnung davon besitzen, was passieren kann, wenn man die falsche Wahl trifft“ (ebd., S. 60). Angst, so Bude, ist „der Ausdruck für einen Gesellschaftszustand mit

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schwankendem Boden“, es handelt sich um ein Leben in einer Gesellschaft „der verstörenden Ungewissheit“. Während sich der Begriff des prekären Lebens vormals auf Kriegsbedingungen und Situationen der Dehumanisierung bezog, so reicht Prekarität heute weit ins gesellschaftliche und individuelle Selbstverständnis hinein. Zugleich kann ein prekäres Leben nicht von allen gleichermaßen in Anspruch genommen werden. Denn ein Subjektstatus und Menschlichkeit fallen einem Leben nicht selbstverständlich zu. „Die epistemologische Fähigkeit zur Wahrnehmung eines Lebens hängt in Teilen davon ab, dass dieses Leben gemäß Normen hervorgebracht wird, die es allererst als Leben oder überhaupt als Teil des Lebens qualifizieren.“ (Butler 2010, S. 11) D.h.: Es gibt Subjekte, die nicht als Subjekte „(an)erkennbar“ sind, und es gibt Leben, die nicht und ggf. nie als Leben (an)erkannt werden (ebd., S. 12). Wird jedoch dem Gegenüber/dem Anderen ein Leben abgesprochen, das verletzbar und schutzbedürftig ist, so erscheint Gewalt als ethisch unproblematisches Mittel. Butler geht hier soweit zu sagen, dass Gewalt darin liegt, zwischen lebenswerten und lebensunwertem Leben zu unterscheiden und letzterem die Lebbarkeit abzusprechen. Leben sind so immer verletzbar und prekär. Doch unter bestimmten politischen Umständen – die es jeweils zu analysieren und zu thematisieren gilt – werden bestimmte Leben als unwert und nicht lebendig ausgemacht. Butlers ethischer Imperativ der Gewaltlosigkeit impliziert nun eine Reformulierung von Anerkennung als ethischem Projekt. Es geht ihr um die Anerkennbarkeit des Subjekts, und des Lebens schlechthin, um auf diesem Wege der Verwandlung von Leben in Nicht-Leben entgegen zu wirken. „In this sense, non-violence is not a peaceful state, but a social and political struggle to make rage articulate and effective – the carefully and crafted ‘fuck you’.” (Butler 2009)

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Billmann, L. (Hrsg.) (2015): Unheilige Allianz. Das Geflecht von christlichen fundamentalistischen und politisch Rechten am Beispiel des Widerstandes gegen den Bildungsplan in Baden-Württemberg. http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Materialien/Materialien8_Unheilige_Allianz.pdf Bude, H. (2014): Gesellschaft der Angst. Hamburg: Hamburger Edition. Butler, J. (1998): Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin: Berlin Verlag. Butler, J. (2005): Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Butler, J. (2010): Raster des Krieges. Frankfurt am Main: Campus. Butler, J.; Hark, S.; (2017): Die Verleumdung. In: ZEIT 2. August 2017. http://www.zeit.de/2017/32/gender-studies-feminismus-emma-beissreflex. [Oktober 2017]. Braun, C. von (2017): Anti-Genderismus. Über das Feindbild Geschlechterforschung. In: Kursbuch 192, Frauen II, S. 28-45. BZgA (2015): Jugendsexualität 2015. https://www.forschung.sexualaufklaerung.de/fileadmin/fileadmin-forschung/pdf/Jugendendbericht%2001022016%20.pdf Claus, R. (2014): Maskulinismus. Antifeminismus zwischen vermeintlicher Salonfähigkeit und unverhohlenem Frauenhass. library.fes.de/pdf-files/dialog/10861.pdf DJI (Hrsg.) (2016): Coming-Out - und dann...?! Ein DJI-Forschungsprojekt zur Lebenssituation von lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans* Jugendlichen und jungen Erwachsenen. https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2015/DJI_Broschuere _ComingOut.pdf Döring, N. (Hrsg.) (2017): Sexualität im Digitalzeitalter. Schwerpunktheft. Zeitschrift für Sexualforschung, H. 1, 30. Jg., März 2017. Eickelmann, J. (2014): Mediatisierte Missachtung und die Verhandlung von Gender bei Empörungswellen im Netz. Der Fall Anita Sarkeesian. In: kultur&geschlecht #13 (2014). Eickelmann, J. (2017): „Hate Speech“ und die Verletzbarkeit im digitalen Zeitalter. Phänomene mediatisierter Missachtung aus Perspektive der Gender Media Studies. Bielefeld: transcript. Foucault, M. (1983): Der Wille zum Wissen: Sexualität und Wahrheit. Bd. 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Ganz, K.; Meßmer, A.-K. (2015): Anit-Genderismus im Internet. Digitale Öffentlichkeiten als Labor eines neuen Kulturkampfes. In: Hark, S.; Villa, P. (Hrsg.): Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen. Bielefeld: transcript, S. 59-77. Gegenfurtner, A.; Gebhardt, M. (2018): Sexualpädagogik der Vielfalt: Ein Überblick über empirische Befunde. In: Zeitschrift für Pädagogik, 64, Jan. 2018. Hark, S.; Villa, P. (2015): „Eine Frage an und für unsere Zeit“. Verstörende Gender Studies und symptomatische Missverständnisse. In: dies. (Hrsg.): Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen. Bielefeld: transcript, S. 15-39. Heitmeyer, W. (2003): Deutsche Zustände. Folge 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Kämpf, K. (2015): Eine ´Büchse der Pandora´? Die Anrufung der Kategorie Pädophilie in aktuellen antifeministischen und antiqueeren Krisen-Diskursen. In: Hark, S.; Villa, P. (Hrsg.): Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen. Bielefeld: transcript, S. 109-127.

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Sexualpädagogik als Beitrag zum grenzwahrenden Umgang mit Kindern und Jugendlichen Anja Henningsen

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Angriffe auf die Professionalität der Sexualpädagogik

Glaubt man den skandalisierenden Berichterstattungen, die vermehrt seit 2014 auftraten, dann steht es schlecht um die Sexualpädagogik. Es entbrannte eine Debatte, ob es sich dabei eher um „Aufklärung oder um [eine] Anleitung zum Sex“ (Voigt 2014) handele. Die FAZ geht mit ihrer Diagnose noch weiter und stellt fest: „Die Sexualpädagogik in den neuen Lehrplänen ist geeignet, den Kindesmissbrauch zu fördern.“ (ebd.). Unter anderem werden diese Behauptungen durch eine heftige Kritik an der Durchführungsweise von sexualpädagogischen Programmen belegt. „Kinder sollen ihre ‚Lieblingsstellung’ zeigen, Puffs planen, Massagen üben. Die sexuelle Aufklärung missachtet Grenzen. Die Politik will es so. Kinderschützer schlagen Alarm.“ (Schmelcher 2014). Obgleich hier nur eine minimale Auswahl an Ausschnitten präsentiert wird, tritt die Argumentation gegen sexualpädagogische Arbeit eindeutig hervor: Kinder tragen Schaden, weil ihre Grenzen überschritten und sie mit unangemessenen Inhalten konfrontiert werden. Ein Generalverdacht trifft die Berufsgruppe der Sexualpädagog_innen und umso dringlicher steht die politische Duldung sowie staatliche Förderung dieser Arbeit zur Frage. Solche Behauptungen werden vor allem aus ultrakonservativen, neu-rechten, fundamental-religiösen und populistischen Netzwerken (Kemper 2016) gespeist und gelangen an eine empörte Öffentlichkeit, die derartige Missstände nur ablehnen kann. Mit ihrer emotionalen Wucht verbreiten sich viele Irritationen in der Allgemeinbevölkerung – in einem besonderen Ausmaß aber unter Eltern und pädagogischen Fachkräften, weil diese sich beunruhigt fragen, ob Sexualität überhaupt ein pädagogisches Thema sein sollte. Jedenfalls ist die Skandalisierung ein Marker für intensive politische Auseinandersetzungen um Sexualität und Geschlecht und es stellt sich die Frage, wie sich die Gesellschaft aktuell positioniert. Sexualmoral als Achterbahn zwischen den 1968er Jahren und heutiger Zeit durchlief stets Phasen, die mal liberale, mal konservative Kräfte lenkten. Unabhängig vom Auf und Ab wurden diejenigen, die sich mit sexueller Erziehung und Bildung befassen, seit jeher kritisch beäugt.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 B. Thiessen et al. (Hrsg.), Sozialer Wandel und Kohäsion, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25765-1_8

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Anja Henningsen

Dementsprechend ist die gesellschaftliche Aufregung über sexualpädagogische Arbeit ein überdauerndes Thema. Aus dem Kreis sexualpädagogischer Fachkräfte kann die häufig mangelnde Anerkennung, manchmal sogar Feindseligkeit, differenzierter erklärt werden. In einer Befragung tragen sie vier Erklärungsansätze zusammen. 1 Obgleich sich Menschen in einer ubiquitären sexuellen Alltagswelt bewegen, bleibt Sexualität ein „schambehaftetes und vielfach tabuisiertes Thema“. Die vermeintliche öffentliche Geschwätzigkeit täuscht darüber hinweg, dass nach wie vor Sorgen und Nöte im Privaten stattfinden, weil beispielsweise sexuelle Bedürfnisse in Paarbeziehungen nicht ausgesprochen werden oder ein Coming-Out im sozialen Umfeld unmöglich erscheint. Die trügerische Selbstverständlichkeit lässt Menschen einsam werden und individualisiert ihre Probleme. Mit dem pädagogischen Anliegen Sexualität als Auseinandersetzungsgegenstand anzubieten, kann per se eine Provokation zumindest aber eine Bedrohung verbunden werden. Damit geht auch eine mögliche „Angst“ vor einer Berufsgruppe einher, die anregt, über potentiell Intimes zu sprechen sowie eine Angst vor einer ungewollten Selbstoffenbarung. Häufig muss gerade diese Sorge zu Beginn von sexualpädagogischer Gruppenarbeit bearbeitet und auf die Achtung von Persönlichkeitsrechten hingewiesen werden. Vermutet werden auch „politische Gründe“, hinter denen in erster Linie der Gedanke steht, dass Sexualerziehung keine staatliche Aufgabe sein sollte, sondern lediglich in die Zuständigkeit von Eltern zurückzuführen ist. Auf diese Weise ließe es sich aus der Sicht rechtskonservativer Gruppe verhindern, dass staatliche Institutionen wie die Schule mit liberalen und vielfaltsoffenen Lehrplänen traditionellen „Vater-Mutter-Kind“-Konzepten widersprechen. Möglicherweise, und diese These stützt die vorigen zusätzlich, ist das, was in der Sexualerziehung tatsächlich passiert und auf welchen Grundsätzen sie aufbaut ist, schlichtweg noch „zu wenig bekannt“ und weckt dementsprechend fiktive Szenarien, wie sie in den Zeitungsartikeln zu lesen sind. Der Ruf der Sexualpädagogik ist also nicht unbedingt auf ihre Leistung oder Fehlleistung zurückzuführen. Vielmehr geht es in gesellschaftlich-politischen Verhandlungen um die Normierung und damit Kontrolle der Sexualität. Wir bleiben also in foucaultschen Überzeugungen verhaftet, Sexualität als Bio-Macht zu begreifen (Foucault 1987) – als Mittel der Kontrolle oder Befreiung. Lust und Reproduktion wird politisiert. Sexualpädagogik befindet sich folglich im Schlepptau 1

Die Ergebnisse stammen aus einer schriftlichen Befragung der Mitglieder in der Gesellschaft für Sexualpädagogik (n = 45), die Henningsen und Sielert 2013/2014 durchführten. Die Frage lautete: „Zwar ist die Sexualpädagogik in diversen Gesetzen und Richtlinien verankert, doch eine umfassende gesellschaftliche Anerkennung fehlt bisher. Woran liegt das?“ Zusammengefasste Antworten: Schamthema: 35 %, politische Gründe: 23%, Angst vor Eingriff ins Private: 21% und mangelnde Bekanntheit: 19 % (Henningsen 2016).

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politischer Mächte und wird als Steuerungsinstrument gesehen. So wird beispielsweise in fundamentalistischen bis populistischen Kreisen „aufgedeckt“, dass Sexualpädagog_innen eine bewusste erzieherische Indoktrination der nachkommenden Generationen verfolgen, um eine geltende sexuelle Ordnung aufzulösen. Diese Angriffe richten sich gezielt gegen die Sexualpädagogik, um ihre pädagogische Professionalität in Frage zu stellen. Entgegen dieser Taktik, die sexuelle Frage aus der pädagogischen Zuständigkeit zu eliminieren, bleibt es elementar wichtig, sich ihr zu widmen. Würde nämlich dem Protest nachgegeben, droht eine tatsächliche Deprofessionalisierung, weil destruktive Verstrickungen von Sexualität und pädagogischer Kontrolle verstärkt werden könnten, die ohnehin bereits als unangemessene Formen der Sexualitätskontrolle bestehen und auf einer unbewussten diffusen oder repressiven Sexualmoral beruhen (Henningsen/List 2017). Die Soziale Arbeit braucht eine Sexualpädagogik zur kritischen Reflexion. Tatsächlich hat dieses Bewusstsein auch die Erziehungswissenschaften insgesamt nicht durchdrungen. Vielmehr sind aufgrund des medial-gesellschaftlichen Argwohns eher Abspaltungstendenzen gegenüber einer suspekt gewordenen Sexualpädagogik zu verzeichnen. Die lautstarke populistische und ‚anti-sexualpädagogische Kampagne‘ wirkt dabei potentiell als Verstärker bei Pädagog_innen sich zu immunisieren – gegen Unsicherheits- oder Verdachtsmomente, die im Zusammenhang mit Sexuellem entstehen. Im Folgenden wird also zu verdeutlichen sein: Inwiefern die sexuelle Dimension in der Pädagogik inhärent ist, wie sich blinde Flecken als potentiell destruktive Formen von sexualitätsvermeidenden bis -kontrollierenden (sozial)pädagogischen Praktiken niederschlagen, was aus sexualpädagogischer Perspektive und aus der Perspektive Jugendlicher als zukünftige Professionalisierungsaufgabe im Querschnitt der Sozialen Arbeit ansteht.

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Sexualität als ausgegrenztes (sozial)pädagogisches Querschnittsthema

Zunächst einmal gilt es gründlicher zu belegen, dass das Unbehagen gegenüber der Sexualpädagogik nicht nur Teile der Allgemeinbevölkerung durchdringt, sondern auch die erziehungswissenschaftliche Disziplin und Profession, in der bis zuletzt eine weitest gehende „Körper-, Sexualitäts- und Affektabstinenz“ (Böllert 2014, S. 147) besteht, die eine reflektierte pädagogischen Bearbeitung abwehrt. Verschärfend kommt hinzu, dass Sexualität als Dimension pädagogischer Bildungsarbeit unter der aktuellen Schutzdebatte (Sielert 2016, S. 6ff.) eher kritisch, fast schon als schlummernde Gefahr, betrachtet wird. Zwar wird sexuelle Gewalt oftmals als Tabuthema beschrieben (Andresen 2015; Kavemann et al. 2016), jedoch zeigt sich, dass es Fachkräften leichter fällt, sich zu Gewalt als zu Sexualität

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zu äußern. Während der wachrüttelnden Skandalisierungsphase sexuellen Missbrauchs im Jahr 2010 folgte ein zunächst starker Impuls zu reagieren und führte erste teilweise sehr restriktive sowie hilflose Sicherheitsmaßnahmen mit sich, die aus aktueller Sicht kaum sinnvoll erscheinen – beispielsweise kategorische Verbote von Körperkontakten durch Pädagog_innen. Obgleich sich die Schutzdebatte inzwischen auf einem viel reflektierteren Niveau weiterentwickelt hat, halten sich Handlungsunsicherheiten hartnäckig in der Praxis. Gegen die pädagogischen Autoimmunisierungstendenz stellt sich die Tatsache, dass sich Spuren von Sexualität aus dem menschlichen und auch pädagogischen Agieren nicht extrahieren lassen – allein schon, weil sich dem Bewusstsein vieler Tätigen entzieht, wie vielschichtig sie verwoben sind. Ohnehin lässt sich eine Auseinandersetzung nicht vollständig vermeiden. Kinder und Jugendliche konfrontieren Pädagog_innen quasi unweigerlich innerhalb ihrer psychosexuellen Entwicklung mit Verhaltensweisen oder Gesprächsanliegen, auf die sie möglicherweise unvorbereitet sind. Innerhalb ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identitätsfindung durchlaufen Heranwachsende körperliche Veränderungen, sind emotional herausgefordert und müssen sich in ihrem sozialen Umfeld neu positionieren. Neugierige Fragen nach den Ansichten oder Erfahrungen der Pädagog_innen können ebenso herausfordern, vor allem wenn sie unerwartet gestellt werden. Heranwachsende sind sich durchaus bewusst, dass sexualisierte Sprache oder andere Handlungen auch ein großes Provokationspotential besitzen und damit ein sehr geeignetes Mittel sind, um Erwachsene aus der Reserve zu locken. Die Motivation für eine solche Offensive wächst aus dem Wunsch, die Konventionen der Erwachsenen anzufechten, sich gegen Einschränkungen zu wehren oder die Unzufriedenheit über die Missverhältnisse offen zu legen. Aber auch auf Seiten der Pädagog_innen spielt die eigene Sexualität eine Rolle, die häufig eher intuitiv in pädagogische Interaktionen diffundiert. Mehr oder weniger subtil fließen die eigene sexuelle Orientierung, das geschlechtliche Selbstverständnis und Rollenvorstellungen sowie im weitesten Sinne Ansichten von Lebens- und Familienplanung ein. An dieser Stelle wird deutlich wie sehr die professionelle Rolle mit dem eigenen Menschsein verknüpft ist. Mit der Persönlichkeit sind immer Emotionen und Werthaltungen verbunden, die mal impulsiv, mal reflektiert in die pädagogische Arbeitsbeziehung eingebracht werden. Sympathie und Antipathie – als Formen der Anziehung und Abneigung – können nicht nur emotional, sondern auch körperlich spürbar werden (Ricken 2012). Während der Kontakt zu einigen Klient_innen auf Anhieb und lockere Weise gelingt, kann das Verhältnis in anderen Fällen von Missverständnissen und inneren Hürden geprägt sein. Variierende persönliche Bezüge zu den Klient_innen sollten ebenso bewusst sein wie die Tatsache, dass Menschen, Fachkräfte wie Klient_innen, auf ihrer fortwährenden Suche nach Anerkennung Gefahr laufen, andere für ihre (se-

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xuellen) Bedürfnisse zu nutzen oder selbst genutzt zu werden. Diese Dynamik besitzt folglich ein Missbrauchspotential, dem Fachkräfte keinesfalls unterliegen dürfen. Menschlichkeit, Aufmerksamkeit und Nähe sind wichtige Instrumente in der Pädagogik, die aber nicht zur Bedürfniserfüllung oder für den Anerkennungshunger von Pädagog_innen genutzt werden dürfen. Grundsätzlich geht es also um die professionelle Gestaltung von Arbeitsbeziehungen unter Berücksichtigung persönlich-emotionaler Komponenten. Paradoxerweise werden diese Dimensionen jedoch ignoriert, weil in der Auseinandersetzung mit ihnen vermeintlich unkontrollierbare Folgen eintreten könnten, wie drohende unbeabsichtigte Selbstoffenbarung und Scham. Eine reflektierte Auseinandersetzung wird verhindert, so dass Unbehaglichkeit, Gefährdungen sowie zufälligen Affekten erst recht der Weg geebnet wird. Pädagogische Professionalität erlebt in diesem Abwehrmechanismus eine Gefährdung. 2.1 Schule und Heimerziehung – ein vermeidender und reglementierender Umgang mit Sexualität Dieser vorerst allgemeine Einblick in den mangelnden Reflexionsgrad lässt sich anhand weiterer empirischer Zugänge in die Heimerziehung und Schule verdichten. Als pädagogische Settings könnten sie aufgrund ihrer Anforderungen an die professionelle Beziehungsgestaltung kaum unterschiedlicher sein und dennoch entwickeln sie ähnliche Strategien, um Sexualität als Störfaktor auszuschließen. Keinesfalls soll die pädagogische Arbeit durch den hier vollzogenen kritischen Blick diskreditiert werden. Vielmehr ist es als Zeichen wachsender Reflektiertheit zu werten, wenn die Praxis aufmerksam angeschaut wird und darauf aufbauend Professionalisierungsstrategien generiert werden können. Prinzipiell hinderlich ist es, dass sich die Schulkultur vielerorts als sexualitätsfern ausweist. Sexualität wird als ein „Privatthema“ deklariert, dass den Schulalltag nicht beeinflussen soll. Wenn die Sexualität der Schüler_innen überhaupt wahrgenommen wird, dann als problematisiertes Verhalten. Folglich wird sie zu einem expliziten Thema für Lehrkräfte bei sexuellen Grenzverletzungen unter den Jugendlichen oder einem als unangemessen empfundenen Kleidungsstil, der insbesondere bei Mädchen auffällt.2 Die daraus folgende Konsequenz ist, dass Gesprächsanlässe außerhalb der konkreten Sexualaufklärung lediglich bei Problemen 2

Die Kleidung ist ein zentraler Aspekt bei der Diskussion um sexuelle Dimensionen des Schulalltags. Dahinter liegen heteronormative Muster, die dazu führen, dass der weibliche Körper der Schülerinnen eher als sexuelles Objekt wahrgenommen wird. Wenn also über Kleiderordnungen diskutiert wird, wird die knappe Bekleidung der Mädchen kritisiert, weniger aber die der Jungen.

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entstehen. Eine umfängliche sexuelle Bildung identifizieren Lehrkräfte trotz bestehendem Bildungsauftrag nicht als ihre Aufgabe (Henningsen/List 2017). Dabei regeln der schulische Bildungsauftrag sowie Schulgesetze und Richtlinien der Bundesländer Sexualaufklärung als Spiralcurriculum (BZgA 2014). Der Auftrag wird allerdings hauptsächlich auf den Sexualkundeunterricht konzentriert. So haben erfreulicherweise auch über 90% der Jugendlichen in diesem Rahmen über klassische Aufklärungsthemen gesprochen (BZgA 2015). Diese auf den ersten Blick sehr positive Bilanz muss allerdings etwas eingegrenzt werden, denn über die Qualität des Unterrichts ist bedauerlicherweise sehr wenig bekannt. Sielert/Henningsen (2011) stellen durch eine Befragung von Grundschullehrkräften fest, dass sich die meisten unter ihnen einer Thematisierung gewachsen fühlen, obwohl sie ein Unbehagen spüren und die Fragen von Heranwachsenden fürchten. Die Bedeutung von Sexualerziehung wird zwar durch die Landesausbildungsinstitute betont, allerdings bilden sie Lehrkräfte vielfach nicht ausreichend für sexualpädagogische Angebote aus. Es hängt folglich stark von der Motivation ab, ob und wie der Unterricht gestaltet wird. Immerhin sind einige wenige motiviert und bereit über Emotionales und Sexuelles zu sprechen. Vielfach entlasten sich Schulen auch von Sexualerziehung, indem sie außerschulische Fachorganisationen mit der Aufgabe betrauen und sich selbst aus der Bearbeitung vollständig herausziehen (ebd., S. 36ff.). Eine destruktive Gestaltung des Unterrichts präsentiert Blumenthal (2014), die zu dem bedrückenden Ergebnis kommt, dass innerhalb schulischer Sexualerziehung für Schüler_innen unangenehme bis beschämende Situationen entstehen. Die vielförmigen Muster der Beschämung werden als Erziehungsmittel genutzt, ohne dass sie pädagogisch reflektiert werden. Sie zielen insgesamt auf die Restriktionen sexueller Aktivität im Jugendalter, sexueller Orientierung und Sexualpraktiken sowie Festigung einer binären Geschlechtsordnung. Lehrkräfte geben damit eine heteronormative Ordnung vor, die zu einer Abwertung der Mädchen gegenüber den Jungen und zu einer Ausgrenzung von LSBTIQ-Menschen führt. Mit Magyar-Haas (2012) gesprochen besitzen diese Schandrituale eine sozialregulative Funktion, weil sie als Kontrollmechanismen zur eigenen Reproduktion von Macht dienen. Auf diese Weise erleichtern sich Lehrkräfte von eigenen Verunsicherungen und reglementieren das sexuelle Verhalten der Jugendlichen stärker gemäß ihren eigenen Normvorstellungen. Nicht weniger problematisch erscheinen pädagogische Handlungsstrategien in der Heimerziehung. Aufgrund der intensiveren und familienähnlichen Arbeit mit Jugendlichen kann ihre Sexualität weniger als Privatsache ausgeklammert werden. Jüngste Forschungsprojekte heben hervor, dass die sozialpädagogischen Ambivalenzen zwischen Hilfe und Kontrolle eher zugunsten eines repressiven Verfahrens mit der Sexualität und Paarbeziehungen Jugendlicher gelöst werden

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(Henningsen/List 2017; Helfferich/Kavemann 2016; Rusack 2015). Vielfach herrschen Verbote – so reicht die Spanne von einem grundsätzlichen Verbot sexueller Kontakte bis hin zur Regelung der Besuchszeiten und -orte oder Einschränkungen der Intimsphäre durch das Gebot, Türen stets offen zu halten. Pädagog_innen sind sich allerdings bewusst, dass diese Verbote umgangen werden. So entstehen Situationen, von denen sie nichts wissen möchten oder dürfen (vgl. Rusack 2015, S. 25). In einem solchen sexualitätsvermeidenden Klima sind offene Gespräche über Sexualität kaum vorstellbar – weder aufseiten der Jugendlichen noch aufseiten der pädagogischen Fachkräfte. Auch wenn der sexualpädagogischen Arbeit ein Wert beigemessen wird, stellt sie sich den Fachkräften als schwierig umsetzbar dar. Zudem scheint Sexualpädagogik eher einleuchtend, wenn sie sich an der Prävention sexualisierter Gewalt orientiert. Zudem findet die Sexualität der Jugendlichen im Heimkontext eine negative Bewertung. Das hängt sicherlich auch mit der besonders vulnerablen Zielgruppe und den vielfach belasteten Biografien zusammen. Sexualität kippt hier eklatant von der Grundfigur einer produktiven Identitätsfindung zu einem ungezügelten Selbstexperiment, weil die Vorstellung dominiert, dass die Jugendlichen mit ihrer sexuellen Aktivität die eigene problembehaftete Geschichte kompensieren. Fachkräfte werden deshalb korrigierend aktiv, um an mehr Verantwortungsübernahme zu appellieren (Henningsen/List 2017). In diesem interventionsorientierten Klima entstehen Konsequenzen, die sich kontraproduktiv auf eine begleitende sexuelle Bildung auswirken. Fraglich ist, wohin sich Jugendliche vertrauensvoll wenden können, wenn bei unerlaubten Kontakten negative Erfahrungen gemacht wurden. Ebenso fraglich ist, wie zu Verhütung o.ä. beraten werden kann, wenn doch sexuelle Kontakte zumindest offiziell ausgeschlossen erscheinen. Prinzipiell ist zu fragen, ob besondere Risikokonstellationen entstehen, wenn sexuelle Erfahrungen nach „irgendwo“ außerhalb der Einrichtung verlagert werden? Grundsätzlich schädigend wirkt sich aber mit hoher Wahrscheinlichkeit aus, wenn Jugendliche eine Abwertung, Entmündigung und Tabuisierung ihrer Sexualität durch Pädagog_innen erleben. Ihnen bleiben dann als Bewältigungsstrategien lediglich der Rückzug oder die Abwehr. Es soll hier nicht in Abrede gestellt werden, dass kontrollierende Maßnahmen notwendig sind. Im Erziehungsauftrag liegt ein immanenter Anteil, der Lenkung und Machtausübungen legitimiert. Fraglich ist allerdings, ob es sich im Sinne einer förderlichen Einflussnahme um legitime oder illegitime Gewaltformen handelt. Nicht tolerierbar ist es, dass die Integrität Jugendlicher aus Selbstschutzgründen von Pädagog_innen verletzt wird. Momente der Peinlichkeit und Scham können per se in alltäglichen – aber auch pädagogischen – Situationen geschehen, relevant ist, ob sie als Grenzsetzungen wahrgenommen und akzeptiert werden oder ob sie zum Selbstzweck der Fachkräfte instrumentalisiert werden.

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Anja Henningsen Sexualpädagogische Kompetenz als Querschnittsaufgabe für die Soziale Arbeit

Bisher wurde deutlich sichtbar, dass der eigentlich legitime Anspruch der Kinder und Jugendlichen auf Sexualität und hilfreiche Unterstützung wie Sexualerziehung nicht ausreichend in pädagogisches Handeln umgesetzt wird. Aus dieser Situation ergeben sich Professionalisierungsperspektiven, durch die innerhalb der (sozial)pädagogischen Arbeit eine nötige sexualpädagogische Handlungskompetenz entwickelt wird. 3.1 Orientierung sexueller Bildungsangebote an den Bedürfnissen Jugendlicher Bezeichnenderweise fehlt in der bisherigen Debatte um Schutz und Förderung ein Blick auf die Bedürfnisse der Jugendlichen selbst, so bleibt viel Spekulation, beispielsweise ob sie überhaupt sexuelle Fragen in pädagogischen Setting klären wollen oder sie eine grundständige sexualpädagogische Begleitung wünschen. Im breiten sozialpädagogischen Forschungskontext besteht wie in der Praxis bisher nur eine sehr überschaubare Auseinandersetzung mit sexuellen Bildungsbedarfen. Die erst junge disziplinäre Sexualpädagogik blickt auf eine ebenso junge Forschungshistorie zurück und somit auf viele Erkenntnislücken. Während psychosexuelle Entwicklungswege und sexuelle Verhaltensweisen durch transdisziplinäre Bezüge zur Sexualwissenschaft verhältnismäßig gut untersucht sind, fehlt es an originär sexualpädagogischer Professions- und Adressat_innenforschung, u.a. fundierter Erkenntnisse über Krisen- und Bewältigungsprozesse sowie hilfreiche Unterstützung. Derartige Forschungsperspektiven tragen sicherlich zu einer Fundierung und Versachlichung der eingangs erwähnten hitzigen Debatten bei. In der sexualpädagogischen Praxis wurde das Problem der Passgenauigkeit jugendfreundlicher Angebote beispielsweise über anonyme Frageboxen methodisch gelöst. Zudem unterstreichen Feedbackrunden mit Jugendlichen nach sexualpädagogischer Gruppenarbeit den Wert aus jugendlicher Sicht. „Es war interessant.“, „Ich habe viel gelernt.“ und vor allem „Es hat Spaß gemacht.“ Diese Erfahrungswerte kann die alleinstehende Studie von pro familia (2012) über Jugendliche und ihre Wünschen in Bezug auf außerschulische sexualpädagogische Angebote unterstützen. Sie bietet Einblicke in sowohl nachvollziehbare als auch selbstverständliche Bedarfe. Zu betonen ist, dass Jugendliche für sich ein Recht auf Information und Wissen zu Sexualität und Verhütung einfordern, weil sie Kompetenzen brauchen, um ein partnerschaftlich und sexuell erfüllendes Leben zu führen. Sie beanspruchen auch dann sexualpädagogische Angebote, wenn diese in einem kulturellen oder religiösen Konflikt mit der Elternerwartung steht. Jugend-

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liche wünschen sich eine Offenheit für spontane Gesprächsanliegen, die sie möglicherweise auch als Gruppe haben können, das bedeutet, Pädagog_innen ohne notwendige Terminvereinbarung sprechen sowie telefonische Beratungsangebote flexibel in Anspruch nehmen zu können. Ihnen ist zudem das Recht auf und die Achtung von Privatsphäre äußerst wichtig. Aus diesem Grunde sind eine freiwillige Teilnahme an Angeboten sowie eine eigene Dosierung der Mitarbeit hoch geschätzt. Jugendliche lehnen es ab, wenn Fachkräfte davon ausgehen, dass sie entweder selbstverständlich oder keinesfalls aufgrund ihres Alters sexuell aktiv sind. Sicherlich hängt damit das ebenso legitime Anliegen zusammen, nicht unter Normierungsdruck zu fallen. Dementsprechend möchten Jugendliche kontrollieren können, wie viel sie von sich preisgeben. Eine Basis für intime Gespräche ist dabei Vertraulichkeit, nicht nur weil einige Sorge tragen, dass eventuell schlecht über sie geredet werden könnte, sondern auch um sich überhaupt äußern zu wollen. Gerne nehmen Jugendliche über die Schule vermittelte Angebote an, gleichzeitig wünschen sie sich nicht nur einmalige Veranstaltungen, sondern verstetigte und langfristig finanzierte Angebote, die in Kooperation mit Schulen oder offener Jugendarbeit zur Verfügung stehen und dementsprechend kontinuierlich von einer Fachkraft durchgeführt werden (ebd., S. 20f.). Zusammenfassend lässt sich einfach und unmissverständlich formulieren: Jugendliche wünschen sich Angebote, in denen sie Respekt erfahren und wertvolle Informationen finden. 3.2 Entwicklungsfördernde und grenzsensible Begleitung von Heranwachsenden durch sexualpädagogisch kompetente Fachkräfte Wenn also Pädagog_innen sexuelle Bildung (Valtl 2008) als Teil des Bildungsund Erziehungsauftrags wahrnehmen, können sexuelle Entwicklungsbedarfe von Kindern und Jugendlichen erfüllt werden. Denn das Vermögen der Jugendlichen sexuell gesund aufzuwachsen „erfordert sowohl eine positive, respektvolle Herangehensweise an Sexualität und sexuelle Beziehungen als auch die Möglichkeit für lustvolle und sichere sexuelle Erfahrungen, frei von Unterdrückung, Diskriminierung und Gewalt“ (WHO 2011). Damit ist das Grundverständnis von Sexualität als eine persönlichkeitsförderliche Ressource verbunden, die ein grundlegendes Wohlbefinden der Menschen und auch ihre Lebensqualität sichert. Sexuelles Lernen, so wird unter bildungstheoretischer Betrachtung deutlich, erfolgt nicht einmalig innerhalb von Aufklärungsgesprächen, sondern kann als lebensbegleitender Selbstformungsprozess von vielfältigen Problemen und Krisen geprägt sein und mündet keinesfalls automatisch in einer überdauernden zufriedenen Lebensführung. Liebe, Partnerschaft und Sexualität sind umfassende und krisengeschüttelte Lernfelder und bergen damit vielfachen pädagogischen Begleitungsbedarf. Sexuelle Bildung meint die vielen lebensnahen Angelegenheiten der

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Jugendlichen zu begleiten und nicht sie punktuell zu problematisieren. Ein solcher Anspruch ist nicht innerhalb von kurzfristigen Präventionsprojekten zu leisten, sondern bedeutet pädagogische Beziehungsarbeit. Zugewandte Pädagog_innen sind nicht nur in brüchigen sozialen Verhältnissen ein wichtiger Bezugspunkt, sie bieten ganz grundsätzlich eine Gesprächsalternative zu Eltern oder Gleichaltrigen. Vorausgesetzt ist immer, dass Pädagog_innen signalisieren, gesprächsbereit zu sein. Andernfalls verstummen Jugendliche oder gehen in die provokative Offensive. Eine an ihnen orientierte sexuelle Bildung versteht sich also als Lebenskompetenzförderung, d.h. Reflexionsangebote je nach Entwicklungstand bereit zu halten. Sexualpädagogik als bewusstes Element institutioneller Anerkennungskulturen schützt die sexuellen Selbstentfaltungspotentiale der Heranwachsenden. Es geht hier nicht nur um die Behinderung der psychosexuellen Entwicklung, weil Botschaften der Korrektur, Entwertung und Tabuisierung bei Heranwachsenden das Gefühl unterstützen in ihrer sexuellen Aktivität nicht angenommen zu sein. Integritätsverletzungen, wie sie zuvor als diskriminierende und gewaltförmige Handlungsweisen geschildert wurden, sind nicht nur bloße pädagogische Versuche sich unliebsamer Themen zu entledigen, vielmehr sind sie als überdauernde Formen mangelnder Anerkennung, Unterstützung und strukturell begünstigte Übergriffe zu bezeichnen. Solche Grenzverletzungen, ob bewusst oder unbewusst, finden dann statt, wenn die Rechte der Heranwachsenden missachtet werden. Darunter fallen die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), eine gewaltfreie Erziehung (§1631 BGB) und sexuelle Selbstbestimmung (indirekt durch §174 „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ formuliert). Es spricht also einiges dafür, dass ein entwicklungsförderlicher und grenzwahrender Umgang durch ein sexualfreundliches Klima begünstigt und damit auch das Risiko von Grenzüberschreitungen reduziert wird – unter den Heranwachsenden aber auch durch Pädagog_innen (Schmauch 2010). Heimlichkeit oder beschämtes Wegschauen werden reduziert und decken nicht mehr Täter_innen mit ihren schleichenden Annäherungsversuchen. Ein förderlicher kollektiver Umgang mit Sexualität steht folglich in einem engen Zusammenhang mit einer intakten und offenen Teamkultur. 3.3 Das Selbstverständnis sexualpädagogischer Expert_innen Um die mit einer sexualpädagogischen Begleitung verbundenen Anforderung an pädagogische Fachkräfte genauer zu klären, kann ein Kompetenzprofil dienen, dass durch die eingangs erwähnte Befragung von Sexualpädagog_innen zusammengetragen wurde (Henningsen 2016). Sie äußerten sich dazu, welche spezifisch-sexualpädagogischen Kompetenzen gegenüber den allgemeinpädagogischen

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als besonders wichtig einzuschätzen sind. Das Professionalitätsverständnis der Expert_innen beruht sowohl auf spezifischen Fachkenntnissen als auch Selbstreflexion und sozial-kommunikativen Fähigkeiten. Zu ihren fachlichen Fertigkeiten zählten die Befragen spezielles, fachliches Wissen über Sexualität in den Lebensaltern und damit im Zusammenhang stehende Entwicklungsaufgaben und Herausforderungen. Dabei berufen sie sich auf transdisziplinäres sexualwissenschaftliches Wissen. „Viel Selbstreflexion“ deutet als sexualpädagogisches Credo darauf hin, dass die eigene Wirkung und Position immer wieder kritisch zu hinterfragen ist – insbesondere weil in die sexualitätsbezogene pädagogische Arbeit leicht persönlichprivate Anteile unbewusst einfließen können. Mit der Betonung auf der personalen Kompetenz scheinen die Expert_innen darum zu wissen. Insgesamt ist das Bewusstsein dafür hoch, dass sexualitätsbezogene Gespräche eher gelingen, wenn sensibel zugleich aber auch offen zu einer Auseinandersetzung mit Themen eingeladen wird. Dabei ist es wichtig die Wirkung der eigenen Person zu kennen und zu wissen wie man selbst als Person bei der Zielgruppe ansetzen kann – sich selbst also als „pädagogisches Werkzeug“ nutzt. Selbstverständlich ist, dass die Bereitschaft über Sexuelles zu sprechen, noch keine Garantie bedeutet, es automatisch angemessen zu tun. Und das, was Fachkräfte zum Gesprächsanlass machen, hat immer eine starke Einwirkung auf Persönlichkeit, weil Sexualität ein verwobenes Thema mit der Persönlichkeit ist. Das bedeutet auch, dass die eigene Sexualität von denjenigen, die im pädagogischen Kontext arbeiten, gut ausgeleuchtet sein muss und es ihr eben auch möglich sein muss, darüber zu kommunizieren. Ein kritischer Rückbezug auf die eigenen Sexualitäts- und Geschlechterbiografie ist also unablässig. Weil das Sprechen über Sexualität oft von anfänglichen Hemmungen geprägt sein kann, erleichtert ein humorvoller Zugang die Kommunikation und den Einstieg. Sozialkompetenzen werden als Respekt und Toleranz, Empathiefähigkeit, Gesprächsführung, Balance von Nähe und Distanz oder Grenzsensibilität formuliert. Durch die Zugewandheit kann auf Jugendliche in ihrer spezifischen Lage und mit ihren sexuellen Problemen, sowie Schwierigkeiten, mit denen sie kämpfen, besser eingegangen werden. Das bedeutet auch Wertvorstellungen nicht missionarisch überzustülpen, sondern Verständnisfähigkeit für die Entscheidungen Jugendlicher aufzubringen.

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Abb. 1: sexualpädagogische Kernkompetenz Frage an die Fachkräfte (N=42): Gibt es für Sie spezifisch-sexualpädagogische Kompetenzen, die Sie gegenüber den üblichen allgemein-pädagogischen Kompetenzen als besonders wichtig einschätzen? (offene Frage)

Aus diesem Kompetenzprofil lässt sich eine fachlich fundierte sowie reflektierte Praxis ableiten, in der sich ein sexualitätsfreundliches und machtsensibles Arbeiten abzeichnet. Das Potential für unreflektierte sexuelle Indoktrinationen wird minimiert.

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Sexuelle Bildung, Schutz und Professionalität zusammen denken

Die bislang vornehmlich unreflektiert diffundierten sexualmoralischen Vorstellungen in der Erziehungswissenschaft werden erst allmählich sichtbar und führen zur Feststellung, dass formal gesetzte und auch rechtlich fixierte Standards nicht immer erfüllt werden. Vielmehr bestehen womöglich flächendeckend und in di-

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versen pädagogischen Handlungsfeldern blinde Flecken, die dringend ein Korrektiv erfordern. Hauptsächlich geht es darum Professionalisierungsstrategien zu entwickeln, die den sexualitätsbezogenen Handlungsunsicherheiten entgegenwirken, denn sie sind für kontraproduktive bis destruktive Vorgehensweisen verantwortlich. Gerade durch einseitige und gefährdungsorientierte Wahrnehmungen wird Kindern und Jugendlichen der Weg zu sexueller Identitätsfindung und Selbstbestimmtheit verwehrt, dabei liegt hier ein besonderes Potential für Wehrhaftigkeit gegenüber verletzten Rechten sowie Grenzen und damit auch für den Kinder- und Jugendschutz. Die postfaktischen Manöver populistischer Gruppierungen tun ihr Übriges dazu: Sie packen Pädagog_innen sowie Eltern und geben ihren Unsicherheiten Aufwind. Mit den Argumenten „beschämender“ und „übergriffiger“ Sexualpädagogik wird eine Täuschung konstruiert, die eine sexualfreundliche Erziehung (ver)hindert. In diesem unsicheren Stadium, also ohne eine breit vertretene Position zu sexueller Bildungsarbeit, bleibt eine besondere Anfälligkeit für (populistische) Irritationen. Als einzig wirksamer Schutz dient ein reflexiver Nachholbedarf. Zur Reformierung ist sexuelle Bildung zwingend notwendig, weil sie gleichzeitig Recht und Bedarf der Heranwachsenden sichert. Sexualpädagogisch kompetente Fachkräfte minimieren die geschilderten Ausblendungen und Grenzverletzungen eher, weil sie einen höheren Reflexionsgrad und ausgebildete Handlungskompetenz besitzen. Aktuelle Aktivitäten lassen optimistisch auf Verbesserungen hoffen. Mit der Forschungslinie des BMBF, dem Aktionsplan des BMFSJF und der politischen Initiative des UBSKM werden der Schutz von Kindern und ihre sexuelle Selbstbestimmung stärker in die Soziale Arbeit getragen. Durch Schutzkonzepte werden Wege beschritten, um eine gewaltpräventive pädagogische Handlungsfähigkeit organisationsübergreifend zu stützen. Allerdings bleibt die ebenfalls notwendige Forderung nach sexualpädagogischer Qualifizierung und Konzeptentwicklung dahinter. Sexualpädagogik fließt eher als Teil einer Präventionsprogrammatik ein, die auf eine sexuelle Selbst- und Kommunikationskompetenz der Heranwachsenden abzielt. Die organisationalen oder auch verhältnispräventiven Voraussetzung, nämlich eine sexualfreundliche Haltung der Pädagog_innen, wird dabei nicht ausreichend berücksichtigt. Ein Trugschluss, der deutlich geworden sein sollte. Weitere gute Schritte wären getan, wenn Schutz- und sexualpädagogische Konzepte stärker in ihren sinnvollen Verschränkungen gedacht werden. Auch die sexualpädagogische Ausbildung für angehende pädagogische und schulische Fachkräfte bleibt ein zu verfolgendes Ziel, um eine ausreichende professionelle Auseinandersetzung zu gewährleisten.

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Kindeswohlgefährdung und der Verlust sozialer Kohäsion – Zur Notwendigkeit proaktiver Prävention durch Schutzkonzepte in Organisationen Sozialer Arbeit Mechthild Wolff

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Abstract

Einleitend wird anhand von drei Fallskizzen aufgezeigt, welche lebenslangen Auswirkungen Kindeswohlgefährdungen auf soziale Kohäsion haben können. Dabei werden Folgen eines derartigen Machtmissbrauchs für das Individuum und sowie die Gesellschaft angesprochen. Aufgezeigt wird das Ausmaß von Kindheitstraumata nach sexuellem Missbrauch weltweit. Angesichts der lebenslangen Bedeutung von Kindheitstraumata stellt das Thema Früherkennung eine zentrale Aufgabe in Arbeitsfeldern Sozialer Arbeit aller Lebensalter dar. Abschließend wird darum die Notwendigkeit von Schutzkonzepten in allen Organisationen begründet, die mit vulnerablen Zielgruppen in jedem Lebensalter arbeiten. Dafür ist die Aufnahme des Themengebiets im Curriculum aller Ausbildungs- und Studiengänge für helfende Berufe unerlässlich.

