Soziale Kohäsion und gesellschaftliche Wandlungsprozesse: Herausforderungen für die Profession Soziale Arbeit [1. Aufl.] 978-3-658-25758-3;978-3-658-25759-0

Dieses Buch zeigt auf, wie sich gesellschaftliche Wandlungsprozesse auf soziale Kohäsion auswirken. Dabei wird der Blick

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German Pages VI, 199 [199] Year 2019

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Soziale Kohäsion und gesellschaftliche Wandlungsprozesse: Herausforderungen für die Profession Soziale Arbeit [1. Aufl.]
 978-3-658-25758-3;978-3-658-25759-0

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VI
Herausforderungen für die Profession Soziale Arbeit im Spannungsfeld sozialer Kohäsion und gesellschaftlicher Wandlungsprozesse. Eine Einführung (Stefan Borrmann, Christoph Fedke, Barbara Thiessen)....Pages 1-7
Die Verfügbarkeit von Unterstützung durch soziale Netzwerke: Soziale Kohäsion im regionalen, zeitlichen und internationalen Vergleich (Dominique Moisl)....Pages 9-37
Lebensqualität als normative Zielvorstellung sozialer Kohäsion? Zentrale human- und sozialwissenschaftliche Theorieansätze im Überblick (Christian Spatscheck)....Pages 39-55
Förderung der sozialen Kohäsion aus rechtswissenschaftlicher Sicht. Bringt der Wandel von Ehe und Familie neue Anforderungen an das Familien- und Sozialrecht? (Bettina Kühbeck)....Pages 57-76
Soziale Kohäsion als normatives Ziel? Soziale Probleme und ihre Bearbeitung durch Akteure der Sozialen Arbeit (Stefan Borrmann)....Pages 77-87
Arbeitszufriedenheit von Sozialarbeitern: Konzepte, Strukturen und Faktoren des beruflichen Wohlbefindens von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen in sozialen Diensten (Andreas Baldschun)....Pages 89-104
Risiken des Machtmissbrauchs in Organisationen Sozialer Arbeit. Zur Notwendigkeit einer machtreflektierten professionellen Beziehungsarbeit (Mechthild Wolff)....Pages 105-115
Neue Akteure in der Sozialen Arbeit durch rechtliche Reformen. Das Beispiel Kinderschutz und die „insoweit erfahrene Fachkraft“ (Sigrid A. Bathke)....Pages 117-140
Soziale Unterstützung bei alkoholabhängigen Menschen. Die Perspektive Klinischer Sozialarbeit. (Katrin Liel)....Pages 141-158
Die Pflegearbeit von Angehörigen im Care-Regime „Demenz“ (Hubert Beste, Anja Wiest)....Pages 159-175
Normalität und Verstrickung. Über die Notwendigkeit einer rassismuskritischen Sozialen Arbeit (Veronika Knauer)....Pages 177-195
Back Matter ....Pages 197-199

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Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung

Stefan Borrmann · Christoph Fedke Barbara Thiessen Hrsg.

Soziale Kohäsion und gesellschaftliche Wandlungsprozesse Herausforderungen für die Profession Soziale Arbeit

Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung Reihe herausgegeben von Sigrid Bathke, Landshut, Deutschland Uta Benner, Landshut, Deutschland Hubert Beste, Landshut, Deutschland Stefan Borrmann, Landshut, Deutschland Clemens Dannenbeck, Landshut, Deutschland Dominique Moisl, Landshut, Deutschland Karin-Elisabeth Müller, Landshut, Deutschland Mihri Özdogan, Landshut, Deutschland Barbara Thiessen, Landshut, Deutschland Mechthild Wolff, Landshut, Deutschland Eva Wunderer, Landshut, Deutschland

Soziale Ungleichheit bezeichnet ein zentrales gesellschaftliches Phänomen, das mit der Entwicklungsgeschichte der Sozialen Arbeit und anderer Sozialwissenschaften untrennbar verbunden ist. Spätestens mit dem Aufkommen des modernen Industriekapitalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der gesellschaftspolitische Hintergrund geschaffen, auf dem sich Soziale Arbeit als Organisationsinstanz entsprechender Hilfen und Unterstützungsleistungen herausbilden konnte. Während in der fordistischen Phase der Nachkriegsgeschichte die Auswirkungen der Polarisierungsprozesse in den unteren Segmenten der Gesellschaft noch einigermaßen hinreichend abgefedert werden konnten, treten die Konsequenzen dieser „gespaltenen Moderne“ in der neoliberalen Ära immer deutlicher zu Tage. Für die Sozialwissenschaften ist damit ein verstärkter theoretischer wie empirischer Forschungsaufwand verbunden, um die Folgen dieser sozialpolitischen Verwerfungen besser verstehen und darstellen zu können. Das Institut „Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung (IKON)“ legt seinen Fokus einerseits auf die Eruierung dieser tiefgreifenden strukturellen Transformationsprozesse, um andererseits aber auch gesellschaftliche Kohäsionsmomente herausarbeiten zu können, die den zunehmenden Spaltungsprozessen entgegen wirken können. Zentral ist dabei die Analyse der Stärkung von Teilhabe und Lebensbewältigungskompetenzen. So vielfältig wie die zu bearbeitenden Problemstellungen fallen die sozialen Felder aus, in denen kohäsionsbezogene Alternativen zu erforschen sind. Dazu gehören beispielhaft die Kinder- und Jugendhilfe, die Herausforderungen der Pflege und Gesundheitsförderung, die Analyse von Geschlechterverhältnissen und Care sowie Formen der Arbeitsteilung im Kontext von Familie und Beruf, die intersektoralen Prozesse sozialer Ausschließung im Bereich abweichenden Verhaltens und sozialer Kontrolle, die Fragen der Integration, der Inklusion/ Exklusion und Migration sowie der Bereich der betrieblichen Restrukturierung und des demographischen Wandels. „Kohäsion“ bedeutet so verstanden immer auch die Suche nach gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten jenseits von eindimensionalen Kausalitäten. Die grundsätzliche Möglichkeit und das grundlegende Erfordernis einer Gestaltbarkeit von Gesellschaft stehen daher im Vordergrund der maßgeblichen wissenschaftlichen Anstrengungen, die sich auch durch eine Ausrichtung auf externe gesellschaftliche Zwecksetzungen auszeichnen und fachliche Debatten anregen wollen. IKON verfolgt insoweit eine Forschungsprogrammatik, die auf eine etablierte und auch selbstverständliche Forschungspraxis auf dem Gebiet der Hochschulen für angewandte Wissenschaften abzielt, auch um ihre gesellschaftliche Stellung und strategische Gewichtung weiter zu konsolidieren. Zu betonen ist dabei eine Eigenständigkeit und Selbstverantwortung von Forschung. Denn gerade die immer noch wachsenden allgemeinen Ansprüche an die Regulierungsfähigkeit und Steuerungskraft des sozialen Bereichs machen eine entsprechende Grundlegung, die maßgeblich durch empirische Forschung ausgeformt wird, schlicht unverzichtbar.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16176

Stefan Borrmann · Christoph Fedke · Barbara Thiessen (Hrsg.)

Soziale Kohäsion und gesellschaftliche Wandlungsprozesse Herausforderungen für die Profession Soziale Arbeit

Hrsg. Stefan Borrmann Fakultät Soziale Arbeit Hochschule Landshut Landshut, Deutschland

Christoph Fedke Hochschule Landshut Landshut, Deutschland

Barbara Thiessen Fakultät Soziale Arbeit Hochschule Landshut Landshut, Deutschland

Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung ISBN 978-3-658-25759-0  (eBook) ISBN 978-3-658-25758-3 https://doi.org/10.1007/978-3-658-25759-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis 1

Herausforderungen für die Profession Soziale Arbeit im Spannungsfeld sozialer Kohäsion und gesellschaftlicher Wandlungsprozesse. Eine Einführung .................................................................................................... 1 Stefan Borrmann, Christoph Fedke, Barbara Thiessen

2

Die Verfügbarkeit von Unterstützung durch soziale Netzwerke: Soziale Kohäsion im regionalen, zeitlichen und internationalen Vergleich .............. 9 Dominique Moisl

3

Lebensqualität als normative Zielvorstellung sozialer Kohäsion? Zentrale human- und sozialwissenschaftliche Theorieansätze im Überblick ............ 39 Christian Spatscheck

4

Förderung der sozialen Kohäsion aus rechtswissenschaftlicher Sicht. Bringt der Wandel von Ehe und Familie neue Anforderungen an das Familien- und Sozialrecht? ......................................................................... 57 Bettina Kühbeck

5

Soziale Kohäsion als normatives Ziel? Soziale Probleme und ihre Bearbeitung durch Akteure der Sozialen Arbeit ......................................... 77 Stefan Borrmann

6

Arbeitszufriedenheit von Sozialarbeitern: Konzepte, Strukturen und Faktoren des beruflichen Wohlbefindens von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen in sozialen Diensten .................................................... 89 Andreas Baldschun

7

Risiken des Machtmissbrauchs in Organisationen Sozialer Arbeit. Zur Notwendigkeit einer machtreflektierten professionellen Beziehungsarbeit ...................................................................................... 105 Mechthild Wolff

VI

Inhaltsverzeichnis

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Neue Akteure in der Sozialen Arbeit durch rechtliche Reformen. Das Beispiel Kinderschutz und die „insoweit erfahrene Fachkraft“ ................ 117 Sigrid A. Bathke

9

Soziale Unterstützung bei alkoholabhängigen Menschen. Die Perspektive Klinischer Sozialarbeit. .................................................. 141 Katrin Liel

10 Die Pflegearbeit von Angehörigen im Care-Regime „Demenz“ .............. 159 Hubert Beste, Anja Wiest 11 Normalität und Verstrickung. Über die Notwendigkeit einer rassismuskritischen Sozialen Arbeit ......................................................... 177 Veronika Knauer

Herausforderungen für die Profession Soziale Arbeit im Spannungsfeld sozialer Kohäsion und gesellschaftlicher Wandlungsprozesse. Eine Einführung Stefan Borrmann, Christoph Fedke, Barbara Thiessen

1

Einleitung

Der vorliegende zweite Band der Buchreihe des interdisziplinären Forschungsinstituts IKON widmet sich den Auswirkungen, die sich durch das Spannungsverhältnis von gesellschaftlichen Wandlungsprozessen und dem Streben nach sozialer Kohäsion für die Profession Soziale Arbeit ergeben. Damit wird das Verhältnis von Sozialer Arbeit und den sie umgebenden und sie formenden Rahmenbedingungen in den Mittelpunkt gerückt. Diese Einführung soll den im Buch vertretenen Beiträgen eine inhaltliche Rahmung geben und diese in den übergreifenden Themenfeldern des IKON verorten. 2

Soziale Kohäsion und gesellschaftliche Wandlungsprozesse

Mit der Proklamation von social cohesion hat die EU bereits seit Beginn der 1990er Jahre die europäische Sozial- und Wohlfahrtsstaatspolitik neu ausgerichtet (Berger-Schmitt 2002). Seinen Niederschlag hat dies nicht nur in zahlreichen Publikationen und Ausschreibungen der europäischen Institutionen gefunden – etwa beim EU-Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020, sondern auch in den ganz unterschiedlichen nationalstaatlichen Bestrebungen der europäischen Länder. Sozialen Zusammenhalt herzustellen ist ein übergreifendes Anliegen, das eine gesellschaftliche Aufgabe definiert. Diese Aufgabe ist nicht neu. Die Frage, was einen gesellschaftlichen Zusammenhalt herstellt, wurde schon lange diskutiert und die Antworten variieren je nach zu Grunde liegendem sozialpolitischem Paradigma deutlich. Neu sind hingegen die Bestrebungen, die Antworten in einem europäischen Kontext zu synchronisieren und nach gemeinsamen Antworten zu suchen. Diesem Schritt liegt die Erkenntnis zu Grunde, dass sich bei aller Unterschiedlichkeit der europäischen Staaten, diese ganz ähnlichen Herausforderungen stellen müssen. Die Antwort auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse ähnelt sich dabei stärker, als die nationalstaatlichen Differenzen suggerieren. Zudem wäre es © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Borrmann et al. (Hrsg.), Soziale kohäsion und gesellschaftliche Wandlungsprozesse, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25759-0_1

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Stefan Borrmann, Christoph Fedke, Barbara Thiessen

ein Fehler, wenn die Herausforderungen ohne die normativen Konsequenzen betrachtet würden. Eine hohe Arbeitslosenquote in Spanien mag auf den ersten Blick nicht viel mit den demographischen Problemen Deutschlands zu tun haben. Und doch ergeben sich mit Blick auf die normative Konsequenz für eine Gesellschaft ganz ähnliche Zielrichtungen. Soziale Kohärenz ist in beiden Fällen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, herausgefordert. Eine perspektivlose Jugend verlangt unter Umständen nach ganz ähnlichen Antworten wie eine Überalterung der Gesellschaft. Die gemeinsam sich ergebene Herausforderung ist die den gesellschaftlichen Zusammenhalt sprengende Frage der intergenerationellen Ressourcenverteilung. Auch für die Profession Soziale Arbeit ist die Frage nach sozialer Kohäsion als normative Zielsetzung sozialarbeiterischen Handelns nicht neu. Allerdings hat deren Bedeutung in den letzten zwei Jahren in der internationalen Diskussion deutlich zugenommen, seit dieser Bezug 2014 in die Global Definition of Social Work der IFSW aufgenommen wurde. Dort heißt es: „Social work is a practice-based profession and an academic discipline that promotes social change and development, social cohesion, and the empowerment and liberation of people“ (IFSW 2014). Mit dieser Formulierung – zudem in dieser Reihenfolge der Aufzählung – wurde gesellschaftlicher Zusammenhalt als eine zentrale Aufgabe der Sozialen Arbeit benannt. 3

Herausforderungen für die Soziale Arbeit

Für Soziale Arbeit im 21. Jahrhundert zeigen sich diese Konsequenzen oft ganz unmittelbar. So ist Soziale Arbeit oft eine Art Problemanzeiger, denn die Individuen herausfordernden Krisen stehen in direktem Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen und den angestrebten normativen Zielvorstellungen. Für Soziale Arbeit hat dies Konsequenzen auf mindestens drei Ebenen, die zugleich auch die Gliederung des vorliegenden Buches ergeben. Zum Einen stellen sich interprofessionelle Herausforderungen, die Soziale Arbeit in ihrem immanenten Spannungsverhältnis zu ihren Bezugswissenschaften auf der disziplinären Ebene (z.B. Soziologie, Psychologie) und zu den mit Sozialer Arbeit zusammenarbeitenden anderen Handlungswissenschaften (z.B. Jura, Medizin) auf der professionellen Ebene verorten. Aus dieser Perspektive wird Soziale Arbeit als Disziplin und Profession im Zusammenspiel mit anderen Sozial- und Geisteswissenschaften betrachtet. Denn die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse haben eben nicht nur Konsequenzen für die Soziale Arbeit, sondern betreffen alle Disziplinen und Professionen, die sich mit diesen Wandlungsprozessen und ihren Folgen befassen. In diesem ersten Teil des Sammelbandes soll dieses Verhältnis näher bestimmt werden.

Eine Einführung

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Zum Zweiten muss der Blick um eine intraprofessionelle Perspektive erweitert werden. Denn die Konsequenzen der Wandlungsprozesse und soziale Kohäsion als perspektivische Zielrichtung haben auch Folgen für Soziale Arbeit als Profession und Disziplin selbst. In diesem zweiten Teil des Buches wird also der Blick nach innen gerichtet. Diese zweite Perspektive ist es, die mit dem Verweis auf die Global Definition of Social Work angesprochen wurde. Und zum Dritten soll im letzten Teil dieser „innere Blick“ exemplarisch auf spezifische Themenfelder der Sozialen Arbeit und ihrer methodischen Herangehensweise an die Bearbeitung von Problemlagen gerichtet werden. In diesen Beiträgen wird also beispielhaft verdeutlicht, was die normative Zielrichtung der Herstellung von sozialer Kohäsion ganz konkret in der Praxis der Sozialen Arbeit bedeuten kann. Dabei zeigt sich, dass dies oft in den real zu bearbeitenden Problemfeldern auf den ersten Blick gar nicht als ein Herstellen von sozialer Kohäsion gesehen wird. Erst der zweite Blick zeigt diesen Zusammenhang. 4

Skizzierung der Einzelbeiträge

Eröffnet wird der erste Teil mit einem Beitrag von Dominique Moisl, der in einem regionalen, zeitlichen und internationalen Vergleich empirisch aufzeigt, wie sich die Unterstützung durch soziale Netzwerke für Menschen in Problemlagen wandelt. In dem Beitrag Die Verfügbarkeit von Unterstützung durch soziale Netzwerke: Soziale Kohäsion im regionalen, zeitlichen und internationalen Vergleich wird exemplarisch anhand der Problemsituationen „Unterstützung bei Grippe“ (also einem gesundheitlichen Problem), Unterstützung bei finanziellen Notsituationen (also einem strukturell sozialem Problem) sowie Unterstützung bei Niedergeschlagenheit (also einem psychosozialen Problem) aufgezeigt, dass sich soziale Netzwerke zeitlich, räumlich und im europäischen Ländervergleich unterschiedlich darstellen. Dieser Problemaufriss fordert Soziale Arbeit mit Blick auf das Herstellen von sozialer Kohäsion heraus. Denn dort, wo die sozialen Netzwerke nicht (mehr) funktionieren, muss Soziale Arbeit oft stellvertretend aktiv werden und diese „Unterstützungslücke“ füllen. Dem zweiten einführenden Beitrag von Christian Spatscheck fällt im Anschluss die Aufgabe zu, soziale Kohäsion als Gegenstand der Sozial- und Humanwissenschaften durch das Konzept der Lebensqualität normativ zu spezifizieren. In dem Beitrag Lebensqualität als normative Zielvorstellung sozialer Kohäsion. Ein Überblick über zentrale Human- und Sozialwissenschaftliche Theorieansätze stellt er den internationalen Forschungsstand zu Lebensqualität dar. Darin führt er in drei Teilen aus, dass Lebensqualität und Wohlbefinden seit einigen Jahren als Diskursfelder eine zunehmende Popularität erlangt haben, dass es zahlreiche unterschiedliche sozialwissenschaftliche Theorieansätze gibt, die sich mit diesen

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Stefan Borrmann, Christoph Fedke, Barbara Thiessen

Themen befassen und erläutert, warum dies ein Bezugsmodell für Soziale Arbeit sein kann. Damit ist also die Zielperspektive von Sozialer Arbeit, aber auch anderen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen, normativ bestimmt. Nach diesem Überblick über eine Vielzahl von disziplinären Blickwinkeln auf soziale Kohäsion unter der theoretischen Perspektive wird im Anschluss eine bezugswissenschaftliche Verortung vorgenommen. Bettina Kühbeck stellt die Förderung der Kohäsion aus rechtswissenschaftlicher Sicht in das Blickfeld und fragt, ob der gesellschaftliche Wandel von Ehe und Familie auch neue Anforderungen an das Familien- und Sozialrecht stellt. Dabei wird deutlich, dass das Recht keineswegs die tatsächlich vorfindbaren Lebenssituationen und -wirklichkeiten von Menschen in unserer Gesellschaft abdeckt, sondern dass hier ein komplexes Wechselverhältnis besteht. Bettina Kühbeck zeigt dies beispielhaft am Begriff der Ehe und Familie und es lässt erkennen, dass z.B. gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften oder Patchworkfamilien mittlerweile eine solche gesellschaftliche Normalität besitzen können, dass der Gesetzgeber und die Rechtsprechung diese anerkennen und sich die Rechtsprechung bzw. die Gesetze entsprechend ändern. Diese bezugswissenschaftliche Perspektive zeigt exemplarisch die Bedeutung der Rolle von Sozialer Arbeit mit Blick auf soziale Kohäsion. Denn oft wird die gesellschaftliche Komponente allein der Sozialpolitik zugeschrieben und Soziale Arbeit auf die individuelle Hilfe reduziert. Dies spiegelt jedoch in keiner Weise die historisch-theoretische Tradition der Sozialen Arbeit wider. Und oft werden die normativen Rahmenbedingungen der Sozialen Arbeit auf den gesetzlichen Rahmen reduziert und es wird ausgeblendet, dass dieser durch Gesetzesänderungen und eine veränderte Rechtsprechung genauso auf die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse reagiert, wie es die Soziale Arbeit im methodischen und problemlösenden Bereich tut. Nur eben oft zeitlich nachgelagert, wie der Beitrag von Bettina Kühbeck nahelegt. Entsprechend argumentiert auch Stefan Borrmann in seinem Beitrag Soziale Kohäsion als normatives Ziel? Soziale Probleme und ihre Bearbeitung durch die Soziale Arbeit, der den zweiten Teil der Publikation markiert. Hier stehen die intraprofessionellen Aspekte von sozialer Kohäsion im Mittelpunkt und entsprechend wird der Blick auf die Profession selbst gerichtet. Stefan Borrmann argumentiert, dass es kein Widerspruch ist, wenn sich Soziale Arbeit auf soziale Kohäsion als Gegenstandsbereich bezieht, denn diese ist im gewissen Sinne die Umkehr des Gegenstandsbereichs der Sozialen Arbeit über soziale Probleme ins Positive. Damit wird soziale Kohäsion zum normativen Begleiter der sozialen Probleme. Diese Position wird auch historisch hergeleitet und findet ihre aktuelle Entsprechung in der schon benannten Global Definition of Social Work. Der Blick nach innen wird mit dem Beitrag von Andreas Baldschun fortgesetzt, der sich die Situation der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter selbst an-

Eine Einführung

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sieht. In einer empirischen Studie hat er sich mit der Frage befasst, was Wohlbefinden im Sinne einer Arbeitszufriedenheit bei Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern ausmacht. Unter dem Titel Arbeitszufriedenheit von Sozialarbeitern. Konzepte, Strukturen und Faktoren des beruflichen Wohlbefindens von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern in sozialen Diensten geht er der These nach, dass eine hohe Arbeitszufriedenheit zur Qualität sozialer Dienstleitungen beitragen kann. Gelingende Soziale Arbeit in diesen Settings kann dann auch zu einer verbesserten gesellschaftlichen Situation führen. Der letzte Beitrag in diesem Teil des Sammelbandes wird von Mechthild Wolff beigesteuert. Auch hier geht es um die Steigerung der Qualität der Sozialen Arbeit. Allerdings ist es die Aufarbeitung der Missstände im Handeln von Sozialarbeiterinnen, Sozialarbeitern, Pädagoginnen und Pädagogen, die sie in dem Artikel Risiken des Machtmissbrauchs in Organisationen Sozialer Arbeit – zur Notwendigkeit einer machtreflektierten professionellen Beziehungsarbeit aufgreift. Wenn es der Sozialen Arbeit gelingt, aus Fehlern zu lernen und Strukturen und Mechanismen zu entwickeln, dann kann dies dazu beitragen, dass Soziale Arbeit den sich ihr in Zukunft stellenden Herausforderungen besser gewachsen ist und die im ersten Teil des Buches beschriebenen normativen Zielrichtungen besser umsetzen kann. Im dritten und letzten Teil werden exemplarisch die Auswirkungen von sozialen Wandlungsprozessen in einzelnen Arbeits- und Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit fokussiert. Als Ausgangsthese dieses Teils kann gelten, dass die Arbeits- und Handlungsfelder der Sozialen Arbeit sich nachgelagert den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen anpassen müssen. Es gibt in diesem Kontext keine Konstante im Handeln außer man bezieht sich auf die ständige Adaption von neuen Methoden, Arbeitsweisen und Techniken, die einerseits durch veränderte Problemlagen der Klientinnen und Klienten und andererseits durch sich veränderte (professionelle) Rahmenbedingungen provoziert werden. Entsprechend bezieht sich Sigrid Bathke im ersten Beitrag Neue Akteure in der Sozialen Arbeit durch rechtliche Reformen. Das Beispiel Kinderschutz und die „insoweit erfahrende Fachkraft“ auf diese stetigen Wandlungsprozesse. Am Beispiel Kinderschutz zeigt sie auf, dass durch externe Faktoren – nämlich rechtliche Rahmenbedingungen – neue Akteure im Bereich der Sozialen Arbeit auftreten. Dies ist eine direkte Folge von sozialen Wandlungsprozessen, die soziale Probleme sichtbarer machen, der rechtlichen Reaktion darauf und den sich anpassenden Strukturen der Sozialen Arbeit. Damit wird deutlich, dass Soziale Arbeit als Profession nicht nur fachlich inhaltlich reagiert, sondern diese Herausforderungen auch geeignet sind, die Strukturen der Sozialen Arbeit zu verändern. Im zweiten Beitrag befasst sich Katrin Liel mit der Sozialen Unterstützung bei alkoholabhängigen Menschen und stellt dabei die Perspektive der Klinischen

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Stefan Borrmann, Christoph Fedke, Barbara Thiessen

Sozialarbeit durch die Ergebnisse einer empirischen Studie vor. Am Beispiel dieser Adressat_innengruppe wird die doppelte Funktion sozialer Kohäsion aufgezeigt. Dort, wo die soziale Unterstützung fehlt und Menschen dies als dysfunktional empfinden, führt diese zu einer deutlichen Verschlechterung der sozialen Eingebundenheit und der Verstärkung der Probleme der Alkoholabhängigkeit. Auf der anderen Seite ist eine vorhandene soziale Unterstützung ein Garant dafür, dass sich die Lebenssituation dieser Menschen verbessert. Aufgabe der Sozialen Arbeit muss es deshalb sein, dass sie Menschen darin begleitet sich soziale Unterstützungsmöglichkeiten wieder zu erschließen. Und nichts anderes ist auch der Versuch, soziale Kohäsion auf professioneller Ebene zu fördern. Damit wird das Herstellen von dieser auch zu einer methodischen Aufgabe der Sozialen Arbeit. Auch der Beitrag von Hubert Beste und Anja Wiest verweist auf diesen Zusammenhang. Unter dem Titel Die Pflegearbeit von Angehörigen im Care-Regime „Demenz“ wird verdeutlicht, dass ein Fehlen von Netzwerken für Betroffene schwerwiegende Folgen haben kann und dass dieser Mangel auch die Angehörigen der Demenzkranken und das lokale Gemeinwesen betreffen. Hubert Beste und Anja Wiest zeigen auf, dass es Netzwerke braucht, die dann als Grundpfeiler des Herstellens von sozialem Zusammenhalt in ländlichen Gebieten fungieren. Der letzte Beitrag stammt von Veronika Knauer, die über die Notwendigkeit einer rassismuskritischen Sozialen Arbeit schreibt. Sie rückt dabei die Verstrickungen der Praxis der Sozialen Arbeit in den Blickpunkt, wenn diese durch eine unreflektierte Übernahme von gesellschaftlich vorhandenen rassistischen Stereotypen dazu beiträgt, das eigentlich zu bearbeitende Problem zu verschlimmern, anstatt es zu lindern. Hier wird also der Blick auf ein reflektiertes methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit gelenkt. Nur so kann Soziale Arbeit den Anspruch an die eigene Wirkmächtigkeit, die in Erklärungen wie der Global Definition of Social Work suggeriert werden, auch tatsächlich näherkommen. In der Gesamtperspektive zeigt sich, dass gesellschaftliche Wandlungsprozesse komplexe Veränderungsdynamiken bewirken, die zunächst alle Professionen betreffen. Soziale Arbeit zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass hier soziale Verwerfungen in besonderer Weise sichtbar werden. Zudem besteht eine wesentliche Bearbeitungsstrategie darin, soziale Anschlüsse und Netzwerksstrukturen zu fördern, um eine „daseinsmächtige Lebensführung“ (Röh 2013) zu ermöglichen. Soziale Kohäsion erfordert sowohl individuelle Unterstützung als auch eine angemessene Neujustierung struktureller Rahmung. Dieser Doppelperspektive ist Soziale Arbeit in besonderer Weise verpflichtet. Sie ist daher als Profession dafür prädestiniert, interdisziplinäre und multiprofessionelle Abstimmungsprozesse im Kontext der Herstellung und Stabilisierung sozialer Kohäsion zu initiieren und zu begleiten. Hierfür bedarf es jedoch kontinuierlicher (Selbst-)Reflexionsprozesse und begleitender Forschung.

Eine Einführung

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Literatur Berger-Schmitt, R. (2002): Social Cohesion between the Member States of the European Union. Past Developments and Prospects for an Enlarged Union. Czech Sociological Review, Vol. 38, No. 6, S. 721-748. IFSW (2014): Global Definition of Social Work. http://ifsw.org/get-involved/global-definition-of-social-work/. [31.05.2015]. Röh, D. (2013): Soziale Arbeit, Gerechtigkeit und das gute Leben. Eine Handlungstheorie zur daseinsmächtigen Lebensführung. Wiesbaden: Springer Vs.

Die Verfügbarkeit von Unterstützung durch soziale Netzwerke: Soziale Kohäsion im regionalen, zeitlichen und internationalen Vergleich Dominique Moisl

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Einleitung

Sozialer Zusammenhalt wird für den einzelnen Menschen direkt erfahrbar in seinen sozialen Beziehungen. Aus den Beziehungen zu anderen Personen, dem sozialen Netzwerk, schöpfen Menschen wesentliche Ressourcen für ihr Leben. Bourdieu (2012) hat hierfür den Begriff des Sozialkapitals geprägt. Gemeint sind Unterstützungsleistungen wie praktische Arbeitshilfen bei anstehenden Aufgaben, materielle Unterstützung, Informationen und Beratung, aber auch Anerkennung und Zugehörigkeitsbewusstsein, Orientierung für adäquates Verhalten, Geborgenheit sowie Ermutigung in schwierigen Lebenssituationen (vgl. Diewald/ Sattler 2010, S. 691f.). Das soziale Beziehungsgeflecht ist nicht nur für den einzelnen als Ressource von großer Bedeutung, sondern erfüllt auch wichtige gesellschaftliche Funktionen. So sind vertrauensvolle Beziehungen zu Mitmenschen eine zentrale Grundlage für eine gelingende gesellschaftliche Integration. Über soziale Netzwerke wird sowohl Zugehörigkeit vermittelt als auch (positive) soziale Kontrolle ausgeübt, durch die selbst- oder fremdschädigendes Verhalten vermieden wird. Schließlich entlasten die aus sozialen Netzwerken hervorgehenden Unterstützungsleistungen die öffentliche Hand, die ansonsten ggfs. mit wohlfahrtsstaatlichen Leistungen einspringen müsste (vgl. Diewald/ Lüdicke 2007, S. 18ff.). Soziale Netzwerke spielen deshalb seit den 1990er Jahren eine zunehmend wichtige Rolle in der sozialpolitischen und sozialarbeiterischen Diskussion (vgl. Höllinger 1992). So setzt „Sozialraumorientierung“ als Handlungs- und Organisationsprinzip der Sozialen Arbeit ganz explizit auf die Nutzung der Ressourcen in sozialen Netzwerken (vgl. z.B. Hinte/ Kreft 2005). Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat die Warnung vor dem Zerfall sozialer Beziehungen in der kritischen Gesellschaftsanalyse einen festen Platz. Die empirische Sozialwissenschaft beschäftigt sich daher wiederkehrend mit dem Zustand

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Borrmann et al. (Hrsg.), Soziale kohäsion und gesellschaftliche Wandlungsprozesse, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25759-0_2

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Dominique Moisl

menschlicher Sozialbeziehungen.1 Zum Kern der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung gehört dabei die Frage, an wen sich Menschen in bestimmten Problemlagen wenden können. Dieser Kernfrage wird auch im vorliegenden Beitrag nachgegangen. Nach einer kurzen Darstellung der wichtigsten theoretischen Ankerpunkte und Forschungsreferenzen wird auf der Basis empirischer Daten die Frage untersucht, ob es Unterschiede im Unterstützungspotential aus sozialen Beziehungen nach Größe des Wohnortes (Dorf versus Stadt) gibt und inwieweit diesbezüglich Veränderung im Zeitverlauf (1986 und 2002) sowie länderspezifische Unterschiede festzustellen sind. Die empirischen Ergebnisse werden anschließend zusammengeführt und in ihrer theoretischen Aussagekraft bewertet. 2

Theoretischer Hintergrund

Die Forschung zu sozialen Netzwerken ist eng verbunden mit der stadtsoziologischen Forschung und der soziologischen Modernisierungsforschung. Mit zunehmender Urbanisierung ab Beginn des 20. Jahrhunderts wurde begleitend auch die Kritik am großstädtischen Leben immer lauter. Der bekannteste Text der Großstadtkritik trägt den Titel „Urbanism as a way of Life“ und stammt von Louis Wirth (1938). Die darin enthaltenen Argumentationsmuster werden auch heute noch genutzt. Im Kern geht die Großstadtkritik davon aus, dass Großstädte zu einem Verfall sozialer Beziehungen, zu abweichendem Verhalten und zur Vereinzelung der Bewohner_innen führen. In Großstädten fehle die Eingebundenheit, die persönliche Beziehung zu anderen sowie die Sicherheit und soziale Kontrolle einer dörflichen Gemeinschaft. In Folge der Großstadtkritik wurden verschiedene empirische Untersuchungen zu den sozialen Beziehungen von Großstadtbewohner_innen durchgeführt. Die neueren Erkenntnisse lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass sich die städtische Beziehungsstruktur von einer dörflichen Beziehungsstruktur unterscheidet, man jedoch nicht von einer Vereinsamung oder einem Verlust sozialer Beziehungen sprechen kann (vgl. Friedrichs 1995, S. 158ff.). Nach Wellmann/ Carrington/ Hall (1988) lassen sich drei Argumentationstypen zu Stadt-Land-Unterschieden sozialer Beziehungen unterscheiden:2 1.) Community lost: In der Stadt haben Menschen eher flüchtige und oberflächliche Beziehungen. Die Beziehungen im Dorf sind dagegen enger und umfassender.

1

Einen Eindruck von der großen Vielfalt der Themen in diesem Forschungsgebiet vermittelt z.B. der Sammelband von Stegbauer und Häußling (2010) . 2 Entnommen bei Friedrichs 1995, S.154

Die Verfügbarkeit von Unterstützung durch soziale Netzwerke

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2.) Community saved: Großstädte sind eine Ansammlung von Dörfern. In den Vierteln wohnen homogene Personengruppen, die quasi dörfliche Sozialbeziehungen unterhalten. 3.) Community liberated: In der Großstadt findet sich eine neue Struktur sozialer Beziehungen. Der einzelne ist zwar befreit aus alten dörflichen und familiären/verwandtschaftlichen Zwängen, wählt aber selbst neue Bindungen in Form von Freundschaften. Diese finden sich nicht nur im eigenen Viertel, sondern über die ganze Stadt verstreut. Das soziale Netz in der Großstadt ist somit nicht weniger umfassend, sondern weiträumiger und gleichzeitig in größerem Maße frei gewählt. 3

Forschungsreferenzen

Die folgende Untersuchung ist als zeitlich und international vergleichende Studie angelegt. Hierfür dienen zwei Studien als zentrale Referenzen. Böltken (1987) untersuchte in der Studie „Soziale Disparitäten und soziale Netzwerke im regionalen Vergleich“ auf Basis der Allbus-Daten 1986 regionale Muster von Unterstützungspersonen. Seine Vorgehensweise und Erkenntnisse stellen die zentrale Forschungsreferenz dar. Seine Analyseergebnisse des Allbus 1986 werden direkt mit den entsprechenden eigenen Analysen der Allbus-Daten von 2002 verglichen. Betrachtet wurde, inwieweit Befragte in unterschiedlichen Problemlagen verschiedene Personengruppen (Ehepartner_innen, Verwandte, Nachbar_innen, Freund_innen, etc.) als potentielle Helfer_innen wahrnehmen. Dabei stellte er fest, dass die Familie unabhängig von der Ortsgröße die zentrale Anlaufstelle für Unterstützungsleistungen darstellt. In größeren Städten wird bei Unterstützungsbedarf jedoch stärker als in kleineren Orten auch auf den Freundeskreis zurückgegriffen. Nachbar_innen haben grundsätzlich eine relativ geringe Bedeutung und noch geringer ist die Bedeutung institutionalisierter Hilfeangebote. Auch zeigte sich nicht, dass Hilfelosigkeit, d.h. das Fehlen von Ansprechpartner_innen bei Unterstützungsbedarf, ein genuin großstädtisches Problem wäre. Zweite, eher indirekte Forschungsreferenz ist die international vergleichende Studie von Höllinger (1989) auf der Basis derselben Allbus-Daten bzw. der entsprechenden internationalen ISSP-Daten. Es wurden soziale Netzwerke in sieben Ländern anhand unterschiedlicher Merkmale verglichen. 3 Für die Erklärung der Netzwerkunterschiede wurden eine ganze Reihe von Faktoren der sozio-ökonomischen Entwicklung der Länder, z.B. Industrialisierung und Urbanisierung, sowie 3

Den hier im Mittelpunkt stehenden Zusammenhang zwischen Ortsgröße und sozialem Netzwerk erwähnt Höllinger (1989, S. 529) nur in einer Fußnote. Es hätten sich lediglich geringe Effekte gezeigt, die aufgrund der gewählten Methodik der multiplen Klassifikationsanalyse aber kaum interpretierbar seien.

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Dominique Moisl

sozio-kulturelle Faktoren, insbesondere die Entwicklung der Familienstrukturen, herangezogen. Darüber hinaus hat Höllinger (1989, S. 527f.; S. 535f.) zur Erklärung auf eine Studie von Peabody (1985) zurückgegriffen, die bestimmte „nationale Charakteristika“ postuliert. So seien beispielsweise die Sozialbeziehungen der Engländer_innen eher formell und distanziert, diejenigen der Amerikaner_innen eher informell und die Österreicher_innen zeigten eine Tendenz zur sozialen Isolation. Insbesondere letzterer Ansatz lässt die besondere Schwierigkeit der Erklärung internationaler Unterschiede deutlich werden. Die Durchführung einer zeitvergleichenden Untersuchung zu sozialen Netzwerken mit dem Allbus liegt nahe, da entsprechende Daten in 1986 und 2002 erhoben wurden. Eine Publikation, in der die Erkenntnisse aus 1986 mit den neueren Daten repliziert wurden, ist jedoch nicht bekannt. In der Allbus-Bibliografie findet sich lediglich der Hinweis auf eine unveröffentlichte Präsentation zu einem solchen Zeitvergleich von Höllinger (2005) auf einem ISSP-Treffen im Jahr 2005.4 4

Methodische Grundlagen der empirischen Analysen

Bevor im Folgenden die statistischen Analysen zu den Unterstützungsnetzwerken im Mittelpunkt stehen, werden kurz die Datengrundlage, die Gewichtung und die Variablen der Untersuchung dargestellt. 4.1 Datengrundlage Datengrundlage der zeitvergleichenden Analyse für Deutschland ist die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS). 5 Der international vergleichende Untersuchungsteil basiert auf den Daten des International Social Survey Programme (ISSP).6 Beide Erhebungsprogramme hängen dahingehend zusammen, dass die Fragen des ISSP für Deutschland im Rahmen des Allbus erhoben werden.7 Das Themenmodul soziale Netzwerke war Teil des ISSP im Jahr 2001 und wurde für Deutschland im Rahmen des Allbus 2002 erhoben.

4

Der Autor hat per Email bei Franz Höllinger um die Übersendung der Präsentation gebeten, jedoch leider keine Antwort erhalten. 5 Im Allbus werden seit 1980 Einstellungen, Verhaltensweisen und die Sozialstruktur der Bevölkerung in Deutschland als repräsentativer Querschnitt im zweijährigen Turnus erhoben. 6 Das ISSP ist eine internationale Kooperation von aktuell 50 Ländern, die jährlich Daten zu sozialwissenschaftlich relevanten Themen erhebt. 7 Grund für die Verwendung beider Datensätze (Allbus und ISSP) ist, dass für weitere Untersuchungen die jeweils spezifischen Daten der verschiedenen Frageprogramme notwendig waren.

Die Verfügbarkeit von Unterstützung durch soziale Netzwerke

13

4.2 Gewichtungsfaktoren Gewichtungsfaktoren sollen methodische Probleme korrigieren, die die Repräsentativität beeinträchtigen. Für die Auswertung der Allbus-Daten 2002 wurde der mitgelieferte Gewichtungsfaktor verwendet, der die Übergewichtung ostdeutscher Befragter (Oversampling) ausgleicht (vgl. Blohm et al. 2003, S. 55). Für die Auswertung des ISSP 2001 wurde für Deutschland ein entsprechendes Gewicht nach einer Anleitung gebildet, die auf gesis.org bereitgestellt ist (ZUMA 2001). Für die anderen Länder wurde das mitgelieferte Gewicht verwendet, soweit eines im Datensatz vorhanden war (vgl. Klein/ Harkness 2001,S. 3). Es wird angenommen, dass die nationalen Erhebungsinstitutionen geeignete Gewichtungsmaßnahmen für ihre konkrete Methodik vorgenommen haben, welche die Datenqualität zumindest nicht verschlechtern. Ein eigener beispielhafter Vergleich von Ergebnissen bei gewichteten und ungewichteten Daten (vgl. Terwey 2012, XI) über alle Länder hat gezeigt, dass die Gewichtung nur zu minimalen und für die inhaltliche Aussage irrelevanten Veränderungen der Ergebnisse führt. 4.3 Verwendete Variablen Die zentralen Variablen für die folgenden Analysen sind die Gemeindegrößenklasse für den Stadt-Land-Vergleich sowie die verschiedenen Unterstützungsleistungen. 4.3.1 Stadt-Land-Vergleich Grundlage für den Stadt-Land-Vergleich sind die Gemeindegrößen. Für den beabsichtigten Vergleich wird die im Allbus-Datensatz vorhandene Variable so zusammengefasst, dass sie der von Boelken (1987) verwendeten dreistufigen Klassifizierung in Klein- Mittel- und Großstädte entspricht (unter 20T; 20T bis unter 100T; 100T und mehr Einwohner). 8 4.3.2 Unterstützungsleistungen aus dem sozialen Netzwerk Böltken (1987) und Höllinger (1989) konnten im Allbus/ISSP 1986 sechs verschiedene Unterstützungsleistungen untersuchen (vgl. ZUMA 1986). Im Allbus 2002/ISSP 2001 stehen nur drei Indikatoren für drei Hilfetypen zur Verfügung: a.) Unterstützung durch praktische Hilfe operationalisiert als Hilfe bei Grippe, z.B.

8

Aus theoretischen Gründen wäre sicherlich zumindest eine vierte Differenzierung in kleine Gemeinden (Dörfer) bis zu 5T Einwohner interessant. Bezüglich der Netzwerkstruktur in kleinen Gemeinden stellen Pappi und Melbeck (1988) fest, dass sich hier vergleichsweise wenige Personen untereinander kennen. Kleine Gemeinden würden nicht (mehr) der gängigen Vorstellung einer integrierten Gemeinde entsprechen, sondern wären häufig lediglich Schlafstätten. Die eigentlichen Netzwerke befänden sich in größeren, umliegenden Gemeinden, wo die Personen ihren Arbeitsplatz haben (vgl. auch Friedrichs 1995, S. 161).