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Um was es geht – drei Fallskizzen

Um den Phänomenen, um die es in diesem Beitrag gehen wird, ein Gesicht zu geben, werden drei Fallskizzen vorangestellt: Herta ist heute 83 Jahre alt und lebt im Altenpflegeheim „Feierabend“. Sie hat keine Familie gegründet, war immer allein und arbeitete viele Jahre als Reinigungskraft in einer Putzkolonne, bis sie krankheitsbedingt in Rente ging. Im Pflegeheim wird sie gut versorgt, zu Besuch kommt niemand, weil es keine Familie gibt und weil sie immer sehr zurückgezogen gelebt hat. Sie ist sehr oft krank gewesen und litt ihr Leben lang unter einer starken Neurodermitis, die dauerhaft in vielen Kliniken behandelt werde musste. Bei einem Gesprächsabend stellt sich heraus, dass Herta in einem Kinderheim

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 B. Thiessen et al. (Hrsg.), Sozialer Wandel und Kohäsion, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25765-1_9

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großgeworden ist, wo sie viele Schläge aushalten und viel in der Küche und der Wäscherei des Heims arbeiten musste. Auch Elisabeth, die heute 45 Jahre alt ist, hat eine lange Behandlungsgeschichte. Sie wurde zum vierten Mal in der Psychiatrie stationär aufgenommen, weil sie unter starken Depressionen leidet und erneut versucht hat sich umzubringen. Ihre vierte Partnerbeziehung mit Hans (47), der unter einer Alkoholsucht leidet, ist in die Brüche gegangen. Eine Ausbildung als Tierpflegerin hat sie abgebrochen, sie lebt von Hartz IV. Elisabeth kämpft seit vielen Jahren auch mit massiven Essstörungen und musste darum mehrfach behandelt werden. In einer neu eingerichteten Selbsthilfegruppe hat sie erstmalig darüber gesprochen, dass sie in einer Kindergruppe war, die vom evangelischen Pfarrer der Gemeinde und seiner Frau geleitet wurde, und während einer Ferienfahrt sexuell vom Pfarrer missbraucht wurde. Eine schwierige Biografie hat auch Norbert (53 Jahre), er war 3 Jahre in der Justizvollzuganstalt, weil er seine Frau Hanna und seine Kinder so schwerwiegend über Jahre misshandelt hatte, dass sie nach einem langen Martyrium endlich mit den Kindern den Weg ins Frauenhaus gefunden hatte. Norbert lauerte ihr eines Tages auf und schlug sie und die Tochter Eva (5), so brutal zusammen, so dass Hanna drei Wochen stationär behandelt werden musste. Norbert wird gerade von der Bewährungshilfe betreut, dort hatte sich herausgestellt, dass er von seinen Eltern schwer misshandelt worden war, daraufhin in eine Pflegefamilie kam und dort von den Geschwistern und Mitschüler_innen in der Schule massiv gemobbt wurde. Allen drei Fallskizzen ist gemeinsam, dass es sich um Erwachsene handelt, denen Gewalt widerfahren ist. Dies geschah auf unterschiedlichen Wegen entweder in Familien oder in Organisationen der Erziehung und Bildung. Verübt wurde die Gewalt durch Peers oder Erwachsene. Die Gewalterfahrungen, die die drei beschriebenen Personen in ihrer Kindheit erleben mussten, hatten später den Verlust von Familienzusammenhalt oder von Gemeinsamkeit in Partnerbeziehungen zur Folge. Sie erleben Vereinsamung, Isolation und Verlust von Vertrauen in ihr Umfeld. Sie profitieren nicht von einer Solidarität in ihrem näheren Umfeld oder von sozialen Netzwerken, die ihnen Stabilität und Verständnis geben könnten. Sie können somit den Verlust von vielen Aspekten sozialer Kohäsion beklagen und ihre biografischen Brüche haben mitunter auch dazu geführt, dass sie in sozial benachteiligte Lebenslagen geraten sind. In der Wissenschaft gibt es für derartige Lebensgeschichten Erklärungsmodelle.

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Kindeswohlgefährdungen und Risiken lebenslanger gesundheitlicher Beeinträchtigungen

Inzwischen weiß man, dass Menschen, denen Kindeswohlgefährdungen jeglicher Art (nach Kindler et al. 2006) widerfahren sind, einen hohen Preis zu zahlen haben. Sie sind über ihr gesamtes Leben hinweg von den Auswirkungen des Erlebten betroffen und müssen mögliche gesundheitliche Folgeschäden in Kauf nehmen. Diesen Zusammenhang belegte die bahnbrechende amerikanische ACE-Studie (Adverse Childhood Experiences) von Vincent J. Felitti (Felitti et al. 2007) und seinem Team, die bereits in den 90er Jahren gestartet wurde. Im Rahmen der Studie wurden über 17.000 US-amerikanische Erwachsene zu möglichen Traumatisierungen in der Kindheit und deren Folgewirkungen untersucht. Die Studie belegte Kausalitäten zwischen Kindheitstraumata (d.h. Auftreten von Kindheits-Belastungsfaktoren oder frühkindlichen Stress-Erfahrungen) und der späteren Gesundheit im Erwachsenenalter – sowohl im Hinblick auf psychische wie auch körperliche Komponenten. Untersucht wurden in der Studie dazu insgesamt 10 mögliche Ereignisse bis zum 18. Lebensjahr, die als Kindheitstraumata gewertet werden können (Felitti et al. 2007, S. 18ff.): 1. Körperliche Misshandlung 2. Sexueller Missbrauch 3. Emotionaler Missbrauch 4. Körperliche Vernachlässigung 5. Emotionale Vernachlässigung 6. Häusliche Gewalt gegenüber der Mutter 7. Suchtmittel-Missbrauch im Haushalt 8. Psychische Erkrankungen im Haushalt 9. Trennung / Scheidung der Eltern 10. Inhaftierung eines Familienmitgliedes Nachgewiesen wurde der Effekt, dass je mehr Kindheitstraumata die Betroffenen in ihrer Kindheit erlebt hatten, desto größer war der negative Einfluss auf ihre Gesundheit. Erkennbar war auch, dass je früher Traumatisierungen eintraten und je mehr Ereignisse und Belastungen insgesamt bestanden, umso höher stieg die Wahrscheinlichkeit für körperliche oder/und psychische Erkrankungen sowohl im Kindes- als auch im Erwachsenenalter. Die Ergebnisse verweisen darauf, dass sich bei Betroffenen die Vulnerabilität gegenüber möglichen künftigen Stressereignissen erhöht, mit anderen Worten: Menschen mit Kindheitstraumata sind einfacher und schneller physisch und psychisch verletzbar. Bei den Betroffenen zeigt sich zudem vermehrt ein gesundheitliches Risikoverhalten, mit anderen Worten: sie

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scheuen weniger selbstschädigendes Verhalten oder erkennen einen möglichen gesundheitsschädigenden Einfluss z.B. durch Alkohol oder Drogen schlechter. Dargestellt werden diese Erkenntnisse in der ACE-Pyramide:

Abb. 1: (Quellenangabe Grafik: https://web.archive.org/web/20160116162134/http://www.cdc.gov/violenceprevention/acestudy/pyramid.html)

Die Pyramide zeigt auf, dass frühkindliche Traumatisierungen einen direkten Einfluss auf unterschiedliche gesundheitliche Risikofaktoren im gesamten Leben eines Menschen haben. Die Fallgeschichten am Anfang des Beitrags geben diesen Effekten ein Gesicht.

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Sexueller Missbrauch als weltweites epidemiologisches Risiko

Unter den Kindeswohlgefährdungsformen nimmt der sexuelle Missbrauch eine Sonderrolle ein. Sexueller Missbrauch wurde bisher weitaus intensiver beforscht als andere Kindeswohlgefährdungsformen (übergreifend dazu Fegert u.a. 2014) und seine weltweite Bedeutung wurde im letzten Jahr hervorgehoben. Im Jahr 2017 erklärte die World Health Organization (WHO), dass dem sexuellen Missbrauch weltweit die Bedeutung einer Epidemie zukommt. Die WHO stützte diese Einschätzung auf die hohen Prävalenzwerte, weltweit geht sie davon aus, dass jedes vierte Mädchen und jeder sechste Junge von der Menschenrechtsverletzung des sexuellen Missbrauchs betroffen ist. Im Vergleich dazu wies auch die UBSOptimus-Studie in der Schweiz eine hohe Prävalenz auf, hier wurde erhoben, dass

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jede_r siebte Jugendliche schon einmal zum Sexualverkehr gezwungen oder gegen seinen_ihren Willen an intimen Stellen berührt wurde. 30% der befragten Jugendlichen gaben außerdem an, schon einmal sexuelle Übergriffe in Form von Cyberviktimisierung erlebt zu haben (UBS Optimus Foundation 2012). Sexueller Missbrauch wird angesichts einer derartigen Verbreitung von der WHO als weltweites gesundheitliches Hauptproblem mit hohen Risiken für langfristige negative Gesundheitsfolgen einstuft. Die WHO veröffentlichte darum klinische Empfehlungen im Umgang mit Kindern und Erwachsenen nach sexuellem Missbrauch (www.who.int). Folgende Anforderungen werden hier als zentral herausgestellt: 1. Work with communities to improve timely care seeking by survivors of abuse. 2. Raise awareness of healthcare providers about child sexual abuse and its health consequences and how to recognize it. 3. Improve the response by healthcare providers towards those children and adolescents who seek services. 4. Improve coordination and timely referrals between other services or authorities where children and adolescents who are sexually abused are identified or taken to, and health services.” (WHO 2017, S. 8) Die hohen Zahlen verdeutlichen, welches Ausmaß das Problem des sexuellen Missbrauchs inzwischen weltweit angenommen hat und welche gravierenden gesellschaftlichen Folgen dies auf die Kohäsion in Gesellschaften haben kann.

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Kindeswohlgefährdung und Teilhabebeeinträchtigungen produzieren Vulnerabilität

Erst seit wenigen Jahren wird in Deutschland über die Problematik von Machtmissbrauch in Einrichtungen öffentlicher Erziehung und Bildung gesprochen, der in der Kindheit stattgefunden und erst Jahrzehnte später zu gravierenden Beeinträchtigungen geführt hat (Fegert/Wolff 2015). Handelt es sich um Ereignisse in der Nachkriegszeit, ist von sogenannten Altfällen die Rede. Diese Fälle von Kindeswohlgefährdungen in den 50er und 60er Jahren in Heimen und Internaten wurden jahrzehntelang verschwiegen, verschleiert, heruntergespielt und nicht geglaubt. Erst mit dem Bekanntwerden vieler Fälle wurde die Problematik gesellschaftlich diskutiert. Neben diesen Altfällen sind Gefährdungen durch alle Formen von Gewalt (physisch, psychisch, sexuell, strukturell, ökonomisch etc.) gegen Kinder und Jugendliche in Familien seit einigen Jahrzehnten Thema fachlicher Weiterentwicklung und beschäftigen den Kinderschutz. Katharina Rutschky hatte

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derartige Praktiken bereits in den 70er Jahren als „Schwarze Pädagogik“ entlarvt (Rutschky 2001). Immer wieder gab es aber auch kritische Hinweise auf gewaltförmige Erziehungspraktiken und sämtliche Gewaltformen gegenüber Kindern und Jugendlichen in professionellen Institutionen öffentlicher Erziehung und Bildung (u.a. Conen 1995; Enders 2002; Fegert/Wolff 2002; 2006). Sie blieben jedoch weitgehend unbeleuchtet und führten zu keiner nachhaltigen kritischen Debatte. In Deutschland setzte seit 2009 eine spürbare gesellschaftliche Reaktion auf die Vorkommnisse um die Odenwaldschule (Burgsmüller/Tillmann 2011) ein, die Kritik von Betroffenen in Heimen der 50er und 60er Jahre (Runder Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren) sowie die Vorkommnisse in katholischen Eliteinternaten (Stadler/Obermayer 2011). Eine breite öffentliche und (fach-)politische Diskussion um (sexuelle) Gewalt in Institution konnte dadurch in Gang gesetzt werden und führte zur Einrichtung eines weiteren Runden Tisches (Der Runde Tisch Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich 2011). Bei diesen Altfällen geht es seit 2009/2010 verstärkter um sämtliche Formen des Machtmissbrauchs durch Professionelle in Institutionen, d.h. um Fälle, in denen Erwachsene ihre Macht gegenüber Abhängigen ausgenutzt haben. Betroffene setzten einen Prozess der Aufarbeitung in Gang. Belegt wurde, dass die Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren in kirchlichen, aber auch in staatlichen Einrichtungen weitgehend von den Ideologien und Erziehungspraktiken vorheriger Jahrzehnte geprägt war. Willkür und Rechtlosigkeit von Betroffenen wurden als Folge von Systemversagen skizziert. Beklagt wurde machtmissbräuchliches Vorgehen in Form fehlender Anhörungen, Nicht-Nachkommen von Informationspflichten, körperlicher Züchtigung, Arrest und Essensentzug, demütigender Strafen, Kollektivstrafen, Kontaktsperre und Briefzensur, sexueller Gewalt, religiöser Zwang, Medikamentenzwang, Arbeit und Arbeitszwang und unzureichende Förderung (Runder Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren 2010). So muss man reklamieren, dass Kindeswohlgefährdungen zum Verlust sozialer Kohäsion führen können. Es geht hier um Menschen, die in Familien, aber auch in Einrichtungen öffentlicher Erziehung systematisch von Erfahrungen sozialer Kohäsion und positiven Entwicklungsvoraussetzungen abgehängt wurden. Ihnen wurden bio-psycho-soziale Schädigungen zugefügt, ihnen wurden keinerlei Bildungschancen eröffnet und keinerlei Bildungsgerechtigkeit im Bildungswesen zuteil, die zu stabilen Berufsbiografien hätten führen können. Der Verlust von Kohäsion führte somit auch zu einer fehlenden Teilhabe auf dem Arbeitsmarkt. Die drei Fälle am Anfang des Beitrags zeigen auf, wie Menschen von Ausgrenzung aus der Gemeinschaft betroffen sein können, wobei Stigmatisierung und soziale Etikettierung langfristige Folgen sein können. So sind viele Menschen langfristig durch Fehlverhalten ihrer Bezugspersonen in Familien oder in Organisationen zu

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vulnerablen Menschen geworden – ohne dass ihr Umfeld mitunter darüber informiert war. 6

Traumafolgen haben ihren Preis für die Gesellschaft

Die Langzeitfolgen von Kindeswohlgefährdungen wurden inzwischen breit belegt und auch monetär nachgewiesen. Dies macht die Seite des „Preises“ auf, den eine Gesellschaft zu zahlen hat. Mit den Langzeitfolgen von sexueller Gewalt hat sich die Deutsche Traumafolgekostenstudie aus dem Jahr 2012 auseinandergesetzt, hier geht es um die Traumafolgen durch Kindesmisshandlung, sexuellen Missbrauch und Vernachlässigung, die jährlich rund 11 Milliarden Euro ausmachen (vgl. Institut für Gesundheits-System-Forschung 2012). Der volkswirtschaftliche Schaden kann somit inzwischen als Kostenfaktor dargestellt werden, der menschliche Schaden ist jedoch unermesslich. Die Datenbasis für eine solche Berechnung markiert, dass wir diverse Langzeiteffekte in den Blick nehmen müssen. Als Berechnungsgrundlage dieser Studie wurden alle 15- bis 64-Jährigen aus dem Jahr 2009 untersucht. Von den 53,9 Millionen Deutschen dieser Altersgruppe waren 14,5 % von schwerer bis extremer Kindesmisshandlung, -missbrauch oder Vernachlässigung betroffen, 1/5 der Betroffenen (1,6 Millionen) trugen Langzeitfolgen davon (vgl. ebd.). Einerseits mutet es irritierend an, dass man menschliches Schicksal fiskalisch benennt. Andererseits wird deutlich, dass Langzeitfolgen zu erheblichen Kosten u.a. für Arbeitslosenunterstützung, Kriminalitätsfolgen oder Therapiekosten führen können. Die Langzeitfolgen, die Kindeswohlgefährdungen auslösen können, landen in den verschiedenen Systemen, sie müssen vom Gesundheits- und Sozialwesen bearbeitet werden. Allein im Gesundheitswesen werden 500 Millionen – 3 Milliarden Euro für diese Langzeitfolgen aufgewendet (vgl. ebd.). Hierdurch wird offenkundig, dass die Gesellschaft die Folgen persönlicher Schädigungen kompensieren muss. Der Verlust sozialer Kohäsion, dem Menschen somit systematisch ausgeliefert sind, muss aber auch damit begegnet werden, Betroffene in die Mitte der Gesellschaft zu holen und sie nicht an ihren Rand zu drängen – in die Bewährungshilfe, in Einrichtungen des Gesundheitswesens, in die Treberhilfe. Die Gemeinschaft muss Verantwortung übernehmen und die Systemfehler erkennen und Sorge dafür tragen, dass in der Zukunft Kindeswohlgefährdungen nicht mehr passieren. Eine frühzeitige Erkennung „schwacher Signale“ (Weick/Sutcliffe 2010) ist geboten, d.h. Fachkräfte in allen Systemen des Gesundheits- und Sozialwesens müssen Hinweise auf frühkindliche Traumata in jedem Lebensalter deuten und darauf eingehen können. Problemlagen müssen frühzeitig erkannt und interdisziplinär bearbeitet werden, so auch die Empfehlungen der WHO.

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Wie die Fallskizzen gezeigt haben, vergehen oftmals Jahre oder Jahrzehnte, bis Betroffene sich trauen über erlittenes Unrecht zu sprechen. Derartige Erlebnisse können zwar verdrängt, aber niemals vergessen werden. Betroffene müssen darum auf ein Milieu treffen, das die Bereitschaft zur Aufdeckung („disclosure“) im Sinne einer Offenlegung hat (Rieske et al. 2018, S. 1). Gerade vulnerable Menschen müssen motiviert werden, dass sie sich anvertrauen und professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.

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Schutzkonzepte als proaktive Form der Prävention in der Sozialen Arbeit

Kindeswohlgefährdungen sind ein wichtiges Thema für die gesamte Soziale Arbeit und sie können in allen Handlungsfeldern und in der Arbeit mit allen Adressat_innen in jedem Lebensalter relevant werden. Menschen können in jedem Lebensalter in einen Disclosure-Prozess kommen, mit anderen Worten: zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens können sich Menschen anvertrauen und Menschen kann Derartiges passieren. Menschen können sich aber auch zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens bewusstwerden, dass ihnen in der Vergangenheit Unrecht wiederfahren ist. Anknüpfend an die bereits genannten Fallskizzen ist die Rede von Erwachsenen, die in der Wohnungslosenhilfe Unterstützung suchen, ohne zu wissen, dass ihnen in ihrer Kindheit eine Kindeswohlgefährdung in Form von psychischer Gewalt durch einen Heimaufenthalt widerfahren ist, die aber nie erkannt oder bearbeitet wurde. Es ist auch möglich, dass sie nie in Zusammenhang mit einer frühkindlichen emotionalen Schädigung gebracht wurde. In einem Altenheim können Menschen leben, die in ihrer Kindheit schwerwiegende Traumatisierungen durch unverhältnismäßige und gewaltförmige Erziehungsmethoden durch Lehrer_innen an Schulen erleben mussten, die nie an- oder besprochen wurden. Für sie bestehen in erhöhtem Maße Risiken der Reinszenierung und der Retraumatisierung durch neues, akutes ähnliches Erleben. Erfahrenes Leid kann erst spät im Leben zutage treten. In der Gewährungshilfe können Menschen betreut werden, die in ihrer Kindheit eine nie erkannte elterliche Vernachlässigung erfahren mussten und die aufgrund fehlender sozialer Kohäsion erst in eine delinquente Karriere eingemündet sind. Sie können sich in einem Teufelskreis befinden, aus dem sie ohne Hilfe und ohne Aufarbeitung nicht mehr hinausfinden. In Kindertageseinrichtungen können aktuelle Fälle von Vernachlässigung durch Eltern bekannt werden, die möglicherwiese selbst in ihrer Kindheit davon betroffen war. Auch in anderen Einrichtungen der Erziehung und Bildung können

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derartige Konstellationen erkannt, aber auch verschwiegen oder aufgrund fehlender Achtsamkeit nicht wahrgenommen werden. So besteht die Aufgabe für alle sozialen Organisationen, die mit Menschen jeden Alters arbeiten, dass sie frühzeitig überlegen müssen, wie sie Schutz und Sicherheit für die Menschen und wie sie ein Klima der Achtsamkeit herstellen können, um mögliche, in der Kindheit erlebte traumatische Erfahrungen zu bearbeiten. Soziale Einrichtungen müssen darum Schutzkonzepte entwickeln, die dazu dienen, Unrecht auszuschließen und um mögliche Fehler bearbeitbar zu machen.

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Schutzkonzepte als Prozesse zur Steigerung von Achtsamkeit vor Ort

Die Diskussion über Schutzkonzepte wurde vom Runden Tisch Kindesmissbrauch angeschoben und bis dato auf Organisationen bezogen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. In diesem Beitrag wird die Notwendigkeit von Schutzkonzepten in allen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit begründet. Das Verständnis von Schutzkonzepten lässt sich auf sämtliche Organisationsformen beziehen, die mit Menschen in Abhängigkeitsverhältnissen arbeiten, d.h. die auf die Hilfe und Unterstützung anderer in Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens angewiesen sind. Dabei gilt es zu erkennen: je höher die Abhängigkeit und je mehr Menschen anderen ausgeliefert sind, weil sie sich nicht artikulieren können oder bewegungsunfähig sind oder ihre Orientierung eingeschränkt ist, desto mehr Gelegenheitsstrukturen gibt es, um bestehende Machtasymmetrien zu den eigenen Gunsten auszunutzen. Darum bedarf es Regularien, Spielregeln oder Vereinbarungen in Form eines Schutzkonzepts. Ein solches ist dazu da, die Achtsamkeit einer Organisation für die Menschen- und Sozialrechte von anvertrauten Schutzbefohlenen zu erhöhen. Es geht darum, mögliche machtmissbräuchliche Praxen in Organisationen zu erkennen, sie anzusprechen und Maßnahmen der Prävention zu planen, um machtmissbräuchliche Praxen künftig auszuschließen. Organisationen benötigen konkrete Maßnahmen, damit Schutz in Organisationen besser hergestellt werden kann. Schutzkonzepte werden vor diesem Hintergrund als „ein Zusammenspiel aus Analyse, strukturellen Veränderungen, Vereinbarungen und Ansprachen sowie Haltung und Kultur einer Organisation“ (UBSKM 2015) verstanden. Schutzkonzepte leisten somit einen wichtigen Beitrag zur Neujustierung der „Kultur einer Organisation“ (Wolff 2015, S. 47). Anliegen eines Schutzkonzeptes ist es darum, eine Organisationskultur zu schaffen, die sich durch Achtsamkeit auszeichnet. Achtsamkeit im Sinne eines aktiven Hinhörens, Hinschauens und Eingreifens, wenn höchstpersönliche Rechte verletzt werden. Diese Achtsamkeit ist nicht nur in Situationen relevant, in denen höchstpersönliche Rechte von Akteur_innen offensichtlich missachtete werden, sondern drückt sich bereits in einer

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Sensibilität für „schwache Signale“ bzw. „kleine Fehler“ aus, die potentiell zu Gefährdungen führen können (Weick/Sutcliffe 2010). Schutzkonzepte sind darum als Organisationsentwicklungsprozesse zu verstehen, um mögliche Risiken und Gefährdungen zu erkennen und Sorge dafür zu tragen, dass diese Risiken minimiert werden. So muss man statt von Schutzkonzepten eigentlich von alltäglichen Schutzprozessen sprechen, denn es geht nicht um einzelne Präventionsmaßnahmen, Checklisten zum Abhaken oder eine Ansammlung von (Fortbildungs-)Zertifikaten oder unterzeichneten Verhaltenskodizes, die in einem Ordner abgeheftet werden (Kampert 2015; Wolff 2014). „Vielmehr geht es um partizipative Dialoge in lernenden Organisationen, die Schutzkonzepte als organisationale Bildungsprozesse für sich nutzen, d.h. in denen sich Organisationen über Risiken, Gefährdungen und Gelingensfaktoren ihrer eigenen professionellen Arbeit selbstvergewissern“ (Allroggen et al. 2017, S. 12). Bevor Gefährdungen bearbeitbar sind, müssen sie transparent gemacht und es müssen Worte dafür gefunden werden. Nur so kann ein Dialog zwischen allen Akteur_innen in Organisationen entstehen.

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Schutzprozesse zur Stärkung der Achtsamkeit für Adressat_innen

Im Zusammenhang mit Schutzkonzepten für Organisationen wird von insgesamt vier Schlüsselprozessen gesprochen, die zu einem Klima des Schutzes in Organisationen beitragen sollen (BMJ / BMFSFJ / BMBF 2011): 1. Gefährdungs- oder Risikoanalysen unter Einbezug von bestehenden Schutzfaktoren und Potenzialen einer Einrichtung: Eine Gefährdungs- oder Risikoanalyse ist ein erster Schritt und somit der Ausgangspunkt der Erarbeitung eines Schutzkonzepts. Hier wird die Wissensgrundlage geschaffen für die sich anschließenden organisational zu bearbeitenden Prozesse der Prävention, der Intervention und der (langfristigen) Aufarbeitung. Mit „Analyse“ ist hier der (selbst-)kritische Blick auf die eigene Organisation gemeint, um die organisationalen Strukturen, Arbeitsabläufe sowie arbeitsfeldspezifischen Besonderheiten hinsichtlich potenzieller Risikofaktoren/Gelegenheitsstrukturen zu überprüfen, die Machtmissbrauch ermöglichen bzw. begünstigen könn(t)en (Wolff/Bawidamann 2017, S. 246). 2. Entwicklung von passfähigen, einrichtungs- und zielgruppenspezifischen Präventionsmaßnahmen: Darunter fallen z. B. Information, Aufklärung und Ermutigung von Kindern und Jugendlichen über Beschwerde als Disclosure fördernde Maßnahmen, Förderung von Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche und Mitarbeiter_innen, präventionsorientierte Einstellungsverfahren für neue Mitarbeiter_innen in Verantwortung von Leitungskräften oder Verhaltenskodizes für Fachkräfte oder ehrenamtlich Tätige.

Kindeswohlgefährdung und der Verlust sozialer Kohäsion

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3. Entwicklung von Interventionsmaßnahmen: Hierbei geht es um die Würdigung gesetzlicher Gewährleistungspflichten für die Organisationen, die z. B. in Melde- oder Dokumentationspflichten bestehen können oder in arbeitsrechtlich oder strafrechtlich relevanten Verfahrensabläufen. 4. Etablierung von Maßnahmen der Aufarbeitung möglichen Unrechts in Organisationen: In nicht erkannten Fällen von Unrecht handelt es sich zumeist um ein Systemversagen, das eine breite Fehleranalyse voraussetzt. Diese Krise kann auch als Chance verstanden werden, um aus der kollektiven Analyse erneut Präventionsmaßnahmen ableiten zu können. Evaluationen über solche Entwicklungsprozesse mit belastbaren Daten darüber, wie sich der Schutz und die Sicherheit in Organisationen durch Schutzkonzepte erhöht haben, liegen bis dato nicht vor. Es mangelt auch an Nachweisen über einen möglichen Zugewinn an Handlungssicherheiten von Professionellen oder eine Verbesserung des Schutzgefühls von Kindern oder Jugendlichen. Erfahrungen zeigen jedoch, dass Diskurse über Schutzkonzepte in Organisationen Themen aufwerfen, die vielfach tabuisiert sind, dazu gehören z.B. Themen wie Nähe und Distanz, Körper und Sexualität, Macht und Machtmissbrauch, Beschwerden und illegitime Erziehungspraktiken. Evaluationen wären dringend nötigt. Einig ist man sich allerdings darüber, dass Schutzkonzepte keinesfalls als technokratische Herangehensweise verstanden werden sollten, die die Vorstellung stärken, dass ein Schutzklima durch Einzelmaßnahmen, wie z.B. ein straffes Regelwerk oder Diagnosetools herzustellen ist (Böwer/Brückner 2015). Sie sollten somit auch keinen kontrollorientierenden Ansatz verfolgen, dann wären sie missverstanden. Zu fragen ist jedoch, wie der Schutz von Kindern und Jugendlichen in Organisationen besser und verbindlicher verankert werden kann.

10 Fazit Eine zentrale Lehre, die aus den Diskursen der vergangenen Jahre zum Thema Kindeswohlgefährdung und Machtmissbrauch in Institutionen zu ziehen ist, besteht darin, dass Organisationen durch fehlende Achtsamkeit für die Rechte ihrer Adressat_innen zum Verlust von sozialer Kohäsion beigetragen haben. Viel zu wenig weiß man über Mechanismen des kollektiven Verschweigens, Tabuisierens und Verdrängens in Organisationen, obwohl gerade diese jahrzehntelang wirksam waren. Darum müsste auch für Auszubildende und Studierende, die in helfenden Berufen tätig werden, ein Curriculum erarbeitet werden zu den Schattenseiten von Organisationen: z.B. Entstehungsbedingungen für Machtprozesse in Organisationen, Vermeidung geschlossener Systeme, Folgen eines kollektiven Organisations-

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gedächtnisses. Hier stehen wir noch am Anfang einer dringend notwendigen Entwicklung und erst wenn Akteur_innen in Organisationen mehr selbstkritische Distanz zu sich, ihrer Profession und Disziplin, ihren Teamstrukturen und ihren Arbeitsbedingungen aufbringen können, sind sie in der Lage, proaktive und hilfreiche Schutzprozesse in den eigenen Reihen in Gang zu setzen. Solange die Soziale Arbeit um ihre gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung ringen muss, wird das Einnehmen einer selbstkritischen Distanz schwierig. Angesichts der aufgezeigten Probleme, wäre dies jedoch erforderlich. Professionelle in Organisationen, die Menschen Unterstützung, Hilfe und Zuwendung zuteilwerden lassen und ihre Tätigkeit auf Beziehungsarbeit stützen, müssen sich über ihre möglichen Quellen von Macht bewusster werden. Sie müssen auch achtsam sein in der Frage, was Arbeitsstrukturen, behördliche Vorgänge, gesellschaftliche Diskurse und Rahmenbedingungen dazu beitragen können, so dass Organisationen unachtsam werden. Es gilt vor allem solche Machtquellen zu enttabuisieren, die potentiell destruktiv gegen andere eingesetzt werden können. Erst wenn Akteur_innen in Organisationen erkannt haben, dass Fehler jeglicher Organisation inhärent sind und passieren können, sind sie dazu bereit, auf der Basis von Fehlerfreundlichkeit proaktive Maßnahmen des Schutzes und der Sicherheit zu implementieren – im eigenen Interesse nach mehr Handlungssicherheit und im Sinne der Einlösung der Rechte der ihnen anvertrauten Adressat_innen.

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Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit zwischen Vision und Wirklichkeit Ein Zwischenresümee Gunda Voigts

Das Institut für Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung (IKON) der HAW Landshut, in dessen Kontext dieser Artikel im August 2016 entstanden ist, definiert als „zentrales Anliegen der Kohäsionsforschung“ die Suche nach dem „Zusammenhalt von Gesellschaften in Wandlungsprozessen“ (IKON o.J.). Bei der Beschäftigung mit dieser Frage richtet sich nicht selten der Blick auf die junge Generation. Damit scheint sich die Hoffnung zu verbinden, etwas darüber zu erfahren, wie die Welt von morgen sein könnte oder anders formuliert: wie sich der soziale Zusammenhalt und das Miteinander in der Gesellschaft der Zukunft gestalten könnte. Auf dieser Suche beschäftigen sich Kinderstudien beispielsweise damit, wo Kinder ihre Freunde und Freundinnen treffen oder welchen Unterschied die (soziale) Herkunft für die Wahl von und Positionierung in Schule und Freizeitgestaltung hat (z.B. Alt 2005a, 2005b; Krüger et al. 2008, 2010, 2012; FurtnerKallmünzer et al. 2002; World Vision 2013). Jugendstudien zielen u.a. darauf ab, Wertorientierungen zu erfassen und Typenbildungen zu konstatieren, auch ihr gesellschaftliches Engagement oder Nicht-Engagement kommt in den Fokus (z.B. Calmbach et al. 2016; Shell 2015; Antes/Schiffers 2015). Zeitstudien versuchen Freiräume zu definieren, die in und neben der Bindung in Institutionen des Aufwachsens für die Gestaltung eines Miteinanders für junge Menschen vorhanden oder auch nicht vorhanden sind (z.B. Lange/Wehmeyer 2014; Statistisches Bundesamt 2015). In gesellschaftspolitischen Szenarien werden in der Folge die sich daraus (scheinbar) ableitbaren Problemanzeigen fokussiert. Aus ihrer Formulierung entstehen in der Konsequenz Anforderungen, die an das Aufwachsen und die Entwicklung von jungen Menschen und die Systeme, in denen sie sich bewegen wie z.B. Schule oder Kinder- und Jugendhilfe, gestellt werden. Sie fußen auf sehr verschiedenen Vorstellungen dessen, welche „künftigen Erwachsenen“ die Gesellschaft zu benötigen scheint. Zugleich ist dieser Blick kritisch als ein Ablenken von den sich immer stärker segmentierenden Welten der Erwachsenen zu deuten, die sich entlang der „alten“ Ungleichheitskategorien wie finanzielle Ausstattung,

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 B. Thiessen et al. (Hrsg.), Sozialer Wandel und Kohäsion, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25765-1_10

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Qualifikation, Herkunft, körperliche Verfasstheit – wenn auch in komplexer werdenden Zusammenhängen und Korrelationen – erfassen lassen. Der Artikel beschäftigt sich in diesem Kontext mit einem Ort für Kinder und Jugendliche, der gesetzlich zugeschrieben dafür sorgen soll, dass junge Menschen eine Anknüpfung und ihre eigene Positionierung in der Gesellschaft finden sowie sich ihrer Verantwortung für deren Mitgestaltung bewusstwerden: der Kinder- und Jugendarbeit. Ihre Angebote sollen – so ist es im §11 des SGB VIII formuliert – junge Menschen „zur Selbstbestimmung befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement anregen und hinführen“. Inwieweit Kinder- und Jugendarbeit dabei dem grundlegenden Anspruch der Kinder- und Jugendhilfe gerecht werden kann, dass „jeder junge Mensch […] ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit [hat]“ (SGB VIII, §1), soll hinterfragt werden. Dabei werden insbesondere der im Zuge der UN – Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) forcierte Anspruch nach inklusiven Gestaltungsstrategien sowie die damit einhergehenden Visionen und Realitäten betrachtet. Kinder- und Jugendarbeit soll in ihrer Wirkung auf den möglichen Zusammenhalt in einer Gesellschaft nicht überhöht werden. Zugleich soll ihr ein Platz eingeräumt werden, der ihrer Bedeutung im Aufwachsen für die Mehrheit der jungen Menschen gerecht wird. Es ist davon auszugehen, dass auch Kinderund Jugendarbeit einen Beitrag zum Zusammenhalt der Gesellschaft leisten kann und mit den sie bestimmenden Maximen wie Subjekt- und Interessenorientierung, Selbstbestimmung und Freiwilligkeit dafür ein bestimmtes Wertegerüst zugrunde legt. Eine der Thematiken, die dieser Band aufgreift, ist die Debatte über die Folgen von (vermeintlich) verbesserten normativen Leitideen oder Vorgaben im Feld Sozialer Arbeit. Die Frage, ob aus diesen Veränderungsdynamiken entstanden sind oder entstehen können, ist maßgeblich. Mit Blick auf die Kinder- und Jugendarbeit muss zunächst betrachtet werden, welche neuen Vorgaben vorhanden sind. Hier wird die These zugrunde gelegt, dass insbesondere die UN-BRK eine solche neue normative Vorgabe sein könnte – auch mit der Offenheit, genau diese Annahme mit einer Gegenthese zu belegen. Es soll gefragt werden, welche Prozesse die Ratifizierung der Konvention in der Kinder- und Jugendarbeit ausgelöst hat. Zu resümieren ist dabei, welche fachpolitischen und konzeptionellen Debatten entfacht wurden und welche Reaktionen sich in der Praxis zeigen. Dazu wird kritisch hinterfragt, mit welchem Verständnis der Begriff Inklusion genutzt wird und Perspektiven einer Kinder- und Jugendarbeit auf dem Weg zu inklusiven Gestaltungsstrategien angedeutet werden.

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Zur Bedeutung von Kinder- und Jugendarbeit für Kinder und Jugendliche

In einer Positionierung der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (agj) findet sich selbstbewusst formuliert, dass Kinder- und Jugendarbeit „der einzige institutionell gesicherte und staatlich geförderte Ort [sei], an dem Kinder und Jugendliche eigenständig gestaltbare und auslotbare Erfahrungsräume nutzen können, in denen nicht Erwachsene mit ihren Erwartungen Orientierungspunkte bilden und in denen eine Lernkultur vorherrscht, die auf Erfahrungen des alltäglichen Lebens setzt und so nachhaltige Wirkung auf Bildungsprozesse entfaltet.“ (agj 2011, S. 1) Auch wenn diese Beschreibung sehr idealtypisch anmutet, dürften die grundlegenden Annahmen für die weitaus größte Zahl der Angebote uneingeschränkt Geltung haben. Kinder- und Jugendarbeit ist ein breites und variantenreiches Feld innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe (vgl. z.B. Deinet/Sturzenhecker 2013; Hafeneger 2011; Thole 2000). Die Verschiedenheit ihrer Träger, ihrer Organisationsstrukturen, ihres Personals, ihrer erreichten Kinder und Jugendlichen, ihrer Orte, ihrer Angebotsformen und auch ihrer Finanzierungsbasis kann schnell verwirren und lässt sich nicht in einem Modell erfassen. Durchgesetzt hat sich vor allem die Unterscheidung in die offene und die verbandliche Kinder- und Jugendarbeit, wenngleich an der Sinnhaftigkeit dieser Trennung in einem strikten Sinne durchaus gezweifelt werden darf. Zu sehr durchmischen sich inzwischen Formen und Trägerlandschaften (vgl. Voigts 2013a). Insoweit spiegelt ihre Differenziertheit und Vielfalt letztlich die Lage der Gesellschaft wider, in der wir leben. Unwidersprochen, quer durch diese Vielfalt steht dabei das Credo und die Beschreibung aus Praxis, Wissenschaft wie Politik, dass Kinder- und Jugendarbeit über zahlreiche Potenziale für junge Menschen verfüge. Die Debatten um Kinderund Jugendarbeit als wichtigem Ort non-formaler wie informeller Bildung verdeutlichen das ebenso, wie Ausführungen in den Kinder- und Jugendberichten oder empirischen Studien. Zusammengeführt werden diese von Rauschenbach et al. (2010) in vier grundlegenden Potenzialen in einer Studie zur Lage der Kinder- und Jugendarbeit. Sie verweist auf Bildungs- und Verantwortungs-, Gemeinschaftsund Integrationspotenziale: Als Bildungspotenziale werden „Prozesse der Aneignung, Anerkennung und der Selbstentfaltung, der Selbstbestimmung, der anderen, alternativen Erfahrungen, vergleichsweise frei von Zwängen“ gesehen, die sich durch „Beteiligung, Mitwirkung und selbstgestaltete Bildungsprozesse“ entfalten können sowie Lern- und Lebenswelten wieder neu verschränken und damit personale und soziale Kompetenzen fördern (ebd., S. 237f.). Die Möglichkeiten des freiwilligen Engagements, welche Kinder- und Jugendarbeit bietet, werden als Verantwortungspotenziale deklariert, durch die Kompetenzen erworben werden, die der Gesellschaft wie der individuellen Entwicklung dienen (ebd., S. 251). Durch das Erleben von Gemeinschaft persönliche Stärkung zu erfahren, fähig für

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das Leben in Gemeinschaft zu werden sowie soziale Kontakte und Beziehungen aufzubauen, die Bedeutung für das weitere Leben haben, wird als Gemeinschaftspotenzial von Kinder- und Jugendarbeit herausgearbeitet (ebd., S. 257f.). Als letzter Punkt – und dieser dürfte für die Anliegen von Kohäsionsforschung von besonderem Interesse sein – werden Integrationspotenziale in drei Dimensionen gesehen: Es wird davon ausgegangen, dass Kinder- und Jugendarbeit „Integration in soziale Netzwerke“, „Integration in gesellschaftliches Leben“ und „Integration in Sozialräume“ schafft (ebd., S. 261f.). Die Beschäftigung damit, welche (vermeintlichen) Gruppen von Kindern und Jugendlichen von diesen Potenzialen mehr, weniger oder gar nicht profitieren, ist eine der Herausforderungen, denen sich Kinder- und Jugendarbeit (nicht erst heute) stellen muss. Um Kinder- und Jugendarbeit zumindest als einen von anderen wichtigen Motoren zur Ermöglichung eines gesellschaftlichen Zusammenhalts im Rahmen von Kohäsionsforschung zu positionieren, muss die Frage beantwortet werden, wie viele und welche jungen Menschen von den Angeboten der Kinderund Jugendarbeit tatsächlich in diesem Sinne profitieren, also die Angebote nutzen, gestalten oder selbst erst durch ihr Engagement hervorbringen. Es sei vorweggenommen, dass eine eindeutige Bestimmung nicht erfolgen kann. Im Gegensatz zur Schule gibt es in der Kinder- und Jugendarbeit keine Teilnahmepflicht und damit keine entsprechende Nachweisführung; im Gegensatz zu Kindertageseinrichtungen gibt es in vielen Settings keine Anmelde- oder Zahlungsformalitäten und auch keine festgelegten Platzzahlen; im Gegensatz zu den meisten Hilfen zur Erziehung gibt es keine an der Fallzahl orientierte Bezahlung. Allein dies macht valide Aussagen nahezu unmöglich. Hinzu kommt bei der statistischen Erhebung von Teilnahme- bzw. Nutzungsquoten die Schwierigkeit, dass Kinder und Jugendliche häufig mehr als eine Einrichtung oder ein Angebot der Kinder- und Jugendarbeit besuchen, zugleich aber bewusst nicht in allen Angeboten ein regelmäßiger Besuch eine Zugangsvoraussetzung darstellt. Die Angabe einer Nutzung sagt zudem nichts über deren zeitliche Dimension wie Qualität aus. Insofern gibt es mehrere Wege, die Frage nach der quantitativen Bedeutung von Kinder- und Jugendarbeit zu beantworten, die durchaus zu verschiedenen Antworten führen. Es lassen sich übergreifende Statistiken wie die KJH-Statistik oder spezifische wie die EKD-Statistik oder die Statistiken von Jugendverbänden heranziehen. Größer angelegte Befragungen von jungen Menschen und/oder ihren Eltern bieten Aufschlüsse (z.B. AID:A, World-Vision-Kinderstudien, Shell-Jugendstudien; DJIKinderpanel). Weiterhin existieren vereinzelt Studien zu Jugendverbänden, zu Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit oder zur kulturellen Bildung. Es würde den Rahmen sprengen, an dieser Stelle allen Optionen nachzugehen und verallgemeinerbare Schlüsse zu ziehen. So seien nur einige Daten als Beispiel genannt: Seckinger et al. beziehen sich in ihrer Studie zu Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit auf die Daten des Surveys „Aufwachsen in Deutschland:

Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit

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Alltagswelten (AID:A)“ aus 2009 (Seckinger et al. 2016). Sie gehen davon aus, dass in der Altersgruppe der 13- bis 21-jährigen zwischen knapp 33% (13-jährige) und ca. 20% (21-jährige) der Jugendlichen ein Jugendzentrum nutzen (ebd., S. 141ff.). Die „Jugendstudie 2015“ arbeitet heraus, dass 26,2% der befragten 12- bis 18-jährigen nach eigenen Angaben offene Jugendtreffs nutzen, 24,9% Jugendgruppen in Kirchen, Moscheen oder Synagogen besuchen, 63,3% im Sportverein aktiv sind und 36,7% eine Jugendgruppe in einem Verein nutzen (Antes/Schiffers 2015, S. 51). Fauser et al. nennen als Ergebnis ihrer repräsentativen Reichweitenuntersuchung von 10- bis 20-jährigen, dass 10,1% der Befragten nach eigenen Angaben Angebote der Evangelischen und 8,8% der Katholischen Jugend nutzen, 15,3% kommunale Organisationen sowie 25,1% Vereine (Fauser et al. 2008, S. 83). Um mit diesen Angaben präzise zu arbeiten, müssten ihre Erhebungszugänge und Schwierigkeiten der Ergebnisdarstellung betrachtet werden. Auch das muss hier unterbleiben. Trotzdem lässt sich auch mit diesem sehr rudimentären Einblick in empirische Studien festhalten, dass Angebote der Kinder- und Jugendarbeit nach wie vor zum festen Bestandteil der Freizeitgestaltung für einen nicht unerheblichen Anteil der Kinder und Jugendlichen gehören (vgl. auch BMFSFJ 2013; Schmidt 2011; Gadow/Pluto 2014). Anderseits darf nicht verschwiegen werden, dass Kinder- und Jugendarbeit sich auf diesem Befund nicht ausruhen kann, sondern in Konkurrenz zu einer Vielzahl an Angeboten steht. Kinder- und Jugendarbeit befindet sich inmitten zentraler Herausforderungen. Als Aktionsfeld, dass seinen Ausgangspunkt in den Interessen, Themen und jeweils aktuellen Lebensentwürfen von jungen Menschen hat, ist sie es gewohnt, ihre Methoden, Inhalte wie Organisationsformen neu anzupassen und zu verändern. Das gelingt ihr je nach Form, Ort, Träger, etc. besser oder schlechter, stellt sie vor eher geringe oder sehr hohe Herausforderungen. Aktuell lassen sich einige herausgehobene Anforderungen betonen. Dazu gehören die sich wandelnde Schullandschaft mit ihrer Ausweitung in den Nachmittag (Ganztagsschule) wie ihre Öffnung für Schüler und Schülerinnen mit diagnostizierten Förderbedarfen („Inklusive Schule“), der engere Zeithorizont von Jugendlichen, der Zertifizierungsdruck, die Separierung der sozialen Schichten wie der demografische Wandel. Der Umgang mit diesen Herausforderungen hat eine hohe Bedeutung für die Zukunft der Kinder- und Jugendarbeit. Vielleicht befindet sie sich längst in einem Existenzkampf, den sie in ihrer Härte noch nicht wahrnimmt oder nicht akzeptiert, vielleicht steht sie aber auch vor einem neuen Aufschwung als Garant für die Schaffung und den Erhalt von selbstbestimmten (Frei-)Räumen für junge Menschen.