14

Dominique Moisl

im Haushalt oder beim Einkaufen; b.) materielle Unterstützung in schweren Lebenslagen operationalisiert als Frage, an wen man sich wenden würde, wenn man eine hohe Geldsumme leihen müsste; c.) Ermutigung und Beratung bei persönlichen Problemen operationalisiert als Gesprächspartner_in bei Niedergeschlagenheit und Deprimiertheit. Für jedes Item wurde erhoben, an wen man sich als erstes und als zweites wenden würde. 5

Zeitvergleich 1986 und 2002 zu den Unterstützungsleistungen sozialer Netzwerke in Abhängigkeit von der Wohnortgröße

Die drei Hilfeindikatoren, Hilfe bei Grippe, Hilfe bei finanzieller Notlage und Gesprächspartner_in bei Niedergeschlagenheit werden im Folgenden in Abhängigkeit von der Gemeindegröße betrachtet. Die Ergebnisse der Auswertung des Allbus 2002 werden dabei mit den Ergebnissen von Böltken (1987) auf der Basis des Allbus 1986 verglichen. Die Untersuchung zielt dabei in erster Linie auf einen Vergleich der Regelmäßigkeiten und Muster in den Daten ab. Basierend auf dem aktuellen Forschungsstand ergeben sich folgende zentrale Fragestellungen: 1.) Inwiefern sind Veränderungen der Unterstützungsbeziehungen im Vergleich zu 1986 zu beobachten? 2.) Ist das Familiensystem (weiterhin) das zentrale Hilfesystem und wie stellt sich die Bedeutung von Freund_innen als Unterstützungspersonen in Abhängigkeit von der Gemeindegröße dar? 5.1.1 Unterstützung bei Grippe Bezüglich praktischer Arbeitshilfen zeigte sich für 1986, dass die engere Familie, zunächst der_die Ehepartner_in, dann Vater, Mutter, Kinder oder Geschwister in allen Ortsgrößen die zentralen Ansprechpartner_innen darstellen. Dies ist in kleinen Orten etwas stärker der Fall als in großen Orten. Familiäre Hilfen seien in kleinen Orten aufgrund räumlicher Nähe eher verfügbar (Böltken 1987). Deutlich davon zu unterscheiden war die weitere Verwandtschaft, die nur sehr selten in Anspruch genommen wird. Etwas häufiger wurden Freund_innen als Helfer_innen bei Grippe genannt. In Großstädten ist dies fast doppelt so häufig der Fall wie in kleineren Orten. Dies liege aber eher an der höheren Intensität der Freundschaftskontakte als an der räumlichen Verteilung. Im Allbus 2002 zeigt sich weitgehend dasselbe Muster, jetzt aber klarer. Der_die Ehepartner_in ist die wichtigste Hilfeperson mit nur geringen ortsspezifischen Unterschieden (64%/61%/60%)9 Wie vermutet nimmt die Bedeutung familiärer Hilfe 9

Anteil der Nennungen in Prozent in Kleinstadt/Mittelstadt/Großstadt

Die Verfügbarkeit von Unterstützung durch soziale Netzwerke

15

mit zunehmender Ortsgröße ab (27%/25%/22%) und konträr dazu steigt die Bedeutung von Freund_innen als alltägliche Helfer_innen (3%/7%/10%). Die durchgehend verschwindend geringe Bedeutung der weiteren Verwandtschaft und institutioneller Hilfen bleibt bestehen. Die Anteile derjenigen, die niemanden als Erstoder Zweithelfer_in bei Grippe nennen können, sind 2002 niedriger als 1986; in der kleinsten Gemeindekategorie tendenziell am geringsten (2%/4%/5%). Allbus 1986 Allbus 2002 GRIPPE GRIPPE Helfer in % KS* MS GS KS* MS GS Ehepartner 1. 63 57 50 64 61 60

Familie

Verwandte

Freunde

Nachbarn

Institution

Andere

Niemand

2. Insg. 1. 2. Insg. 1. 2. Insg. 1. 2. Insg. 1. 2. Insg. 1. 2. Insg. 1. 2. Insg. 1. 2.

6 69 26 54 80 2 9 11 4 9 13 2 8 10 2 2 1 5 6 1 6

5 62 29 53 82 2 9 11 5 12 17 3 9 12 1 2 3 2 5 7 1 7

4 54 29 43 72 2 7 9 9 19 28 4 10 14 1 1 2 2 4 6 2 9

7 71 27 63 90 2 7 9 3 11 14 3 6 9 1 2 3 0 3 3 0 2

Tabelle 5.1: Unterstützung bei Grippe nach Gemeindegrößenklasse * KS: Kleinstadt; MS: Mittelstadt; GS: Großstadt Quelle: Allbus 1986: Böltken (1987); Allbus 2002 - eigenen Berechnungen

5 66 25 58 83 1 4 5 7 16 23 4 7 11 1 2 3 2 4 6 1 4

4 64 22 51 73 2 8 10 10 19 29 2 8 10 2 2 4 0 4 4 2 5

16

Dominique Moisl

5.1.2 Unterstützung bei finanzieller Notlage Bei finanziellen Notlagen war für das Jahr 1986 ein gänzlich anderes Unterstützungsmuster zu beobachten. Die Bank als insgesamt wichtigste Anlaufstelle war gerade in kleineren Orten besonders bedeutsam (53%/44%/42%). Die Familie hatte – auf niedrigerem Niveau als die Banken – dagegen in Großstädten eine höhere Bedeutung als in kleineren Orten (20%/24%/26%). Dies erklärt Böltken (1987) mit der Ambivalenz nahräumlicher Beziehungen: in der räumlichen Nähe wird Distanz bedeutsam. Mit anonymer finanzieller Hilfe können soziale Kontrolle und Reziprozitätserwartungen der Personen im Nahraum umgangen werden (Distanzthese). Weniger eng kontrollierte Sozialbeziehungen in der Stadt seien deshalb stärker belastbar. Da der Befund jedoch eher gering ausgeprägt sei, könne man lediglich festhalten, dass bei schweren finanziellen Notlagen das soziale Netz in kleinen Orten nicht belastbarer war als in großen Orten. Die Daten des Allbus 2002 zeigen einen deutlichen Unterschied im Zeitvergleich. 2002 haben sich jeweils etwa ein Drittel der Personen zuerst an Banken oder die Familie gewandt. Dabei haben die Banken sowohl als erste als auch zweite Anlaufstelle für das Leihen einer größeren Geldsumme deutlich an Bedeutung verloren und die Familie hat dagegen deutlich an Bedeutung gewonnen. Summiert man die Nennungen als Erst- und Zweithelfer_innen bei größeren finanziellen Nöten, so steht die Familie in 2002 in der Bedeutung deutlich vor der Bank. Die Relevanz der beiden Hilfeoptionen hat sich somit im direkten Vergleich umgekehrt. Die bei Böltken (1987) festgestellte Tendenz zur anonymen Hilfe durch Banken in kleineren Orten findet sich in 2002 nicht (mehr). Freund_innen werden insgesamt vergleichsweise selten als Helfer_innen in finanzieller Notlage genannt (2%/3%/4%). Der Anteil derjenigen, die gar niemanden nennen können, der ihnen eine größere Geldsumme leihen würde, ist 2002 (wie 1986) in Mittel- und Großstädten leicht erhöht (7%/9%/10%). Der Anteil derjenigen, die an zweiter Stelle niemanden nennen konnten, hat sich im Zeitverlauf dagegen deutlich verringert. Im Zeitvergleich zeichnet sich hier eine positive Entwicklung sozialer Netzwerke ab: Familie wird häufiger, die Bank seltener als Helferin bei finanziellen Problemen gesehen. Es lässt sich vermuten, dass sich möglicherweise der innerfamiliäre Umgang mit Geldproblemen “enttabuisiert“ hat. Familiäre Netzwerke wären somit bei finanziellen Problemlagen zugänglicher als 16 Jahre zuvor – d.h. ohne die Erwartung negativer Reaktionen aktivierbar. Erklärungsalternativen könnten in den finanziellen Rahmenbedingungen des privaten Lebens bestehen: die Geschäftspolitik der Banken war nach der Jahrtausendwende durch eine veränderte, risikoärmere Kreditpolitik geprägt (vgl. Deutsche Bundesbank 2002). Ferner hat sich die Vermögenssituation – zumindest für einige Bevölkerungsgruppen – verbessert, sodass der innerfamiliäre Verleih einer größeren Summe Geldes bei diesen unter Umständen erst in 2002 überhaupt möglich wurde (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2015).

Die Verfügbarkeit von Unterstützung durch soziale Netzwerke

Allbus 1986

Allbus 2002

GELD LEIHEN KS* MS GS

GELD LEIHEN KS* MS GS

1.

17

18

12

18

17

15

2.

3

2

2

3

3

4

Insg.

20

20

14

21

20

19

1.

20

24

26

35

32

33

2.

28

30

26

43

35

32

Insg.

48

54

52

78

67

65

1.

1

2

3

3

1

2

2.

5

5

5

5

5

8

Insg.

6

7

8

8

6

10

1.

1

2

4

2

3

4

2.

3

3

8

6

8

9

Insg.

4

5

12

8

11

13

1.

-

-

-

-

-

-

2.

-

-

-

-

1

1

Insg.

-

-

-

-

1

1

1.

53

44

42

35

38

35

2.

23

24

21

18

14

23

Insg.

75

68

63

53

52

58

1.

1

2

3

1

1

2

2.

5

4

6

8

8

5

Insg.

8

6

9

9

9

7

1.

6

9

10

7

9

10

2.

32

32

33

18

26

20

Helfer in % Ehepartner

Familie

Verwandte

Freunde

Nachbarn

Bank

Andere1

Niemand

17

Tabelle 5.2: Unterstützung bei finanzieller Notlage nach Gemeindegrößenklasse * KS: Kleinstadt; MS: Mittelstadt; GS: Großstadt 1 Unter „Andere“ finden sich auch private Geldverleiher, soziale Einrichtungen, Arbeitgeber und Arbeitskollegen. Quelle: Allbus 1986: Böltken (1987); Allbus 2002 - eigenen Berechnungen

18

Dominique Moisl

5.1.3 Unterstützung bei Niedergeschlagenheit Für das Jahr 1986 war festzustellen, dass bei Niedergeschlagenheit der_die Ehepartner_in die zentrale Ansprechperson darstellte. Dessen höhere Bedeutung in kleineren Orten führt Böltken (1987) auf unterschiedliche Haushaltsstrukturen zurück. Bei der Familie zeigten sich keine relevanten Unterschiede. Entsprechend der Forschungslage war jedoch eine mit der Ortsgröße steigende potentielle Inanspruchnahme von Freund_innen als Hilfeleistende bei Niedergeschlagenheit zu beobachten. Darin sieht Böltken (1987, S. 548) eine Entsprechung von „ehelicher Privatsphäre und intensiven Freundschaftsbeziehungen“. Besonders erwähnt wird außerdem die ortsunspezifisch relativ geringe Inanspruchnahme institutioneller Hilfen, die ein Defizit privater Hilfen in städtischen Kontexten nicht erkennen lasse. Bemerkenswert erscheint, dass 1986 immerhin knapp ein Fünftel der Befragten niemanden nennen konnte, der_die als zweite_r Gesprächspartner_in bei Niedergeschlagenheit zur Verfügung steht. Im Allbus 2002 zeigt sich ein nur leicht, aber durchaus relevant verändertes Bild. Systematische Unterschiede in der Verfügbarkeit von Ehepartner_innen als Helfer_innen sind nicht (mehr) feststellbar. Die Unterstützung durch die Familie hat dem erwarteten Muster entsprechend in kleineren Orten eine geringfügig höhere Bedeutung (20%/16%/15%). Ebenfalls erwartungsgemäß nimmt mit der Ortsgröße die Bedeutung von Freund_innen zu (17%/24%/26%). Die Bedeutung von Freund_innen ist dabei in allen Ortsgrößen höher als 1986. Ihnen kommt somit generell häufiger eine sehr nahe und private Position zu als 1986. Überraschend positiv erscheint zudem die Halbierung des (bereits 1986 geringen) Anteils der Personen, die bei Niedergeschlagenheit auf Institutionen als Gesprächspartner_in zurückgreifen müssen (3%/1%2%), und derjenigen, die sich an niemanden wenden können (3%/3%/3%). Ferner hat sich der Anteil derjenigen, die keine zweite Ansprechperson haben, gedrittelt. Bezüglich der Unterstützung in persönlichen Krisen ist somit eine größere Isoliertheit in Großstädten nicht festzustellen, im Zeitverlauf zeichnet sich klar eine gestiegene Möglichkeit ab, bei Niedergeschlagenheit Unterstützung aus dem sozialen Netzwerk heraus zu erhalten.

Die Verfügbarkeit von Unterstützung durch soziale Netzwerke

Helfer in % Ehepartner

Familie

Verwandte

Freunde

Nachbarn

Institutionen

Andere

Niemand

19

Allbus 1986

Allbus 2002

NIEDERGE-SCHLAGENHEIT

NIEDERGE-SCHLAGENHEIT

KS*

MS

GS

KS*

MS

GS

1.

59

53

46

54

49

53

2.

5

5

4

11

6

5

Insg.

64

58

50

65

55

58

1.

16

16

19

20

16

15

2.

39

40

35

49

44

44

Insg.

55

56

54

69

60

59

1.

1

2

2

1

0

1

2.

5

5

3

3

2

2

Insg.

6

7

5

4

2

3

1.

14

17

21

17

24

26

2.

20

22

35

24

29

32

Insg.

34

39

561

41

53

58

1.

1

1

1

1

2

0

2.

1

1

1

1

1

2

Insg.

2

2

2

2

3

2

1.

4

5

4

3

1

2

2.

9

8

9

4

5

5

Insg.

13

13

13

7

6

7

1.

1

-

1

1

4

1

2.

2

2

2

3

6

5

Insg.

3

22

3

4

10

6

1.

5

6

7

3

3

3

2.

19

17

21

6

7

6

Tabelle 5.3: Unterstützung bei Niedergeschlagenheit oder Deprimiertheit nach Gemeindegrößenklasse * KS: Kleinstadt; MS: Mittelstadt; GS: Großstadt 1 offensichtlicher Rechenfehler bei Böltken (1987), dort 46% 2 offensichtlicher Rechenfehler bei Böltken (1987), dort 3% Quelle: Allbus 1986: Böltken (1987); Allbus 2002 - eigenen Berechnungen

20

Dominique Moisl

5.1.4 Zusammenfassung Die Ergebnisse aus dem Allbus 2002 bestätigen im Großen und Ganzen die strukturellen Befunde von Böltken (1987) und zeigen darüber hinaus eine als positiv zu bewertende Entwicklung des Unterstützungspotentials sozialer Netzwerke. Als zentraler Befund ist auch in 2002 zu beobachten, dass Ehepartner_innen und die Familie das wichtigste Unterstützungssystem darstellen. Mit der Ortsgröße nimmt deren Bedeutung – auf hohem Niveau – jeweils etwas mehr oder weniger ausgeprägt ab. Komplementär dazu steigt – auf niedrigerem Niveau – das Unterstützungspotential durch Freund_innen, vor allem in größeren Gemeinden. An die Verwandtschaft und die Nachbar_innen wendet man sich bei Hilfebedarf nur in Ausnahmefällen. Unterschiede in Abhängigkeit von der Ortsgröße bestehen hier nicht, was gegen die romantisierende Vorstellung einer engen Gemeinschaft in kleineren Ortschaften spricht. Ebenfalls zeigen die Ergebnisse, dass Hilfelosigkeit – wie bereits von Böltken (1987, S. 549) festgestellt – kein großstadtspezifisches Phänomen ist. Das erwartete Muster, dass freiwillig gewählte Freundschaftsbeziehungen in größeren Ortschaften eine höhere Bedeutung und familiäre Beziehungen eine geringere Bedeutung haben, tritt in 2002 deutlicher zutage. In der Zeitverlaufsperspektive scheinen soziale Netzwerke bezüglich der Bereitstellung von Hilfe im Jahr 2002 leistungsfähiger als im Jahr 1986. Über alle untersuchten Unterstützungsleistungen (Grippe, finanzieller Engpass und Niedergeschlagenheit) nimmt der Anteil derjenigen ohne Ansprechpartner_in an erster oder zweiter Stelle ab. Besonders deutlich bei den schwerwiegenderen Problemlagen „größere Summe Geld leihen“ und „Niedergeschlagenheit“. Ferner wird institutionelle Hilfe nicht nur generell eher selten in Erwägung gezogen, sondern bei „Niedergeschlagenheit und Deprimiertheit“ zudem nur noch halb so oft wie in 1986. Besonders die Veränderungen bei der Hilfe in finanziellen Problemlagen unterstreichen die positive Entwicklung der Leistungsfähigkeit sozialer Netzwerke. Die Familie als Erst- oder Zweit-Helferin liegt hier 2002 deutlich vor der Bank, welche 1986 die mit Abstand wichtigste Ansprechpartnerin bei finanziellen Problemen war. Eine Sonderrolle finanzieller Probleme für das soziale Netzwerk besteht 2002 somit nicht (mehr). Mit Bezug auf die Distanzthese lässt sich vermuten, dass in familiären Netzwerken 2002 entspannter mit dem Thema „Geldprobleme“ umgegangen wird als 16 Jahre zuvor. Die Ergebnisse zeigen somit eine positive Entwicklung des Hilfepotentials in sozialen Netzwerken in Bezug auf den Umfang (insbesondere Finanzen) als auch die Breite (Rückgang der Hilflosigkeit).

Die Verfügbarkeit von Unterstützung durch soziale Netzwerke 6

21

Internationaler Vergleich zu den Unterstützungsleistungen sozialer Netzwerke in Abhängigkeit von der Wohnortgröße

Zum besseren Verständnis der international vergleichenden Analyse wird zunächst kurz auf die methodischen Besonderheiten bei der Auswahl der analysierten Länder und die Schwierigkeiten der Ergebnisinterpretation bei internationalen Vergleichen eingegangen. Die Analyseergebnisse folgen im Anschluss. 6.1

Methodische Vorbemerkungen

6.1.1 Länderauswahl für den Vergleich Höllinger (1989) wählte die Nationen für seinen Ländervergleich forschungspragmatisch danach aus, ob Kooperationsbeziehungen im Rahmen des ISSP-Projekts bestanden. Die Auswahl der Länder für die nachstehende Analyse folgt dagegen einer methodisch-praktischen Erwägung. Da die Gemeindegröße für die beabsichtigte Untersuchung unabdingbar ist, wurden diejenigen Länder ausgewählt, für die eine Gemeindegrößenvariable vorhanden ist, die sich in die eingangs verwendete Kategorisierung von Böltken (1987) in Klein- Mittel- und Großstädte transformieren lässt. Dies resultiert in folgender Länderauswahl: Deutschland, Frankreich, Finnland, Ungarn und Litauen. 6.1.2

Anmerkung zur Beschreibung und Erklärung international vergleichender Analysen Die Erklärung von Netzwerkunterschieden stellt schon allein auf nationaler Ebene eine größere Herausforderung dar. Fundierte kulturvergleichende Erklärungen für internationale Differenzen zu erarbeiten scheint ohne den Rückgriff auf nationale Expert_innen – zumindest für eine nachgehende Validierung der Erklärungsversuche – kaum machbar. Da eine internationale Forschungskooperation – wie bei Höllinger (1989) erwähnt – hier leider nicht möglich war, beschränkt sich die folgende Analyse im Wesentlichen auf eine Beschreibung von Unterschieden. An einigen Stellen werden Ansätze einer Erklärung genannt. Diese sind als Erklärungshypothesen zu verstehen. 6.2 Ergebnisse Die vorangegangene Analyse der zeitlichen Entwicklung regionaler Netzwerke in Deutschland wird als Referenzpunkt für den internationalen Vergleich verwendet. Es wird wieder auf dieselben Indikatoren zurückgegriffen. Dabei stehen folgende zwei Muster sozialer Netzwerke im Fokus der Fragestellung:

22

Dominique Moisl

1.) Inwieweit findet sich im internationalen Vergleich ein Zusammenhang dergestalt, dass mit der Gemeindegröße der Rückgriff auf die Familie als Helferin abnimmt und die Inanspruchnahme von Freund_innen als Unterstützer_innen zunimmt? Dieses Muster wird im Folgenden als urbane Beziehungsstruktur bezeichnet. 2.) Inwieweit lassen sich im internationalen Vergleich Unterschiede in Bezug auf Hilfelosigkeit in Abhängigkeit von der Ortsgröße beobachten? Im Speziellen: findet sich den Annahmen der Großstadtkritik entsprechend eine Beziehungsstruktur mit einem steigenden Anteil von Personen ohne potentielle Helfer_innen in größeren Wohnorten? Die nachstehenden Tabellen weisen für die fünf untersuchten Länder die Anteile der Nennungen zu einer ersten und einer zweiten Helferperson sowie die prozentualen Gesamtnennungen aus. Die Gesamtwerte werden, abweichend von der eingangs verwendeten Berechnung als Summenwert (analog zu Böltken 1987), in Anlehnung an Höllinger (1989) als durchschnittlicher Prozentwert ausgewiesen. Aufgrund der gewählten inhaltlichen Fokussierung wird die Kategorie Ehepartner_in nicht gesondert betrachtet und daher den „Anderen“ zugeschlagen. Aus diesem Grund fällt der Anteil der Anderen relativ hoch aus. 6.2.1 Unterstützung bei Grippe Für die Frage nach alltäglichen Arbeitshilfen erscheint besonders interessant, ob das Muster der urbanen Beziehungsstruktur in den Ländern unterschiedlich stark ausgeprägt ist und ob der Anteil der Hilfelosen stark variiert.

Die Verfügbarkeit von Unterstützung durch soziale Netzwerke

D GRIPPE Familie1

Enger Freund

Andere

Niemand

F

23

FINN

KS*

MS

GS

KS*

MS

GS

KS*

MS

GS

1.

27

25

22

19

26

21

23

22

20

2.

62

57

50

50

50

44

68

62

57

Insg.

45

41

36

35

38

33

45

42

38

1.

3

7

10

4

7

9

5

6

13

2.

11

16

19

14

14

17

11

15

22

Insg.

7

11

15

9

11

13

8

11

17

1.

69

68

66

74

64

65

71

69

64

2.

25

23

26

31

32

33

15

17

16

Insg.

47

45

46

53

48

49

43

43

40

1.

0

1

2

3

2

5

2

3

4

2.

2

4

5

5

5

6

6

6

5

Tabelle 6.1: Unterstützung bei Grippe nach Gemeindegröße: Deutschland, Frankreich, Finnland * KS: Kleinstadt; MS: Mittelstadt; GS: Großstadt 1 Vater, Mutter, Kinder, Geschwister Quelle: ISSP 2001, eigene Berechnungen, gewichtet

24

Dominique Moisl

H GRIPPE Familie1

Enger Freund

Andere

Niemand

LIT

KS*

MS

GS

KS*

MS

GS

1.

44

34

42

38

41

36

2.

54

63

52

50

56

47

Insg.

49

49

47

44

48

42

1.

2

5

4

7

7

7

2.

8

9

6

11

11

11

Insg.

5

7

5

9

9

9

1.

53

59

51

52

49

55

2.

29

21

25

31

27

29

Insg.

41

40

38

42

38

42

1.

1

2

3

3

3

1

2.

10

7

17

8

7

13

Tabelle 6.2: Unterstützung bei Grippe nach Gemeindegröße: Ungarn, Litauen * KS: Kleinstadt; MS: Mittelstadt; GS: Großstadt 1 Vater, Mutter, Kinder, Geschwister Quelle: ISSP 2001, eigene Berechnungen, gewichtet

Für die verschiedenen Länder zeigen sich folgende Muster bzgl. potentieller Helfer_innen bei Grippe. Wie aus der vorangegangenen Analyse bekannt, zeichnet sich in Deutschland das urbane Muster ab: Mit der Gemeindegröße nimmt der Anteil derjenigen ab, die sich an Familienmitglieder wenden würden. Gleichzeitig nimmt der Anteil derjenigen zu, die sich an (enge) Freund_innen wenden würden. Der Anteil derjenigen, die sich an niemanden wenden können, ist verschwindend gering, steigt mit der Gemeindegröße aber leicht auf 2% in Großstädten. In Frankreich ist der Rückgriff auf die Familie allenfalls in Mittelstädten etwas erhöht, ansonsten sind diesbezüglich keine Unterschiede zu erkennen. Dennoch werden die Freund_innen mit zunehmender Ortsgröße etwas häufiger als Helfer_innen in Erwägung gezogen. In Großstädten gibt es einen geringfügig höheren Anteil an Personen, die niemanden nennen können (5%). In Finnland zeigt sich das urbane Muster geringerer Unterstützer_innen aus der Familie und mehr Unterstützer_innen aus dem Freundeskreis je größer der Ort.

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Ähnlich zu Frankreich ist in Großstädten der Anteil von Personen, die niemanden an zweiter Stelle nennen, geringfügig erhöht (4%). In Ungarn sind keine ortsgrößenspezifischen Unterschiede hinsichtlich des Rückgriffs auf Familie oder Freund_innen zu beobachten. Ein deutlicher Effekt der Ortsgröße zeigt sich in Bezug auf das Fehlen einer zweiten Unterstützungsperson. In Großstädten können 17% der Befragten keine zweite Unterstützungsperson nennen. Fast alle Befragten haben jedoch zumindest eine_n Helfer_in. Nur 3% der ungarischen Großstädter können niemanden nennen, der_die Ihnen bei Grippe behilflich sein könnte. Litauen weist ein Muster ähnlich zu Ungarn auf: Keine ortsgrößenspezifischen Unterschiede bei Familie und Freund_innen als Helfer_innen. Jedoch deutlich mehr Personen in Großstädten, die keine zweite Helferperson nennen können (13%). Zusammenfassende Betrachtung Das mit Urbanität assoziierte Muster eines zunehmenden Rückgriffs auf Freund_innen bei Hilfebedarf zeigt sich in den historisch eher westlich geprägten Ländern Deutschland, Frankreich und Finnland deutlich. Das komplementäre Muster mit einer geringeren Unterstützung durch die Familie findet sich in Deutschland und Finnland, jedoch nicht in Frankreich. Insgesamt gibt es nur einen geringen Anteil von Personen ohne Helferperson, deren Anteil ist in Großstädten jedoch leicht erhöht. In den ehemals dem Ostblock zugehörigen Ländern Ungarn und Litauen ist das Muster niedrigerer Familien- und höherer Freund_innenunterstützung mit steigender Ortsgröße nicht zu beobachten. Es zeigt sich dort in Großstädten ein etwas niedrigeres Niveau der Unterstützung durch Freund_innen als in den anderen Ländern sowie ein deutlich höherer Anteil von Personen, die keine zweite Unterstützungsperson nennen können – eine erste Unterstützungsperson im Grippefall fehlt aber auch hier nur in Ausnahmefällen. Insgesamt zeigt sich in den Staaten mit fortgeschrittener Urbanisierung bzw. Modernisierung stärker das urbane Muster der Unterstützungsstruktur. Damit einhergehend scheint die Unterstützungsstruktur für alltägliche Probleme wie Grippe auch etwas tragfähiger zu sein, wobei durchaus eine geringe Tendenz dahingehend zu beobachten ist, dass in Großstädten tendenziell eher Personen vorhanden sind, die über keine Unterstützungsperson verfügen. 6.2.2 Unterstützung bei finanzieller Notlage Bei der Analyse von Unterstützungspotentialen in finanziellen Notlagen ist neben der Frage nach Unterstützungspersonen aus Familie oder Freundeskreis bzw. fehlender Unterstützung auch die Bedeutung der Bank als Rückfalloption von Interesse.

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Tabelle 6.3: Unterstützung bei finanzieller Notlage nach Gemeindegröße: Deutschland, Frankreich, Finnland * KS: Kleinstadt; MS: Mittelstadt; GS: Großstadt Vater, Mutter, Kinder, Geschwister Quelle: ISSP 2001, eigene Berechnungen, gewichtet 1

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Tabelle 6.4: Unterstützung bei finanzieller Notlage nach Gemeindegröße: Ungarn, Litauen * KS: Kleinstadt; MS: Mittelstadt; GS: Großstadt Vater, Mutter, Kinder, Geschwister Quelle: ISSP 2001, eigene Berechnungen, gewichtet 1

In Deutschland findet sich auch bei Hilfe in finanziellen Notlagen das urbane Muster. Die Bank hat als Erstanlaufstation in etwa dieselbe Bedeutung wie die Familie, insgesamt ist sie als Erst- und Zweithelferin aber weniger relevant als die Familie. Fehlende finanzielle Unterstützung ist kein spezifisch großstädtisches Problem (7%/9%/9%). Zwischen 18% und 26% der Personen verfügen über maximal eine potentielle Unterstützung bei finanziellen Problemen. Frankreich weist das urbane Muster nicht auf. Die Bedeutung der Familie ist in der Großstadt besonders hoch, die der Freund_innen unterscheidet sich nicht nach Ortsgröße. Die höhere Bedeutung der Familie als Anlaufstation bei finanziellen Schwierigkeiten in der Großstadt wird dort zudem komplementär ergänzt durch eine geringere Bedeutung der Bank. In Frankreich könnte somit die eingangs für Deutschland im Jahr 1986 angeführte Distanzthese (räumliche Nähe in

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kleineren Orten braucht soziale Distanz) auch 2002 (noch) zutreffend sein. Das Niveau derjenigen, die zumindest keine zwei Helfer_innen bei finanziellen Problemen haben, liegt mit 12% bis 15% wahrnehmbar unter dem deutschen Niveau. In Finnland ist der Anteil derjenigen, die an erster oder zweiter Stelle keine Unterstützung in finanziellen Notlagen benennen können, am geringsten. Ortsgrößenspezifische Unterschiede finden sich nicht bezüglich der Unterstützung durch die Familie, jedoch steigt mit der Gemeindegröße der Anteil derjenigen, die sich für finanzielle Hilfe an Freund_innen wenden würden. Die Banken werden wie in Deutschland und Frankreich von mehr als einem Drittel (41%/37%/37%) als erste Anlaufstation gesehen. In Ungarn und Litauen zeigen sich deutlich andere Muster. Zunächst fällt für beide Länder auf, dass die Anteile der Niemand-Nennungen im Vergleich zu den anderen drei Ländern mindestens doppelt so hoch liegen. Die Nennungen der Bank liegen im Vergleich deutlich darunter. In Ungarn finden sich ortsgrößenspezifische Unterschiede nur in Ansätzen: Leicht erhöht ist in Großstädten der Rückgriff auf Freund_innen und der Anteil der Personen ohne Hilfe in finanziellen Notlagen. Die Bank wird etwas seltener als in kleineren Orten genannt. Als Erstunterstützung bei finanziellen Problemen ist die Familie am wichtigsten (37%/36%37%), danach rangiert die Bank an zweiter Stelle (24%/26%/20%). Die Bedeutung von Freund_innen liegt auf geringem Niveau nur leicht über Deutschland, Finnland und Frankreich (4%/5%/7%). Besonders auffällig ist, dass sich über alle Ortsgrößen hinweg etwa ein Fünftel der Befragten bei finanziellen Problemen an niemanden wenden kann und mindestens 45% keine zweite Unterstützungsoption haben. Das ist international die schlechteste Unterstützungslage. In Litauen sticht hervor, dass die Bank nur für einen sehr geringen Teil der Personen (6%/10%/8%) die erste Option zur Bewältigung finanzieller Engpässe darstellt. Hier sind die Familie – und überraschenderweise deutlich häufiger als in den anderen Ländern die engen Freund_innen – Helfer_in in finanziellen Notlagen. Mit der Gemeindegröße nimmt in Litauen die Bedeutung der Familie als Helferin in finanziellen Notlagen stetig ab, in Mittel- und Großstädten ist der Anteil der Freund_innen als Helfer_innen dafür größer (urbanes Muster). In Großstädten zeigt sich gleichzeitig aber auch eine besonders schwierige Lage bei finanziellen Problemen (Großstadtkritik): 22% können keine und 45% keine zweite Hilfeoption nennen. Zusammenfassende Betrachtung Hinsichtlich der Unterstützung bei finanziellen Problemen findet sich das urbane Muster einer mit der Ortsgröße abnehmenden Bedeutung der Familie zugunsten von Freund_innen am deutlichsten in Deutschland; in Finnland ist lediglich der Teil des Beziehungsmusters zu beobachten, der sich auf Freund_innen bezieht. In

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Litauen haben Freund_innen über alle Ortsgrößen hinweg eine höhere Bedeutung bei finanzieller Hilfe als in allen anderen Ländern, besonders ausgeprägt ist dies in Mittel- und Großstädten. Dabei lässt sich in litauischen Großstädten gleichzeitig eine deutlich höhere Hilfelosigkeit feststellen als in anderen Gemeindegrößen. Am schlechtesten sind die Unterstützungsoptionen über alle Ortsgrößen hinweg in Ungarn. Insgesamt ist in den drei westeuropäischen Ländern eine deutlich niedrigere Hilfelosigkeit vorhanden als in den zwei ehemaligen Ostblockländern. Banken haben in den drei westeuropäischen Ländern eine höhere Bedeutung als Hilfeoption bei finanziellen Problemen. In Frankreich zeigt sich dabei ein besonderes Bild, analog zu Deutschland im Jahr 1986: Hier stellen Banken in kleineren Gemeinden häufiger und die Familie seltener die erste Anlaufstelle bei finanziellen Notlagen dar als in großen Gemeinden. Die westeuropäischen Länder scheinen bei finanziellen Problemen unter Einbeziehung von Banken insgesamt tragfähigere Unterstützungsstrukturen bereitstellen zu können als dies in Ungarn und Litauen der Fall ist. Möglicherweise spielt hier neben einer bereits länger andauernden Modernisierung auch das allgemeine Wohlstands- und Einkommensniveau eine wichtige Rolle, welches Banken zu einer üblichen Unterstützungsoption für Privatleute erst werden lässt. 6.2.3 Unterstützung bei Niedergeschlagenheit Die beratende und ermutigende Hilfe wird anhand des Vorhandenseins von Gesprächspartner_innen bei Niedergeschlagenheit und Deprimiertheit untersucht. Diesbezüglich stellt die beabsichtigte Inanspruchnahme professioneller Hilfe – analog der Bank bei finanziellen Problemen – eine interessante Fragestellung dar.

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Tabelle 6.5: Unterstützung bei Niedergeschlagenheit/Deprimiertheit nach Gemeindegröße: Deutschland, Frankreich, Finnland * KS: Kleinstadt; MS: Mittelstadt; GS: Großstadt 1 Vater, Mutter, Kinder, Geschwister 2 Priester, Hausarzt, Psychologe oder Selbsthilfegruppe Quelle: ISSP 2001, eigene Berechnungen, gewichtet

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Tabelle 6.6: Unterstützung bei Niedergeschlagenheit/Deprimiertheit: Ungarn, Litauen * KS: Kleinstadt; MS: Mittelstadt; GS: Großstadt 1 Vater, Mutter, Kinder, Geschwister 2 Priester, Hausarzt, Psychologe oder Selbsthilfegruppe Quelle: ISSP 2001, eigene Berechnungen, gewichtet

In Deutschland zeigt sich deutlich, dass bei dieser Hilfeart mit steigender Ortsgröße die Bedeutung der Familie abnimmt und diejenige der Freund_innen zunimmt. In Groß- und Mittelstädten sind Freund_innen als erste Ansprechpartner_innen bei Niedergeschlagenheit wichtiger als die Familie (24% zu 16% in Mittelstädten; 26% zu 15% in Großstädten). Gemittelt über die Nennung an erster und zweiter Stelle haben beide dieselbe Bedeutung. Institutionelle Hilfe ist mit 3% über alle Nennungen eher eine Randerscheinung. Gering ist mit 3% in allen Ortsgrößenklassen auch der Anteil derjenigen, die bei Niedergeschlagenheit mit niemandem sprechen können.

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In Frankreich unterscheidet sich die Relevanz der Familie bei Niedergeschlagenheit nicht systematisch nach Ortsgröße. Freund_innen werden mit der Gemeindegröße aber wichtiger. Sie haben als erste Hilfeoption in allen Ortsgrößen eine höhere Bedeutung als die Familie. Hervorstechendes Ergebnis ist die vergleichsweise große Bedeutung institutioneller Hilfe. In Frankreich geben unabhängig von der Ortsgröße zwischen 9% und 12% den Priester, Hausarzt bzw. Hausärztin, Psycholog_in oder eine Selbsthilfegruppe als erste_n Ansprechpartner_in an. Zwischen 17% und 21% der Bevölkerung nennen die institutionelle Hilfe als zweite Anlaufstation. Der Anteil derjenigen, die keine Gesprächspartner_innen bei Niedergeschlagenheit angeben können, liegt mit etwa 5% leicht höher als in Deutschland auf dem Niveau von Finnland. In Finnland haben Freund_innen die vergleichsweise stärkste Bedeutung bei Niedergeschlagenheit. Als erste Gesprächspartner_innen werden Freund_innen in Kleinstädten von 19% genannt, in Mittelstädten von 21% und in Großstädten von 28%. Zum Vergleich: die Familie wird nur von 17%, 16% und 14% der Befragten genannt. Es zeichnet sich somit gerade bzgl. der Freund_innen das vermutete urbane Beziehungsmuster ab. Institutionelle Hilfe ist mit 4% bzw. 5% als Ersthelfer wenig relevant. Ungarn und Litauen unterscheiden sich wiederum klar von Deutschland, Frankreich und Finnland. Der augenfälligste Unterschied der beiden Ländergruppen besteht erneut in der hohen Zahl derjenigen in Ungarn und Litauen, die niemanden als Hilfeoption nennen können. In diesen beiden Ländern ist dies vor allem ein großstädtisches Problem, das in Litauen ganz besonders ausgeprägt ist. In Litauen geben 29% der Großstädter an, sich bei Niedergeschlagenheit an niemanden wenden zu können (Ungarn: 13%), für Bewohner_innen von Kleinstädten ist dies nur bei 6% der Fall (Ungarn: 8%). In beiden Ländern haben professionelle Hilfen inklusive Selbsthilfegruppen, die gerade in Großstädten als gut erreichbare, kompensatorische Infrastruktur wirken könnten, die geringste Bedeutung aller Länder. Die verbale Unterstützung durch die Familie und Freund_innene unterscheidet sich in Ungarn nicht nach der Ortsgröße. In Litauen ist die Unterstützung durch Freund_innen in allen Ortsgrößen herausragend hoch. Jedoch fällt die Familie in litauischen Großstädten als Ansprechpartnerin bei Niedergeschlagenheit weitgehend aus, nur 10% nennen diese als erste Anlaufstation. In diesem (unkompensierten) hohen Ausfall der Familie als Gesprächspartnerin dürfte ein wesentlicher Grund für die hohe Hilfelosigkeit bei Niedergeschlagenheit in litauischen Großstädten liegen. 6.2.4 Zusammenfassung Die sozialen Netzwerke zeigen sich bei Niedergeschlagenheit und Deprimiertheit in den drei westlichen Ländern Deutschland, Frankreich und Finnland deutlich

Die Verfügbarkeit von Unterstützung durch soziale Netzwerke

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tragfähiger als in den beiden ehemaligen Ostblockstaaten Ungarn und Litauen. In letzteren deuten die Ergebnisse ferner auf eine vergleichsweise hohe Desintegration in Großstädten hin, die in Litauen mit einem Drittel der Großstadtbewohner_innen extrem hoch ist. Das Muster modernisierter, urbaner Beziehungen zeigt sich am deutlichsten in Deutschland, in der Tendenz auch in Frankreich und Finnland. Mit der Ortsgröße verliert in Deutschland die Familie als Ansprechpartnerin bei Niedergeschlagenheit an Bedeutung und es gewinnen die Freund_innen an Relevanz. In Frankreich und Finnland kann vor allem eine ortsgrößenspezifische Zunahme der Bedeutung von Freund_innen klar beobachtet werden, die Relevanz der Familie fällt nur leicht. Besonders auffällig ist die große Bedeutung institutionalisierter Hilfe in Frankreich, die zudem keinen Stadt-Land-Unterschied aufweist. Dies lässt sich wahrscheinlich teilweise auf eine besondere Stellung von Psychotherapie und Psychoanalyse in der französischen Gesellschaft zurückführen. Sonnenmoser (2011) zufolge durchdringen psychotherapeutische Denk- und Arbeitsweisen weite Teile der französischen Sozialwissenschaften und sind auch im Alltag stark präsent. Psychotherapie werde in Frankreich nicht nur zur Behandlung psychischer Störungen angewendet, sondern komme auch bei gesunden Menschen zum Einsatz, z.B. bei der Beratung und allgemeinen Lebenshilfe in Problemsituationen wie Scheidung, Arbeitslosigkeit oder Immigration. 10 7

Zusammenfassende Betrachtung

Die nationalen Ergebnisse für Deutschland bestätigen durchgängig die These, dass mit der Gemeindegröße die Bedeutung von Freund_innen im Netzwerk steigt. Deren Relevanz ist nach Art der Hilfeleistung aber unterschiedlich: am größten bei Niedergeschlagenheit, etwas weniger bedeutsam bei Grippe und am wenigsten wichtig bei finanziellen Problemen. Darüber hinaus zeigt sich, dass Ehepartner_innen und Familie in Deutschland weiterhin die höchste Bedeutung als Unterstützungssystem haben. Die Relevanz der Familie sinkt aber klar mit der Gemeindegröße. Das urbane Beziehungsmuster bildet sich dabei in den Daten von 2002 noch deutlicher ab als 1986. Beim Anteil derjenigen Personen, die niemanden an erster oder zweiter Stelle als Helfer_innen nennen können, ist über die Zeit ein Rückgang zu verzeichnen. Dies zeigt, dass die Leistungsfähigkeit der sozialen Netzwerke für die Unterstützung von 1986 bis 2002 zugenommen hat. Weitere Indizien hierfür sind, dass institutionelle Hilfe bei Niedergeschlagenheit und Deprimiertheit seltener erwogen wird und dass bei der Unterstützung in finanziellen Notlagen die Familie deutlich 10

Zum Ausschluss eines methodischen Artefakts wurde die französische Übersetzung des Items überprüft. Diese erscheint adäquat und somit unproblematisch zu sein.

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an Bedeutung gewonnen hat, zu Ungunsten von Banken. Insgesamt deuten die Analysen darauf hin, dass sich mit der Zeit eine moderne, urbane Netzwerkstruktur entwickelt, die zu einer Verbesserung der Unterstützungssituation insgesamt führt. Offenbar gelingt es Menschen, ihr Zusammenleben und ihre Bindungsmuster veränderten Rahmenbedingungen anzupassen und so zu gestalten, dass ihre zentralen Unterstützungsbedürfnisse erfüllt werden. Es scheint daher eine Entdramatisierung gesellschaftlicher Veränderungen für die soziale Kohäsion angezeigt (vgl. Diewald/ Sattler 2010, S. 697). Die Erkenntnisse aus dem internationalen Vergleich lassen vermuten, dass eine gute ökonomische Basis für die Entwicklung leistungsfähiger urbaner Netzwerkstrukturen unter Umständen als Katalysator wirkt. So ist ein deutlicher Unterschied dahingehend festzustellen, dass in den weniger weit entwickelten, ehemaligen Ostblockstaaten das Muster gegenläufiger Bedeutsamkeit von Familie und Freund_innen in Abhängigkeit von der Gemeindegröße kaum existiert. Zudem haben Menschen dort deutlich häufiger niemanden und/oder keine zweite Person zur Unterstützung. Insgesamt ist das Niveau der Desintegration in diesen Staaten höher. Dies gilt – wie die Großstadtkritik postuliert – gerade in Großstädten, ganz besonders in Litauen. Mit diesem Befund wird die Vorstellung der Netzwerkstruktur als dynamischem Gebilde unterstützt. Es benötigt Zeit und möglicherweise auch eine gute ökonomische Grundlage, damit sich eine urbane Netzwerkstruktur ausprägen und sich dann auch die besondere Leistungsfähigkeit dieser Figuration entfalten kann. Unabhängig vom untersuchten Grundmuster urbaner Beziehungen zeigen sich in den Ländern spezifische Eigenheiten, für die sich kulturelle und/oder politisch-institutionelle Erklärungsansätze finden lassen. Beispiele sind zum einen die in Ungarn deutlich geringere Bedeutung von Freund_innen als Unterstützungspersonen im Vergleich zu Litauen (und den anderen Ländern), die bereits Höllinger (1989) feststellte. Unter Rückgriff auf Peabody (1985) vermutete er – analog zu Österreich – in Ungarn eine größere Verschlossenheit gegenüber außerfamiliären Sozialkontakten. Zum anderen fällt die starke Stellung institutioneller Hilfen bei Niedergeschlagenheit und Deprimiertheit in Frankreich ins Auge. Mit der hohen Aufgeschlossenheit für psychotherapeutische Vorgehensweisen als kulturellem Faktor scheint auch ein gut ausgebautes psycho-medizinisches Versorgungsnetz einherzugehen (vgl. Sonnenmoser 2011).

Die Verfügbarkeit von Unterstützung durch soziale Netzwerke

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Fazit und Ausblick

Die durchgeführten Analysen zeigen die wissenschaftliche Fruchtbarkeit des vergleichenden Ansatzes. Die Verknüpfung von zeitbezogener und international vergleichender Analyse hat einen eigenen Erkenntnisfortschritt zum Verständnis von Netzwerkstrukturen und ihrer Entwicklung erbracht. Einerseits zeigt sich eine Entwicklungsdynamik hin zu modernen, urbanen Beziehungsstrukturen mit stärkerer Einbeziehung von freiwilligen Bindungen an Freund_innen. Diese Entwicklung geht mit einer höheren Leistungsfähigkeit des sozialen Netzwerks bei der Unterstützung in Problemlagen einher. Die Ergebnisse stehen damit im Widerspruch zu Warnungen vor Entsolidarisierung und zunehmender Desintegration als Resultat gesellschaftlicher Modernisierung und fortschreitender Urbanisierung. Andererseits legen die Ländervergleiche nahe, dass in größeren Orten nicht zwangsläufig urbane Unterstützungsmuster und tragfähige Unterstützungsstrukturen vorhanden sind. In Ungarn und Litauen sind gerade in Großstädten stärkere Desintegrationserscheinungen zu beobachten. Dies lässt vermuten, dass für die Entstehung tragfähiger urbaner Beziehungsstrukturen im Rahmen gesellschaftlicher Modernisierung sowohl der Zeitfaktor als auch eine gute sozio-ökonomische Grundlage wichtige Voraussetzungen sein könnten. Eine erneute Erhebung der Netzwerkvariablen wurde mit dem ISSP-Programm im Jahr 2017 umgesetzt. Die entsprechende Erhebung in Deutschland wird mit dem Allbus 2018 durchgeführt. Für die erneute Analyse der sozialen Unterstützungsnetzwerke erscheint besonders interessant, inwiefern sich die Entwicklung des urbanen Beziehungsmusters mit starken freundschaftlichen Beziehungen in den verschiedenen Ländern fortgesetzt hat. Ferner wäre von großem Interesse, ob in den ehemaligen Ostblockländern weiterhin ein höheres Maß sozialer Desintegration besteht oder ob die soziale Kohäsion – möglicherweise im Zuge einer nachgeholten Entwicklung urbaner Beziehungsmuster – gestiegen ist. Literatur Blohm, M.; Klein, S.; Scholz, E. (2003): Konzeption und Durchführung der "Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften" (ALLBUS) 2002. ZUMA Methodenbericht 03/12. http://www.gesis.org/allbus/datenzugang/ methodenberichte/ [09.03.2018]. Böltken, F. (1987): Soziale Disparitäten und soziale Netzwerke im regionalen Vergleich. In: Informationen zur Raumentwicklung (9/10), S. 543–549. Bourdieu, P. (2012): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital (Orig. 1983). In: Bauer, U.; Bittlingmayer U. H.; Scherr, A. (Hrsg.): Handbuch Bildungsund Erziehungssoziologie. Wiesbaden: Springer VS, S. 229–242.

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Lebensqualität als normative Zielvorstellung sozialer Kohäsion? Zentrale human- und sozialwissenschaftliche Theorieansätze im Überblick Christian Spatscheck

Das Konzept der sozialen Kohäsion ist ein neueres Modell der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung (Dragolov et al. 2016; Boucher/ Samad 2015; Dobbernack 2014). Es ist als ein Ansatz der Lebensqualitätsforschung zu verstehen, welcher diese in systematischer Verschränkung von gesellschaftlich vorhandenem sozialen Kapital, sozialer Integration, sozial geteiltem Vertrauen sowie der Qualität öffentlicher Institutionen betrachtet (Phillips 2006, S. 141ff.). Innerhalb des Feldes der Lebensqualitätsforschung ist die Forschung zu sozialer Kohäsion jedoch nur einer von mehreren anerkannten und gebräuchlichen Ansätzen. Zur Vermessung des gesamten Feldes der Lebensqualitätsforschung soll in diesem Beitrag1 zunächst ein Überblick über die gesellschaftliche und sozialwissenschaftliche Relevanz des Konzeptes der Lebensqualität gegeben werden. Daran anknüpfend erfolgt ein Überblick über die zentralen Argumentationslinien im wissenschaftlichen Diskurs über Lebensqualität aus verschiedenen sozialwissenschaftlichen Bereichen. Abschließend wird die Relevanz dieser Forschungstätigkeiten für das Feld der Sozialen Arbeit diskutiert. 1

Lebensqualität und Wohlbefinden als populäre Themen in der Gesellschaft und im akademischen Diskurs

In den letzten Jahren wurde die Suche nach „dem guten Leben“ zu einem populären Thema im Alltagsleben westlicher Gesellschaften. Die Suche nach einer guten Balance von alltäglichen Aktivitäten sowie nach Sinn, Werten und Zufriedenheit wurde für viele Menschen zu einem zentralen und relevanten Aspekt. Auch auf gesellschaftlicher Ebene werden diese Entwicklungen deutlich. Zeitschriften über die Tugenden des „Landlebens” oder der „Happiness” zählen zu den meistverkauften Printtiteln. Soziale Bewegungen wie das „Downshifting”, „Downgrading” 1

Dieser Beitrag basiert auf einer übersetzten und inhaltlich überarbeiteten Version des Beitrags „Quality of Life and Well-Being – Tasks for Social Work?“, der in der Zeitschrift „Czech and Slovak Social Work“, Ausgabe 4/2017 (ERIS Journal, Summer 2017) erschienen ist und hier mit freundlicher Genehmigung dieser Zeitschrift erscheint. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Borrmann et al. (Hrsg.), Soziale kohäsion und gesellschaftliche Wandlungsprozesse, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25759-0_3

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entdecken die Idee des „Weniger ist mehr“ und des „Small is Beautiful“ wieder neu. Die Arbeitswelt ist mit einer neuen „Generation Y“ konfrontiert, die nach mehr Sinn und Erfüllung im Beruf fragt. Gruppen, wie „Slow Food“ und „Slow City“ (cittá slow) versuchen das Leben zu entschleunigen. Und verschiedenste Formen der inneren und spirituellen Suche sowie Angebote zur Beratung und Potenzialentwicklung finden ein anhaltendes Interesse. Diese Entwicklungen manifestieren sich auch in der Gründung neuer Initiativen und Bewegungen, sei es im Bereich des „Urban Gardening“, den neuen Netzwerken des Tauschens und Teilens und der „Sharing Economy”, den „Transition Towns“, der „Upcycling“-Initiativen und „Repair Cafés“ oder Initiativen der „Maker“ und der „Fablabs“. Aber „das gute Leben” wurde auch zu einem relevanten Thema für die Sozialwissenschaften. In Psychologie, Philosophie und Gesundheitswissenschaften widmen sich ganze Forschungsgruppen Themenbereichen wie Glücksforschung, Positiver Psychologie, subjektivem Wohlbefinden und der Achtsamkeit. Auch Soziologie, Wirtschaftswissenschaften und die Armuts- und Entwicklungsforschung richten ihre Forschungstätigkeit auf Wohlbefinden, Lebensqualität, soziale Entwicklung und sozialer Kohäsion aus. Und auch die Forschung zu sozialer, regionaler und internationaler Entwicklung und der Gemeinwesenentwicklung gestaltet ihre Interventionen zunehmend entlang von Konzepten der Erweiterung von Lebensqualität für möglichst viele ihrer Zielgruppen. Natürlich finden diese Entwicklungen in ganz bestimmten gesellschaftlichen und historischen Kontexten statt. Gründe für das wachsende Interesse am „guten Leben“ könnten in der globalen Einsicht der ökologischen und sozialen Grenzen des Wachstums, einer Zunahme an politischen und wirtschaftlichen Krisen und der Krise des globalisierten Kapitalismus selbst liegen. Auch persönliche Erfahrungen des immer stärker beschleunigten Lebens, der Zunahme von Stress und den damit verbundenen Erkrankungen, Burnouts und Depressionen, führen zur Infragestellung der gegenwärtigen Leitmodelle wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen. Vor diesem Hintergrund fordert eine wachsende Gruppe aufgeklärter und kritischer Bürger_innen mehr Partizipation, Demokratie und sucht nach alternativen Ansätzen der Entwicklung. Dabei blicken sie auch auf neue postmaterielle Ansätze der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, die zumindest bezweifeln, dass ein permanent wachsendes Bruttosozialprodukt der einzige Leitindikator einer „guten Entwicklung“ ist. Im Zeitalter der postmodernen Entideologisierung und dem oft proklamierten „Ende der großen Utopien” suchen viele dieser Menschen zudem zumindest nach „kleinen“ neuen Utopien. Und, nicht zuletzt, ist diese Entwicklung auch einem wissenschaftlichen Fortschritt geschuldet. Konzepte und empirische Studien zur Lebensqualität fanden größeres Interesse und Berücksichtigung in vielen akademischen Disziplinen. Interessanterweise bezieht sich der akademische Diskurs zur Sozialen Arbeit bislang nur sehr selten (vgl. z.B. Jordan 2007; 2009) oder eher indirekt (vgl. z.B.

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Dominelli 2012 oder Payne 2011) auf die akademische Diskussion zu Lebensqualität und Wohlbefinden. Dieser Umstand ist umso bemerkenswerter, da die Globale Definition Sozialer Arbeit der IFSW und der IASSW sich explizit auf die Förderung und Entwicklung von mehr Lebensqualität bezieht: „Underpinned by theories of social work, social sciences, humanities and indigenous knowledge, social work engages people and structures to address life challenges and enhance wellbeing“. Dieser direkte Bezug zur Lebensqualität und Wohlbefinden scheint bislang noch sehr wenig in den theoretischen und konzeptionellen Debatten der Sozialen Arbeit berücksichtigt zu werden. Die akademische Soziale Arbeit scheint den immensen Umfang an Forschung zu Lebensqualität und Wohlbefinden aus den verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen bislang noch nicht zu rezipieren. Vor diesem Hintergrund könnte es hilfreich sein, die wichtigsten Entwicklungen und die verschiedenen akademischen Zugänge in diesem Bereich genauer zu identifizieren und sich dabei auch der Frage zu widmen, was diese bereits vorhandene Wissensbasis für die Soziale Arbeit in Theorie und Praxis bedeuten und beitragen könnte. 2

Lebensqualität und Wohlbefinden aus sozialwissenschaftlicher Sicht

In Bezug auf die Forschung und Theorieentwicklung zur Lebensqualität sind verschiedene sozialwissenschaftliche Disziplinen bereits seit längerem sehr aktiv. Während der letzten 50 Jahren wurde ein sehr umfangreicher Bestand an Studien und Publikationen erarbeitet (Rapley 2001, S. 3ff.; Phillips 2006). Obwohl diese in sehr unterschiedlichen Kontexten entstanden, sei es die Soziologie, Psychologie, Wirtschaftswissenschaften, Gesundheitswissenschaften, Entwicklungsstudien oder anderen Disziplinen, haben all diese Studien zumindest eine gemeinsame Eigenschaft: Sie suchen jenseits des traditionell anerkanntesten Indikators für Wohlbefinden, dem Bruttosozialprodukt pro Einwohner_in, nach neuen Kriterien und Definitionen dafür, was ein „gutes Leben“ ausmacht und wie man dieses erforschen kann. Implizit und oft unbewusst verbinden sie dabei ihre Hauptargumentationen mit der Leitthese des „Easterlin Paradoxes“. Bezugnehmend auf eine empirische Studie von Richard Easterlin aus dem Jahr 1974, und durch viele weitere Studien später bestätigt, beschreibt das Easterlin Paradox den bemerkenswerten Sachverhalt, dass alle Umfragen zur individuellen Lebenszufriedenheit in westlichen Gesellschaften nachweisen, dass die persönliche Gesamtzufriedenheit mit dem eigenen Leben in den westlichen Gesellschaften eher stagniert und weit unter den Zuwachsraten des allgemeinen Wirtschaftswachstums verbleibt (Jordan 2008, S. 13). Verstärkte Forschungsaktivitäten in diesem Bereich sind ab den 1960er Jahren zu verzeichnen als ein Mangel von Daten und Modellen zum Wohlbefinden

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zur Gründung einer „social indicators Bewegung“ führte, in der vielfältige Konzepte für die Messung und Erfassung von Lebensqualität entwickelt wurden (Noll 2002). Während der folgenden Dekaden nahm der Umfang an Forschungstätigkeiten fortlaufend zu und verschiedene Indikatoren zur Identifikation von objektivem und subjektivem Wohlbefinden und von Lebensqualität wurden entwickelt, getestet und angewandt (Rapley 2001, S. 11). Mittlerweile ist es sehr schwer möglich, alle Forschungsaktivitäten zu diesem Thema in den verschiedenen Disziplinen noch zu überblicken. Eine erste populäre Formel wird vom Soziologen Jan Delhey formuliert. Er fasst seine langjährigen Forschungsaktivitäten in folgender Gleichung zusammen: „Glück = Haben (ein gewisses Maß an Wohlstand) + Lieben (bedeutungsvolle und belastbare Beziehungen) + Sein (die Entwicklung und das Ausleben von persönlichen Vorhaben)” (Bormans 2012, S. 224). Aber jenseits solcher persönlicher Versuche einer Zusammenfassung gibt es noch immer keine allgemein anerkannte übergreifende Definition von Lebensqualität (Rapley 2001, S. 63). Was jedoch als erste konzeptionelle Basis für einen Einblick in das Feld dienen kann, ist eine Synopse der zentralen Lehrbücher zur Lebensqualitätsforschung. Für diese beziehe ich mich in den folgenden Abschnitten insbesondere auf Bücher von David Phillips (2006) und Mark Rapley (2001) und reichere deren Argumentationslinien mit weiteren feldspezifischen Studien und Lehrbüchern an. Auf dieser Grundlage können sieben Hauptansätze zur Lebensqualität und zum Wohlbefinden in den Sozialwissenschaften identifiziert werden. Diese werden in den folgenden Abschnitten beschrieben. 2.1 Subjektives Wohlbefinden, Glücksforschung und Positive Psychologie Einige Gruppen von Lebensqualitätsforschenden legen ihren Fokus auf die empirische Messung und Operationalisierung von subjektivem Wohlbefinden (SWB) sowie individuell wahrgenommenem Glück (für einen Überblick: Phillips 2006, S. 15ff.; Rapley 2001, S. 190ff.). Während der letzten Dekaden führten umfassendere Forschungsaktivitäten zu einer fundierten Wissensbasis in diesem Feld. In den meisten dieser Studien werden subjektives Wohlbefinden und Glück als synonyme Begriffe benutzt und anhand individueller Ausprägungen und subjektiver Wahrnehmungen gemessen. Dabei wird Glück oft entlang von Operationalisierungen wie der folgenden definiert: „the experience of joy, contentment, or positive well-being, combined with a sense that one’s life is good, meaningful, and worthwhile” (Lyubomirsky 2007, S. 14). Forschungsaktivitäten in diesem Bereich konnten bestimmte Faktoren, Aktivitäten und Charaktereigenschaften ermitteln, die dazu beitragen, ein subjektives Glücksempfinden zu erhalten (Lyubomirsky 2007, S. 88ff.; Seligman 2011; Compton und Hoffman 2012; Steinebach et al. 2012). Einige der wichtigsten Merkmale sind hierbei die individuellen Wahrnehmungen von:

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- Verbindung, Zugehörigkeit und Bindungen zu verlässlichen und präsenten Bezugspersonen oder Familienmitgliedern - Güte und Mitgefühl in sozialen Beziehungen und im Kontakt mit anderen Menschen - Kooperation und Versöhnung in sozialen Beziehungen - Aktivitäten der Achtsamkeit und der kontemplativen Fokussierung - Erfahrungen von Selbstachtung, Flow, Optimismus, Dankbarkeit, Demut, Staunen oder Schönheit Während der letzten Dekaden kann sogar von einer „positiven Wende” in der ganzen Disziplin der Psychologie gesprochen werden (Compton/ Hoffman 2012; Steinebach et al. 2012). Die psychologische Forschung verlagerte ihren Blick zunehmend von einer problemorientierten „negativen” Psychologie, die auf psychiatrische Krankheiten und Probleme fokussiert ist, zu einer „Positiven Psychologie” die versucht, die Hauptfaktoren von Wohlbefinden und einer gelingenderen Lebensführung zu identifizieren. In der Forschung zur Positiven Psychologie wurde das Konzept des „Flourishing“ (Gedeihens) zu einem zentralen Bezugspunkt. Felicia Huppert und Jeremy So haben Flourishing folgendermaßen definiert (Huppert/ So zit. n. Seligman 2011, S. 22): „To flourish an individual must own all of the following ‘core features’ and three of the six ‘additional features’. Core features are (a) positive emotions, (b) engagement, (c) interest, (d) meaning and purpose. Additional features are: (a) self-esteem, (b) optimism, (c) resilience, (d) vitality, (e) self-determination, and (f) positive relationships”. Ein sehr grundlegender Unterschied kann zwischen hedonistischen und eudaimonischen2 Glückskonzepten getroffen werden (Phillips 2006, S. 31). Während hedonistische Ansätze sich auf herausragende Momente von Glück, Intensität, Freude und Lust konzentrieren, identifizieren eudaimonische Ansätze die Faktoren allgemeiner Lebenszufriedenheit entlang von Kriterien wie Kompetenzen, Autonomie sowie Sinn und Zielen im Leben. Viele Glücksstudien legen ihr Augenmerk auf das individuelle Wohlbefinden. Aber es gibt auch Ansätze, die soziale und kollektive Faktoren in Glücksstudien integrieren. So legen Umfragen wie der UN World Happiness Report (Helliwell et al. 2013) ihren Fokus auch auf Kontextfaktoren und strukturelle Aspekte von Wohlbefinden und Glück. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in vielen Beiträgen einer der führenden Zeitschriften in diesem Bereich, des „Journal of Happiness Studies“ wieder, die häufig die Faktoren des sozialen Umfeldes und der individuellen Handlungsfähigkeit in ihrer Wechselwirkung betrachten. 2 Der Begriff eudaimonisch kommt aus der antiken griechischen Philosophie und bezieht sich auf den Begriff des Daimons, des guten Gemütszustandes. Aristoteles benutzte diesen Begriff um damit das höchste Ziel einer guten Lebensführung entlang jener Tugenden zu beschreiben, die aus ethischen Erwägungen erhalten werden.

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2.2 Gesundheitsbezogene Ansätze Die neuere Gesundheitsforschung hat maßgeblich die aktuelle Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beeinflusst. Gemäß dieser Definition ist Gesundheit mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Vielmehr wird Gesundheit dort als Zustand des vollständigen körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens betrachtet (Phillips 2006, S. 40). Diese breite und engagierte Vision erweiterte die Ziele von Gesundheitsstudien und gesundheitsbezogenen Interventionen in jene Bereiche, die bis dahin von anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen abgedeckt wurden und nun für die Gesundheitsforschung ebenfalls relevant wurden. Mit dieser Entwicklung erfuhr die gesundheitsbezogene Forschung einen starken Anstieg an Aktivitäten zur Analyse und Erfassung der sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen von Gesundheit (Rapley 2001, S. 139 ff.). In Bezug auf Individuen werden diese Studien oft entlang des Konzepts der „Health Related Quality of Life“ (HRQOL) durchgeführt, die eine subjektive und erfahrungsbezogene Perspektive einnehmen. Eine führende Definition von Anne Bowling beschreibt die Situation folgendermaßen: „Health-related quality of life is defined here as optimum levels of physical role (e.g. work, carer, parent, etc.) and social functioning, including relationships and perceptions of health, fitness, life satisfaction and well-being” (Bowling 1995, zit. n. Phillips 2006, S. 41). Eine weitere gängige Maßeinheit stammt aus dem „healthy years approach“. Zur Messung der Wirkung und Effektivität von gesundheitsbezogenen Interventionen wurde das Konzept der „quality adjusted life years“ (QALYs) und für den Bereich von Behinderungen der „disability adjusted life years“ (DALYs) als zentrale Referenzmodelle entwickelt (Rapley 2001, S. 143; Phillips 2006, S. 46). Ein QALY oder DALY von 1,0 repräsentiert ein Jahr mit guter Gesundheit im Leben eines_r Adressat_in. Mark Rapley (2001, S. 255) weist auf die Ambivalenzen von Messungen der QALYs oder DALYs hin: Was würde passieren, wenn ein Mensch über einen längeren Zeitraum kein gesundes Leben für sich empfinden? Würde diese Person noch immer einen Anspruch auf gesundheitsbezogene Hilfen haben oder wäre es „effektiver“, andere Menschen zu unterstützen, die eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, ihr Wohlbefinden zu erhalten oder zu erhöhen? Fragen dieser Art verweisen auf ethische und gesellschaftliche Konfliktlagen. Eine nötige Schlussfolgerung hieraus ist, dass subjektive Nutzenerwägungen nicht hinreichend dafür geeignet sind, um die Verteilung gesundheitsbezogener Interventionen zu gewichten. Stattdessen ist eine kritische Reflektion aller gesundheitsbezogenen Faktoren und ein Bezug zu den Prinzipien der Menschenrechte und Menschenwürde nötig, um hier moralische und ethische Entscheidungen treffen zu können. Jenseits individuumsbezogener Ansätze integrieren viele gesundheitsbezogene Lebensqualitätsstudien auch Aspekte des Sozialen und des Gemeinwesens

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(Phillips 2006, S. 54). Solche Ansätze verfolgen systemische und ökologische Modelle, die die individuelle Gesundheit und das Wohlbefinden von Menschen in Wechselwirkung mit Familien- und Beziehungsnetzwerken, Zugehörigkeiten zu Gemeinschaften, Gemeinwesen, Nationen, Gesellschaften und in Bezug auf transnationale Einflüsse betrachten. Diese Ansätze setzen die Wechselwirkungen all dieser Ebenen in Bezug, um ein soziales und gemeinwesenbezogenes Verständnis von Gesundheit zu erhalten. Weitere Aktivitäten der gesundheitsbezogenen Lebensqualitätsforschung können mit dem Begriff der „kritischen Public Health Forschung“ beschrieben werden (Phillips 2006, S. 191). Diese Ansätze verfolgen die Vision von gesunden Gesellschaften und messen die Einflüsse von Planung und Politik auf die Gesundheit und die Teilhabe von Menschen. Eine der bekanntesten Studien in diesem Bereich sind die Public Health Studien der Epidemiologien Richard Wilkinson und Kate Picket (z.B. Wilkinson/ Pickett 2010). Diese konnten nachweisen, dass soziale Gleichheit und soziale Kohäsion die zentralen Hauptfaktoren für eine positive Entwicklung von Menschen sind. Ihre Studien zeigen, dass wirtschaftliche und soziale Ungleichheit sowie geringe sozialer Kohäsion in allen Forschungen einem verstärkten Auftreten von gesundheitsbezogenen und sozialen Problemen korrelieren. Höhere Ungleichheit stand in allen betrachteten Ländern und Gesellschaften mit niedrigerer körperlicher und psychischer Gesundheit sowie mit einer Zunahme von Abhängigkeiten, Teenagerschwangerschaften, Kindesmisshandlung, Gewalt, höheren Kriminalitätsraten, sozialer Spaltung, geringerem Vertrauen und weniger Gemeinschaftsleben und -aktivitäten in Verbindung. 2.3 Wohlbefinden, Bedürfnisse und Capabilities Viele Ansätze zur Messung und Operationalisierung von Lebensqualität orientieren sich zur Bestimmung von Mindeststandards für ein „gutes Leben” an Modellen über zentrale Werte oder Bedürfnisse (Phillips 2006, S. 62ff.). Diese Ansätze versuchen, Konzepte menschlicher Bedarfe und Bedürfnisse zu formulieren, und erstellen oft Sammlungen und Listen von Indikatoren und Ressourcen, die Menschen für ihre positive individuelle und soziale Entwicklung benötigen. Im Folgenden können nicht alle dieser Ansätze beschrieben werden, aber zumindest die folgenden fünf Modelle sollen weitere Berücksichtigung finden. Len Doyal und Ian Gough (1991) haben eine umfassende Theorie menschlicher Bedürfnisse formuliert. Ihr Ansatz orientiert sich vor allem entlang der beiden menschlichen Primärbedürfnisse nach körperlicher Gesundheit sowie nach Autonomie und Agency. Für die Befriedigung dieser objektiven Primärbedürfnisse identifizieren Doyal und Gough elf Intermediäre Bedürfnisse: (a) Gehaltvolle Nahrung und sauberes Wasser, (b) schützende Wohnmöglichkeiten, (c) ungefährliche Arbeitsumgebungen, (d) ungefährliche physikalische Umgebungen, (e) sichere Formen von Geburtenkontrolle und Schwangerschaften, (f) hinreichende

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Gesundheitsversorgung, (g) sichere Kindheiten, (h) bedeutungsvolle Primärbeziehungen, (i) körperliche Sicherheit, (j) wirtschaftliche Sicherheit und (k) hinreichende Erziehung und Bildung. Der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen (1993) formulierte seinen weithin bekannten „Capability Ansatz“. Dieser Ansatz basiert auf den Ideen von Freiheit und Entwicklung. Er folgt dem Hauptkonzept des Erhaltens von „Functionings” – Zuständen von Wohlbefinden und aktivem Handeln und Sein. Die Functionings werden durch die Anwendung bestimmter Ressourcen erhalten, diese Ressourcen werden als „Capabilities“ bezeichnet. Die wichtigsten Functionings des Wohlbefindens sind: (a) Vermeiden von Sterblichkeit und Finden von Gesundheit, (b) ernährt sein, (c) Mobilität wahrnehmen können, (d) glücklich sein, (e) Selbstwertgefühl finden, (f) am Leben des Gemeinwesens teilnehmen können, (g) in der Öffentlichkeit ohne Scham auftreten zu können. Die Philosophin Martha Nussbaum (2000) schließt an Sens Capability Approach an, erweiterte diesen anhand philosophischer Konzepte und spezifizierte, was Capabilities sind. Während Sen es bis heute vermeidet, eine Liste der Capabilities zu formulieren, hat Nussbaum eine solche Liste ausgearbeitet. Diese enthält, hier in abgekürzter Form dargestellt, folgende Elemente: (a) Körperliche Capabilities (ein Leben in normaler Länge, körperliche Gesundheit, körperliche Integrität, materieller Einfluss auf Welt), (b) mentale Capabilities (Sinne, Imagination, Denken; Emotion, Fürsorge, Liebe, praktische Vernunft) und (c) soziale Capabilities (Zugehörigkeit, politischer Einfluss, Leben mit anderen, soziale Quellen für Selbstbewusstsein, Kontakt mit anderen Spezies, Spiel). Robert Skidelsky und Edward Skidelsky (2012) haben ein theoretisches Konzept von „Grundgütern“ (basic goods) formuliert, die das gute Leben selbst ausmachen und nicht nur Güter beschreiben, die dazu genutzt werden können, um ein gutes Leben zu führen. Ihre Liste dieser Grundgüter besteht aus: (a) Fähig sein, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln, (b) das Finden und Behalten guter Gesundheit und die Fähigkeit, Erfahrungen machen zu können (c) Freizeit, (d) Freundschaft, (e) Respekt, (f) Sicherheit und (g) Harmonie mit der Natur. Auch die Theorie Sozialer Arbeit bietet Konzepte und „Listen” über das, was Menschen für ein gutes Leben benötigen. Der emergentisch-systemistische Theorieansatz von Silvia Staub-Bernasconi und weiteren Autor_innen betrachtet Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession und identifiziert die folgenden Ressourcen, die für die menschliche Lebensführung notwendig sind (Staub-Bernasconi 2007, S. 183ff.): (a) Körperliche Ressourcen (Gesundheit, Fähigkeiten), (b) sozioökonomische Ressourcen (Geld, Güter), (c) sozio-kulturelle Ressourcen (kulturelle Zugehörigkeit), (d) sozio-ökologische Ressourcen (Natur, gesunde Umwelt), (e) wissensbezogene Kompetenzen, (f) symbolische Ressourcen (adäquate innere Bilder und mentale Modelle), (g) Handlungskompetenzen, (h) soziale Positionen (formelle und informelle Rollen in sozialen Systemen) und (i) Mitgliedschaften in

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sozialen Systemen (Solidarität und Unterstützung). Jenseits dieser Ressourcen analysiert Silvia Staub-Bernasconi auch die Bedingungen von Gegenseitigkeit und von Machtverhältnissen. Ihr Ansatz ist begründet in einer Theorie menschlicher Bedürfnisse die vor allem von ihr, Werner Obrecht und Kaspar Geiser entwickelt wurde (vgl. Obrecht 1999). 2.4 Armutsstudien Einige Ansätze der Lebensqualitätsforschung sind im Kontext von Armuts- und Entwicklungsstudien und Analysen zur Prävention weltweiter oder lokaler Armut verortet (im Überblick vgl. White 2014). In Bezug auf Lebensqualität und Wohlbefinden formulieren die meisten dieser Studien die Schlussfolgerung, dass Armut mehr als nur die Abwesenheit von materiellen Ressourcen ist, sondern auch verschiedene Formen der sozialen Exklusion beinhaltet. Vor diesem Hintergrund differenzieren diese in absolute und relative Armut (Phillips 2006, S. 108ff.). Relative Armut wird als soziale Exklusion betrachtet, die auf strukturelle, lebensweltbezogene und individuelle Faktoren zurückzuführen ist (ebd., S. 116ff.). Entwicklungsarbeit und ihre Interventionen legen ihren Fokus auf die Veränderung von Verhältnissen sozialer Exklusion und versuchen dabei Bedingungen für mehr Wohlbefinden, Gerechtigkeit, Empowerment, fairere Wirtschafts- und Handelsbeziehungen und Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen (White 2014). Insofern verbinden auch diese die individuellen und kollektiven Ansätze der Lebensqualitätsforschung. 2.5 Gemeinschaften, soziales Kapital und soziale Kohäsion Weitere Ansätze der Lebensqualitätsforschung orientieren sich am Konzept starker Gemeinschaften. Den Überlegungen des Soziologen Ferdinand Tönnies folgend, dieser Unterschied zwischen den frei gewählten „Gemeinschaften“ und der vorgegebenen und abstrakteren „Gesellschaft“, werden Aktivitäten der Gemeinschaftsbildung als Gegenmodell und sicherer Hafen gegen die bedrohlichen Einflüsse des Lebens in der modernen Gesellschaft betrachtet. In ähnlicher Weise unterschied Émile Durkheim zwischen der gegebenen „mechanischen Solidarität“ der vorindustriellen Gesellschaften und der organisierten „organischen Solidarität“ der modernen Gesellschaften, welche durch Gemeinschaftsbildung, geteilte moralische Erfahrungen und aktive Interdependenzen erst hergestellt werden muss. Kommunitaristische Philosophen wie Michael Walzer, Robert Putnam und Charles Taylor thematisieren seit den 1990er Jahren ebenfalls die Bildung von Gemeinschaften als notwendiges Gegengewicht zu den zunehmend individualistischen Tendenzen in den westlichen Gesellschaften. Einige Ansätze der Lebensqualitätsforschung sind ebenfalls mit einer solchen Gemeinschaftsorientierung verbunden. Hierbei können vor allem zwei Strömungen identifiziert werden. Zum einen liegen Ansätze vor, die Gemeinschaften in

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Bezug auf das von ihnen hervorgebrachte „soziale Kapital“ untersuchen. Und zum anderen gibt es Ansätze, die die „soziale Kohäsion” von Gemeinschaften und Gesellschaften erfassen. Theoretische Modelle zu sozialem Kapital (Phillips 2006, S. 135ff.) betrachten die Bildung von Gemeinschaften als nützlich für die Entwicklung der Potenziale einer Gesellschaft sowie als eine Form des „sozialen Klebstoffes”, der die individualistischen und kompetitiven Gesellschaften zusammen hält. Soziale Netzwerke, Nachbarschaften sowie Aktivitäten von Solidarität und des gegenseitigen Austausches werden als zentrale Voraussetzungen für die Entwicklung weiterer Ressourcen und den Zusammenhalt von Gesellschaften und Gemeinschaften betrachtet. Bekannte Studien von Robert Putnam (2000) oder Pierre Bourdieu (1979) sind am Konzept des sozialen Kapitals orientiert. In der Sozialen Arbeit stehen die Lebensqualitätsstudien von Bill Jordan (2009) in direkter Verbindung mit dem Konzept des sozialen Kapitals. Das Konzept der sozialen Kohäsion ist ein neueres sozialwissenschaftliches Modell. Es integriert eine horizontale Ebene des gegenseitig produzierten und geteilten sozialen Kapitals mit einer vertikalen Ebene von Integration, Vertrauen und dem Vorhandensein von zivilgesellschaftlichen Institutionen (Phillips 2006, S. 141ff.). Ein Anwendungsbeispiel ist ein Modell, das in den Lebensqualitätsstudien der Bertelsmann Stiftung, etwa dem „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt“ (Bertelsmann Stiftung 2014) oder der internationalen Vergleichsstudie „Soziale Kohäsion und Wohlbefinden in der EU“ (Bertelsmann Stiftung/Eurofound 2014) eingesetzt wird. In diesen Studien wird soziale Kohäsion entlang der drei folgenden Dimensionen abgebildet: Soziale Beziehungen, bestehend aus Indikatoren zu sozialen Netzwerken, Vertrauen in andere Menschen und zur Akzeptanz von Verschiedenheit Soziale Verbundenheit, bestehend aus Indikatoren zu sozialer Identifikation, Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen und zur in der Gesellschaft wahrgenommenen Fairness Vorhandene Gemeinwohlorientierung, bestehend aus Indikatoren zu Gesellschaft und Hilfsbereitschaft, zum Respekt für soziale Regeln und zur zivilgesellschaftlicher Partizipation Studien dieser Art ermöglichen einen systematischen Überblick zu Trends und Entwicklungen sozialer Kohäsion sowie Vergleiche in einer internationalen Perspektive. 2.6 Gesellschaft und soziale Lebensqualität: Freiheit, Gleichheit, Solidarität Das Konzept der „Sozialen Qualität” (social quality) wurde als Kritik und Gegenmodell zu den ansonsten oft ökonomisch dominierten Modellen des guten Lebens

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entwickelt (Phillips 2006, S. 175). An gesellschaftliche Institutionen sowie Forschende gerichtet ermitteln diese, in wie weit Bürger_innen in der Lage sind, in ihrem Gemeinwesen zu partizipieren und ob sie dort passende und förderliche Bedingungen vorfinden, um ihr Wohlbefinden und ihre individuellen Potenziale entwickeln können. Das Model der Sozialen Qualität bezieht sich auf die folgenden vier „konditionalen Faktoren“, die Gesellschaften bereitstellen sollten und weiter entwickeln können (Beck et al. 2001): Sozio-ökonomische Sicherheit, definiert anhand der Frage, ob Bürger_innen genügend Ressourcen zur Gestaltung ihres Lebens vorfinden und erlangen können. Dies beinhaltet die Bereiche: Finanzielle Ressourcen, Wohnung und Umwelt, Gesundheit und soziale Fürsorge, Arbeit und (Aus)Bildung. Soziale Inklusion, definiert anhand der Frage des Zugangs zu Institutionen und sozialen Beziehungen. Dies beinhaltet die Bereiche: Bürger_innenrechte, Arbeitsmarkt, öffentliche und private Dienstleistungen und soziale Netzwerke. Soziale Kohäsion, definiert anhand der Qualität sozialer Beziehungen auf der Grundlage von sozialen Rollen, Werten und Normen. Dies beinhaltet die Bereiche: Vertrauen, integrative Normen und Werte, soziale Netzwerke und Identitäten. Soziales Empowerment, definiert anhand der Frage, ob die Fähigkeiten der einzelnen Personen und ihre Handlungsmöglichkeiten durch soziale Beziehungen unterstützt werden. Dies beinhaltet die Bereiche: Wissensbasis, Arbeitsmarkt, Offenheit und Unterstützung von Institutionen und persönlichen Beziehungen. Das Modell der Sozialen Qualität verfolgt bewusst einen normativen Ansatz. Es betont die Pflichten einer Gesellschaft, die Rechte der Bürger_innen zu unterstützen und sozio-ökonomische Sicherheit zu schaffen. Es formuliert die Notwendigkeit, gesellschaftliche Entwicklungen und biographische Dimensionen zusammenzudenken und fordert eine Vermittlung zwischen Systemen, Institutionen, Organisationen, Unternehmen, Familien, Netzwerken und Gemeinschaften. Mit dieser Ausrichtung beinhaltet es viele Ähnlichkeiten zu „Person-in-der-UmgebungAnsätzen“, die oft auch als Modelle für die Soziale Arbeit herangezogen werden (z.B. Payne 2011). Die Forschungsgruppe ENIC (European Network of Indicators of Social Quality) hat für die empirische Forschung zur Sozialen Qualität einen Katalog mit 95 Indikatoren entwickelt, anhand derer die Soziale Qualität in verschiedenen Ländern oder Gemeinwesen gemessen und verglichen werden kann. Dieser Katalog befindet sich auch im Anhang von Phillips (2006, S. 246). Zu Beginn hatten sich die Forscher_innen zu Sozialer Qualität in der EFSQ (European Foundation

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on Social Quality) organisiert, mittlerweile wurde diese Organisation zur IASQ (International Association of Social Quality) erweitert. 2.7 Eine Vision: Postwachstumsökonomie und Postwachstumsgesellschaften Zwei sehr grundlegende Situationen haben zur Entwicklung von Modellen und Konzepten der Postwachstumsökonomie und zu Postwachstumsgesellschaften beigetragen. Zum einen die ökologischen Grenzen des Wachstums, sichtbar anhand der globalen Klimakrise, dem bevorstehenden „Peak everything“ nahezu aller natürlicher Ressourcen und zum anderen gesellschaftliche Krisen, die die sozialen und sozioökologischen Grenzen des Wachstums sichtbar machen (vgl. Dominelli 2012). Beides wird auch vom oben erwähnten „Easterlin Paradox“ gestützt, welches anzeigt, das wachsender Wohlstand und Glück ihre Korrelation jenseits eines bestimmten Grundlevels von Wohlstand verlieren und sich entkoppeln. Autoren von Postwachstumskonzepten suchen nach ersten Konturen zu Ideen und Modellen, die helfen, diese Krisen zu bewältigen und arbeiten an alternativen Konzepten von Wohlbefinden, Wohlfahrt und Lebensführung. In diesem Sinne publizierte Tim Jackson (2011) seine Ideen zu „Wohlstand ohne Wachstum“, fordert Niko Paech (2012) entlang der selbstgewählten Tugenden von Suffizienz und Subsistenz die Entwicklung neuer Formen des lokalen und solidarischen Wirtschaftens, suchen Forschungsgruppen nach Konzepten einer „nachhaltigen Wohlfahrt“3 (z.B. Koch/ Mont 2016) und organisieren sich verschiedene Gruppen und Initiativen entlang der Idee von „Transition Towns“ (Hopkins 2011) oder der Wiederbelebung der Idee der Gemeingüter, die als „Commons” geteilt werden (Ostrom 2012). All diese Initiativen teilen das gemeinsame Ziel, nach Modellen und Konzepten für sozial, ökologisch und wirtschaftlich nachhaltigere Lebensstile zu suchen, die zu mehr Glück, Wohlbefinden und sozialer, ökologischer und globaler Gerechtigkeit führen. 3

Lebensqualität und Wohlbefinden – Aufgabe und Bezugsmodell für die Soziale Arbeit?