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Gunda Voigts Die nicht unumstrittene Bestimmung von Kinder- und Jugendarbeit als „offen“

Kinder- und Jugendarbeit muss sich im Hinblick auf ihren Beitrag zum Zusammenhalt der Gesellschaft fragen lassen, welche Kinder und Jugendlichen sie tatsächlich einzubinden sucht und erreicht. Empirische Befunde, die Antworten liefern, sind übersichtlich. Verschiedene Studien legen nahe, dass z.B. Jugendliche mit Migrationshintergrund (wie auch immer man diese Kategorisierung zu definieren vermag) in Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit eher überrepräsentiert seien, während in Jugendverbänden das Gegenteil zutreffe (vgl. z.B. Seckinger et al. 2009, 2016; Jagusch 2014). Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen (wer auch immer damit gemeint sei) gehören nach Angaben der Mitarbeitenden in 58% der Jugendzentren bereits zu den Besuchern und Besucherinnen (Seckinger et al. 2009, S. 211ff.). Dieser Aussage zum Trotz wird in anderen Veröffentlichungen davon ausgegangen, dass junge Menschen mit Handicaps bzw. (zugeschriebenen) Behinderungen in der Kinder- und Jugendarbeit unterrepräsentiert seien und wenn, dann eher spezifische Angebote oder Ferienfreizeiten nutzen (vgl. Beck 2013; BMFSFJ 2013; Voigts 2015). Die Beschäftigung damit, wie offen Kinder- und Jugendarbeit in der Realität ist, hat durch die Ratifizierung der UN-BRK und die gesellschaftliche Auseinandersetzung an Intensität gewonnen und sich an vielen Orten unter dem Begriff „Inklusion“ vertieft. Die Frage, welche Bedeutung die UN-BRK konkret für die Kinder- und Jugendarbeit hat, bleibt dabei zuweilen offen – ebenso wie die Klärung, welche Idee, welcher theoretische Anspruch und welche Umsetzungsstrategien mit der Begrifflichkeit verbunden werden (vgl. Dannenbeck 2014; Lüders 2014). Nicht immer wird Inklusion mit dem normativen Anspruch versehen, den die UN-BRK „explizit zur gesellschaftspolitische Maxime und damit in verbindlicher Weise handlungsleitend“ (Dannenbeck 2014, S. 488) in den Allgemeinen Grundsätzen in §3 gesetzt hat: „die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft“ sowie die Nichtdiskriminierung, die Chancengleichheit wie Zugänglichkeit für alle Menschen zu erreichen. Dieses wichtige Fundament der UN-BRK ist nichts anderes als die neuerliche Betonung der allgemeinen Menschenrechte. Allzu häufig wird Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit auf die Integration von Kindern und Jugendlichen mit zugeschriebenen Behinderungen verkürzt. Damit bewegt sie sich gesellschaftlich und auch in der Kinder- und Jugendhilfe durchaus im Mainstream. Das Bundesjugendkuratorium nimmt z.B. in seiner Stellungnahme „Inklusion: Eine Herausforderung auch für die Kinder- und Jugendhilfe“ (bjk 2012) diese Begrenzung vor. Die scheinbar vor dem Scheitern stehenden Debatten um die „Inklusive Lösung SGB VIII“ stehen dem in nichts nach (vgl. Wiesner 2016). Daher ist es lohnenswert, im nächsten

Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit

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Abschnitt genauer zu betrachten, wie der Begriff Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit verstanden und angewendet wird. 3

Begriffliche Zugänge und Nutzungsmechanismen von Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit

Unter dem Begriff Inklusion finden sich in der Kinder- und Jugendarbeit analog zu den gesellschaftspolitischen Debatten sehr unterschiedliche Entwicklungslinien und Betrachtungsweisen. Inklusion wird als die konzeptionelle Öffnung für Mädchen und Jungen mit Behinderungen formuliert, sie kommt als ergänzendes Phänomen in der Zusammenarbeit mit Schule innerhalb inklusiver Schulentwicklungen in den Horizont oder wird als die Suche nach neuen Konzeptionierungen konfiguriert, die stark auf eine Zusammenarbeit mit neuen Partnern aus der Behindertenhilfe, Selbsthilfeorganisationen oder Migrant_innen-Vereinen setzen, räumliche oder sprachliche Barrierefreiheit thematisieren oder junge Menschen in Armutslagen neu einbeziehen. Die Beispiele veranschaulichen, dass Inklusion auch in der Kinder- und Jugendarbeit als neuer „Container-Begriff“ genutzt wird. Deshalb wird hier der Versuch unternommen, genauer zu analysieren, was und wie innerhalb der Kinder- und Jugendarbeit aktuell unter dem Begriff diskutiert wird. Die Rahmung erfolgt über eine Differenzierung von Lindmeier und LütjeKlose (2015). Sie benennen drei Konturen des Inklusionsbegriffes, indem sie den Blick auf das Adressat_innenverständnis in den Inklusionsdebatten und -konzepten richten. Sie unterscheiden ein (1) „enges, behinderungsbezogenes Adressatenverständnis“, ein (2) „weites, auf ´alle´ Diversitätsmerkmale bezogenes Adressatenverständnis“ sowie ein (3) „auf alle Lernenden, besonders aber auf vulnerable Gruppen bezogenes Adressatenverständnis“ (Lindmeier/Lütje-Klose 2015, S. 7f.). Diese drei aus den internationalen Schuldiskursen herausgearbeiteten Ansätze lassen sich auch in der Kinder- und Jugendarbeit finden und rahmen entsprechend den Blick auf Kinder und Jugendliche im Rahmen der Debatten um Inklusion. Das mit (1) umschriebene Verständnis fokussiert eindeutig und ausschließlich Kinder und Jugendliche mit (zugeschriebenen) Behinderungen. Im Anschluss an sonder- wie integrationspädagogische Traditionen versuchen verschiedene Ausprägungen von Kinder- und Jugendarbeit diese Zielgruppe wieder, stärker oder erstmalig zu erreichen. Inklusion wird in dieser Denklinie häufig verkürzend als Integration verstanden: Ohne anzuerkennen, dass die eigenen Angebote vielleicht einer grundlegenden Veränderung und Öffnung bedürfen, wird (mit viel Engagement) versucht, Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen eine Teilnahme in den bestehenden Formen zu ermöglichen. Dabei steht ganz pragmatisch die Frage im Vordergrund, was wie in den bisher gesetzten und gelebten Strukturen schon jetzt möglich ist und/oder mit wenigen Veränderungen möglich werden

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kann. Inklusion zielt in diesem Verständnis auf den Einbezug von jungen Menschen mit Behinderungen in das bisher vorhandene Programmangebot. Diese Rahmung schließt mit ein, dass bestimmte Formen von Behinderungen in bestimmten Angeboten weiterhin eine Barriere zur Teilhabe darstellen und mitunter zum Ausschluss führen. Auch wenn im Weiteren deutlich werden wird, dass eine Kinderund Jugendarbeit, die sich durch inklusive Gestaltungsprinzipien auszeichnen will, ein anderes Verständnis von Inklusion benötigt, muss festgehalten werden, dass gerade dieser Weg in der praktischen Arbeit vor Ort häufig ein erster Zugang zur Beschäftigung mit Inklusion ist. Die Begegnung entsteht „mitten im Leben“: Jugendliche mit Behinderungen selbst, ihre Eltern oder auch Freunde und Freundinnen fragen das „Mitmachen“ an, Ehrenamtliche oder Hauptberufliche reagieren offen, versuchen mit den gegebenen Rahmenbedingungen das zu ermöglichen, was spontan und ohne große Veränderung „geht“. Dies bringt zuweilen neue Kontakte mit anderen Systemen wie z.B. Einrichtungen der Behindertenhilfe oder unterstützenden Diensten mit sich. Genau das ist häufig der Einstieg in eine grundsätzlichere Öffnung. Qualitative Studien zeigen auf, dass Manches in der Realität nicht so kompliziert zu sein scheint, wie zuvor von Verantwortlichen der Kinderund Jugendarbeit angenommen (vgl. Voigts 2015). Erste Kontakte im Sinne dieses Inklusionsverständnisses führen zum Nachdenken über Haltungen, Möglichkeiten und Öffnungsoptionen. Diese Form der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen ist – wenn auch nicht unter dem Begriff Inklusion ‒ nicht erst seit der UNBRK zu beobachten. Zumeist unter dem Titel „Integrative Jugendarbeit“ weist sie in einzelnen Verbänden, Einrichtungen oder Orten bereits eine lange Tradition auf (vgl. z.B. Fachgruppe „Forum inklusiver ev. Jugendarbeit“ 2007; Beeres-Fischer et al. 1996; Duda 2012; Grahammer et al. 1994). Nicht automatisch mit eingeschlossen ist bei diesem Inklusionsverständnis eine Auseinandersetzung darüber, wie die Offenheit von Angeboten grundsätzlich für alle Kinder und Jugendlichen erhöht werden könnte. Es zeichnet sich eher dadurch aus, dass sehr individuell Optionen für eine Teilhabe gesucht werden, was nicht immer über die konkrete Anfrage hinausstrahlt. Trotzdem dürfen positive wie negative Erfahrungen, die so gemacht werden, nicht unterschätzt werden. Sie sind in der Regel die Basis für die Frage, ob das Verständnis von Inklusion sich aus diesem engen Horizont heraus weitet und die Grenzen des Behinderungsbezuges überschreiten. Eine abstraktere Schwierigkeit dieses Zugangs ist, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderungen häufig als einheitliche Gruppe dargestellt werden. Der „Behinderungsbegriff“ wird auch in der Kinder- und Jugendarbeit bisher wenig differenziert genutzt. Junge Menschen mit Behinderungen sind unterschiedlich, wie Kinder und Jugendliche an sich unterschiedlich sind. Der 13. Kinder- und Jugendbericht hat an dieser Stelle eingefordert, Kinder und Jugendliche als erstes als

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Kinder und Jugendliche zu sehen (BMFSFJ 2009). Kinder- und Jugendarbeit muss sich darin üben, diesen Blick zurückzugewinnen. Das (2) weite, auf „alle“ Diversitätsmerkmale bezogene Verständnis von Inklusion ist jenes, welches der Kinder- und Jugendarbeit in ihrer bisherigen Ausgestaltung naheliegt. In der Tradition der „Pädagogik der Vielfalt“ (Prengel 2006) wird sich einer Kategorisierung von jungen Menschen politisch entgegenstellt und versucht, in der praktischen Arbeit darauf zu verzichten. Die Auseinandersetzung mit Diversity hat insbesondere in der internationalen Kinder- und Jugendarbeit eine längere Geschichte (vgl. Drücker et al. 2014; Thimmel et al. 2011; Thimmel/Chehata 2015). Inklusion kann mit diesem Anspruch nur funktionieren, wenn Angebote der Kinder- und Jugendarbeit tatsächlich offen für alle Kinder und Jugendlichen sind bzw. werden. Angelegt ist dieses Verständnis in der grundsätzlichen konzeptionellen Offenheit für alle jungen Menschen. Faktisch ist diese jedoch häufig eher programmatisch angelegt und findet in der Realität ihre Brechung. Kinder- und Jugendarbeit ist nicht vorzuwerfen, davor ihre Augen zu verschließen. Wie mit diesem Bruch umgegangen werden kann, scheint aber nach wie vorher an vielen Orten ungeklärt. Als Herausforderung sind in diesem Kontext z.B. Fördersysteme öffentlicher Träger wie auch von Stiftungen und Lotterien zu benennen, die nahezu durchgängig auf die Gruppierung von jungen Menschen und die Zuschreibung von Defiziten, die ausgeglichen werden sollen, rekrutieren. Ebenso erwähnt werden muss die Milieuorientierung von Jugendverbänden, finanzielle Zugangsbarrieren gerade in Angeboten der kulturellen Jugendarbeit oder die konkrete Anbindung von offenen Einrichtungen zu Schulen des mehrgegliederten Bildungssystems. Das dritte benannte Inklusionsverständnis (3) stellt sehr verschiedene Formen der Marginalisierung von Gruppen von Menschen in den Vordergrund. In der Kinder- und Jugendarbeit zeigen sich diese vor allem in der Analyse von Zugangsund Mitwirkungsbarrieren und dem Versuch, diese zu minimieren. Die „Maximierung der Partizipationschancen“ sowie eine „Minimierung sozialer Ausgrenzungsrisiken insbesondere für marginalisierte Gruppen“ (Lindmeier/Lütje-Klose 2015, S. 9) sind kennzeichnende Grundwerte dieses Zugangs. Dieses Verständnis von Inklusion findet sich in der Kinder- und Jugendarbeit in der Auseinandersetzung mit den jeweils eigenen, angebots-, verbands- oder einrichtungsspezifische Barrieren. Zugangsbarrieren können als „Scharnier zwischen Inklusion und Exklusion“ (Voigts 2015, S. 248ff.) angenommen werden. Eben nicht nur Behinderungen auch Armut, das Leben in bestimmten Wohnquartieren oder Milieus, Sprache, Religion und spezifische kulturelle Ausprägungen können Zugangsbarrieren zu Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit sein (Sturzenhecker 2007; Voigts 2015). Diesem Inklusionsverständnis folgende Angebote oder Projekte suchen nach der Überwindung dieser Barrieren, optimaler Weise unter Einbezug der betroffenen

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Kinder und Jugendlichen (vgl. S. 5). Das Dilemma dieses Ansatzes liegt darin, dass Inklusion eigentlich gerade nicht will, das vermeintliche Gruppen kategorisiert werden. Um aber die Zugangsbarrieren zu Angeboten zu minimieren und optimaler Weise komplett zu beseitigen, benötigt es den genauen Blick auf besondere Barrieren für Menschen mit „besonderen“ Bedarfen. Zu resümieren ist, dass die Verständnisse und Zugänge, auf denen der Begriff Inklusion basiert oder in dessen Sinne er verwendet wird, genauso von Vielfalt geprägt ist, wie die Kinder- und Jugendarbeit selbst. Dass dabei nicht immer davon auszugehen ist, dass der Begriff bewusst und überlegt in der ein oder anderen Weise Verwendung findet, gilt sicherlich nicht nur für die Kinder- und Jugendarbeit. Das erschwert es, den „Status Quo von Inklusion“ im Feld zu analysieren. Die UN-BRK bietet an dieser Stelle eine Betrachtungsfolie, die für die Kinderund Jugendarbeit aber ein normatives Gerüst bleibt. Dessen Beachtung und Umsetzung ist im Zuge der Diffusität des Begriffes ohne konkrete Kriterien kaum zu bewerten.

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Die UN-BRK als neue normative Leitlinie für die Kinder- und Jugendarbeit?

Nach den beschriebenen in der Kinder- und Jugendarbeit zu findenden Inklusionsverständnissen, bleibt zu fragen, inwiefern die UN-BRK eine neue normative Folie für die Kinder- und Jugendarbeit bietet. Dannenbeck (2014) fordert unter dem Titel „Inklusive Kinder- und Jugendarbeit?“ dazu auf, dass Soziale Arbeit insgesamt in ihrer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eine klare Positionierung „in der politischen Inklusionsdebatte im Sinne des normativen Gehalts der umzusetzenden UN-BRK“ (Dannenbeck 2014, S. 491) vornehmen müsse. Hierzu gehört für ihn, dass „die strategische Ausrichtung an einer kritisch-selbstreflexiven Qualifizierung der eigenen Profession in der Tradition ihres Selbstverständnisses als Menschrechtsprofession“ (ebd.) wie eine „reflektierte Diskussion der theoretischen Fundierung des Inklusionsbegriffes sowie eine kritische Reflexion des Inklusionsdiskurses vor dem Hintergrund einer beobachtbaren reduktionistischen Wahrnehmung durch Politik, Medien und Öffentlichkeit“ (ebd.) erfolgen müsse. Der normative Gehalt kann für ihn nichts Anderes sein, als die „Unteilbarkeit der menschenrechtlichen Perspektive“ (Dannenbeck 2014, S. 489), mit der logischen Folge, dass Kinder- und Jugendarbeit ‒ wie alle Handlungsfelder ‒ ihre Praxis neu hinterfragen müsse. So gesehen bietet die UN-BRK für Kinder- und Jugendarbeit die normative Leitlinie für eine selbstbestimmte, gleichberechtigte, durchgängige Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen an ihr selbst wie in anderen Systemen und Orten der Gesellschaft zu arbeiten und

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einzutreten. Der nicht gering zu schätzende Verdienst ihrer Ratifizierung liegt darin, dass genau das durch die öffentlichen Debatten in der Kinder- und Jugendarbeit wiederentdeckt wurde. Seit 2009 hat es kaum einen Jugendverband, einen Zusammenschluss von Trägern der Kinder- und Jugendarbeit, etc. gegeben, der nicht das Thema Inklusion auf der Agenda seiner Gremien, Positionierungen, Fachtagungen oder -zeitschriften hatte. Festgehalten werden muss aber, dass dieser Kampf für die uneingeschränkte Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen keine neue normative Leitlinie für die Kinder- und Jugendarbeit ist. Hafeneger resümiert zurecht, dass „Integration und Inklusion mit ihren Lern- und Entwicklungschancen für die junge Generation zentrales Credo und Konstitutionsmotiv der politisch-anwaltlichen Tradition und der disziplinären Debatten des praktischen Feldes der Kinder- und Jugendarbeit“ (Hafeneger 2008, S. 332) seien. Wichtig zu betonen ist – denn das ist die zentrale Herausforderung der Kinder- und Jugendarbeit –, dass die Ausrichtung auf dieses Ziel immer sowohl die inneren Prozesse (also die konkrete Gestaltung der Angebote und Strukturen) wie auch die äußeren Prozesse (also den Kampf innerhalb der gesellschaftlichen Strukturen) impliziert hat. In der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) ist bereits 1990 formuliert, dass Kindern „ohne jede Diskriminierung unabhängig von der Rasse, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen, ethnischen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, einer Behinderung, der Geburt oder des sonstigen Status des Kindes, seiner Eltern oder seines Vormunds“ (UN-KRK, §2) sämtliche Rechte gewährleistet werden müssen. Darüber hinaus erkennen die Vertragsstaaten in §31 „das Recht des Kindes auf Ruhe und Freizeit an, auf Spiel und altersgemäße aktive Erholung sowie auf freie Teilnahme am kulturellen und künstlerischen Leben“ sowie die Achtung und Förderung des Rechtes des Kindes „auf volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben und fördern die Bereitstellung geeigneter und gleicher Möglichkeiten für die kulturelle und künstlerische Betätigung sowie für aktive Erholung und Freizeitbeschäftigung“. Es ist der UNBRK zu verdanken, dass das Recht auf vollkommene, uneingeschränkte Teilhabe in Erinnerung gerufen wurde und neuere und weitergehende Debatten in der Gesellschaft herausfordert. Für die Kinder- und Jugendarbeit ist sie aber letztlich nur insoweit eine neue Dimension, dass sie noch einmal ausdrücklich die Rechte von Kindern mit Behinderungen einfordert sowie klarstellt, dass es bei Inklusion nicht im Sinne der Zweigruppentheorie um eine Integration von bisher ausgegrenzten Kindern und Jugendlichen geht. Das Ziel muss von vornherein eine uneingeschränkte Teilhabe an allen Angeboten, Aktivitäten und damit Potentialen der Kinder- und Jugendarbeit sein. Das ist eine normative Leitlinie, welche zumindest in ihrer Resolutheit als neu für die Kinder- und Jugendarbeit bezeichnet werden dürfte. Umso bedauerlicher ist es, dass der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-BRK „Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft“

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(BMAS 2011) sich dem Blick auf die Bedeutung der Kinder- und Jugendarbeit verschlossen hat. Unter dem Stichwort „Kinder und Jugendliche“ findet sich unverständlich kein näherer Bezug zur Kinder- und Jugendarbeit und ihren Möglichkeiten (vgl. ebd., S. 57ff.). (Vgl. Voigts 2013b, S. 213)

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Beobachtbare Entwicklungen auf dem Weg zu inklusiven Gestaltungsstrategien in der Kinder- und Jugendarbeit

Beim Blick auf die Entwicklungen sei eine provokative These vorweg gestellt: Konzeptionell müsste sich Kinder- und Jugendarbeit für den Weg zu inklusiven Gestaltungsstrategien nicht verändern. Es würde genügen, wenn sie den von ihr selbst proklamierten Maximen folgen würde. Mit ihrer Lebenswelt- und Ressourcenorientierung, Freiwilligkeit und Partizipation, Subjekt- und Sozialraumorientierung, Demokratie- und Beziehungsorientierung trägt sie alle Voraussetzungen in sich. Offenheit für alle Kinder und Jugendlichen ist Teil ihrer gesetzlichen Grundlage. In Satzungen, Leitbildern, Selbstbeschreibungen, etc. ist das verortet. Und doch: Die Brüche zur Realität sind an sehr vielen Orten offensichtlich. Der Titel eines bundesweiten Projektes macht das deutlich „Auftrag Inklusion – Perspektiven für eine neue Offenheit in der Kinder- und Jugendarbeit“ (aej et al. 2015). Kinder- und Jugendarbeit ist gefordert, und auch das ist ein Verdienst der UN-BRK, sich mit der Einlösung ihrer konzeptionell angelegten Offenheit stärker auseinanderzusetzen und Partizipationsformen zu schaffen, die allen Kindern und Jugendlichen eine Mitbestimmung ermöglichen. Auf diesem Weg wird ihre zuvor beschriebene Vielfalt zu einer besonderen Stärke. Wie in der Erwachsenenwelt wird es kaum möglich sein, alle Kinder und Jugendlichen mit ihren individuellen Ideen und Interessen an einem Ort zu versammeln. Das ist auch nicht das Ziel von Inklusion. Es geht darum, jeder und jedem an den Orten, an denen er oder sie möchte, einen Zugang ohne Barrieren zu bieten. Die bisher beobachtbaren Entwicklungen auf diesem Weg werden in den folgenden Punkten zusammengeführt und exemplarisch konkretisiert; sie bilden einen ersten Versuch der Systematisierung und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit: Landes- und bundesweite Projekte versuchen, Inklusion als Thema der Kinder- und Jugendarbeit zu forcieren. Die begrifflichen Ausdifferenzierungen sind dabei wie oben beschrieben breit. In der Regel findet eine Kombination aus Fachtagungen für Praktiker und Praktikerinnen, Diskussionsforen mit politisch oder administrativ Verantwortlichen und der Sammlung von Best-Practice statt. Die Ergebnisse werden in unterschiedlichen Formen veröffentlicht. Es vollzieht sich eine Auseinandersetzung darüber, was auf dem Weg zur Inklusion notwendig ist.

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Beispiele dafür sind auf Bundesebene das bereits erwähnt Projekte „Auftrag Inklusion“ (aej et. al 2015; Voigts 2014) oder das Projekt der Deutschen Jugendfeuerwehr „Inklusion in der Jugendfeuerwehr“ (DJF 2010), auf Landesebene das Projekt „Under Construction“ (Arbeitskreis G5 o.J.) in NRW. Durch Stellungnahmen und Positionierungen wird Inklusion als Herausforderung und Auftrag der Kinder- und Jugendarbeit politisiert. Genannt seien exemplarisch der Beschluss „Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit. Orientierungen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention“ der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter (bagljä 2012) und die „Standortbestimmung von Kinder- und Jugendarbeit im Kontext von Inklusion“ (aej et al. 2014a). Checklisten zur Inklusion werden als zentrales Instrument auf dem Weg zu inklusiven Gestaltungsprinzipien entwickelt und eingesetzt. Ausgangspunkt ist dabei der „index for inclusion“ (Booth/Ainscow 2011; Boban/Hinz 2013) sowie Weiterentwicklungen desselbigen für spezifische Bereiche (Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft 2011; Booth et al. 2006). So hat Aktion Mensch gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland und der Diakonie Deutschland einen „Inklusionscheck für die Kinder- und Jugendarbeit“ (aej et al. 2014b) etabliert oder die LAG kath. Offene Kinder- und Jugendarbeit in NRW eine „Checkliste für inklusive offene Kinder- und Jugendarbeit“ (LAG kath. OKJA NRW 2013) entwickelt. Weitere Ansätze sind der „Index für die Jugendarbeit zur Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung“ (Meyer/ Kieslinger 2014) sowie ein Online-Fortbildungstool unter dem Titel „Inklusion in Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit“ (Dannenbeck/Dorrance 2011). Sie alle haben zum Ziel, die bestehenden Angebote und Strukturen mit einem systematischen Zugang zu hinterfragen und neue Perspektiven zu entwickeln. Ausbildungs- und Fortbildungskonzepte werden zum Gradmesser für die Implementierung von Inklusion in der Praxis. Verstärkt entstehen Juleica-Aus- und Fortbildungsmodule, die Inklusion entweder in ihrem umfassenden Verständnis (z.B. LJR Berlin 2014; Ottensmann/Kleinsorge 2014) oder in einem behinderungsspezifischen Verständnis aufgreifen (z.B. ejir 2011). Neue Jugendorganisationen gründen sich und erhalten Zugang zu Jugendringen als Zusammenschlüssen von Akteuren der Kinder- und Jugendarbeit – und damit Teilhabe innerhalb politischer Partizipationsprozesse. Im Bereich von Jugendlichen, die sich selbst als Jugendliche mit Migrationshintergrund definieren, ist dieses eine schon fortgeschrittene Entwicklung, für Jugendliche, die sich im Umfeld von Organisationen der Behindertenhilfe bewegen, eine eher neuere Entwicklung. Gemeinsame Projekte entstehen als Coaching-Prozesse oder als gemeinsame inhaltliche Prozesse. Selbsthilfeorganisationen öffnen sich und arbeiten mit „etablierten“ Trägern der Kinder- und Jugendarbeit zusammen (z.B. aej 2011). Wettbewerbe werden ausgeschrieben, deren Ziel es häufig ist, auf gelungene inklusive Strategien aufmerksam zu werden, diese zu sammeln in den Austausch

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zu kommen und die Erfahrungen für andere nutzbar zu machen. Beispiele dafür sind der „Initiativen Preis 2013“ des Paritätischen Jugendwerk NRW „Inklusion – geht doch!“, der evangelischen Jugendprojektpreis „JUPP! 2013“ unter dem Motto „All Inclusive. Alle sind dabei!“ oder der Wettbewerb „…läuft bei uns. Ideen für die inklusive Kinder- und Jugendarbeit“ des Bundesverbandes für körper- und mehrfachbehinderte Menschen (bvkm). Neue, übergreifende Allianzen entstehen. Der Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen kooperiert z.B. mit der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg (dpsg), das Deutsche Jugendrotkreuz mit der Deutschen Gehörlosenjugend und den Young Voice der Türkischen Gemeinde in Deutschland (JRK 2016). Finanzielle Förderprogramme auf den verschiedenen Ebenen (Bundes-, Landes-, Ortsebene) und von öffentlichen wie freien Trägern, Stiftungen und Lotterien werden aufgelegt, um Inklusion zu forcieren. Und nicht zuletzt: Vor Ort wird Neues gewagt. Freizeiten werden offen für alle, Ausschreibungen und Homepages in leichter Sprache verfasst, Einrichtungen barrierefrei gestaltet, etc. (eine Sammlung von Beispielen siehe aej et al. 2015)

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Fazit, Zwischenresümee und Perspektiven

Wer nicht das erste Mal auf die „Szene der Kinder- und Jugendarbeit“ schaut, erkennt in den genannten Beobachtungen Strategien, die auch bei der Setzung anderer Themen bekannt sind. Sie führen einmal mehr, ein anderes Mal weniger zum Erfolg. Das aber schmälert ihren Wert nicht. Die Aktivitäten zeigen, dass Inklusion als ein wichtiges Thema in der Kinder- und Jugendarbeit angekommen ist, dass darum gerungen wird, dass ausprobiert, neu erfunden und politisiert wird. Das ist die Chance, Inklusion mit ihrem menschenrechtlichen Gewicht in der Kinder- und Jugendarbeit zu verankern. Darin liegt der Schlüssel, einen neuen, weitergehenden Beitrag zum Zusammenleben in der Gesellschaft leisten zu können – auch wenn wie aufzeigt selbst die Debatten darum, mit welchem Verständnis der Begriff Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit verwendet wird, noch nicht zu Ende geführt sind. Es wurde nachvollzogen, dass die Debatte um Offenheit und Teilhabe für alle Kinder und Jugendlichen in der Kinder- und Jugendarbeit nicht neu ist. Die Belegung genau dessen mit dem Begriff Inklusion schon. Sie ist ein Impuls, der aus der UN-BRK entstanden ist. Was die Kinder- und Jugendarbeit mit all ihrer Vielfalt daraus macht, ist noch offen. An diesem Punkt schließt sich der Kreis zur Kohäsionsforschung: Die Offenheit, mit welcher Kinder und Jugendliche dem Leben und der Gesellschaft, in der dieses sich vollzieht, begegnen, hat immense Bedeutung dafür, ob das Ziel einer

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inklusiven Gesellschaft erreicht werden kann. Ihr Aufwachsen ist wesentlich durch Peer-Bezüge geprägt. Wenn Kinder- und Jugendarbeit durch ihre Offenheit einen Raum bieten kann, in dem Freundschaften auch über Schul-, Milieu-, Wohnund Herkunftsgrenzen hinweg entstehen können, leistet sie einen wertvollen Beitrag für ein „bunteres“ Zusammenleben in der Gesellschaft. Es ist gezeigt worden, dass unter dem „Label Inklusion“ in der Kinder- und Jugendarbeit neue Bezüge zu weiteren gesellschaftlichen Arenen geschaffen werden. Das lässt sich im Sinne der Kohäsionsforschung vielleicht als eine Veränderungsdynamik beschreiben, die einen positiven Beitrag für den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu erreichen vermag. Es soll am Ende dieses Artikels nicht der Fehler gemacht werden, Kinderund Jugendarbeit zu idealisieren oder zu überhöhen. Dass über Freizeitgestaltung Positionierungen vollzogen werden, Eltern genau das nutzen, um ihren Kindern den besten Ausgangspunkt in der Gesellschaft zu verschaffen, ist gesellschaftliche Realität. Ein Hockeyclub mit einer hohen finanziellen Zugangsbarriere versammelt andere junge Menschen als der Bauwagen auf einem öffentlich zugänglichen Platz inmitten eines Wohnsilos. Die programmatische Offenheit beider Angebote hilft hier nicht weiter. Kinder- und Jugendarbeit kann nicht gesellschaftliche Entwicklungen korrigieren. Aber sie bietet Optionen, wenn sie es schafft, tatsächlich offen für alle Kinder und Jugendlichen zu sein. Das kann sie überhaupt nur dann erreichen, wenn sie es auch will. Diese Haltungsfrage entscheidet sich in der Regel konkret bei den Trägern und Verantwortlichen der Angebote vor Ort – und an den Rahmenbedingungen, die eine Offenheit möglich, nötig und erstrebenswert machen: Inklusion kann in der Kinder- und Jugendarbeit nicht von oben verordnet werden, sie muss von allen Beteiligten gewollt und gewünscht sein. Den Blick darauf zu richten, wie das ermöglicht werden kann, welche Rahmenbedingungen sich als förderlich zeigen und welche positive Auswirkungen das auf den Zusammenhalt einer Gesellschaft zeigt, könnte ein wichtiger und interessanter Teil von Kohäsionsforschung werden.

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Gunda Voigts

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Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit

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Zu kurz gesprungen. Auf dem Weg zu gleichwürdiger Teilhabe und Nichtdiskriminierung? Kritische Anmerkungen zum Inklusionsdiskus, wie wir ihn kennen Clemens Dannenbeck

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Abstract

Die Inklusionsdebatten im Anschluss an die Ratifizierung der UN-BRK durch Bund und Länder im Jahre 2009 haben zu einem hohen rhetorischen Aktionismus geführt – sowie zu Veränderungen gesetzlicher Rahmenbedingungen, die für Menschen mit Behinderung mit wenig Hoffnung auf gleichwürdige Teilhabe und Diskriminierungsfreiheit verbunden sind. Die Profession und Disziplin der Sozialen Arbeit reiht sich dabei weitgehend in eine Umsetzungsstrategie ein, die sich in der Optimierung punktueller Integrationserfolge gefällt. Gleichzeitig steht die Zukunft des Sozialen durch eine unhinterfragte ökonomische Funktionslogik mehr denn je in Frage. Hier gilt es, die Anwendung der UN-BRK als Aufruf zur Bekämpfung sozialer Entsolidarisierung zu begreifen und ihr kritisches Potenzial für die Gestaltung gesellschaftlicher Transformationsprozesse zu erkennen.

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Von der Notwendigkeit kritischen Widerspruchs

Der vorliegende Beitrag erhebt weniger den Anspruch einer wissenschaftlich fundierten Klärung praktischer Problemstellungen, die im Zuge einer ‚Entwicklung hin zu einer sich als inklusiv verstehenden Gesellschaft’ auftreten, als vielmehr den eines aus der Sicht des Autors unhintergehbaren und überfälligen Einspruchs gegen die im Namen von ‚Inklusion’ etablierten öffentlichen Rhetoriken und politischen Aktionismen. Was bisher geschah – politisch wie auch in Teilen einschlägiger Fachdebatten, medial wie widergespiegelt in öffentlichen Diskursen – ist

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 B. Thiessen et al. (Hrsg.), Sozialer Wandel und Kohäsion, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25765-1_11

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Clemens Dannenbeck

wenig dazu angetan, als eine inklusionsorientierte gesellschaftspolitische Entwicklung interpretiert zu werden. Hinz (2016) beispielsweise hält die diesbezüglich hierzulande zu beobachtenden Tendenzen für einen schlichten Fehlstart und der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Genf1 stellt dem Land in seinen Abschließenden Bemerkungen 2 zum Ersten Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2011) ein denkbar schlechtes Zeugnis aus: Der Ausschuss ist besorgt darüber, dass es bei der Erfüllung der Pflichten des Vertragsstaats aus dem Übereinkommen in Teilen seines Hoheitsgebiets zu einer uneinheitlichen Entwicklung von Aktionsplänen zum Thema Behinderung gekommen ist, insbesondere, was deren Inhalt und Ausrichtung sowie die konsequente Verfolgung eines konventionskonformen, menschenrechtsbasierten Ansatzes angeht (ebd.: III.A.5) Was in dieser Situation not tut, ist kritisch Widerspruch einzulegen gegen einen mittlerweile medial, politisch und fachlich etablierten ‚Inklusionsdiskurs’, in dem sich mit Blick auf die im Jahre 2009 durch Bund und Länder ratifizierte UN-BRK3 in weiten Teilen eine Fehlinterpretation widerspiegelt. Diese besteht im Wesentlichen darin, dass die aus der UN-BRK folgenden Konsequenzen ausschließlich als ein bestenfalls gesellschaftspolitisches, schlimmerenfalls auch tendenziell bildungspolitisch begrenzbares Projekt gelesen und nicht in ihrem menschenrechtlich begründeten gesetzlichen Rahmen interpretiert werden, die in alle gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Entscheidungen grundlegend hineinwirken. Mithin wird die UN-BRK als bloßes Umsetzungsprogramm gelesen (und missverstanden), wo es doch um deren an- und fortdauernde Anwendung gehen würde. Auch das Grundgesetz etwa wird ja keineswegs programmatisch final umgesetzt, sondern hat kontinuierliche Geltung und Wirksamkeit zu entfalten, d.h. zur fortlaufenden Anwendung gebracht zu werden. So wie Grundgesetzverletzungen gegebenenfalls zu korrigierenden Maßnahmen zwingen, bedürfen im Widerspruch zur UN-BRK stehende Verhältnisse zwingend verändernder Intervention. So wie die Anwendung des Grundgesetzes nicht an mangelnden finanziellen Möglichkeiten, behaupteten Sachzwängen oder ideologischen Grabenkämpfen scheitern kann und darf, so findet auch die Anwendung der UN-BRK nicht ihre Grenze an Fragen etwa der Finanzierbarkeit oder schwierigen Umsetzbarkeit angesichts eingeengter realpolitischer Handlungsspielräume. 1

Vgl. http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/monitoring-stelle-un-brk/staatenpruefung/ [22.06.2016] 2 Vgl. CRPD: Concluding Observations on the initial report of Germany http://www.institut-fuermenschenrechte.de/en/publications/show/concluding-observations-on-the-initial-report-of-germany/, [22.06.2016] 3 Zu den Vertragstexten vgl. http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/?id=467, [ 22.06.2016]

Auf dem Weg zu gleichwürdiger Teilhabe und Nichtdiskriminierung?

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Einspruch gegenüber dem herrschenden ‚Inklusionsdiskurs’ zu erheben, bedeutet andererseits zugleich unhintergehbar an ihm teilzuhaben und ist mit dem Anspruch (sowie der Hoffnung) verbunden, diesen in seiner aufgeladenen gesellschaftspolitischen Bedeutsamkeit zu beeinflussen und zu verschieben. Insofern ist jedwede Beteiligung am ‚Inklusionsdiskurs’ notwendigerweise politisch (vgl. Dannenbeck, Hinz 2016) und nie je für sich lediglich handlungspraktisch oder wissenschaftlich konnotiert. Dieser zwangsläufig politische Charakter der Beteiligung am Inklusionsdiskurs birgt die Chance einer (selbst)reflexiven kritischen Positionierung, die ein Gegengewicht bilden kann gegen affirmative inklusive Selbstbezeichnungen und ‚Innovationen’ wie etwa ‚Inklusionskinder’, die in ‚Inklusionsklassen’ stundenweise ‚inklusiv’4 unterrichtet werden. Der damit verbundene kritische Anspruch geht einher mit einer Hoffnung. Die von Becker (2015) ausgemachte ‚Inklusionslüge’ bezieht sich auf die affirmativen Elemente eines Inklusionsdiskurses, der nicht hinterfragt, was das für eine Gesellschaft ist, die nunmehr allenthalben so generös und ohne Weiteres zur Teilhabe einlädt (und auffordert) (ebd., S. 172). Der Autor des vorliegenden Beitrags ist der Ansicht, dass die UN-BRK nicht so billig zu haben ist, wie es möglicherweise zur Zeit ihrer Ratifizierung von politischer Seite aus zunächst erwartet worden war. Damals wurde – in Erinnerung ist etwa ein ministerieller Ausspruch aus Bayern – deren Ratifizierung mit dem Kommentar begleitet, dass die UN-BRK uneingeschränkt und vorbehaltlos zu begrüßen wäre, da ‚Wir’ das darin Geforderte hierzulande bereits längst mehr oder weniger erreicht und verwirklicht hätten: Die gesellschaftliche und soziale Integration von Menschen mit Behinderung, soweit sie als aufwandsbezogen realisierbar und öffentlich durchsetzbar angesehen werden kann. Abgesehen davon, dass selbst diese selbstbewusste Zusammenfassung behindertenpolitischer Errungenschaften der letzten Jahrzehnte (die, das soll nicht verschwiegen oder kleingeredet werden, durchaus punktuell und selektiv zu einer verbesserten Integration geführt haben) in den Ohren vieler Betroffener wie Hohn klingen muss, kommt in einer solchen Haltung gegenüber der ‚Herausforderung UN-BRK’ eine bezeichnende Unter- und Fehleinschätzung der in ihr angelegten Konsequenzen zum Ausdruck – eben die Unterstellung, es ginge bei der Umsetzung der UN-BRK in erster Linie um eine bloße Optimierung des bereits im Prinzip eingeschlagenen Weges einer schrittweisen und graduellen Integration ‚Behinderter’ in ausgewählte gesellschaftliche Teilbereiche, nach Maßgabe des jeweils als finanziell machbar An-

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So spricht etwa das Bayerische Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst von Inklusionsstunden http://www.asv.bayern.de/wiki/gms/unterricht/inklusion, [22.06.2016]; in der Bayerischen Schulberatung ist von Inklusionsschülern die Rede https://www.schulberatung.bayern.de/imperia/md/content/schulberatung/pdfmuc/schulinformation/inklusion_in_bayern__handreichung_fuer_beratungsfachkraefte_2013.pdf, [ 22.06.2016]

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gesehenen. Nicht erkannt wurde, dass es um grundlegendere Fragen geht, die gesellschaftspolitische Herausforderungen auf einer ganz anderen Ebene auf die politischen und disziplinären Tagesordnungen setzen. Dort finden sich vielmehr Fragen nach der Legitimation einer gesellschaftlichen Verfassung, die unerschrocken Teilhabebarrieren vorhält, bisweilen auch neue errichtet und keineswegs vor Diskriminierungserfahrungen zu schützen vermag5. So macht etwa der Deutsche Behindertenrat in einer gemeinsamen Stellungnahme von Fachverbänden für Menschen mit Behinderung, dem Gesamtverband Der Paritätische, dem Deutschen Roten Kreuz, der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen und dem DGB zum Referentenentwurf des geplanten Bundesteilhabegesetzes vom 26. April 2016 6 auf folgendes aufmerksam: „Es darf nicht vom Bundesland abhängen, ob und wie Leistungen gewährt werden. Eine Regionalisierung der Eingliederungshilfe ist strikt abzulehnen. Wir kritisieren auch Öffnungsklauseln, mit denen ein Bundesland einzelne Leistungen oder auch Zugang, Umfang und Qualität zulasten der Betroffenen reduzieren könnte“. (Deutscher Behindertenrat 2016) Es geht um die gesellschaftlich wirksamen Mechanismen, die Exklusionsund Inklusionsverhältnisse fortlaufend und andauernd reproduzieren und neu vermessen, also um Fragen nach der jeweiligen Exekution der Grenzziehungen zwischen Normalität und Abweichung, legitimierter Zugehörigkeit und Ausschluss, zwischen gleichwürdiger Teilhabe und struktureller, institutionalisierter und diskriminierender Ausgrenzung. Möglicherweise erweist es sich, rückblickend betrachtet, als gar nicht so unglückliche Tatsache, dass seinerzeit der Ratifizierungsprozess der UN-BRK in der Bundesrepublik Deutschland nur unter der Bedingung erfolgreich abgeschlossen werden konnte, dass in der deutschsprachigen Übersetzung des Gesetzestextes der Inklusionsbegriff konsequent vermieden und durch den der ‚Integration’ ersetzt wurde7. Denn man könnte, jenseits aller berechtigten Kritik an der auf Abschwächung, Eindämmung und Relativierung des gesellschaftspolitischen Anspruchs zielenden Strategie auch ein (unfreiwillig und sicher seinerzeit weitgehend unreflektiertes) Moment politischer Selbstbescheidung ausmachen. Es geht hierzulande, so könnte die dementsprechende Interpretation lauten, von vorn herein gar nicht um ‚inklusive’ Zielsetzungen, sondern wir begnügen uns demonstrativ – das Risiko billigend in Kauf nehmend, international fortlaufend schlechte Zeugnisse 5

Vgl. etwa den Referentenentwurf für das Bundesteilhabegesetz vom 26. April 2016 sowie die seither eingehenden Stellungnahmen. http://www.teilhabegesetz.org/pages/teilhabegesetz/gesetzesvorschlaege-und-stellungnahmen.php, [21.06.2016] 6 Vgl. http://www.teilhabegesetz.org//media/160511_Kernforderungen_DBR.pdf, [ 22.06.2016] 7 Allerdings ist dies nicht der einzige problematische Aspekt der offiziellen Übersetzung des Gesetzestextes in die deutsche Sprache. Vgl. Schattenübersetzung Netzwerk Art. 3. http://www.netzwerk-artikel-3.de/dokum/schattenuebersetzung-endgs.pdf, [22.06.2016]

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ausgestellt zu bekommen – mit unseren (schließlich teuer erkauften) Integrationserfolgen. Für die Betroffenen heißt dies allerdings, ebenso fortlaufend: Außer Spesen, wenn auch nicht nichts, so doch nicht viel gewesen. Soviel Integration wie möglich – soviel Nichtteilhabe wie (leider) unvermeidbar oder (bezogen etwa auf das Schulsystem) soviel Separation wie nötig. Immerhin – als Integrationserfolge kann, soll und muss das bislang Erreichte durchaus angemessene Würdigung finden. Allenthalben erfolgte Reformen der Schulgesetze, verabschiedete Aktionspläne auf sämtlichen politischen Ebenen, beschlossene Leitlinienprogramme Freier und Offener Träger, inthronisierte und für preiswürdig empfundene Good und Best Practice, aus dem Boden schießende und fortgeschriebene Modellprojekte und –versuche – all das soll nicht klein geredet werden. Solange diese Maßnahmen als Integrationserfolge im Zuge einer verfolgten Integrationsstrategie gelesen werden und nicht als zielstrebig in eine ‚inklusive Gesellschaft’ führendes Versprechen für die Zukunft. Alternativ dazu wäre aus der ‚Inklusionsforderung’ ein konsequent kritischer Anspruch gegenüber gesellschaftspolitischen Entwicklungen abzuleiten, der es wagt, die herrschenden Verhältnisse am menschenrechtlich begründeten Maßstab gleichwürdiger Teilhabe und dem Recht auf Diskriminierungsfreiheit für alle fortlaufend auf den Prüfstand zu stellen. Anzustreben wäre nicht die positiv ausgemalte Utopie einer ‚inklusiven Gesellschaft’, sondern eine Politik und Praxis, die hier und heute inklusionsorientiert ausgerichtet ist und sich nicht in Selbstverteidigungs- und -belobigungsreflexen ergeht, die sich gegenüber einer kritischen Analyse immunisieren. Dabei könnte auch der Begriff der Inklusion eine theoretische Refundierung erfahren. Anstatt zu einer normativen Beschreibungskategorie integrativer Konstellationen zu degenerieren, würde die Tatsache (wieder) in den Blick geraten, dass Inklusion aus systemtheoretischer Sicht als Moment des Verhältnisses zwischen Teilhabe und Nichtteilhabe, Zugehörigkeit und Nichtzugehörigeit oder Einund Ausschluss zu begreifen ist. Für moderne, fortschreitend ausdifferenzierte Gesellschaften sind mithin nicht die Ausgrenzungen aus der Gesellschaft kennzeichnend, sondern vielmehr die wirksamen Ausgrenzungsmechanismen innerhalb der Gesellschaft. Becker (2015) beschreibt die Ökonomie als „die Instanz der Inklusion schlechthin“ und betont, „dass ‚Exklusion’ innergesellschaftliche Prozesse der Marginalisierung meint und nicht den gesellschaftlichen Totalausschluss“ (ebd., S. 176). Insofern sind Integrationsmaßnahmen auf ausgelöste Exklusionsdynamiken als Ausdruck innergesellschaftlicher Marginalisierung zu analysieren und nicht als preiswürdige Inklusionserfolge zu feiern. Ein teuer erkauftes schulisches Parallelsystem etwa mit einer international beispielslosen Segregationspraxis kann beispielsweise selbst aus Erfolgsmeldungen in vergleichenden Bildungsstudien keine inklusionstheoretische Legitimationsgewinne ziehen.

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Um nicht missverstanden zu werden: So betrachtet, macht Inklusion Integration nicht überflüssig, ‚ersetzt’ diese auch nicht (etwa als Ausdruck einer moderneren, politisch korrekteren terminologischen Sprachregelung). Es ginge jedoch darum, eine deutliche Unterscheidung zu treffen, zwischen Integrationsbemühungen (die realpolitisch geprägt praktische Konsequenzen nach sich ziehen) und einer (angesichts der gesetzlichen Rahmenlage) unhintergehbaren und Geltung beanspruchenden Inklusionsorientierung (die eben nicht zielgruppenspezifisch begrenzbar ist und ein stetiger kritischer Stachel im Sinne eines Bewertungsmaßstabes für erfolgte Integration bleibt).

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Inklusionsorientierte Soziale Arbeit

Den kritischen Anspruch hochzuhalten wäre erforderlich an sämtlichen Orten des Diskurses – also auch in professionellen Fachdebatten und wissenschaftlichen Diskussionszusammenhängen. Mit Blick auf die Soziale Arbeit ist die in jüngerer Zeit zu beobachtende zum Teil nachholende Beteiligung am UN-BRK-induzierten Inklusionsdiskurs8 sowie die zu einem anderen Teil sich als diversitätsorientiert verstehende Ausrichtung Sozialer Arbeit9, die sich gegenüber der Teilhabebarriere Behinderung eher indifferent verhält, angesichts der Fachtradition durchaus bemerkenswert (vgl. Dannenbeck 2013). Beide idealtypischen Rezeptionen des Inklusionsbegriffs durch die Soziale Arbeit sind durch jeweils ein Defizit deutlich geprägt: Das vulgär-normative Inklusionsverständnis Zum einen scheint die traditionelle Fokussierung Sozialer Arbeit professionell und disziplinär dazu geführt zu haben, die Inklusionsdebatte, welche durch die Ratifizierung der UN-BRK zumindest öffentlichkeitswirksam in den letzten Jahren stark befördert wurde, im Bewusstsein der eigenen fachlichen Grundausrichtung in ihrer politisch Bedeutung für nachhaltige Soziale Wandlungsprozesse zu unterschätzen. Darin der Realpolitik nicht unähnlich, überwog der Eindruck: Zur Verbesserung von Teilhabechancen von Menschen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung beitragen zu sollen (und zu wollen), sei ja keine ‚neue’ professionelle 8

Vgl. DGSA-Kongress 2016 in Düsseldorf mit dem Schwerpunkt Inklusion. Dabei wurde eine „selbstkritische Perspektive der Sozialen Arbeit auf Inklusion“ eingefordert. Vgl. http://dgsainfo.de/veranstaltungen/tagungen.html, [22.06.2016]; 2013 erfolgte die Gründung einer AG Soziale Arbeit und Inklusion durch eine Initiative von Albrecht Rohrmann et al.; Vgl. zusammenfassend die Informationen zum Thema Soziale Arbeit und Inklusion auf dem Deutschen Bildungsserver: http://www.bildungsserver.de/Sozialpaedagogik-Soziale-Arbeit-und-Inklusion-11148.html, [22.06.2016] 9 Vgl. etwa Schröer (2012) oder Mecheril / Plößer (2011)

Auf dem Weg zu gleichwürdiger Teilhabe und Nichtdiskriminierung?