David Phillips kommt auf der Grundlage seiner Forschungsaktivitäten über Lebensqualität und Wohlbefinden zu folgender Arbeitsdefinition: „Quality of life requires that people’s basic and social needs are met and that they have the autonomy to choose to enjoy life, to flourish and to participate as citizens in a society with Ein Beispiel ist hier das Interdisziplinäre Projekt „Sustainable Welfare” am „Pufendorf Institute of Advanced Studies“ der Universität Lund. 3

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high levels of civic integration, social connectivity, trust and other integrative norms including at least fairness and equity, all within a physically and socially sustainable global environment“ (Phillips 2006, S. 242). Für den Bereich der Sozialen Arbeit bleibt nun die Frage offen, welcher Nutzen und Gewinn durch die Beschäftigung mit der umfassend vorliegenden empirischen und theoretischen Wissensbasis zu Lebensqualität und Wohlbefinden erreicht werden könnte. Können die oben erläuterten Ansätze weitere Erkenntnisse und wissenschaftliche Inspiration liefern? Aus meiner Sicht sollten die folgenden vier Gesichtspunkte in einer weiteren Diskussion ihre Betrachtung finden. 3.1 Ein Perspektivwechsel Die beschriebenen Ansätze zu Lebensqualität und Wohlbefinden beschreiben einen Perspektivwechsel im Denken. Sie formulieren einen genuin positiven Ansatz, der die Blickrichtung von sozialen Problemen zur Vision und zu den Zielen eines glücklicheren und besseren Lebens lenkt. Dabei beleuchten sie die Konditionen, Potenziale und Möglichkeiten für eine positive individuelle und soziale Entwicklung und schaffen eine Grundlage für Debatten über Rechte und Chancen, die jeder Mensch erhalten und erreichen können sollte. Insofern haben diese Ansätze konzeptionelle Ähnlichkeiten und Verbindungen zu den Modellen einer Sozialen Arbeit als einer Menschenrechtsprofession (Staub-Bernasconi 2007; Ife 2012), zu Ansätzen, die die Fragen sozialer und ökologischer Gerechtigkeit zusammen denken (Dominelli 2012) oder zu humanistischen Ansätzen der Sozialen Arbeit (Payne 2011). Entlang dieser Ausrichtung beschreiben sie einen Schritt hin zu einem „Mainstreaming sozialer Probleme”. Sie verdeutlichen, dass Glück und Wohlbefinden nicht nur Luxusprobleme der Mittelschicht sind, sondern Ziele beschreiben, die auch gerade von den Armen, den Subalternen und anderen exkludierten Gruppen und Individuen erreicht und verdient werden. 3.2 Wissensbasis für Analysen und Interventionen Viele Konzepte und Ergebnisse aus der Forschung zu Lebensqualität und Wohlbefinden können als Quelle für eine begründetere Wissensbasis für die Handlungsund Interventionsfelder der Sozialen Arbeit genutzt werden. So könnte die Positive Psychologie relevante und inspirierende Orientierung für Interventionen und Zugänge entlang der Aufgaben von Falleinschätzung, Situationsanalysen, Planung, Intervention und Beratung in der Fallarbeit mit Einzelnen, Familien und Gruppen bieten. Und Forschungsergebnisse zu Sozialer Qualität, sozialem Kapital und sozialer Kohäsion könnten Sozialarbeiter_innen mehr Orientierung für ihre Interventionen zur Unterstützung von Gruppen, Organisationen, Gemeinwesen und Gesellschaften bieten. Interessanterweise beinhalten die meisten der beschrie-

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benen Ansätze bereits einen Mehrebenenansatz, der die Mikro-, Meso- und Makroebene systematisch zusammenführt und damit eine große Nähe zu vielen Theorien und Konzepten der Sozialen Arbeit aufweist. Zur weiteren Systematisierung können die beschriebenen Ansätze in individuelle und kollektive Modelle unterschieden werden. Damit liegen vier individuumsbezogene Ansätze vor, diese bestehen aus (a) der Forschung zum subjektivem Wohlbefinden, (b) den Ansätzen zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität, (c) den Modellen, die auf Bedürfnisse oder Capabilities rekurrieren und (d) die armuts- und lebenslagenbezogenen Studien. Und es liegen drei kollektivbezogene Ansätze vor, bestehend aus (a) den Gemeinschaftsstudien zu sozialem Kapital und sozialer Kohäsion, (b) den Ansätzen zu gesellschaftlicher Lebensqualität, einbezogen der Forschung zu Sozialer Qualität und zur übergreifenden Lebensqualität, sowie (c) den kritischen Public Health Modellen. Aus einer humanistischen Perspektive macht es sicherlich Sinn, diese zwei Typen von Ansätzen in ihrer Verbindung zu betrachten. Gerade die Soziale Arbeit könnte einen fachlichen Ort für eine solche integrative Perspektive bieten. 3.3 Glück und Lebensqualität als kontextbezogene Begriffe Eine begriffliche und ontologische Analyse verdeutlicht, dass Wohlbefinden, Glück und Lebensqualität keine für sich allein stehenden und abgeschlossenen Objekte sind. Vielmehr müssen diese als emergente und kontextabhängige Eigenschaften verstanden werden. Lebensqualität und Wohlbefinden werden in Interaktionen zwischen sozialen und individuellen Akteur_innen hergestellt und sind abhängig von den dabei beteiligte Einstellungen und Erfahrungen sowie sozialen Beziehungen und Kontextfaktoren. Diese relationale Verfasstheit könnte zur Desillusionierung und zum Eindruck einer überwältigenden Vielfalt führen. Mark Rapley (2001, S. 212) kommt angesichts der Pluralität der Ansätze und Modelle sogar zur Schlussfolgerung, sich vom Begriff der Lebensqualität ganz zu verabschieden („hang up the term“). Eine solch kategorische Zurückweisung scheint mir jedoch etwas zu weit zu führen. Die relationale Verfasstheit von Lebensqualität und Wohlbefinden sollte nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden. Vielmehr scheint es nötig, ein objektivistisches Verständnis von Lebensqualität hinter sich zu lassen, das nach festen und abgeschlossenen Objekte sucht und stattdessen einen prozesshaften und dialektischen Zugang zu suchen, der seinen Gegenstand diskursiv erfasst und dabei Relationen, subjektive Wahrnehmungen, Präferenzen und einbezogene Werte mit erfasst.

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3.4 Containerbegriffe, Verantwortlichkeiten und Macht Aufgrund ihrer großen Popularität und ihren vielfältigen Definitionen stehen Wohlbefinden und Lebensqualität in der Gefahr, zu Gegenständen zu werden, die in der Diskursanalyse als „Containerbegriff“ bezeichnet werden. Containerbegriffe verdecken ihre Inhalte und machen sie damit eher unklarer als klarer. Ähnlich wie der oft unklare Gebrauch von Begriffen wie Inklusion, Partizipation oder Empowerment könnten auch Lebensqualität und Wohlbefinden mehr und mehr zu undurchsichtigen Begriffen werden die eher zum Machterhalt einzelner Gruppen als zur begrifflichen Klärung und Transparenz beitragen. Die große Gefahr liegt hier in der Trennung der Diskurse zu sozialer Gerechtigkeit und zu Lebensqualität und Wohlbefinden. Eine solche Entwicklung würde individualisierende Gesellschaftsmodelle stärken, Individuen alleine für ihre Lebensqualität und ihr Wohlbefinden verantwortlich machen und damit die gemeinsame gesellschaftliche Verantwortung für die soziale Teilhabe aller Menschen ausblenden. Eine Lösung für diese Herausforderung ist das fortlaufende demokratische Verhandeln über die Rollen von Bürger:innen, Staat und Markt in einem partizipatorischen Diskurs über gute Politik. Dies beinhaltet eine Reflektion von Macht, Interessen und Verantwortlichkeiten und würde zu einer demokratischen und aufgeklärten Politik führen. Dies würde wiederum einen dialektischen Zugang und das Führen von Diskursen über Präferenzen, Werte, Rechte und Interessen in Bezug auf Lebensqualität und menschliches Wohlbefinden bedeuten. Was ein solcher Perspektivwechsel bedeuten könnte, kann abschließend kaum besser als mit den poetischen Aussagen von Eduardo Galeano4 zusammengefasst werden: „Ich glaube nicht an Mitleid. Ich glaube an Solidarität. Mitleid ist vertikal, es ist erniedrigend. Es verläuft von oben nach unten. Solidarität ist horizontal. Sie respektiert den Anderen und lernt vom Anderen. Ich kann viel von anderen Menschen lernen”.

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Förderung der sozialen Kohäsion aus rechtswissenschaftlicher Sicht. Bringt der Wandel von Ehe und Familie neue Anforderungen an das Familien- und Sozialrecht? Bettina Kühbeck

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Einleitung

Am 1.10.2017 ist das Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts in Kraft getreten (BGBl. I 2017, S. 2787; BT-Drs. 18/6665; BT-Drs. 18/12898; Schwab FamRZ 2017, S. 1284). Mit der Änderung des § 1353 Abs. 1 S. 1 BGB wird die Ehe für das auf Lebenszeit geschlossene Bündnis zweier Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts geöffnet. Bisherige eingetragene Lebenspartnerschaften können in Ehen umgewandelt werden. Für gleichgeschlechtliche Paare ist es damit jetzt auch möglich, gemeinsam ein Kind zu adoptieren1. In dem Vorblatt des Gesetzentwurfes des Bundesrates wird dazu wörtlich ausgeführt: „Angesichts des gesellschaftlichen Wandels und der damit verbundenen Änderung des Eheverständnisses gibt es keine haltbaren Gründe, homo- und heterosexuelle Paare unterschiedlich zu behandeln und am Ehehindernis der Gleichgeschlechtlichkeit festzuhalten“ (BT-Drs. 18/6665). Verfassungsrechtlich ist das Gesetz umstritten (Erbarth NZFam 2016, S. 536; Ipsen NVwZ 2017, S. 1096; Schmidt NJW 2017, S. 2225). Aber nicht nur allein das Eheverständnis, sondern die familialen Lebensverhältnisse allgemein haben sich verändert (Vgl. Konietzka/ Kreyenfeld NZFam 2015, S 11000). Damit rückt der mit Art. 6 Abs. 1 GG gebotene Schutz von Ehe und Familie erneut in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Das wechselseitige Verhältnis zwischen Sozialstaat auf der einen und Ehe und Familie auf der anderen Seite spielen dabei eine erhebliche Rolle. Fraglich ist, ob der Wandel der Lebensformen zur zwingenden Notwendigkeit gesetzgeberischen Handelns im Bereich des Familien- und Sozialrechts führt. Die Formen des familialen Zusammenlebens sind vielfältiger geworden. In Folge der veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beschäftigen sich 1

Zur damit erledigten Diskussion der Frage der gemeinschaftlichen Adoption Kroppenberg (NJW 2013, S. 2161). © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Borrmann et al. (Hrsg.), Soziale kohäsion und gesellschaftliche Wandlungsprozesse, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25759-0_4

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die Gerichte zunehmend in verschiedenen Zusammenhängen mit nichtehelichen Lebensgemeinschaften, Single-Haushalten, dem Zusammenleben von Paaren in getrennten Wohnungen, alternativen Wohngemeinschaften, gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, Folgeehen, Ein-Eltern-Familien, Adoptivfamilien und sog. Patchworkfamilien. So hatte beispielsweise erst jüngst der Europäische Gerichtshof zu entscheiden, ob auch Stiefkinder von in Luxemburg Erwerbstätigen bei der Inanspruchnahme sozialer Vergünstigungen zu berücksichtigen sind, wie dies bei leiblichen Kindern der Fall ist (EuGH, Urt. v. 15.12.2016, verbundene Rechtssachen C401/15 bis C-403/15, ECLI:EU:C:2016:955 – Depesme, Kerrou, Kauffmann, Lefort). Geklagt hatten drei Studierende, welche eine nach luxemburgischem Recht zu gewährende Studienbeihilfe beanspruchten. Die Studierenden lebten in häuslicher Gemeinschaft mit nachgeheirateten Ehemännern der Mütter. Die Ehemänner trugen zum Unterhalt ihrer Stiefkinder bei. Den drei Studierenden wurde von den Behörden in Luxemburg die Studienbeihilfe versagt. Begründet wurde dies damit, dass es sich bei den Antragstellern jeweils rechtlich nicht um Kinder, sondern um Stiefkinder handele, welche mit dem Erwerbstätigen nicht in einem Abstammungsverhältnis stünden und somit für diese auch keine gesetzliche Unterhaltspflicht der nachgeheirateten Ehemänner bestünde. Nach Beschwerden der Antragsteller wurde das Verfahren ausgesetzt und das luxemburgische Verwaltungsgericht hat eine Vorlageanfrage an den Europäischen Gerichtshof gestellt. Dieser hat sich gegen eine solch enge Auslegung gestellt. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs entspringt die Eigenschaft als Familienangehörige_r, dem Unterhalt gewährt wird, einer tatsächlichen Situation. Dies gilt auch für den Beitrag eines Ehegatten zum Unterhalt seiner Stiefkinder. Somit kann der Beitrag zum Unterhalt des Kindes durch objektive Gesichtspunkte wie die Ehe, eine eingetragene Partnerschaft oder auch eine gemeinsame Wohnung nachgewiesen werden, und zwar ohne hierfür ermitteln zu müssen, aus welchen Gründen oder in welchem genauen Umfang zum Unterhalt beigetragen wird (EuGH, Urt. v. 15.12.2016, verbundene Rechtssachen C-401/15 bis C-403/15, ECLI:EU:C:2016:955, Rn. 64 – Depesme, Kerrou, Kauffmann, Lefort). Diese Entscheidung trägt damit der Vielzahl veränderter Formen des familialen Zusammenlebens Rechnung und spricht rein vorsorglich auch noch die eingetragene gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft an. Nicht nur der Europäische Gerichtshof, sondern auch deutsche Gerichte haben sich mit ähnlichen Fragestellungen auseinanderzusetzen. So hatte sich das Sozialgericht Mainz in seinem Urteil vom 21.4.2015 mit dem Begriff der Stiefelternschaft befasst (SG Mainz Urt. v. 21.4.2015 – S 14 P 39/14; BeckRS 2015, 70636). Dabei stellte das Gericht in erster Instanz in seinem Urteil fest, dass sich das Verständnis des nicht legaldefinierten Begriffs der Stiefelternschaft in § 56 SGB XI

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gewandelt habe. Nach Ansicht des Gerichts gebe es mittlerweile auch nicht verheiratete Stiefeltern, bei denen die Elternrolle von dem_der nicht mit dem Kind verwandten Lebensgefährt_in eines biologischen Elternteils tatsächlich und über einen dauerhaften Zeitraum wahrgenommen wird. Die Stiefelternschaft verlange im Verhältnis der_die Partner_in eine auf Dauer angelegte Partnerschaft getragen von gegenseitigem Einstandswillen und im Verhältnis zu den nicht eigenen Kindern die mehrjährige Aufnahme in den eigenen Haushalt, Unterhaltsleistung sowie den Nachweis umfassender tatsächlicher Erziehung. Anhaltspunkt für ein mehrjähriges Elternteil-Kind-Verhältnis zwischen Stiefelternteil und Stiefkind sind mindestens vier bis fünf Jahre. Unter diesen Voraussetzungen, die im Einzelfall festzustellen sind, könne nach der Ansicht des Sozialgerichts Mainz der für Kinderlose im Vergleich zu Elternteilen um derzeit 0,25% erhöhte Beitrag zur Pflegeversicherung entfallen (SG Mainz Urt. v. 21.4.2015 – S 14 P 39/14; BeckRS 2015, 70636, 70638). Das Sozialgericht hatte sich damit ausdrücklich für den erweiterten Stiefelternbegriff ausgesprochen, wonach auch bei nichtverheirateten Paaren, in deren Haushalt die biologischen Kinder eines Teils aufwachsen, der andere Teil Stiefeltern sein kann. Dieses Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 21.4.2015 wurde jedoch auf die Berufung des Beklagten abgeändert. Das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz hat die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Der Kläger hat nach der 2. Instanz doch den Beitragszuschlag für Kinderlose abzuführen. In seiner Begründung führt das Landessozialgericht wörtlich aus: „Nach § 56 Abs. 2 SGB I sind Eltern auch Stiefeltern. Stiefeltern sind nach dem allgemeinen Wortverständnis Ehegatten in Bezug auf nicht zu ihnen in einem Kindschaftsverhältnis stehende leibliche oder angenommene Kinder des anderen Ehegatten (Bundessozialgericht – BSG – 18.7.2007 – B 12 P 4/06 R, juris Rn. 16). Zwar mögen eingetragene Lebenspartner insoweit aus verfassungsrechtlichen Gründen (vgl. BVerfG 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, juris) Ehegatten gleichzustellen sein (so Seewald in Kasseler Kommentar, SGB I, § 56 Rn. 12a). Für Partner sonstiger nichtehelicher Lebensgemeinschaften gilt dies dagegen nach geltender Rechtslage nicht“( LSG Rheinland-Pfalz Urt. v. 10.12.2015 – L 5 P 39/15, NZS 2016, S. 188). Gegen dieses Urteil wurde die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (ebd.). Diese blieb jedoch ohne Erfolg (BSG Urt. v. 5.12.2017, B12 P 2/16 R ). Wurde bei den vorgenannten Urteilen der Begriff der Stiefelternschaft und dessen unterschiedliche Definition durch einzelne Gerichte beleuchtet, so kann dies nur eine exemplarische, nicht abschließende Einführung sein. Neben der schon angeschnittenen rechtlichen Einordnung als Stiefkind ergibt sich zum Bei-

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spiel auch im Rahmen der Rechtsfigur der Bedarfsgemeinschaft nach SGB II weiterer Klärungsbedarf, etwa wenn im Rahmen des sog. Wechselmodells 2 ein Kind zu gleichen Teilen in mehreren Haushalten lebt. Zudem knüpfen viele rechtliche Regelungen an eine Ehe an, wie etwa bei der Familienversicherung gemäß § 10 SGB V oder der Witwenrente gemäß § 46 SGB VI. Der Wandel der Lebensverhältnisse stellt jedoch nicht nur für die Fachgerichtsbarkeiten eine Herausforderung dar, sondern führt zudem zu einem erheblichen rechtswissenschaftlichen Forschungsbedarf. Im Mittelpunkt steht dabei die Analyse sowohl des verfassungsrechtlichen als auch des spezialgesetzlichen Rahmens für die rechtliche Einordnung der vom Wandel geprägten Lebensverhältnisse sowie der Rolle des nationalen Gesetzgebers. Zudem müssen europarechtliche Vorgaben berücksichtigt werden. Aufgrund der hohen Komplexität der einzelnen Bezüge würde es den Rahmen dieses Beitrages sprengen, sämtliche aus rechtswissenschaftlicher Sicht relevanten Themengebiete auszuführen. Im Folgenden wird daher nach allgemeinen Ausführungen zu den Verfassungsbezügen (2) eine rechtliche Klärung der einzelnen Begriffe folgen (3), um dann auf ausgewählte, einzelne Regelungsbereiche einzugehen (4). Bei dieser Vorgehensweise darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass Ehe und Familie nur in einem engen Zusammenhang zu Fragen der Gleichberechtigung von Männern und Frauen zu sehen sind und auch der Einfluss des demografischen Wandels nicht vernachlässigt werden darf. 2

Verfassungsrechtliche Bezüge

Das sich aus Art. 20 und 28 GG ergebende Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Staat für soziale Gerechtigkeit auf der Grundlage der Achtung der Menschenwürde zu sorgen, widerstreitende Interessen auszugleichen und erträgliche Lebensbedingungen herzustellen (BVerfGE 82, S. 60, S. 85). Die staatlichen Organe sind daher unter anderem verpflichtet, für einen Ausgleich sozialer Ungleichheiten und Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen (BVerfGE 22, S. 180, S. 204; 35, S. 348, S. 355f.), insbesondere Chancengleichheit für sozial

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Zur Anerkennung einer gerichtlichen Umgangsregelung, die unter der Voraussetzung einer bereits bestehenden Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit der Eltern im Ergebnis zur einer gleichmäßigen Betreuung des Kindes im Sinne eines paritätischen Wechselmodells führt: BGH NJW 2017, S. 1815 (Besprechung von Hennemann NJW 2017, S. 1787) = FamRZ 2017, S. 532 (mit Anmerkung Schwonberg FamRZ 2017, S. 536). Zum Kindesunterhalt im Fall des Wechselmodells: BGH NJW 2017, S. 1676 (mit Anmerkung Graba NJW 2017, S. 1680) = FamRZ 2017, S. 437 (mit Anmerkung Schürmann FamRZ 2017, S. 442).

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Benachteiligte zu schaffen (BVerfGE 56, S. 1393); für eine annähernd gleichmäßige Verteilung der öffentlichen Lasten zu sorgen, insbesondere sollen Lasten der staatlichen Gemeinschaft nicht zufällig von einzelnen Bürger_innen oder bestimmten Personenkreisen getragen werden (BVerfGE 5, S. 85, S. 198f.; 27, S. 253), sowie allen mittellosen Bürger_innen das Existenzminimum erforderlichenfalls durch Sozialleistungen zu sichern (BVerfGE 82, S. 60). Der inhaltlich nicht konkretisierte Sozialstaatsgrundsatz enthält allerdings keine unmittelbaren Handlungsanweisungen (BVerfGE 65, S. 182, S. 190). Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, das Sozialstaatsprinzip durch gesetzlichen Normen zu konkretisieren und für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen (BVerfGE 33, S. 303, S. 333; 69, S. 272). Daher orientiert sich die Zielsetzung des Sozialgesetzbuches an verfassungsrechtlichen Vorgaben: Das Recht des Sozialgesetzbuches soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten (§ 1 Abs. 1 S. 1 SGB I). Es soll dazu beitragen, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen zu schaffen, die Familie zu schützen und zu fördern, den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen (§ 1 Abs. 1 S. 2 SGB I). Die Erfüllung der beschriebenen Aufgabe stellt den Gesetzgeber zunehmend vor neue Herausforderungen. Entsprechend dem Titel des Beitrages sollen hier vor allem die Herausforderungen durch den Wandel von Ehe und Familie eine bedeutende Rolle spielen. Das Ehe- und Familiengrundrecht ist in Art. 6 Abs. 1 GG verankert. Es beinhaltet unterschiedliche Gewährleistungsdimensionen und hat Einfluss auf zahlreiche Rechtsgebiete (Shirvani NZS 2009, S. 242ff.). Neben der sich bereits aus dem Wortlaut ergebenden Schutz- und Förderpflicht zu Gunsten von Ehe und Familie, garantiert das Grundrecht als Abwehrrecht auch das ungestörte Zusammenleben in Ehe und Familie und verbietet dem Staat, in diese privaten Lebensräume einzugreifen (BVerfGE 10, S. 59, S. 84; 39, S. 169, S. 183; 80, S. 81, S. 92). Neben dieser individualrechtlichen Dimension wird Art. 6 Abs. 1 GG aber auch eine überindividuelle Komponente zugeschrieben (Shirvani NZS 2009, S. 242ff.). Einerseits betrifft diese die gemeinschaftsbildende Funktion von Ehe und Familie (Di Fabio NJW 2003, S. 993). Andererseits dienen Ehe und Familie dazu, die generative Zukunft der staatlichen Gemeinschaft zu sichern; die Geburt und Erziehung von Kindern soll die Aufrechterhaltung des Generationenvertrages gewährleisten (BVerfGE 87, S. 1, S. 37ff.; 94, S. 241, S. 263; 103, S. 242, S. 263ff.) . Zusätzlich zu dieser Mehrdimensionalität steht Art. 6 Abs. 1 GG in einem engen verfassungsrechtlichen Zusammenhang zu den Diskriminierungsverboten und Gleichstellungsgeboten. Dies führte in der Vergangenheit dazu, dass Regelungen des Sozialrechts einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht nicht

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standhalten konnten, da diese nach Ansicht des Gerichts den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 GG, dem allgemeinen Gleichheitssatz, nicht entsprochen hatten (vgl. Shirvani NZS 2009, S. 242ff.). Der Gleichberechtigungsgrundsatz, Art. 3 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 2 GG, findet bei faktischen Diskriminierungen durch Regelungen Anwendung, welche zwar nicht an das Geschlecht anknüpfen, aber im Besonderen Frauen benachteiligen, weil diese überwiegend Kindererziehungs- und Pflegeaufgaben übernehmen (näher dazu Schuler-Harms 2014, S. 525). Ehe und Familie einerseits und Sozialstaatsprinzip andererseits stehen in einer engen Verbindung. Gesetzgeber und Rechtsprechung sind an die verfassungsrechtliche Verpflichtung gebunden, Ehe und Familie zu fördern. Unter anderem mit dem Ziel, deren Funktion als soziale Wirkeinheit zu stärken (vgl. Shirvani NZS 2009, S. 242ff.). Dabei darf der Gesetzgeber Ehe und Familie begünstigen. Jedoch lässt sich aus der Zulässigkeit der Privilegierung kein in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenes Gebot ableiten, andere Lebensformen zu benachteiligen. Begünstigungen sind an Art. 3 Abs. 1 GG zu messen. Für die Rechtfertigung einer Benachteiligung anderen Lebensformen bedarf es eines hinreichend gewichtigen Sachgrundes (BVerfGE 97, S. 271, S. 279). 3

Begriffe im rechtlichen Sinn

Wie ausgeführt, gebietet die Verfassung den besonderen Schutz und die Förderung von Ehe und Familie durch die staatliche Ordnung. In Art. 6 Abs. 1 GG sind die Begriffe Ehe und Familie nur genannt, eine nähere normative Begriffsbestimmung oder gar eine Legaldefinition fehlt. Bevor mögliche Auswirkungen der dargestellten verfassungsrechtlichen Grundsätze auf Regelungen des Familien- oder Sozialrechts beleuchtet werden können, soll eine Konkretisierung der Begrifflichkeiten Ehe und Familie im verfassungsrechtlichen Sinne erfolgen. a) Ehe Nach der bisher ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ist die Ehe im Sinne des GG das staatlich beurkundete und auf Dauer angelegte Zusammenleben von Mann und Frau in einer umfassenden Lebensgemeinschaft (Schuler-Harms 2014, S. 525; BVerfG NJW 1959, S. 1483). Dem Schutzbereich liegt dabei das Bild der verweltlichten bürgerlich-rechtlichen Ehe zugrunde, Ehepartner_innen können sich scheiden lassen und damit ihre Eheschließungsfreiheit wieder erlangen (BVerfG NJW 1971, S. 1509). Bisher hatte das Bundesverfassungsgericht gleichgeschlechtlichen Partnerschaften den Schutz des Artikels 6 Abs. 1 GG versagt; ihnen wurden Rechte nur durch die Anwendung von Art. 2 Abs. 1 und 3 Abs.1 GG zuerkannt (BVerfGE

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105, S. 313, S. 345f.). Diese Rechtsprechung wurde auch in der Kommentarliteratur angenommen (Badura Art. 6 Rn. 42; Robbers Art. 6 Rn. 38; Brosius-Gersdorf Art. 6 Rn. 49; von Coelln Art. 6 Rn. 4 .6; Coester-Waltjen Art. 6 Rn. 9; Jarass Art. 6 Rn. 4). Angesichts des in Kraft getretenen Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts (BGBl. I 2017, S. 2787f.; BT-Drs. 18/6665; BT-Drs. 18/12989; Schwab FamRZ 2017, S. 1284) und dessen Gesetzesbegründung, wonach es keinen Grund mehr gäbe, an dem Ehehindernis der Gleichgeschlechtlichkeit festzuhalten (BT-Drs. 18/6665), wird nunmehr in der Literatur diskutiert, ob die Geschlechterverschiedenheit ein fester Bestandteil des Ehebegriffes des Art. 6 Abs. 1 GG sei und § 1353 Abs.1 S. 1 BGB in der neuen Fassung damit gegen Art. 6 Abs.1 GG verstoße (Erbarth NZFam 2016, S. 536ff.; Schmidt NJW 2017, S. 2225ff., Ipsen NvWZ 2017, S. 1096ff.; Binder/ Kiehnle NZFam 2017, S. 742ff.; von Coelln/ Nj 2018, S. 1; Haydn-Quindeau NJOZ 2018, S. 201ff.) Eine bedeutende Rolle in der Diskussion spielt dabei ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 121, S. 175), in welchem es sich dazu zu äußern hatte, ob § 8 Abs. 1 Nr. 2 TSG in der Fassung vom 1.1.2000 mit Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar sei, weil einem verheirateten Transsexuellen die Möglichkeit einer personenstandsrechtlichen Anerkennung seiner neuen Geschlechtszugehörigkeit nur nach einer vorherigen Ehescheidung zugestanden wurde. In dieser Entscheidung wurde erstmals, als Folge einer Interessensabwägung, eine Fortsetzung der Ehe bei fehlender Geschlechterverschiedenheit ermöglicht (BVerfGE 121, S. 175). Es bleibt abzuwarten, wie und ob sich das Bundesverfassungsgericht bei der nächstmöglichen Gelegenheit zu der Notwendigkeit der Geschlechterverschiedenheit äußern wird3. Die ungewöhnlich schnelle Einführung des Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts zeigt sich auch an einem Urteil des Bundesgerichtshofes, welches von der Einführung des Gesetzes geradezu überholt wurde. Der BGH hatte zu entscheiden, ob eine im Ausland (Südafrika bzw. Niederlande) geschlossene gleichgeschlechtliche Ehe im deutschen Recht als eingetragene Lebenspartnerschaft zu behandeln ist (BGHZ 210, S. 59). Nichteheliche Lebensgemeinschaften werden vom Ehebegriff des Art. 6 Abs. 1 GG nicht erfasst, ihr Schutz kann nur im Rahmen des Art. 2 Abs.1 GG und des Art. 3 III GG verwirklicht werden. Dem Gesetzgeber ist dann ein Gestaltungsspielraum zuzugestehen, wenn er an die eigenverantwortliche Entscheidung der Partner_innen einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, keine Ehe eingehen zu wollen, andere Folgen knüpft als an eine formwirksam geschlossene Ehe mit ihren vielfältigen Rechten und Pflichten der Ehepartner_innen (BVerfG FamRZ 1990, 3

Vor allem im Rechtsgebiet des Abstammungsrechtes wird die fehlende Klärung von Folgefragen hervorgehoben (Binder/ Kiehnle NZFam 2017, S. 742; Löhnig NZFam 2017, S. 643)

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S. 364 (Erbschaftssteuer)). In diesem Sinne hat auch das Bundesverfassungsgericht entschieden, als es über die Verfassungsmäßigkeit des § 27a Abs. 1 Nr. 3 SGB V, welcher die Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen für eine künstliche Befruchtung nur verheirateten Ehepaaren vorbehält, zu entscheiden hatte (BVerfGE 117, S. 316, S. 325ff.; 327, S. 328f.). Der Gesetzgeber darf die Ehe wegen ihres besonderen rechtlichen Rahmens als eine Pflege und Erziehung durch die Eltern sichernde Lebensbasis für ein Kind ansehen, welche den Kindeswohlbelangen mehr Rechnung trägt als eine nichteheliche Partnerschaft (BVerfGE 117, S. 316, S. 325ff.; 327, S. 328f.). b) Familie Der Familienbegriff des Art. 6 Abs. 1 GG wird durch einfachrechtliche Normen, wie zum Beispiel die §§ 1353ff. des BGB, ausgestaltet. Diese einfachrechtlichen Normen wiederrum, müssen sich am Verfassungsrecht messen lassen und orientieren sich in ihrer konkreten Ausgestaltung am verfassungsrechtlichen Familienbegriff. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (U.a. BVerfGE 48, S. 327, S. 339; Vgl. Uhle NVwZ 2015, S. 272f.) sowie auch Teile der Literatur (von Coelln Art. 6 Rn. 15ff.; Ipsen Art. 154 Rn. 70ff.) gingen über eine sehr lange Zeit von einem engen Familienbegriff aus. Als Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG galt danach ausschließlich die Kleinfamilie, bestehend aus Eltern mit ihren eigenen Kindern (BVerfGE 48, S. 327, S. 339). Erstmalig in einem Beschluss des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24.6.2014 (BVerfGE 136, S. 382) wird anerkannt, dass sich der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG auch auf familiale Bindungen zwischen nahen Verwandten erstrecken kann. In dem Verfahren stand zur Entscheidung, ob der Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG auch die Beziehung von Großeltern zu ihren Enkeln umfasst und hieraus ein Recht der Großeltern folgt, bei der Auswahl eines Vormundes für ihre minderjährigen Enkel vorrangig in Betracht gezogen zu werden (BVerfGE 136, S. 382, S. 384). In der Entscheidung führt der Senat aus, Art. 6 Abs. 1 GG ziele generell auf den Schutz spezifisch familialer Bindungen, gerade weil derartige Bindungen für den Einzelnen regelmäßig von hoher Bedeutung und praktischer Relevanz im Lebensalltag seien (BVerfGE 136, S. 382, S. 384). Daher seien auch Enkel_innen und Großeltern vom Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG erfasst, soweit zwischen ihnen tatsächliche, von familiale Verbundenheit geprägte, engere Beziehungen bestünden (BVerfGE 136, S. 382, S. 385). Die vorgenannte Entscheidung zeigt, dass sich das Bundesverfassungsgericht intensiv mit der Frage des vom Familienbegriff umfassten Personenkreises beschäftigt. Zu diesem Kreis gehören auch Stief-, Adoptiv- und Pflegekinder (BVerfGE 18, S. 97, S. 105; 68, S. 176, S. 187; 80, S. 81, S. 90). Sogar die Beziehung eines leiblichen Vaters zu seinem nicht-ehelichen Kind ist als Familie anzusehen,

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wenn zwischen ihm und dem Kind eine soziale Beziehung besteht, die darauf beruht, dass der Vater zumindest zeitweise tatsächliche Verantwortung übernommen hat (BVerfGE 108, S. 82, S. 112). Das gilt auch dann, wenn das Kind in einer anderen Familie lebt (BVerfGE 108, S. 82, S. 112). Ein Kind kann zwei Familien im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG angehören (BVerfGE 108, S. 82, S. 112; 127, S. 263, S. 287). Bei Schaffung des Art. 6 Abs. 1 GG hatte der Gesetzgeber die Gemeinschaft verheirateter Eltern mit ihren Kindern vor Augen (BVerfGE 25, S. 167, S. 196; 92, S. 158, S. 176). Die auf die Ehe gegründete Familie bleibt auch das Leitbild der Verfassung und in den Augen des Bundesverfassungsgerichts auch typischerweise die beste Voraussetzung für eine gedeihliche Entfaltung der Kinder (BVerfGE 76, S. 1, S. 51; 117, S. 316, S. 328). Dennoch ist die Ehe nicht begriffsnotwendige Grundlage der Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG: geschützt wird auch die Gemeinschaft einer nichtverheirateten Mutter mit ihrem Kind (BVerfGE 18, S. 97, S. 105; 25, S. 167, S. 196; 80, S. 81, S. 91), eines nichtverheirateten Vaters mit seinem Kind (BVerfGE 45, S. 104, S. 123; 56, S. 363, S. 382; 79, S. 203, S. 211; 108, S. 82, S. 112; 112, S. 50, S. 65) sowie auch eine auf Dauer angelegte, zusammenlebende nichteheliche Lebensgemeinschaft (BVerfGE 36, S. 126, S. 136; 106, S. 166, S. 176; 108. S. 82, S. 112; 112, S. 50). Die Entwicklung des vom Schutz der Verfassung erfassten Familienbegriffs ist bei weitem nicht abgeschlossen. Ausgelöst von zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Einbeziehung von gleichgeschlechtlichen Verbindungen in den Familienbegriff aus dem Jahr 2013 (BVerfGE 133, S. 377 (Ehegattensplitting); BVerfGE 133, S. 59 (Sukzessivadoption)) wurde besonders die Frage nach der Möglichkeit einer Entkopplung der beiden Schutzbereiche Ehe und Familie kontrovers diskutiert (Brosius-Gersdorf Art. 6 Rn. 43; Jarass Art. 6. Rn. 8; von Coelln Art. 6 Rn. 16). In Hinblick auf die aktuelle Änderung des BGB durch das Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts bleibt die Diskussion unter einem neuen Gesichtspunkt mehr als spannend, wird doch in der Literatur vertreten, dass § 1353 Abs. 1 BGB in der neuen Fassung gegen Art. 6 Abs. 1 GG verstoße, weil die Gesetzesnovelle den Ehebegriff erweiternd definiere (Ipsen NVwZ 2017, S. 1096ff.) Ergänzend soll noch erwähnt werden, dass das deutsche Familienrecht nicht nur durch die oben dargestellte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch durch die des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte geprägt wird. Dabei vertritt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen deutlich weiteren Familienbegriff, denn auch Art. 8 Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) setzt den Begriff der Familie voraus, ohne ihn zu definieren. Umfasst sind die Beziehungen zwischen Partner_innen, ob ehelich oder nicht, also zwischen Elternteilen und ihren Kindern, einerlei ob es sich um legitime oder nicht legitime Familien handelt, also auch um die Beziehungen zwischen Personen, die eine de facto-Familie bilden,

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die zusammenleben und bei denen also eine enge persönliche Beziehung besteht (EGMR 12.7.2001 – 25702/94 (GK), Rn. 150 – K. u. T./Finnland). Ebenso können nahe Verwandtschaftsverhältnisse, wie etwa zwischen Großeltern und Enkel_innen, bei hinreichend enger familialer Struktur, welche eine bestimmte emotionale Bindung voraussetzt, unter den Familienbegriff fallen (EGMR 13.6.1979, Ser. A, Nr.31 Rn. 45 – Marckx/ Belgien). Auch gleichgeschlechtliche Paare können eine Familie im Sinne des Art. 8 EMRK bilden (EGMR 22.7.2010 – 18984/02, Rn. 30 – P.B. ua/Österreich ). In der Anwendung dieses weiten Familienbegriffes stellt sich allerdings die vieldiskutierte Frage, ob die nur im Rang eines einfachen Bundesgesetzes stehende EMRK und die dazu ergangenen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte den deutschen Gesetzgeber zu Änderungen zwingen, wenn diese im Widerspruch zu der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes stehen (Vgl. Klinkhammer ZVPW 2015, S. 5). Auch wenn kein unmittelbarer Zwang zur Umsetzung für den nationalen Gesetzgeber besteht, soll hier wegen der sehr weiten Auslegung des Familienbegriffes die Europäische Sozialcharta (European Social Charter, ESC) noch erwähnt werden. Ebenso wie die EMRK ist die ESC ein völkerrechtlicher Vertrag. Über die Umsetzung der Regelungen der ESC wacht der sog. Europäische Ausschuss für soziale Rechte (European Committee for Social Rights, ECSR). Auf Grundlage nationaler Berichte entscheidet dieser über die Einhaltung der Regelungen der ESC bzw. der revidierten ESC4. Für etwaige Sanktionen ist der ECSR allerdings auf das Ministerkomitee des Europarates angewiesen. Das Recht auf Schutz der Familie in Art. 16 ESC umfasst gleichzeitig den „sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz“ der Familie. Dabei bezeichnet Art. 16 ESC die Familie als „Grundeinheit der Gesellschaft“, sagt aber nicht aus, welche Lebensformen im Einzelnen erfasst werden. Die Auslegung obliegt dem ESCR, welcher zu einer sehr weiten Auslegung findet. Der ESC bestimmt den Begriff der Familie unabhängig vom rechtlichen Status der Eltern und stellt vornehmlich auf die Erziehung von Kindern ab: „the key function of the family – to look after and bring up children“(Conclusion XIV-1, Art. 16). 4

Rechtliche Regelungen

Hinsichtlich des in diesem Beitrag schon mehrmals genannten Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts (BGBl. I 2017, S. 2787; BT-Drs. 18/12989; BT-Drs. 18/6665; Schwab FamRZ 2017, S. 4

Die Bundesrepublik Deutschland hat die ESC mit Ausnahme einzelner Art. am 19.9.1964 ratifiziert, (BGBl. 1964 II, S. 1261); die revidierte ESC sowie die Zusatzprotokolle wurden nicht ratifiziert.

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1284) besteht Einigkeit, dass noch weitere Gesetzesänderungen notwendig sind, um die zahlreichen Vorschriften anzupassen, welche ausdrücklich von Mann und Frau bzw. Vater und Mutter sprechen (Löhnig NZFam 2017, S. 643, Binder/ Kiehnle NZFam 2017, S. 742; Knoop NJW-Spezial 2017, S. 580). Zudem bedarf es auch der Klärung von Rechtsfragen, die infolge der Umwandlungsmöglichkeit der Lebenspartnerschaft mit Rückwirkung entstehen (Knoop NJW-Spezial 2017, S. 580). Durch das Gesetz wurde neben dem § 1353 Abs. 1 S. 1 BGB lediglich § 1309 Abs. 3 BGB neu eingefügt, welche Ausländer_innen von der Beibringung eines Ehefähigkeitszeugnisses ihres Heimatstaats befreit, wenn sie eine gleichgeschlechtliche Ehe eingehen wollen und der Heimatstaat eine solche nicht vorsieht. Weitere Folgefragen sind - entgegen der sonst üblichen Gesetzgebungspraxis – nicht geregelt. So bestimmt der unverändert gebliebene § 1592 Nr. 1 BGB, dass der Vater eines Kindes der Mann ist, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist. Nach § 1591 BGB ist die gebärende Mutter auch die rechtliche Mutter. Was aber, wenn diese rechtliche Mutter mit einer Frau verheiratet ist? Nicht nur im Bereich des Abstammungsrechtes sollte hier der Gesetzgeber dringend tätig werden, die Vorschriften sowohl des BGB als auch weiterer Gesetze der „Ehe für alle“ anzupassen (Vgl. Binder/ Kiehnle NZFam 2017, S. 742). Schon im Februar 2015, also noch vor der Öffnung der Ehe für alle, wurde vom Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz ein Arbeitskreis eingesetzt, um den Reformbedarf im Abstammungsrecht zu prüfen. Der Abschlussbericht wurde am 4.7.2017 übergeben (BMJV 2017). Ebenso beschäftigte sich auch der 71. Deutsche Juristentag im September 2016 unter anderem mit dem Thema (Vgl. Beschlüsse 2016). Anlass für die Reformdiskussion sind die Entwicklungen im Bereich der Reproduktionsmedizin sowie die Vielfalt der neuen Familienkonstellationen. Das derzeit geltende Abstammungsrecht geht von einer Zuordnung des Kindes zu einem Vater und einer Mutter sowie der Idealvorstellung der einheitlichen genetischen, sozialen und rechtlichen Elternschaft aus (Campbell NZFam 2016, S. 721). In Frage gestellt wird, ob dieses Idealbild noch der aktuellen Lebensrealität entspricht. In der Einleitung des Abschlussberichtes werden die offenen Fragen aufgelistet, unter anderem geht es darum, ob es für gleichgeschlechtliche Elternschaft spezifische Regelungen geben und ob infolge der reproduktionsmedizinischer Entwicklung eine „plurale“ Elternschaft ermöglicht werden soll (BMJV 2017, S. 17). Der interdisziplinär besetzte Arbeitskreis (BMJV 2017, S. 18) hat seine Reformempfehlungen in 91 Thesen gefasst (BMJV 2017, S. 15). So soll unter anderem als zweiter Elternteil sowohl ein Mann („Vater“) als auch eine Frau („Mit-Mutter“) in Betracht kommen (ebd.). Eine Reform des Abstammungsrechtes würde sich nicht nur auf die §§ 1591ff BGB auswirken, sondern wäre für weitere Rechtsgebiete von Relevanz, wie zum Beispiel das Unter-

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haltsrecht (§§ 1601 ff BGB), das Erbrecht (§§ 1924 ff BGB) oder das Staatsangehörigkeitsrecht (§ 4 StAG). Ferner schlägt der Arbeitskreis vor, den eine genetische Verwandtschaft assoziierenden Begriff „Abstammungsrecht“ durch den neuen Begriff „rechtliche Eltern-Kind-Zuordnung“ zu ersetzen. Generell lässt sich die Tendenz erkennen, dass die Vielfalt der familialen Lebensformen mehr berücksichtigt werden sollte. Dabei ist ein Bedeutungswandel festzustellen, der Status der Eltern (verheiratet oder nicht verheiratet) soll zugunsten von Elternschaft und Kind mehr in den Hintergrund treten und die rechtliche Position sozialer Eltern gestärkt werden (Beschlüsse 2016). Die Folgefragen der „Ehe für alle“ sowie rechtliche, biologische und soziale Elternschaft stellen derzeit Familiengesetzgebung und Familiengerichtsbarkeit vor große Herausforderungen. Ihre Aufgabe ist es, den Wandel von Ehe und Familie rechtlich zu bewerten, um dann unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben durch Normen und Rechtsauslegung umzusetzen. Werden sozialrechtliche Leistungen ehe- und familienbezogen gewährt5, knüpft das Sozialrecht, insbesondere bei der Definition von Begrifflichkeiten, an die Normen des Familienrechts an. Zudem sollte eine Abstimmung mit dem familienrechtlichen Unterhaltsrecht erfolgen (Lenze FamRZ 2009) Im Folgenden soll nunmehr beleuchtet werden, inwieweit bestehende, insbesondere sozialrechtliche Regelungen den sich ändernden Lebenssituationen gerecht werden können. Exemplarisch soll hierfür die Situation sogenannter Patchworkfamilien herausgegriffen werden. Obwohl der Begriff Patchworkfamilie selbstverständlich in Gerichtsentscheidungen Verwendung findet (Vgl. BVerwG Urt. v. 30.7.13 – 1 C 15/12, BVerwGE 147, S. 278; VG Saarlouis Beschl. V. 15.1.2015 – 6 L 1040/14, BeckRS 2016, S. 40715), gibt es keine juristische Definition. In diesem Beitrag soll unter einer Patchworkfamilie eine Familie verstanden werden, in welcher mindestens 1 Kind mit einem seiner leiblichen Elternteile und einer neuen Partnerin oder einem neuen Partner, also einem nicht leiblichen Elternteil, zusammenlebt6. Des Weiteren ist das Verhältnis der Begriffe Patchworkfamilie und Stieffamilie zu bestimmen. Hier wird der Ansicht von Münch (§ 11 Rn. 12) gefolgt, wonach eine Stieffamilie dann vorliegt, wenn leiblicher Elternteil und nicht leiblicher Elternteil verheiratet sind. Der Begriff Patchworkfamilie 5

Nach einer im Auftrag der Bundesregierung erstellten Gesamtevaluation ehe- und familienbezogener Leistungen, gibt es in Deutschland insgesamt 156 ehe- und familienbezogene Leistungen, (vgl. Bonin et al. 2013, S. 3ff.) 6 Münch differenziert in § 11 Rn. 12 noch weiter in „einfache Patschworkfamilie“ (ein Elternteil bringt ein eigenes Kind mit), „zusammengesetzte Patchworkfamilie“ (beide Elternteile bringen ein eigenes Kind mit), „komplexe Patchworkfamilie“ (ein oder beide Elternteile bringt/en ein eigenes Kind mit sowie mindestens ein gemeinsames Kind) und mehrfach fragmentierte Patchworkfamilie (ein Elternteil bringt eigene Kinder aus verschiedenen Beziehungen mit).