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Herausforderung und mit Blick auf integrationsorientiert ausgerichtete Soziale Arbeit disziplinär auf jeden Fall weiter gediehen als etwa in einer durch benachteiligende gesellschaftliche Strukturen gerade in Bezug auf Menschen mit Behinderungen im Allgemeinen. Bemühungen um die Optimierung der Integration Behinderter mündeten daher folgerichtig in den Ausbau von Good- und Best-PracticeModellen Sozialer Arbeit mit Menschen mit und ohne Behinderung, nach dem Motto: Mehr von Bewährtem. Inklusionsmaßnahmen werden in dieser Tradition vornehmlich als bloße Verbesserung von Integrationsbedingungen verstanden. Es geht schwerpunktmäßig um Investitionen in (architektonische) Barrierefreiheit und um die Schaffung und den Ausbau von Begegnungsoptionen, die – je nach anvisierter Nachhaltigkeit – in Integrationsmodellen münden oder sich in aktionistischen Initiativen erschöpfen, die punktuelle Begegnungen des einander Fremden als Keimzelle zur Überwindung gesellschaftlich hergestellter und reproduzierter Differenz feiern. Die Auffassung, Inklusion sei nichts anderes als ein Mehr an Integration von Behinderten erweist sich nicht nur den politischen Bedenken hinsichtlich ihrer Finanzierbarkeit gegenüber als überaus anschlussfähig, auch inhaltlich liegt ihr ein seltsam defizitär anmutendes Inklusionsverständnis zugrunde. Dieses Modell scheint ohne weitere Bedenken die vulgär-normative Annahme aufzugreifen, wonach die UN-BRK primär und ausschließlich zielgruppenbezogen Behinderte in den Blick nimmt, die – soweit es jeweils die herrschenden Verhältnisse erlauben – zu Nutznießerinnen von generös gewährten Integrationsangeboten werden sollen. Inklusion als gute Idee, moralisch geboten, aber realistisch begrenzt. Eine solche Interpretation des Inklusionsgedankens bezogen auf die UN-BRK ist darauf angewiesen, den menschenrechtlichen Begründungszusammenhang des immerhin ratifizierten und damit unhintergehbar rechtsgültigen Dokuments konsequent kleinzureden bis auszublenden. Übrig bleibt nicht viel mehr als ein gut gemeinter Appell an die Integrationsbereitschaft der Gesellschaft, die freilich jederzeit durch aufmerksamkeitsökonomisch veränderte Rahmenbedingungen wie knappe öffentliche Kassen oder ‚neue’ gesellschaftspolitische Herausforderungen (etwa die Bewältigung der ‚Flüchtlingskrise’) an Grenzen stoßen kann. Gleichzeitig mutiert das Thema ‚Inklusion’ zur (unbestimmten) Zukunftsvision, zur zwar im Prinzip erstrebenswerten, aber jederzeit als Wunschdenken von Gutmenschen diskreditierbaren Utopie. Ebenso abgespalten werden in diesem Zusammenhang etwa systemtheoretisch informierte Zugänge zum Inklusionsbegriff. Stattdessen werden reduktionistische und praxisorientierte pädagogische Inklusionsmodelle rezipiert, die sich ebenfalls durch eine Bescheidung des Anspruchs kennzeichnen lassen, der laut Gesetz in der Herstellung und Garantie eines uneingeschränkten Rechts auf Teilhabe und Diskriminierungsfreiheit besteht. Dieser Anspruch mündet dabei in die Forderung nach einem schulischen und vorschulischen Miteinander zwischen Menschen mit und ohne Behinderung, die sich zudem

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oft genug sogar mit einer schulartenspezifischen Parzellierung von Integration zufriedenstellen lässt. So nimmt es nicht Wunder, dass landauf landab nunmehr emsig Inklusionsquoten (Klemm 2013) gemessen 10, Inklusionsschulen ausgezeichnet11 und die Erfolge dieser Umsetzungsstrategie der UN-BRK in Inklusionslandkarten12 verzeichnet werden. Als Resultat dieses charakteristischen Umgangs mit den Herausforderungen der UN-BRK ist ihre weitgehende entpolitisierte Interpretation, also die Schulterung der Lasten im Sinne einer innerprofessionellen Aufgabe in erster Linie der Handlungspraxis festzustellen. Inklusionsdefizite werden im Modus der Selbstanklage eigenen professionellen und disziplinären 13 Versäumnissen angelastet, was wiederum fast zwangsläufig Verteidigungs- und Rechtfertigungsreflexe bedingt, die vereinzelten Vorzeigemodellen, aber auch spezifischen fachlichen Ausrichtungen Sozialer Arbeit eine fraglose inklusive Qualität und fachliche inklusive Mentalität bescheinigen (Vgl. bspw. Aktion Mensch et al. 2015). Auf der Strecke bleibt dabei neben der Bereitschaft, die eigene fachliche Befindlichkeit ebenso wie die zu beobachtende Praxis einer dauerhaften kontinuierlichen inklusionsorientierten Reflexion zu unterziehen, auch jeglicher politischer Anspruch, der inklusive Entwicklungen an gesellschaftspolitische Diskussionen und Veränderungen knüpft und Prozesse des Sozialen Wandels auf Exklusionseffekte hin analysiert. Zu entdecken wäre zweifellos ein Widerspruch zwischen beobachtbaren sozialen und politischen Entsolidarisierungsprozessen und dem gegebenen normativen Rahmen einer der Selbstbeschreibung nach zunehmend ‚inklusiven’ Gesellschaft, der über eine bloß diagnostizierende und anklagende fachliche Reaktion hinausreichen müsste und sowohl auf die Bereitschaft stoßen könnte, das eigene Gebaren (theoretisch wie praktisch, professionell wie disziplinär) reflexiv auf den Prüfstand zu stellen, als auch im Sinne eines kritischen Bewusstseins sich politisch zu artikulieren und zu positionieren. Andreas Zick et al. vom Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld, befassen sich anhand von langjährigen Verlaufsstudien (in Fortführung der Untersuchungen von Wilhelm Heitmeyer, die unter dem Titel Deutsche Zustände bekannt geworden sind) mit der Bedeutung von Stereotypen, Vorurteilen und menschenfeindlichen Ideologien der Ungleichwertigkeit für die Integration von spezifischen Gruppen in der deutschen Gesellschaft. Zentral für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Vorurteile ist 10

Zur Kritik am Begriff von ‚Inklusionsquoten’ und dessen Handling vgl. Schumann (2013) Während zu den Auswahlkriterien für den Deutschen Schulpreis zwar der ‚Umfang mit Vielfalt’ gehört (dabei aber Behinderung und chronische Erkrankung nicht explizit erwähnt werden) (vgl. http://schulpreis.bosch-stiftung.de/content/language1/html/53139.asp, [22.06.2016], widmet sich der Jakob-Muth-Preis seit 2009 inklusionsorientierten Schulprofilen (http://www.jakobmuthpreis.de) 12 Vgl. Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen (2009) 13 Zur Unterscheidung zwischen professions- und disziplinbezogenen Aspekten des fachlichen Umgangs der Sozialen Arbeit am Beispiel der Jugendarbeit vgl. Dannenbeck (2013) 11

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demnach die Erzeugung und Aufrechterhaltung einer Ideologie der Ungleichwertigkeit (Zick/Küpper 2015). „Moderne Gesellschaften, wie die Bundesrepublik Deutschland, sind in nahezu allen Bereichen nach ökonomischen Kriterien geordnet. Leistung, Wettbewerb und Gewinn sind auch im Sozialbereich ein wichtiges Kriterium. (...) Eine Reihe bedeutsamer gesellschaftlicher Analysen beschreibt diese Ökonomisierung der Gesellschaft. Spätestens seit der neoliberalen Wende in der Sozial- und Wirtschaftspolitik in den frühen 1990er Jahren durchzieht die mehr oder weniger explizite Bemessung der Gesellschaft nach den Prinzipien des Marktes alle Bereiche der Gesellschaft, auch jene, die vormals nicht nach Profiten und Gewinnen beurteilt wurden. Als Indizien dafür lassen sich zum Beispiel originär unökonomische Institutionen wie Krankenhäuser, Schulen, Universitäten und Kitas nennen, die vermehrt auf Gewinn ausgerichtet sind und nach rein wirtschaftlichen Kriterien gesteuert werden. Oder anders ausgedrückt: Es werden keine nichtwirtschaftlichen Kriterien mehr zu Bemessung von Förderungen und Anerkennungen hinzugezogen“ (ebd., S. 95). Die Befunde verweisen eindrucksvoll auf einen so genannten marktförmigen Extremismus in der (fragilen) Mitte der Gesellschaft, der statistisch signifikant mit der Abwertung von sogenannten Unproduktiven verbunden ist: Die ‚Unproduktiven’ in diesem Sinne sind Langzeitarbeitslose, Wohnungslose und Menschen mit Behinderung. „Drei Facetten beschreiben das Phänomen des marktförmigen Extremismus: ein unternehmerischer Universalismus, eine Wettbewerbsideologie und ökonomistische Werthaltungen“ (ebd., S. 97). Zick et al. zeigen anschließend, wie dieser marktförmige Extremismus in rechtspopulistische Einstellungen mündet und zusammen mit Selbsterfahrungen der Orientierungslosigkeit zu Diskriminierung und Abwertung der als „Sozialschmarotzer“ apostrophierten gesellschaftlichen Gruppen führt 14. Soweit zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen etwa eine inklusionsorientierte Ausbildungs- sowie Arbeits- und Berufswelt etabliert werden kann und soll. Es verschränken sich also Haltungsfragen und strukturelle Probleme und verdichten sich zu einer gesamtgesellschaftlichen Herausforderung, die sich gesellschaftlichen Bedingungen und gegenläufigen Entwicklungen, die in Richtung einer (zunehmenden) Spaltung der Gesellschaft weisen, nicht verschließen darf.

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Vgl. auch Decker et al. (2016)

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Das selbstzufrieden-affirmative Inklusionsverständnis Im Sinne einer weiteren Variante typischer Rezeption des Inklusionsbegriffs durch die Soziale Arbeit verweist eine etwas differenziertere Analyse des in die Profession und Disziplin der Sozialen Arbeit eingeflossenen Diversityverständnisses auf eine theoretisch unterbelichtete und handlungspraktisch oft übersehene Berücksichtigung von mit attestierter Behinderung oder chronischer Erkrankung verknüpfter Teilhabebarrieren oder Diskriminierungserfahrungen. Hier - intersektionalen Perspektiven nicht unähnlich - ist eine theoretische Schwäche multidimensional gedachter differenztheoretischer Ausrichtungen kaum zu übersehen (vgl. Dederich 2014). Qua Menschenrechtsprofession bereits in der Selbstbeschreibung vermeintlich prädestiniert, sich auf die dunkle, vernachlässigte, ‚andere’ Seite der Gesellschaft zu schlagen, als Anwalt der zu empowernden (also wieder gesellschaftlich funktionsfähig zu machenden) Benachteiligten – dieses professionelle Selbstverständnis hat die Profession wie Disziplin Soziale Arbeit in der Vergangenheit nur selten davor bewahrt, sich in Bezug auf die Differenzkategorie Behinderung nicht in die Phalanx rehabilitationswissenschaftlich, heil- und sonderpädagogisch ausgerichteter Zuwendungs- und Behandlungsstrategien einzureihen, die sich Menschen mit Behinderung mal fürsorglich belagernd, mal mit integrativem Impetus diagnoseabhängig gesondert und absondernd zuwandten. Als Beleg hierfür mag die zunächst zögerliche und später durchaus spannungsreiche Rezeption der seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland nachholend Einzug nehmenden Disability Studies15 dienen, deren Blick auf die kulturell verankerte Bedeutung von Behinderung als körperbezogene Differenzkategorie eine primär anwaltschaftlich ausgerichtete Profession, die sich begleitend, beratend und empowernd beschädigten Identitäten (Goffman 2010) fürsorglich zuwendet, zunächst einmal befremdete. So ist es wenig verwunderlich, dass weder der radikal-konsequente Menschenrechtsbezug der UN-BRK seitens der Sozialen Arbeit mit dem Moment ihrer Ratifizierung (an)erkannt wurde als auch etwa die Brisanz und Provokation des spezifischen Verständnisses von Behinderung16, das in der UN-BRK zum Ausdruck kommt und das weit über die hierzulande bislang rechtswirksamen Definitionen von Behinderung hinausreicht. Wenn Behinderung das ist, was historisch gewachsen zum jeweiligen Zeitpunkt gesellschaftlich als Behinderung verstanden, erfahren und exekutiert wird – dann folgt aus einer solchen Perspektive zunächst die Notwendigkeit der Analyse aller in diesem Sinne wirksamen Prozesse, einschließlich deren institutioneller und 15

Vgl. etwa die Überlegungen von Heike Raab zur Intersektionalität in der Arbeit am Sozialen als Perspektive der Disability Studies oder auch Rathgeb (2012) 16 Vgl. http://www.behindertenrechtskonvention.info/definition-von-behinderung-3121/ [22.06.2016], Hirschberg (2011)

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struktureller Verankerungen, die Aufdeckung ihrer Reproduktionsmechanismen, bei denen die eigenen disziplinären und professionellen Anteile notwendigerweise in den Blick geraten und schließlich eine kritische Positionierung, die den Konflikt mit dem Bestehenden als unhintergehbar im Interesse der Anwendung menschenrechtlicher Standards betrachtet, ihnen gegenüber erlauben. Aus einer erforderlichen kritischen Ausrichtung folgt nicht weniger die Infragestellung eines primär an Einhegung interessierten politischen Inklusionskurses, der durch exzessive Inklusionsrhetorik und Integrationskosmetik darauf abzielt, vom kritischen Moment im Recht auf Teilhabe für alle und Diskriminierungsfreiheit abzulenken und es in eine realpolitisch zu behandelnde Aufgabe verwandelt, die sich an Sachzwängen und behaupteten Alternativlosigkeiten orientiert. Dem könnte entgegengehalten werden, dass konkrete Integrationsmaßnahmen – über deren Finanzierbarkeit und Realisierbarkeit durchaus gestritten und entschieden werden kann – getrennt zu sehen sind von einer menschenrechtlich begründeten gesellschaftspolitischen Ausrichtung, die darauf begründet ist, das Recht auf Teilhabe aller und Diskriminierungsfreiheit anzuerkennen und zu gewährleisten. Diese Ausrichtung ist realpolitisch nicht begrenzt finanzierbar, sachlich begründet beschränkbar oder gesinnungsmäßig relativierbar – ohne damit gegen geltendes Recht zu verstoßen. Eine kritische Positionierung gegenüber der sogenannten Inklusionsforderung erhält ihre Basis also nicht durch eine Analyse der suboptimalen und verbesserungswürdigen Verhältnisse für Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung, sondern durch die normative Entscheidung, sich mit punktuellen Integrationserfolgen für ausgemachte Randgruppen nicht zufrieden zu geben, weil diese dem verbrieften Recht auf Teilhabe und Diskriminierungsfreiheit entgegenstehen. Wenn Inklusion im Kopf beginnt, dann mündet sie in eine andere Gesellschaft und das ist auch noch gut so.

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Die Verfassung und Zukunft des Sozialen

Was im Überschwang des Integrationsimpetus der vergangenen Jahre, solange er noch nicht von der Aktualität der Flüchtlingsfrage überlagert war, verloren ging, war die Aufmerksamkeit gegenüber dem Anteil der sozialen Frage, der mit einer aufmerksamkeitsökonomisch verstärkten Zuwendung gegenüber Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung verbunden war und ist. Bezeichnend dafür sind die Akzente, die die öffentlichen und politischen Debatten im Zuge der ‚Umsetzung’ der UN-BRK in den vergangenen Jahren aufwiesen. Prägend in dieser Zeit waren bekanntlich die bildungspolitischen Fragen, die sich aus einem segregierenden und separierenden Schulsystem ergaben, während etwa eine Behandlung des Themas der Integration auf dem Ausbildungs- oder Arbeitsmarkt oder im

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Erwerbsleben und vor allem die gesetzgeberischen Bemühungen um eine Reform von Eingliederung und Teilhabe (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2016) bis heute trotz immerhin erfolgter Verankerung im Koalitionsvertrag von 2013 (Bundesregierung 2013, S. 10, 88) weitgehend auf sich warten lässt. Von letzterem ist auch, nach dem aktuellen Stand der Dinge, wenig Ermutigendes in Bezug auf die Bekämpfung sozialer Exklusion und ökonomischer Benachteiligung von Menschen mit Behinderung zu erwarten, was die Bezeichnung ‚Inklusionsorientierung’ verdienen würde. Demgegenüber verweist eine menschenrechtlich informierte Interpretation der UN-BRK auf umfassende Teilhabe und Nichtdiskriminierungsrechte, die materielle Ungleichheiten nicht weniger als soziale Barrieren anklagt, wenn sie zu strukturellen Benachteiligungen oder ungleichen Lebensbedingungen führen. Inklusion in diesem Sinne ist nicht reduzierbar auf die generöse Bereitschaft zum Dabeisein, die sich in einer punktuellen institutionellen Öffnung oder verbesserter Zugänglichkeit ausgewählter Lebensbereiche für eine begrenzte Gruppe von Menschen mit Behinderung erschöpft, sofern sie sich in der Lage sehen, den Anforderungen einer diversitysensibilisierten neoliberal radikalisierten Leistungsgesellschaft zu genügen. Vielmehr stellt die UN-BRK die soziale Frage als Teilhabeund Diskriminierungsproblem: Es geht um Ungleichheit, insofern sie Teilhabebarrieren bedingt und gleichzeitig um missachtete Vielfalt, insofern sie Diskriminierung nach sich zieht. Der Notwendigkeit einer Anerkennung von Heterogenität ist die Kritik von Ungleichheitsverhältnissen zur Seite gestellt – ein Zusammenhang, der sich nicht nur auf politischer, sondern auch in professioneller Hinsicht aus der Perspektive Sozialer Arbeit zeigt. Wertschätzung von Vielfalt läuft stets Gefahr zur Legitimierung von Ungleichheit und Andersartigkeit herangezogen zu werden und umgekehrt ist den Maßnahmen zur Herstellung von Gleichheit stets das Risiko immanent, Vielfalt zu übergehen und Subalternität zu produzieren. So führt beispielsweise eine arbeitspolitische Diskussion, die unter inklusiven Vorzeichen nach einer Öffnung des ersten Arbeitsmarktes für alle ruft, zwangsläufig dazu, sich der Frage zu stellen, wer für diese durch entsprechende Unterstützungsleistungen ermöglichte Öffnung geeignet wäre und wer nicht. Umgekehrt führt die einseitige Wertschätzung von Vielfalt unweigerlich zu gesellschaftspolitischen Lösungen, die mit Separation und Teilhabebarrieren verbunden sind. Was hier zur Debatte stünde, ist in der Tat die Auflösung dieses Dilemmas, was eine kritische Debatte über die Struktur der Verfassung des Arbeitsmarktes und seiner Zugänge erfordert. „Die eigentliche Radikalität des Gedankens der vollumfänglichen, selbstbestimmten und uneingeschränkten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben aller Menschen mit Behinderung verlangt aber nach mindestens zwei kardinalen Korrekturen jener Gesellschaft, die so intensiv einlädt, in ihr mitzumachen: Die eine betrifft

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(...) die selbstgenügsame Tabuisierung der Normierungsfaktoren gesellschaftlicher Teilhabe inklusive all ihrer ausgrenzenden Tendenzen. Die Präparation für und in den Arbeitsmarkt wird zum dominanten kritikresistenten Inklusionsparameter, ohne die Auskunft von Menschen mit Behinderung über ihre Sichtweise eines gelingenden Lebens in gesellschaftlicher Einbindung abzufragen. Was, unter welchen Umständen und verbunden mit welchen Korrekturen an den Bedingungen gesellschaftlicher Sozialisation zu ändern wäre, damit alle Menschen mit Behinderung Teilhabe an der Gesellschaft auch als ihre je spezifische Teilhabe erleben, stellt die geltenden Werte der Arbeitsgesellschaft möglicherweise erheblich auf den Kopf. (...) Die zweite Korrektur betrifft die Hinterfragung der ökonomischen Prozesse, die gegenwärtig unter den Stichworten der Konsolidierung, der Einsparung, der Schuldenbremse sowie der Beitragssatzstabilität der ‚Lohnnebenkosten’ als Sachzwänge einer alternativlosen Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik wie die Regentschaft von Naturgesetzen in Szene gesetzt werden.“ (Becker 2015, S. 172f.) Die UN-BRK stellt die soziale Frage nicht als eine der Zukunft, sondern macht sie aufgrund ihrer Rechtsgeltung zu einer des Maßstabs an die Verfassung des Sozialen in der Gegenwart. Dieser Maßstab ist weder auf seine sozioökonomische Dimension noch auf die Perspektive sozialer Kohäsion einseitig zu reduzieren. Die Gewährleistung gesellschaftlicher Einbindung unter Berücksichtigung der jeweiligen Sichtweisen eines gelingenden Lebens (Becker) berührt dabei nicht lediglich die Grenzen der Finanzierbarkeit, sondern fordert die Solidarität des Gemeinwesens in einem Maße ein, das beredte Auskunft gibt über die Verfassung eben dieses Gemeinwesens, jenseits öffentlichkeitswirksam inszenierter Willkommenskultur und rechtspopulistisch zur Schau gestellter Bürgerbesorgnis. „Erstens tut sich die gehobene, einkommensstarke und gut gebildete Mittelschicht oftmals schwer, die geforderte Durchlässigkeit mit zu tragen. Man ist zwar gerne zur abstrakten Solidarität über Steuerzahlungen bereit, das heißt aber noch lange nicht, dass man den anderen Schichten und Milieus auch real begegnen will. (...) Zweitens tun sich mitunter auch sozial abgehängte Milieus schwer, ihre Räume mit den eifrigen und kompetitiven Vertretern sozial besser gestellter Schichten zu teilen und so auch noch die Sicherheiten des eigenen, vertrauten Milieus zu verlieren. (Siller 2013, S. 24) Wir haben also zu konstatieren, dass innere und äußere Abschottungsimpulse, rechtspopulistisch artikulierte gruppenbezogene Menschenfeindlichkeiten und rassistische Einstellungssyndrome, die gesellschaftlich immer ungehemmter diffundieren, nicht nur ein Orientierungsproblem darstellen, dem mit politischer Bildung und Aufklärung erfolgreich entgegengetreten werden könnte, sondern dass diese Phänomene als wirksame Entsolidarisierungsprozesse als substanzielle Herausforderung für die Zukunft des Sozialen erkannt werden und in ihrem strukturellen Kern analysiert gehören. Ein kritisches Verständnis von Inklusion im

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Sinne der UN-BRK leistet einen Betrag zur gesellschaftlichen Transformation, der nicht auf den ‚Einschluss in Bestehendes’ (Becker 2015, S. 17) zielt, sondern die (ökonomische) Funktionslogik der Gesellschaft in den Diskursraum des Politischen zurückführt.

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Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession im Kontext von Flucht1 Nivedita Prasad

Ein Verständnis von Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession wendet Menschenrechte auf verschiedenen Ebenen an. So werden Menschenrechte u.a. als Bezugsrahmen auf der Ebene der Profession, als Analyseinstrument und als Referenzrahmen – z.B. in Bezug auf Umgang mit mandatswidrigen Forderungen/Dilemmata – angewandt. Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass im Sinne eines advokatorischen Mandats die Nutzung des UN Menschenrechtsschutzsystems für/mit Klient_innen sehr hilfreich sein kann, um strukturelle und individuelle Verbesserungen der Lebensbedingungen der Adressat_innen zu erreichen. Im Kontext Sozialer Arbeit als einer menschenrechtsorientierten Profession ist das Feld der Sozialen Arbeit mit geflüchteten Personen 2 ein besonderes. Zum einen geht es hier um Adressat_innen, deren fundamentale Menschenrechte, nicht nur in Herkunfts- und Transitländern sondern auch im Zielland Deutschland massiv verletzt werden. Zum anderen besteht fortwährend die Gefahr, dass Sozialarbeitende Teil des Systems werden, welches diese Menschenrechte verletzt. Daher ist ein klares Mandatsverständnis in diesem Feld der Sozialen Arbeit eminent wichtig, um Soziale Arbeit im professionellen Sinne auszuüben.

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Menschenrechte als Bezugsrahmen auf der Ebene der Profession

Soziale Arbeit hat eine Geschichte der Bezugnahme zu den Menschenrechten, die Staub-Bernasconi bis zu Jane Addams im Jahre 1902 zurückverfolgt hat (StaubBernasconi 2017); sie hat nachgewiesen, dass die Idee der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession historisch von vielen Wegbereiter_innen weiterentwickelt wurde und wird. Die Menschenrechtsorientierung – so Staub-Bernasconi – wurde der Sozialen Arbeit keineswegs „wie oft behauptet wird, von „aufgepfropft“ oder zum Zweck des Statusgewinns von ihr vereinnahmt; sondern sie war 1

Dieser Artikel ist bereits erschienen in: Gebrande, J.; Melter, C.; Bliemetsrieder, S. (Hrsg.) (2017): Kritisch ambitionierte Soziale Arbeit. Weinheim und Basel: Beltz Verlag, S. 349 – 368. 2 Für eine ausführliche Auseinandersetzung zum Thema siehe Prasad 2018.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 B. Thiessen et al. (Hrsg.), Sozialer Wandel und Kohäsion, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25765-1_12

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zum einen eine Antwort auf die UN-Bildungsdekade und zum anderen ist sie Bestandteil einer bestimmten, inter- und transnationalen, sozialarbeiterischen Theorietradition, die sich u.a. an Demokratievorstellungen und Menschenrechten in der entstehenden professionellen Sozialen Arbeit orientiert“ (Staub-Bernasconi 2013, S. 207ff.). In der Zwischenzeit kann diese Tradition auf eine Großzahl von Kern- bzw. Bezugsdokumenten3 zurückgreifen, die keinen Zweifel daran lassen, dass die Bezugnahme auf international vereinbarte Menschenrechte – und nicht nur auf nationales Recht – keineswegs eine Frage des Beliebens sondern ein Fundament einer als Profession verstandenen Sozialen Arbeit ist.

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Menschenrechte als Analyseinstrument

Zu Recht bringen Sozialarbeitende und andere die mit geflüchteten Menschen arbeiten, ihre Empörung zum Ausdruck, wenn sie erstmals mit den Lebensbedingungen ihrer Adressat_innen konfrontiert sind. Diese Empörungen über die beobachteten und berichteten Missstände bekommen eine ganz andere Aussagekraft, wenn sie unter menschenrechtlichen Vorgaben und Kriterien analysiert werden. Da wird sehr deutlich, dass es sich hierbei nicht „nur“ um „Missstände“ handelt, sondern um systematische Menschenrechtsverletzungen4 in einem Land, welches vorgibt, Menschenrechte einzuhalten. Eine umfassende Darstellung von Menschenrechtsverletzungen an Geflüchteten in Deutschland würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, weshalb hier lediglich die Menschenrechtsverletzungen erwähnt werden, die im Kontext von 3

Diese sind u.a.:  Vereinte Nationen u.a. (1997): Menschenrechte und Soziale Arbeit. Ein Handbuch der Sozialen Arbeit und für den Sozialarbeitsberuf; Soziale Arbeit – Arbeitsmaterialien Heft 1/1997 (5. Auflage, 2002)  IASSW und IFSW (2004): Ethics in Social Work. Adelaide; für eine deutsche Übersetzung siehe: Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V. (DBSH): Grundlagen für die Arbeit des DBSH, Berlin, 2009  IASSW/IFSW (2004a): Global standards for the education and training of the Social work profession, Adelhaide  IASSW/IFSW Standards in Social work practice meeting human rights (2010)  IASSW/IFSW und ICSW: Global Agenda (2010)  IASSW und IFSW (2014): Globale Definition Soziale Arbeit. 4 Selbstverständlich soll hier nicht der Eindruck vermittelt werden, dass die Verletzungen der fundamentalen Menschenrechte von Geflüchteten in Deutschland vergleichbar seien mit denen, vor den sie fliehen, oder denen die sie in manchen Transitländern (z.B. Ungarn, Mazedonien oder Griechenland) ausgesetzt waren. Vielmehr geht es darum, das Augenmerk auf die Lebensbedingungen im Inland zu richten, um zu verdeutlichen, dass vieles hier auch eine Verletzung der Menschenrechte darstellt.

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Sozialer Arbeit und Flucht von Bedeutung sind, oder solche, die Kernbereiche Sozialer Arbeit berühren. Wichtig hierbei ist zunächst, sich daran zu erinnern, dass Menschenrechte nur an eine einzige Eigenschaft geknüpft sind – nämlich die des Menschseins, sodass natürlich alle Menschenrechte auch für geflüchtete Menschen gelten. Spieß hebt hervor, dass „nur die Rechte, die ihrem Wortlaut nach auf bestimmte Personengruppen beschränkt sind, nicht für alle auf dem Staatsgebiet lebenden Menschen gelten“ (Spieß 2007, S. 38). McAdam weist demgegenüber darauf hin, dass Staaten verpflichtet sind, die Menschenrechte aller jenseits von Diskriminierungen – wie sie im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) Artikel 2(2) und dem Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) Artikel 2(1) postuliert sind – zu gewährleisten. Auch erinnert sie daran, dass alle Regelungen, die hiervon abweichen verhältnismäßig und objektiv sein und als legitim im Sinne der Menschenrechte gelten müssen (vgl. McAdam 2014, S. 203). Soweit die Theorie! Eine Sicht in die Praxis zeigt, dass die Lebensbedingungen von Geflüchteten weit davon entfernt sind, diese Vorgaben zu erfüllen. Artikel 12 des Zivilpakts garantiert allen Menschen, die sich rechtmäßig in einem Land aufhalten, das Recht auf innerstaatliche Bewegungsfreiheit. Geflüchtete hingegen unterliegen – sofern sie in Erstaufnahmeeinrichtungen leben – der sogenannten Residenzpflicht5, d.h. ihr Aufenthalt ist auf den Bezirk „ihrer“ Ausländerbehörde reduziert; diesen dürfen sie nicht ohne Erlaubnis verlassen. Eine Einhaltung dieser Regelung setzt voraus, dass Geflüchtete wissen, bis wohin der Bezirk der Ausländerbehörde reicht: eine Voraussetzung, die wohl die wenigsten Neuankömmlinge erfüllen können. Zwar soll bei Geflüchteten, die über eine Aufenthaltsgestattung verfügen, die Aufenthaltsbeschränkung nach drei Monaten aufgehoben werden, aber auch hier gibt es weiterhin Möglichkeiten diese aufrechtzuerhalten. Sozialarbeitende sind mit den Konsequenzen der Residenzpflicht regelmäßig konfrontiert; sie müssen diese u.a. ihren Adressat_innen erklären, mit ihnen möglicherweise die Verletzung derselben besprechen oder aber Anträge schreiben, um ein Verlassen des Bezirks zu erreichen. In manchen Fällen werden sie eingesetzt, um diese zu überwachen! bzw. Verletzungen den Behörden weiterzuleiten! Neben der Einschränkung der Bewegungsfreiheit müssen Asylsuchende in eine Gemeinschaftsunterkunft ziehen, sobald sie einen Asylantrag stellen. Sie werden nach einem Schlüssel in der gesamten BRD verteilt und haben lediglich Anspruch auf Zusammenführung mit ihrer Kernfamilie. Artikel 11 des Sozialpakts fordert Staaten auf, anzuerkennen, dass alle Menschen ein Recht auf angemessenen Lebensstandard haben. Hierzu gehören ausreichende Ernährung, Bekleidung 5

Die rechtliche Regelung und Handhabung in den einzelnen Bundesländern und Kommunen in Bezug auf die Residenzpflicht sind unterschiedlich.

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und Unterbringung. Kernelemente einer adäquaten Unterbringung sind laut der UN: Die Freiheit vor willkürlicher Einmischung (Interferenz) Zuhause Das Recht auf Privatheit Anspruch auf Partizipation (UN Habitat o.J., S. 3f.). In Gemeinschaftsunterkünften müssen Asylsuchende regelmäßig mit ihnen unbekannten Menschen ein Zimmer teilen; wobei ihnen pro Person lediglich bis zu neun Quadratmeter zur Verfügung stehen6. Es ist bereits einiges geschrieben worden zur Ausgestaltung dieser Unterkünfte (siehe z.B. Osterkamp 1996, Pieper 2008 oder Cremer 2014) bzw. zu gesundheitlichen Auswirkungen dieser Einrichtung für die Menschen, die darin leben müssen. So weisen Behrensen/Groß (2004) darauf hin, dass direkte physische Beeinträchtigungen vor allem durch mangelnde Heizmöglichkeiten, bauliche Mängel, Belastungen durch Ungeziefer, das Essen und unhygienische sanitäre Anlagen entstehen (Behrensen/Groß 2004, S. 85; vgl. auch Jung 2011). Täubig wies erstmals darauf hin, dass diese Gemeinschaftsunterkünfte durchaus auch als totale Institutionen nach Goffmann (1973) gewertet werden können. Als Hauptmerkmal dieser Einrichtungen sieht Täubig die nicht vorhandene Trennung zwischen Schlaf, Freizeit und Arbeit, die normalerweise an unterschiedlichen Orten mit unterschiedlichen Personen stattfindet (Täubig 2009, S. 46)7. Auch die Aufnahmeprozedur, die Einweisung in die Hausordnung und das Zuweisen von Schlafplätzen wertet Täubig als Kernelemente von totalen Institutionen (ebd., S. 47). Auch der ehemalige Menschenrechtskommissar des Europarates kam zu dem Ergebnis, dass „der Langzeitaufenthalt von Asylsuchenden in wohnheimähnlichen Gemeinschaftsunterkünften in Mehrbettzimmern deren Wohlbefinden abträglich ist“ (Europarat 2007, Randnote 140). Dennoch haben sich die Bedingungen in den Gemeinschaftsunterkünften eher verschlechtert als verbessert. Sie sind weiterhin in der Regel mit Gemeinschaftsküchen und Bädern ausgestattet, reglementieren Besuch, sind oft in sehr verlassenen Gegenden mit wenig Infrastruktur, werden regelmäßig durch Videokameras überwacht und werden von Security-Firmen bewacht, die allzu oft Gewalt ausüben, worüber in den letzten Monaten in den Medien berichtet wurde. Häufig haben sowohl das Hausmanagement, als auch das Wachpersonal einen Generalschlüssel für alle Zimmer. Diese Lebensbedingungen sind kaum im Einklang 6

Um einen Familiennachzug genehmigt zu bekommen, müssen Migrant_innen u.a. ausreichenden Wohnraum nachweisen; dieser wird z.B. von der Ausländerbehörde in Düsseldorf definiert als mind. 12 qm pro Person ab sechs Jahren! http://www.duesseldorf.de/auslaenderamt/aufenthalt/grundvoraussetzungen/wohnraum/index.shtml [ 1.6.2016]. 7 Der totalitäre Charakter einer solchen Unterkunft wird sehr eindringlich in dem Film „THF Tempelhof“ von Karim Aïnouz (2018) dargestellt. Er zeigt z.B. dass das Licht für einen kompletten Hangar (wo mehrer hundert Menschen untergebracht waren) zentral ein und ausgeschaltet wurde!

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zu bringen mit dem Menschenrecht auf angemessenen Lebensstandard. Sozialarbeitende sind zum einen mit den Konsequenzen dieser Unterbringung in ihrer alltäglichen Arbeit konfrontiert. Zum anderen verfügen sie in begrenztem Maße über institutionelle Macht in der Ausgestaltung dieser Einrichtungen. Sie können beispielsweise über die Zimmerverteilung (mit)entscheiden, Geflüchtete hierbei anhören oder nicht, entscheiden in welchem Rahmen Besuche gestattet werden und an der Hausordnung mitwirken. So könnten sie dazu beitragen, dass diese Institutionen zumindest einen Teil ihres totalitären Charakters verlieren. Ebenfalls im Sozialpakt verankert ist das Recht auf das erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit (Art.12). Asylsuchende hingegen unterstehen dem Asylbewerberleistungsgesetz, d.h. nur akute oder schmerzverursachende Krankheiten werden behandelt, was weit weg davon ist „ein Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit zu erreichen“, wie es im Sozialpakt heißt. Ebenso verankert im Sozialpakt (Artikel 6) ist das Recht auf Arbeit, welches für geflüchtete Menschen kaum erreichbar ist. Zum einen dürfen sie in den ersten Monaten gar nicht arbeiten und danach nur nach einer sogenannten Vorrangsprüfung, d.h. sie dürfen eine Arbeitsstelle nur antreten, wenn keine Deutschen oder Migrant_innen mit besserem Aufenthaltstitel sich für diese Arbeitsstelle finden lassen. Erst nach vier Jahren mit einem legalen Status haben sie freien Zugang zum Arbeitsmarkt. Die Auswirkung dieser Regelung ist, dass Geflüchtete in Bereichen arbeiten, wo es wenig Transparenz nach Außen gibt und die Arbeitgeberseite um die Prekarität ihres Aufenthaltsstatus weiß. Die Folge ist, dass Einige sich in sehr ausbeuterischen (siehe z.B. Wilke/Lambert 2015, S. 15) oder gar menschenhandelsrelevanten Arbeitsbedingungen wiederfinden. Ähnlich verhält es sich mit dem Menschenrecht auf Bildung, welches im Artikel 28 der Kinderrechtskonvention für Kinder und im Art. 13 des Sozialpakts für alle Menschen garantiert wird. In der Praxis stehen viele Geflüchtete aber vor dem Problem, dass ihre Kinder häufig erst nach Monaten eingeschult werden, oft erst nachdem die Familien eine Aufenthaltserlaubnis erhalten! Für Jugendliche – die 10 Jahre lang eine Schule besucht haben – ist eine weitere Beschulung nur sehr schwer möglich. Sozialarbeitende verbringen einen beträchtlichen Teil ihrer Arbeitszeit damit, das Menschenrecht auf Bildung für geflüchtete Kinder umzusetzen: Sie suchen beispielsweise Schulplätze, überzeugen Schulen/Kitas, dass eine Beschulung auch ohne Deutschkenntnisse möglich ist, suchen Übersetzer_innen für die ärztliche Untersuchung. Auf der anderen Seite gibt es Sozialarbeitende, die den Anordnungen der Heimleitungen folgen, wonach Schulplätze nur für Diejenigen zu suchen seien, die entweder eine Bleibeperspektive oder aber bereits eine Aufenthaltserlaubnis haben – damit beteiligen sie sich an einem Regime, das manchen Kindern ein elementares Menschenrecht verweigert.

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Neben all diesen Verletzungen der wirtschaftlich, sozialen, kulturellen und bürgerlichen Rechte ist zu prüfen, inwiefern einzelne Komponenten der Unterbringungs- und Lebenssituation von Geflüchteten nicht auch weitere Menschenrechte, wie z.B. der Schutz vor inhumaner und/oder erniedrigender Behandlung, im Sinne der UN-Antifolterkonvention verletzen. Dies könnte z.B. der Fall sein, wenn Menschen über Monate hinweg in Turnhallen, Baumärkten, Zelten oder ehemaligen Flughafengebäuden untergebracht werden. McAdam weist auf Fälle in Großbritannien hin, wo Gerichte entschieden, dass es eine inhumane oder erniedrigende Behandlung darstellt, Menschen (in diesem Fall Asylsuchenden) das Recht auf staatliche Unterstützung und das Recht auf Arbeit zu verweigern, wenn dies in einem gravierenden Umfang die grundlegenden Bedürfnisse von Menschen verletzt. McAdam stellt daher die Frage, ob nicht „the entire package of restrictions and deprivations“ (McAdam 2014, S. 208), denen Asylsuchende unterworfen werden, so gravierend sind, dass sie richtigerweise als inhuman oder erniedrigend beschrieben werden sollten (ebd.).

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Menschenrechte als Referenzrahmen im Umgang mit mandatswidrigen Forderungen und Handlungen

Die Notwendigkeit von Menschenrechten als Referenzrahmen in der Sozialen Arbeit mit Geflüchteten wird deutlich, wenn (teils strukturell bedingt überlastete) Sozialarbeitende sich mit Forderungen seitens der Arbeitgeber_innen konfrontiert sehen, die weder mandatskompatibel noch menschenrechtskonform sind. Dies ist z.B. der Fall, wenn Sozialarbeitende Würfelzucker kontingentieren sollen, um Kosten zu sparen (Muy 2016, S. 62) oder Essen nur ausgegeben wird, wenn hiernach auf Deutsch gefragt wird. Weitere mandatswidrige Forderungen sind beispielsweise die Nutzung des Generalsschlüssels außerhalb eines Notfalls, die Meldung von Abwesenheiten der Bewohner_innen an Behörden, mit der Folge dass ihnen die Sozialleistungen gekürzt werden können. Manche Betreiberfirmen ordnen an, Bewohner_innen nicht bei der Arbeit und/oder Wohnungssuche8 zu unterstützen. Auch berichten Sozialarbeitende darüber, dass von ihnen erwartet wird, dass sie „Amtshilfe“ für die Polizei bei Ausweisungen und Abschiebungen leisten; hierzu gehört z.B. vermutete Herkunftsländern von Bewohner_innen anzugeben,

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Gerade bei profitorientierten Betreiberfirmen besteht kaum Interesse daran, dass Bewohner_innen die Unterkunft verlassen, weil sie aus finanziellen Gründen eine Vollbelegung anstreben; jede Fluktuation ist mit einem Verwaltungsaufwand verbunden, was wiederum nicht im Interesse der Firma ist.

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vermutete Aufenthaltsorte von Untergetauchten weiterzuleiten oder gar Abschiebungen „vorzubereiten“9. Nicht nur Forderungen von Seiten der Arbeitgeber_innen geben Anlass zur Sorge, auch manche Handlungen von Sozialarbeitenden oder Personen, die als solche angestellt worden sind, sind sehr problematisch und beschämend. Hierzu gehört, Toilettenpapier erst dann auszuhändigen, wenn Bewohner_innen hiernach fragen in einer Höflichkeitsform, die der Sozialarbeiter als zufriedenstellend wertet (von Stockum 2016, S. 21) oder die Post von Bewohner_innen erst dann zu übergeben, wenn sie mit ihrer Unterschrift ihre Anwesenheit bestätigen (ebd., S. 23). Auch willkürliche Abmahnungen und/oder Hausverbote sind besorgniserregende Verhaltensweisen Sozialarbeitender, ebenso rassistisches Verhalten gegenüber Bewohner_innen (Muy 2015, S. 70f.). Während bei der Zuarbeit zu Abschiebungen die meisten Sozialarbeitenden zumindest ein ungutes Gefühl ereilt, könnte ein Blick in den Internationalen Code of Ethics – der sehr deutlich Bezug auf die Menschenrechte nimmt – hier für Klarheit sorgen. Dort ist zum einen deutlich zu lesen, dass „Sozialarbeiter_innen nicht zulassen sollten, dass ihre Fertigkeiten für inhumane Zwecke missbraucht werden, wie z.B. Folter oder Terrorismus“ (IASSW 2014, Absatz 5.2.). Zum anderen wird auch darauf hingewiesen, dass „Sozialarbeiter_innen die Vertraulichkeit von Informationen ihrer Klient_innen gewährleisten sollten. Ausnahmen dürfen nur durch höhere ethische Erfordernisse gerechtfertigt sein (wie etwa der Schutz des Lebens)“ (ebd., Abs. 5.7). Es ist nachvollziehbar, dass Sozialarbeitende im Bereich Flucht – zumal unter den gegenwärtigen Bedingungen – nicht sofort entscheiden können, ob neue Forderungen der Heimbetreiber_innen zu akzeptieren sind oder nicht. Eine Orientierung an den Menschenrechten kann hier jedoch hilfreich sein, denn sie verdeutlicht die Brutalität dieser Forderungen. So verletzt das Kontingentieren von Nahrungsmitteln (jenseits einer Hungerkatastrophe) das Recht auf Schutz vor Hunger (Art. 11 Abs. 2 Sozialpakt). Beim Knüpfen von Bedingungen an die Verteilung von Grundnahrungsmitteln oder Artikeln wie Toilettenpapier stellt sich unweigerlich die Frage nach Menschenwürde, während willkürliche Zimmerkontrollen das Recht auf adäquate Unterbringung (Artikel 11 Sozialpakt) und die Kürzung von Sozialleistungen das Recht auf angemessenen Lebensstandard (ebd.) massiv verletzen. Diese – aus der Praxis – erhobenen Probleme haben Hochschullehrende dazu bewogen, ein Positionspapier zu Sozialer Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften zu 9

So sind beispielsweise in Hessen Checklisten aufgetaucht, die eine Kollaboration des Unterkunftspersonals bei Abschiebungen zu erreichen versuchen. Dort wird abgefragt, wo die abzuschiebende Person wohnt, wann sie am ehestens dort zu erreichen sei oder aber ob sich im Vorfeld „Unterstützerkreise“ für die abzuschiebende Person einsetzen, um deshalb ggf. gleich von vornherein eine begleitete [Hervorhebungen im Original] Rückführung in’s [sic] Auge zu fassen!

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verfassen, welches professionelle Standards und deren sozialpolitische Basis definiert (Initiative Hochschullehrender zu Sozialer Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften 2016). Das Papier richtet sich an Praktiker_innen, Politik, Betreiber und alles, was die Profession ist und hofft, hiermit auch Praktiker_innen zu stärken, indem sie deutlicher mandatswidrige Forderungen ablehnen können. Manche Sozialarbeitende erkennen die Problematik vieler Vorgaben und versuchen, sie zu umgehen, indem sie diese stillschweigend und unbemerkt ignorieren und eine eigene andere Entscheidung treffen. Andere erfüllen sie, vielleicht in Unkenntnis darüber, dass sie sich hier zum Teil an menschenrechtswidrigem Handeln beteiligen. Symptomatisch ist, dass zumindest für Deutschland sehr wenige Fälle 10 dokumentiert sind, in denen einer mandatswidrigen und/oder menschenrechtsverletzenden Forderung offensiv begegnet wäre, z.B. mit einem Hinweis auf den Code of Ethics oder gar die Menschenrechte. Ebenso wenig werden solche Vorfälle öffentlich gemacht oder den berufspolitischen Vertretungen vortragen, um sie zu veröffentlichen. Dasselbe gilt für den Versuch, Probleme strukturell zu beheben, z.B. durch Strategische Prozessführung, Whistle Blowing und/oder Lobbyarbeit. Daher wäre es durchaus eine Überlegung wert, künftig Praktiker_innen aktiv und laut bei der Verweigerung solcher Forderungen zu unterstützen. Sehr (ressourcen)starke Akteur_innen wären beispielsweise Hochschulen, Hochschullehrende, (inter)nationale Berufsverbände, Institutionen wie das Deutsche Institut für Menschenrechte, kritische Medien und Wohlfahrtsverbände.