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ist somit als die Stieffamilie miteinschließender Oberbegriff zu sehen (vgl. Münch § 11 Rn. 10). Familienrechtliche Regelungen mit Auswirkungen auf Patchworkfamilien gibt es kaum. Erstmals mit der Kindschaftsrechtsreform von 1998 (Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts vom 16.12.1997; BGBl. I 1997, S. 2941) wurde ein Umgangsrecht auch anderen Personen als den leiblichen Eltern eingeräumt. Während dieses Umgangsrecht zunächst gemäß § 1685 Abs. 2 BGB alter Fassung auf Ehegatt_innen oder frühere Ehegatt_innen eines Elternteils beschränkt war, welche mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft gelebt hatten, wurde es durch eine Neufassung des § 1685 Abs. 2 S. 1 BGB im Jahr 2004 (Gesetz vom 23.4.2004; BGBl. I 2004, S. 598) auf enge Bezugspersonen ausgedehnt, wenn diese für das Kind tatsächliche Verantwortung tragen oder getragen haben. Eine solche sozial-familiale Beziehung ist in der Regel anzunehmen, wenn die Person mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat, § 1685 Abs. 2 S. 1 BGB. Folglich steht dem nicht leiblichen Patchworkelternteil ein Umgangsrecht mit dem Kind zu. Nach § 1687b Abs. 1 BGB hat der verheiratete Stiefelternteil das sog. „kleine Sorgerecht“, wenn dem leiblichen Elternteil das alleinige Sorgerecht zusteht. Dies bedeutet eine Befugnis zur Mitentscheidung in Angelegenheiten des täglichen Lebens des Kindes. Diese Regelung wird für reformbedürftig gehalten, da es zunehmend der Realität entspräche, dass - auch nach Scheitern einer Paarbeziehung - Eltern gemeinsam sorgeberechtigt bleiben (Campell NZFam 2016, S. 721ff. mit Verweis auf Helms 2016 NJW Beil., S. 50ff.). Zudem wird vom Gesetzgeber gefordert, dieses sog. „kleine Sorgerecht“ auch auf Elternteile zu erstrecken, welche mit einem Kind und dessen mitsorgeberechtigten Elternteil schon länger in einer häuslichen Gemeinschaft leben, aber nicht verheiratet sind (Löhnig FPR 2008, S. 157ff.; Münch §11 Rn. 17; ebd.) Nach § 563 Abs. 2 S. 3 BGB besteht bei Tod des nicht leiblichen Elternteils für das Patchworkkind ein Eintrittsrecht in den Mietvertrag, wenn gemeinsam ein auf Dauer angelegter Haushalt geführt wurde. Im Bereich des Erbrechts oder des Unterhaltsrechts bestehen keine gesetzlichen Ansprüche gegen den nicht leiblichen Elternteil. Jedoch ist es möglich, solche Rechte durch Testament oder Vertrag zu begründen. Im Einkommenssteuerrecht werden Stiefkinder in § 33a Abs.1 EStG (Abzug von Aufwendungen als außergewöhnliche Belastung) und in § 63 Abs. 1 Nr. 2 EStG (Zählkind beim Kindergeld) berücksichtigt; jedoch nur bei Verheiratung des leiblichen und nicht leiblichen Elternteils. Nach § 25 Abs. 6 Nr. 2 BAföG ist auch für die in den Haushalt aufgenommenen Stiefkinder ein eigener Freibetrag anzusetzen (Vgl. BGH NJW-RR 2000, S. 596). Zur Unterstreichung deren wachsender Bedeutung sei erwähnt, dass die Patchworkfamilie inzwischen auch im Aufenthaltsrecht präsent ist (BVerwGE 147, S. 278). Geklagt hatte ein ghanaischer Staatsangehöriger, der illegal nach Deutschland eingereist ist. Er lebt mit seiner Lebensgefährtin, zwei gemeinsamen

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Kindern und der siebenjährigen Tochter, aus einer früheren Beziehung der Lebensgefährtin, in einem Haushalt zusammen. Für die siebenjährige Tochter, welche die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, hat die Lebensgefährtin das alleinige Sorgerecht. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 30.7.2013 entschieden, dass in einem außergewöhnlichen Härtefall ein Aufenthaltstitel beansprucht werden kann, wenn dies erforderlich ist, um eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG sowie Art. 8 EMRK zu vermeiden. Dem Kläger wäre es zuzumuten, die familiale Lebensgemeinschaft mit seiner Partnerin und den gemeinsamen Kindern in Ghana weiterzuführen. Ob dies jedoch auch für die deutsche Tochter gelte, müsse überprüft werden, dazu hat das Bundesverwaltungsgericht zur weiteren Sachaufklärung und erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Es bedürfe einer vertieften Aufklärung und gründlichen Bewertung aller im Rahmen der Pachtworkfamilie bestehenden Bindungen sowie ihres Verhältnis zu ihrem leiblichen Vater. Das Sozialversicherungsrecht berücksichtigt Kinder in Patchworkfamilien ohne Verheiratung des leiblichen und nicht leiblichen Elternteils nicht; Stief- und Pflegekinder, die in den Haushalt aufgenommen wurden hingegen schon. So lässt § 10 Abs. 4 S.1 SGB V für die Familienversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung auch Stiefkinder und Enkel_innen, die das Mitglied überwiegend unterhält sowie Pflegekinder als Kinder im Sinne des § 10 Abs. 1 und Abs. 2 gelten. Bei der Beitragserhebung zur freiwilligen gesetzlichen Krankenversicherung können sogar bei einer (neuen) Ehe keine (Pausch)Beträge für mit in die (neue) Ehe gebrachte unterhaltsbedürftige Kinder abgesetzt werden, wenn es sich nicht um gemeinsame Kinder des Ehepaares handelt (BSG, Urt. v. 28.5.2015 – B 12 KR 15/13 R, BeckRS 2015, 72324; LSG Hessen, Urt. v. 9.2.2017 – L 1 KR 465/16, BeckRS 2017, 106611 (Revision beim BSG anhängig unter B 12 KR 8/17R)). Für die Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung gelten als Kinder gemäß § 56 Abs. 1 S. 2 SGB VI iVm § 56 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3 SGB I ebenso Stiefkinder und Enkel_innen, die in den Haushalt des_der Berechtigten aufgenommen sind sowie Pflegekinder. Für die gesetzliche Pflegeversicherung verweist § 55 Abs. 3 S. 2 SGB XI ebenso auf § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 und Abs. 3 Nr. 2 und Nr. 3 SGB I. Im Sozialhilferecht wird die Einstandspflicht für Kinder in einer Patchworkfamilie unabhängig von einer Verheiratung über § 9 Abs. 2 S. 2 SGB II geregelt. Zieht ein Elternteil zusammen mit seinem Kind mit einer neuen Partnerin oder einem neuen Partner zusammen, besteht für ihn die Gefahr, Ansprüche auf Leistungen nach SGB II für sich oder sein Kind zu verlieren. Lebt nämlich eine Person mit einer hilfsbedürftigen Person in einer Bedarfsgemeinschaft zusammen, so gilt die Verpflichtung Einkommen und Vermögen bis zur Grenze der eigenen Hilfsbedürftigkeit für den Lebensunterhalt der hilfsbedürftigen Person aufzuwenden. Dies gilt auch für Personen, die sich familienrechtlich keinen Unterhalt schulden.

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Zu den Bedarfsgemeinschaften gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 3b SGB II alter Fassung zählten neben Ehen und eingetragenen Lebenspartnerschaften nur verschiedengeschlechtliche eheähnliche Gemeinschaften. Mit dem Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende, das am 1.8. 2006 (BGBl I 2006, S. 1706) in Kraft getreten ist, wurde die Einstandspflicht auf Kinder der Partnerin oder des Partners erweitert. Der Gesetzgeber hat so die Anforderungen an die finanzielle Solidarität auf Paar- und Haushaltsebene verschärft. Gemäß § 9 Abs. 2 S. 2 SGB II wird bei unverheirateten Kindern, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft leben und ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen sichern können, auch das Einkommen und Vermögen der Eltern oder des Elternteils und dessen in Bedarfsgemeinschaft lebender Partnerin oder lebenden Partner hinsichtlich der Feststellung der Hilfsbedürftigkeit im Sinne des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB II berücksichtigt. Ein Kind, das beispielsweise keine Unterhaltsansprüche gegen den abwesenden Elternteil durchsetzen kann, hat keinen Anspruch auf Leistungen nach SGB II, wenn es mit einem Elternteil und deren neuer Partnerin oder neuem Partner in einer Patchworkfamilie zusammenlebt und das Einkommen der neuen Partnerin oder des neuen Partners zur Bedarfsdeckung ausreicht7. Damit besteht eine generelle Einstandspflicht in der Patchworkfamilie, obwohl mangels Verwandtschaft im Sinne des Abstammungsrechts keine gesetzliche Unterhaltsverpflichtung der neuen Partnerin oder des neuen Partners gegenüber dem mit in die Beziehung gebrachten Kind greift. Voraussetzung ist ausschließlich das Zusammenleben des Kindes mit der Partnerin, dem Partner in einer über den leiblichen Elternteil vermittelten Bedarfsgemeinschaft (BSG NVwZ-RR 2009, S. 1000ff.). Für die Bestimmung des Hilfebedarfs sind der Einstandswille der neuen Partnerin, des neuen Partners sowie die tatsächliche Verteilung des Einkommens in der Bedarfsgemeinschaft unerheblich (ebd.). Um einen Anspruch des Kindes auf Sozialleistungen zu begründen, müsste die Beziehung beendet werden oder das Kind alleine den gemeinsamen Haushalt verlassen. In seiner umstrittenen Entscheidung vom 13.11.2008 (ebd.) hat das Bundessozialgericht die generelle Einstandspflicht für Partner_innenkinder nach § 9 Abs. 2 S. 2 SGB II für verfassungsgemäß erklärt (a. A. Münder/ Geiger NZS 2009, S. 593f.). Der Gesetzgeber dürfe darauf vertrauen, dass ein Elternteil nicht eigene Partnerschaftsinteressen über Kindesinteressen setze und dürfe davon ausgehen, dass beim Wirtschaften aus einem Topf auch Kinder mit versorgt werden (ebd.). Weiter dürfe der Gesetzgeber darauf vertrauen, dass der Konflikt innerhalb der Bedarfsgemeinschaft ausgetragen werde, sobald der nicht leibliche Elternteil nicht mehr 7

BSG NVwZ-RR 2009, 1000; gegen das Urteil war ein Verfahren beim BVerfG anhängig, welches durch Beschluss vom 29.5.2013, Az.: 1 BvR 1083/09, BeckRS 2013, 52193 für unzulässig erachtet wurde, da eine Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht hinreichend substantiiert dargetan wurde.

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bereit sei, das Kind zu versorgen (ebd.). Zu Recht kritisiert Wersig die hohen Anforderungen, welche der 14. Senat des Bundessozialgerichtes in seiner Entscheidung an das Verhalten des leiblichen Elternteils stelle, wenn dieser ohne Unterstützung des Rechts auf zwischenmenschlicher Ebene sicherstellen solle, dass das Kind versorgt wird. Die Möglichkeit der Gründung einer Patchworkfamilie für alleinerziehende Elternteile werde damit enorm erschwert (Wersig KJ 2012, S. 329ff.). Außerdem fordert sie (ebd.) eine erneute Diskussion der generellen Einstandspflicht für Partner_innenkinder (ebd.) vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Regelsätzen, in welcher das Gericht klargestellt hat: „Die Gewährleistung eins menschenwürdigen Existenzminimums muss durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert werden. Ein Hilfebedürftiger darf nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist. Dieser Leistungsanspruch muss zudem so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf des individuellen Grundrechtsträgers deckt“ (BVerfGE 125, S. 175). Die Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 SGB II ist lokal konzipiert. Dem gegenüber stehen, nicht nur bei Patchworkfamilien, neue Lebenssituationen und Umgangsregelungen. So, wenn beispielsweise ein Kind im Rahmen des Wechselmodelles regelmäßig abwechselnd in 2 Haushalten lebt oder regelmäßig mit dem anderen Elternteil umfangreichen Umgang pflegt. In beiden Fällen können zusätzliche Kosten anfallen. Solche Konstellationen werden, wenn Eltern und Kinder Grundsicherung für Arbeitssuchenden nach SGB II beziehen durch die Anwendung der Konstruktion der temporären Bedarfsgemeinschaft gelöst. Das Bundessozialgericht hatte sich erstmals im November 2006 mit der Frage des Leistungsbezuges für Kinder, die sich beim umgangsberechtigten Elternteil aufhalten, auseinanderzusetzen und hat die Problematik dahingehend gelöst, dass bei minderjährigen Kindern eine getrennte und damit doppelte Bedarfsgemeinschaft sowohl mit dem einen, als auch mit dem anderen Elternteil angenommen werden kann (BSG NZS 2007, S. 383ff.). Für jeden Tag, an dem das Kind sich mehr als 12 Stunden bei dem Elternteil aufhält, besteht ein Anspruch in Höhe von 1/30 des Regelbedarfs für das Kind (BSG NJW 2010, S. 2381). Zur temporären Bedarfsgemeinschaft besteht seither nur Rechtsprechung, mit Ausnahme der Regelungen des § 36 S. 1 SGB II (örtliche Zuständigkeit) und des § 37 SGB II (Antragserfordernis), welche vom Gesetzgeber entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts geändert wurden. Die Figur der temporären Bedarfsgemeinschaft erfasst die Situation der Trennungskinder jedoch nur unvollkommen und erhöht den Verwaltungsaufwand sowohl für Antragsteller_innen als auch Leistungserbringer_innen (Bedenken dazu Münder NZS 2008, S. 617). Deswegen werden von Dern/ Fuchsloch sachgerechte Lösungsansätze in Form der Implementierung von Leistungsansprüchen im Existenzsicherungsrecht vorgeschlagen (Dern/ Fuchsloch

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SGb 2017, S. 61). Diese sollten im Kontext zum Familienrecht entwickelt werden, denn nur dann, wenn beide Systeme zusammen betrachtet werden, können Wertungswidersprüche innerhalb der Rechtsordnung vermieden werden (ebd.). Abschließend sei noch erwähnt, dass auch im Rahmen der Patchworkfamilien Familienkonstellationen mit Migrationshintergrund eine zunehmende Rolle spielen werden. Hierbei liegt die Herausforderung in der Anwendung der sozialrechtlichen Regelungen in der Abstimmung mit internationalen und europäischen Vorschriften. Eine Ungleichbehandlung von Migrantenfamilien ist nur innerhalb strenger verfassungsrechtlicher Grenzen möglich (Britz ZAR 2015, S. 56). Neue soziale und kulturelle Besonderheiten, verbunden mit der Notwendigkeit der Förderung von Bildung und Integration, werden der Frage, ob die familien- und sozialrechtlichen Leistungen der Lebenswirklichkeit entsprechen, eine neue Dimension geben (Schuler-Harms 2014, S. 539). 5

Fazit

Der Verlauf des Beitrages zeigt, dass medizinischer Fortschritt, sich verändernde Ansichten sowie neue Einflüsse aus anderen Kulturkreisen das Familienrecht stark beschäftigen. Auch wenn die höchst- und obergerichtliche Rechtsprechung zum Familienrecht Spielräume und Grauzonen im Rahmen der bestehenden Gesetze ausloten kann, so ist sie zur Konkretisierung gesetzgeberisches Handeln gefordert. Neue Vorschriften sollten jedoch nicht isoliert, sondern in interdisziplinärer Zusammenarbeit und unter Beachtung der familien- und sozialpolitischen Ziele geschaffen werden. Unabhängig von politischen Vorgaben wird die Familie der Zukunft von einer Vielzahl verschiedener sozialer Erscheinungsformen geprägt sein. Ein Festhalten an den tradierten Formen von Ehe und Familie wird wohl kaum mehr möglich und auch im Hinblick auf die Gefährdung einzelner Familienformen, wie beispielsweise die Ein-Eltern-Familie, nicht sinnvoll sein. In ihrer Vielfalt gemeinsam ist den Familien die Übernahme von Verantwortung für Kinder. Es sollte ein rechtliches Umfeld geschaffen werden, in dem das Wohl der Kinder Priorität genießt. Familien- und Sozialrechtsgesetzgebung sollten dazu beitragen, die gesellschaftlichen Veränderungen rechtlich umzusetzen, getragen von einer Politik des sozialen Ausgleichs und des Schutzes von Kindern. Im Zuge der diskutierten, weitreichenden Veränderungen der Lebenswirklichkeit tritt die Wahrnehmung der Verantwortung für die Kinder deutlicher denn je in den Mittelpunkt. Es zeichnet sich ab, dass diese Verantwortung einen wesentlichen und bleibenden Moment des Familien- und Sozialrechts darstellt und die weitere Entwicklung auf diesem Gebiet entscheidend prägen wird.

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Soziale Kohäsion als normatives Ziel? Soziale Probleme und ihre Bearbeitung durch Akteure der Sozialen Arbeit Stefan Borrmann

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Einleitung

Der Versuch soziale Kohäsion durch Soziale Arbeit herzustellen, kann als Reaktion auf das nicht Vorhandensein sozialer Kohäsion in der Gesellschaft bzw. dem regionalen oder lokalen Gemeinwesen verstanden werden. Mit dieser Zielsetzung wird jedoch unausgesprochen vorausgesetzt, dass es gewissermaßen einen Normalzustand gibt, der durch ein zu bestimmendes Maß an sozialer Kohäsion gekennzeichnet ist und Soziale Arbeit als Profession ist in dieser Sichtweise eine von mehreren Professionen, die dazu da ist, dieses Mindestmaß (wieder) herzustellen. Betrachtet man soziale Kohäsion unter dieser Perspektive, dann wird deutlich, dass Soziale Arbeit einen Blick auf Defizite (von dem angenommenen Normalzustand) haben muss und damit eine Problemorientierung im negativen Sinne in den Mittelpunkt stellt. Diese einleitend geschilderte Argumentation spiegelt kurz zusammengefasst in etwa die Argumente wider, die wiederkehrend in der Vergangenheit gegen eine Gegenstandsbestimmung Sozialer Arbeit über soziale Probleme vorgetragen wurden. In diesem Beitrag soll jedoch diese Argumentation nicht zum wiederholten Male (vgl. Boettner und Michel-Schwartze 2016; Puhl 1996) widerlegt werden, in dem auf die bei dieser Sichtweise reduzierte Komplexität des Begriffs des sozialen Problems verwiesen wird. Es geht vielmehr darum zu zeigen, inwieweit soziale Kohäsion als normative Zielvorstellung den Gegenstand Sozialer Arbeit produktiv erweitern kann, ohne den theoretischen Kern der Sozialen Arbeit zu verschieben. Dazu soll in einem ersten Schritt – in der gebotenen Kürze – rekapituliert werden, vor welchen Herausforderungen die sich immer noch wandelnde Industriegesellschaft steht und inwieweit dies Menschen in dieser vor individuelle aber auch strukturelle Problematiken stellt. In einem zweiten Schritt wird die Diskussion über den Gegenstand der Sozialen Arbeit kurz eingeführt und ein Vorschlag zur Gegenstandsbestimmung vorgelegt. Mit diesen beiden Schritten ist die Grundlage für den dritten Abschnitt gelegt, der die Verknüpfung von strukturellen und individuellen Herausforderungen, der Rolle von Sozialer Arbeit bei der Bewälti-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Borrmann et al. (Hrsg.), Soziale kohäsion und gesellschaftliche Wandlungsprozesse, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25759-0_5

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gung dieser und sozialer Kohäsion als normatives strukturelles Ziel neben normativ individuellen Zielen herstellt. Dieser Argumentationsstrang wird genutzt, um in einem abschließenden vierten Abschnitt den Bezug zu einer „klassischen“ Theorie der Sozialen Arbeit herzustellen, die den Begriff der Gemeinschaft als zentralen Ort für Soziale Arbeit einführt. Damit wird dann deutlich, dass soziale Kohäsion für Soziale Arbeit eine doppelte Funktion haben kann. Zum einen eine intraprofessionelle Funktion, in dem das normative Ziel sozialarbeiterischen Handelns expliziert wird, zum anderen eine interprofessionelle Funktion, in dem die spezifische Perspektive Sozialer Arbeit im Zusammenspiel mit anderen Professionen in den Fokus rückt. 2

Vor welchen Herausforderungen steht die Gesellschaft momentan?

In diesem kurzen Abschnitt kann keine umfassende Analyse von den Rollen, Positionen, und Lebensumständen von Menschen in der heutigen Gesellschaft erfolgen. Dies ist Gegenstand umfassender soziologischer Debatten. Vielmehr soll es an dieser Stelle darum gehen, einige der aktuellen sozialen Herausforderungen zu benennen, denen Menschen gegenüberstehen und die eine gesellschaftliche Reaktion und Debatte erfordern. Ziel ist es zu zeigen, dass dies Themen sind, die immer – und das ist zu betonen – nicht nur eine persönliche Ebene, sondern auch eine gesellschaftliche Dimension aufweisen und damit Themen sind, die das soziale Zusammenleben, den sozialen Zusammenhalt – kurz: soziale Kohäsion – im Kern berühren. In seinem zur damaligen Zeit bahnbrechenden Buch „Die Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne“ (Beck 1986) zeigte Ulrich Beck auf, dass sich die Gesellschaft in einem Wandlungsprozess zu einer zweiten Moderne befindet. Ähnlich wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts die ständische Agrargesellschaft von einer Industriegesellschaft mit neu entstehenden Klassen abgelöst wurde, standen wir, so Beck, vor einem Wandel weg von der Industriegesellschaft hin zu einer modernen Dienstleistungsgesellschaft mit je individualisierten Risiken. „In der fortgeschrittenen Moderne geht die gesellschaftliche Produktion von Reichtum systematisch einher mit der gesellschaftlichen Produktion von Risiken. Entsprechend werden die Verteilungsprobleme und -konflikte der Mangelgesellschaft überlagert durch die Probleme und Konflikte, die aus der Produktion, Definition und Verteilung wissenschaftlich-technisch produzierter Risiken entstehen.“ (Beck 1986, S. 25) Auch wenn man 30 Jahre später die von Beck ebenfalls prognostizierte abnehmende Bedeutung von sozialen Schichten (insbesondere bei der Verteilung der zu tragenden Risiken) nicht beobachten kann, muss konstatiert werden, dass es Beck Mitte der 1980er Jahre ansonsten gelungen war, den Wandel der

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Gesellschaft treffend zu beschreiben bzw. zu prognostizieren. Und so wie die Industrialisierung bei der Herausbildung der ersten Moderne ein Prozess war, der sich über mehrere Jahrzehnte erstreckte, so ist auch der Wandel von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft nicht abgeschlossen. Deshalb lohnt noch immer ein Blick auf die sich neu stellenden Herausforderungen und die gesellschaftlichen Antworten, die versucht werden, darauf zu geben. Beziehungsweise mehr noch: Man muss die sich stellenden Herausforderungen stetig aktualisieren, um auf die Wandlungsprozesse adäquat zu reagieren. Am Beispiel der sich wandelnden Bedeutung von Arbeit bzw. Arbeitslosigkeit lässt sich dieser Prozess beispielhaft zeigen. Auch wenn es aufgrund der in den 1980er Jahren rasant steigenden Arbeitslosenzahlen utopisch erschien, herrschte in Deutschland auch Ende der 1980er Jahre immer noch das Idealbild einer Vollbeschäftigung (Promberger 2012). Dieses Bild war verbunden mit dem Versprechen, einen einmal eingeschlagenen Berufsweg kontinuierlich im Laufe der Biografie zu gehen (von Ausbildung bis zur Verrentung) und darin keine biografischen Brüche zu haben. Dass dies schon zum damaligen Zeitpunkt nicht unbedingt einer empirischen Überprüfung standgehalten hätte (vgl. ebd.), spielt zunächst keine Rolle. Das Bild, das als Ideal in den Köpfen war, war das Entscheidende. 30 Jahre später erscheint diese Vorstellung als eine relativ absurde. Neue Formen von Berufsbiografien sind in den Köpfen der Menschen angelangt, die eine Flexibilisierung und Diskontinuität beinhalten. Mal abgesehen davon, dass auch dies wahrscheinlich für die heutige Generation ebenfalls nicht einer empirischen Überprüfung standhalten würde, bedeutet das Denken aber auch, dass die Diskontinuitäten mit einem Risiko des persönlichen Scheiterns behaftet sind. Denn die Verantwortung mit den neuen Anforderungen klarzukommen, liegt bei dem Individuum. „Lebenslanges Lernen“ ist das neue Zauberwort, das die Bereitschaft und die Voraussetzungen dazu jedoch auf die einzelne Person verlagert. Dabei wurden in den letzten Jahren verschiedene Begriffe für die Generationen, die diesen Herausforderungen gegenüber stehen geprägt (zuletzt: Generation Y) (z.B. Einramhof-Florian 2016), beziehungsweise unterschiedliche Diskursstränge über die gesellschaftlichen Folgen dieses Wandelns formuliert (von der Auseinandersetzung über die Hartz-4-Gesetze bis zur Diskussion über das bedingungslose Grundeinkommen) (z.B. Klute und Kotlenga 2008). Und auch die Zukunftsprognosen über die Rolle von Erwerbsarbeit in zukünftigen Dienstleistungsgesellschaften oder der Industrie 4.0 (z.B. Bittmann 2014) – Stichwort Automatisierung – sind auf die Folgen der Wandlungsprozesse für das Individuum bezogen. All diese Begriffe und Diskurse eint, dass sie stillschweigend die Rolle der Gesellschaft und Gemeinschaft zugunsten des Individuums zurückstellen und so die schon von Beck eingeführte Individualisierung diskursiv tatsächlich zeigen.

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Stefan Borrmann Gegenstandsbestimmungen der Sozialen Arbeit

Für Soziale Arbeit im 21. Jahrhundert hat dies Folgen. Auch hier zeigt sich, dass Ansätze, die die Gemeinschaft in den Mittelpunkt stellen, auf dem Rückzug sind. Gemeinwesenarbeit ist in der Bedeutung der Methodentriade hinter Einzelfallund Gruppenarbeit deutlich auf dem dritten Platz gefallen und wenn man sich die Finanzierung der Angebote der Sozialen Arbeit ansieht, dann sind z.B. im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe auf Gemeinschaft bezogene Angebote (z.B. Jugendarbeit) deutlich schlechter ausgestattet als einzelfallbezogene Angebote (allen voran die Hilfen zur Erziehung) (vgl. Fendrich undTabel 2015). Wenn diese empirischen Hinweise zutreffen, dann zeigt sich also auch in der Sozialen Arbeit, dass die Reaktionen auf die gesellschaftlichen Herausforderungen ebenfalls individualisiert werden. Kontrastiert man diese Beobachtung aber mit dem Surrogat der Diskussion über die Gegenstandsbestimmung in der Sozialen Arbeit, dann tut sich eine Lücke auf. Denn hier wird nach wie vor von einem Zusammenspiel von Individuum und Gesellschaft ausgegangen und Soziale Arbeit als die Profession angesehen, die in der Lage ist, diese Schnittstelle auch im professionellen Handeln auszufüllen. Eine der zentralen Fragen in dieser Diskussion ist, ob die Praxis und die Wissenschaft der Sozialen Arbeit den gleichen Gegenstand haben und diesen nur auf unterschiedliche Art und Weise „bearbeiten“ oder ob sich die Gegenstände der Sozialen Arbeit in Praxis und Wissenschaft unterscheiden? Um diese Frage zu beantworten, muss man die Bestimmung des Gegenstandes der Sozialen Arbeit aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachten (vgl. auch im Folgenden Borrmann 2016). In einer ersten Perspektive geht es darum, den Kern der Sozialen Arbeit durch die Gegenstandsbestimmung abzubilden; hierbei gilt es einen übergreifenden Aspekt für die Praxis der Sozialen Arbeit zu finden. Dabei ist zu beachten, dass die Praxis der Sozialen Arbeit selbstverständlich nicht den Kriterien für wissenschaftliche Theorien entsprechen muss. Die Praxis der Sozialen Arbeit folgt anderen Logiken. Dennoch ergibt es Sinn, dass sich auch für die Praxis der Sozialen Arbeit ein Gegenstandsbereich finden lässt, der sich nicht fundamental von der Wissenschaft Soziale Arbeit unterscheidet. Der Vorschlag sich dabei auf soziale Probleme und deren Bearbeitung zu beziehen, beinhaltet alle „notwendigen“ Elemente einer objektwissenschaftlichen Gegenstandsbestimmung: 

Soziale Probleme können unterschiedlich definiert werden und eignen sich somit als gemeinsamer Nenner von unterschiedlichen Theorieschulen und unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Perspektiven. Tatsächlich findet sich in der Literatur eine Vielzahl von Arbeiten, die sich mit der Definition von sozialen Problemen befassen. Interessanterweise stammen diese

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nicht nur aus der Soziologie, sondern auch aus anderen Bezugswissenschaften. Mehr noch: Mittlerweile hat sich eine eigenständige Tradition in der Wissenschaft der Sozialen Arbeit entwickelt, die sich mit Theorien sozialer Probleme unter einer handlungswissenschaftlichen Perspektive befasst (vgl. Staub-Bernasconi 2007; Obrecht 2004; Birgmeier 2014). Diese bezieht zentral mit ein, dass sich soziale Probleme nicht auf gesellschaftlich verursachte oder gesellschaftlich wirksame Probleme beziehen. Vielmehr greifen die Theorien zum großen Teil auf, dass der Mensch als soziales Wesen Teil der Gesellschaft ist und damit individuelle Probleme (z.B. auch Sucht, Krankheit, psychische Erkrankungen) sich sozial auswirken. Der Begriff inkludiert also diese Perspektiven und schließt damit die im Abschnitt zuvor aufgezeigte „Individualisierungslücke“. Die Bearbeitung sozialer Probleme lenkt den Blick auf die Handlungskomponente bei der Gegenstandsbestimmung. Damit ist zunächst nicht gesagt, wie die sozialen Probleme bearbeitet werden sollen oder in welche Richtungen Veränderungen anzustreben sind. Aber es ist durch die Formulierung klar, dass es nicht um eine reine Analyse geht, sondern um eine Veränderung der sozialen Probleme. Die Analyse ist dafür notwendig und damit dann zwangsweise auch eine Auseinandersetzung mit den normativen Grundlagen der Sozialen Arbeit.

In dieser Sichtweise kann die Gegenstandsdiskussion der Sozialen Arbeit mit der folgenden Kurzformel zusammengefasst werden: Soziale Arbeit geht um das Verhindern und das Bewältigen von sozial problematisch angesehenen Lebenssituationen von Menschen. In dieser Definition als Kurzformel ist die Bearbeitung von sozialen Problemen spezifiziert durch das Verhindern und das Bewältigen von diesen Problemen. Damit wird die Tatsache aufgegriffen, dass Soziale Arbeit nicht nur reaktiv agiert, sondern es einen immanenten und oft auch gesetzlich kodifizierten Auftrag zu präventiver Arbeit gibt. Dennoch ist es ein Grundanliegen der Sozialen Arbeit mit Menschen in sozial problematisch angesehenen Situationen zu arbeiten, um diesen Zustand hin zu einem positiven Zustand zu wandeln. Dass dies nicht immer vollständig gelingt, sondern graduelle Abstufungen des Erfolges vorliegen, ist selbstredend. Mit der Formulierung sozial problematisch angesehene Lebenssituationen bleibt offen, wer diese Situationen als problematisch definiert. Dies kann der Klient oder die Klientin selbst sein, dies kann der soziale Nahraum wie die Familie sein, dies kann das größere Umfeld wie der Sozialraum sein oder aber „die Gesellschaft“, die zunächst vermittelt über mediale Berichterstattung aber mit einiger

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zeitlicher Verzögerung über durch Gesetze festgelegte gesellschaftliche Normierungen, Situationen sozial problematisiert. Klar ist, dass diese sozialen Definitionsprozesse nicht im luftleeren Raum stattfinden und keine fairen Aushandlungsprozesse zwischen Gleichberechtigten sind, sondern durch Machtprozesse begleitet werden (vgl. Boettner/ Michel-Schwartze 2016; Engelke et al. 2016, S. 284ff.). Und schließlich wird mit den angesprochenen Lebenssituationen darauf verwiesen, dass Soziale Arbeit zuvorderst eine Profession ist, die bei den Menschen in ihrem Alltag ansetzt und diesem „verpflichtet“ ist. Es geht – anders als z.B. in der Sozialpolitik – um die Perspektive des einzelnen Menschen. Dieser kann mit seinem sozialen Problem alleine stehen; weit wahrscheinlicher ist jedoch, dass er als Teil einer Gruppe agiert und in soziale Zusammenhänge bis hin zur Gesellschaft eingebunden ist. Dann bedeutet dies, dass diese Gruppe oder diese sozialen Zusammenhänge ebenfalls in den Fokus der Sozialen Arbeit als Profession rücken müssen. Das Verhindern und Bewältigen von sozial problematisch angesehenen Lebenssituationen von Menschen ist eine Bestimmung des Gegenstandes als Formalobjekt. Es beinhaltet die spezifische Perspektive und den spezifischen Anhaltspunkt der Sozialen Arbeit und bildet damit Soziale Arbeit als Ganzes ab. Mit dieser Bestimmung wird es möglich, dass Soziale Arbeit als mehr als eine Aufzählung von Arbeitsfeldern oder methodischen Ansätzen definiert wird. Durch die Handlungsperspektive geht es auch um mehr als eine reine Aufzählung der Problemfelder der Sozialen Arbeit – vielmehr bildet sich das Ganze der Sozialen Arbeit ab. Allerdings eignet sich diese Kurzformel nur bedingt zur Gegenstandsbestimmung der Wissenschaft der Sozialen Arbeit. Denn sie bildet zwar den Gegenstand der Sozialen Arbeit ab, jedoch nicht die Tätigkeit und damit Perspektive der Wissenschaft selbst. Aus diesem Grund ist es notwendig, die allgemeingültige Kurzformel zu ergänzen. Die so entstehende längere Fassung zeichnet aber aus, dass sie ausschließlich aus der Perspektive der Wissenschaft der Sozialen Arbeit gelesen werden kann. In dieser Sichtweise kann als Langformel für eine Gegenstandsbestimmung der Wissenschaft der Sozialen Arbeit vorgeschlagen werden: Soziale Arbeit in der Praxis befasst sich mit dem Verhindern und Bewältigen sozial problematisch angesehener Lebenssituationen (Materialobjekt). Soziale Arbeit als Wissenschaft reflektiert die Theorien kritisch, die von der Praxis der Sozialen Arbeit als relevant zum Verhindern und Bewältigen sozial problematisch angesehener Lebenssituationen angesehen werden (Formalobjekt). Dass diese Gegenstandsbestimmung nur aus der Sicht der Wissenschaft gelesen werden kann, ergibt sich aus einer Umkehrung des Formalobjektes in ein Materialobjekt. Der erste Satz der Langformel „Soziale Arbeit in der Praxis befasst sich

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mit dem Verhindern und Bewältigen sozial problematisch angesehener Lebenssituationen“ ist fast wortgleich mit der Kurzformel. Ist diese jedoch dort ein Formalobjekt wird sie aus der alleinigen Perspektive der Wissenschaft zum Materialobjekt. Soziale Arbeit als Wissenschaft nimmt eine Beobachterperspektive ein und reflektiert die Theorien (und Modelle) kritisch, die von der Praxis der Sozialen Arbeit als relevant zum Verhindern und Bewältigen sozial problematisch angesehener Lebenssituationen angesehen werden. Dies ist die spezifische Perspektive und damit das Formalobjekt der Wissenschaft Soziale Arbeit, die nur die Wissenschaft einnehmen kann. Anzumerken ist dabei, dass kritisch reflektieren selbstredend auch bedeutet, dass die Wissenschaft Soziale Arbeit diese Theorien entwickelt bzw. weiterentwickelt. Dabei folgt sie nicht – zumindest nicht zwangsläufig – dem Kriterium der „Nützlichkeit“ oder „Passgenauigkeit“ der Theorieangebote zur Beschreibung, Erklärung und Veränderung von in der Praxis als sozial problematisch angesehenen Lebenssituationen, sondern sie folgt zunächst den Kriterien und der Logik der Wissenschaft deren Gütekriterien sie zuvorderst verpflichtet ist. 4

Bezug der Aufgaben Sozialer Arbeit aus der Gegenstandsbestimmung auf die gesellschaftlichen Herausforderungen

Was bedeutet diese kurze Zusammenfassung der Diskussion um eine Gegenstandsbestimmung Sozialer Arbeit nun für die Frage, ob soziale Kohäsion eine normative Zielvorstellung für Soziale Arbeit sein kann? Als eine erste Schlussfolgerung kann festgehalten werden, dass Soziale Arbeit (als Wissenschaft und Praxis) über normative Zielvorstellungen verfügt. Und zwar in zweierlei Hinsicht, wenn es um die Differenz zwischen individuellen und strukturellen Problemlagen geht. Mit Bedürfnissen und Menschenrechten haben wir einerseits individuelle normative Zielvorstellungen. Mit sozialer Kohäsion haben wir andererseits aber auch eine strukturelle normative Zielvorstellung. Denn es geht bei Sozialer Arbeit in Industrie- bzw. Dienstleistungsgesellschaften um ein Bearbeiten von nicht erreichten bzw. nicht-erfüllten Vorstellungen. Aber es geht auf der strukturellen Ebene um mehr. In der klassischen Industriegesellschaft lagen die Risiken des Scheiterns in den Konsequenzen auf der persönlichen Ebene, die ideologische Begründung für das Scheitern bzgl. der Herausforderungen der Gesellschaft wurde jedoch weitgehend externalisiert. Wenn eine große Firma Bankrott ging und Menschen in großem Maße entließ, dann wurde die „Schuld“ an der Arbeitslosigkeit nicht individualisiert. Mehr noch: Mit starken Gewerkschaften und einem den Schichten deutlich zuzuordnenden sozialen Sicherungssystem (Kirchen, Gewerkschaften, Vereine, wertgebundene Sozialverbände, ständische Berufsvertretungen bis hin zu zuortbaren Parteien) gab es gesellschaftliche

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Institutionen, auf die die einzelne Person vertrauen konnte. Das bedeutete nicht zwangsläufig eine gelungene materielle Unterstützung, aber es bedeutete in der Regel ein soziales aufgefangen sein in den vorhandenen Strukturen, die ein Abrutschen durch das gesellschaftliche Sicherungsnetz verhinderten. In der individualisierten Risikogesellschaft fehlt dieses Netz und es wird fraglich, wie Menschen und damit auch die gesellschaftliche Struktur stabilisiert werden kann, wenn soziale Abstiegsprozesse im großen Maße stattfinden. Und hier kommt soziale Kohäsion als strukturelle normative Erweiterung der Gegenstandsbestimmung Sozialer Arbeit ins Spiel, wenn Soziale Arbeit den Anspruch einer Profession erfüllen möchte. In der neuen „Global Definition of Social Work“ (IFSW 2015) heißt es zu der Frage, womit Soziale Arbeit soziale Situationen verändern kann: „Underpinned by theories of social work, social sciences, humanities and indigenous knowledge, social work engages people and structures to address life challenges and enhance wellbeing.“ (IFSW 2015) Theorien der Sozialen Arbeit, der Sozial- und Geisteswissenschaften und – das ist in der Geschichte der internationalen Definitionen neu – indigenes Wissen sollen die Grundlage für die Tätigkeiten und Bewertungen der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sein. Mit diesem Bezug auf wissenschaftliche Theorien und damit wissenschaftlichen Beschreibungs-, Erklärungs- und Bewertungswissen wird der reflektierte und methodisch versierte Umgang mit Wissen in der Sozialen Arbeit angemahnt. Dieses Wissen ist notwendig, um immer neue Situationen, immer neue Problematiken und immer neue Menschen in besonderen Lebenslagen zu begegnen. Das Zitat geht aber noch weiter und beinhaltet: „social work engages people and structures“ (ebd.) Soziale Arbeit bezieht sich also auf Menschen und Strukturen. Und das ist logisch, wenn man tatsächlich den wissenschaftlichen Ansatz in der Sozialen Arbeit konsequent zu Grunde legt. Wenn man ein Problem beschrieben und erklärt hat und nun überlegt, wie man einige der zentralen Determinanten, die zum Entstehen oder zur Aufrechterhaltung des Problems führen, verändern kann, damit sich auch das Problem verändert, dann ist es nur konsequent, dass man bei den Menschen und bei den Strukturen ansetzen muss. Und damit wird klar: Wenn man annimmt, dass Soziale Arbeit nicht nur mit den Bedürfnissen bzw. den versagten Möglichkeiten der selbstständigen Bedürfnisbefriedigung von Menschen zu tun hat, sondern auch eine sozialstaatliche Funktion in der Gesellschaft hat, dann muss man im Zweifel auch bereit sein, Strukturen der Gesellschaft verändern zu wollen. Das ist das, was man als das politische Mandat der Sozialen Arbeit bezeichnen kann. Es ist ein fachpolitisches Mandat, dass sich eben nicht nur auf die fachliche Ebene beschränkt, wenn die erwähnten Theorien der Sozialen Arbeit, der Sozial- und Geisteswissenschaften zeigen, dass es gesellschaftliche Strukturen sind, die Menschen leiden lassen, die Menschen an einer

Soziale Kohäsion als normatives Ziel?

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Ermächtigung und Befreiung hindern und die soziale Kohäsion gefährden (vgl. Staub-Bernasconi 2004). Wird also die Gegenstandsbestimmung der Sozialen Arbeit um die gesellschaftliche Dimension gedanklich erweitert – und das steckt in dem dieser zugrunde liegenden sozialen Problembegriff schon drin, dann übernimmt Soziale Arbeit als ein gesellschaftlicher Akteur das, was in den 1980 und 1990er Jahren noch durch andere Sicherungssysteme aufgefangen wurde. Und das ist neu, denn es verschiebt im gewissen Maße die gesamtgesellschaftliche Verantwortung auf einen Akteur des sozialen Hilfesystems. Das kann man nun kritisieren, weil man der Meinung ist, dass hier Soziale Arbeit etwas auffangen soll, was woanders aufgefangen werden muss. Aber man kann das auch als Chance betrachten, denn damit wird Soziale Arbeit eine gesellschaftliche Funktion zugewiesen, die sie aus einer individuellen Bearbeitung von Problemlagen herausholt und als gesellschaftlichen Akteur Ernst nimmt. 5

Bezug zur Theoriebildung Sozialer Arbeit

Für die Theoriebildung innerhalb der Sozialen Arbeit stellt sich nun aber noch eine weiterführende Frage: Ist diese Orientierung an sozialer Kohäsion nun eine neue, von außen in die Soziale Arbeit reingetragene normative Orientierung oder entspricht soziale Kohäsion von ihrer inneren Bedeutung – jenseits des Begriffes – dem theoretisch-historischen Kern der Sozialen Arbeit? An dieser Stelle lohnt sich ein Blick auf einen der „Klassiker“ der Theoriebildung in der Sozialen Arbeit – Hans Scherpner (vgl. Engelke et al. 2014, S. 311ff.). Scherpner hat sich intensiv mit der historischen Entwicklung der Fürsorge beginnend im Mittelalter bis zur modernen Sozialen Arbeit befasst. Zentral in seinem Werk ist die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Hilfe und ihrer Verortung in der Gemeinschaft und Gesellschaft. Fürsorgerische Hilfe ist laut Scherpner eine spezifische Form des allgemeinen Helfens. „Jedes Glied einer Gemeinschaft ist auf allgemeine Hilfe, das heißt auf die Unterstützung durch andere Menschen, angewiesen. Fürsorgerische Hilfe entstammt sowohl der Sorge für die Glieder der Gemeinschaft, die sich aus irgendwelchen Gründen in der Gemeinschaft nicht halten können oder den Anforderungen des Gemeinschaftslebens nicht gewachsen sind, als auch der Sorge für die Existenz der Gemeinschaft, die durch Einzelne oder eine größere Zahl von Gliedern, die den Anforderungen der Gemeinschaft nicht gewachsen sind und sich nicht halten können, gefährdet ist. Beide Gesichtspunkte gehören zusammen und der eine kann nach Scherpner nicht ohne den anderen existieren (...). Indem die fürsorgerische Hilfe den Hilfebedürftigen in seiner persönlichen Existenz innerhalb der Gemeinschaft zu stützen und zu erhalten

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trachtet, sichert und stärkt sie auch das Leben des Ganzen, das heißt der Gemeinschaft.“ (ebd., S. 319f.) Unter Gemeinschaft versteht Scherpner zunächst die unmittelbar sich persönlich kennenden Personen – zuvorderst die Familie, aber auch andere Menschen, die in der Lage sind, eine persönliche Beziehung zueinander aufzubauen. Aus diesem Grund betont Scherpner auch den persönlichen Moment in den Hilfebeziehungen zwischen Menschen. Er führt den Begriff der persönlichen Fürsorge ein und meint damit, dass Hilfe in Gemeinschaften immer eine individualisierte Hilfe ist. Das Problem der modernen Fürsorge ist nun für Scherpner, dass das persönliche Element aus der Fürsorge fast ganz verschwunden ist. „Die Wiederentdeckung der persönlichen Fürsorge hält er für notwendig, um die Entwicklung der Fürsorge zu einer schematisierenden bürokratischen Fürsorge aufzuhalten. Mit dem Beginn der Neuzeit ist die Fürsorge für Scherpner in das Stadium der planmäßigen Organisation eingetreten; damit besteht das ungelöste Problem, wie trotzdem der Charakter der Fürsorge als persönliche Hilfe gewahrt bleiben kann. (...) Die grundsätzliche Problematik der modernen Fürsorge liegt für Scherpner darin, dass die persönliche Fürsorge heute zugleich institutionelle Fürsorge ist und damit in Gefahr steht, von Organisation und Verwaltung, die geschaffen worden sind, ihr zu dienen, überfremdet und erdrückt zu werden.“ (ebd., S. 323f.) Soziale Kohäsion ist kein neues Ziel und ist auch nicht der Gegenstand der Sozialen Arbeit. Aber soziale Kohäsion zeigt die normativ-strukturelle Schnittmenge zu anderen Professionen und taugt als interdisziplinäre normative Vision. Zudem ist soziale Kohäsion nicht ohne die gelungene Schnittstelle zwischen Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft denkbar. Und genau damit knüpft soziale Kohäsion an dem an, was Soziale Arbeit ausmacht. Soziale Arbeit ist die Profession, die aufgrund ihrer genuinen Perspektive, diese Schnittstelle nicht nur theoretisch zu denken, sondern auch praktisch zu füllen vermag und soziale Kohäsion tatsächlich versucht herzustellen. Damit kann resümiert werden, dass soziale Kohäsion in der Tat die normativ positiv besetzte Vision - oder Realutopie – sein kann, die in der Disziplin Sozialer Arbeit durch Theoriebildung und in der Praxis Sozialer Arbeit durch konkrete Handlungen von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern anzustreben ist. Damit wird das Arbeiten an gelungener sozialer Kohäsion zu einer intraprofessionellen Aufgabe – auch wenn die Gelingensbedingungen nicht alleinig in den Einflussmöglichkeiten der Profession liegen. Oder um es mit Bezug auf Hans Scherpner zu sagen: Soziale Arbeit ist die Profession, die in individualisierten Gesellschaften in der Lage sein kann, die Lücke zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft (wieder) herzustellen und durch den Bezug auf die Bedürfnisse des Individuums in der Gesellschaft zugleich der von Scherpner gesehenen Gefahr der institutionellen Fürsorge begegnet.

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Arbeitszufriedenheit von Sozialarbeitern: Konzepte, Strukturen und Faktoren des beruflichen Wohlbefindens von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen in sozialen Diensten Andreas Baldschun

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Einleitung

Arbeitsbedingter Stress ist insbesondere unter Sozialarbeitern und Sozialarbeiter_innen sowie den beschäftigenden Organisationen ein aktuelles Thema. Krankheitsbedingte Ausfälle und die Fluktuation der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aufgrund hohen Stresses und verminderter Arbeitszufriedenheit haben sowohl kurzfristige als auch langfristige Folgen für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die Organisationen, sowie für die Klienten und Klientinnen (Sexton 1999; Agass 2002; Sprang et al. 2011). Letztendlich führt dies zu einer Gefährdung der Kohäsion der Sozialarbeitsprofession. Die Ursachen hierfür liegen neben den strukturellen Gegebenheiten in der Organisation auch in den besonderen Arbeitsbedingungen der Sozialarbeit mit Klienten im sozialen Dienst (Sprang et al. 2011; Blomberg et al. 2015). Diese Bedingungen sind im Wesentlichen gekennzeichnet durch den persönlichen Kontakt mit den Klient_innen, die Bedeutung der Beziehungsarbeit mit den Klient_innen, die hohe emotionale Belastung durch die kontinuierliche Exposition gegenüber dem psychischen und physischen Leid der Klienten sowie der dualen Rolle von Kontrolle und Hilfe (Ruch et al. 2010; Hasenfeld 2010; Zosky 2010). Die Kombination dieser Bedingungen birgt eine Vielzahl von akuten und chronisch verlaufenden psychologischen Belastungen, welche auch zu ernsthaften somatischen Krankheiten führen können. Da man diese professionsspezifischen Arbeitsbedingungen kaum beeinflussen kann, ist es wichtig, diese Bedingungen anzunehmen und Strategien zu entwickeln, welche die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen gesund und leistungsfähig erhalten. Bisherige Studien haben die Beziehungsarbeit mit den Klienten als mitentscheidend für einen positiven Hilfeverlauf hervorgehoben (Ruch et al. 2010). Die Bedeutung dieser Beziehung wird auch von den Klienten bestätigt (Ribner/ Knei Paz 2002; Trevithick 2003; Hingley-Jones/ Mandin 2007; Mason 2012). Die Qualität dieser Beziehung bildet die Grundlage vieler Veränderungsprozesse und die © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Borrmann et al. (Hrsg.), Soziale kohäsion und gesellschaftliche Wandlungsprozesse, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25759-0_6

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dadurch entstehenden psychischen Belastungen der Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen sind daher als ein normaler Bestandteil der Arbeit anzusehen und die organisatorischen Strukturen nach dieser Annahme auszurichten. Die Folgen, hervorgerufen durch das verminderte berufliche Wohlbefinden von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen, äußern sich in verminderter Leistungsfähigkeit, emotionalem und motivationalem Rückzug von der Tätigkeit, sowie durch eingeschränkte kognitive Leistungsfähigkeit. Insbesondere eine verminderte kognitive Leistungsfähigkeit kann zu weitreichenden Folgen für alle Beteiligten im Hilfeprozess führen, denn Fehler in der Risikoeinschätzung können den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen (Nelson-Gardell/ Harris 2003, S13). Die Entwicklung und das Erhalten des beruflichen Wohlbefindens von Sozialarbeiter_innen in sozialen Diensten erfordert das Einbeziehen komplexer Prozesse und Faktoren auf unterschiedlichen Ebenen des beruflichen Kontextes. Die zugrundeliegenden Wirkfaktoren dieser Prozesse werden in diesem Beitrag erläutert und Lösungsansätze zum Gelingen eines nachhaltigen beruflichen Wohlbefindens von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen diskutiert. 2

Begriffsbestimmung und strukturell Merkmale des beruflichen Wohlbefindens

Das in diesem Beitrag angewandte Konzept des beruflichen Wohlbefindens (im Engl. occupational well-being) basiert auf der Annahme der Multidimensionalität von Zufriedenheit und Wohlbefinden im beruflichen Kontext. Im Gegensatz zu thematisch begrenzten Konzepten, wie bspw. Arbeitszufriedenheit oder Berufszufriedenheit, ist das Konzept des beruflichen Wohlbefindens ein ganzheitlicher Ansatz zur positiven Beschreibung der Prozesse, welche für die nachhaltige Bildung und Aufrechterhaltung berufsbezogener Gesundheit und Leistungsfähigkeit verantwortlich sind. Berufliches Wohlbefinden entsteht durch das Zusammenwirken von Organisation und den einzelnen Mitarbeiter_innen als Teil einer kooperativen Belegschaft und ist im Wesentlichen charakterisiert durch (vgl. Anttonen, Räsänen 2009; Baldschun 2018): ein sicheres, gesundes und unterstützendes Arbeitsumfeld in einer gut geführten Organisation eine ausgewogene Balance von Autonomie am Arbeitsplatz und Mitbestimmung an Entscheidungen im Arbeitsbereich gute Organisationstrukturen und ein unterstützender Führungsstil eine sinnvolle und bereichernde Tätigkeit Die Erfüllung dieser Merkmale erfordert eine geschulte Belegschaft sowie ein stabiles, ergonomisches und den Anforderungen angemessenes Arbeitsumfeld,

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welches bei Bedarf den neuen Herausforderungen angepasst wird. Die Arbeitsabläufe sollen hierbei störungsfrei und effizient strukturiert sein und ausreichende und angemessene Unterstützung zur Verfügung stehen. Dadurch werden sowohl das Gemeinschaftsgefühl als auch die Arbeitsmotivation gestärkt, welche zum beruflichen Wohlbefinden der Mitarbeiter_innen beitragen, sowie das organisatorische Wohlbefinden fördern. Diese fördernden und kooperativen Eigenschaften tragen über das berufliche Wohlbefinden innerhalb der Organisationen hinaus auch zur allgemeinen Kohäsion der Sozialarbeitsprofession bei. Eine andere Beschreibung des beruflichen Wohlbefindens kann durch die strukturelle Multidimensionalität erfolgen, welche die oben genannten Kriterien mit einbezieht. In der auf einer Analyse der Konzepte zur Beschreibung von arbeitsbedingtem Stress und Wohlbefinden basierenden Konzeption (Baldschun 2014) ist das berufliche Wohlbefinden von Sozialarbeiter_innen in den sechs Dimensionen des affektiven, kognitiven, sozialen, professionellen, individuellen und psychosomatischen Wohlbefinden klassifiziert. Die einzelnen Dimensionen sind wiederum definiert durch eine Anzahl von spezifischen Faktoren, welche die jeweilige Eigenschaft der Dimension bestimmen. Die sechs Dimensionen mit ihren Wirkfaktoren bilden zusammen das ganzheitliche berufliche Wohlbefinden. Hierbei verknüpft es die organisatorischen Faktoren mit den individuellen Faktoren des_der jeweiligen Sozialarbeiter_in, wodurch die Evaluation des beruflichen Wohlbefindens in der Anwendung flexibel wird. Organisationen und Mitarbeiter_innen ermöglicht dieses Modell eine individuelle Bestandsaufnahme von aktiven und inaktiven Faktoren und ermöglicht dadurch die effektive Unterstützung des individuellen Wohlbefindens sowie den gezielten Einsatz institutioneller Ressourcen. 3

Konzepte zur Beschreibung von arbeitsbedingtem Stress und Wohlbefinden

In diesem Abschnitt werden die wichtigsten Konzepte zur Beschreibung von arbeitsbedingtem Stress und Wohlbefinden und ihre Relevanz für das berufliche Wohlbefinden von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen aufgeführt. Aufgrund des begrenzten Platzes können die einzelnen Konzepte in diesem Beitrag nur kurz dargestellt werden. Zur weiteren Vertiefung der Konzepte wird auf die jeweiligen Quellen verwiesen. In Bezug auf ihre Orientierung können die Konzepte grundsätzlich in zwei Kategorien unterteilt werden: In symptomorientierte Konzepte mit dem Fokus auf arbeitsbedingtem Stress und in positiv orientierte Konzepte mit dem Fokus auf das arbeitsbedingte Wohlbefinden. Die Kategorien unterscheiden sich im Wesentlichen in ihrer grundlegenden Sichtweise des Phänomens und durch die Wertung ihrer Faktoren. Während die symptomorientierten Konzepte

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Risikofaktoren hervorbringen, erhält man von den positiv orientierten Konzepten präventive und fördernde Faktoren. Beide Orientierungen haben jedoch gemeinsam, dass sie einzelne Aspekte des beruflichen Wohlbefindens von Sozialarbeiter_innen beschreiben. -

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Das Burnout Syndrom ist ein häufig verwendetes Konzept zur Beschreibung arbeitsbezogener Leiden von Sozialarbeiter_innenn und wurde ursprünglich bei Mitarbeiter_innen in helfenden Berufen diagnostiziert. Burnout entsteht als Reaktion auf kontinuierlich einwirkende emotionale und interpersonelle Stressfaktoren in einem Arbeitsumfeld mit hohem Arbeitsaufkommen und geringen unterstützenden Ressourcen (Maslach et al. 2001; Decker et al. 2002; McFadden et al. 2015). Als zusätzlicher negativer Faktor wirkt sich die Ambiguität von Kontrolle und Hilfe in der Sozialarbeit auf die Entwicklung von Burnout aus (Decker et al. 2002). Burnout ist das Endstadium eines chronischen Verlaufes und führt zu emotionaler Erschöpfung, Depersonalisation und Leistungsabfall bis hin zur Arbeitsunfähigkeit (Maslach/ Jackson 1981). Demzufolge kann die Entstehung von Burnout vermieden werden, indem die arbeitsbedingten Belastungen durch entsprechende institutionelle Strukturen und Unterstützung kompensiert werden. Das arbeitsbezogene Belastungssyndrom (im Engl. occupational stress syndrome) ähnelt dem Burnout Syndrom in Verlauf und Ausgang. Es bezieht sich allerdings im Wesentlichen auf die arbeitsbezogenen Faktoren und die institutionellen Ressourcen und weniger auf die emotionale Belastung der Mitarbeiter_innen (Farmer et al. 1984; Coffey et al. 2004; Nissly et al. 2005). Die Hauptfaktoren, die zur Entstehung des arbeitsbezogenen Belastungssyndroms beitragen, sind die Überlastung und Überforderung am Arbeitsplatz einhergehend mit unzureichender sozialer Unterstützung und mangelnden institutionellen Ressourcen (Farmer et al. 1984; Nissly et al. 2005; Collins 2008). Mitleidsmüdigkeit (im Engl. compassion fatigue) entsteht durch die emotional beanspruchende Mitarbeiter_innen-Klient_innen Interaktion und ist eine direkte Reaktion auf das Leiden der Klient_innnen (Radey/ Figley 2007, S. 207). Die kontinuierliche Exposition gegenüber dem Leid und den Problemen der Klient_innen führt zu einer emotionalen Überlastung und endet ähnlich wie beim Burnout Syndrom, jedoch schneller im Verlauf, in emotionaler Erschöpfung und Leistungsabfall (Dill 2007; Sprang et al. 2007). Ein weiterer Unterschied zum Burnout Syndrom ist die stärkere Personenzentriertheit der Mitleidsmüdigkeit mit weniger Bezug zu institutionellen Faktoren (Radey/ Figley 2007). Eine effektive Selbstfürsorge der Sozialarbeiter_innen steht bei der Vermeidung von Mitleidsmüdigkeit im Vordergrund. Mitgefühlszufriedenheit (im Engl. compassion satisfaction) ist der Gegenpol der Mitleidsmüdigkeit und ist positiv assoziiert mit einem niedrigen Grad an Burnout und Mitleidsmüdigkeit (Conrad/ Kellar-Guenther 2006; van Hook/

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Rothenberg 2009; Stamm 2010). Mitgefühlszufriedenheit wird erlangt durch die Freude des_der Sozialarbeiter_in seine_ihre Arbeit erfolgreich zu erledigen und den Klient_innen helfen zu können (Radey/ Figley 2007; Stamm 2010). Die Fähigkeit zur Empathie wird als wesentliche Eigenschaft angesehen, um effektive Sozialarbeit leisten zu können (Radey/ Figley 2007, S. 207). Effektive Selbstfürsorge und institutionelle Unterstützung sind die wesentlichen Faktoren zum Kreieren von Mitgefühlszufriedenheit. Das Konzept der Gegenübertragung ist ursprünglich von Sigmund Freud entwickelt und beschreibt ein weitgehend unbewusstes Phänomen, in dem durch den persönlichen Kontakt zu Klient_innen die persönlichen Erfahrungen des_der Sozialarbeiter_in aktiviert werden. Die dadurch auftretenden Emotionen sind nun den Erfahrungen des_der Sozialarbeiter_in zugeordnet und nicht denen des_der Klient_in (Figley 2002). Die daraus abgeleiteten Interventionen sind daher mehr den Erfahrungen des Sozialarbeiters dienlich und können für den Hilfeprozess unangemessen und kontraproduktiv sein (Kanter 2007; Gibbons et al. 2011). Dies wiederum kann zu negativen Konsequenzen für die Sozialarbeiter_innen und den Klient_innen führen. Die Sozialarbeiter_innen können von den aufkommenden Emotionen überwältigt und überfordert werden und dadurch ihre professionelle Handlungsfähigkeit im Hilfeprozess einbüßen. Dies wiederum kann zu Missverständnissen mit dem_der Klient_in und zur Störung der Arbeitsbeziehung führen (Agass 2002). Wirksame Faktoren gegen dieses Phänomen sind Supervision, ein unterstützendes Arbeitsumfeld und institutionelle Unterstützung. Zur posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) kann es kommen, wenn die Sozialarbeiter_innen im Arbeitsalltag akuten Stresssituationen ausgesetzt sind wie bspw. einer Gewalterfahrung, dem schockierenden Erlebnis bei einem Hausbesuch oder dem Tod eines_einer Klient_in (Horwitz 1998; Joseph/ Murphy 2014). Diese überwältigenden Erlebnisse können direkt oder indirekt erfahren werden, wodurch die professionelle Handlungsfähigkeit stark gemindert werden kann. Da traumatische Ereignisse unerwartet auftreten ist eine wirksame Prävention kaum realisierbar, jedoch erfordern sie ein unmittelbares Handeln. Hier ist es wichtig, dass die beschäftigende Institution einen Handlungsplan bereit hat, der umgehend umgesetzt werden kann. Des Weiteren wirkt sich ein unterstützendes Arbeitsumfeld lindernd auf die Symptome aus (Baldschun 2014). Die sekundäre Traumatisierung bezieht sich auf eine Traumatisierung des_der Sozialarbeiter_in, welche durch das Arbeiten mit traumatisierten Klient_innen entsteht (Bride et al. 2007a, Dill 2007). Im Gegensatz zur posttraumatischen Belastungsstörung erleben die Sozialarbeiter_innen das Trauma nicht selbst und die Traumaerfahrungen der Sozialarbeiter_innen sind mitentscheidend für die Anfälligkeit und Ausprägung der Traumatisierung (Nelson-Gardell/ Harris

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Andreas Baldschun 2003; Dill 2007). Die Symptome einer sekundären Traumatisierung sind ähnlich denen einer posttraumatischen Traumatisierung. Sie unterscheiden sich dennoch darin, dass die sekundäre Traumatisierung einen schleichenden Verlauf hat, der einen emotionalen und funktionellen Rückzug von der Arbeit auslöst (Bride et al. 2007a). Als wichtige präventive Faktoren werden gezielte Weiterbildung, Supervision, positive Bewältigungsstrategien und eine Reduzierung der Fallzahlen aufgeführt (Bride et al. 2007a; Dill 2007). Eine weitere traumatische Störung mit Relevanz für Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen stellt die stellvertretende Traumatisierung (im Engl. vicarious traumatization) dar. Diese Traumatisierung entsteht durch das emphatische Engagement in der Arbeit mit traumatisierten Klient_innen in der Arbeitsbeziehung mit ihnen. Dadurch entstehen unbewusste kognitive Veränderungen in der Selbstwahrnehmung des_der Sozialarbeiter_in, wodurch die Symptome des_der Klient_in stellvertretend als eigene wahrgenommen werden. Der Verlauf ist kumulativ und führt zu Veränderungen der persönlichen und professionellen Identität, welche wiederum zu Resignation und Leistungsabfall führen können (Pearlman/ Saakvitne 1995; Bride et al. 2007a/b; Dill 2007). Als Präventivfaktoren nennen die Autoren institutionelle und kollegiale Unterstützung, Supervision, effektive Selbstfürsorge und Weiterbildung. Die gelungene Verarbeitung eines stellvertretenden Traumas kann in der Arbeit mit Klient_innen in der stellvertretenden Übertragung (im Engl. vicarious transformation) dazu genutzt werden den Klient_innen zu helfen, ihr Trauma zu verarbeiten. Werden die unbewussten Prozesse des stellvertretenden Traumas bewusst und entsprechend verarbeitet führt dies zu einer professionellen Weiterentwicklung des_der Sozialarbeiter_in und kann in der Beziehungsarbeit mit entsprechenden Klient_innen eingesetzt werden (Pearlman/ Saakvitne 1995; Sexton 1999; Bride et al. 2007a). Dadurch wird auch das Angebots- und Handlungsspektrum der beschäftigenden Institution erweitert und professionalisiert. Arbeitsengagement (im Engl. job engagement) ist ein weiteres Konzept, welches auf einer positiven Beschreibung basiert und die menschlichen Stärken und optimale Funktionstüchtigkeit in den Vordergrund stellt (Schaufeli et al. 2002; Schaufeli/ Bakker 2003). Arbeitsengagement wird auf den dem arbeitsbedingten Wohlbefinden zugrundeliegenden Dimensionen „Aktivierung“ und „Identifikation“ aufgebaut, denen die drei Faktoren Vitalität, Hingabe und Vereinnahmung zugeordnet sind. Zusätzlich wird Effizienz als ein weiteres wichtiges Element von Arbeitsengagement genannt. Nach Schaufeli und Kollegen lässt sich dieser optimale Zustand im Arbeitsleben durch individuelle und institutionelle Ressourcen erreichen und aufrechterhalten. Arbeitszufriedenheit (im Engl. job satisfaction) ist ein Konzept, das sich auf die Zufriedenheit der Arbeit_innen mit ihrer Arbeit und ihrem Arbeitsplatz

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konzentriert und als mehrdimensionales Konstrukt beschrieben wird (Koeske et al. 1994; Rauktis/ Koeske 1994). Die Autoren betonen die intrinsische, die extrinsische und die institutionelle Dimension als die relevanten Bereiche für das Entwickeln von Arbeitszufriedenheit und betonen zusätzlich die Wichtigkeit von strukturellen Faktoren wie Autonomie und Bürokratisierung. Hierbei werden die emotionalen Belastungen durch die Arbeit jedoch nicht mitberücksichtigt. Neben den intrinsischen Faktoren der Mitarbeiter_innen sind die institutionellen Faktoren, die Arbeitsbedingungen und der Führungsstil die Hauptfaktoren, die die Arbeitszufriedenheit beeinflussen (Elpers/ Westhuis 2008; Roßrucker 2008; Acquavita et.al 2009). Die Betrachtung der einzelnen Konzepte verdeutlicht die Komplexität des beruflichen Wohlbefindens. Des Weiteren unterstreicht sie die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Betrachtungsweise, um die Vielfältigkeit des beruflichen Wohlbefindens von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen erfassen und evaluieren zu können. Die hier beschriebenen Erkenntnisse in Bezug auf die Risiken von arbeitsbedingtem Stress und den Faktoren zum Erlangen des beruflichen Wohlbefindens werden im nächsten Abschnitt auf die Beziehungsstrukturen der Sozialarbeit in sozialen Diensten übertragen. Ziel ist es die Risiken den Arbeitsprozessen zuzuordnen und sie den jeweiligen Präventiv- und Schutzfaktoren gegenüber zu stellen.

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Das berufliche Wohlbefinden im Beziehungsfeld der Sozialarbeit

Die Sozialarbeit mit den Klient_innen in den sozialen Diensten ist üblicherweise in den Hilfeprozess integriert und ein Hauptmerkmal des Hilfeprozesses ist der persönliche Kontakt mit den Klient_innen über einen mehr oder weniger langen Zeitraum. Hierbei stellt die professionelle Beziehung zum_zur Klient_in eine Schlüsselfunktion im erfolgreichen Verlauf des Hilfeprozesses dar (Sudbery 2002; Dill 2007; Hasenfeld 2010) und birgt gleichzeitig vielfältige Risiken in Bezug auf die Entwicklung von psychischen Störungen bei den fallverantwortlichen Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen (Ruch 2012). Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Kinderschutz sind hierbei einer besonders hohen Vulnerabilität ausgesetzt (Maslach/ Jackson 1981; Maslach et al. 2001; van Hook/ Rothenberg 2009). Das emphatische Verstehen der Probleme und die emotionale Beziehung zum_zur Klient_in bilden hier die Schnittstelle für erfolgreiche Interventionen, sowie für die Entstehung psychischer Störungen. Diese Prozesse werden im Folgenden auf den zwei Ebenen der Sozialarbeiter_innen-Klient_innen-Beziehung und im Kontext institutionellen Handelns betrachtet und evaluiert.

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4.1 Arbeiter-Klienten-Beziehung und berufliches Wohlbefinden Betrachtet man die Sozialarbeiter_innen-Klient_innen-Beziehung unter diesem Gesichtspunkt genauer und isoliert sie von den institutionellen Rahmenbedingungen, werden die zugrundeliegenden Prozesse sichtbar und die Risiken und Vorzüge dieser Beziehung können aufgezeigt werden (siehe Abb. 4.1).

Abb. 4.1 Sozialarbeiter_in-Klient_in-Interaktion. Nach Baldschun (2018)

In den persönlichen Begegnungen sitzen sich zunächst zwei Menschen gegenüber und beide bringen ihre vielfältigen Lebenserfahrungen mit in diese Treffen. Die Lebenserfahrungen des_der Klient_in sind oftmals geprägt von traumatisierenden Ereignissen, wie bspw. Gewalterfahrungen, Missbrauch oder Vernachlässigung, wodurch die zur Verfügung stehenden Kompetenzen der Beziehungsgestaltung von unterentwickelt bis hin zu pathologisch sein können. Im Hilfeverlauf äußern sich diese Beziehungsmuster häufig durch unfreundliches oder aggressives Verhalten, Zurückweisung, Schuldzuweisungen oder in starken emotionalen Ausbrüchen (Horwitz 1998; Joseph, Murphy 2014). Dadurch können die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen akute traumatische Ereignisse erfahren oder durch die widerholte Exposition gegenüber traumatisierten Klient_innen psychische Störungen entwickeln (Sudbery 2002; Nelson-Gardell, Harris 2003; Sprang et al. 2011).

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Da der Umgang mit den Emotionen und dem Verhalten des_der Klient_in ein wesentlicher Teil der Sozialarbeit in sozialen Diensten darstellt, gehört die Entwicklung von psychischen Störungen zu den alltäglichen Gefahren der Profession und es gehört somit zu den professionellen Kompetenzen der Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen damit umzugehen (Dill 2007; Sprang et al. 2011; Joseph/ Murphy 2014). Wie bereits weiter oben beschrieben führen traumatische Ereignisse zur persönlichen und professionellen Funktionsverminderung und bedürfen umgehender Unterstützung durch Kolleg_innen, Vorgesetzte sowie evtl. weiteren Gesundheitsdiensten. Durch die emphatische Adaption in der Beziehung zum_zur Klient_in und die wiederholte Exposition gegenüber solchen Belastungen, können sich bei Sozialarbeiter_innnen weitere psychische Leiden entwickeln. Kommt es hierbei zu einer stellvertretenden Traumatisierung sind die kognitiven Reflexionsprozesse des_der Sozialarbeiter_in gestört und es werden die Symptome des_der Klient_in als die Eigenen empfunden. Bleibt dies unerkannt und unbearbeitet kann es zu Fehlinterpretationen und falschen Interventionen kommen und es können psychische Funktionsstörungen auftreten. Zur Vermeidung dieser Folgen sind neben der effektiven Selbstfürsorge eine kontinuierliche Reflexion im Rahmen von Supervision und Teambesprechungen wichtig. Zusätzlich wirken sich ein unterstützendes Arbeitsumfeld, gezielte Weiterbildung und angemessene Fallzahlen präventiv aus. Eine Gegenübertragung kann sich in jedem einzelnen Hilfeverlauf entwickeln. Mitentscheidend für die Entstehung und den Verlauf dieser Störung sind die traumatischen Vorerfahrungen des_der Sozialarbeiter_in. Hierbei handelt es sich, ähnlich wie bei den Klient_innen, primär um Erfahrungen in der frühen Kindheit. Sie sind Bestandteil jeder kindlichen Entwicklung, unterscheiden sich jedoch in Form, Ausprägung und Grad der Verarbeitung (Figley 2002; Kanter 2007). Gerade in der Ausprägung und Verarbeitung dieser negativen Erlebnisse liegt oftmals der Unterschied zwischen Klient_in und Sozialarbeiter_in. Dennoch kommt es vor dass die Erfahrungen bei Sozialarbeiter_innen nicht ausreichend verarbeitet werden konnten und durch die Arbeit mit den Klient_innwn wieder aktiviert werden. Dies kann dann zur Gegenübertragung oder sekundären Traumatisierung führen, wobei der Sozialarbeiter_innen mehr auf seine_ihre eigenen Symptome anspricht, als auf die des_der Klien_in (Bride et al. 2007b; Kanter 2007; Sprang et al. 2007). Werden die Interventionen im Hilfeprozess dann fälschlicherweise auf die Symptome des_der Sozialarbeiter_in ausgerichtet, kann dies zu weitreichenden Folgen im Hilfeverlauf bis hin zum Abbruch führen. Auch hier sind die Selbstfürsorge, Supervision und Teambesprechungen, sowie ein unterstützendes Arbeitsumfeld und angemessene Fallzahlen präventive Maßnahmen zur Vermeidung. Es ist jedoch wichtig zu erwähnen, dass bei erfolgreicher und konsequenter Unterstützung des_der Sozialarbeiter_in und der Reflexion seiner_ihrer Arbeit, diese risikoreichen Prozesse zum Kreieren wirkungsvoller Interventionen und

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zum erfolgreichen Verlauf des Hilfeprozesses beitragen können. Durch die Verarbeitung einer stellvertretenden Traumatisierung können bspw. wichtige Erkenntnisse in Bezug auf die psychischen Strukturen und Bedürfnisse des_der Klient_in gewonnen werden und in angemessenen Interventionen dem_der Klient_in zugutekommen. Des Weiteren trägt die konsequente Anwendung der Präventivfaktoren zu positiven Erfahrungen und Steigerung der Professionalität der Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen bei und führt zu positiven Hilfeverläufen. Damit werden letztendlich das Arbeitsengagement und die Mitgefühlszufriedenheit gesteigert. 4.2 Berufliches Wohlbefinden im institutionellen Kontext Da das Handeln der Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen eng mit dem generellen Auftrag der beschäftigenden Institution verknüpft ist, sind die Prozesse des beruflichen Wohlbefindens insbesondere auch in diesem Kontext zu betrachten. Ein wichtiges Merkmal in diesem Zusammenhang ist das Kontrollmandat des_der Sozialarbeiter_in, welches mit dem Hilfeauftrag nicht immer kompatibel ist. Das kann zu Rollenkonflikten und Rollenambiguität führen (Decker et al. 2002; Roßrucker 2008). Zusätzlich sind die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen den geltenden gesetzlichen Bestimmungen, politischen Entscheidungen und den Richtlinien der Institution unterworfen, worauf die einzelnen Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen in der Regel keinen Einfluss haben. Des Weiteren sind die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen einem ständigen Druck der Öffentlichkeit und der Presse in Bezug auf den Erfolg ihrer Arbeit und den zu Verfügung stehenden Ressourcen ausgesetzt (van Hook/ Rothenberg 2009). Dennoch hat die Institution einen entscheidenden Einfluss auf das berufliche Wohlbefinden der Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen. Die Beziehungsstrukturen des beruflichen Wohlbefindens im institutionellen Kontext sind in Abb. 4.2 dargestellt.

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Abb. 4.2 Organisation-Arbeiter-Klient-Interaktion. Nach Baldschun (2018)

Neben den psychischen Störungen, die sich durch den persönlichen Kontakt mit den Klient_innen ergeben, gibt es weitere arbeitsbedingte psychische Gefährdungen, die im institutionellen Kontext entstehen. Die betreffenden Konzepte beziehen neben den individuellen emotionalen Belastungen insbesondere die strukturellen und quantitativen Faktoren mit ein. So entsteht die Mitleidsmüdigkeit zwar im persönlichen Kontakt mit den Klient_innen, bedarf jedoch auch der institutionellen Unterstützung und ein adäquates Arbeitsumfeld zu ihrer Vermeidung. Eine ähnliche Konstellation bedingt das Burnout Syndrom. Es entsteht generell durch eine chronische Überlastung des_der Mitarbeiter_in durch die Arbeitsbedingungen mit dem expliziten Bezug zu den emotionalen Belastungen am Arbeitsplatz. Lediglich das arbeitsbedingte Belastungssyndrom hat seinen Fokus auf den strukturellen und quantitativen Arbeitsbedingungen. Diese beziehen sich in den sozialen Diensten insbesondere auf Faktoren wie die Fallzahlen, den Führungsstil, die institutionellen Ressourcen zur Unterstützung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die Struktur der Mitarbeiter_innenbeteiligung und Anerkennung, sowie der Arbeitsprozesse (vgl. Maslach et al. 2001; Dill 2007; Juby/ Scannapieco 2007; Tham 2005; Li et al. 2014). Weitere Faktoren, die Einfluss auf das berufliche Wohlbefinden der Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen haben, kommen von den Schnittstellen der Institution mit der Politik, den legislativen Institutionen und der Öffentlichkeit. So ist die Arbeit in den sozialen Diensten permanent unter der Beobachtung der Presse und Öffentlichkeit, wodurch der Druck erhöht wird, die Hilfeprozesse erfolgreich im Sinne der Gesellschaft zu gestalten (van Hook/ Rothenberg 2009). Des Weite-

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ren sind die sozialen Dienste in die Verwaltung ihrer Städte und Gemeinden eingebunden und werden von den sozialpolitischen Entscheidungen und Veränderungen beeinflusst, was zusätzliche Ungewissheiten und Einflussfaktoren für die Arbeitsbedingungen der Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen mit sich bringen. Diese sind jedoch nur in geringem Maße vom jeweiligen sozialen Dienst oder den einzelnen Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen beeinflussbar. Die kontinuierliche und adäquate Verfügbarkeit institutioneller Ressourcen sowie die konsequente Umsetzung transparenter, unterstützender und motivierender Strukturen der Arbeitsabläufe und des Arbeitsumfeldes sind essentielle institutionelle Faktoren, die zum Aufbau und Erhalt des beruflichen Wohlbefindens der Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen beitragen (Steen 2011; Hamama 2012). Diese Faktoren führen dann auch zu Arbeitszufriedenheit und Arbeitsengagement unter den Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen, welches sich auf die Qualität der Arbeit auswirken wird. Gesunde, zufriedene und leistungsstarke Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen werden einen wesentlichen Beitrag zur Erfüllung des institutionellen Auftrages leisten und somit auch einen wesentlichen Beitrag zum institutionellen Wohlbefinden leisten. Zusammenfassend kann man das Entwickeln und Erhalten des beruflichen Wohlbefindens als einen kontinuierlichen Prozess beschreiben, der in enger Kooperation zwischen den Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen und der Institution realisiert wird und nach den individuellen und aktuellen Bedürfnissen der Arbeitsbelastung gesteuert werden muss. 5

Schlussfolgerungen

Aus den vorgehend beschriebenen Strukturen, Faktoren und Prozessen des beruflichen Wohlbefindens lassen sich Konsequenzen für die Praxis und Ausbildung der Sozialarbeit ableiten. So kann bspw. das Wissen über die Risikofaktoren und deren präventiven Gegenfaktoren in der Praxis dazu genutzt werden, die entsprechenden Ressourcen bereitzustellen und präventive Maßnahmen zur Vermeidung der Entwicklung psychischer Störungen zu ergreifen. Ebenso können die zugrundeliegenden Prozesse in Teamsitzungen bewusst gemacht, sowie in der Supervision regelmäßig besprochen werden. Hier können die erfahrenen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ihre Erfahrungen mit den jüngeren Kollegen und Kolleginnen teilen und so vorbeugend zur Vermeidung der professionstypischen, psychischen Leiden beitragen. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass das berufliche Wohlbefinden in der beschäftigenden Institution entsteht und eng mit den institutionellen Strukturen verknüpft ist. Das berufliche Wohlbefinden ist vielmehr eine unabdingbare reziproke Beziehung zwischen der Institution und der Belegschaft, von der beide Seiten profitieren.

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Die konsequente Umsetzung dieser Kooperation im Sinne des beruflichen Wohlbefindens wird auf verschiedenen Ebenen zu positiven Effekten führen: die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen erhalten ihre Gesundheit, Motivation und Leistungsfähigkeit, was in der Regel mit hoher Arbeitszufriedenheit einhergeht und sowohl zu einem guten Betriebsklima als auch zu einer hohen Mitarbeiterbindung führt. Die Institution profitiert von einer gesunden, motivierten und leistungsstarken Belegschaft, von einer hohen Arbeitsqualität und geringeren Kosten für die Akquise und Einarbeitung neuer Mitarbeiter_innen. Dadurch wird letztendlich auch die Erfüllung des institutionellen Auftrages erfolgreich bewältigt werden können. Dies ist eine Grundvoraussetzung, um durch Soziale Arbeit auch dem übergeordneten, normativen Ziel der sozialen Kohäsion näher zu kommen. Die Verbreitung und Aneignung von Wissen über die Faktoren und Prozesse, die zu beruflichem Wohlbefinden führen, sollten jedoch nicht erst mit dem Eintritt in die Praxis nach dem Studium erfolgen. Begreift man die oben beschriebenen psychischen Störungen als eine normale Reaktion auf die insbesondere emotional anspruchsvolle Arbeit, basierend auf der professionellen Soziarbeiter_innen-Klient_innen Beziehung, so wäre es nur konsequent, die Kompetenz zum Bilden, Entwickeln und Erhalten des berufsbedingten Wohlbefindens als professionelle Kompetenz in das Curriculum des Sozialarbeitsstudiums aufzunehmen. Oftmals sind die Studierenden bereits in ihrem Praktikum von den psychischen Störungen, welche durch den persönlichen Kontakt mit den Klient_innen hervorgerufen werden, betroffen und könnten so besser darauf vorbereitet werden. Dadurch wird es ermöglicht, den Studierenden der Sozialen Arbeit, Kompetenzen im Umgang mit emotional anspruchsvollen Situationen zu vermitteln und den oft zitierten Praxisschock zu vermeiden oder wenigstens abzumildern. Die Implementation des Konzeptes des beruflichen Wohlbefindens in die Ausbildung und die Praxis von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen wäre eine logische Konsequenz auf die besonderen Arbeitsbedingungen und Arbeitsbelastungen von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen in sozialen Diensten. Des Weiteren würde die Implementation eines entsprechenden Lehrmoduls die Arbeit mit Emotionen als professionelle Kompetenz anerkennen und so zur Identität der Sozialarbeitsprofession beitragen. Dies wird dann ebenfalls einen Beitrag zur sozialen Kohäsion leisten. Literatur Acquavita, S.; Pittman, J.; Gibbons, M.; Castellanos-Brown, K. (2009): Personal and Organizational Diversity Factors’ Impact on Social Workers’ Job Satisfaction: Results from a National Internet-Based Survey. Administration in Social Work, 33, S. 151166. Agass, D. (2002): Countertransference, Supervision and the Reflection Process. Journal of Social Work Practice, 16 (2), S. 125-133.