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Mandatsverständnis

Neben der Referenz auf die Menschenrechte kann hier auch Klarheit in Bezug auf das eigene Mandatsverständnis hilfreich sein, zumal gerade im Bereich der Sozialen Arbeit mit Geflüchteten der Verdacht besteht, dass das Mandat von Seiten des Arbeitgebers übererfüllt wird. Auch stellt sich die Frage, wie mit Mandaten der Adressat_innen umgegangen wird, die im Widerspruch zum Auftrag des Arbeitgebers oder rechtlichen Bestimmungen stehen. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn Geflüchtete Sozialarbeitende um Unterstützung bei der Jobsuche bitten, obwohl sie nicht arbeiten dürfen oder sie um Unterstützung bei der Wohnungssuche bitten, obwohl Sozialarbeitende – laut ihrem Arbeitgeber – hierzu keine Unterstützung leisten sollen. 10

Eine rühmliche Ausnahme ist der Fall der Sozialarbeiterin Nina Schmitz, der von einer Heimleitung gekündigt wurde, als sie „zu nett“ zu den Flüchtlingen war bzw. weil sie auf deren Wunsch hin die Gemeinschaftsunterkunft ermöglichen wollte (Adam 2013 o.J.).

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Auch ein Mandat, welches vom Arbeitgeber und Klient_in (Doppelmandat) kommt, hat naturgemäß eher limitierte Wirkungskraft und reduziert Handlungsspielräume von Sozialarbeitenden erheblich. Es ist eher unwahrscheinlich, dass Aufträge, wie z.B. das Ignorieren/Herausfordern einer rechtlichen Vorgabe oder die öffentliche Skandalisierung eines Unrechts, von Seiten der Adressat_innen oder gar des Auftraggebers kommen werden. Für eine menschrechtsorientierte Soziale Arbeit, die häufig das Einsetzen für Rechte fordert, die der Staat verweigert, ist ein Tripelmandatsverständis die logische Folge. 2007 schrieb Staub-Bernasconi erstmals von einem Tripelmandat, das dem allbekannten Doppelmandat der Sozialen Arbeit ein drittes Mandat hinzufügt: „Eine Profession hat ein weiteres, drittes Mandat und zwar seitens der Profession; dieses wiederum hat zwei Komponenten: wissenschaftliche Fundierung der Methoden - speziellen Handlungstheorien - […] und zum anderen besteht das dritte Mandat aus dem Ethikkodex, den sich die Profession unabhängig von externen Einflüssen gibt und auch seine Einhaltung kontrolliert, kontrollieren sollte“ (Staub-Bernasconi 2007, S. 12f.). Wichtig ist natürlich, dass das dritte Mandat nicht im Widerspruch zu dem Mandat der/des Klient_in stehen kann – außer es geht um die Gefährdung Anderer (z.B. Kinder oder anderer vulnerbaler Gruppen) –, wohl aber deutlich vom Mandat des Arbeitgebers abweichen kann. Eine Orientierung am Tripelmandat könnte in den beschriebenen Fällen dazu dienen, mandatswidrige Forderungen abzulehnen, wenn es „als übergeordnete Legitimationsbasis für die Annahme oder Verweigerung von Aufträgen und damit für die Formulierung eigenbestimmter Aufträge“ verstanden wird (ebd., S. 13). Ein eindrückliches Beispiel der Ausgestaltung eines Tripelmandats durch den Sozialarbeiter Walid Chahrour beschreibt Kanalan in der Entwicklung der Initiative „Jugendliche ohne Grenzen“: „Vor dem Hintergrund einer repressiven, entrechtenden Politik und Rechtslage haben sich damals drei junge Menschen in einer Berliner Beratungsstelle im Stadtteil Moabit (Bezirk Mitte) zusammengefunden, weil sie nicht studieren durften. [….] Hätte der Sozialarbeiter der Moabiter Beratungsstelle – selbst einst nach Deutschland geflüchtet – wie die meisten anderen Beratungsstellen nur eine rechtliche Beratung vorgenommen, hätten wir alle drei danach nach Hause gehen und uns unserem Schicksal ergeben müssen. Aber der Sozialarbeiter motivierte uns, sich politisch für die eigenen Rechte einzusetzen und diese zu erstreiten“ (Kanalan 2015, S. 3). Einer dieser drei Jugendlichen – Ibrahim Kanalan – ist in der Zwischenzeit promovierter Jurist; das Beratungs- und Betreuungszentrums für junge Flüchtlinge und MigrantInnen (BBZ) und die Initiative Jugendliche ohne Grenzen sind sehr sichtbare Akteure in der politischen Arbeit für die Rechte von (jungen) Geflüchteten.

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Nivedita Prasad Das Politische Mandat11 Sozialer Arbeit vs. Schweigen in der Profession

„Wo bleibt der sy[s]tematische Aufschrei der Flüchtlingssozialarbeit gegen diese Politik gegen Flüchtlinge an den Rändern der EU und in den Ländern der EU? Wo bleiben Interventionen gegen restriktive Asylrechtseinschränkungen und die Menschenrechtsverstöße gegen Flüchtlinge bei der ärztlichen Versorgung, der Unterbringung und Verfahrensrechten? Wo bleibt der Aufschrei gegen die eigenen schlechten Arbeitsbedingungen durch viel zu kleine Personalschlüssel, so dass Mindeststandards pädagogischer Professionalität im Sinne des Schutzes der körperlichen, psychischen, kognitiven sowie rechtlichen und sozialen Integrität der Adressaten nicht ansatzweise gewährleistet werden können?“ (Melter 2014, o.S.) Die globale Definition Sozialer Arbeit spricht von Sozialer Arbeit als wissenschaftlicher Disziplin, die gesellschaftliche Veränderungen und Entwicklungen, den sozialen Zusammenhalt und die Ermächtigung und Befreiung von Menschen fördert (IASSW/IFSW 2014). Der Internationale Ethikkodex postuliert, dass Sozialarbeiter_innen u.a. eine Verpflichtung haben, soziale Gerechtigkeit zu fördern, ungerechte politische Entscheidungen und Praktiken zurückweisen und solidarisch zu arbeiten, d.h. sozialen Bedingungen entgegenzutreten, die zu sozialem Ausschluss, Stigmatisierung oder Unterdrückung führen (IASSW/IFSW 2004: Abs. 4.2). Beide Dokumente lassen keinen Zweifel daran, dass Soziale Arbeit deutlich mehr ist als „nur“ individuelle Unterstützung; sie machen deutlich, dass Sozialarbeitende auch politisch emanzipatorisch und menschenrechtsorientiert agieren müssen, um diese Ziele zu erreichen. Soziale Arbeit im Kontext von Flucht findet in einem Feld statt, das stark durch nicht erfüllte Bedürfnisse der Klient_innen, durch Menschenrechtsverletzungen (vor, während und nach der Flucht) sowie durch (rechtliche) Unsicherheit geprägt ist. Daher wäre eine politische Einmischung gerade in diesem Feld mehr als notwendig und wünschenswert. Es ist aber bedrückend festzustellen, wie „die“ Profession im Kontext von Flucht und den Umgang mit Geflüchteten schweigt bzw. sich nicht sehr hörbar äußert. So sind beispielsweise in den Asylpaketen I und II Gesetzesänderungen in Kraft getreten, die neben dem Leben von Geflüchteten auch die Arbeitssituation von Sozialarbeitenden unmittelbar stark beeinflussen werden und einen deutlich erhöhten Bedarf an Sozialer Arbeit erzeugen. 2012 hatte das Bundesverfassungsgericht – mit dem berühmten Satz „die in Art.1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren“ (BVerfG 2012, Randnote 121) – entschieden, dass das Asylbewerberleistungsgesetz verfassungswidrig ist, weil es die Menschenwürde der Betroffenen verletzt. Dennoch hat die Bundesregierung 2015 entschieden, dass Leistungen für 11

Zur Diskussion zum politischen Mandat Sozialer Arbeit siehe Lallinger/Rieger 2007 oder Kessl/Stövesand 2014.

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Geflüchtete wieder bis zu 40% reduziert werden können! Auch ist es nun wieder möglich, dass das soziokulturelle Existenzminimum – in den Erstaufnahmeeinrichtungen – als Sachleistungen statt Bargeld auszugeben. Die Verbleibdauer der Erstaufnahmeeinrichtungen ist von drei Monaten auf sechs erhöht worden! Für die Dauer des Verbleibs gilt sowohl die Residenzpflicht, als auch ein Arbeitsverbot. Darüber hinaus sollen Abschiebungen nun nicht mehr angekündigt werden, was die Situation von Ausreisepflichtigen extrem belasten wird, aber auch den Arbeitsalltag der Sozialarbeitenden maßgeblich verändern wird. Auch werden seit Ende 2015 unbegleitete minderjährige Geflüchtete in der gesamten Bundesrepublik verteilt; bis dahin mussten sie durch das Jugendamt am Ort ihrer Einreise in Obhut genommen werden. Kosovo und Montenegro wurden 2015 zu sicheren Herkunftsstaaten deklariert, obwohl gleichzeitig bekannt ist, dass die Menschenrechtslage für einige Gruppen in diesen Ländern sehr prekär ist! Von der Profession war zu all dem fast nichts zu hören. Noch nicht einmal ein halbes Jahr nach Inkrafttreten des Asylpakets I hat der Bundestag das zweite Asylpaket beschlossen, im Rahmen dessen subsidiär 12 geschützte Geflüchtete ihr Recht auf Familienzusammenführung erst nach zwei Jahren in Anspruch nehmen können! Pro Asyl weist darauf hin, dass „damit nur noch mehr Familien und Kinder auf die gefährlichen Fluchtrouten gezwungen werden“ (Pro Asyl 2016, o.S.). Ein weiterer Punkt, mit dem Sozialarbeitende sicher vielfach konfrontiert sein werden, ist das nur noch lebensbedrohlich Erkrankte einen Abschiebungsschutz genießen sollen. Besonders bedenklich in diesem Zusammenhang ist, dass „die Bundesregierung psychologische Gutachten nicht mehr anerkennen will und Posttraumatische Belastungsstörungen nicht als schwere Erkrankung ansieht“ (ebd.). Auch hier schweigt die Profession! Das Schweigen ist auch deutlich zu verzeichnen in der Nichteinmischung bei der Zunahme von rassistischen Ausschlüssen. Rassistische Vorfälle auf struktureller (Gesetzesänderungen), institutioneller (z.B. Vorfälle von Racial Profiling oder Segregation in Schulen), individueller (alltagsrassistische Vorfälle) und diskursiver Ebene haben eklatant zugenommen. Die Anzahl tätlicher Angriffe auf Geflüchtete/People of Color und auf Asylunterkünfte ist in eine bisher kaum vorstellbare Höhe gestiegen. Besonders auf der diskursiven Ebene, wo der Rahmen des Sagbaren – auch von Vertreter_innen der Profession 13 – unerträglich nach rechts gedehnt worden ist, so dass Äußerungen der extremen Rechten nun in „die 12

Hierbei handelt es sich um Menschen, die einen Abschiebungsschutz genießen, weil sie bei einer Abschiebung der konkreten Gefahr der Todesstrafe, Folter oder einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt wären. 13 So z.B. in einer Mail des DBSH-Funktionsbereich LGBTI vom 10.3.2016, wo erfragt wurde, wie sich die Situation von geouteten und nichtgeouteten Mitarbeiter_innen in der Flüchtlingshilfe darstellt, ob es dort Erfahrungen mit Homophobie und rechten Tendenzen gibt! Natürlich kann es sinnvoll sein, Diskriminierungserfahrungen von LGBTI Sozialarbeitenden zu erfassen. Wenn dies aber nur im Bereich Flucht/Migration geschieht, so unterstützt dies eine homonationalistische Lesart.

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bürgerliche Mitte“ gerückt sind, ist dieses Schweigen fast unerträglich. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn Sicherheitsdiskurse oder das Thema Gewalt gegen Frauen mit dem Thema Flucht verknüpft oder Abschiebungen als Teil eines denkbaren Repertoires Sozialer Arbeit verhandelt werden. Ebenso wie Einteilungen in „wir“ und „die Anderen“, Kulturalisierungen, Integrationsbesessenheiten und Zivilisierungsmissionen – alles Diskurse, die in der kritischen Migrationsforschung längst überholt sind, aber im Umgang mit Geflüchteten eine absolute Renaissance erleben. Burzlaff und Eifler erinnern daran, dass „vor allem eine Kritische Soziale Arbeit aufzeigt, dass eine besondere Verantwortung darin besteht, Machtverhältnisse inklusive eigener Positionierungen kritisch zu hinterfragen“. Warum so fragen sie weiter, „aber haben es die meisten von uns Sozialarbeitenden über Monate hinweg nicht in Erwägung gezogen, ihre Empörungen, Widerstände, Nicht-Einverständnisse mit Geschehenem, Haltungen und Solidarität auch aus einer professionellen Berufsethik heraus zum Ausdruck zu bringen?“ (Burzlaff/Eifler 2015, S. 6)

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Methoden für die Umsetzung eines politischen Mandats

Um das politische Mandat Sozialer Arbeit zu bedienen bzw. um strukturelle Veränderungen anzustreben, ist eine Erweiterung des Methodenrepertoires in der Sozialen Arbeit unumgänglich. Hier bedarf es Kenntnisse um Methoden wie z.B. Öffentlichkeitsarbeit, Lobbyarbeit, Strategische Prozessführung 14 , Whistle Blowing15 und Nutzung des UN-Menschenrechtsschutzsystems. Auch hier ist symptomatisch, dass die Nutzung dieser Methoden in der Sozialen Arbeit eher spärlich ausfällt. Während Öffentlichkeitsarbeit – auch von Vertreter_innen der Profession – hin und wieder zum Themenkomplex Flucht gemacht wird, ist hierin keine Systematik zu erkennen. Noch spärlicher sieht es aber aus bei dem Versuch, Lobbyaktivitäten zu erkennen, die von Vertreter_innen der Profession ausgehen, um die Lebenssituation von Geflüchteten und/oder die eige-

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In Anlehnung an Weiss (2015, o.S.) verstehe ich Strategische Prozessführung als eine Form der juristischen Prozessführung, die exemplarisch (Menschen)Rechtsverletzungen verdeutlicht und anstrebt, den Fall bis zur höchsten Instanz zu bringen. Ziel hierbei ist zum einen, eine strukturelle Klarheit für alle ähnlich gelagerten Fälle zu erreichen und/oder bestimmte strukturelle Lücken aufzuzeigen und/oder Klient_innen weitere Handlungsoptionen zu geben. 15 In Anlehnung an Near & Micelli verstehe ich Whistle Blowing als „eine Offenlegung von illegalem, unmoralischen oder illegitimen Verhalten, die innerhalb des Kontrollbereichs des Arbeitgebers liegen“ (1985, S. 4).

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nen Arbeitsbedingungen zu verbessern. Es stellt sich die Frage, wo die Öffentlichkeitsarbeit und/oder Lobbyarbeit bleibt, die Nöte, welche als „private“ Nöte einzelner wahrgenommen werden, zu öffentlichen Themen verwandelt. Oder bleiben Sozialarbeitende „vergleichbar mit einem stummen Redner, der zum Pult geht und nichts sagt und die Interpretation anderen überlässt?“ (Von Loeper 2010, S. 12). Andere Methoden wie z.B. Strategische Prozessführung, Whistle Blowing oder Nutzung des UN-Menschenrechtsschutzsystems sind häufig nicht einmal als solche bekannt. Dies ist gerade im Kontext von Flucht besonders bitter, denn zum einen gäbe es hier viele strukturelle Defizite, die es herauszufordern gilt. Zum anderem warten ressourcenstarke und erfahrene Akteur_innen auf Fälle, die sie im Rahmen von Strategischer Prozessführung finanziell, ideell und medial unterstützen würden. So weist z.B. Pro Asyl darauf hin, dass sie „mögliche Klagen von Flüchtlingen mit Mitteln aus seinem Rechtshilfefonds unterstützen würden“ (Pro Asyl 2015, o.S.). Sie erinnern hierbei daran, dass sie bereits 2012 sehr erfolgreich waren, mit dem oben erwähnten Bundesverfassungsgerichtsurteil, welches zu dem Ergebnis kam, dass das Asylbewerberleistungsgesetz verfassungswidrig sei. Fälle für Strategische Prozessführung zu finden, ist in der Praxis nicht leicht, aber eine Kenntnis dieser Methode und einer finanziellen Zusicherung können dazu beitragen, dass Praktiker_innen animiert werden, in diese Richtung zu denken. Hierbei kann es hilfreich sein, dem innerstaatlichen Recht nicht bedingungslos hörig zu sein, sondern z.B. die Menschenrechte als Korrektiv anzuwenden, um zu überlegen, ob nicht der eine oder andere Fall eine Menschenrechtsverletzung darstellt, und diesen strategisch anzugehen. Auch kann es sinnvoll sein, wenn relevante Akteur_innen hier planvoll vorgingen. Hierzu würde gehören, zunächst festzulegen, welche Fallkonstellationen gesucht werden. Vielversprechend könnten z.B. Klagen gegen das Asylbewerberleistungsgesetz, gegen die Residenzpflicht oder die Aussetzung des Familiennachzugs sein. Für diese Fälle könnte dann aktiv geworben werden z.B. im Rahmen von Fortbildungen für Sozialarbeitende. Ähnlich könnte es sich mit Fällen von Whistle Blowing verhalten; so erzählen Sozialarbeitende immer wieder von skandalösen Situationen in Gemeinschaftsunterkünfte für Geflüchtete, aber die wenigsten sind bereit, hier ein ganzes Verfahren durchzustehen. So real die Befürchtung sein kann, hierbei den Arbeitsplatz zu verlieren, so unverständlich ist diese Sorge unter der gegenwärtigen Arbeitsmarktsituation, in der Sozialarbeitende im Bereich Flucht keine Arbeitslosigkeit zu befürchten haben. Auch für ein Whistle Blowing Verfahren ist es wichtig, (ressourcen)starke Akteur_innen zu gewinnen; sicherlich können hier auch Flüchtlingsräte starke Partner sein. Nutzung des UN-Menschenrechtsschutzssystems Die Nutzung des UN-Menschenrechtsschutzsystems ist etwas, was bei Praktiker_innen häufig zunächst Angst auslöst, weil die UN als sehr weit weg erscheint

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und der Eindruck besteht, dass die UN und die Praxis Sozialer Arbeit nichts miteinander zu tun hätten. Die Arbeitsintensität der Nutzung dieser Beschwerdemöglichkeiten hängt aber sehr von der Art der Beschwerde ab, die geführt wird. Im Wesentlichen sieht das UN-Menschenrechtsschutzsystem fünf Möglichkeiten der Beschwerdeeinreichung vor: Schattenberichtsverfahren, Individualbeschwerdeverfahren, Untersuchungsverfahren, die Anrufung von Sonderberichterstatter_innen und die Beteiligung am Universal Periodic Review-Verfahren. Im Folgenden werden – aus Gründen der Fokussierung – zwei dieser Verfahren exemplarisch vorgestellt. Die Beteiligung am Berichtsverfahren16 nimmt eher wenig Zeit in Anspruch und kann auch neben oder in der alltäglichen Arbeit geleistet werden. Jeder Staat, der eine UN-Konvention ratifiziert hat, verpflichtet sich auch zu regelmäßigen Berichten über die Umsetzung der Konvention an den entsprechenden Ausschuss. NGOs, 17 akademische Institutionen, nationale Menschenrechtsinstitutionen u.a. haben die Möglichkeit, diesen Staatenbericht zu kommentieren. Der Bericht der NGOs nennt sich Schatten-, Parallel- oder NGO-Bericht und ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem Bericht des Staates. Schattenberichte können sich entweder auf den gesamten Staatenbericht oder auf einzelne Artikel beziehen. Es gibt wenige Vorgaben zu Form, Umfang oder Ähnlichem. Die Informationsquellen sollten auf jeden Fall nachvollziehbar und transparent sein. Die Schattenberichte ermöglichen es dem Ausschuss, sich ein differenziertes Bild der Menschrechtslage in einem Land zu machen und entsprechende Empfehlungen – die Abschließenden Bemerkungen – an den Staat zu richten. Voraussetzung für die Mitarbeit an einem solchem Bericht ist lediglich die Bereitschaft, Fälle so zu dokumentieren, dass sie strukturelle menschenrechtsrelevante Lücken aufzeigen, sie zu analysieren und diese Information dem Bericht der NGOs an die UN zuzuarbeiten. Ein Beispiel einer solchen Intervention ist die Mitwirkung von Studierenden des Masterstudienprogramms „Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession“ an einen Schattenbericht an den Ausschuss des Sozialpakts (WSK-Allianz 2011). Hierin machten sie deutlich, wie der deutsche Staat die Menschenrechte von armen Menschen verletzt, indem er nicht ausreichend für sie sorgt; dieser Befund beruhte auf einer Forschungsarbeit, die sie im Rahmen ihres Studiums machten. Dass der Ausschuss dies sehr ernst nahm, zeigt sich daran, dass er deutliche Worte zu Armut in Deutschland fand (siehe Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 2011, Abs. 24). 16

Zu Einführung in verschiedenen Formen der Beschwerden bei UN-Ausschüssen siehe Prasad 2011 und Hüfner/Siebern/ Weiß 2012 17 Als NGO zählen auch sogenannte „Quangos“, also Quasi-NGOs, das heißt Organisationen, die zwar vom Staat finanziert werden, aber dennoch inhaltlich Unabhängigkeit genießen. Dies trifft in Deutschland auf viele Projekte der Sozialen Arbeit oder Beratungsstellen zu.

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Während sich Schattenberichte eher dafür eignen, strukturelle Defizite aufzuzeigen, ohne dass eine betroffene Person ihre Identität preisgeben muss, bietet die Individualbeschwerde die Möglichkeit der Klärung eines Einzelfalls durch einen UN-Ausschuss. Personen, die der Ansicht sind, dass ihre – durch eine UNKonvention geschützten – Menschenrechte verletzt wurden, haben so die Möglichkeit, sich nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs bei dem entsprechenden Ausschuss zu beschweren. Für Menschenrechtsverletzungen an Geflüchteten in Deutschland können je nach Fallkonstellation alle Ausschüsse zuständig sein – außer dem Ausschuss für den Sozialpakt, weil die Bundesregierung die Zustimmung für die Annahme von Individualbeschwerden bislang verweigert18. Die Initiierung einer Beschwerde bei einem UN-Ausschuss ist sicher sehr ressourcenintensiv und es empfiehlt sich, eine solche Beschwerde nicht alleine anzustreben, sondern z.B. im Rahmen von Strategischer Prozessführung mit ressourcenstarken Akteur_innen. Neben der Anwendung der UN-Schutzmechanismen zur Klärung eigener Fälle oder Fallkonstellationen bieten die Ergebnisse anderer Prüfungen vielfältige Möglichkeiten der Nutzung in der alltäglichen Sozialen Arbeit. Sie können Argumentationshilfen, Machtmittel, aber auch eine Ressource sein, die zum Empowerment beiträgt. So hat beispielsweise der UN-Antifolterausschuss 4919 Verletzungen des Artikel 320 seiner Konvention festgestellt; viele dieser Entscheidungen treffen auf Fallkonstellationen in Deutschland zu, mit denen Sozialarbeitende regelmäßig konfrontiert sein dürften. So z.B. die Entscheidung T.A. vs. Schweden (CAT/C/34/D/226/2003): Frau T.A. und ihre Tochter reisten im Oktober 2000 aus Bangladesch mit einem Touristenvisum nach Schweden, um dort einen Monat später Asyl zu beantragen. Frau T.A. war in Bangladesch politisch aktiv, wofür sie verhaftet, misshandelt und gefoltert (Vergewaltigung im Gefängnis) wurde. Nach diesen Vorkommnissen wurde sie in einer privaten Klinik behandelt, wobei alle Verletzungen – einschließlich der Vergewaltigung – ärztlich attestiert wurden. Die Asylbehörden in Schweden hielten Frau T.A. für glaubwürdig, gingen aber davon aus, dass diese Taten nicht dem Staat zu Lasten gelegt werden könnten; vielmehr hielten sie einzelne Polizisten hierfür verantwortlich. Selbst wenn eine Gefahr bestünde – so die schwedische Regierung – ginge sie von Einzelpersonen aus und könne nicht als eine Gefahr von Seiten des Staates Bangladesch gewertet werden. Daher wurde

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Auch hier ist kein Lobbyplan von Seiten der Profession zu erkennen, der das Ziel verfolgt, die Bundesregierung zur Akzeptanz dieser Beschwerdemöglichkeit zu bewegen. 19 Stand Juni 2016. 20 Artikel 3 der UN-Antifolterkonvention verpflichtet Staaten, dafür zu sorgen, dass eine Person nicht in einen anderen Staat ausgewiesen werden darf, wenn ihr dort die Gefahr von Folter oder erniedrigende oder grausame Behandlung droht.

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ihr Asylantrag – mit Hinweis auf eine innerstaatliche Fluchtalternative – abgewiesen. Nach Erschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten in Schweden wandte sich Frau T.A. an den UN-Antifolterausschuss. Dieser kam zu dem Ergebnis, dass es stichhaltige Gründe gab, anzunehmen, dass Frau T.A. bei einer Rückkehr nach Bangladesch Gefahr laufen würde, gefoltert zu werden oder andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erleben zu müssen. Daher kam der Antifolterausschuss zu dem Schluss, dass eine Abschiebung von Frau T.A. und ihrer Tochter nach Bangladesch eine Verletzung von Artikel 3 der Konvention darstellen würde. Frau T.A. und ihre Tochter müssten danach eine Aufenthaltserlaubnis erhalten haben.21 Die Nutzung solcher Beschwerden kann die eigene Argumentation stärken; manchmal kann alleine die Androhung einer solchen Beschwerde dazu beitragen, dass Sachverhalte überdacht werden. Auch jenseits juristischer Auseinandersetzungen können Entscheidungen auf der normativen Ebene Klarheit schaffen.

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Menschenrechtsbasierte Soziale Arbeit mit Geflüchteten

Soziale Arbeit mit Geflüchteten, die sich als Menschenrechtsprofession versteht, hat einiges zu tun. So müsste sie zunächst Menschenrechtsverletzungen im Inland thematisieren, nicht zuletzt um den Nachweis darüber zu erbringen, dass Menschenrechte nicht nur in Ländern des globalen Südens und Ostens verletzt werden. Die reine Benennung dieser Verletzung würde zynisch anmuten, sodass eine Bekämpfung auf individueller und struktureller Ebene sich als Auftrag hieraus ableitet. Um diesen Auftrag zu erfüllen, wird es wohl unumgänglich sein, sich nicht nur auf das klassische Methodenrepertoire der Sozialen Arbeit zu verlassen, sondern dieses zu erweitern, um Methoden, die strukturelle Veränderungen eher erreichen können. Für die Erweiterung des Methodenrepertoires sind natürlich in erster Linie Hochschulen und Universitäten in der Verantwortung, aber auch Praktiker_innen, die sich dieses Wissen selbstverantwortlich später aneignen sollten. Eine als Menschenrechtsprofession verstandene Soziale Arbeit kommt nicht umhin, zuerst die Menschenrechte und Konventionen u.a. gründlich zur Kenntnis zu nehmen, die eigene Arbeit und ihre Aufträge systematisch zu analysieren und mandatswidrige Forderungen von Seiten des Arbeitgebers/Staates mit Hinweis auf 21

Mit der Ratifikation einer Konvention und deren Beschwerdemechanismus stimmt der Staat auch zu, alle Entscheidungen des Ausschusses innerstaatlich umzusetzen. Der schwedische Staat musste zudem in diesem Fall binnen 90 Tagen dem Ausschuss Bericht erstatten, über die unternommenen Schritte in der Umsetzung, erstatten. Geschieht dies nicht, wird im nächsten Berichtsverfahren der Fall von Seiten des Ausschusses nochmals thematisiert. Da dies nicht der Fall ist, ist davon auszugehen, dass Frau T.A. und ihre Tochter eine Aufenthaltserlaubnis erhalten haben.

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den Code of Ethics oder auf die Menschenrechte oder andere Korrektive abzulehnen. Hochschulen, Hochschullehrende und Berufsverbände sind hierbei in der besonderen Verantwortung, Praktiker_innen zu stärken und gegebenfalls zu schützen und bei (rechtlichen) Auseinandersetzungen zu unterstützen. Hilfreich können hierbei Interventionen sein, aber auch Klarstellung im Rahmen von Stellungnahmen, Positionspapieren o.ä. Ein zaghafter Versuch, um Absolvent_innen des Masters „Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession“ vor mandatswidrigen Forderungen von Seiten des Arbeitgebers zu schützen, besteht beispielsweise darin, den Absolvent_innen die Möglichkeit einer freiwilligen, von der Studiengangleitung gegengezeichneten Selbstverpflichtung hinsichtlich des internationalen Code of Ethics zu geben. Dies ist ein erster Schritt – es wäre zu diskutieren, ob nicht eigentlich schon der BAAbschluss (mit der staatlichen Anerkennung als Sozialarbeiter_in) einen ähnlichen und vor allen Dingen rechtlich haltbaren Passus beinhalten sollte, um einerseits Sozialarbeitende vor mandats- bzw. menschenrechtswidrigen Forderungen zu schützen, und andererseits, um Klient_innen die Möglichkeit zu geben, sich bei mandats- bzw. menschenrechtswidrigen Handlungen durch Sozialarbeitende z.B. bei einer – noch zu gründenden – Kammer oder Ombudsstelle für Geflüchtete zu beschweren.

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Die Schule als (Re)Produzentin sozialer Ungleichheit? Antimuslimischer Rassismus im deutschen Bildungssystem Veronika Knauer

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Abstract

Ziel des Beitrages ist es herauszuarbeiten, wie antimuslimischer Rassismus im deutschen Bildungssystem wirksam wird und wie die Schule auf diese Weise zur (Re)Produktion sozialer Ungleichheit beiträgt. Dazu wird zunächst beispielhaft dargestellt, welche Diskurse über Muslime aktuell in der Gesellschaft geführt werden, welche Vorstellungen und Bilder von „muslimischer Kultur“ dabei wirkmächtig werden und wie bzw. warum diese Zuschreibungsprozesse unter den Rassismusbegriff gefasst werden können und sollen. Auf der Basis aktueller Studien zur Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund wird anschließend Vision und Wirklichkeit des bildungspolitischen und pädagogischen Ideals der Chancengleichheit diskutiert. Auf der Kritik an individualisierenden, defizitorientierten Erklärungsansätzen und ihren rassistischen Implikationen aufbauend wird schließlich der Fokus bei der Suche nach Ursachen der Benachteiligung auf die Institution Schule selbst gerichtet. Nur so kann aufgezeigt werden, in welcher Weise die zu Beginn beschriebenen, rassistischen Bilder und Wissensbestände über Muslime im schulischen Alltag wirksam werden und damit gesellschaftliche (Bildungs)Ungleichheit (re)produzieren.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 B. Thiessen et al. (Hrsg.), Sozialer Wandel und Kohäsion, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25765-1_13

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Veronika Knauer Einleitung

Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund 1 schneiden im deutschen Bildungssystem überdurchschnittlich schlecht ab. Das ist eine Tatsache, die spätestens seit der ersten internationalen Schulleistungsvergleichsstudie PISA im Jahr 2000 (OECD 2001) nicht mehr in Zweifel gezogen wird. Sowohl die Ergebnisse der Studie, wie auch die Diskussion über die gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen, die diese Ergebnisse implizieren, sind jedoch keineswegs neu und reichen bis in die 1970er Jahre zurück. Dennoch ist es der Politik bisher nicht gelungen die Nachteile, die im deutschen Bildungssystem sowohl in Bezug auf Bildungsbeteiligung als auch auf den Bildungserfolg bestehen, auszugleichen. Auch über die Gründe für dieses schlechte Abschneiden herrscht wenig Einigkeit. Die dominanten, gesellschaftlich anerkannten und am meisten rezipierten Erklärungsansätze sehen die Ursachen vor allem in einer vermeintlich defizitären Herkunftskultur der benachteiligten Kinder und Jugendlichen und ihren Familien begründet. Ein defizitorientierter und individualisierender Ansatz wie dieser, der die Gründe bei den Schüler_innen selbst sucht, greift jedoch deutlich zu kurz. Vielmehr muss die Institution Schule als Ganzes in den Blick genommen und untersucht werden, wo und in welcher Weise hier Benachteiligung und Diskriminierung stattfindet und in die Strukturen des Schulalltags eingeschrieben ist. Die zu diskutierende These ist, dass die Schule eine bestimmte Gruppe von Schüler_innen rassistisch benachteiligt, insbesondere jene denen ein muslimischer Glaube zugeschrieben wird. Dies geschieht nicht immer absichtlich und mit bösem Willen, aber gerade deshalb ist es notwendig, einen rassismuskritischen Blick auf die Institution Schule zu werfen. Des Weiteren gehe ich davon aus, dass eine solche rassistische Benachteiligung in einem engen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Debatten, Vorstellungen und Bildern steht und somit stets in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang betrachtet werden muss. Im Folgenden soll daher der Frage nachgegangen werden, welches rassistische Wissen über Muslime in der deutschen Gesellschaft existiert und wie dieses Wissen im sozialen Kontext der Schule wirksam wird und zur (Re)Produktion ungleicher Bildungschancen von muslimischen Kindern und Jugendlichen führen kann.

1

Die Gruppe der „Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ ist durchaus kritisch zu hinterfragen und keineswegs als eine natürlich gegebene, sondern vielmehr als eine (sozial) konstruierte Gruppe zu betrachten. Dennoch wird der Begriff im Folgenden verwendet, da nur so auf die rassistischen und ausgrenzenden Mechanismen aufmerksam gemacht werden kann, welche die (gesellschaftliche) Konstruktion dieser Gruppe mit sich bringt.

Die Schule als (Re)Produzentin sozialer Ungerechtigkeit 3

203

Gesellschaftlich konstruierte Bilder „muslimischer Kultur“

In den letzten Jahren war das Thema „Muslime“ aus öffentlichen Debatten kaum wegzudenken. Die im Oktober 2014 gegründete PEGIDA 2-Bewegung veranstaltete unzählige Proteste gegen eine von ihnen angenommene „Islamisierung des Abendlandes“, die eine Bedrohung der christlich-westlichen Werte und Errungenschaften darstelle. Die Ereignisse von Köln3 in der Silvesternacht 2015/2016 führten zu einem medialen Aufschrei über eine sogenannte muslimische „rape-culture“, also eine frauenverachtende, gewalttätige und sexistische Kultur der Muslime und schließlich rückte in diesem Zusammenhang auch die sogenannte „Flüchtlingskrise“ wieder stärker in den Mittelpunkt der Diskussionen. Zahlreiche Nachbarschaftsaktionen gegen Unterkünfte für geflüchtete junge Männer wurden gegründet, gestützt durch die Argumentation einer Angst vor gewaltsamen Übergriffen muslimischer Männer. Doch nicht erst seit 2016 wird „die muslimische“ Kultur als Gefahr für „die westlichen Werte“ diskutiert. In zahlreichen öffentlichen Debatten wurden Bilder und Stereotype über eine als homogen angenommene Gruppe der Muslime generiert und in den Fundus gesellschaftlichen Wissens aufgenommen. Genannt seien hier als Beispiele die Sarrazin-Debatte, die Kopftuchdebatte oder die Moscheebaudebatte. Im Folgenden sollen (ohne auf die komplexen Debatten selbst näher einzugehen) die Vorstellungen und Bilder, die in diesen Debatten (re)produziert werden und die sich als „rassistisches Wissen“ in den Köpfen der Menschen verfestigen, kurz umrissen werden. Die unter dem Schlagwort „Sarrazin-Debatte“ geführte Diskussion beschäftigte sich mit dem von Thilo Sarrazin 2010 herausgegebenen Buch „Deutschland schafft sich ab“ und mit den Folgen, die sich nach Meinung des Autors unter anderem aus der Zuwanderung aus überwiegend muslimischen Ländern ergeben. Im Wesentlichen behauptet Sarrazin in seinem Buch, Muslime hätten (biologisch begründet) eine niedrigere Intelligenz, eine stärkere Affinität zu Kriminalität sowie zur Inanspruchnahme des Sozialstaates. Ihre Kultur sei geprägt durch falsche Rollenbilder und die Unterdrückung der Frau sowie durch eine hohe Gewaltbereitschaft. In keiner anderen Religion sei der Übergang zu Gewalt, Diktatur und Terrorismus so fließend. (Sarrazin, zit. n. Bühl, 2010, S. 144f) Die breite Akzeptanz, die seine Thesen in der deutschen Gesellschaft (auch unter Intellektuellen) erhielt zeigt, wie weit verbreitet solche stereotypen Vorstellungen und Haltungen gegenüber Muslimen in unserer Gesellschaft sind.

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Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (PEGIDA) Im Januar 2016 wurden zahlreiche Berichte bekannt, die von gewalttätigen und sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht am Kölner Bahnhof und Dom berichteten. Die Angreifen wurden allesamt als arabisch oder nordafrikanisch aussehend beschrieben. 3

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Veronika Knauer

Ebenfalls in einen muslimfeindlichen und rassistischen Diskurs eingebettet ist die sogenannte Kopftuchdebatte. So wird das Kopftuch im gesellschaftlichen Diskurs weniger als religiöses Symbol oder Kleidervorschrift gesehen, sondern vielmehr als Sinnbild der Unterdrückung, das von den Frauen nicht freiwillig, sondern zwangsweise getragen wird. Es wird damit im gesellschaftlichen Diskurs zu einem Symbol für Rückständigkeit, Unterordnung und Abhängigkeit der muslimischen Frau. Eine solche Interpretation des Kopftuches erzeugt eine Hierarchisierung zwischen der „aufgeklärten Europäerin“ und der „muslimischen Migrantin“, indem erstere als fortschrittlich und letztere als rückständig konstruiert wird 4 . (Bühl 2010, S. 162) Dass empirische Studien die gängigen Annahmen von Zwang und Unterdrückung als Gründe für das Tragen des Kopftuches widerlegen, scheint in dieser Auseinandersetzung nicht relevant zu sein. Auch in den sogenannten Moscheebaudebatten finden eine Erzeugung sowie eine Wiederholung gesellschaftlichen Wissens über die „muslimische Kultur“ statt. Die Gegner von Moscheebauten in Deutschland beziehen sich in ihren Argumentationen insbesondere auf die Vorstellung der Moschee als Brutstätte gewaltbereiter fundamentalistischer Strömungen und stellen damit die Gesamtheit .der Muslime unter den Generalverdacht des Terrorismus. (ebd., S. 177) Darüber hinaus wurde die Existenz getrennter Gebetsräume in einigen Diskussionen zum Anlass genommen, auch in diesen Debatten über das angeblich frauenunterdrückende Geschlechterverhältnis im Islam zu diskutieren und erneut das Bild der unterdrückten muslimischen Frau zu beschwören. (ebd. 180) „‘Islam-Bashing‘ ist also in Deutschland keinesfalls geächtet, sondern salonfähig“, resümiert Achim Bühl, „die Gleichsetzung von Islam und Terror vollzieht sich nicht nur in den Köpfen Ewiggestriger, sondern in den Äußerungen ihrer politischen, ökonomischen wie kulturellen Elite. Islamhass ist hier zu einer akzeptablen Haltung geworden“ (ebd., S. 10). Auch verschiedene Studien versuchten in den letzten Jahren die Einstellungen in der deutschen Gesellschaft gegenüber Muslimen und dem Islam zu ergründen und in Zahlen zu fassen. Eine davon ist die Langzeitstudie „Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland.“ (Decker/Kiess/Brähler 2012; 2014). Insbesondere in den Erhebungen der Jahre 2012 und 2014 wurde herausgearbeitet, dass „Islamfeindschaft das neue Gewand des Rassismus ist“ (ebd. 2014, S. 48): es wird nun (vordergründig) nicht mehr biologistisch argumentiert, sondern die vermeintliche Rückständigkeit der islamischen Kultur thematisiert (ebd.). Wie man der untenstehenden Abbildung entnehmen kann, stimmten im Jahr 2012 mehr als die Hälfte der befragten Personen (57,1%) der Aussage 4

Auch die, in diesen Diskursen stets (re)produzierte Dichotomisierung „islamisch“ versus „westlich“ ist kritisch zu hinterfragen, da hierbei eine religiöse Kategorie in Bezug zu einer geographischen gesetzt wird: Dem Diskurs inhärent ist damit die implizite Aussage, eine Person könne nicht gleichzeitig „islamisch“ und „westlich“ sein.

Die Schule als (Re)Produzentin sozialer Ungerechtigkeit

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„Muslime und ihre Religion sind so verschieden von uns, dass es blauäugig wäre, einen gleichen Zugang zu allen gesellschaftlichen Positionen zu fordern“ zu. Fast genauso viele teilen die Auffassung, dass die islamische Welt rückständig ist und sich den neuen Realitäten verweigert (57,5%), sowie dass der Islam ist eine archaische Religion ist, unfähig sich an die Gegenwart anzupassen (56,3%). Etwas weniger, aber immer noch fast die Hälfte der Befragten sind der Meinung, dass „die Nähe von Islam und Terrorismus schon im Islam selber und seinen aggressiven Seiten angelegt ist“ (46,6%) und dass jegliche Kritik von Vertretern des Islam an der westlichen Welt übertrieben und ungerechtfertigt ist (44,4%). Islamophobie (Quelle: Decker/Kiess/Brähler 2012: 92) Die islamische Welt ist rückständig und verweigert sich den neuen Realitäten Der Islam ist eine archaische Religion, unfähig sich an die Gegenwart anzupassen Ich denke, dass die Nähe von Islam und Terrorismus schon im Islam selber und seinen aggressiven Seiten angelegt ist Jegliche Kritik von Vertretern des Islam an der westlichen Welt ist übertrieben und ungerechtfertigt Muslime und ihre Religion sind so verschieden von uns, dass es blauäugig wäre, einen gleichen Zugang zu allen gesellschaftlichen Positionen zu fordern

Lehne ich völlig/ überwiegend ab (%)

Stimme teils zu/teils nicht zu (%)

Stimme überwiegend/voll und ganz zu (%)

14,8

27,8

57,5

16,5

27,2

56,3

25,7

27,7

46,6

25,8

29,8

44,4

17,2

25,8

57,1

Abb. 1: Islamophobie (Quelle: Decker/Kiess/Brähler 2012: 92)

Auch andere Untersuchungen kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Genannt seien hier die Studie der Bertelsmannstiftung “Religionsmonitor – Sonderauswertung Islam” (2015) und eine Studie, durchgeführt von Naika Foroutan im Auftrag der

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Veronika Knauer

Friedrich Ebert Stiftung im Jahr 2012, mit dem Titel “Muslimbilder in Deutschland. Wahrnehmungen und Ausgrenzungen in der Integrationsdebatte”.

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Islamophobie, Muslimfeindschaft oder antimuslimischer Rassismus? Zur Konzeptualisierung eins Phänomens

Doch wie können diese gesellschaftlichen Haltungen und Einstellungen gegenüber Muslimen nun beschrieben und theoretisiert werden? Offensichtlich findet eine Kulturalisierung und Naturalisierung dieser Gruppe statt: Jeder Muslim scheint von Natur aus gleich zu sein und diese Gleichheit ist durch die Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft des Islam begründet. Der Islam wird zur einzigen Identifikationsschablone der Muslime – andere identitätsstiftende Merkmale wie Geschlecht, Beruf, Nationalität, soziale Schicht, werden durch das Muslim-Sein überlagert. Darüber hinaus existiert die Annahme, der Islam beruhe auf einer Weltsicht, die nicht mit der „westlichen Gesellschaft“ vereinbar sei und von der sich Muslime nicht emanzipieren könnten. Die Fähigkeit sich gegenüber dem Islam zu positionieren wird ihnen abgeschrieben und jede Handlung von Muslimen wird als durch ihren Glauben determiniert angesehen. Muslime verlieren ihre individuelle Identität – sie werden zu „Agenten des Islams“ (Decker et al. 2012, S. 90). Wissenschaftliche Debatten und Diskurse zeigen eine große Vielfalt an Begriffen mit denen dieses Phänomen beschrieben wird. Im Folgenden werden die gängigsten Begriffe – Islamophobie, Muslimfeindschaft und antimuslimischer Rassismus – diskutiert, um darzulegen, warum ich es für angemessen und wichtig halte von Rassismus zu sprechen. Der am weitesten verbreitete Begriff, insbesondere auch in der englischsprachigen Literatur, ist der Begriff Islamophobie. Die Liste der Studien der letzten Jahre, die den Begriff Islamophobie im Titel führen ist lang. Doch wird der Begriff dem zu beschreibenden Phänomen gerecht? Das Wort selbst besteht aus zwei Teilen: „Islam“ und „Phobie“. Ersterer benennt eine Religion, der zweite ist die Ausdruck für eine Angststörung, ein klinischer oder psychologischer Begriff: Er beschreibt eine pathologische und unbegründete, über ein angemessenes Level hinaus gehende, Angst. Mit der Bezeichnung als Islamophobie bekommt das beschriebene Phänomen also die Konnotation einer psychischen Krankheit, einer unfreiwilligen Abneigung, aber nicht die eines gelernten, durch die Gesellschaft vermittelten Vorurteils. Darüber hinaus legt der Begriff nahe, eine solche Einstellung als individuelles (psychologisches) Problem zu betrachten und nicht als Haltung großer Teile der Gesellschaft. Eine weitere Schwierigkeit des Begriffes ist, dass er die Kritik an einer Religion und die Stigmatisierung von Menschen, die dieser

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Religion angehören, vermischt. Eine negative Haltung gegenüber dem Islam (seiner Ideologie, Symbolik und Praktiken) muss aber nicht zwingend mit einer Ablehnung ihrer Anhänger_innen einhergehen. (Pfahl-Tauber 2012, S. 11ff.) Ein alternativer Begriff, der von der Deutschen Islamkonferenz (2012) aus der Kritik an dem Begriff Islamophobie entwickelt wurde, ist der Begriff Muslimfeindschaft. Wie bereits der Begriff erkennen lässt, wird der Fokus hier deutlich stärker auf die Diskriminierung einer bestimmten Gruppe von Menschen – nämlich der Muslime – gelegt. Der Fokus wird damit von einer abwehrenden Haltung gegenüber einer Religion auf die abwehrende Haltung gegenüber ihren Anhänger_innen verlagert. (Pfahl-Tauber 2012, S. 20f.) Der Begriff Muslimfeindschaft ordnet damit das oben beschriebene Phänomen in das Konzept der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, wie es von Wilhelm Heitmeyer in seinen Studien5 entwickelt wurde, ein. Mit diesem Konzept versucht Heitmeyer zu analysieren, wie bestimmte Gruppen von Menschen wahrgenommen und mit feindlichen Haltungen konfrontiert werden. Eine Schwierigkeit des Begriffes ist jedoch, dass er Machtasymmetrien, die zwischen der Mehrheitsgesellschaft und der Minderheit (in diesem Kontext die Muslime) bestehen, nicht in den Blick nimmt. Das Konzept der Muslimfeindschaft sagt damit nichts über die soziale Position aus, von der aus jemand spricht und von der aus kollektive Zuschreibungen gemacht werden (Shooman 2011). Aufbauend auf dieser Kritik plädiere ich, im Anschluss an Yasemin Shooman (2011) und Imman Attia (2013), für den Begriff des antimuslimischen Rassismus. Ein wichtiges Argument für die Verwendung des Rassismusbegriffes ist, dass er gesellschaftliche Machtasymmetrien reflektiert. Im Anschluss an Paul Mecheril und Claus Melter (2011) verstehe ich Rassismus als „machtvolles, mit Rassenkonstruktionen operierendes oder an diese Konstruktionen anschließendes System von Diskursen und Praxen […], mit welchem Ungleichbehandlung und hegemoniale Machtverhältnisse erstens wirksam und zweitens plausibilisiert werden“ (ebd., S. 15f.). Die Unterscheidung von Menschen und ihre Einteilung in materiell und symbolisch hierarchisch geordnete Gruppen sind dabei verbunden mit der Zuschreibung von Eigenschaften und Wesensmerkmalen, welche als quasi natürlich vorgestellt werden. Soziale und kulturelle Differenzen werden so naturalisiert, als unveränderlich verstanden und einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe zugeschrieben (ebd.). Weder das Konzept der Phobie, noch das Konzept der Feindschaft sagt etwas darüber aus, von welcher Position aus Muslime mit generalisierenden Zuschreibungen belegt werden – wer ist in der gesellschaftlichen Position zu definieren, 5

Wilhelm Heitmeyer führte zwischen 2002 und 2011 an der Universität Bielefeld eine Langzeitstudie durch, in der er sich u.a. mit der Entwicklung von Vorurteilen gegenüber gesellschaftlichen Minderheiten in Deutschland beschäftigte. Sie wurde unter dem Titel “Deutsche Zustände” vom beim Suhrkamp Verlag herausgegeben.