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Risiken des Machtmissbrauchs in Organisationen Sozialer Arbeit. Zur Notwendigkeit einer machtreflektierten professionellen Beziehungsarbeit Mechthild Wolff

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Einleitung

Immer mehr Menschen machen Exklusionserfahrungen in ihren eigenen Familien und in ihrem Gemeinwesen; sie sind abgehängt von positiven Kohäsionserfahrungen und benötigen professionelle Hilfe und Unterstützung durch die Soziale Arbeit. Wenn Menschen abgehängt sind von sozialer Anerkennung und Selbstwirksamkeit und wenn ihnen ihr Selbstwert genommen wurde, benötigen sie neue konstruktive Bewältigungsstrategien, um aus destruktiven Bewältigungsfallen herauszutreten (vgl. Böhnisch 2016). Bislang herrschte die Vorstellung vor, dass die Professionellen in der Sozialen Arbeit diejenigen Akteur_innen sind, die gemeinsam mit den Adressat_innen Wege aus individuellen Krisen, Mangelsituationen oder Exklusionserfahrungen suchen. Menschen gilt es in der Suche nach gelingender Bewältigung zu begleiten und durch sozialpolitische Einflussnahme an der strukturellen Vermeidung der Ursachen von Krisen mitzuwirken. Professionelle ziehen dabei ihr Selbstverständnis für das, was sie tun aus der Tatsache, dass sie Hilfe leisten und zu besseren und gerechteten Lebensverhältnissen beitragen. Sie bearbeiten damit die Auswirkungen einer fehlverlaufenen Kohäsion. Im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe beispielsweise, in der es um junge Menschen geht, die aus dem familialen Netzwerk herausfallen oder bei denen gar kein familiales Netzwerk besteht, ist Unterstützung und Hilfe bei der (Re-)Aktvierung von familialen Netzwerken gefragt oder es bedarf der Hilfestellung beim Aufbau eigener und neuer unterstützender Netzwerke, die Familie ersetzen oder Familien unterstützen können. Dementsprechend kreisen Professionalisierungsdiskurse in der Sozialen Arbeit darum, welche Kompetenzen Professionelle benötigen, welches Fach- und welches Methoden- und Handlungswissen notwendig und ausbaubedürftig ist, um Hilfen noch besser zu organisieren (vgl. Becker-Lenz et al. 2010). Armutsphänomenen, die zu Exklusionsprozessen führen können, soll effektiver begegnet werden, individuelle Krisen oder Krisen im System Familie müssen entschlüsselt und © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Borrmann et al. (Hrsg.), Soziale kohäsion und gesellschaftliche Wandlungsprozesse, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25759-0_7

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in konstruktive Bahnen gelenkt werden, um positive Kohäsionserfahrungen wieder zu ermöglichen. Fach-, Methoden- und Handlungswissen muss jedoch eingebettet sein in ein gutes Konzept einer professionellen Beziehungsarbeit. Hier machte Silke Gahleitner auf den Umstand aufmerksam, dass in der Vergangenheit zu wenig theoretisch auf das geschaut wurde, was eine professionelle Beziehungsarbeit gerade im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe ausmacht und welche Anforderungen an sie zu stellen sind (vgl. Gahleitner 2016). So kann man zunächst davon ausgehen, dass Sozialarbeiter_innen und Sozialpädagog_innen einen originär konstruktiven, lösungsorientierten Auftrag haben und auf vielen Ebenen zur Kohäsion beitragen. Was aber ist, wenn sie diese konstruktive Funktion in der professionellen Beziehungsarbeit, die immer als selbstverständlich angenommen wird, nicht mehr übernehmen? Oder anders gesagt: was ist, wenn die helfende Funktion einer professionellen Beziehungsarbeit im Kontext Sozialer Arbeit neue Probleme erzeugt? In diesem Beitrag soll es um notwendige Schlussfolgerungen aus Fällen des Machtmissbrauchs durch Professionelle für die Beziehungsarbeit in sozialen Organisationen gehen. In dem ersten Abschnitt wird zunächst aufgerollt, welche Fälle des Machtmissbrauchs hier gemeint sind, um dann in einem nächsten Schritt mögliche Auswirkungen zusammenzutragen, die solche Fälle haben können. Auswirkungen werden dabei auf drei Ebenen systematisiert: in 2.1, auf der Ebene der Organisationen, in 2.2, auf der Ebene der Mitglieder der Organisationen und letztlich 2.3, auf der Ebene der Strukturen und Rahmenbedingungen von Organisationen. Der Beitrag zeigt auf, dass sich die Profession und Disziplin Sozialer Arbeit im Dienste einer machtreflektierten Praxis auf allen drei Ebenen neu mit dem Thema Macht auseinandersetzten muss. Dafür werden am Ende des Beitrags Wege aufgezeigt, wie durch Schutzkonzepte Organisationen sensibler für mögliche Fehler und für „schwache Signale“ (vgl. Weick/ Sutcliffe 2010) werden können und wie sie ihre Achtsamkeit und Fehlerfreundlichkeit erhöhen können. 2

Die Systeme Sozialer Arbeit sind nicht per se machtreflektiert

Die (selbst-)kritische Frage, inwieweit die Soziale Arbeit machtreflektiert ist, muss sie sich seit 2010 neu stellen. Hier wurden Altfälle von sexuellem Missbrauch, von gewaltförmigem und damit illegitimem Erziehungsverhalten von Professionellen in Einrichtungen öffentlicher Erziehung im Nachkriegsdeutschland öffentlich und wurden national, aber auch international skandalisiert. Diese Fälle haben auf ein Systemversagen aufmerksam gemacht und sie haben dazu beigetragen, dass auch heute kritischer auf das Verhalten von Professionellen geschaut wird (vgl. Fegert/ Wolff 2015).

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Vielfach war auf Fälle des Machtmissbrauchs in sozialen Einrichtungen auf unterschiedlichen Ebenen aufmerksam gemacht worden, aber vielfach blieben diese ungehört. Seit den 90er-Jahren gibt es immer wieder Hinweise auf Gewalt in pädagogischen Kontexten (vgl. Enders 1995; Conen 1995; Wolf 1999; Fegert/ Wolff 2002; Braun et al. 2003), jedoch verlief deren Aufdeckung nur rudimentär. Auch international wurden Ende der 90er Jahre diverse Fällen bekannt, so begannen beispielsweise im Jahr 1997 Verhöre angesichts von Fällen systematischen körperlichen, wie sexuellen Missbrauchs von Kindern in sieben staatlichen Kinderheimen und Erziehungseinrichtungen in Nordwales. Diese Vergehen fanden zwischen 1974 und 1996 statt. Daraufhin erschien in Großbritannien im Jahr 2000 der „Waterhouse-Report“, der 650 Anschuldigungen gegen 148 ehemalige Sozialarbeiter_innen und Lehrer_innen dokumentierte. Im selben Jahr begann die größte Prozesswelle gegen Pädosexuelle in Europa (Schüle 2000). Auch 2008 gab es bereits eine beeindruckende Studie von Carola Kuhlmann zu Lebens- und Berufserinnerungen aus der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre, die aber auch ohne Konsequenzen blieb. Die Tatsache, dass Organisationen, die eigentlich der Hilfe, Unterstützung und dem Empowerment von Menschen dienen sollten, durch unprofessionelles Handeln für die Hilfesuchenden neue Probleme geschaffen haben, hatte niemand für möglich gehalten. Die Probleme sind im System entstanden, niemand hätte je geglaubt, dass sie entstehen könnten. Welche Auswirkungen diese Falle nun auf das Verständnis von Organisationen haben, ist Gegenstand des nächsten Unterpunkts. 2.1 Die Ebene der Organisationen Die von Betroffenen seit 2010 aufgedeckten Fälle von Kindeswohlgefährdungen jeglicher Art in der Geschichte öffentlicher Erziehung zeugen von unsachgemäßem und unprofessionellem Verhalten, das jeglicher (berufs-)ethischer Grundlage entbehrt. Die Fälle in der Vergangenheit, aber auch in der Gegenwart, zeigen zudem auf, dass dort, wo mit Menschen gearbeitet wird, auch Fehler passieren können. Menschen sind fehlbar, ihre Praktiken sind fehlbar. Ob in Organisationen Fehler auffallen und bearbeitet werden, hängt demnach von der Fehlerfreundlichkeit der Organisation ab und davon, wie achtsam dort mit potentiellen Fehlerquellen umgegangen wird und welche präventiven Vorkehrungen getroffen wurden. Es geht somit um die strukturellen Risiken, die bereits dem System Sozialer Arbeit inhärent sind. Solche strukturellen Gegebenheiten müssen darum stets mitgedacht werden: a) als mögliches Berufsrisiko für die Professionellen, denn sie können stets in riskante Situationen geraten, ihnen kann auch stets eine unlautere Intention oder Motivation unterstellt werden. b) Mitgedacht werden muss darüber hinaus, dass für Adressat_innen stets das Risiko besteht, dass sie von unreflektierten Verhaltensweisen Professioneller betroffen sein können.

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Derartige Vorkommnisse in Organisationen verdeutlichen auch eine strukturelle Gegebenheit: die Übermächtigkeit von Organisationen gegenüber ihren Mitgliedern. In Organisationen kann es passieren, dass sich Eigenlogiken entwickeln, die nicht mehr hinterfragt werden (vgl. Wolff 2018). In Organisationen kann auf diese Weise Wirklichkeit konstruiert werden, die dann von Einzelnen auch nicht mehr hinterfragbar ist. Schotten sich Organisationen dann nach innen und außen im Sinne totaler Institutionen ab und entwickeln dabei noch einen Exklusivitätsanspruch, kann der_die Einzelne der Organisation ausgeliefert sein. Er_sie findet sich als Einzelne_r gegenüber der Organisation als Entrechtete_r und Machtlose_r vor. Angesicht der Definitionsmacht von Professionellen liegt hier das Risiko einer strukturellen Machtasymmetrie begründet. Verfügen Adressat_innen über zusätzliche Marginalisierungs- und Diskriminierungserfahrungen, die sie in ihrer Herkunftsfamilien und ihrem -milieu erleben mussten, kann sie dies in eine noch vulnerablere Position versetzen. Sie haben dann auch ein erhöhtes Risiko der (Re-)Viktimisierung (Kindler/ Unterstaller 2007), aber auch das Risiko der Reinszenierung von Opfer- oder Täterschaft innerhalb von Organisationen erhöht sich dadurch. Sind sich Organisationen dieser Machtasymmetrie nicht bewusst, erkennen und setzen sie sich nicht selbstkritisch mit möglichen Fehlerquellen auseinander oder entwickeln sie keine Kultur der Achtsamkeit und stellen keine Fehlerkultur her, können sich Risiken potenzieren. Mit anderen Worten: wenn Risiken für mögliche Fehler (“schwache Signale“) nicht erkannt werden, steigt das Risiko für weitere größere Fehler. Werden sie auf Dauer nicht erkannt und bearbeitet, können Organisationen selbst mit Traumatisierungseffekten reagieren. Langzeiteffekte können entstehen, wenn sich nicht gekümmert wird um Fehlerquellen und wenn keine proaktive Bearbeitung stattfindet. Die Probleme können dann auf Dauer noch schwerwiegender und unbearbeitbarer werden, weil sie sich im Organisationsgedächtnis verankern können. Hier kann Wissen über Unrechtsfälle aufbewahrt werden, hier wird aber auch die mögliche Tabuisierung von Gewalt sowie deren Umdeutungen als Nicht-Gewalt gespeichert. An diesem Organisationsgedächtnis haben die Individuen, die sich mit der Organisation identifizieren, teil. Eine verzerrte Wahrnehmung oder Fehlbenennung von derartigen Handlungen, die objektiv ein Unrechtsverhalten darstellen sowie eine unterlassene Intervention auf organisatorischer Seite kann weiteren Unrechtsfällen Vorschub leisten, indem Hemmschwellen gesenkt und Risikofaktoren verstärkt werden (vgl. Helfferich 2012). Einen solchen Mechanismus kann man auch am Beispiel der OdenwaldSchule deutlich erkennen: dort war nie über Unrecht geredet worden. Alle tabuisierten und unausgesprochenen Rechtsbrüche wuchsen aber derartig in die Soziokultur, in die Köpfe und die soziale Umwelt hinein und konnten letztlich nicht mehr aufgelöst werden. Da Organisationen erst durch Personen zu Organisationen

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werden, soll es im nächsten Schritt um die Auswirkungen derartiger Vorkomnisse auf die Akteur_innen in Organisationen gehen. 2.2 Die Ebene der Personen in Organisationen Risiken der Macht in professionellen pädagogischen Beziehungen Grundsätzlich muss man zunächst festhalten, dass insbesondere Kinder und Jugendliche immer verstärkter auf professionelle Erziehungspersonen angewiesen sind. Eine institutionalisierte Kindheit bringt es mit sich, dass sie einen beachtlichen Teil ihrer Lebenszeit in einer Vielzahl unterschiedlicher professioneller Organisationen der Erziehung und Bildung verbringen (müssen) (u.a. Kindertagesbetreuungseinrichtungen, Schule, Nachmittagsbetreuung, Tagesgruppen, Offene Jugendarbeit, Jugendwohnheime u.a.). Sie sind hier möglichen Risiken bzw. Gefährdungen durch unprofessionelles Verhalten, Gewalt und Machtmissbrauch in der Beziehungsarbeit durch Erwachsene ausgesetzt. Hinzu kommen mögliche Risiken, die durch Gewalt in der Peergroup entstehen können – in oder außerhalb von Organisationen sowie in virtuellen Räumen, wie dem Internet. Dies spricht dafür, dass Gewalt durch Peers, aber auch durch Erwachsene in der außerfamiliären Erziehung und Bildung inzwischen eine Entwicklungsbedingung im Kindesund Jugendalter darstellt. In Bezug auf die intergenerativen Gefährdungen weiß man zudem, dass sämtliche professionellen Beziehungsformen anfällig sind für Risiken des Machtmissbrauchs. Dies ist der Fall, da in Beziehungen Abhängigkeiten entstehen ganz unterschiedlicher Art: z.B. Abhängigkeiten in Bezug auf erwartete oder gewünschte Zuwendung, Aufmerksamkeit, Wertschätzung oder Hilfe. Adressat_innen sind auf all diese Faktoren angewiesen, ob ihnen diese zuteilwerden oder nicht, obliegt den Professionellen. Sie haben eine Deutungshoheit über den Bedarf bzw. die Bedürftigkeit, sie können nach eigenen Verteilungskriterien vorgehen. Betreuungspersonen sind qua Rolle und qua ihres Wissens in eine übergeordnete und mit mehr Macht ausgestattete Position im hierarchischen Gefüge versetzt. Insofern besteht hier bereits eine strukturelle Asymmetrie. So kann man sagen, dass in allen Organisationen, in denen Menschen Nähe zueinander aufbauen müssen, um gute und wirksame Arbeit zu leisten, immer das Risiko haben, dass Abhängigkeiten entstehen und Macht unreflektiert oder willentlich gegen Abhängige ausgenutzt werden kann. Gerade in Organisationen, in denen das Machtgefälle groß ist und viele Abhängigkeiten bestehen, sind Machtasymmetrien strukturell bedingt. Hinzukommt, dass je vulnerabler die Zielgruppe ist, desto höher ist das Risiko der Abhängigkeit und je höher ist das Risiko, dass gegen ihren Willen, gegen ihre persönlichen Rechte entschieden werden kann. Vulnerabilität entsteht, wenn Menschen sich kommunikativ nicht oder schwer ausdrücken können, wenn ihre Glaubwürdigkeit oft in Frage gestellt wird, wenn sie bewegungsunfähig sind, wenn sie auf die Hilfe und Unterstützung anderer angewiesen sind. Macht kann demnach in derartigen Gefügen leichter missbraucht

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werden und in der Folge kann es zu einem Vertrauensverlust oder zu einer Verletzung der Beziehung selbst führen (Wolff 2015, S. 213). Somit ist Vertrauen ein weiterer struktureller Aspekt, der im Hinblick auf personengebundene Aspekte in Organisationen zentral ist. Professionelle genießen in der Regel ein großes Vertrauen, weil ihnen keine Eigeninteressen unterstellt werden und weil man davon ausgeht, dass sie immer wissen, was sie tun. Sabine Wagenblass (2004) sowie Sandra Tiefel und Maren Zeller (2014) beschreiben in diesem Zusammenhang unterschiedliche Vertrauensbeziehungen und -verhältnisse auf allen Ebenen einer Beziehung in pädagogischen Organisationen. Sie unterscheiden zwischen persönlichem Vertrauen, spezifischem Vertrauen, SettingVertrauen und Systemvertrauen. Fälle des Machtmissbrauchs in professionellen Beziehungen sind ein Vertrauensbruch in vielfacher Hinsicht und sie stellen eine Verletzung einer menschlichen Beziehung und ihrer Entfaltungsmöglichkeiten dar. Passiert Machtmissbrauch, so muss erst mühsam Vertrauen auf all diesen Ebenen wiederhergestellt werden. 2.3 Die Ebene der Strukturen in Organisationen Maßnahmen zur Steigerung von Achtsamkeit und zum Ausgleich von Machtasymmetrie In der Regel benötigen Personen in Organisationen eine gemeinsame Haltung, die sich dann auch in gemeinsam verantworteten Verfahren und Praxen ausdrückt. All dies kann allen Beteiligten eine große Handlungssicherheit geben. Die Fälle von Machtmissbrauch in Organisationen haben offengelegt, dass Organisationen über keine kollektive professionelle Haltung verfügten und dass sie kein Wissen über mögliche Risiken und Gefährdungen aufwiesen. Es wurde auch deutlich, dass Organisationen nicht proaktiv agieren und Sorge dafür tragen, dass jede Person in ihrer Rolle weiß, was zu tun ist, wenn ein Fehler auftritt. Es geht also um Handlungspläne und Interventionsketten, die dann einsetzen sollten, wenn schwache Signale wahrgenommen werden und die mithelfen, noch größere Fehler zu vermeiden. Inzwischen weiß man, dass Organisationen, in denen Machtmissbrauch stattgefunden hat oder stattfindet, ihren Adressat_innen keine unabhängigen Anlaufstellen oder Beschwerdemöglichkeiten eröffnet haben. Gerade Menschen, die leicht in Abhängigkeitsfallen geraten können, benötigen die Möglichkeit sich an Personen zu wenden, die außerhalb des Systems stehen. Gerade Menschen in Abhängigkeiten benötigen Fürsprecher_innen, die mithelfen die bestehenden strukturellen Machtasymmetrien auszugleichen und mögliche Ohnmachtsverhältnisse auszuschließen. Vielmehr müssen Menschen in Organisationen in ihrer Selbstwirksamkeit ermutigt werden, sie müssen eingeladen und befähigt werden, dass Unrecht stets aufgedeckt wird.

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Insgesamt kann man sagen, dass durch die Debatte um den Machtmissbrauch in Organisationen erkannt wurde, dass präventive Strukturen in Organisationen dringend erforderlich sind. Es geht hier um Maßnahmen der Prävention, die mithelfen sollen, machtmissbräuchliches Fehlverhalten, das von Erwachsenen, aber auch von Peers ausgehen kann, zu minimieren. Für alle Professionellen, aber auch Ehrenamtlichen, die Beziehungsarbeit leisten, besteht eine Verantwortung, Schutz und Sicherheit für alle Schutzbefohlenen herzustellen und zu gewährleisten. An allen Orten, d.h. in allen Formen der Tagesbetreuung, in Schulen, Freizeiteinrichtungen sowie in allen Einrichtungen und Diensten des Gesundheits- und Sozialwesens muss der Schutz von Abhängigen garantiert werden. Dazu müssen sich Organisationen auf den Weg machen und passfähige Schutzkonzepte erarbeiten, die für alle Beteiligten als hilfreich erachtet werden und zu einer Kultur der Achtsamkeit beitragen (vgl. Wolff/ Schröer/ Fegert 2017). Gerade Personen in Verantwortungspositionen sind gefragt, denn sie können strukturelle Änderungen in Organisationen anschieben. Darum müssen gerade Leitungskräfte gut über Auswirkungen, Risiken und Dynamiken des Machtmissbrauchs aufgeklärt sein. Sie müssen dann strukturell Vorsorge treffen, so dass ein Machtmissbrauch weitgehend ausgeschlossen werden kann. Dies ist auch wichtig, weil alle Organisationen eine soziale Verantwortung gegenüber ihren Akteur_innen, ihren Adressat_innen, Mitarbeiter_innen und allen Co-Produzent_innen einlösen müssen. 3

Schutzkonzepte zur machtreflexiven professionelle Beziehungsgestaltung

All dies spricht dafür, dass die Organisationen und die darin Tätigen reflexiver werden sollten im Hinblick auf strukturell bedingte Machtasymmetrien und im Hinblick auf arbeitsfeld- und teambezogene Risiken. Für eine neue Macht reflektierende Beziehungsgestaltung bedarf es auch neuer Rahmenbedingungen im Sinne eines „sicheren Ortes“ (Kühn 2008). Gegenstand der Reflexion ist die Frage, wie die Wahrung höchstpersönlicher Rechte von Adressat_innen in Organisationen gewährt werden kann und wie durch professionelle Beziehungen gelingende Arbeitsbündnisse (Wagenblass 2016, S. 30) entstehen können. Sie sind nicht selbstverständlich. Die Entwicklung von Schutzkonzepten bietet einen solchen geforderten Reflexionsraum, denn sie beschreiben das interventionsorientierte Vorgehen in Organisationen, sobald ein Verdacht oder eine Vermutung des Machtmissbrauchs in einer Organisation bekannt wird. Schutzkonzepte legen zudem fest, welche Präventionsmaßnahmen notwendig sind, d.h. wie in der Organisation bestmöglich informiert werden kann und wie zumeist tabuisierte Themen offen angesprochen werden können. Dazu gehören z.B. Themen wie gegenseitige Rechte, Nähe und

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Mechthild Wolff

Distanz, Körperlichkeit und Sexualität, Beschwerdemöglichkeiten, Macht und Machtmissbrauch, illegitime Erziehungspraktiken in der professionellen Beziehungsarbeit (Wolff/ Kampert 2017). Schutzkonzepte fordern dazu auf, verbindliche Leitlinien, Verfahren oder Vereinbarungen zu entwickeln, dazu gehört letztlich auch die Frage, wie Fehler in einer Organisation aufgearbeitet werden. Sie dienen somit der Ausgestaltung professioneller Beziehungsarbeit durch mehr Verbindlichkeit und Handlungssicherheit und sie stehen für das Recht auf Unversehrtheit der Adressat_innen. Da es vor allem darum geht, Themen besprechbar zu machen und mehr Verbindlichkeit zwischen allen Akteur_innen zu erzeugen, sprechen wir inzwischen eher von „Schutzprozessen“, die angeschoben werden müssen. Ein zentraler Bestandteil der Entwicklung und Implementierung eines umfassenden Schutzkonzepts sollte somit auch die Institutionalisierung wirksamer Widerspruchsmöglichkeiten (z.B. externe Beschwerdestellen, Ombudsmann/-frau) beinhalten, bei denen die Adressat_innen keine negativen Konsequenzen oder Sanktionen zu befürchten haben, wenn sie diese gebrauchen (Liebhardt 2015, Urban-Stahl/ Jann 2014, Wagenblass 2016). Eine gelingende professionelle Beziehung, die sich durch Sicherheit und Schutz auszeichnet sowie von Vertrauen geprägt ist, kann nur entstehen, wenn „(…) Spielräume zu Beteiligung und Mitentscheidung eingerichtet werden und in diesen Bereichen der Adressat bzw. die Adressatin eine Ermächtigung erfährt“ (Wagenblass 2016, S. 31). Ein Schutzkonzept dient darum vor allem dazu, die Achtsamkeit einer Organisation für die Menschen- und Sozialrechte von anvertrauten Schutzbefohlenen zu erhöhen. D.h. es geht um die Sicherstellung und Stärkung von Rechten der Adressat_innen und die Herstellung eines nachhaltigen organisationalen Schutzes aller Akteur_innen auf allen Ebenen einer Organisation (Fegert/ Schröer/ Wolff 2017). Achtsamkeit beinhaltet hierbei die Gestaltung machtreflexiver professioneller Beziehungen. Vor diesem Hintergrund werden Schutzkonzepte als „ein Zusammenspiel aus Analyse, strukturellen Veränderungen, Vereinbarungen und Ansprachen sowie Haltung und Kultur einer Organisation“ (UBSKM 2015) verstanden. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Neujustierung der Kultur einer Organisation“ (Wolff 2015, S. 47). Das Anliegen eines Schutzkonzeptes besteht somit darin, eine Organisationskultur zu schaffen, die sich durch Achtsamkeit auszeichnet. Achtsamkeit im Sinne eines aktiven Hinhörens, Hinschauens und Eingreifens, wenn höchstpersönliche Rechte verletzt werden. Diese Achtsamkeit ist nicht nur in Situationen relevant, in denen höchstpersönliche Rechte von Akteur_innen offensichtlich missachtet werden, sondern drückt sich bereits in einer Sensibilität für „schwache Signale“ bzw. „kleine Fehler“ aus, die potentiell zu Gefährdungen führen können (Weick/ Sutcliffe 2010). Schutzkonzepte sind darum Organisationsentwicklungsprozesse, die das Ziel verfolgen, mögliche Risiken und Gefährdungen zu erkennen und Sorge dafür zu

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tragen, dass diese Risiken minimiert werden. Wie oben bereits erwähnt, muss man eigentlich von alltäglichen Schutzprozessen sprechen, anstatt von Schutzkonzepten. Denn es geht nicht um einzelne Präventionsmaßnahmen, Checklisten zum Abhaken oder eine Ansammlung von (Fortbildungs-)Zertifikaten oder unterzeichneten Verhaltenskodizes, die in einem Ordner abgeheftet werden (Kampert 2015). „Vielmehr geht es um partizipative Dialoge in lernenden Organisationen, die Schutzkonzepte als organisationale Bildungsprozesse für sich nutzen, d. h. in denen sich Organisationen über Risiken, Gefährdungen und Gelingensfaktoren ihrer eigenen professionellen Arbeit selbstvergewissern“ (Allroggen et al. 2017, S. 12). Bevor Gefährdungen bearbeitbar sind, müssen sie transparent gemacht und es müssen Worte dafür gefunden werden. Nur so kann ein Dialog unter Akteur_innen in Organisationen entstehen. Die Entwicklung von Schutzkonzepten in Organisationen ist vor diesem Hintergrund nicht zu verkürzen auf den verbesserten institutionellen Klient_innenschutz. Hinzu kommt die von Einrichtungen garantierte Einlösung von Menschen- und Sozialrechten, d.h. es geht auch um eine Stärkung von Adressat_innen als Träger eigener Rechte. Solche Dialoge sind auch nie am Ende, sondern sie müssen stetig am Laufen gehalten und als selbstverständliche alltägliche Routinen integriert werden. Unterstützung muss dafür auch durch kommunale und überregionale Unterstützungsstrukturen geleistet werden, vor allem um Institutionen bei der Analyse und Selbstreflexion von möglichen Gefährdungs- oder Risikopotenzialen zu begleiten. Die zu initiierenden Schritte, um ein Schutzkonzept zu entwickeln, liegen in den Händen von Leitungskräften, haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter_innen. Sie haben die Verantwortung für die konzeptionelle Ausrichtung von Organisationen und die Herstellung von Schutz und Sicherheit. Sie müssen erkennen, dass sie durch die Entwicklung von Schutzkonzepten auch einen Mehrwert an Vertrauen in die Personen und Organisationen erzeugen. Jeder Machtmissbrauch gegenüber Schutzbefohlenen in sozialen Organisationen durch eine Betreuungsperson stellt sowohl einen Vertrauensverlust in der Beziehung als auch einen Vertrauensverlust in die Organisation selbst dar. Darum besteht die Verantwortung auch der Ausbildungseinrichtungen darin, neuen Generationen von Sozialarbeiter_innen/Sozialpädagog_innen auf diese neuen Herausforderungen vorzubereiten. Literatur Allroggen, M. et. al. (2017): Einleitung: Schutzkonzepte zur Verbesserung des Kinderschutzes in Organisationen. In: Wolff, M.; Schröer, W.; Fegert, J. M. (Hrsg.): Schutzkonzepte in Theorie und Praxis. Ein beteiligungsorientiertes Werkbuch. Weinheim, Basel: Beltz Juventa, S. 10-13.

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Neue Akteure in der Sozialen Arbeit durch rechtliche Reformen. Das Beispiel Kinderschutz und die „insoweit erfahrene Fachkraft“ Sigrid A. Bathke

Im Zuge von rechtlichen Neuregelungen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen bei Gefahren für ihr Wohl hat der Gesetzgeber die „insoweit erfahrene Fachkraft“ (ieF) als Akteur im Kinderschutz eingeführt. Obwohl nicht deutlich formuliert wird, um wen es sich konkret dabei handeln und wie diese Tätigkeit im Einzelnen gestaltet werden soll, ist die Hinzuziehung einer solchen Fachkraft bei der Gefährdungseinschätzung des Kindeswohls in verschiedenen Gesetzen und bezogen auf verschiedene Fachkräfte und Berufsgruppen nunmehr seit einigen Jahren verpflichtend. Im vorliegenden Beitrag werden die gesetzlichen Grundlagen, die zur Einführung der ieF geführt haben, erläutert, die Entwicklungen in der Konkretisierung dieses Aufgabenfeldes dargestellt sowie abschließend Bedingungen, Bekanntheitsgrad und Implementierung in den Blick genommen. Dabei hat sich in der Praxis seit den vergangenen zehn Jahren bis heute keineswegs eine einheitliche Auffassung zu Rolle und Aufgabenspektrum herauskristallisiert. Dennoch lässt sich sagen, dass die ieF mittlerweile als zentraler und fester Bestandteil der lokalen Kinderschutzarbeit gesehen wird, auch wenn gleichzeitig in der Praxis weiterhin Unsicherheiten bezüglich verschiedener Aspekte bestehen. 1

Hintergrund und Entwicklung der rechtlichen Reformen und Normen zur ieF

Intention des Gesetzgebers war es, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass nicht alle Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe (und im Verlauf auch Professionen und Berufsgruppen jenseits dieses Arbeitsfeldes) in Fragen der Risikoeinschätzung bei Verdachtsfällen von Kindeswohlgefährdung, der Prozessstrukturierung und -gestaltung und den dazugehörigen Handlungsschritten vertraut sind. Als Unterstützung und Begleitung soll hier die ieF fungieren. Seit dem Jahre 2005 beschäftigt sich die Fachöffentlichkeit nunmehr mit der Ausgestaltung von Rolle und Auftrag dieser neu geschaffenen Beratungsinstanz. Die rechtlichen Rahmenbedingungen zum Kinderschutz sind seither mehrfach modifiziert und erweitert worden. Begonnen hat dies mit dem Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK) zum 01.10.2005, welches eine Reihe von © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Borrmann et al. (Hrsg.), Soziale kohäsion und gesellschaftliche Wandlungsprozesse, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25759-0_8

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Novellierungen im Achten Buch Sozialgesetzbuch – Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) mit sich brachte, in deren Zusammenhang der Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe bei Gefährdungen des Kindeswohls verstärkt wurde. Mit dem KICK taucht die ieF das erste Mal auf der Bühne des SGB VIII auf. Im Zuge dieser Reform wurde der § 8a SGB VIII zum 01.10.2005 neu eingeführt, in dem diese Fachkraft explizit Erwähnung findet. Betitelt wird dieser neu eingeführte Paragraf mit „Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung“. Zwar ist es nicht so, dass zuvor keine Vorgaben zum Schutz von Kindern und Jugendlichen im SGB VIII existierten. Allerdings fehlte es an konkreten Verfahrensschritten1 und – auch das war 2005 neu: die freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe wurden ausdrücklich in den Schutzauftrag mit einbezogen. Dies geschah vor dem Hintergrund einer bereits länger währenden Debatte in der Kinder- und Jugendhilfe, die die Fragestellung von Verantwortung und Nähe von Fachkräften der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe zu den betroffenen Familien diskutierte. Bereits Mitte der 1990er Jahre stellte sich aufgrund von medial verstärkt thematisierten Todesfällen von Kindern trotz begleitender Unterstützung durch das Jugendamt in Form von gewährten Hilfen zur Erziehung die Frage, inwiefern nicht auch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe (die diese Hilfen erbrachten) die Verantwortung für den Schutz der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen haben, da davon ausgegangen wurde, dass in der Regel die freien Träger wesentlich engeren Kontakt zu den Familien haben als das zuständige Jugendamt. Im § 8a SGB VIII wurden demnach ausdrücklich auch die freien Träger in ihrer Verantwortung für den Schutz von Kindern und Jugendlichen bei Kindeswohlgefährdung benannt und für sie Verfahrensvorschriften in § 8a Abs. 2 SGB VIII (alte Fassung - a.F.) formuliert: „In Vereinbarungen mit den Trägern von Einrichtungen und Diensten, die Leistungen nach diesem Buch erbringen, ist sicherzustellen, dass deren Fachkräfte den Schutzauftrag nach Absatz 1 in entsprechender Weise wahrnehmen und bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos eine insoweit erfahrene Fachkraft hinzuziehen [Herv. d. Verf.]. Insbesondere ist die Verpflichtung aufzuneh-

1 Verfahrensschritte wurden auch für die Träger der öffentlichen Jugendhilfe, d.h. dem Jugendamt, formuliert. Dazu gehört nach § 8a Abs. 1 SGB VIII (sowohl a.F. als auch in der aktuell geltenden Fassung) das Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte bei der Gefährdungseinschätzung, die Einbeziehung der Betroffenen (sofern der wirksame Schutz der Kinder und Jugendlichen dadurch nicht gefährdet wird) sowie das Angebot von entsprechenden Hilfen und darüber hinaus auch Regelungen zur Einbeziehung anderer Leistungsträger und der Gerichte. Auf eine nähere Erläuterung wird an dieser Stelle jedoch verzichtet, da das Jugendamt nicht eine „insoweit erfahrenen Fachkraft“ hinzuziehen muss. Diese Verpflichtung ist lediglich für die freien Träger von Bedeutung. Im weiteren Verlauf der Gesetzesnovellierungen wird dies auch für andere Berufsgruppen außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe relevant.

Neue Akteure in der Sozialen Arbeit durch rechtliche Reformen

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men, dass die Fachkräfte bei den Personensorgeberechtigten oder den Erziehungsberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, wenn sie diese für erforderlich halten, und das Jugendamt informieren, falls die angenommenen Hilfen nicht ausreichend erscheinen, um die Gefährdung abzuwenden“. Zwar sollten die freien Träger den Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung nicht genauso wie das Jugendamt wahrnehmen, gleichwohl „in entsprechender Weise“, dazu gehörte auch die Einbeziehung einer ieF. Darüber hinaus wurde der Abschluss von Vereinbarungen zwischen den Jugendämtern und den freien Trägern durch § 8a Abs. 2 SGB VIII a. F. vorgeschrieben. Welche Reaktionen diese neu eingeführte Regelung hervorbrachte, wird im Folgenden noch näher dargelegt. Eine weitere Neuregelung stellte die Reform des Verfahrens in Familiensachen und den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit dar, die ihren Niederschlag im Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Inkrafttreten 01.09.2009) hatte. Wesentliche Änderungen bestanden u.a. in der Beschleunigung von Verfahren über das Umgangs- und Sorgerecht (sowohl bei Trennung und Scheidung als auch bei Kindeswohlgefährdung), der Förderung von gerichtlichen und außergerichtlichen Streitschlichtung bei Scheidungsfolgesachen oder auch der Neuregelung der Interessensvertretung von Kindern und Jugendlichen im familiengerichtlichen Verfahren (BT-Drs. 16/6308). Da hiervon jedoch die ieF nicht weiter betroffen ist, wird auf eine detailliertere Darstellung an dieser Stelle verzichtet. Ein weiter Meilenstein, hinsichtlich der Erweiterung der Verantwortlichkeiten im Kinderschutz und damit einhergehend die Konkretisierung beratender Unterstützung von Institutionen und Professionen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben und die bislang letzte große Änderung, vollzog sich zum 01.01.2012 mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz – BKiSchG). Hier werden ausdrücklich Berufsgruppen außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe mit in den Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung einbezogen. Damit einhergehend wurde der Zuständigkeitsbereich der ieF auf Arbeitsfelder außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe erweitert. Der Gesetzgeber hat – ähnlich wie 2005 – die Ausgestaltung dieser Institution der Fachöffentlichkeit überlassen, wenngleich in einigen Gesetzesnormen, die davon betroffen waren, Konkretisierungen vorgenommen wurden. Als sog. Artikelgesetz führte das Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) zum einen zu Änderungen in verschiedenen bereits bestehenden Gesetzen (SGB VIII, SGB IX, Schwangerschaftskonfliktgesetz – SchKG), zum anderen wurde ein neues Gesetz – das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) – eingeführt. Zunächst wurden in diesem Zusammenhang einige Paragrafen im SGB VIII einer Novellierung unterzogen. Hier zeigt sich, dass der § 8a SGB VIII – und hier

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wird nur auf die Regelung zur ieF und den Verfahrensschritten der freien Träger eingegangen – eine Präzisierung erfahren hat, was unter anderem einer länger andauernden Diskussion in der Fachöffentlichkeit zu Rolle und Ausgestaltung der ieF zu verdanken ist. In seiner aktuellen Fassung lauten die Ausführungen bezogen auf die freien Träger und ihren Verantwortlichkeiten nun in § 8a Abs. 4 SGB VIII folgendermaßen: „In Vereinbarungen mit den Trägern von Einrichtungen und Diensten, die Leistungen nach diesem Buch erbringen, ist sicherzustellen, dass 1. deren Fachkräfte bei Bekanntwerden gewichtiger Anhaltspunkte für die Gefährdung eines von ihnen betreuten Kindes oder Jugendlichen eine Gefährdungseinschätzung vornehmen, 2. bei der Gefährdungseinschätzung eine insoweit erfahrene Fachkraft beratend hinzugezogen wird sowie 3. die Erziehungsberechtigten sowie das Kind oder der Jugendliche in die Gefährdungseinschätzung einbezogen werden, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird. In die Vereinbarung ist neben den Kriterien für die Qualifikation der beratend hinzuzuziehenden insoweit erfahrenen Fachkraft [Herv. d. Verf.] insbesondere die Verpflichtung aufzunehmen, dass die Fachkräfte der Träger bei den Erziehungsberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, wenn sie diese für erforderlich halten, und das Jugendamt informieren, falls die Gefährdung nicht anders abgewendet werden kann.“ Neu ist, dass die Kriterien der Qualifikation der ieF mit in die Vereinbarungen zwischen Jugendämtern und freien Trägern aufgenommen werden müssen 2. Hintergrund ist auch hier eine länger andauernde und intensive Diskussion um diesen Sachverhalt in der Fachöffentlichkeit. Die Revision des SGB VIII durch das BKiSchG brachte jedoch nicht nur eine Präzisierung des Paragrafen 8a SGB VIII, sondern auch eine Erweiterung der Zielgruppe. Eingeführt wurde neu § 8b SGB VIII – Fachliche Beratung und Begleitung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen. Hierdurch ergeben sich Regelungen, die die Beratung durch eine ieF – die bis 2012 nur für die freien Träger der

2 Eine zügige und konsequente Umsetzung von gesetzlichen Verpflichtungen kann hier nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden, denn der Anteil an Jugendämtern, die mit allen Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe Vereinbarungen zu § 8a SGB VIII geschlossen haben, liegt offenbar nur bei 12% (vgl. Deutsches Jugendinstitut/Technische Universität Dortmund 2015, S. 69) – obwohl dies seit Einführung des KICK zum 01.10.2005 vorgeschrieben ist. Was die Kriterien für die Qualifikation der ieF anbelangt, so sind diese bei 48% der Jugendämter in allen Vereinbarungen (bezogen auf die jeweiligen Handlungsfelder), bei 10% in nur einem Teil der Vereinbarungen und immerhin bei 34% in keiner der Vereinbarungen festgehalten (vgl. ebd., S. 70). Auf der anderen Seite geben 49% der Einrichtungen, deren Vereinbarungen schon vor Inkrafttreten des BKiSchG geschlossen wurden, an, dass diese Kriterien bereits Inhalt ihrer Vereinbarungen waren (vgl. ebd.).

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Kinder- und Jugendhilfe zuständig war – auch für Personen und Institutionen außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe erforderlich machen. Dazu heißt es im § 8b Abs. 1 SGB VIII: „Personen, die beruflich in Kontakt mit Kindern oder Jugendlichen stehen, haben bei der Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung im Einzelfall gegenüber dem örtlichen Träger der Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft.“ Durch diese Norm erweitert sich die Zielgruppe der ieF generell auf Personen, die in beruflichem Kontakt mit Kindern oder Jugendlichen stehen (Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ 2012a, S. 170). Unterschieden werden muss hier demgegenüber die Gruppe der sog. Berufsgeheimnisträger, denn sie unterliegen bestimmten gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrensschritten bei der Gestaltung von Abläufen in Zusammenhang mit wahrgenommenen Gefährdungslagen im Einzelfall (vgl. Institut für soziale Arbeit/Deutscher Kinderschutzbund Landesverband NRW/Bildungsakademie -ISA/DKSB NRW/BiS 2012, S. 14). Darüber hinaus haben gemäß § 8b Abs. 2 SGB VIII „Träger von Einrichtungen, in denen sich Kinder oder Jugendliche ganztägig oder für einen Teil des Tages aufhalten oder in denen sie Unterkunft erhalten, und die zuständigen Leistungsträger, (…) gegenüber dem überörtlichen Träger der Jugendhilfe Anspruch auf Beratung bei der Entwicklung und Anwendung fachlicher Handlungsleitlinien 1. zur Sicherung des Kindeswohls und zum Schutz vor Gewalt sowie 2. zu Verfahren der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an strukturellen Entscheidungen in der Einrichtung sowie zu Beschwerdeverfahren in persönlichen Angelegenheiten.“ Ausdrückliches Ziel dieser Regelungen war die Qualifizierung im Kinderschutz durch Beratung und Begleitung von kinder- und jugendnahen Berufsgruppen in Fragen der Gefährdungseinschätzung, sowohl im Einzelfall als auch generell zur Entwicklung einer entsprechenden Aufmerksamkeitskultur auf Trägerseite (BT-Drs. 17/6256, S. 22). Bereits bei Einführung des § 8a SGB VIII im Jahre 2005 war deutlich geworden, dass beispielsweise Schulen ebenfalls häufig relevante Kooperationspartner im Kinderschutz sind und nicht davon ausgegangen werden kann, dass ihnen die Kinder- und Jugendhilfe und deren gesetzliche sowie fachliche Grundlagen zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung bekannt sind. Gleichwohl bezieht sich das SGB VIII nur auf die Kinder- und Jugendhilfe. Schulen unterliegen jedoch dem Landesrecht. Es handelt sich beim SGB VIII daher nicht um ein Gesetz, nach dem Schulen handeln müssen (und dürfen). Zwar hat es beispielsweise in Nordrhein-Westfalen relativ zügig nach Inkrafttreten des § 8a SGB VIII eine Regelung im Schulgesetz Nordrhein-Westfalens (§ 42 Abs. 6 SchulG NW) gegeben, die seit

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2006 gültig ist3. Es muss jedoch hervorgehoben werden, dass ohne derartige Regelungen in den einschlägigen Gesetzen der Kooperationspartner andere Professionen und Institutionen außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe nicht an die Gesetzgebung im SGB VIII gebunden sind. Mit der Einführung relevanter Regelungen zum Kinderschutz im KKG – einem Bundesgesetz mit Gültigkeit über die Kinder- und Jugendhilfe hinaus – wurde die „Zielgruppe“ der Beratung durch die ieF auch auf bestimmte Berufsgruppen außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe erweitert. Neben verschiedenen Regelungen zu Frühen Hilfen und der Förderung von Netzwerkstrukturen im Kinderschutz – hier werden im § 3 KKG beispielsweise u.a. ausdrücklich Schulen genannt – enthält dieses Gesetz auch einen Paragrafen, der für eine ganze Reihe von Berufsgeheimnisträgern erhebliche Relevanz besitzt. Es handelt sich um § 4 KKG. Hier werden explizit Berufsgeheimnisträger aufgeführt, die in Kontakt mit Kindern und Jugendlichen stehen und bezogen auf den Umgang mit Informationen normalerweise dem § 203 Strafgesetzbuch (StGB) unterliegen. Ohne eine solche Regelung würden Berufsgeheimnisträger nach § 203 StGB eine Straftat begehen, wenn sie ihnen anvertraute Daten bzw. Informationen an andere weitergeben würden. Problematisch war dies in der Vergangenheit insbesondere für Ärzt_innen, die nunmehr unter bestimmten Voraussetzungen eine Befugnis zur Weitergabe von Informationen an das Jugendamt haben4. Konkret beinhaltet § 4 KKG neben der Auflistung einschlägiger Berufsgruppen ein zweistufiges Verfahren, bei dem auch die ieF einbezogen wird: (1) Werden „1. Ärztinnen oder Ärzten, Hebammen oder Entbindungspflegern oder Angehörigen eines anderen Heilberufes, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert, 2. Berufspsychologinnen oder -psychologen mit staatlich anerkannter wissenschaftlicher Abschlussprüfung, 3. Ehe-, Familien-, Erziehungs- oder Jugendberaterinnen oder -beratern sowie

3 Im Verlauf haben auch weitere Bundesländer Regelungen diesbezüglich in ihre Schulgesetze aufgenommen. 4 Bis zur Einführung des KKG war diese Informationsweitergabe durch den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) grundsätzlich bei einer Abwägung der verschiedenen Rechtsgüter möglich. Seit dem 01.01.2012 ist § 4 KKG neben den rechtfertigenden Notstand nach § 34 StGB getreten. Der neu geschaffene § 4 Abs. 3 KKG sollte die Befugnis der Informationsübermittlung durch bestimmte Berufsgeheimnisträger noch einmal deutlich hervorheben, um Handlungssicherheit zu schaffen (vgl. Meysen/ Eschelbach 2012, S. 117f.). Paragraf 34 StGB ist demgegenüber wesentlich weiter gefasst (vgl. ebd., S. 118).