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wer die Muslime sind? Im Gegensatz zum Konzept der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, das auf der Annahme zweier nebeneinander existierender Gruppen basiert, bezieht sich das Rassismuskonzept auf den Prozess des Otherings, einen Prozess, der die Gruppe der „Anderen“ als Gegenstück zur eigenen Gruppe, erst hervorbringt. Dieser Prozesse geht dem Phänomen jedoch nicht voraus, sondern ist Teil des Ganzen und kann nur im Kontext gesellschaftlicher Machtungleichheit verstanden werden. Das Konzept des Rassismus beinhaltet damit mehr als nur ein Set von Vorurteilen gegenüber einer bestimmten Gruppe. Schließlich beinhaltet das Konzept des Rassismus einen Prozess der Ethnisierung. In Bezug auf den antimuslimischen Rassismus in Deutschland wird dieser vor allem sichtbar in der semantischen Gleichsetzung der Begriffe „Türke“, „Araber“, „Muslim“ und zu einem gewissen Grad auch „Mensch mit Migrationshintergrund“. Doch nicht jeder Türke ist Muslim und auch nicht jeder Muslim hat einen Migrationshintergrund – dennoch kann er antimuslimischen Rassismus erfahren. Das bedeutet, dass antimuslimischer Rassismus losgelöst von der tatsächlichen Religionszugehörigkeit funktioniert. Unabhängig davon, ob jemand in die Moschee geht, ob er im Ramadan fastet oder ob er überhaupt gläubig ist, kann er Abweisung und Diskriminierung – beispielsweise aufgrund seiner äußeren Erscheinung oder seines Namens. Mit anderen Worten: Zugeschriebener ethnischer und religiöser Hintergrund scheinen eine größere Rolle zu spielen, als tatsächliche religiöse Praxis. Es geht dabei nicht nur um individuelle Vorurteile, sondern um gesellschaftliche Bilder und Zuschreibungen, die den Akteur_innen nicht immer bewusst sind – das ist ein wichtiger Aspekt und kann im Konzept des antimuslimischen Rassismus deutlich gemacht werden.

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Bildungsgerechtigkeit im deutschen Bildungssystem – Vision und Wirklichkeit

Der „‘Pisa-Schock‘ des Jahres 2001, der Deutschland als Weltmeister der sozialen Bildungsungleichheit entlarvte“ (Deißner 2013, S. 13) löste eine bundesweite Debatte über Bildungsgerechtigkeit aus6. Die internationale Vergleichsstudie zeigte, dass im deutschen Bildungssystem, wie in kaum einem anderen, soziale Ungleichheiten reproduziert und bestimmte Gruppen von Schüler_innen benachteiligt werden. Die Chancen im sozialen Aufstiegswettbewerb sind folglich in Deutschland besonders ungleich verteilt (ebd., S. 11). 6

Die PISA-Studie (Programme for International Student Assessment) ist eine internationale Schulleistungsvergleichsstudie, die seit dem Jahr 2000 alle drei Jahre in den 28 OECD Ländern und in Brasilien, Lettland, Lichtenstein und Russland durchgeführt wird. Sie untersucht und vergleicht die mathematische Kompetenz sowie die Lesekompetenz von 15jährigen.

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Ein allgemeinbildender Schulabschluss und eine erfolgreich abgeschlossene Berufsausbildung stellen jedoch entscheidende Bedingungen aussichtsreicher Teilhabe an den sozialen Ressourcen und Prozessen einer Gesellschaft dar. Im Umkehrschluss bedeutet dies in der Realität eingeschränkte Teilhabechancen von benachteiligten Kindern und Jugendlichen. Das Bildungssystem kann also das meritokratische Versprechen der Chancengleichheit, das dem Diskurs um soziale Bildungsgerechtigkeit zugrunde liegt, nicht halten. Chancengleichheit in diesem Sinne meint, dass im Wettbewerb um soziale Positionsgüter jede sich bewerbende Person nach gleichen Regeln antritt, „um unterschiedliche Talente aufzuzeigen, die dann zu ungleichen Wahrscheinlichkeiten auf Erfolg und ungleichen Ergebnissen führen“ (Gosepath 2012, S. 16; zit.n. Deißner 2013, S. 11). Dabei darf die Entwicklung eben jener erfolgsbestimmenden Fähigkeiten und Talente nicht durch eine sozial oder materiell nachteilige Ausgangslage behindert werden. Hier liegt die normative Grundlage einer umfassenden Sozial- und Bildungspolitik: Erst wenn strukturelle und materielle Bedingungen dafür gegeben sind, dass alle „bei gleichen Begabungen und Motivationen unabhängig von den zwischen ihnen bestehenden sozialen Ungleichheiten gleiche Chancen haben“, ist sie gerecht. (Deißner 2013, S. 11) Entscheidend ist also, dass bei unterschiedlichen sozialen Startvoraussetzungen, aber gleichen individuellen Dispositionen, die gleichen Chancen auf Erfolg bestehen. Doch genau hier liegt das Problem: „Dass selbst dieses basale meritokatische Versprechen im deutschen Bildungssystem nicht eingelöst wird, dass hierzulande der Bildungserfolg der Kinder deutlicher als in vielen anderen Industriestaaten mit dem ökonomischen und kulturellen Kapital der Eltern korreliert, ja dass auch bei messbar gleichen Kompetenzen und sogar gleichen Noten die Chancen auf Bildungsaufstieg ungleich verteilt sind, ist das eigentliche Skandalon des Bildungsstandorts Deutschland.“ (Deißner 2013, S. 12) Die Realität von Bildungsungleichheit im deutschen Schulsystem ist jedoch keine neue Erkenntnis: Wissenschaftliche Publikationen der letzten 25 bis 30 Jahre, die sich der Bildungssituation von ausländischen Kindern bzw. von Kindern mit Migrationshintergrund widmen, zeigen, dass die Anwesenheit dieser Gruppe seit jeher als gewaltige Herausforderung für das Bildungssystem betrachtet wird (Mecheril et al. 2010, S. 121). Dabei wurde bis Anfang dieses Jahrhunderts vorrangig von ausländischen Schüler_innen, d.h. von Kindern und Jugendlichen mit-

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nicht-deutschem Pass, und seit 2005 vermehrt von Kindern mit Migrationshintergrund7 gesprochen. Es gibt so gut wie keine Studien, die sich explizit auf die Benachteiligung der Gruppe der muslimischen Schüler_innen bezieht8, jedoch findet man diese Gruppe in den Studien wieder, die sich mit Bildungsungleichheit von Schüler_innen mit Migrationshintergrund beschäftigen. Die Gleichsetzung von muslimischen Jugendlichen mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist eine, die zwar tatsächlich, insbesondere im medialen und öffentlichen Diskurs häufig gemacht wird, die aber keineswegs als richtig vorausgesetzt werden kann. Wie in Kapitel drei beschrieben, müssen Muslime nicht notwendigerweise einen Migrationshintergrund haben und Menschen mit Migrationshintergrund müssen nicht notwendigerweise Muslime sein. Dennoch gibt es große Überschneidungen zwischen diesen beiden Gruppen und, was noch wichtiger ist, muslimischen Jugendlichen wird in öffentlichen Diskursen meist automatisch ein Migrationshintergrund zugeschrieben, was dazu führt, dass sie – auch in der Schule – stets so adressiert werden. Wie schon mehrfach angedeutet gibt es zahlreiche Studien, die belegen, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund an deutschen Schulen in vielerlei Hinsicht schlechtere Perspektiven haben. Genannt seien hier zum einen die großen Schulleistungsvergleichsstudien, die die Kenntnisse und Fähigkeiten von Schüler_innen verschiedener Staaten, Klassen- und/oder Altersstufen anhand von speziell dafür entworfenen Testinstrumenten vergleichen 9 und zu denen die oben genannte und viel diskutierte PISA-Studie gehört. Als nationale Schulleistungsvergleichsstudie ist die LAU-Studie zu nennen, die sich gezielt mit „Aspekten der Lernausgangslagen und der Lernentwicklung“ (LAU) von Schüler_innen an Hamburger Schulen beschäftigt. Auch amtliche Bildungsstatistiken und Surveys der

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Mit dem Mikrozensus 2005 wurde erstmals die Kategorie des „Migrationshintergrundes“ in die Erhebung aufgenommen. Damit wurde nicht nur der rechtliche Status, also die formale Unterscheidung in Deutsche und Ausländer, berücksichtigt, sondern es wurden unterschiedliche Merkmale in die Berechnungen einbezogen: Staatsangehörigkeit, Geburtsort, Einwanderungsjahr, Einbürgerung und Geburtsort beider Eltern und (in bestimmten Fällen) der Großeltern. (siehe auch Mecheril et al. 2010, S. 122) 8 Muslime weisen laut einer Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und der Deutschen Islamkonferenz aus dem Jahr 2009 ein „signifikant niedrigeres Bildungsniveau“ und niedrigere Bildungsabschlüsse als die Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften auf. Während bei den Muslimen insgesamt 15% gar keinen Abschluss haben, sind es bei den Angehörigen anderer Religionen nur 7%. (Haug/Müssig/Stichs 2009, S. 211) Die Studie schließt jedoch alle in Deutschland lebenden Muslime ein, bezieht sich also nicht nur auf Kinder und Jugendliche, die ihre Ausbildung im deutschen Schulsystem durchlaufen (haben). 9 Die internationalen Schulleistungsvergleichsstudien, an denen Deutschland in den letzten Jahren teilgenommen hat waren die „Third International Mathematics and Science Study (TIMSS)“, das „Programme for International Stundent Assessment (PISA)“ und die „Internationale Grundschul-Lese- Untersuchung (IGLU)“ (Diefenbache 2010, S. 29f.)

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Wohnbevölkerung Deutschlands10 befassen sich, sei es zentral oder am Rande, mit der Bildungsbeteiligung und dem Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (Diefenbach 2010, S. 25). Ergebnisse dieser Studien und daraus resultierende Verallgemeinerungen sind jedoch mit Vorsicht zu genießen, da die unterschiedlichen Untersuchungen mit unterschiedlichen Indikatoren und Kriterien arbeiten. Auch wird in den meisten Studien zwischen ausländischen und deutschen Schüler_innen unterscheiden, was nur bedingt einen Rückschluss auf die Gruppe der Schüler_innen mit Migrationshintergrund sowie die Gruppe der muslimischen Schüler_innen ermöglicht. Gleichzeitig ist bei der Rezeption solcher Studien stets mitzudenken, dass es sich bei diesen Gruppen nicht um natürliche, real existierende Gruppen handelt, sondern dass sie erst im Prozess der Definition von Unterscheidungsmerkmalen entstehen. Dennoch lassen sich aus den Daten dieser Untersuchungen eine Vielzahl von Tendenzen herausarbeiten, die Rückschlüsse auf die Benachteiligung der (konstruierten) Gruppe der ausländischen Schüler_innen sowie der Schüler_innen mit Migrationshintergrund beziehen und Bezug zur (ebenfalls konstruierten) Gruppe der deutschen Schüler_innen die gesetzt werden können. Heike Diefenbach hat in einer umfassenden Analyse die Ergebnisse aus den verschiedenen Studien wie folgt zusammengefasst: Im Vergleich zu deutschen Kindern erfahren ausländische Kinder weniger vorschulische Betreuung. Sie werden deutlich häufiger von der Einschulung zurückgestellt und treten von der Grundschule deutlich häufiger in eine Hauptschule und deutlich seltener in eine Realschule oder ein Gymnasium über. An Hauptschulen sind sie deutlich und an Integrierten Gesamtschulen weniger deutlich überrepräsentiert, an Realschulen und besonders an Gymnasien dagegen unterrepräsentiert. Sie bleiben deutlich häufiger ohne einen Hauptschulabschluss. Sie erwerben deutlich häufiger einen Hauptschulabschluss und seltener einen Realschulabschluss oder eine Fach/Hochschulreife. Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien haben eine deutlich geringere Lese- und naturwissenschaftliche (und eingeschränkt auch mathematische) Kompetenz als deutsche Kinder und Jugendliche. Ausländische Kinder besuchen doppelt so häufig Sonderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen. (Diefenbach 2010, S. 159) Bei ihrer Analyse der Erklärungsansätze für die Ursachen dieser Benachteiligung unterscheidet Diefenbach zwischen zwei Ebenen, auf denen sich diese Ansätze verorten lassen: Die individuelle Ebene, die versucht die Nachteile der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund durch deren Eigenschaften zu erklären und die Ebene der Schule als Institution, die die Kontextbedingungen des Schulbesuchs und Schulerfolgs, sowie Prozesse der schulischen Diskriminierung 10

Zu nennen sind hier zum Beispiel der Mikrozensus, die Allgemeine Sozialwissenschaftliche Bevölkerungsumfrage (ALLBUS) und insbesondere in Bezug auf Bildungsbeteiligung und -erfolg das Sozioökonomische Panel (SOEP)

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thematisieren. (ebd. 2010, S. 89) Die Begründungen für die Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind vielfältig. Sie sind von den jeweiligen theoretischen Zugängen der argumentierenden Wissenschaftler_innen und nicht zuletzt auch von migrationspolitischen Einstellungen der Sprechenden abhängig. (Huxel 2014, S. 99)

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Kulturelle Defizite als dominante Erklärungsansätze für Bildungsbenachteiligung

Ansätze, die sich auf der individuellen Ebene verorten lassen sind Erklärungen, die vor allem im öffentlichen Diskurs, aber auch in Teilen des wissenschaftlichen Diskurses am häufigsten genannt werden. (ebd., S. 161) Auch Claus Melter stellt fest: „Die dominante Migrationsforschung und darauf fußende Integrationsprogramme folgen fast ausnahmslos dem individualisierenden Ansatz und delegieren die Verantwortung für Bildungsungleichheit fast komplett an die Schüler_innen mit Migrationshintergrund, ihre Familien und ihre ‚Kulturen‘ sowie ihre […] Bildungsaspirationen und Sprachpraxen.“ (Melter/Erol 2013, S. 246) Die Grundthese eines solchen, auch als defizitorientierten Ansatz zu beschreibenden, Erklärungsansatzes ist, dass die Kinder und Jugendlichen aufgrund ihres kulturellen Erbes Defizite hinsichtlich dessen aufweisen, was als ‘Normalausstattung’ an Verhaltensweisen, Kenntnissen und Fähigkeiten vorausgesetzt wird, die ein Kind oder ein Jugendlicher eines bestimmten Entwicklungsstandes in die Institutionen der Bildung und Erziehung mitzubringen hat. Diese Defizite, die damit auch gleichzeitig als Ursache der Benachteiligung gesehen werden, werden als kulturelle Defizite oder als defizitäre Lernkultur beschrieben und in der sogenannten „Herkunftskultur“ der Familien lokalisiert. Diese Herkunftskultur wird dabei gewöhnlich als Nationalkultur vorgestellt, so dass z.B. die „türkische Kultur“ der „deutschen Kultur“ gegenüber gestellt wird. (Diefenbach 2010, S. 91) In der Literatur wird in diesem Kontext eine Vielzahl kulturbedingter “Defizite” benannt, die den Schulerfolg von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund angeblich behindern. Beispiele sind ein autoritärer Erziehungsstil und damit die Verhinderung der Selbständigkeit und Mitbestimmung der Kinder, eine mangelnde Anerkennung von Lernen und Leistung als Werte, eine mangelnde Einsicht in die Notwendigkeit des regelmäßigen Schulbesuchs, Unkenntnis des deutschen Schulsystems oder Verhaltensprobleme bis hin zu Neurosen aufgrund des in den Kindern stattfindenden “Kulturkonflikts” genannt. (ebd., S. 93)

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Heike Diefenbach stellt in ihrer Analyse jedoch heraus, dass es sich bei diesen Erklärungsansätzen entweder um ex-post-facto-Erklärungen und Plausibilisierungen handelt, oder um vereinzelte Forschungsergebnisse, die nicht verallgemeinerbar sind, weil sie unter Verwendung sehr spezifischer Stichproben gewonnen wurden. Andere Studien konnten sogar zentrale Thesen der Erklärungen durch kulturelle Defizite widerlegen. So konnte Nauck (1985) in seiner Untersuchung zu „Familien türkischer Arbeitsmigranten“ zeigen, dass eine autoritär-patriarchalische Familienstruktur dort eher selten zu finden war und in allen Handlungsfeldern synkratische Entscheidungen in den Familien überwogen. Weitere Studien haben außerdem gezeigt, dass in sogenannten „türkischen Migrantenfamilien“ keinesfalls ein Mangel an Einsicht im Hinblick auf die Notwendigkeit eines regelmäßigen Schulbesuchs oder ein mangelnder Respekt vor den Werten “Lernen” und “Leistung” besteht, sondern dass die Bildungsaspirationen sogar besonders hoch sind, höher als in „deutschen Familien“. (Diefenbach 2010, S. 93) Auch Mecheril et al. resümieren: „Insgesamt gesehen muss man feststellen, dass sowohl eine inhaltlich-theoretische als auch eine empirische Auseinandersetzung mit der Erklärung der Nachteile von Kindern und Jugendlichen aus Migrantenfamilien gegenüber deutschen Kindern hinsichtlich ihrer Bildungsbeteiligung und ihres Bildungserfolgs durch eine defizitäre Herkunftskultur zeigt, wie unzureichend diese Erklärung ist. […] Dies hat sicherlich auch mit der problematischen Annahme mehr oder weniger homogener Nationalkulturen zu tun, die den Kern dieser Erklärung ausmacht. Diese Annahme reflektiert eher bestimmte in Deutschland verbreitete Bilder vom ‘typischen’ Leben in einer muslimischen oder südeuropäischen Gesellschaft oder Familie als dass sie Mechanismen beschreiben würde, die empirisch nachweisbare Effekte auf den Schulerfolg von Kindern oder Jugendlichen aus den entsprechenden Migrantenfamilien haben sollen.“ (Mecheril et al. 2010, S. 100) Empirisch kann demnach nicht belegt werden, dass die Nachteile von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund vorrangig auf kulturelle Defizite zurückzuführen wären. Diejenigen Ansätze, die insbesondere im öffentlichen Diskurs am häufigsten genannt werden, finden also nur schwache empirische Unterstützung. (Diefenbach 2010, S. 161) Im Kontext einer rassismuskritischen Perspektive können solche Erklärungsansätze vielmehr als Thesen betrachtet werden, die wiederum selbst auf rassistischen Wissensbeständen fußen und gleichzeitig durch diese plausibilisiert werden. Es sind Erklärungen, die in der Gesellschaft vorherrschendes rassistisches Wissen gleichermaßen reproduzieren wie plausibilisieren. Sie beschreiben Prozesse dichotomisierter, ethnisierter und essentialisierter Zuschreibungen (wie unter Punkt drei beschrieben) und sind damit in die Logik einer rassistisch strukturierten Gesellschaft eingelassen.

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Über die oben beschriebenen kulturalisierenden Ansätzen hinaus, finden sich in der wissenschaftlichen Literatur jedoch auch Erklärungsansätze, die die Schule selbst als Ursache von Benachteiligung in den Mittelpunkt der Betrachtungen rücken. Im Folgenden soll der Blick darauf gerichtet werden, wie die Schule als Institution Bildungsungleichheit hervorbringt und verfestigt 11, und wie in diesem Kontext antimuslimischer Rassismus in die Praxis des Schulalltages eingebettet ist. 7.1 Die Schule als Ort der (Re)Produktion von Normalität und Differenz Die Institution Schule ist auf die Schaffung möglichst homogener Lerngruppen gerichtet, die einer bestimmten Vorstellung der „normalen Schülerschaft“ entspricht. Schüler_innen mit Migrationshintergrund, die dieser Vorstellung nicht entsprechen (oder von denen dies angenommen wird), werden als Störfälle wahrgenommen und ausgesondert. (Huxel 2014, S. 101) „Muster von Diskriminierung und Abweisung entlang von Normalitätserwartungen in Bezug auf die Schul- und Sprachfähigkeit, wie sie deutschsprachigen, im weitesten Sinne christlich sozialisierten Mittelschicht-Kindern entsprechen, prägen die gesamte Schullaufbahn eines Kindes“ (Gomolla 2013, S. 95) Dies bedeutet, dass im System Schule eine bestimmte Normalitätserwartung vorherrscht, die an eine vorgestellte deutsche Kultur anknüpft, welche im Wesentlichen als weiß, christlich einsprachig konstruiert wird. Die Differenzlinie, die im Fokus solcher Normalitätserwartungen steht, ist heute nicht mehr die Nationalität (also die formale Zugehörigkeit zum Staat), sondern es wird stärker die vermeintliche kulturelle und vor allem sprachliche Differenz in den Blick genommen. Solchen Zuschreibungs- und Begründungsmustern liegt ein binär strukturiertes Denken von „Wir“ und „die Anderen“ zugrunde. Kindern und Jugendlichen, die nicht den Normalitätserwartungen entsprechen wird mit stereotypen Vorstellungen begegnet, es werden kulturalisierende und ethnisierende Zuschreibungen vorgenommen. In diesen spiegeln sich alltagsrassistische Erklärungsansätze, in denen Kultur oder auch Ethnizität als Merkmale der Andersartigkeit konstruiert werden. Paul Mecheril beschreibt daher die Schule als Ort und Institution, die einen Beitrag zur gesellschaftlichen Wirksamkeit des Schemas leistet, das zwischen „Anderen“ und „Nicht-Anderen“ unterscheidet (ebd. 2010, S. 123): Die Schule 11

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Institution Schule neben rassistischer Benachteiligung auch Ausschlüsse und Benachteiligung entlang anderer Merkmale (re)produziert, wie z.B. Geschlecht, soziale Schicht, etc. , die hier nicht in den Blick genommen werden.

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trägt dazu bei, „Migrationsandere“12 (ebd.) zu erzeugen, „die nicht nur ‚anders‘, sondern auch in einer deklassierten und mit Bezug auf die Teilhabewege des gesellschaftlichen Raumes, deplatzierten Weise ‚anders‘ sind“ (ebd. 2010, S. 123) – in der Schule lernen die Kinder, was es heißt Migrant_in bzw. Nicht-Migrant_in zu sein (ebd.).

7.2 Die Schule als Ort ethnisierter und kulturalisierter Entscheidungen Die in der Schule vorherrschenden Normalitätsvorstellungen und Deutungsmuster bezüglich Migration und Ethnizität dienen schließlich auch als Erklärungs- und Begründungsmuster für Entscheidungen, die sich negativ auf die Bildungszugänge von Kindern mit Migrationshintergrund auswirken können. Das bedeutet, dass insbesondere bei Entscheidungen die den weiteren Bildungsverlauf von Kindern und Jugendlichen maßgeblich beeinflussen (wie z.B. bei der Einschulung oder dem Übertritt an eine weiterführende Schule), oftmals ethnisch-kulturell kodierte Vorannahmen wirksam werden. Mechtild Gomolla stellt in ihrer Studie zur institutionellen Diskriminierung von Kindern mit Migrationshintergrund fest, dass bei Zuweisungsentscheidungen in der Schule vor allem die Abweichungen von der Norm den Ausschlag geben (ebd. 2013, S. 95). So funktioniert der Verweis auf sprachliche Defizite im Rahmen einer negativen Schullaufbahnentscheidung oft als Synonym für die Abweichung von einer als homogen imaginierten deutschen Kultur. (ebd.) Der Rückgriff der Lehrkräfte auf Erklärungen, die kulturelle und sprachliche Defizite ebenso wie mangelnde elterliche Unterstützung bei Kindern mit Migrationshintergrund vermuten (vgl. Gomolla/Radtke 2009, S. 269ff.) zeigt, dass kulturdifferenztheoretische und defizitorientierte Betrachtungsweisen als Deutungsmuster im Feld vorhanden und in weiten Teilen auch konsensfähig sind. Insgesamt zeigt sich bei Übergangsentscheidungen ein starker Zusammenhang zwischen Prozessen der Fremdethnisierung und den Profilen der einzelnen Schulformen (ebd., S. 262). Selektionsentscheidungen werden unter anderem aufgrund von stereotypen Annahmen über die familiären Hintergründe und vermutete fehlende Unterstützungsmöglichkeiten getroffen (Huxel 2014, S. 93; siehe auch Gomolla 2013; Gomolla/Radke 2009) und weniger auf der Basis der tatsächlichen Leistungen der Schüler_innen. Dies kann bei Entscheidungen am Übertritt in eine weiterführende Schule zu unterschiedlichen Empfehlungen trotz gleicher Leistungen führen. Die Möglichkeit, Schüler_innen mit Migrationshintergrund unabhängig 12

Paul Mecheril verwendet den Begriff „Migrationsandere“ um das Problem der Pauschalisierung und der Festschreibung anzuzeigen, das dem Begriff „Migrationshintergrund“ inhärent ist. Es ist eine Formulierung, die auf den Prozess der Herstellung des „Anderen“ hinweisen soll. (ebd. 2010, S. 17)

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von ihren je individuellen Eigenschaften und Leistungen als Problem zu definieren, wird damit an grundlegenden Entscheidungsstellen bedeutsam. Beim Übergang in die Sekundarstufe und mit der Schullaufbahnempfehlung in der vierten Klasse beispielsweise kann die Schule mit Bezug auf „mangelnde Schulbildung der Eltern, fehlende oder falsche Bildungsaspirationen und Unkenntnis des deutschen Schulsystems seitens der Eltern“ (Gomolla/Radtke 2007, S. 283) die Gymnasialeignung auch von leistungsstarken Schüler_innen infrage stellen. Es eröffnet sich die „Deutungsoption ethnische Fremdheit“ (Mecheril 2010, S. 133): „‘Ethnizität‘ stellt eine zusätzliche Ressource zur Deutung von Problemen dar. Sie ist als Unterscheidungskategorie mit der sogenannten ‚Ausländerpädagogik‘ seit den 70er-Jahren Bestandteil der Schulkultur geworden […]. Mit ihrer Hilfe wird es möglich, ganze Gruppen der Migrantenkinder, unabhängig von den je individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten der Kinder, als Problem zu definieren.“ (Lentz/Radtke 1994, S. 185; zit. n. Mecheril 2010, S. 133) Der Rückgriff auf die Kategorie der „Ethnizität“ bzw. „Kultur“ um Handlungen zu begründen und zu legitimieren ist jedoch nur möglich, weil diese Unterscheidungskategorie als gesellschaftlich allseitig verständliches und akzeptiertes Auswahlkriterium sowie Begründungs- und Legitimationsmuster kommunizierbar ist. (Mecheril 2010, S. 135) Mit ihrer Verwendung im schulischen Kontext werden diese Unterscheidungskategorien zugleich in ihrer sozialen Bedeutung reproduziert und dem öffentlichen Diskurs bekräftigend zurückgegeben. Die Schule als Organisation ist in diesem doppelten Sinne an der Herstellung ethnischer und kultureller Differenz beteiligt: indem sie Unterschiede macht und diese mit der geläufigen Semantik über Migranten begründet. (Gomolla/Radke 2009, S. 275f.) 7.3 Die Schule als Ort der Bedrohung durch Stereotype Ein interessanter, wenn auch in Deutschland bisher nur marginal beachteter Erklärungsansatz für Bildungsungleichheit ist der Ansatz des „Stereotype-Threat“. Dieser Erklärungsansatz wurde erstmals von Steele und Aronson (1995) formuliert. Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass in der Gesellschaft vorherrschende Stereotype über bestimmte Bevölkerungsgruppen in bestimmten Situationen (z.B. in einer Prüfungssituation) das Leistungsvermögen der mit diesen Stereotypen belegten Person beeinflusst. Die Bedrohung durch Stereotype, bezeichnet also „[...] die Angst davor, dass die eigenen Leistungen auf Basis von negativen Stereotypen über die eigene Gruppe beurteilt und deshalb für unzulänglich befunden werden könnten." (Sehofield 2006; zit. nach Melter/Karayaz 2013, S. 252f.). Das bedeutet, Schüler_innen wissen um die Zuschreibungen durch Gesellschaft und Lehrer_in und reagieren darauf:

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„Die Bedrohung durch negative Stereotype beeinträchtigt die Leistung in Situationen, in denen sie wahrgenommen wird, durch gesteigerte Ängste und den Abzug kognitiver Ressourcen für Gedanken oder die Unterdrückung von Gedanken, die sich um das Negativ-stereotypisiert-Werden drehen. Sie produziert ferner eine Reihe von selbst-behindernden Verhaltensmustern, die erfolgreiches Lernen langfristig untergraben.“ (Gomolla 2010; zit. n. Melter/Karayaz 2013, S. 252) Zu diesen selbst-behindernden Verhaltensmustern zählt Gomolla (2010) unter anderem die mangelnde Bereitschaft, schwierigere Aufgaben anzugehen, eine verminderte Leistungserwartungen, das Schaffen von Entschuldigungen für antizipiertes Versagen, die nichts mit dem Stereotyp zu tun haben, oder die Zuschreibung von Problemursachen auf Dinge, über die man keine Kontrolle hat, statt persönliche Verantwortung zu übernehmen. Solche Verhaltensweisen führen nicht zuletzt dazu, dass wichtige Informationen, um Leistung zu verbessern, verloren gehen. Eine weitere Reaktion besteht darüber hinaus darin, sich von dem bedrohlichen akademischen Bereich psychologisch zu distanzieren. (ebd.) Es handelt sich bei diesem Mechanismus also um eine Art selbsterfüllende Prophezeiung (Diefenbach 2010, S. 125). Konkret bedeutet dies, dass beispielsweise eine muslimische Schülerin, das gesellschaftliche Stereotyp mit dem sie belegt ist kennt. Dieses beschreibt muslimische Mädchen als unterdrückt, passiv und hilfsbedürftig, sie würden in ihren Familien zur Haus- und Ehefrau und nicht im Hinblick auf Bildungserfolg und Karriere erzogen (vgl. auch Punkt zwei). Da sie, in der Logik des Ansatzes von Steele und Aronson, in einer Prüfungssituation Angst davor hat, auf der Basis dieses Stereotyps beurteilt und behandelt zu werden, könne dies dazu führen, dass sie in einer Art und Weise reagiert, die das Stereotyp wiederum bestätigt.

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Die Schule als Erfahrungsraum von antimuslimischem Rassismus

Kulturelle und ethnische Differenz bzw. migrationsbedingte Heterogenität wird also in der Schule (trotz anderslautender Forderungen) immer noch als Problemfall wahrgenommen und auch so behandelt (Huxel 2014, S. 103). Die schulische Realität steht damit im Widerspruch zu den bildungspolitischen und pädagogischen Forderungen nach Gleichbehandlung und Chancengleichheit: „Die Selektion von Kindern mit Migrationshintergrund und ihr Ausschluss von höherqualifizierenden Bildungsgängen ist Teil der Allokationsfunktion von Schule, die als Platzanweiserin in einem hierarchisch strukturierten sozialen Raum fungiert.“ (ebd.)

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In diesem Sinne kann man sagen, dass die Institution Schule rassistisch strukturiert ist. Sie rekurriert u.a. bei, den weiteren Bildungsverlauf prägenden Entscheidungen, auf kulturell-codierte Annahmen und Vorstellungen, die wiederum auf gesellschaftlich konstruiertem rassistischem Wissen beruhen. In einer solchen Logik erscheinen muslimische Schüler_innen als Repräsentant_innen und Vertreter_innen einer islamischen Kultur. Ihr Handeln scheint einem inneren Programm zu folgen, das sie selbst weder hinterfragen, noch verlassen können. Indem die Schule auf eine weiße, christliche, mono-linguale und mittelschichtsorientierte Schülerschaft ausgerichtet ist und damit gleichzeitig diese als Norm zugrunde legt, diskriminiert und benachteiligt sie alle Schüler_innen, die diesem Ideal nicht entsprechen. Damit läuft die schulische Praxis des deutschen Bildungssystems sowohl der gesellschaftlichen Realität einer heterogenen Migrationsgesellschaft, als auch dem meritokratischen Prinzip der Chancengleichheit zuwider. Indem bildungsrelevante Konfliktlagen und Probleme ethnisiert und kulturalisiert werden, wird jedoch der Blick von der Institution Schule als (Re)Produzentin sozialer Ungleichheit hin zu einer individualisierenden Deutung/Perspektive verschoben, die die Ursachen in den Defiziten der einzelnen muslimischen Schüler_innen sieht. Die Ursachen ihres Versagens im deutschen Schul- bzw. Bildungssystems werden in der „muslimischen Kultur“ gesehen – ein (politischer) Handlungsbedarf auf institutioneller Ebene scheint damit nicht gegeben. Antimuslimischer Rassismus wie er in der Gesellschaft stets präsent ist (re)produziert ein rassistisches Wissen, das wiederum im schulischen Alltag wirksam wird und zu ungleichen Chancen in den Bildungsverläufen von Kindern und Jugendlichen führt. In der Institution Schule ist antimuslimischer Rassismus eingebettet in die verschiedenen Ebenen des schulischen Alltags (Interaktionen, Entscheidungsprozesse, Strukturen, Symbole, etc.) und ist daher oftmals schwer greifbar. Dennoch ist er für die Schüler_innen in Deutschland alltägliche Realität und beeinflusst ihre Bildungschancen und –verläufe: „Differenzordnungen, Zugehörigkeitsordnungen und Dominanzordnungen sind in Bildungsinstitutionen wirksam. Sie sind relevant für den Zugang zu, oder den Ausschluss aus Bildungseinrichtungen. Sie strukturieren das Spektrum der Erfahrungen, die in Bildungsinstitutionen gemacht werden. Das wirkt sich nicht zuletzt auf die Bildungsmotivation, die Bildungsbiographien und auf die Bildungswege von - durch rassistische Verhältnisse - unterschiedlich positionierten Lernsubjekten aus.“ (Eggers 2013, S. 10) Vor diesem Hintergrund möchte ich – im Anschluss an Paul Mecheril – explizit von Rassismus und nicht (nur) von Diskriminierung sprechen. Es geht um gesellschaftlich produziertes rassistisches Wissen, das zu einer Ethnisierung, Kul-

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turalisierung, „Veranderung“ und damit zur Ausgrenzung und Benachteiligung einer bestimmten Gruppe von Schüler_innen führt, die nicht den, dem deutschen Schulsystem zugrundeliegenden, Normalitätsvorstellungen entspricht: „Um dies zu verstehen muss man – anders als dies Gomolla und Radtke […] sehen – die Perspektive eines Rassismusbegriffs in Anspruch nehmen, der Rassismus als ein grundlegendes gesellschaftliches Ordnungsprinzip versteht. […] Ohne den Bezug auf dieses Ordnungsprinzip kann letztlich nicht erklärt werden, warum es schulischen Akteuren möglich ist, so ‚erfolgreich‘ auf ethnische, kulturelle und nationale Kategorien zurückzugreifen, um die Schlechterstellung Migrationsanderer erstens zu verwirklichen und zweitens zu legitimieren. Die Durchführung und Legitimation der Schlechterstellung Anderer werden getragen von ideologischen Diskursen und müssen zur Sicherung der eigenen Praxis auf diese zurückgreifen.“ (Mecheril et al. 2010, S. 136) Durch Dichotonmisierung und Einteilung in „normale“ und „nicht-normale“ Schüler_innen wird in der Schule die Schlechterstellung Anderer legitimiert. Im Kontext muslimischer Schüler_innen wird dieses Anderssein mit Rückständigkeit, Gewaltbereitschaft, Frauenverachtung und -unterdrückung, sowie mit geringer Bildungsaffinität assoziiert. Diese Bilder und Vorstellungen sind in rassistischen, gesellschaftlichen Diskursen, wie unter Punkt zwei skizziert, begründet und werden gleichzeitig durch sie legitimiert. Antimuslimischer Rassismus in der Institution Schule kann damit nicht losgelöst von der rassistisch strukturierten Gesellschaft gesehen werden und muss immer auch als in Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingebettet betrachtet werden. Nur so können bestehende Ungleichheitsstrukturen erkannt und angemessen analysiert werden. Eine individualisierende Perspektive, die die Ursachen von Benachteiligung in den Eigenschaften einzelner Personen (seien es die Schüler_innen oder Lehrer_innen) begründet sieht, kann dem Problem nicht gerecht werden. Rassismus muss immer als gesellschaftliches Verhältnis gesehen werden, das auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen wirksam wird – und daher auch stets eigebettet in diese Zusammenhängen analysiert und bekämpft werden muss. Für eine Entwicklung hin zu einer kohäsiven und gerechten Gesellschaft, die ihrem Anspruch auf Chancengleichheit im Bildungssystem gerecht wird hilft es uns also nicht, die Schuld für das Versagen benachteiligter Schüler_innen im deutschen Bildungssystem in der sogenannten „Kultur“ der „Anderen“, der Muslime, zu suchen. Vielmehr führt eine solche Vorgehensweise lediglich zu einer Bestätigung und Verfestigung rassistischer Diskurse und rassistischen Wissens.

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Modelle von Taubsein und Gehörlosigkeit an der Grenze zwischen Selbstbehauptung und Fremdzuschreibung1 Carmen Böhm und Uta Benner

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Abstract

Ausgehend von zentralen Schnittstellen zwischen Disability Studies und Deaf Studies, die unter anderem in der Beforschung der komplexen sozio-historischen Erzeugung und Aufrechterhaltung von Behinderung und der damit einhergehenden Diskriminierung durch eine ableistische Dominanzgesellschaft verortet sind, werden unter Rückgriff auf Überlegungen beider Disziplinen Modelle von Behinderung (und im Speziellen von Taubsein und Taubheit) dargestellt. Dabei rückt das im Diskurs der Deaf Studies stark rezipierte Kulturelle (Minderheiten-) Modell von Taubheit in den Fokus, welches in Bezug auf die mit ihm verbundenen Impulse in Richtung der Taubengemeinschaft2 und sie betreffende Fragen untersucht wird. Ebenso werden die damit gesetzten Erwartungen an eine taublose3 Dominanzgesellschaft herausgestellt und mit den wahrscheinlich evozierten Reaktionen dieser auf die postulierte Trennung von Früh- und Spätertaubten im Bereich der gesellschaftlichen Be-/Handlung abgeglichen. Abschließend wird in Form eines Ausblicks ein universalistisches Modell von Behinderung vorgebracht, das fruchtbare Ansatzpunkte für einen solidarischen Diskurs in dominanzkritischer Wissenschaft und der Taubengemeinschaft bietet.

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Für die kritische Durchsicht einer früheren Version des Artikels und ihre fruchtbaren Anregungen danken wir Prof. Sabine Fries und Prof. Dr. Clemens Dannenbeck. 2 In Anlehnung an die Ausführungen Vogels werden im Folgenden die Begriffe Taubengemeinschaft, Taubsein und taub als deutsche Entsprechung zu Deaf und Deafhood verwendet (2010). 3 Den Begriff „taublos“ übernehmen wir von Klaudia Grote, die diesen als Entsprechung zum defizitär geprägten Begriff „gehörlos“ für hörende Personen verwendet, die kein Wissen oder Zugang zur Deaf Community/Taubengemeinschaft haben (vgl. Grote/Sieprath 2016).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 B. Thiessen et al. (Hrsg.), Sozialer Wandel und Kohäsion, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25765-1_14

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Carmen Böhm, Uta Benner Einleitende Worte

Solange die Diskriminierung, Benachteiligung und Bevormundung von Menschen mit Behinderung im allgemeinen und im vorliegenden Themenkomplex von tauben Menschen im speziellen auf der Tagesordnung stehen, erachten wir es als wichtig, uns selbst kurz in diesem ‚Funktionalitätsdiskurs‘ zu verorten. Denn nach wie vor finden sich wenige Taube Menschen im akademischen Betrieb, weswegen Disziplinen wie Disability Studies und ebenso Deaf Studies darauf zielen, diese ableistische4 Definitionsmacht zu verkehren. Demnach ist es nicht immer gern gesehen, wenn sich im Moment nicht als Menschen mit Behinderung verortete Akteur_innen5 in ihnen zu Wort melden, noch schwieriger wird es, wenn diese Kritik am Selbstverständnis oder an Grundpfeilern dieser Bewegungen äußern. Diese Herausforderungen im Bewusstsein, haben wir uns als hörend sozialisierte Personen dennoch dazu entschieden, den folgenden Artikel zu schreiben, da wir ihn als kritische Intervention in die taublose Mehrheitsgesellschaft ebenso verstanden wissen wollen, wie als solidarischen Impuls Richtung Taubengemeinschaft oder Deafhood (vgl. Ladd 2008). Als CODA, die einen Großteil ihres Leben mit und in der Taubengemeinschaft und in (akademischer) Auseinandersetzung mit dieser verbracht hat und als hörende Person, die sehr an den Themen Macht, Dominanz und Fremdheitsdiskursen interessiert ist, sehen wir unsere besondere Position darin, in beide Richtungen zu kommunizieren und dort Blickkontakt und Gehör zu finden. Es bleibt zu hoffen, dass damit auf beiden Seiten konstruktive Diskussionen angestoßen werden.

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Disability Studies und Deaf Studies

Während im deutschsprachigen Raum Disability Studies als „transdisziplinärer, behinderungsübergreifender Wissenschaftsansatz […] auf die Bedeutung von Behinderung als ein kulturelles oder soziales Phänomen“ (Raab 2012, S. 69) fokussiert sind, bleiben Deaf Studies hierzulande vorerst im akademischen Hintergrund 4

Zum Begriff des ‚Ableism‘ und seiner Verwendung im wissenschaftlichen Diskurs vgl. Köbsell 2015 Auch im deutschsprachigen Diskurs sind Begriffe wie „Temporarily able bodied“ (Frauke/Hirschberg 2009; Köbsell 2015) zu finden, um der ableistischen Normativität (vgl. Köbsell 2015, S. 29f.) und der mit ihr verbundenen Inszenierung des ewig fitten und leistungsstarken Körpers das lebensnahere Bild des verletzlichen, verwundbaren und im Laufe des Lebens immer wieder eingeschränkten Menschen entgegen zu halten. Wir wählen die Selbstbezeichnung „im Moment nicht als Mensch mit Behinderung verortet“, um eine deutsche Entsprechung zu diesen Vorschlägen zu schaffen und so auch dem Moment der Fremdzuschreibung im ‚Erkennen von Behinderung‘ Rechnung zu tragen. Denn auch scheinbar ‚unsichtbare‘ Behinderungen wie Lernschwierigkeiten unterliegen gewissen Sichtbarkeitspraktiken, sei es durch Besonderung in Einrichtungen, Diagnosen oder ableistische Vorurteile. 5

Modelle von Taubsein und Gehörlosigkeit

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dieser Entwicklungen der frühen 2000er Jahre. Dies erscheint vor allem deshalb überraschend, da sich beide Disziplinen bereits in den 1960er und späten 1970er Jahren in den USA und Großbritannien begründen und eng an das Anliegen gesellschaftlicher Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft gebunden sind (Fernandes/Shultz Myers 2011, S. 74; Köbsell 2012, S. 40f.). Im Jahr 2011 melden sich Taube6 Akademiker_innen aus dem Bereich Deaf Studies zu Wort, die mit den von ihnen erarbeiteten Leitlinien zur Erhaltung und Stärkung des kulturelles Erbes der Taubengemeinschaft die komplexe Wirkungs- und Herangehensweise dieser Disziplin zeigen: Deaf Studies stehen in der heutigen Zeit vor der Herausforderung, die Taubengemeinschaft in ihrer Vielfalt zu beforschen, wirksame Empowermentstrategien in ihrem Dienste zu entwickeln, aber zugleich gesamtgesellschaftlich relevant und damit finanziell gesichert zu sein. So bewegen sich die erarbeiteten Leitlinien sowohl auf einer linguistischen Ebene, die weiterhin an der Anerkennung der Gebärdensprache ausgerichtet ist, dem politischen Fokus der gleichberechtigten Teilhabe (nicht Assimilation!) tauber Menschen sowie einem sozial-anthropologischen Fokus, der die Mechanismen defizitärer Darstellungen von tauben Menschen in den Blick nimmt und diesem eine diversitäre, ressourcenorientierte Perspektive auf Taubsein entgegen setzt (vgl. Fries/Geißler 2011, S. 282ff.). So findet sich, wie bereits in Disability Studies, eine Strategie, die zugleich als Ziel gesehen werden kann: Empowerment und damit die Überwindung eines auf Schädigung und persönlichem Schicksal reduzierten Blickwinkels auf Taubsein (vgl. Köbsell 2012, S. 41f.; Waldschmidt 2005, 9ff.; Fries/Geißler 2010, S. 282). Soll Taubsein als Erfahrung einer kulturellen Gemeinschaft, als individueller Prozess und zugleich unterscheidbare Identitätslinie in all ihren Spielarten erforscht und diskutiert werden (vgl. Fries/Geißler 2011, S. 283), so kommen auch Deaf Studies nicht umhin, sich mit unterschiedlichen Modellen von Taubsein und deren Entwicklung in und durch die (akademisch geprägte) Deaf-Community zu beschäftigen. Bevor vertieft in den Diskurs zu Modellen von Gehörlosigkeit/Taubsein eingestiegen wird und die damit verbundenen Herausforderungen vor dem Hintergrund des formulierten Ziels der Stärkung von Empowerment herausgearbeitet werden, sollen im Folgenden zwei grundlegende Modelle von Behinderung vorgestellt werden, wie sie in deutschsprachigen Disability Studies seit einigen Jahren diskutiert werden.

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Taub wird in Anlehnung an die Schreibweise Deaf groß geschrieben, um einen bewussten Bezug zur Deaf Community herzustellen und der Intention des Weltverbandes der Gehörlosen zu folgen und den Begriff aufzuwerten (vgl. Hase 1991, S. 374).

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Carmen Böhm, Uta Benner Modelle von Behinderung

In den 1970er und 1980er Jahren lässt sich – einhergehend mit dem Ausbau der Rehabilitationssysteme in den westlichen Industriestaaten – eine Perspektive auf Menschen mit Behinderung ausmachen, die bis heute eine hohe Wirkmächtigkeit entfaltet und die die in Abgrenzung zu ihr entwickelten Modelle prägt: das medizinische oder individuelle Modell von Behinderung. Gemäß des Gedankens der Wiedereingliederung oder Anpassung des Individuums an seine körpernormentsprechende Umwelt steht ein diagnostizierbares und biologisch zu verortendes Defizit als Ursache von Behinderung im Fokus dieser Betrachtungen. Die als normgerecht inszenierte Umwelt tritt dabei als mitleidspendende Instanz auf, während der_die Einzelne bei seiner_ihrer Wiedereingliederung in die Gesellschaft von einer Schar an Expert_innen begleitet wird, die dabei helfen soll, diesen unerwünschten oder besser anormalen Zustand zu bewältigen (vgl. Waldschmidt 2005, S. 16f.). Für den Bereich Gehörlosigkeit spricht Lane in Anlehnung an Gusfield in diesem Zusammenhang von der ‚troubled-persons industries‘, die von hörenden Expert_innen dominiert an ein Defizitmodell von Gehörlosigkeit als Abbild der Wirklichkeit glaubend Dienstleistungen für kooperative Klient_innen anbietet (vgl. 1993, S. 319). Die Betonung eines fehlenden Hörvermögens, Stille und individuelles Leiden können dabei als dominante Zuschreibungen eines solchen Diskurses genannt werden, den vor allem die Audiologie als Expert_innenschaft bestimmt. Nicht zuletzt die Bewerbung sowie der experimentelle Einsatz des Cochlea Implantats (CI) unter dem Banner der ‚Heilung‘ gehörloser Kinder kann dabei als Beispiel dieses individual-medizinisches Diskurses genannt werden, der die Widerstandsargumente auf Gehörlosenseite gegen das CI wenig wertschätzend und noch weniger als Expert_innenperspektive gelten ließ/lässt (vgl. Ladd 2008, S. 151ff.)7. Dabei ist zu beobachten, dass ein solcher Leidensdiskurs in den letzten Jahren zunehmend mit neoliberalen Leistungsanforderungen vermengt wird, die vor allem an Menschen, deren Exklusionserfahrungen aus Makroperspektive in Ungleichheitsverhältnissen in sozio-ökonomischen, ableistischen wie auch rassistischen Bereichen zu verorten wären (vgl. Köbsell 2015, S. 29f.; Heitmeyer 2012; Baron und Steinwachs 2012), gestellt werden. So suggeriert die omnipräsente Idee der Chancengleichheit, dass jede_r seines Glückes Schmied_in ist, da Leistung – sofern sie erbracht wird stets belohnt wird (vgl. Schreiner 2015, S. 29f.)8. Für die 7

Als Reaktion auf einen derartigen mitleiddominierten und Behinderung als tragisches Schicksal denkenden (Mainstream-)Mediendiskurs hat sich beispielsweise das Projekt ‚Leidmedien‘ der Aufgabe angenommen, Journalist_innen alternative und vor allem klischeefreie Bilder von Menschen mit Behinderung zur Verfügung zu stellen (vgl. Sozialhelden 2016). 8 In ökonomisch geprägten Diskursen um Inklusion lässt sich zudem ein sehr selektives Verständnis von Behinderung erkennen. Dieses geht im Wesentlichen von der eingeschränkten Verwertbarkeit der

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Berichterstattung über Menschen mit Körperbehinderung bedeutet dies beispielsweise die Inszenierung einer Person, die trotz ihrer ‚Schädigung‘ Hochleistungssport betreibt, sich also durch eigene Leistung hervor getan und den eigenen Körper überwunden hat (vgl. hierzu beispielhaft die Berichterstattung über Nick Vujicic). Die Idee einer außergewöhnlichen Begabung oder Leistung findet sich im Bereich Gehörlosigkeit beispielsweise in der Vorstellung, alle tauben Menschen könnten von den Lippen ablesen – ungeachtet jeglicher Licht- und Gesprächsverhältnisse9. Was auf den ersten Blick noch positiv als Fähigkeit oder Kompetenz durch Behinderung gelesen werden kann, erscheint auf den zweiten Blick viel mehr als oralistische Phantasie (vgl. Ladd 2003, S. 14) einer taublosen Gesellschaft, die den Körper in neoliberalem Duktus zum Aushängeschild der eigenen Leistung und Selbstdisziplinierung deklariert (vgl. Schreiner 2015, S. 64f.)10. Im Umkehrschluss kann die gesellschaftliche Exklusion gehörloser Menschen ursächlich auf diese selbst und ihren mangelnden Willen, Lippen zu lesen und dies zu üben, zurückgeführt und als generelle Erwartungshaltung an diese erhoben werden. Während heute neoliberale Anforderungen an das Individuum, seine Be-Hinderung aus eigener Kraft zu überwinden zunehmend die ursächlichen Strukturen von Ausschluss und Marginalisierung aus der Sichtbarkeit verdrängen, entwickelte sich aus der politischen Behindertenbewegung der 1970er und 1980er Jahre ein Soziales Modell von Behinderung, das auf gesellschaftliche Verursachung fokussiert ist (vgl. Waldschmidt 2005, S. 17). Da sich Disability Studies als politische Wissenschaft verstehen, fand dieses aus der politischen Praxis stammende Verständnis schnell seinen akademischen Niederschlag in einer wesentlichen Begriffsdifferenzierung. Während disability die Behinderung und Beschränkung von Möglichkeiten der Teilhabe aufgrund umweltbedingter Barrieren bezeichnet, wird unter impairment die funktionale Einschränkung aufgrund psychischer, körperlicher oder geistiger Schädigung gefasst (vgl. Köbsell 2012, S. 41f.). Ist es aus Perspektive des individuellen Modells noch am Einzelnen gelegen, sich einer normentsprechenden und funktionalen Umwelt anzupassen, so liegt es aus dieser Sicht an der Umwelt, Veränderungen vorzunehmen, um allen Menschen Teilhabe zu garantieren (vgl. Waldschmidt 2005, S. 18f.). Behinderung wird als soziales Konstrukt erfahrbar und kann unter den jeweiligen sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen kontextualisiert erforscht werden, während Menschen mit Be-

‚Humanressource‘ Mensch mit Behinderung aus, die durch gezielte Förderung gewinnbringend eingegliedert werden kann (vgl. Becker 2015, S. 184f.). 9 Erinnert sei an dieser Stelle an den Tatort „Totenstille“, Erstausstrahlung 24.01 2016. 10 Auch wenn Diskriminierung in Form idealisierender Erhöhung weniger offensichtlich als Marginalisierungsstrategie erscheint (vgl. Fernandes & Shultz 2011, S. 80), stellt sie eine Form der fixierten Zuschreibung und Besonderung der damit Bezeichneten dar.

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Carmen Böhm, Uta Benner

hinderung nicht mehr zu Opfern und Objekten von Mitleid und Fürsorge degradiert werden, sondern sowohl als forschende als auch als beforschte Expert_innen ihrer spezifischen Kompetenzen und Erfahrungen wahr- und ernstgenommen werden (vgl. Köbsell 2012, S. 42). Die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in bisher 156 Mitgliedstaaten (vgl. UN Enable 2015) wird dabei nicht nur als Kodifizierung dieses Sozialen Modells von Behinderung diskutiert, sondern auch als Implementierung eines Wegweisers in Richtung eines unhintergehbaren Anspruchs aller Menschen mit Behinderung auf ihre Menschenrechte (vgl. Degener 2015, S. 155ff.). Zweifellos hat das Soziale Modell und die ihm zugrunde gelegte Trennung von disability und impairment dazu beigetragen, eine defizitorientierte Betrachtung von Menschen mit Behinderung zurückzudrängen und Forderungen nach Veränderungen der Umwelt und ihrer Strukturen und Muster zu stärken. Während aber die Vorstellung verschiedener Modelle eine eindeutige Abgrenzbarkeit der vertretenen Inhalte und Positionen suggeriert, geht es doch vielmehr um verschiedene Intentionen oder Blickwinkel und damit verbundene Implikationen, wie auch die Fülle an ‚Modellen von Behinderung‘ zeigt (vgl. Degener 2015, S. 165f.). Zwei dieser Perspektiven werden im Folgenden näher vorgestellt. Zum einen das Kulturelle Modell von Behinderung, das im Kontext der Deaf Studies nicht unproblematisch für Taube Personen beansprucht wird sowie das Menschenrechtliche Modell von Behinderung, wie von Theresia Degener (vgl. 2015) vertreten. Letzteres bietet einige fruchtbare Ansatzpunkte, die auf solidarische Art und Weise aus der identitätspolitischen Einbahnstraße des kulturellen Modells von Gehörlosigkeit führen könnten.

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Kulturelles Modell von Behinderung und Deafhood

Gleichwohl das Soziale Modell auf bewegungspolitischer wie akademischer Ebene in der Gegenüberstellung mit dem Individuellen/Medizinischen Modell von Behinderung als notwendige Innovation der 1980er Jahre erscheint, so darf diese Kontrastierung nicht über das Verhältnis der beiden Modelle zueinander hinwegtäuschen. Denn die Trennung von Impairment und Disability mag zwar dazu geführt haben, dass neben einer im Körper verorteten funktionalen Einschränkung (impairment) auch umweltbedingte Barrieren, die an gesellschaftlicher Teilhabe behindern (disability), in den Blick rücken (vgl. Köbsell 2012, S. 41f.). Der Körper als Ort gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse wird dabei aber weiterhin unreflektiert der Medizin überantwortet (vgl. Waldschmidt 2007, S. 59). Laut Waldschmidt basiert das Soziale Modell „ganz offensichtlich auf einer kruden Dichotomie zwischen ‚Natur‘ und ‚Kultur‘, von ‚impairment‘ und ‚disability‘ (2005, S.

Modelle von Taubsein und Gehörlosigkeit

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20). So geraten Barrieren, wie beispielsweise in der Kommunikation zwischen tauben und taublosen Menschen aus dem kritischen (sozialen) Blick, während der Körper als Aushandlungsort der Medizin funktionalistisch diskutiert wird. Letztlich kann der ‚geschädigte‘ Körper in diesem Modell in seiner problematisierten Konnotation mittels Eingriff – wie das Beispiel CI zeigt – überwunden werden, während DGS-Defizite 11 hörender Personen dank ihres ‚intakten‘ Körpers aus dem Fokus verschwinden. Durch die strikte Trennung zwischen körperlicher ‚Schädigung‘ und gesellschaftlicher Be-Hinderung gerät auch die Frage nach den sozialen, historischen und politischen Bedingungen, die Wissen und damit verbundene Definitions- und Handlungsmacht über Körperlichkeit herstellen und vermitteln, aus dem Blick. Waldschmidt macht dabei zu Recht auf das Potenzial foucaltscher Überlegungen zum disziplinierten Körper aufmerksam, der als Zielscheibe und Produkt normierender Techniken untersucht werden kann (vgl. 2007, S. 60f.). Eine oberflächliche Gegenüberstellung der beiden ‚Modelle‘ lässt so auf den ersten Blick nicht vermuten, was sich aus ihrer Entwicklungsgeschichte fast von selbst erklärt: auf der Ebene des impairment ist im sozialen wie individuellen Modell die Expert_innenschaft im medizinischen Lager verortet und entzieht den Körper damit einer differenzierten Betrachtung fernab biologistischer Argumentation. Des Weiteren ist in beiden Modellen eine Problemorientierung zentraler Ausgangspunkt der Überlegungen, die erkannte Störungen in Körperfunktionen oder beschränkte Teilhabechancen beheben wollen (vgl. Waldschmidt 2005, S. 23). Eine Perspektive, die Teilhabe weiter denkt, als durch spezifische Maßnahmenbündel herzustellende Partizipation am Leben in der Gesellschaft, ist das Kulturelle Model von Behinderung. Dieser Ansatz fokussiert sowohl auf die Bedeutung kultureller Repräsentation von Menschen mit Behinderung in und durch die eigene Community als auch auf der damit verbundenen An-Erkennung durch eine normierende Mehrheitsgesellschaft (vgl. Köbsell 2012, S. 45). Auf analytischer Ebene wird der Körper dieser Vorstellung nach zum Gegenstand der Untersuchung, da Behinderung diesem Verständnis nach vor allem über normative Zuschreibungen an eben diesen funktioniert. Damit verbinden sich auch identitätspolitische Fragen, wie beispielweise danach, wie behinderte Körper als ‚andere‘ Körper konstruiert werden und welche Funktion dieses Othering für eine ableistische Dominanzgesellschaft übernimmt (vgl. Raab 2012, S. 73). Damit wird nach der Relation von scheinbar gegebener ‚Normalität‘ und ihrem Verhältnis zu dem als ‚anormal‘ deklarierten im Kontext ihrer Relativität und Historizität gefragt (vgl. Waldschmidt 2003). Auf diese Weise können identitätspolitische Fragen an eine normierende Mehrheitsgesellschaft ebenso gestellt werden wie an minori-

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DGS steht für Deutsche Gebärden Sprache.

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Carmen Böhm, Uta Benner

sierte und dadurch oftmals homogenisierte Gruppen von Menschen mit Behinderung (vgl. Waldschmidt 2005, S. 26f.), deren kulturelle Repräsentanz in der Dominanzkultur (vgl. Rommelspacher 1998, S. 23ff.) auf ihre subkulturelle Selbstdarstellung zurückwirkt. Auf spezifische Art und Weise zeigt sich dieses kulturelle Verständnis von Behinderung im Zusammenhang mit Deafhood oder Tauben Personen, wobei es in diesem Kontext vorgezogen wird, die Bezeichnung der kulturellen oder sprachlichen Minderheit zu verwenden (vgl. Ladd 2008; xiii; Lane 1993, S. 321). Durch die Großschreibung der Bezeichnung Deaf werden Personen adressiert, die bei Ladd beschrieben sind als „gehörlos geborene oder in der Kindheit ertaubte Menschen, die sich den Gebärdensprachen, den Gemeinschaften und Kulturen des Kollektivs der Gehörlosen verbunden fühlen und hier ihre hauptsächlichen Erfahrungen machen“ (Ladd 2008, S. 13). Die Begriffe ‚Gemeinschaft‘, ‚Kollektiv‘ und ‚Kultur‘ machen besonders deutlich, welch hohen Stellenwert identitätspolitische Überlegungen in diesem Kontext haben und Kapitel wie ‚Behinderte Gehörlose‘ in Ladds internationalem Standardwerk „Was ist Deafhood?“ (vgl. 2008, S. 61) lassen keinen Zweifel daran, dass diese Fragen nicht mit einer Selbstpositionierung als ‚Behinderte Menschen‘ beantwortet werden. Vielmehr wird die Erfahrung und historisch gewachsene Situation der Taubengemeinschaft als kolonialistische verstanden, die innerhalb der Community wie auch nach außen weitreichende Konsequenzen nach sich zieht (vgl. Ladd 2008, S. 70)12. Dieses Minderheitenmodell hebt dabei vor allem auf die „einzigartige Sprache, Geschichte, Kultur, soziale[…] Gruppe und eine[…] Reihe gesellschaftlicher Institutionen“ (Lane 1993, S. 318) ab. An dieser Stelle könnte nun mit Stuart Hall differenziert diskutiert werden, welche Vorteile Selbstkulturalisierungsprozesse als Minderheit für die Durchsetzung der eigenen Position im Kampf um gesellschaftliche Deutungshoheit und Repräsentanz spielen und welche ungewollten Implikationen mit einer solchen Identitätspolitik einhergehen (können) (vgl. 1994, S. 15ff.). Dieser Punkt gerät allerdings angesichts einer spezifischen Zuschreibungspraxis, die von der Taubengemeinschaft selbst ausgeht, zunächst in den Hintergrund. Wie bereits in der Definition von „Deaf“ bei Ladd angeschnitten, gibt es exkludierende Vorstellungen darüber, wer zur Gemeinschaft zählt und wer nicht. Dies ist angesichts der starken Betonung identitätspolitischer Themen nicht verwunderlich, wenn auch die Konsequenzen einer solchen Politik zu denken geben. Denn was bei Ladd nur angeschnitten ist, expliziert Lane für die Taubengemeinschaft in einem viel beachteten Artikel: während er dafür plädiert von Geburt an oder in der Kindheit ertaubte Personen als Angehörige der kulturellen oder sprachlichen Minderheit zu verstehen, spricht er sich in Bezug auf spätertaubte Personen für ein Defizitmodell von Gehörlosigkeit aus, dessen hörende Expert_innenschaft, 12

Zur kritischen Diskussion der Kolonialismus-Analogie bei Ladd vgl. Fernandes & Shultz Myers 2011, S. 91f.

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defizitären Zuschreibungen und bevormundende Praktiken er zuvor noch als Modell von Behinderung entlarvt, das den Dienstleistungen und Produkten einer ganzen Industrie entspricht (vgl. 1993, S. 320). Einerseits wird Behinderung also als sozial und sehr komplex konstruiert verstanden und in seiner Wirkmächtigkeit für das Leben vieler davon getroffener Menschen erfasst und kritisiert. In letzter Konsequenz wird das Label Behinderung aber nicht in seiner gesamtgesellschaftlichen Relevanz analysiert. So stellt Waldschmidt in diesem Kontext die wichtige Frage, die in Lanes Überlegungen nicht zu finden ist: „Was haben eigentlich psychisch Kranke, Rollstuhlfahrer, Nierenkranke, Gehörlose, Brustamputierte, Kleinwüchsige und aufmerksamkeitsgestörte Kinder tatsächlich gemeinsam?“ (2007, S. 68). Auf der Suche nach einer Antwort wird deutlich, dass Behinderung als normierender und konstruierter Sammelbegriff für Menschen fungiert, die lediglich die Erfahrung teilen, als anormal verortet und aufgrund dessen sanktioniert oder diszipliniert zu werden (vgl. ebd. 2007, S. 69). Auch wenn Gehörlosigkeit auf den ersten Blick nicht als Körperbehinderung verortet wird und sich daher zunächst die Frage der Übertragbarkeit der Repräsentanz des Körpers Gehörloser anders stellt als beispielsweise bei Rollstuhlfahrer_innen, so wird über den Aspekt der visuellen Kommunikation Behinderung für die Mehrheitsgesellschaft im Moment der Unterhaltung mit den Händen sichtbar. Auch der gehörlose Körper ist diesen Sichtbarkeitspraktiken und seinen sozialen Implikationen unterworfen, egal zu welchem Zeitpunkt die betroffene Person ertaubt ist oder besser obwohl keine zwingende Verbindung zwischen der Verwendung von Gebärdensprache und der Gehörlosigkeit der Verwender_in besteht. Eine solche, wie bei Lane postulierte, Trennung gehörloser Menschen und die damit unterschiedlich zu gebrauchenden Modelle von Gehörlosigkeit hinterfragen eine solche implizite Zuschreibung des als behindert gelabelten Körpers nicht. Eine reflexive Hinterfragung ist perspektivisch aber notwendig, denn was sollte eine taublose Gesellschaft dieser Vorstellung nach erlernen? Zwischen Spätertaubten und von Geburt an tauben Menschen zu unterscheiden, um die einen mit Zustimmung der anderen zu bemitleiden, zu bevormunden und zu übervorteilen? Es steht dabei keineswegs in Frage, dass die Erfahrungen, Bedarfe und Bedürfnisse von Menschen, die von Geburt/Kindheit an taub sind und Menschen, die erst spät im Leben ertauben, unterschiedliche sind. Dabei sollte auch nicht vergessen werden, dass die Erfahrungen und Bedürfnisse tauber Menschen trotz ihrer Gemeinsamkeiten sehr heterogen sind. So spielen beispielsweise Alter und Körperlichkeit, die bevorzugte Sprachform, die Sozialisation in einer hörenden oder tauben Familie sowie viele weitere Faktoren eine Rolle (vgl. Fernandes/Shultz Myers 2010). Die Frage dabei ist, wie eine taublose Mehrheitsgesellschaft ihre diskriminierenden Muster und Strukturen zu reflektieren und abzubauen bereit sein soll, wenn dieser Prozess ausschließlich auf der strikten Trennung dieser heterogenen

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‚Gruppe‘ beruht? Eine taublose Mehrheitsgesellschaft könnte im besten Fall lernen, zu welchen Anlässen mitleidsvolles und barmherziges Verhalten angemessen und wann es politisch inkorrekt ist. In Analogie zu der oftmals an als kulturell/national „fremd“ etikettierte Menschen gestellten Frage „Und woher kommen Sie?“ müsste es dann korrekt heißen „und wann sind Sie ertaubt?“. Zugegeben fehlten für eine solche Entsprechung wesentliche Gebärdensprachkenntnisse auf Seiten der Taublosen, ideologisch erscheint ein solcher Vergleich aber als nicht besonders abwegig (vgl. Köbsell 2015, S. 30f.). Denn die Krux liegt darin begründet, dass Oralismus und Audismus Macht- und Herrschaftssysteme sind, die Ausschluss bewirken und stabil in historisch gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen verankert sind. Damit ist es schwer, diese gesteuert einzusetzen, aber so gut wie unmöglich, sie im Sinne eines Teils der Betroffenen zum Einsatz zu bringen. Auch mit Foucault – für dessen verstärkte Rezeption in Disability Studies Waldschmidt plädiert (vgl. 2007) – lässt sich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass sich die Frage nach der Wahl eines bestimmten Modelles von Behinderung für Menschen mit spezifischen (Hör-) Erfahrungen mit Machtfragen verbindet und damit keine bewusst zu treffende Entscheidung Einzelner darstellt. Vielmehr gründen diese Entscheidungen auf einem zur Verfügung stehenden Wissensvorrat, welcher auf differenzierten Macht-Strukturen basiert und diese zugleich tradiert (vgl. Keller 2011, S. 52). „Diese Macht/Wissen-Beziehungen sind darum nicht von einem Erkenntnissubjekt aus zu analysieren, das gegenüber dem Machtsystem frei oder unfrei ist. Vielmehr ist in Betracht zu ziehen, dass das erkennende Subjekt, das zu erkennende Objekt und die Erkenntnisweisen jeweils Effekte jener fundamentalen Macht/Wissen-Komplexe und ihrer historischen Transformation bilden“ (Foucault 2015, S. 39). Mit Bezug auf die spätere Wendung Foucaults zum Subjekt zeigt auch Rommelspacher, dass Machtstrukturen zwar zum einen strategisch herbeigeführt sind und ein bestimmtes Ziel verfolgen, zum anderen aber auch nicht der Wahl einer einzigen Person unterliegen, sondern vielmehr in komplexe Muster an Absichten eingebunden sind (vgl. ebd 1998, S. 25). Und schließlich wird auch für die von Lane kritisierte „troubled-persons industries“ aus wirtschaftlicher Sicht kaum ein Grund bestehen, ihre Zielgruppe auf diejenigen Menschen zu begrenzen, die erst spät(er) im Leben ertauben. Letztlich geht es doch um die Frage, was eigentlich durch die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen dominanten Perspektiven auf Taubsein oder Behinderung erreicht werden soll. Wenn es um das Ziel des Empowerments geht, wie es bei Fries & Geißler (2011, S. 282) formuliert ist, so muss konstatiert werden, dass bei gleichzeitiger Verwendung des Defizitmodells UND des kulturellen Modells von Gehörlosigkeit weniger eine wechselseitige Stärkung und dadurch zu erreichende Überwindung von gesellschaftlicher Machtlosigkeit (Blank 2010, S. 44f.) denn vielmehr die Assimilation der Spätertaubten bei gleichzeitiger Entsolidarisierung gegenüber der Taubengemeinschaft zu befürchten ist. In eine ähnliche

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Richtung geht auch die Kritik von Fernandes und Shultz Myers, die den US-amerikanischen Deaf Studies eine Marginalisierungstendenz in ihrer Ausrichtung an der ‚wahren‘ Taubengemeinschaft und damit an weißen, erstsprachlichen ASL 13 Verwender_innen, attestieren. Darüber hinaus sehen sie in einer derart starren kulturalistischen Grenzziehung eine Strategie des Audismus, der taube Menschen in unterschiedliche Kategorien einteilt und diese je nach Grad ihrer ‚Normabweichung‘ gegeneinander in Stellung bringt (vgl. 2010, S. 442ff.). Aus einem solidarischen und empowernden Blickwinkel wäre es im vorliegenden Kontext wichtig, die Unterstützung und Versorgung Tauber wie Spätertaubter Menschen gemäß ihren Bedürfnissen und Bedarfen unter Berücksichtigung ihrer Menschenrechte zu realisieren und nicht wie dies bisher geschieht, entsprechend der von oral orientierten Expert_innen definierten Bedarfe. Für spätertaubte Personen wäre es darüber hinaus bedeutsam, diesen für sie durchaus einschneidende Hör-Verlustmoment anzuerkennen, ohne sie in verkürzender und defizitärer Weise auf diesen Verlust in ihrer menschlichen Vielfalt festzuschreiben. Während sich diese Kritik auf einer sehr abstrakten und ideellen Ebene bewegt, soll abschließend ein Modell von Behinderung vorgestellt werden, welches das Potenzial bietet, identitätspolitischen Bedürfnissen gerecht zu werden, ohne ein bewegungspolitisches Moment aus den Augen zu verlieren. Diesem widmet sich der abschließende Abschnitt.

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Ein menschenrechtliches Modell von Behinderung

Als eine Ergänzung zum Sozialen Modell will Theresia Degener das mit der UNBRK implizit einhergehende Menschenrechtliche Modell von Behinderung verstanden wissen (vgl. 2015, S. 165). Auch dieses Modell findet seinen Ursprung in der Kritik an einer medizinisierten Betrachtungsweise von Behinderung, welche Menschen durch den Gedanken notwendiger Schonräume nicht nur wohlbegründet besondert, sondern durch die Annahme, Behinderung mindere die Menschrechtsfähigkeit, auch die Entmündigung von Menschen in vielfältiger Weise legitimiert hat (vgl. ebd. 2015, S. 155f.). Es wäre vermutlich ein wenig fruchtbarer Weg, diese Hinweise als festen Fahrplan aus den Herausforderungen zu verstehen, die eine identitätspolitische Trennung früh und spät ertaubter Menschen mit sich bringen. Vielmehr soll die Vorstellung dieser grundlegenden Überlegungen zeigen, dass dieses Modell eine hohe Anschlussfähigkeit an Diskurse um Taubsein und Taubheit/Gehör-losigkeit hat, insbesondere an die hier angeschnittenen.

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ASL steht für American Sign Language.

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Auf Basis eines Menschenrechtlichen Modells von Behinderung, das im Kern seiner moralischen Prinzipien auf der Menschenwürde eines jeden Menschen gründet, wird es möglich, die Infragestellung dieser Rechte in ableistischen Diskursen und Praktiken in Frage zu stellen. Damit bietet es nicht nur einen moralischen, sondern auch einen analytischen Ansatzpunkt, der über eine ‚bloße‘ Untersuchung exkludierender Praktiken von Menschen mit Behinderung – wie sie das soziale Modell bietet – hinausgeht (vgl. Degener 2015, S. 156f.)14. Darüber hinaus weist die Bezugnahme der UN-BRK sowohl auf zivile und politische wie auch auf soziale, wirtschaftliche und kulturelle Menschenrechte hin, die notwendige Ergänzung bloßer Maßnahmen der Antidiskriminierung durch die Bereitstellung von Strukturen, die Selbstbestimmung und eigenverantwortliches Entscheiden und Handeln von Menschen mit Behinderung möglich machen (vgl. ebd. 2015, S. 158f.). Dabei betont das Menschenrechtliche Modell von Behinderung die Bedeutung des Empowerments und berücksichtigt identitätspolitische Überlegungen als notwendiges Instrument zur Bekämpfung von Unterdrückung. Laut Degener bietet das Soziale Modell sich zwar als Instrument für eine Herrschaftsanalyse der zugrunde liegenden Machtstrukturen von Diskriminierung an. Durch die Beachtung identitätspolitischer Momente, in welchen eine positive Bezugnahme auf die durch die Dominanzgesellschaft zugeschriebenen und geächteten Eigenschaften zu beobachten sei, werde aber auch Handeln gegen die Unterdrückung möglich. Als prominentes Beispiel führt sie dabei die Lobbys im Bereich Gehörlosigkeit, Blindheit und Taubblindheit an, die in der Konvention vor allem in den Bereichen kulturelle Teilhabe wie auch inklusive Bildung in besonderer Weise benannt sind (vgl. 2015, S. 160ff.). Dies mag für den Diskurs um die Trennung zwischen Taubengemeinschaft und Spätertaubten noch wenig innovativ erscheinen. Jedoch berücksichtigt das von Degener präsentierte Modell – im Gegensatz zu einem Sozialen wie auch Kulturellen Modell – den Aspekt der gesundheitlichen Beeinträchtigung und schätzt diesen zugleich als einen Teil menschlicher Diversität. Während ein Kulturelles Modell von Gehörlosigkeit die Ebene des impairment auszublenden scheint und für ‚andere‘ Erfahrungen beansprucht, wie das Beispiel der ‚Gehörlosen mit Behinderung‘ bei Ladd zeigt (vgl. 2008, S. 70), nimmt das Menschenrechtliche Modell Bezug auf die „Tatsache, dass Behinderung mitunter auch mit Schmerzen, abnehmender Selbstständigkeit und Verkürzung der Lebenszeit verbunden sein kann“ (Degener 2015, S. 159). Dabei ist besonders die Offenheit dieser Perspektive auch für schmerzhafte Erfahrungen zu betonen, ohne diese für jede Person als gegeben anzunehmen (vgl. ebd. 2015, S. 160). Das Fehlen dieses

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Köbsell verweist darauf, dass auch das Ziel der ‚Bewusstseinsbildung‘, wie in Artikel 8 der UNBRK implementiert, nicht über die Vorstellung des behinderten Körpers als ‚Anderes‘ hinausgeht. Vielmehr plädiert sie für eine machtanalytisch fundierte Untersuchung von Normalität und Ableness als eine für die gesamte Gesellschaft bedeutende Konstruktion (vgl. 2015, S. 31).

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Moments im Diskurs der Deaf Studies konstatiert auch Fries, die eine Thematisierung der leiblichen Erfahrung von Taubsein in diesen misst (vgl. 2012, S. 329). Damit bietet sich nicht nur das Potenzial, die unterschiedlichen Erfahrungen von früh/von Geburt an und spätertaubten Menschen zu berücksichtigen, sondern auch einem dominant normierenden Denken über Körperfunktionalität die Differenz menschlicher Körper, ihrer heterogenen Empfindungen und Funktionen anerkennend entgegen zu setzen. So soll es aus Degeners Sicht auch möglich werden, eine Gesundheitspolitik zu forcieren, die sich an den unterschiedlichen Bedarfen von Menschen mit Behinderung orientiert und damit weit mehr sein muss, als die ableistische Prävention scheinbarer Defekte (vgl. 2015, S. 162f.). So kann es in der Diskussion um das CI auch mehr als die beiden bisher dominant rezipierten Perspektiven geben, die sich zwischen ‚Heilung‘ und strikter Ablehnung aufgrund der Zerstörung kultureller Identität bewegen (vgl. Lane 1993, S. 319f.). Generell bietet der Impetus dieser Perspektive, konkrete Veränderungen in Richtung menschenrechtsbasierter Politik anzustoßen, die Möglichkeit, Diskriminierung und Ausschluss auf eine selbstbewusste und vor allem empowernde Art und Weise zum Thema zu machen. Vielleicht macht es dieses Modell sogar möglich, identitätspolitische Grenzlinien, deren ein Kulturelles Modell von Behinderung unter Umständen sogar bedarf, zu Gunsten einender Erfahrungen und Ziele solidarisch zu verschieben. Zumindest aber bietet ein menschenrechtliches Modell das Handwerkszeug, derzeitige bewegungspolitische Standpunkte und Zielsetzungen kritisch zu hinterfragen und damit ‚identitärem Stillstand‘ vorzubeugen. Und Fernandes & Shultz Myers sind sich indes sicher, dass es „[o]hne Einbeziehung der Vielfalt, die unter Gehörlosen bereits existiert, […] keine Einheit [der Taubengemeinschaft] geben [wird]“ (Fernandes/Shultz-Myers 2010, S. 451).

Literatur Attia, I.; Köbsell, S.; Prasad, N. (Hrsg.) (2015): Dominanzkultur reloaded. Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen. Bielefeld: Transcript Verlag. Baron, C.; Steinwachs, B.(2012): Faul Frech Dreist. Die Diskriminierung von Erwerbslosigkeit durch BILD-Leser_innen. Münster: edition assemblage. Becker, U. (2015): Die Inklusionslüge. Behinderung im flexiblen Kapitalismus. Bielefeld: Transcript Verlag. Blank, B. (2010): ,Dass man mich nach meiner Meinung fragt, das bringt mir was!’ Die Interdependenz von Empowerment, Teilhabe und Ressourcenförderung. Wohnungslos 2. S. 44-48.

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Carmen Böhm, Uta Benner

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Modelle von Taubsein und Gehörlosigkeit

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Klinische Sozialarbeit und Soziale Ausschließung Carmen Böhm

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Klinische Sozialarbeit im sozialen Wandel

Begreift Soziale Arbeit eine ihrer Aufgabe darin, ihren Klient_innen Zugang zu materiellen wie immateriellen Ressourcen zu verschaffen sowie Bedingungen für gelingende Partizipation zu ermöglichen, kommt sie nicht umhin, sich mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beziehungsweise den Ursachen ungleicher gesellschaftlicher Zugangsmöglichkeiten und ihrer Veränderung zu befassen. „Kohäsion“ kann dabei als Dachthema unterschiedlicher Herangehensweisen und Forschungsinteressen an diese grundlegenden gesellschaftlichen Fragen dienen. Diese Perspektivenöffnung ist angesichts der Zielsetzung Klinischer Sozialarbeit – der dialogisch vereinbarten Veränderung der Lebenslage und Lebensweise der Klient_innen (vgl. Pauls 2013, S. 16) – nicht zuletzt nötig, um den eigenen professionellen Anspruch nicht durch unbewusste, ungleichheitsaffirmative Praktiken zu gefährden. Anschließend an die Thematisierung sozialer Ungleichheit und sozialer Ausschließung sehen einige Vertreter_innen Klinischer Sozialarbeit ihre Existenzberechtigung nicht nur im sozialen Wandel und den damit einhergehenden veränderten sozialen Problemlagen, sondern auch in der methodischen und fachlichen Überforderung generalistischer Sozialer Arbeit, diesen Herausforderungen adäquat zu begegnen (vgl. Geißler-Piltz/Mühlum/Pauls, 2005, S. 10f.; Pauls 2013, S. 11f.; Schaub 2008, S. 17). Es erscheint somit auch für eine grundständige Soziale Arbeit von Interesse, einen Blick auf die Handlungsorientierungen und Analysen einer Fachdisziplin zu werfen, die sich selbst dem Anspruch verschreibt, im Zuge des sozialen Wandels und seiner Konsequenzen im System der (Gesundheits-)Versorgung einen Teil der gesellschaftlichen Verantwortung für vulnerable und marginalisierte Menschen zu übernehmen (vgl. Geißler-Piltz et al. 2005, S. 150; Schaub 2008, S. 21). So wird im Folgenden, anschließend an eine Professionsskizze Klinischer Sozialarbeit, ein Verständnis sozialer Ausschließung präzisiert, das Anknüpfungspunkte an Theorien sozialer Ungleichheit bietet, die sich explizit mit dem seit den 1970er Jahren beobachtbaren Wandel des Wohlfahrtsstaats (vgl. Harvey 2007) als Rahmenbedingung Sozialer Arbeit befassen (vgl. 3.). Abschließend werden Herausforderungen und Chancen hinsichtlich der kritischen Reflexion des eigenen © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 B. Thiessen et al. (Hrsg.), Sozialer Wandel und Kohäsion, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25765-1_15

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Carmen Böhm

Mitwirkens bei exkludierenden und Ungleichheit verfestigenden Praxen aus den Handlungsorientierungen der Klinischen Sozialarbeit abgeleitet und erläutert (vgl. 4).

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Klinische Sozialarbeit – Skizze einer Fachsozialarbeit

Als Fundament der kritischen Prüfung zentraler Handlungsorientierungen der Klinischen Sozialarbeit wird diese zunächst in Hinblick auf ihr historisches sowie professionelles Selbstverständnis vorgestellt (2.1, 2.2). Ergänzend hierzu befasst sich 2.3 mit der für die noch junge Disziplin existenzbegründenden Zielgruppe der „hard to reach“ Klient_innen (vgl. Pauls 2013), deren Unterstützung und Behandlung dem professionellen Selbstverständnis nach auch die Einbeziehung der Rahmenbedingungen erfordern, die in 2.4 erläutert werden.

2.1 Historische Wurzeln Klinischer Sozialarbeit – The american dream? Klinische Sozialarbeit als Fachdisziplin der Sozialen Arbeit versteht sich selbst nicht (mehr) als genuine Krankenhaussozialarbeit (vgl. Deloie 2011, S. 62ff.), wie der Begriff zunächst nahe legen mag. Mit der klinischen1 Kompetenz ihrer Angehörigen ist vielmehr eine direkt behandelnde, interaktionsbezogene Fallarbeit im Gesundheitsweisen – mit Fokus auf das Soziale – gemeint (vgl. Pauls 2013, S. 16; Geißler-Piltz 2005, S. 27; Schaub 2008, S. 19). Dies kann auf ihre historische Entwicklung zurückgeführt werden, deren Wurzeln gleichsam der US-amerikanischen Clinical Social Work im von Mary Richmond begründeten Case Work und der Orientierung an der Person-in-Environment gesehen werden und von Alice Salomon auf deutsche Verhältnisse übertragen wurden (vgl.Geißler-Piltz et al. 2005; Geißler-Piltz 2005). Trotz historischer Differenzen, die vor allem mit der psychotherapeutischen Prägung der Clinical Social Work und den damit zusammenhängenden sozio-historischen Entwicklungen begründet werden, erscheint die US-amerikanische Fachdisziplin aufgrund ihrer professionellen Etablierung im Bereich der psychosozialen Versorgung und methodisch gesicherten Ausrichtung inhaltlich bestimmend in der Auseinandersetzung deutscher Vertreter_innen mit ihrer Disziplin. Bezogen auf die bundesdeutsche Situation der Fachsozialarbeit

1

Die Bezeichnung wird von Kline hergeleitet, einem Ruhelager oder Bett und meint die direkte Arbeit am Krankenbett beziehungsweise an Klient_innen allgemein (vgl. Geißler-Piltz et al. 2005, S. 11f.).

Klinische Sozialarbeit und Soziale Ausschließung

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wird ihre Existenz in der bisher weitgehend mangelhaften Etablierung und Systematisierung psychosozialer Methoden der Sozialen Arbeit für das Gesundheitssystem begründet (vgl. Geißler-Piltz 2005, Geißler-Piltz et al. 2005; Schaub 2008; Deloie 2011). Dabei wird die Bedeutung einer eigenständigen Expertise für die Behandlung der sozialen Dimension historisch auch mit professionshemmenden Vereinnahmungsversuchen von Medizin, Psychotherapie und kritischer Sozialwissenschaft begründet (vgl. Geißler-Piltz et al. 2005, S. 131ff.). Bereits 2008 sieht Schaub die Legitimation und Anerkennung dieser Fachsozialarbeit als überwundene Aufgabe an, was er mit der erfolgreichen Formulierung des Gegenstandsbereiches sowie der Institutionalisierung der Klinischen Sozialarbeit begründet, zugleich jedoch Bedarf an einem präzisierten und differenzierten Selbstverständnis der Disziplin einräumt (vgl. ebd., S. 18)2.

2.2 (Selbst-)Verständnis einer klinischen Sozialarbeit Entsprechend der historischen Wurzeln in der Einzelfallhilfe und der Sozialen Diagnose nach Richmond und Salomon, sehen Vertreter_innen der Klinischen Sozialarbeit diese als „professionellen Ansatz zur Verbesserung der psychosozialen Passung zwischen Klient bzw. Klientensystem und Umwelt. Klinische Sozialarbeit ist spezialisiert beratende und behandelnde Soziale Arbeit in den Feldern des Sozial- und Gesundheitswesens“ (Pauls 2013, S. 17; Hervorhebung im Original). Neben dem darin angesprochenen und professionsleitenden Grundsatz der Behandlung der Person-in-environment spielt das spezifische Merkmal der eigenständigen Beratung und Behandlung von Klient_innen, welche auf einem bio-psychosozialen Verständnis von Gesundheit gründet, eine konstitutive Rolle für die Profession (vgl. Mühlum/Pauls 2005; Geißler-Piltz et al. 2005, S. 10; Schaub 2008, S. 23). So wird Gesundheit als bio-psycho-soziale Passung konzipiert, deren drei Ebenen eigenständig bestehen, aber aufeinander wirken (vgl. Schaub 2008, S. 23). Je nach Person spielt die Ausstattung mit körperlichen Fähigkeiten und individuellen Faktoren (Copingfähigkeiten), die Verfügbarkeit sozialer, materieller oder ökologischer Ressourcen mit gegebenen Alltagsfaktoren zusammen und entscheidet so über die momentane Positionierung auf dem Kontinuum zwischen Gesundheit und Krankheit. Im Falle von Ressourcendefiziten, also Störungen der Passung zwischen den Ebenen des Bio-Psycho-Sozialen, werden diesem Verständnis nach Spannungen erzeugt, die sich als Symptom äußern (vgl. Pauls 2013, S. 109 ff.) und mittels Ressourcenaktivierung unter Einbeziehung der person-in-environment 2

Auch Geißler-Piltz et al. beanstanden noch 2005 eine deutliche Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Fachsozialarbeit, deren deutsche Anfänge sie 1995 verorten (vgl. ebd., S. 146ff.).

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bewältigt werden können. Dies gründet maßgeblich auf dem von Antonovsky begründeten salutogenetischen Gesundheitsmodell, das das Verhältnis von Krankheit und Gesundheit wie oben beschrieben als Kontinuum fasst. Um Festschreibungen hinsichtlich der vorgefundenen sozialen Ausstattung der Klient_innen zu umgehen, wird dieses Gesundheitsverständnis durch das Konzept der Stärkenorientierung der humanistischen Psychologie ergänzt (vgl. Geißler-Piltz et al. 2005, S. 25ff.). Die genuine Aufgabe Klinischer Sozialarbeit, die in der Veränderung der Lebenslage und Lebensweise der Klient_innen besteht (vgl. Pauls 2013, S. 17; Schaub 2008, S. 23), fassen Geißler-Piltz et al. als klinischen Blick, der „sowohl auf die bio-psycho-soziale Ausstattung der Hilfesuchenden gerichtet [ist], als auch auf den sozialen und materiellen Lebenskontext mit seinen gesellschaftlich strukturellen und kulturellen Bedingungen“ (ebd. 2005, S. 28).

2.3 Die Zielgruppe Klinischer Sozialarbeit – Ansatzpunkt Gesundheitsverhalten Anschließend an den die Entwicklung der Spezialdisziplin durchziehenden Fokus auf die Einzelfallhilfe nach Richmond und Salomon, gelten als „Interventionsformen der Klinischen Sozialarbeit […] insbesondere die Sozialdiagnostik, Sozialtherapie, Beratung“ (DGSA o.J.). Sozialtherapie verfolgt das Ziel, soziale Kompetenzen und Unterstützungspotenziale bestmöglich zu fördern, um Teilhabe zu ermöglichen und ist dabei dialogisch, ressourcenorientiert und befähigend konzipiert. Allerdings zeigt sich hier, dass die Indikation von Sozialtherapie aufgrund des als diffus beschriebenen Gegenstandes sozialer Problemlagen, fernab von den zu behandelnden Klient_innen, wenig konkretisiert werden kann (vgl. Binner/Ortmann 2008, S. 78 ff.). Dabei begründet die spezifische Zielgruppe der Menschen in Multiproblemsituationen (vgl. Pauls 2013, S. 17) in besonderer Weise auch die generelle Notwendigkeit einer Klinischen Fachsozialarbeit, deren „Trennschärfe gegenüber der allgemeinen Sozialarbeit nicht immer eindeutig ist […][.] [So] bemisst sich die Notwendigkeit und Eigenart der klinischen Intervention zum einen an der Indikation (z.B. schwer zugängliche Person), zum anderen an der Vorgehensweise und Intensität der personalen Einflussnahme (z.B. Therapieverfahren) sowie schließlich am Nutzen für die behandelten Patienten (z.B. verringerter Leidensdruck)” (Mühlum/Pauls 2005, S. 1; Hervorhebung im Original). Mit schwer zugänglichen Personen sind „besonders schwierige[…], ‚hard-to-reach‘ Patienten und Klienten [gemeint], die meist mit chronischen Belastungen und Erkrankungen oder Behinderungen in ‚Multiproblemsituationen‘ leben“ (Pauls 2013, S. 24). Dadurch wird auch die oben genannte Intensität der personalen Einflussnahme begründet, wird „hard-to-reach“ nicht nur im Sinne der Erreichbarkeit, sondern auch

Klinische Sozialarbeit und Soziale Ausschließung

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als Synonym für Klient_innen verwendet, die als „schwierig im Umgang“ (Binner/Ortmann 2008, S. 81) gelten. Die professionelle Bindungsbeziehung zur Klientel, die laut Mühlum und Pauls ein Bedürfnis nach Zuwendung und Unterstützung, aber auch Beratung und Behandlung hat (vgl. ebd. 2005, S. 2), findet in flexiblen Settings statt, die als haltgebende Umgebung (holding environment) fungieren. Da die zentrale Aufgabe in der Veränderung der psychosozialen Lebenslage und -weise besteht, ist die Behandlung personen-, beziehungs- und umweltbezogen ausgerichtet und erfordert von den Klinischen Sozialarbeiter_innen die Forcierung der dialogisch vereinbarten Behandlungsziele auf allen Ebenen (vgl. Pauls 2013, S. 181ff.). Dies erscheint aufgrund der von den Autor_innen beschriebenen Negativerfahrungen, welche die spezifische Klientel im Hilfesystem vielfach gemacht hat und aufgrund dessen misstrauisch und hochsensibel in Hinblick auf mögliche Fremdbestimmung ist (vgl. Geißler-Piltz et al. 2005, S. 14ff.), besonders angezeigt. Neben der individuellen Unterstützung in Form von Motivierung und Befähigung zur Krankheitsbewältigung und eigenverantwortlichem Handeln (vgl. ebd., S. 14) schließt professionelle Arbeit auch die Analyse struktureller Bedingungen und darauf gerichtete politische Handlungen ein, wie beispielsweise durch Gemeindearbeit und Forcierung sozialstruktureller Veränderungen (vgl. Pauls 2013, S. 181f.). Ein prominentes, da vielfach behandeltes Beispiel der heterogenen, aber schwer belasteten Zielgruppe Klinischer Sozialarbeit bildet die (Multiproblem-) Familie (vgl. Schaub 2008; Geißler-Piltz et al. 2005). Schaub begründet diesen Fokus mit der gesundheitsrelevanten Bedeutung der Familie als zentralem sozialen Netzwerk (vgl. ebd. 2008, S. 22). Auch bei Geißler-Piltz et al. zeigt sich diese Orientierung, da die Kinder aus „sozial schwachen Familien“ (ebd. 2005, S. 75) als von allgemein zunehmenden komplexen bio-psycho-sozialen Verhaltens- und Entwicklungsstörungen im Besonderen bedroht sehen. An anderer Stelle findet sich der Begriff der „Multiproblemfamilien“, welche als Kernklientel der Zielgruppe schwer beeinträchtigter Kinder, Jugendlicher und Familien genannt wird 3. Charakteristika dieser Familien sind der Definition nach geringe materielle Ressourcen, klinische Symptomatik sowie prekäre Wohn- und Einkommensverhältnisse. Als unzureichend wird in diesem Zusammenhang sowohl die Bereitstellung angemessener Hilfeformen kritisiert als auch mangelnde fachliche Kompetenzen der zuständigen Sozialarbeiter_innen. Klinische Sozialarbeiter_innen sollen nach den Vorstellungen der Autor_innen dabei neben dem nötigen Wissen und der Interventionskompetenz auch die besondere Fähigkeit aufweisen, durch professionelle Bindungsbeziehung die Resilienz betroffener Kinder zu fördern (vgl. Geißler-Piltz et al. 2005, S. 51f.).

3 Dieser Begriff wird dabei von Schuster übernommen (vgl. Geißler-Piltz et al. 2005, S. 51f.).

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Diese methodisch reflektierte Arbeit klinischer Praktiker_innen erfordert daher fundiertes Fachwissen, Offenheit für unbekannte Situationen und eine ganzheitliche Sicht auf die Situation, ergänzt durch eine Haltung, welche für die Erreichung des Ziels der Gesundheitsförderung die selbstverantwortliche Entscheidung der Klient_innen als wichtigstes Orientierungsmaß setzt (vgl. Mühlum/Pauls, 2005, S. 3ff.). Umsetzung findet dies mitunter in der Herstellung eines „informierten Behandlungskonsensus“ (Mühlum/Pauls 2005, S. 3), in der Übernahme der sozialen Anwaltschaft für Patient_innen wie Klient_innen und in der professionellen Reflexion der Beteiligung der eigenen Person an der Behandlung (vgl. ebd., S. 3ff.).

2.4 Rahmenbedingungen klinischer Sozialarbeit – Gesundheitsverhältnisse Der selbst verschriebene Auftrag Klinischer Sozialarbeit (vgl. 2.2) wirkt nicht nur einend nach innen, sondern stärkt auch in kooperativer und koordinierender Tätigkeit die professionelle Identität der klinischen Fachsozialarbeiter_innen nach außen. Die Vertretung der sozialen Dimension in der Beratung und Behandlung im Rahmen des Gesundheitssystems zieht dabei nach Ansicht einiger Vertreter_innen sowohl die Zusammenarbeit mit etablierten klinischen Professionen und die dortige Behauptung der eigenen Expertise nach sich als auch den „transparenten und fairen Wettstreit mit bestehenden und praktizierten anderen Modellen zur Förderung, Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit“ (Schaub 2008, S. 21)4. Der angesprochene Wettstreit mit anderen Disziplinen und ihren Modellen kann neben der ausstehenden Systematisierung psychosozialer Behandlungsansätze seit den 1970er Jahren (vgl. Geißler-Piltz 2005) auch mit Blick auf die Rahmenbedingungen Klinischer Sozialarbeit erläutert werden. So beobachten Geißler-Piltz et al. eine zunehmende Ökonomisierung des Gesundheitswesens, die professionelle Herausforderungen auf menschenrechtlicher, ethischer und qualitätsbezogener Ebene für personenbezogene Dienstleistungen wie die der Sozialen Arbeit bergen. Auch wenn die Fachdisziplin ihre Aufgabe in der Gesundheitsförderung5 sieht, die sie als Selbstbestimmungspotenziale stärkenden Gegenentwurf zu einer individualisierenden, Notfall versorgenden Gesundheitspolitik konzipiert (vgl. Geißler-Piltz et al. 2005, S. 33ff.), bleibt die Reflexion des professionellen 4 Vgl. dazu auch: Geißler-Piltz et al 2005; Pauls 2013. 5 Hier nimmt die Fachsozialarbeit Bezug auf die Ottawa Charta zur Gesundheitsförderung der World Health Organisation (WHO) von 1986, die auf Basis eines bio-psycho-sozialen Gesundheitsverständnisses in der Befähigung der Selbstbestimmung über den eigenen Gesundheitszustand die Förderung ebendieser begründet sieht (vgl. ebd. 1986).

Klinische Sozialarbeit und Soziale Ausschließung

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Spannungsfeldes – fernab der genannten Fragen der beobachteten Ökonomisierung – weitgehend aus. Durch die zentrale Thematisierung des Konzeptes der Gesundheitsförderung und dem dabei angeführten Zusammenhang zwischen sozialen Schieflagen und ihren Effekten auf die gesundheitliche Konstitution von Menschen, erscheint das Konzept an sich bereits politisch motiviert, da Gesundheitsverhalten und -verhältnisse bearbeitet werden sollen (vgl. ebd.). Dies wird durch die Intention, somit der vielfach befürchteten und kritisierten Individualisierung sozialer Ungleichheit entgegenzuwirken und der Ohnmacht Sozialer Arbeit bei der Veränderung (gesundheits-)politischer Strukturen konstruktiv zu begegnen (vgl. ebd., S. 36), implizit unterstrichen. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass das dabei zu Tage tretende und die Soziale Arbeit prägende Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle, das auch für den Auftrag der Veränderung von Gesundheitsverhalten und -verhältnissen konstitutiv ist, als explizites Thema umgangen wird. Angesichts der bereits angesprochenen Ökonomisierung der Rahmenbedingungen klinischer Sozialarbeit und dem damit verbundenen Gebot der Effizienz und Effektivität der geleisteten Hilfe ist davon auszugehen, dass dieses grundständige Spannungsfeld in der konkreten Arbeit mit den Klient_innen von Marktprinzipien belastet und die notwendige Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams durch zunehmende Konkurrenz um das wirtschaftlichste Konzept der Behandlung erschwert wird. Auch wenn klinische Sozialarbeit auf diese Entwicklung mit Kritik an „unzureichenden gesundheitspolitischen Reformen der letzten Jahre“ (Geißler-Piltz et al. 2005, S. 68) sowie an „Kurzatmige[n] Sparbemühungen der Gesundheitspolitik“ (ebd., S. 69) reagiert, zeigt sich die relativ junge Disziplin auch den Gesetzen des Marktes verpflichtet. So betont sie ihren eigenen „Beitrag für die Entwicklung von Human- und Sozialkapital“ (ebd., S. 30) ebenso wie die geforderte Fähigkeit der Praktiker_innen, das System sozialer Sicherung im Gesundheitsbereich „wirtschaftlich (d.h. ressourcenschonend)“ (Mühlum/Pauls 2005, S. 3) zu nutzen. In einem geschärften Professionsprofil, gekennzeichnet durch die methodisch gesicherte Qualifizierung der Fachsozialarbeiter_innen, wird dabei das Gegengewicht zur zunehmenden Bürokratisierung, Ökonomisierung und Pädagogisierung der Sozialen Arbeit gesehen. Dementsprechend zeigt sich die Fachsozialarbeit auch gegenüber Staat und Klientel verpflichtet, beispielsweise indem sie einen Teil der gesellschaftlichen Verantwortung für die Versorgung marginalisierter und vulnerabler Menschen zu übernehmen bereit ist (vgl. Geißler-Piltz et al. 2005, S. 150). Bevor die Herausforderungen eines solchen Mandats in 4. diskutiert werden, soll zunächst ein Modell sozialer Ausschließung präzisiert werden, das sowohl Anschlusspunkte an den doppelten Blick Klinischer Sozialarbeit als auch an erklärende Theorien sozialer Ungleichheit bietet.

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Carmen Böhm Soziale Ausschließung als Gleichzeitigkeit des Drinnen und Draußen

Eine Auseinandersetzung mit sozialer Ausschließung und dem eigenen professionellen Mitwirken an und Entgegenwirken von exkludierenden Praxen wird dann gelingen, wenn nebst Klientel auch vertikale wie horizontale (soziale) Ungleichheiten auf struktureller Ebene in den Blick genommen werden. Hier verfolgt Klinische Sozialarbeit mit der historisch begründeten Orientierung, eine „Veränderung der Person-in-ihrer-Welt (person-in-environment) [anzustoßen]“ (Mühlum/Pauls 2005, S. 3), einen Handlungsansatz, der das Potenzial birgt, dieser Anforderung durch die gezielte Erweiterung des professionellen Blicks gerecht zu werden. Auf theoretischer Ebene deutet dies auf die Bedeutung des Zusammendenkens von Theorien sozialer Ungleichheit und sozialer Ausschließung6 hin. Um Ansatzpunkte für kritisch-reflexive Handlungsorientierungen der Klinischen Sozialarbeit ableiten zu können, ist es daher wichtig, nicht nur in der Beschreibung der Dimensionen und Determinanten sozialer Ungleichheit und sozialer Ausschließung zu verharren, sondern mit Hilfe eines analytischen Konzeptes den vermittelnden Mechanismen und ihren aufrechterhaltenden Bedingungen nachzuspüren. Ein hierfür geeignetes Konzept sozialer Ausschließung bietet Martin Kronauer an, der die Folgen sozialer Ungleichheit als Verhältnisse von Teilhabe und Ausschluss fasst. Darüber hinaus bietet dieses Modell die Möglichkeit, Ausschluss sowohl als Prozess als auch als Zustand zu denken. Damit wird das Konzept der (Re)Produktion und Dynamik strukturell erzeugter Ausschließung sowie sozialen, konkret erlebbaren Ausgrenzungserfahrungen von Individuen und sozialen Gruppen gerecht (vgl. Kronauer 2010, S. 20). Dies schließt wiederum an die Handlungsorientierung (Klinischer) Sozialarbeit, der Veränderung des Verhaltens und der Verhältnisse, an. Zudem erscheint dieses Konzept aufgrund seines inhärenten Gedankens, Ausschließung als ambivalentes gesellschaftliches Gefüge zu fassen, für eine reflexive (klinische) Soziale Arbeit fruchtbar. Diese Ambivalenz sozialer Ausschließung wird dabei mit sozio-historischen wie auch analytischen Gründen fundiert. Zum einen konstatiert Kronauer eine Krise der Integrationsfähigkeit der verschränkten Instanzen Markt, Staat und soziale Nahbeziehungen, deren beginnende Veränderung er in den 1980er Jahren verortet (vgl. ebd. 2010, S. 145ff.). Zum anderen sieht er in der dichotomisierten Vorstellung von Exklusion/Inklusion die Gefahr, „die ‚internen‘ gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse dem Blick [zu entziehen] und […] somit zu einer Mystifizierung sowohl 6

Dabei sind die beiden Begriffe im Folgenden als sich ergänzende, relationale, dynamische und sozial hergestellte Phänomene zu verstehen, denen auf analytisch-struktureller Ebene das Moment des Mechanismus gemein ist, welches die ungleiche Verteilung von Gütern beziehungsweise die ungleichen Zugangsmöglichkeiten zu diesen zwischen sozial relevanten Gruppen vermittelt (vgl. Berger/ Powell/ Solga 2009, S. 16ff.).

Klinische Sozialarbeit und Soziale Ausschließung

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‚der Gesellschaft‘ als auch der ‚Armen‘ bei[zutragen]. Die Gesellschaft stellt sich dann als in sich unproblematische Einheit dar. Die Armen dagegen werden zu ‚Außenseitern‘ und Problemgruppen“ (ebd. 2010, S. 20). So argumentiert Kronauer, dass sowohl der verachtliche Blick an die ‚Ränder‘, der mit individualisierenden Schuldzuweisungen einhergeht, als auch der mitleidsvolle Blick auf diese verunmöglichen, die im ‚Inneren‘ wirksamen Mechanismen zu fokussieren, die für die ungleiche Verteilung gesellschaftlich relevanter Güter verantwortlich sind (vgl. ebd., S. 20f.)7. Am Beispiel der Sozialhilfe zeigt sich dabei exemplarisch, wie Exklusion als Gleichzeitigkeit des Drinnen und Draußen vor dem Hintergrund der Krise der integrativen Instanzen, welche gesellschaftliche Zugehörigkeit über Interdependenz und Teilhaberechte vermitteln sollten, wirkt. So nimmt die einzelfallorientierte Sozialhilfe laut Kronauer den_die Klient_in kontraktgebunden in die Pflicht, bestimmte Leistungen zu erbringen und zugleich die Verantwortung für die eigene soziale Lage zu tragen (vgl. ebd. 2010, S. 180 f.). Damit sind die Klient_innen einseitig abhängig von staatlicher Zuwendung, abstrakter formuliert, endet das die gesellschaftliche Wechselseitigkeit vermittelnde Ausbeutungsverhältnis, was sukzessive zur Ausschließung aus Interdependenzbeziehungen und Teilhabe führt. So zieht der (dauerhafte) Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt, die stetige Entfernung von diesem sowie die Verringerung sozialer Kontakte nach sich und gefährdet aufgrund der Verschränkung der drei genannten Instanzen auch die auf materieller und kultureller Teilhabe basierende Fortführung geltender Lebensstandards oder die Verfolgung gesellschaftlich geteilter Ziele (vgl. ebd. 2010, S. 144ff.). Relevant erscheint dieser Ansatz, der Ausschließung exemplarisch am Beispiel materieller Armut diskutiert, auch deshalb für die Klinische Sozialarbeit, da diese sich als „Spezialdisziplin für soziale Ungleichheit und Benachteiligungen“ (Schaub 2008, S. 21) versteht, die soziale Stressoren als gesundheitsrelevante Einflussgrößen in ihre Arbeit einbezieht und berücksichtigt. Exklusion und Inklusion als Gegensatzpaare – und damit dichotomisiert – zu diskutieren, versperrt, wie Kronauer zeigt, die Sicht auf die Verschränkung der dabei beteiligten gesellschaftlichen Instanzen und ihre Integrationskrise seit den 1980er Jahren. Diese Krise lässt sich mit Blick auf die Entwicklung des Neoliberalismus 8 als Vergesellschaftungsform und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Auswirkungen näher beleuchten. Eine in diesem Kontext populär ge-

7

Mit Blick auf die Geschichte der Armenfürsorge zeigt sich, dass die Trennung in ‚würdige‘ und ‚unwürdige‘ Arme eine ähnliche Funktion einnimmt – nicht zuletzt, da diese Vorstellung auch auf einer Dichotomie gründet (vgl. Huster 2010). 8 Neoliberalismus ist hier ausdrücklich als eine politische, ökonomische und vergesellschaftende Spielart des Kapitalismus zu verstehen. Dabei ist mit Marx davon auszugehen, dass sich Ungleichheit nicht aus der Verteilung knapper Güter ergibt, vielmehr ist der Klassenantagonismus selbst konstitutiv für kapitalistische Gesellschaften (vgl. Bescherer 2012, S. 32).

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wordene Theorie sozialer Ungleichheit stellt die Humankapitaltheorie nach Becker und Krais dar, nach welcher sowohl Unternehmen als auch Arbeitnehmer_innen in menschliche Fähigkeiten und Qualifikationen investieren sollen, da Ressourcen nach dem Leistungsprinzip verteilt werden. Das Investment in das eigene Humankapital steht dieser Theorie nach allen Marktteilnehmer_innen gleichsam frei, da Chancengleichheit gleiche Ausgangsbedingungen garantiert (vgl. Hradil 2005, S. 205f.). Soziale Ungleichheit ergibt sich demnach aus ungleicher individueller Willenskraft und Leistung und ist somit auf die Marktteilnehmer_innen selbst zurück zu führen. Auf dieser Grundlage setzt auch die bereits erwähnte politische und gesellschaftliche Ideologie des Neoliberalismus an, welche das Ziel der marktförmigen Gestaltung der Gesellschaft wie auch ihrer Individuen verfolgt (vgl. Schreiner 2015). Da davon ausgegangen wird, dass der Wohlstand der Menschen am besten durch die Freisetzung individueller Fähigkeiten zu fördern ist, die im Rahmen geschützter Eigentumsrechte, freier Märkte und freien Handels optimal eingesetzt werden können, zählt es zu den staatlichen Aufgaben, diesen Rahmen zu gewährleisten (vgl. Harvey 2007, S. 8). Noch rudimentärer als im Rahmen der Theorie von Becker und Krais formuliert, wird Verteilung im neoliberalen System dann als gerecht bewertet, wenn sie am Markt erfolgt – ungeachtet mangelnder Chancengleichheit oder der Tatsache, dass Leistung nicht zwingend mit Erfolg einhergeht. Daher wird auch der moderne Wohlfahrtsstaat als Hemmnis und Blockade des unternehmerischen und eigeninitiativen Handelns der Einzelnen kritisiert und de facto seit den 1990er Jahren umgebaut (vgl. Butterwegge 2009, S. 69ff.). Die Folgen dieses Umbaus zum aktivierenden Sozialstaat zeigt Kronauer an dem die Exklusion kennzeichnenden Übergang der Wechselseitigkeit zur einseitigen Abhängigkeit des Einzelnen von staatlichen Leistungen und den Entscheidungen seiner Vertreter_innen in Ämtern und Behörden. Gemein mit der Theorie von Becker und Krais und im System sozialer Sicherung angelegt ist die Erwartung an die Individuen, sich durch Selbstoptimierungsbemühungen beziehungsweise Investitionen in ihr Humankapital zu den leistungsfähigsten Marktteilnehmer_innen zu entwickeln (vgl. Schreiner 2015, S. 45ff.). Neben mangelnder Chancengleichheit und abnehmender sozialer Absicherung, die als äußerer Druck wirksam werden, erzieht das Ideal der Selbstoptimierung – vergegenständlicht durch eine breite Expert_innenschaft – und die stete Konkurrenz zu allen anderen Individuen die Einzelnen dazu, diese Vorgaben auch aus einem inneren Zwang heraus umzusetzen (vgl. ebd. 2015, S. 107). Für Prozesse sozialer Ausschließung bedeutet dies, dass die Verantwortung für das Scheitern an diesen Anforderungen den Einzelnen zugeschrieben und damit die Ursachen von Armut und sozialer Un-

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gleichheit in individuellen Defiziten verortet werden. An der Symbiose aus äußerem Druck und inneren Zwang setzt dabei auch das Konzept des Klassismus 9 an, wie es von Baron und Steinwachs vertreten wird. Wie auch Kronauer sehen sie in der Einführung der Sozialversicherungen den staatlichen Versuch, den gesellschaftlichen Status Quo aufrecht zu erhalten. Dabei nehmen sie eine Verschiebung der Verantwortung für die soziale Absicherung weg vom Staat hin zur Gruppe der Arbeiter_innen wahr, die gezwungen sind, sich gegenseitig abzusichern und durch Markierung der Sozialleistungsbezieher_innen als Gefährdung der eigenen Sicherheit in sich gespalten werden (vgl. Baron/Steinwachs 2012, S. 25ff.). Letztlich geraten Transferleistungsbeziehende vor dem Hintergrund der marktförmigen Entwicklung von Gesellschaft zu Projektionsflächen der für viele möglichen Verdrängung in das ‚Außen‘. Im Konzept des Klassismus wird dieser Prozess mit den Charakteristika der Biologisierung von Armut – treffende Beispiele stellen ‚The bell Curve‘ von Murray und ‚Deutschland schafft sich ab‘ von Sarrazin dar – ihrer Kulturalisierung in Form von Zuschreibungen und ihrer Generalisierung in sprachlichen Termini wie ‚sozial schwach‘ beschrieben (vgl. Baron/Steinwachs 2012, S. 18). Darstellungen des ‚White Trash‘ transportieren diese Komponenten in allseits bekannte Bilder10 und stellen damit einen klaren Kontrast zur neoliberal geforderten Optimierung des eigenen Humankapitals dar. Diese Funktion, die das ‚Andere im Außen‘ hier übernimmt, kann dabei als Abschreckung und Druckmittel zugleich bezeichnet werden, wird doch vor Augen geführt, was ein Scheitern am inneren und äußeren Druck der Selbstoptimierung in Eigenverantwortung bedeutet. Während Kronauer konstatiert, dass ein wesentliches Merkmal des Prozesses sozialer Ausschließung der Übergang von wechselseitigen Beziehungsverhältnissen zu einseitiger Abhängigkeit ist, die das Ende der Ausbeutung der Betroffenen markiert (vgl. ebd. 2010, S. 144) zeigt Klaus Dörre, dass diese dennoch für ein Ausbeutungsverhältnis genutzt werden, das er sekundäre Ausbeutung nennt. Die von Arbeit – und damit auch zunehmend aus gesellschaftlicher Teilhabe und Interdependenzbeziehungen – ausgeschlossenen Menschen werden demnach als ‚Überflüssige‘ markiert, um die im Inneren befindlichen Arbeiter_innen zu disziplinieren und zu ‚aktivieren‘ (vgl. Baron 2014, S. 231). Diese Funktion dürfte auch der Grund sein, weshalb dichotomisierte Vorstellungen von sozialer Ausschließung in Begriffen wie „der Unterschicht“ und „den Überflüssigen“ nach wie vor kolportiert werden (vgl. Baron 2014): sie wirken affirmativ im Sinne der Verhältnisse, da sie eine positive Selbstvergewisserung der Zugehörigkeit zum ‚Inneren‘ 9

Eine eigenständige, klassenbedingte Form der Diskriminierung, die im deutschsprachigen Raum anerkennungstheoretisch von Kemper und Weinbach konzipiert (vgl. ebd. 2009) sowie von Baron und Steinwachs mit Fokus auf seine strukturelle wie ökonomische Dimension vertreten wird (vgl. ebd. 2012; Baron 2014). 10 Vgl. hierzu die analytische Auseinandersetzung mit dem Bild des ‚Vorzeigearbeitslosen‘ Arno Dübel bei Baron und Steinwachs 2012.

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durch die Abgrenzung von einem in diesem Moment wieder klar erkennbaren Außen erlauben11. Wie stark diese Identifikation mit der ‚Mitte‘ wirkt, belegen die Ausführungen Kronauers, Barons und Steinwachs‘ sowie Schreiners zur dominierenden Mittelschichtsorientierung und dem Glauben an das Narrativ des sozialen Aufstiegs in der Gruppe der Benachteiligten dieser sozioökonomischen Entwicklungen (vgl. Kronauer 2010, S. 167ff.; Baron/Steinwachs 2012, S. 81ff.; Schreiner 2015, S. 79). So zeigt sich, um auf die Ausführungen Kronauers zurück zu kommen, dass das ‚Außen‘ untrennbar mit dem ‚Inneren‘ verbunden bleibt. Wie sonst könnten die im Inneren Verbleibenden durch die scheinbar Äußeren unter Druck gesetzt und gleichzeitig durch deren Disziplinierung besänftigt werden, wenn in diesem Verhältnis nicht klar geregelt wäre, dass sich auch die Ausgeschlossenen der Symbiose aus äußerem Zwang und innerem Druck niemals vollständig entziehen dürfen. Ein gänzlicher Ausschluss stellte die Alternativlosigkeit des Bestehenden und damit den Status Quo doch stabilitätsgefährdend in Frage.

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Klinische Sozialarbeit und soziale Ausschließung: Potenziale und Herausforderungen

Klinische Sozialarbeit als Fachdisziplin blickt im bundesdeutschen Kontext auf eine vergleichsweise kurze Professionsgeschichte zurück. Dabei fällt auf, dass trotz bestehender und benannter Differenzen stark auf die Entwicklung der USamerikanischen Clinical Social Work rekurriert wird (vgl. Geißler-Piltz et al. 2005; Geißler-Piltz 2005; Schaub 2008; Pauls 2013). Die Herausforderung der Erarbeitung eines professionellen Selbstverständnisses im Zuge der Erforschung der Professionsgeschichte besteht angesichts dessen darin, die erkannten Differenzen nicht unter den Tisch fallen zu lassen. Gerade der Vorwurf der Therapeutisierung beziehungsweise der Individualisierung sozialer Problemlagen an die Klinische Sozialarbeit (vgl. Geißler-Piltz et al. 2005, S. 151) läuft Gefahr, sich zu bewahrheiten, je stärker ein eigenes Selbstverständnis an den Entwicklungen der Clinical Social Work orientiert wird, welche historisch bedingt grundständig psychotherapeutisch geprägt ist. Zum anderen verschwimmen die Grenzen des Selbstverständnisses Klinischer Sozialarbeit trotz Anspruchs an eine eigenständige soziale Behandlungspraxis, indem vor allem auf die Bedeutung der Sozialtherapie als originär klinisch-sozialarbeiterischer Methode verwiesen wird (vgl Geißler-Piltz et al. 2005; Binner/Ortmann 2008; Pauls 2013). Dabei ist zu beobachten, dass der Begriff sehr divers und stellenweise unspezifisch verwendet wird (vgl. Pauls 2013, S. 293) und fernab von den zu behandelnden Klient_innen, wenig konkretisiert 11

Vgl. hierzu auch Link 2009.

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werden kann (vgl. Binner/Ortmann 2008, S. 78ff.). Grundlegend nehmen Vertreter_innen klinischer Sozialarbeit den Vorwurf der Therapeutisierung sozialer Problemlagen zwar wahr, beispielsweise im Rahmen der geschichtlichen Spurensuche (vgl. Geißler-Piltz 2005), sehen in der Auseinandersetzung mit dieser Kritik aber vornehmlich die Gefahr, professionell entwurzelt zu werden, wie dies für die 1970er und 80er Jahre beanstandet wird. In Bezug auf die aktuelle Situation wird dieser Vorwurf lediglich als Ausdruck der Konkurrenz etablierter Gesundheitsberufe um Zuständigkeiten und Kompetenzen (vgl. Geißler-Piltz et al. 2005, S. 149 ff.) gewertet und mit der Forderung nach eigenständiger, methodisch gesicherter und empirisch fundierter klinischer Kompetenz beantwortet (vgl. bspw. Schaub 2008). Die Betonung therapeutischer Kompetenzen für eine Klinische Sozialarbeit bei gleichzeitiger Unschärfe eigenständiger Verfahren scheint diesen Forderungen bisher nicht nachkommen zu können und verweist auf den Bedarf, diese Lücke transparent zu thematisieren. Darüber hinaus böte die Auseinandersetzung mit einer deutschen klinischen Geschichte, beispielsweise mit der Beteiligung klinisch tätiger Fürsorger_innen an der Durch- und Umsetzung rassenhygienischer Ideologie und Vernichtung im Nationalsozialismus, die Möglichkeit, einen fruchtbaren historischen Beitrag zu einem reflektierten Selbstverständnis Klinischer Sozialarbeit zu leisten12. So kann einer möglichen Wiederholung professioneller Mittäter_innenschaft entgegengewirkt und eine fundierte Grundlage zur Entwicklung einer kritisch-reflexiven Haltung hinsichtlich des eigenen professionellen Beitrags zur (Re)Produktion sozialer Ausschließung geschaffen werden. Dass Klinische Sozialarbeit mit den Auswirkungen sozialer Ausschließungsprozesse befasst ist, wird dabei nicht zuletzt an der Zielgruppe der „hard-to-reach“ Klient_innen erkennbar. Über Bekenntnisse wie der „Übernahme eines Teils der gesellschaftlichen Verantwortung für marginalisierte Menschen“ (Geißler-Piltz et al. 2005, S. 150), die als „schwer belastete, beeinträchtigte, sozial-kommunikativ gestörte, gefährdete und/oder psychisch und somatisch – meist chronisch – kranke, behinderte und leidende Menschen“ (Pauls 2013, S. 182) beschrieben werden, zeigt sich dies exemplarisch. Dabei wirkt die Begriffsbestimmung „hard-toreach“, die auch personale Eigenschaften der Klientel bezeichnet (vgl. Binner/Ortmann 2008), angesichts der ressourcenorientierten und -aktivierenden Konzepte bio-psycho-sozialer Gesundheit (vgl. Pauls 2013, S. 17) überraschend defizitorientiert, da sie rein personenzentriert ist. Auch aus Perspektive der Salutogenese, die das Verhältnis von Krankheit und Gesundheit als Kontinuum fasst, auf dem das Individuum immer wieder neu positioniert wird, erscheint die Darstellung der

12

Bei Geißler-Piltz findet sich hierzu eine vornehmliche Auseinandersetzung mit der Positionierung der Sozialen Arbeit gegenüber der Medizin im Nationalsozialismus (vgl. ebd. 2005, S. 22f.).

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Klientel problematisch, wirkt sie doch festschreibend statt dynamisch 13. Angesichts der von Geißler-Piltz et al. beschriebenen Klientel, welche Hilfe oftmals als aufgezwungen erlebt (vgl. ebd. 2005, S. 14ff.), erscheint es angezeigt, den Term der „hard-to-reach“ Klient_innen hinsichtlich seiner ungewollten Effekte – beispielsweise hinsichtlich möglicher Stigmatisierungseffekte der Klientel als Problemgruppe im ‚Außen‘ der Gesellschaft – zu hinterfragen. Zudem diente eine Festschreibung der Klientel im gesellschaftlichen ‚Außen‘ letztlich, wie die Ausführungen in 3. zeigen, der Invisibilisierung der Mechanismen sozialer Ungleichheit im ‚Inneren‘ der Gesellschaft und der Besänftigung und Disziplinierung der dort verorteten. Eine Klinische Sozialarbeit hat sich vor diesem Hintergrund auch mit den Impliktionen ihrer Aufgabe der „Übernahme eines Teil des gesellschaftlichen Verantwortung für marginalisierte Menschen“ (Geißler-Piltz et al. 2005, S. 150) auseinanderzusetzen. So kann diese auch bedeuten, die ins gesellschaftliche ‚Außen‘ Verdrängten so zu versorgen, dass diese die ihnen zugedachte Funktion der Stabilisierung und Selbstvergewisserung des ‚Innen‘ weiter erfüllen können. Den Blick auf das Innen zu richten, beziehungsweise auf die Verhältnisse, was in Form von Öffentlichkeits- und Gremienarbeit umgesetzt werden soll (vgl. Pauls 2013), erfordert vor allem Wissen im Bereich politischer Theorie und sozialer Ungleichheit sowie analytische Fähigkeiten, Ursachen und Mechanismen ungleicher Zugangsmöglichkeiten zu eruieren und damit nicht zu individualisieren. Diese Kompetenzen nehmen in den Ausführungen der Vertreter_innen klinischer Sozialarbeit jedoch eine randständige Position ein (vgl. Geißler-Piltz et al. 2005, S. 15ff.; Pauls 2013, S. 180ff.) oder werden nicht explizit thematisiert (vgl. Mühlum/Pauls 2005; Schaub 2008). Daran anschließend stellt sich auf übergeordneter Ebene die Frage nach der Reflexion von Machtverhältnissen beziehungsweise dem Verhältnis von Hilfe und Kontrolle in der Arbeit mit Klient_innen, das in der Auftragserfüllung der Gesundheitsförderung angelegt ist. Bei einer Klientel, die als „schwierig im Umgang“ (Binner/Ortmann 2008, S. 81) und als „Helfern gegenüber misstrauisch“ (GeißlerPiltz et al. 2005, S. 14) beschrieben wird und unter anderem im Maßregelvollzug oder der Suchtbehandlung versorgt wird (vgl. Pauls 2013, S. 17f.), ist davon auszugehen, dass das Moment der Kontrolle neben dem versorgenden und helfenden Aspekt einen wesentlichen Faktor klinischer Praxis bildet. Angesichts des multidimensionalen Mandats der Profession gegenüber dem Staat und auch gegenüber der Funktionslogik des Marktes, gegenüber der Klientel und nicht zuletzt der Auftrag gebenden Gesellschaft (vgl. Geißler-Piltz et al. 2005, S. 152f.) erscheint diese Ambivalenz als nicht auflösbar, da widerstreitende Interessen das Feld Klinischer Sozialarbeit bestimmen. Diese Widersprüche nicht beziehungsweise randständig 13

Auch unter Bezugnahme auf ein soziales und kulturelles Modell von Behinderung (vgl. Degener 2015) erscheint die Nennung von Menschen mit Behinderung in der oben zitierten Reihung diskussionswürdig, da Behinderung mit Leid, schwerer Belastung und Störung assoziiert wird.f

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zu thematisieren und damit aus der handlungsleitenden Fundierung der Praxis auszuklammern birgt jedoch die Gefahr, auch ungewollt an der Reproduktion von Ungleichheit beteiligt zu sein. Im Falle der jungen Disziplin Klinische Sozialarbeit, die ihre Etablierung im System der Gesundheitsversorgung vorantreibt, geht diese notwendige Kompromisse mit der von ihr kritisch bewerteten Ökonomisierung des Gesundheitswesens ein, die es zu reflektieren gilt. Dies zeigt sich am Legitimationsdiskurs im System der Gesundheitsversorgung, das sie von der Konkurrenz unterschiedlicher Modelle von Gesundheit geprägt sieht (vgl. Schaub 2008, S. 21) und darin ihren „Beitrag für die Entwicklung von Human- und Sozialkapital“ (Geißler-Piltz et al. 2005, S. 30) hervorhebt. Auf der anderen Seite sollen Klient_innen vertreten werden, die gerade an den Folgen des sozialen Wandels und der zunehmenden gesellschaftlichen Individualisierung scheitern und bisher nicht adäquat versorgt werden können (vgl. Pauls 2013, S. 11f.). Wie die Ansätze des Neoliberalismus und des Klassismus gezeigt haben, werden diese Veränderungen dabei von staatlicher Seite mit vorangetrieben, indem Systeme sozialer Sicherung nach marktförmigen Prinzipien umgestaltet werden. Als Ausdruck dieser Zerrissenheit zwischen professionellem Mandat zur Sicherung des Humankapitals und dem Mandat im Sinne einer sozialen Anwaltschaft für Menschen, die von zunehmender sozialer Ungleichheit und sozialer Ausschließung betroffen sind, zeigt sich der bereits genannte Term der „Multiproblemfamilien“, welche „weder klinisch noch soziologisch exakt abgrenzbar sind“ (Geißler-Piltz et al. 2005, S. 51). Einerseits wird mit der klassifizierenden Deskription dieser spezifischen Klientel der Bedarf nach einer umfassenden und adäquaten Hilfestruktur zum Ausdruck gebracht, welche die bestehende psychosoziale Versorgung derzeit nicht leistet (vgl. ebd.). Andererseits weist die Klientel „Suchtverhalten, […], Kindesvernachlässigung und -misshandlung, begleitet von Arbeitslosigkeit, Wohnungs- und Mietproblemen und äußert geringen materiellen Ressourcen [auf]. Hinzu kommt, quasi als Leitsymptomatik, hohe Verschuldung“ (Schuster 2004, S. 1 zit. nach Geißler-Piltz et al. 2005, S. 52). Mit dieser Charakterisierung von Verschuldung als „Symptomatik“ werden – bewusst oder unbewusst – sozioökonomische Umstände pathologisiert. Denn mit Blick auf die Ausführungen in 3. konnte gezeigt werden, dass aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive eine zunehmende Mittelschichtsorientierung zu verzeichnen ist, die laut Kronauer zu einem überdauernden Gefühl der von Armut betroffenen Menschen führt, nicht mithalten zu können (vgl. Kronauer 2010, S. 169). Statt von Leitsymptomatik und damit von einem Krankheitswert der Verschuldung auszugehen, ließe sich diese auch als Bewältigungsstrategie denken, mit den erfahrenen Diskrepanzen zwischen gesellschaftlich gelebten Standards und eigenen Möglichkeiten der Realisierung dieser umzugehen. Mit Kronauer lässt sich die Verschuldung sogar als Akt der Überwindung der dichotomisierten Trennung des Innen und Außen denken: „Gehört Schuldenmachen mittlerweile in den Mittelklassen zur ökonomischen Vernunft, so verzeiht

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die Gesellschaft den Armen das ‚unverantwortliche Handeln‘, über die eigenen Verhältnisse zu leben, am wenigsten. Denn damit verlassen sie demonstrativ den ihnen zugewiesenen Platz und signalisieren ihren Anspruch, dazuzugehören“ (Kronauer 2010, S. 174). Selbstverständlich kann das staatliche Mandat durch alternative Sichtweisen nicht ausgeblendet oder gar überwunden werden. Durch die Erweiterung der Ursachensuche und der Hinzuziehung von Theorien sozialer Ungleichheit rücken jedoch zunehmend auch Machtverhältnisse in den klinischen Blick, die zur Reflexion des eigenen Beitrags innerhalb dieser anregen können. Darin liegt auch das Potenzial begründet, beschreibende Kritik an den Rahmenbedingungen, wie an den Kürzungen im Gesundheitssystem (vgl. Geißler-Piltz et al. 2005, S. 68f.), durch eine fundierte Analyse zu ersetzen, die sich mit den Ursachen und aufrechterhaltenden Mechanismen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit befasst und daran eigene Handlungsorientierungen kritisch zu prüfen in der Lage ist. Auf praxisnaher Ebene bieten Konzepte wie das des Klassimus die Möglichkeit, professionelle und mitunter unbewusste klassenbedingte Haltungen in den Blick zu nehmen – entsprechend dem professionellen Anspruch der Reflexion der biographisch geprägten Beteiligung an der Behandlung (vgl. Mühlum/Pauls 2005, S. 4). Wie diese Ausführungen zeigen, birgt das ‚Multi-Mandat‘ sowie dessen unzureichende Reflexion in der Klinischen Sozialarbeit einige Herausforderungen. So kann das Ziel der Gesundheitsförderung vor dem Hintergrund neoliberaler Anforderungen – wie dem geforderten Investment in Humankapital, die Übernahme von Selbstverantwortung für die eigene sozioökonomische Lage und das Ziel der Selbstoptimierung der Marktfähigkeit – zur Individualisierung gesundheitlicher Schieflagen beitragen. Abstrakt formuliert spricht dies für die Notwendigkeit, Widersprüche und Ambivalenzen, die der Arbeit an gesellschaftlich (re)produzierter sozialer Ungleichheit inhärent sind (vgl. Kronauer 2010), zu benennen und zu reflektieren. Darüber hinaus deutet die Behandlung der person-in-environment auf die notwendige Auseinandersetzung mit Theorien sozialer Ungleichheit und sozialer Ausschließung, um den eigenen professionellen Beitrag zu deren Mechanismen zu erkennen und ihrer Aufrechterhaltung in Theorie und Praxis entgegen zu arbeiten. Dabei hat Klinische Sozialarbeit die grundlegende Aufgabe mit generalisitischer Sozialer Arbeit gemein, sich in Zeiten neoliberaler Selbstverantwortung der Individuen mit dem ambivalenten Potenzial ihres Auftrags „Hilfe zur (gesundheitlichen) Selbsthilfe“ zu leisten auseinander zu setzen – soll sich das Spannungsfeld ‚Hilfe und Kontrolle‘ nicht zu Gunsten der ‚Hilfe zur (Selbst-)Kontrolle‘ auflösen.

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Autorinnen und Autoren Benner, Uta, Prof. Dr. phil., Diplom-Linguistin (Computerlinguistik und Gebärdensprachen), staatliche geprüfteGebärdensprachdolmetscherin, Professorin für Gebärdensprachdolmetschen, Studiengangleiterin des BA-Studiengangs Gebärdensprachdolmetschen, Studiendekanin der Fakultät Interdisziplinäre Studien, Leiterin des Forschungsprojektes "Gehörlos studieren in Bayern – Exploration des Forschungsfeldes aus Sicht inklusionsorientierter Hochschulen" an der Hochschule Landshut. Arbeitsschwerpunkte: Gebärdensprachdolmetschen, Gebärdensprachlinguistik, Teilhabeforschung Kontakt: [email protected] Böhm, Carmen (M.A.) Klinische Sozialarbeit, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Gehörlos studieren in Bayern – Exploration des Forschungsfeldes aus Sicht inklusionsorientierter Hochschulen“, Lehrbeauftragte der Studiengänge Soziale Arbeit und Gebärdensprachdolmetschen. Arbeitsschwerpunkte: Teilhabeforschung, qualitative Forschungsmethoden, Deaf Studies und Disability Studies. Kontakt: [email protected] Dannenbeck, Clemens, Prof. Dr., lebt in München, Diplom-Soziologe, promovierte 2002 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Von 1989 bis 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Jugendinstitut (DJI). Seit 2002 Professor für Soziologie und Sozialwissenschaftliche Methoden und Arbeitsweisen in der Sozialen Arbeit an der Hochschule Landshut, University for Applied Sciences, Fakultät Soziale Arbeit. Beauftragter der Hochschule für die Belange von Studierenden mit Behinderung und chronischer Erkrankung sowie für Diversität. Mitentwicklung und Aufbau der Studiengänge Gebärdensprachdolmetschen (BA) und "Soziale Arbeit: Diversität gestalten" (MA). Gründungsmitglied des Instituts Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung (IKON) an der Hochschule Landshut. Mitglied in den Herausgeberkreisen von Gemeinsam Leben. Zeitschrift für Inklusion, Inklusion-Online. Zeitschrift für Inklusion sowie im Beirat von Teilhabe. Die Fachzeitschrift der Lebenshilfe. Arbeitsschwerpunkte in Forschung und Lehre: Inklusionsforschung, Disability Studies, Bildungspolitik, Rassismuskritik, Kritische Soziale Arbeit. Engagiert in der transprofessionellen inklusionsorientierten Fort-, Aus- und Weiterbildung. Kontakt: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 B. Thiessen et al. (Hrsg.), Sozialer Wandel und Kohäsion, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25765-1

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Autorinnen und Autoren

Fischer, Ute, Prof. Dr. rer. pol., Diplom-Volkswirtin und –Soziologin, Professorin für Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Dortmund, Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften. Mitbegründerin der Initiative "Freiheit statt Vollbeschäftigung". Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des "Netzwerk Grundeinkommen". Sprecherin des Runden Tisches gegen Gewalt und Rassismus in Unna. Arbeitsschwerpunkte: Sozialpolitik, Bedingungsloses Grundeinkommen, Gender, Arbeit, Professionalität, Anerkennung und Lebenssinn sowie Demokratieentwicklung und Partizipation. Kontakt: [email protected] Henningsen, Anja, Prof. Dr., promovierte 2008 bis 2012 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel in der Fachrichtung „Sexualpädagogik“. Seit 2013 ist sie Juniorprofessorin am Institut für Pädagogik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Sie ist Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Sexualpädagogik und Mitglied des beratenden Fachgremiums der BZgA Kampagne "Trau Dich!" Arbeitsschwerpunkte:Theorie der Sexualpädagogik, Gewaltprävention, Professionalisierungstheorien, Ethik und Moral, Medien und Pornografie und Pädagogik der Vielfalt. Kontakt: [email protected] Keller, Jan, Prof. Dr. phil., seit 2000 Professor für Soziologie an der Fakultät für Sozialwissenschaften, der Universität Ostrava. Er doziert unter anderem regelmäßig an den Universitäten von Lille, Poitiers, Trient und Barcelona. Tätigkeitsbereiche: Geschichte der Soziologie, soziologische Theorie mit Schwerpunkt auf relevanten Aspekten der sozialen Arbeit, sozialer Kontext von ökologischen Problemen, Soziologie der Organisation. Kontakt: [email protected] Knauer, Veronika, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Interdisziplinäre Studien und Lehrbeauftragte an der Fakultät für Soziale Arbeit der Hochschule für angewandte Wissenschaften Landshut. Arbeitsschwerpunkte: rassismuskritische sowie macht- und herrschaftskritische Perspektiven auf die Migrationsgesellschaft. Kontakt: [email protected] Prasad, Nivedita, Prof. Dr. phil., Professorin für Handlungsmethoden Sozialer Arbeit und genderspezifische Soziale an der Alice Salomon Hochschule in Berlin, wo sie u.a. den Masterstudiengang "Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession" leitet. Herausgeberin des Bandes: Soziale Arbeit mit Geflüchteten. Rassismuskritisch, professionell, menschenrechtsorientiert. Kontakt: [email protected]

Autorinnen und Autoren

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Pries, Ludger, Prof. Dr., ist Professor für Soziologie an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind (international vergleichende) Organisations- und Arbeitssoziologie, Migrationssoziologie, Transnationalisierungsforschung. Von 2011 bis 2015 war er Mitglied und stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Migration und Integration. Von 2015 bis 2017 war er Inhaber des Wilhelm-und-Alexander-von-Humboldt-Lehrstuhls an El Colegio de México in Mexiko-Stadt. Kontakt: [email protected] Rudolph, Clarissa, Prof. Dr. phil. habil, Politikwissenschaftlerin. Professorin für Politikwissenschaft und Soziologie an der OTH Regensburg. Leiterin der Forschungsprojekte „Arbeitsbedingungen und Interessenvertretung von Pflegekräften in Bayern“ (Bayerischer Forschungsverbund ForGenderCare, 2015-2019) und „MINT-Strategien 4.0 – Strategien zur Gewinnung von Frauen für MINT-Berufe an Hochschulen für angewandte Wissenschaften“ (BMBF, 2017-2020). Mitherausgeberin der Buchreihe „Arbeit, Demokratie, Geschlecht“ beim Westfälischen Dampfboot Verlag. Aktuelle Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, Gender und Care, soziale Ungleichheiten, Gleichstellungspolitik, Rechtsextremismus, Bildungspolitik. Kontakt: [email protected] Thiessen, Barbara, Prof. Dr. phil., Dipl. Sozialpädagogin und Supervisorin, Professorin für Gendersensible Soziale Arbeit an der Hochschule Landshut, Leiterin des Instituts Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung (IKON), Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA); Arbeitsschwerpunkte: Genderdynamiken in intersektioneller Perspektive, Gender und Care im Kontext sozialer Ungleichheitslagen und Migration, Familie und Familienpolitik im sozialen Wandel, Professionalisierung in personenbezogenen Dienstleistungen. Kontakt: [email protected] Tuider, Elisabeth, Prof. Dr. phil., Magister Pädagogik/Psychologie Hauptuniversität Wien, Dr. phil. an der Univ. Kiel, seit 2011 Professur für Soziologie der Diversität am Fachbereich Gesellschaftswissenschaft der Universität Kassel; Sprecherin der Fachgruppe Soziologie; Vorstandsmitglied der Fachgesellschaft Geschlechterstudien; im Redaktionsteam des Sozialmagazins beim BeltzJuventa Verlag; Arbeitsschwerpunkte: gender- und queer-studies, postcolonial- und cultural-studies, Migrations- und Rassismusanalyse, Lateinamerikaforschung, Qualitative Methodendebatten (insbes. Diskursanalyse und Biographieforschung), Vielfalt von Lebensweisen, Sexualisierte Gewaltforschung. Kontakt: [email protected]

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Autorinnen und Autoren

Voigts, Gunda, Prof. Dr. phil., Dipl-Päd.Professorin für Grundlagen und Theorien Sozialer Arbeit sowie Theorie und der Praxis der Kinder- und Jugendarbeit an der HAW Hamburg, MItglied der Kommission des 15. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung, MItglied der Niedersächsischen Kinderkommission, Vertrauensdozentin der Hans-Böckler-Stiftung. Arbeitsschwerpunkte: Kinder- und Jugendforschung, Kinder- und Jugendhilfe, Kinderund Jugendarbeit, Inklusion, Partizipation von jungen Menschen, Organisation Sozialer Arbeit, Kinder- und Jugendpolitik, Kinderrechte. Kontakt: [email protected]

Wolff, Mechthild, Prof. Dr. phil., Magister Artium (M.A.) Erziehungswissenschaft, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Evangelische Theologie, Professorin für erziehungswissenschaftliche Aspekte Sozialer Arbeit, Studiengangsleiterin des BA-Studiengangs Soziale Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe, Leiterin der Forschungsgruppe „Kinderschutz in Institutionen“ an der Hochschule Landshut. Sprecherin der Lehrbuchreihe „Studienmodule Soziale Arbeit“ bei Beltz Juventa, Mitglied des Beirats beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM). Arbeitsschwerpunkte: Erziehungswissenschaftliche Grundlagen, Kinder- und Jugendhilfe, Beteiligung und Schutz als pädagogische Grundprämissen, Schutzkonzepte und Kinderschutz in Organisationen. Kontakt: [email protected]