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4. Beraterinnen oder Beratern für Suchtfragen in einer Beratungsstelle, die von einer Behörde oder Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts anerkannt ist, 5. Mitgliedern oder Beauftragten einer anerkannten Beratungsstelle nach den §§ 3 und 8 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes, 6. staatlich anerkannten Sozialarbeiterinnen oder -arbeitern oder staatlich anerkannten Sozialpädagoginnen oder -pädagogen oder 7. Lehrerinnen oder Lehrern an öffentlichen und an staatlich anerkannten privaten Schulen in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen bekannt, so sollen sie mit dem Kind oder Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten die Situation erörtern und, soweit erforderlich, bei den Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird [Herv. d. Verf.]. (2) Die Personen nach Absatz 1 haben zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft. Sie sind zu diesem Zweck befugt, dieser Person die dafür erforderlichen Daten zu übermitteln; vor einer Übermittlung der Daten sind diese zu pseudonymisieren [Herv. d. Verf.]. (3) Scheidet eine Abwendung der Gefährdung nach Absatz 1 aus oder ist ein Vorgehen nach Absatz 1 erfolglos und halten die in Absatz 1 genannten Personen ein Tätigwerden des Jugendamtes für erforderlich, um eine Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen abzuwenden, so sind sie befugt, das Jugendamt zu informieren; hierauf sind die Betroffenen vorab hinzuweisen, es sei denn, dass damit der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen in Frage gestellt wird. Zu diesem Zweck sind die Personen nach Satz 1 befugt, dem Jugendamt die erforderlichen Daten mitzuteilen [Herv. d. Verf.].“ Den kinder- und jugendnah beschäftigten Berufsgeheimnisträgern wird hierdurch eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe im Rahmen eines erweiterten Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung zugewiesen. Werden ihnen gewichtige Anhaltspunkte für eine Gefährdung bekannt, so sollen sie die Situation mit den Betroffenen erörtern (immer mit der Prämisse, dass dadurch nicht der Schutz des Kindes oder Jugendlichen gefährdet wird) und zur Inanspruchnahme von Hilfen motivieren. Dies erfordert Kompetenzen auf mehreren Ebenen. Beispielsweise erfordert es Wissen über „gewichtige Anhaltspunkte“, entwicklungspsychologische Grundlagen, Folgen länger andauernder Gefährdungslagen sowie über das lokale bzw.

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regionale Hilfenetzwerk. In diesem Zusammenhang stellt sich somit die Frage, inwiefern die genannten Personen für diese Aufgabe qualifiziert werden. In der Gesetzesbegründung ging man allerdings davon aus, dass die in § 4 Abs. 1 KKG genannten Berufsgeheimnisträger von ihrer Ausbildung her in der Lage sind, derartige Problemlagen mit den Betroffenen (Eltern, Kinder/Jugendliche) zu besprechen (BT-Drs. 17/6256, S. 19). Gleichwohl wird ihnen zur sachgerechten Umsetzung dieser Regelung eine ieF beratend zur Seite gestellt (§ 4 Abs. 2 KKG). Deutlich hervorzuheben ist, dass im § 4 KKG ein mehrstufiges Verfahren beschrieben wird, bei dem erst eine Information an das Jugendamt erfolgen soll, wenn es zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung kommt, Gespräche mit den Betroffenen nicht zu einer Abwendung der Gefährdung führen und die Betroffenen außerdem nicht zur Inanspruchnahme von Hilfen zu motivieren sind. Damit ist zum einen verbunden, dass der Gesetzgeber auch bei Berufsgruppen außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe auf die Vertrauensbeziehung zwischen Eltern, Kindern/Jugendlichen und den Fachkräften aus den entsprechenden Institutionen setzt – und ggf. auch darauf, dass die jeweilige Institution bereits mit eigenen Hilfezugängen in der Lage ist, die Situation zu „entschärfen“. Zum anderen ist damit nach § 4 Abs. 3 KKG ein Transparenzgebot bei der Informationsweitergabe verbunden (vgl. Meysen/ Eschelbach 2012, S. 113 ff.). Nach dem Grundsatz „Vielleicht gegen den Willen, aber nicht ohne Wissen“ (Kohaupt 2006, S. 11) soll den Eltern vermittelt werden, dass aus rechtlichen Gründen zwar eine Informationsweitergabe an das zuständige Jugendamt erforderlich sein kann, dies aber nicht ohne vorherige Information der Eltern geschehen wird. Somit stellt § 4 Abs. 3 KKG eine für Berufsgeheimnisträger sehr bedeutsame Befugnis zur Informationsweitergabe an das Jugendamt dar. Die Erweiterung der Zielgruppe der ieF erstreckt sich jedoch nicht nur auf die Gruppe der Berufsgeheimnisträger, sondern auch auf den Bereich von Rehabilitation und Teilhabe (SGB IX). Durch das BKiSchG wurde § 21 SGB IX a.F. (Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung) neu gefasst, so dass ein Anspruch auf Beratung im Kontext Kindeswohlgefährdung für Mitarbeiter_innen von Rehabilitationsdiensten und -einrichtungen gegenüber der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe gesetzlich verankert wurde. Im Zuge einer Novellierung des SGB IX zum 01.01.2018 befinden sich die hier relevanten Ausführungen nunmehr mit gleichem Wortlaut in § 38 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX. Verträge mit Leistungsträgern sollen u.a. auch Regelungen über „das Angebot, Beratung durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung in Anspruch zu nehmen“ beinhalten. Es zeigt sich somit, dass seit dem Jahre 2005 durch diverse gesetzliche Modifikationen und neu installierte Regelungen der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung sukzessive präzisiert und auch auf Bereiche außerhalb der Kinder- und

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Jugendhilfe erweitert wurde. In diesem Kontext wird häufig auch von einer „Verantwortungsgemeinschaft“ und einem „kooperativen Kinderschutz“ gesprochen (vgl. Discher/ Schimke 2011; Althoff et al. 2013). Auch wenn zu Beginn dieser Entwicklungen noch keine fachlichen und inhaltlichen Konkretisierungen bezüglich der ieF als Beratungsinstanz erfolgten, wurden sie im Zuge fachlicher Erörterungen entsprechend generiert und ausgestaltet. Demnach entwickelte sich die ieF von einer diffusen, nicht näher präzisierten Beratungsinstanz hin zu einer selbstverständlichen Unterstützung im Prozess der Wahrnehmung des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung. Im Verlauf dieser Entwicklungen und darauffolgender weiterer Gesetzesnovellierungen zum Kinderschutz wurde die ieF als Unterstützung für verschiedene (Berufs-)Gruppen auch außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe implementiert. Dieser Prozess, der mit Inkrafttreten des BKiSchG begann, ist bei weitem noch nicht abgeschlossen. Dies liegt zum einen daran, dass die ieF zwar unterdessen ein fester Bestandteil im Kinderschutz darstellt, zum anderen sich aber insbesondere durch die Erweiterung der Zielgruppe Herausforderungen ergeben, die den Beratungsprozess prägen (beispielsweise kann hier erforderliches Wissen der ieF über das zu beratende System und damit möglicherweise eine veränderte Perspektive auf Gefährdungslagen, so wie sie sich den jeweiligen Institutionen bzw. Berufsgruppen zeigen, angeführt werden) (vgl. dazu auch Althoff et al. 2013). Bevor auf die Ausgestaltung von Rolle und Auftrag der ieF und den damit verbundenen erforderlichen Kompetenzen eingegangen wird, werden im Folgenden zunächst die anfänglichen Reaktionen seitens der Fachöffentlichkeit dargelegt, um (auch die fachlichen) Entwicklungen zur Konkretisierung dieser Beratungsinstanz der letzten Dekade nachvollziehen zu können. 2

Reaktionen der Fachöffentlichkeit auf die Einführung der ieF

Vom Grundsatz her wurde die Konkretisierung des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung der Kinder- und Jugendhilfe durch das KICK (2005) und die damit verbundene Einführung des § 8a SGB VIII in der fachlichen Diskussion begrüßt (vgl. Jordan 2006). Einig war man sich auch darüber, dass der Schutz von Kindern und Jugendlichen keine neue Aufgabe war – weder für die öffentliche noch für die freie Kinder- und Jugendhilfe. Schließlich ging es hier auch um die Etablierung und flächendeckende Umsetzung von Standards in der Kinderschutzarbeit (vgl. Institut für soziale Arbeit – ISA 2006). Derartige Standards wurden seinerzeit zwar schon in vielen Jugendämtern entwickelt und eingesetzt – von einer flächendeckenden Praxis konnte jedoch noch keine Rede sein. Vor diesem Hintergrund spielte die Verpflichtung, Vereinbarungen zwischen Jugendämtern und freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe zu treffen, eine zentrale Rolle. Die

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damit verbundenen organisatorischen, verfahrensbezogenen und inhaltlichen Festlegungen mussten jedoch zunächst erst ausgehandelt werden. Beispielsweise wurde auf der Basis verschiedener Expertisen von Vertreter_innen aus den verschiedenen Arbeitsbereichen der Kinder- und Jugendhilfe zur Umsetzung des Schutzauftrags nach § 8a SGB VIII eine Arbeitshilfe herausgegeben, die Vorschläge zur Ausgestaltung dieser Vereinbarungen für die Praxis lieferte (vgl. ebd.). Generell lässt sich sagen, dass diese erste Phase der Umsetzung des KICK und hier insbesondere der § 8a Abs. 2 SGB VIII a.F. (was die Ausgestaltung von Vereinbarungen und die Hinzuziehung der ieF anbelangt) - von erheblichen Unsicherheiten behaftet war. Dies bezog sich insbesondere auf die freien Träger, die nicht wussten, was durch die Vereinbarungen auf sie zukam bzw. worauf sie achten sollten, wenn es zu Verhandlungen diesbezüglich kam. Hinzu kam, dass sich Arbeitsfelder, wie z.B. die Kinder- und Jugendarbeit in der Gefahr sah, ihren Vertrauensvorschuss gegenüber den Kindern und Jugendlichen durch die Weitergabe von Informationen an das Jugendamt zu verlieren und gleichsam damit die Grundlagen ihrer methodischen Handlungsansätze zu konterkarieren (vgl. Deinet 2006). Der Gesetzgeber hat die Ausgestaltung von Aufgabenspektrum, Rolle und Zuständigkeiten der ieF weitgehend der Fachöffentlichkeit überlassen. Dies hat eine länger andauernde Diskussion um diese Institution mit sich gebracht, die auch weiterhin noch anhält. Darüber hinaus bringt diese „Offenheit“ bis heute mit sich, dass lokal und regional unterschiedliche Ausprägungen vorzufinden sind. Die erste Irritation, die diese vom Gesetzgeber her positiv gemeinte Regelung (§ 8a Abs. 2 SGB VIII a.F.) 2005 mit sich brachte, war demnach die Verpflichtung zum Abschluss von Vereinbarungen zwischen dem örtlichen Jugendamt und den freien Trägern vor Ort. Hier befürchteten die freien Träger einen Einschnitt in ihre Autonomie und vor allen Dingen die Verletzung des Vertrauensverhältnisses zu ihren Klient_innen. Eine zweite, nicht unerhebliche Irritation, löste die hiermit eingeführte ieF aus. Der damaligen und aktuellen5 Gesetzeslage zufolge müssen freie Träger, die Leistungen nach dem SGB VIII erbringen, bei der Einschätzung des Gefährdungsrisikos eine solche hinzuziehen. Da der Gesetzgeber, wie bereits erwähnt, die Ausgestaltung hier der Fachöffentlichkeit überlies, war zunächst unklar, wer diese Beratung übernehmen sollte. Fachkräfte, die relativ häufig mit Familien in Gefährdungssituationen Kontakt hatten, z.B. Anbieter von Hilfen zur Erziehung, fühlten sich degradiert, da sie durch die Verpflichtung der Hinzuziehung einer ieF den Eindruck hatten, aus der Perspektive des Gesetzgebers offenbar nicht „insoweit erfahren“ zu sein schienen. Zudem wurde kritisiert, dass unterstellt werden würde, dass Fachkräfte im Jugendamt grundsätzlich über das hinreichende Fachwissen im Kontext Kindeswohlgefährdung verfügen würden, während dies bei Fachkräften 5

§ 8a Abs. 4 SGB VIII

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der freien Träger nicht immer oder nur in Ausnahmefällen der Fall wäre (vgl. Menne 2006, S. 12). Einige Institutionen – beispielsweise Kinderschutz-Zentren und Erziehungsberatungsstellen – schrieben ihren Fachkräften von vorneherein aufgrund entsprechender Expertise im Umgang mit Gefährdungseinschätzungen bei betroffenen Familien die Rolle der ieF zu (vgl. Menne 2006; Kohaupt 2006; Slüter 2007). Hier begann nun ein Ringen um Zuständigkeiten, Autonomien, Fachlichkeit und vielen anderen Aspekten, die mit der Ausgestaltung, dem Aufgabenspektrum, der Rolle sowie der Verortung der ieF einhergingen. Was die Beteiligung der ieF anbelangte, so wurden bereits relativ schnell Vorschläge unterbreitet, welche Kompetenzen hier gegeben sein müssten. Deutlich wurde auch, dass hierzu Qualifizierungen erforderlich sein würden. Bereits in diesem Stadium erster Formulierungen zur Umsetzung der gesetzlichen Regelungen wird die ieF bereits „Fachkraft für Kinderschutz“ genannt (Kohaupt 2006, S. 15) und damit ein juristisch korrekter Begriff durch einen in der Praxis gefälligeren ersetzt (im späteren Verlauf findet sich bei Moch/ Junker-Moch 2007 der Begriff der „Kinderschutz-Fachkraft“, der in verschiedenen Publikationen ebenfalls Verwendung findet). Darüber hinaus formulierte beispielsweise Kohaupt (ebd.) eine umfangreiche Auflistung zu den für diese Tätigkeit benötigten Kompetenzen. Demnach wurde konstatiert, dass Fachkräfte für den Kinderschutz nach § 8a SGB VIII u.a. Kenntnisse über Familiendynamiken in konflikthaften Beziehungen, Abwehrstrategien von Erziehungsberechtigten bei innerfamiliärer Gewalt, Wahrnehmung von Gewalt seitens Eltern und Kinder, Entwicklungsbeeinträchtigen von Kindern in gefährdenden Beziehungen – aber auch zu Resilienz und Ressourcen in derartigen Konstellationen besitzen müssen. Darüber hinaus sind Kenntnisse über die rechtlichen Rahmenbedingungen und Datenschutzbestimmungen bei Kindeswohlgefährdungen und Kenntnisse des Hilfesystems sowie Kenntnisse über Vernetzung und Kooperationswege unabdingbar (ebd., S. 15). Bereits hier zeigt sich, dass mit dieser Aufgabe ausgesprochen komplexe Anforderungen verbunden wurden.

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Sigrid Bathke Entwicklung der Empfehlungen zur Ausgestaltung von Rolle und Auftrag der ieF

Die weitere Entwicklung bei der Konkretisierung von Rolle und Auftrag der ieF steht unter anderem im Zusammenhang mit Aktivitäten zur Qualifizierung für diesen Bereich. So führen seit 2006 diverse Institutionen 6 Qualifizierungsmaßnahmen zum § 8a SGB VIII durch (spezifisch auch zur ieF). Auf der Basis der Erfahrungen mit diesen Qualifizierungsmaßnahmen haben sich daraufhin auch Eckpunkte zur Ausgestaltung dieses Beratungsfeldes entwickelt. Bereits 2006 wies Kohaupt in seiner Expertise darauf hin, das sich hier „ein Tätigkeitsfeld mit neuen Qualifikationsanforderungen [ergibt], das bisher nur rudimentär und nicht systematisch entwickelt ist“ (Kohaupt 2006, S. 1). Am Beispiel der Beratung von Fachkräften in Kindertageseinrichtungen verdeutlicht er, dass es sich dabei um eine komplexe und prozesshaft gestaltete Beratung und Begleitung handeln müsse – und schreibt diese Qualifikation den Berater_innen von Kinderschutz-Zentren zu (vgl. ebd., S. 10). Überhaupt fällt auf, dass Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe, die bislang ohnehin in beratenden Kontexten zum Kinderschutz tätig waren (insbesondere Kinderschutz-Zentren und Erziehungsberatung), die eigene Qualifikation für dieses neu zu entwickelnde Aufgabengebiet hervorheben. Allerdings gab es zu diesem Zeitpunkt kaum Vereinbarungen, die nach § 8a SGB VIII zwischen der öffentlichen Jugendhilfe und den freien Trägern, die hier konkretere Ausführungen geliefert hätten. Somit war in der Fachöffentlichkeit durchaus Konsens darüber, dass es sich bei der Beratung um eine Personengruppe handeln sollte, die fundierte Erfahrungen im Bereich Kinderschutz aufzuweisen hat und gleichfalls in Ausübung einer beraterischen Funktion versiert sein muss. Diese Aspekte sind bei den genannten Institutionen vom Selbstverständnis her durchgehend vorhanden. Zentral bei Kohaupt ist darüber hinaus, das neben Kenntnissen zu den rechtlichen Rahmenbedingungen, Datenschutz und spezifischem Wissen zu Kindeswohlgefährdungen wie den Ursachen, Symptomen, Risiken und Ressourcen bei betroffenen Familien immer auch Dynamiken im Helfersystem und bei der Familie zum professionellen Portfolio der ieF gehören (vgl. ebd. S. 11). Slüter formulierte in 2007 Überlegungen zu Standards der Fachberatung nach § 8a SGB VIII und strukturierte den Beratungsprozess in mehrere Phasen. Die ieF

6 Dazu gehören – um nur einige zu nennen – beispielsweise: Institut für soziale Arbeit (ISA), Deutscher Kinderschutzbund - Landesverband NRW (DKSB NRW), Bildungsakademie BiS, Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS), Institut für Sozialpädagogische Forschung (ism) Mainz. Im Verlauf der letzten 10 Jahre hat sich hier eine schier unübersichtliche Anzahl von Qualifizierungsangeboten entwickelt. So werden Qualifizierungen zum Kinderschutz (generell zu § 8a SGB VIII) in der Regel auch von Landesjugendämtern, Jugendämtern und freien Trägern angeboten.

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berät nach Slüter die fallverantwortliche Fachkraft bei der Prüfung von gewichtigen Anhaltspunkten, bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos, zu Fragestellungen bezüglich angestrebter Hilfen sowie zu Strategien der Gesprächsführung und der Motivation der Eltern (vgl. Slüter 2007 S. 520 ff.; Groß 2008, S. 180). In diesem Kontext wurde gleichfalls recht schnell die Auffassung vertreten, dass die ieF keine Fallverantwortung trägt (vgl. dazu auch ISA 2006, S. 43). Eine umfangreiche Darstellung eines „Idealprofils“ der ieF liefern Moch/ Junker-Moch (2009). Hier wird ebenfalls auf den prozesshaften Charakter der Beratung abgehoben. Verdeutlicht wird die konkrete Aufgabe der Beratung und Begleitung durch die Aufteilung in unterschiedliche Phasen des Beratungsprozesses. Die ieF oder auch „Kinderschutzfachkraft“ ist hier Wissensvermittlerin, Prozessberaterin, methodische Ratgeberin, Spezialistin auf einem spezifischen Gebiet und Kooperationskoordinatorin (vgl. ebd., S. 149). Weitere konkrete Empfehlungen zur Ausgestaltung der Rolle der ieF werden durch ISA/DKSB NRW/BiS 2010 vorgelegt. Hier wird der Begriff „Kinderschutzfachkraft“ verwendet. Grundlage dieser Empfehlungen sind Erfahrungen aus mehrjähriger Praxis der Qualifikation von Kinderschutzfachkräften nach § 8a SGB VIII in sogenannten Zertifikatskursen. Gegenstand der Beratung ist demnach die „Begleitung der Gefährdungseinschätzung beim freien Träger. Hierzu gehört die Beratung zur fachlichen Fragen im Bereich der Kindeswohlgefährdung und des Verfahrens nach § 8a SGB VIII, die Beratung hinsichtlich der Methoden der Risikoeinschätzung, der Gesprächsführung mit den Personensorgeberechtigten und Kindern zum Thema Kindeswohlgefährdung sowie die Beratung zu geeigneten und notwendigen Hilfen“ (ISA/DKSB NRW/BiS 2010, S. 18). Auch hier werden umfangreiche Kompetenzen aufgeführt, die für diese Tätigkeit als notwendig erachtet werden (vgl. ebd., S. 16). Es wird betont, dass die Fallverantwortung nicht bei der „Kinderschutzfachkraft“ liegt, sondern allein bei der fallzuständigen Fachkraft. Dies weist noch einmal auf die Autonomie der Entscheidung hin, die letztendlich bei derjenigen Fachkraft liegt, die sich im Prozess beraten lässt. Besonders deutlich wird hier zudem hervorgehoben, dass die ieF nicht beim Jugendamt angesiedelt werden sollte, da dies zu Rollenkonfusion führt und einer unabhängigen Beratung und Prozessbegleitung zuwider läuft (vgl. ebd., S. 18). Weitere Aspekte sind die Finanzierung der Beratungstätigkeit sowie die Forderung nach einer vereinheitlichten Qualitätsentwicklung in der Qualifizierung der ieF (ebd.). Diese Empfehlungen wurden nach Inkrafttreten des BKiSchG modifiziert und auf § 8b Abs. 1 SGB VIII und § 4 KKG angepasst (vgl. ISA/DKSB NRW/BiS 2013). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich im Zuge der fachlichen Entwicklungen zur Ausgestaltung von Rolle und Auftrag der ieF bestimmte zentrale Aspekte zu dieser Beratungsinstanz herauskristallisierten. Dazu gehört, dass die ieF zwar hinsichtlich der Gefährdungseinschätzung berät und diesen Prozess be-

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gleitet, dass sie aber nicht die Fallverantwortung hat (und aus datenschutzrechtlichen Gründen, die eine Pseudonymisierung vor der Übermittlung der Daten zum Einzelfall, auch nicht haben kann – vgl. hierzu § 64 Abs. 2a SGB VIII; § 4 Abs. 2 S. 2 KKG). Darüber hinaus besteht der Anspruch, dass die ieF aufgrund eines damit verbundenen Rollenkonfliktes, nicht beim Jugendamt angesiedelt werden sollte – was allerdings in der Praxis nicht immer umgesetzt wird. Nicht zuletzt wird diese Beratungsleistung als ein komplexes Aufgabengebiet, das vielfältige Kompetenzen erfordert, beschrieben. Dies erfordert neben fundierten Kenntnissen zum Kinderschutz insbesondere Erfahrungen im Umgang mit Dynamiken im Helfer_innensystem und im Familiensystem und darüber hinaus fundierte Kenntnisse und Erfahrung in der Beratung und Moderation von Prozessen. Auch wenn Qualifizierungsmaßnahmen eine gute „Auffrischung“ von Kompetenzen in diesem Bereich liefern können, bleibt hervorzuheben, dass die Tätigkeit der ieF nicht von Berufsanfänger_innen ausgeübt werden kann, sondern einen mehrjährige einschlägige berufliche Tätigkeit sowie Erfahrungen in der Bearbeitung von Gefährdungsfällen erforderlich ist (vgl. beispielsweise DKSB NRW 2014, S. 49; ISA/DKSB NRW/BiS 2013, S. 116). Gelegentlich wurde gemutmaßt oder auch befürchtet 7, dass sich durch die Einführung der ieF ein neues Berufsbild herauskristallisiert und/oder ein neues Marktsegment eröffnet wird. Allein schon aus berufssoziologischer Perspektive scheint dies nicht angemessen, vor allem da dies u.a. an einheitliche staatlich anerkannte Ausbildungsgänge oder auch an die Vermittlung einer breit angelegten beruflichen Grundbildung gekoppelt wäre (nach dem Berufsbildungsgesetz – BBiG). Dies ist jedoch derzeit weit von der Realität in der Praxis entfernt. Unterschiedliche Aufträge – z.B. reine Prozessberatung im Einzelfall versus Koordinierungsaufgaben – und Auslastung von ieFs rechtfertigen außerdem nicht die Annahme, dass sich hier ein vollständiges Berufsbild etablieren könnte. Gleichwohl kann man durchaus von einer spezifischen Beratungstätigkeit mit entsprechend erforderlicher Qualifizierung sprechen (vgl. ebd.). Dies würde jedoch eher in Richtung einer qualifizierenden Weiterbildung weisen. Auch die Initiierung einer Landeskonferenz koordinierender Kinderschutzfachkräfte (vgl. DKSB o.J.), wie sie in Nordrhein-Westfalen 2011 erfolgt ist, dient eher der Qualitätssicherung und -weiterentwicklung und nicht der Etablierung eines eigenen Berufsbildes.

7 Diese Irritationen in der Praxis hat Discher (2012) im Kontext des Gesetzgebungsverfahrens zum BKiSchG aufgegriffen. So hat beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) in ihrer Stellungnahme vom 16.02.2011 zum Referentenentwurf des BKiSchG die Bezeichnung „Kinderschutzfachkraft“ anstatt von „insoweit erfahrene Fachkraft“ im Referentenentwurf als Berufsbild aufgefasst und dies strikt abgelehnt (AGJ 2012b).

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Aktuelle Situation, Inanspruchnahme und Bekanntheitsgrad der ieF

Studien mit fundierten und belastbaren Aussagen zu Herausforderungen und Belastungen von ieFs lassen sich im Grunde bislang kaum finden. In der Regel handelt es sich um Befragungen von Teilnehmenden aus Qualifizierungsangeboten, die sich zum Teil auch nur auf die jeweilige Landesebene beziehen (ISA 2010; ISA/DKSB NRW/BiS 2012; Köckeritz/ Dern 2012; Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg – KVJS 2012). Dies ist mitunter auch der Problematik der Erreichbarkeit der ieF als Zielgruppe von Befragungen geschuldet, da nicht unbedingt davon ausgegangen werden kann, dass in den Kommunen bekannt ist, wer hier eine Qualifikation in Anspruch genommen hat und wer diese Beratung tatsächlich lokal für Institutionen und Einrichtungen durchführt – auch wenn sich zunehmend in den Kommunen Weiterentwicklungen im Hinblick auf Koordination und der Bereitstellung sogenannter Pools von ieFs beobachten lassen (vgl. DKSB NRW 2014). Für das Land Baden-Württemberg haben Köckeritz und Dern (2012) eine Untersuchung zu den ieFs durchgeführt. Da die Strukturen und die Ausgestaltung dieser Beratung bundesweit durchaus erheblich variieren können, sind Aussagen zur Übertragbarkeit der Ergebnisse durchaus problematisch. Trotz einiger Einschränkungen wie beispielsweise des ausschließlichen Bezugs auf ein Bundesland und der Erreichbarkeit der Zielgruppe kann die Studie von Köckeritz/ Dern herangezogen werden, wenn es um die Frage nach den Bedingungen, Herausforderungen und Belastungen der ieFs (in Baden-Württemberg) geht. Weitere wissenschaftlich relevante Studien zu dieser Thematik stehen derzeit noch aus. Nach Köckeritz/ Dern handelt es sich bei den ieFs um in der Regel hoch qualifizierte und erfahrene Personen, die über ein Studium der Sozialarbeit/Sozialpädagogik (61%)8, der Psychologie (24%) oder Erziehungswissenschaft (5%) verfügen. Darüber hinaus zeichnen sich die ieFs durch langjährige Berufserfahrung aus. So haben 55% über 20 Jahre und 33% mehr als zehn Jahre Berufserfahrung (Köckeritz/ Dern 2012, S. 563). Was die Auslastung und Nachfrage der ieFs anbelangt, so zeigt sich zum einen, dass es durchaus eine relevante Anzahl an ieFs gibt, die bis zum Zeitpunkt der Befragung keine Anfragen (22,1%) für entsprechende Beratungen hatte. Darüber hinaus scheinen sich die Anfragen im moderaten Bereich anzusiedeln. Während eine kleine Gruppe recht stark nachgefragt wird – bei 24,3% der ieFs liegen die Beratungsfälle im Jahr 2010 zwischen 10 und 30 Fällen oder sogar auch mehr – geben 53,7% an, dass sie im Jahr 2010 in bis zu zehn Fällen als ieF beraten haben (n=136) (vgl. KVJS 2012, S. 46). Auch in Zusammenhang mit weiteren Schätzungen zur Fallzahlbelastung kann nicht auf eine 8 Zur Auswertung lagen 137 Fragebögen vor, dies entspricht einem Rücklauf von 54,15% (vgl. Köckeritz/ Dern 2012, S. 563).

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Überlastung der ieFs geschlossen werden (Köckeritz/ Dern 2012, S. 564). Interessant ist darüber hinaus, wie in der Beratung vorgegangen wird. So geben 25% der Befragten an, regelmäßig oder gelegentlich selbst Beobachtungen am Kind zum Zwecke der Gefährdungseinschätzung vorzunehmen, 15% tun dies selten und 60% nie (vgl. KVJS 2012, S. 54). Dies ist insofern problematisch, da nach § 64 Abs. 2a SGB VIII die Daten vor der Übermittlung an eine ieF zu pseudonymisieren sind. Immerhin nehmen etwa 30% der ieF am Gespräch mit den Eltern in der Regel oder ab und zu teil, während 50,5% nie an den Elterngesprächen teilnehmen (vgl. ebd.). In diesem Fall wäre das Einverständnis der Eltern einzuholen. Damit zeigt sich außerdem, dass Rolle und Auftrag der ieF recht unterschiedlich in der Praxis umgesetzt werden. Was die Einsatzfelder der ieFs anbelangt, so liegen Beratungen für Kindertageseinrichtungen mit 84,6% und Schulsozialarbeit mit 48,1% weit vorn (vgl. KVJS 2012, S. 51). Beeinträchtigungen in der Beratungsarbeit ergeben sich nur gelegentlich oder eher selten. Hierbei sind fehlende Rechtskenntnisse der zu Beratenden zu nennen oder fehlende Zeit für eine Beratung auf Seiten der Einrichtung. Weitere Beeinträchtigungen sind organisatorische Probleme, fehlende inhaltliche Vorbereitung der zu Beratenden und ungünstiges Beratungsklima, die allerdings allesamt eher selten auftreten (vgl. KVJS 2012, S. 56). Was die Auswirkungen der ieF auf die eigene Person anbelangt, so berichten diese sowohl von positiven als auch von negativen Effekten (n=109). 45% geben einen Zugewinn an Berufserfahrung an, 16,5% sind stolz darauf, Unterstützung leisten zu können, 13,8% berichten sogar von Stolz über die Unterstützungsleistung und Zugewinn an Berufserfahren (KVJS 2012, S. 57). Es werden jedoch auch negative Auswirkungen auf die eigene Person benannt. 33% berichten von zeitlichen Belastungen, 20,2% erfahren Belastungen durch die Notsituation der betroffenen Kinder und 8,3% erleben psychische Belastungen durch die Atmosphäre in der Beratung. Immerhin auf 8,3% der Befragten treffen alle drei der genannten Belastungen zu (ebd.). Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwiefern die ieFs für sie hinreichende Anerkennung und Unterstützung erhalten. Für 59,9% ist die Anerkennung durch die ratsuchende Einrichtung ausreichend (n=137), nur für 8% ist diese Anerkennung zu wenig. Allerdings ist sie für 8,8% auch nicht so wichtig. Die Anerkennung durch den Arbeitgeber ist für 46,7% ausreichend, für 29,2% erfolgt zu wenig Anerkennung und für 5,8% ist dies nicht so wichtig (KVJS 2012, S. 58). Zudem zeigt sich, dass der Arbeitgeber „am ehesten durch ausreichenden Arbeitszeitausgleich [unterstützt] und zwar bei fast 58% unabhängig von der Frage, ob die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter nur für das eigene Haus oder für verschiedene Träger beratend tätig ist“ (ebd.).

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Bei der Frage nach fachlicher Unterstützung zeigt sich ein differenziertes Bild nicht zuletzt auch hinsichtlich von Bedarfen. Die fachliche Unterstützung beinhaltet beispielsweise aktuelle Fachliteratur und Materialien, Austausch, inhaltliche und methodische Fortbildung, Supervision und die Rückmeldung zum Fallverlauf. Etwa ein Drittel bis die Hälfte fühlt sich ausreichend fachlich unterstützt, wobei allerdings etwa ein Fünftel bis ein Drittel nach eigener Ansicht zu wenig Unterstützung erhält. Hier werden insbesondere ein Zuwenig an Supervision (35,1%), methodische Fortbildungen (35,3%) und die Rückmeldung zum Verlauf des Beratungsfalls (34,3%) genannt (vgl. ebd., S. 59). Entwicklungsbedarfe ergeben sich auf der Basis der Ergebnisse demnach zum einen hinsichtlich der Schaffung von entsprechenden Rahmenbedingungen für eine Qualitätssicherung dieser Beratungsform (vgl. Köckeritz/ Dern 2012, S. 567). Dazu gehört die Möglichkeit des kollegialen Austausch, der Supervision und Fortbildungsangebote zu methodischem Vorgehen. Austauschmöglichkeiten ergeben sich jedoch nicht nur durch die Bildung von Arbeitskreisen, sondern auch bei Fortbildungen und Fachtagungen. In Nordrhein-Westfalen werden beispielsweise seit 2007 Jahrestagungen für ieFs – hier Kinderschutzfachkräfte genannt – angeboten (vgl. Hüttermann 2012, S. 113 ff.). Als weiterer Baustein der Qualitätssicherung ist auch die bereits oben erwähnte Landeskonferenz der koordinierenden Kinderschutzfachkräfte in Nordrhei-Westfalen einzuordnen (vgl. DKSB o.J.). Zudem sprechen die Ergebnisse für eine Präzisierung von Auftrag und Rolle der insoweit erfahrenen Fachkraft – insbesondere vor dem Hintergrund einer nach dem Gesetz erforderlichen pseudonomisierten Beratung (§ 64 Abs. 2a SGB VIII; § 4 Abs. 2 KKG), auch wenn einige der ieFs noch Aufgaben übernehmen, die den Vorgaben des Gesetzes nicht entsprechen. Unabhängig davon stellt sich grundsätzlich die Frage nach der konkreten Inanspruchnahme einer ieF in Gefährdungsfällen. Die aktuellsten Befunde zum Bekanntheits- und zum Implementierungsgrad der ieF bei Institutionen und Berufsgruppen außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe liefert die Evaluation des BKiSchG mit den darauf basierenden Erhebungen (auf die hier lediglich stark verkürzt eingegangen werden kann). Wissenschaftlich belastbare Daten zur Inanspruchnahme der ieF im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe – also im Zusammenhang mit § 8a Abs. 4 SGB VIII - existieren derzeit nicht9. Veränderungen der Datenerhebung zu Gefährdungsfällen, die durch das BKiSchG eingeführt wurden, lassen lediglich aussagen zu den Gefährdungseinschätzungen von Jugendämtern zu. Gefährdungseinschätzungen, die erst gar nicht beim Jugendamt kundig werden, weil die Institutionen und Einrichtungen – mit Unterstützung der Beratung 9 Die Ergebnisse der Untersuchung zur Wirksamkeit der ieF des DKSB NRW basieren auf einem explorativen Design in 28 Kindertagesstätten und Familienzentren in Nordrhein-Westfalen (DKSB NRW 2018).

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durch die ieF – diese eigenständig abwenden können oder die in irgendeinem Zusammenhang mit der Beratung einer ieF stehen, werden in der Statistik nicht gesondert berücksichtigt (vgl. DKSB NRW 2014, S. 43). Für das Jahr 2016 kann beispielsweise lediglich festgestellt werden, dass 12,4% der Hinweise auf eine Gefährdung von Schulen und Kindertageseinrichtungen kamen (Statistisches Bundesamt 2016). Schlussfolgerungen zur Inanspruchnahme der ieF ergeben sich daraus nicht. Deshalb liegen derzeit nur Aussagen über Institutionen und Berufsgruppen außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe vor. Da Einrichtungen und Dienste der Rehabilitation nach § 21 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX a.F.10 einen Beratungsanspruch bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung haben, wurde im Zuge der Evaluation des BKiSchG der Frage nachgegangen, inwiefern die ieF dort bekannt ist und deren Beratung in Anspruch genommen wird. Hier zeigt sich, dass „in etwa drei Viertel (76 %)11 der Einrichtungen (…) die im Gruppendienst tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Kontaktdaten der ‚insoweit erfahrenen Fachkraft‘ [erhalten]“ (Deutsches Jugendinstitut – DJI 2015g, S. 44 f., zit. n. Deutsches Jugendinstitut/Technische Universität Dortmund – DJI/TU Dortmund 2015, S. 61). „Etwas häufiger - in 85 % der Einrichtungen - werden sie aber über den Beratungsanspruch informiert“ (DJI 2015g, S. 44, zit. n. ebd.; vgl. auch Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – BMFSFJ 2015, S. 63). Dies weist darauf hin, dass die Information von Einrichtung und Leitungsebene noch nicht bedeutet, dass die Fachkräfte auf der Mitarbeiter_innenebene ebenfalls um den Beratungsanspruch wissen. Bei der Evaluation zeigte sich zudem, dass 54 % der stationären Einrichtungen eine Beratung durch die ieF in Anspruch genommen haben (sofern mindestens ein Verdachtsfall vorlag) (vgl. DJI/TU Dortmund 2015, S. 61). Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich offenbar bei Kenntnis des Beratungsanspruches „die selbst eingeschätzten Handlungsmöglichkeiten bei einer vermuteten Kindeswohlgefährdung erhöhen“ (BMFSFJ 2015, S. 64), was wiederum die Ausführungen einiger Autor_innen (u.a. Kohaupt 2006; Moch/ Junker-Moch 2009) bestätigt, dass die ieF mit ihrer Beratung und Begleitung zu einer Qualifizierung im Kinderschutz beitragen kann. Eine weitere Gruppe, die im Zuge der Evaluation des BKiSchG in den Blick genommen wurde und die einen Beratungsanspruch durch die ieF hat, sind die in § 4 Abs. 1 KKG genannten Personen (Berufsgeheimnisträger). Mehr als 60% der Kinder- und Jugendärzt_innen geben an, den Beratungsanspruch zu kennen (vgl. BMFSFJ 2015, S. 95). Ein Unterschied im Bekanntheitsgrad lässt sich offenbar auch im Hinblick auf die Arbeitsstelle verzeichnen. So liegt der Bekanntheitsgrad bei Ärzt_innen in Sozialpädiatrischen Zentren mit über 90% wesentlich höher als 10

Seit dem 01.01.2018 § 38 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX Die Daten der Erhebungen des DJI wurden in unveröffentlichten Werkstattberichten detailliert dargestellt. 11

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bei Krankenhausärztinnen und -ärzten mit 57%. Ebenfalls scheint die berufliche Position einen Einfluss zu haben. Während der Bekanntheitsgrad bei Ärzt_innen in Leitungsfunktionen bei 79% liegt, fällt er bei Assistenzärzt_innen mit 45% deutlich geringer aus (vgl. ebd.). Auch hier zeigt sich die Problematik der Informationsweitergabe von der Leitungs- auf die Mitarbeiter_innenebene bzw. des Wissensmanagements zwischen Hierarchieebenen von Institutionen. Was die Inanspruchnahme einer Beratung durch eine ieF anbelangt, so geben 31% der Mitglieder des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) an, mindestens einmal seit Inkrafttreten des BKiSchG mit einer ieF Kontakt gehabt zu haben, wobei BVKJ-Mitglieder im Öffentlichen Gesundheitsdienst mit 47% deutlich häufiger Beratungskontakte angeben als Ärzt_innen in anderen Arbeitskontexten. Bei den BVKJ-Mitgliedern geben sogar 37% an, die für sie zuständige ieF persönlich zu kennen (vgl. DJI/TU Dortmund 2015, S. 42). Im Rahmen einer Erhebung des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) bei niedergelassenen Pädiater_innen gaben 78% derjenigen, die im Jahr 2014 einen Verdachtsfall auf Kindeswohlgefährdung hatten, an, mindestens einmal eine Beratung durch eine ieF in Anspruch genommen zu haben (vgl. BMFSFJ 2015, S. 96). Allerdings wird auch Kritik an der ieF bzw. deren Beratungsleistung geübt. Beispielsweise wird bemängelt, dass die ieF häufig den familiären Hintergrund nicht kennen und die Beratung oft auf Vermutungen beruht. Zudem besteht Kritik an der Erreichbarkeit der ieFs – insbesondere aus der Ärzteschaft – bezogen auf die Erreichbarkeit an Wochenenden und Feiertagen (vgl. ebd.). Deutlich wird hier, dass das Konzept einer pseudonymisierten Beratung, wie es sowohl § 8a Abs. 4 SGB VIII als auch § 4 Abs. 2 KKG vorsehen, noch nicht hinreichend bekannt ist – was die Kenntnis des familiären Hintergrundes anbelangt. Außerdem stellt sich hier die Frage, inwiefern Berufsgeheimnisträger sich auf die Beratung mit der ieF vorbereiten, so dass derartige Informationen auch gegeben und somit in anonymisierter Form erörtert werden können. Auch die Untersuchung des DKSB kommt zu dem Ergebnis, dass eine Vorbereitung der ratsuchenden Fachkräfte auf die Beratung durch die ieF – insbesondere durch die Formulierung der wichtigsten Informationen, die für eine Gefährdungseinschätzung relevant sein können – unbedingt erforderlich ist und die Qualität der Beratung letztendlich erhöht (vgl. DKSB NRW 2018, S. 47). Somit lässt sich sagen, dass die Datenlage zur Situation, Herausforderungen und Belastungen der ieF noch sehr gering und eher auf regionale Gegebenheiten bezogen ausfällt. Es erstaunt eigentlich, dass die vom Gesetzgeber bereits 2005 eingesetzte Beratungsinstanz nicht stringenter wissenschaftlich erforscht und evaluiert wird – sowohl bezogen auf Arbeitsbedingungen und Belastungen als auch auf deren Inanspruchnahme und Implementierungsgrad. Für den Aspekt des Bekanntheitsgrades und der Implementierung liefert die Evaluation des BKiSchG erste Ergebnisse. Allerdings ist zu betonen, dass sich diese Ergebnisse nicht auf

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alle in § 4 Abs. 1 KKG genannten Berufsgruppen beziehen. Zudem haben Bekanntheitsgrad und Implementierung – dieser Schluss lässt sich anhand der Evaluation des BKiSchG ziehen – durchaus noch Potenzial in ihrer Weiterentwicklung. 5

Fazit und Ausblick

Sicherlich hat die Implementierung der ieF durch den Gesetzgeber nicht zu der Ausprägung eines neuen Berufsbildes geführt, zumal sich die Inhalte der Beratung auf Kompetenzen beziehen, die ohnehin schon im System vorhanden waren und sind (z.B. durch Berater_innen in Erziehungsberatungsstellen, Kinderschutz-Zentren, Jugendämter und weitere Fachberatungen). Allerdings kann gesagt werden, dass die hochkomplexen Anforderungen, die mit dieser Aufgabe verbunden sind – und in Fachpublikationen auch so ausformuliert werden – spezifisches Wissen und eine entsprechende Qualifizierung erfordern. Entsprechende Bemühungen seitens der Fachöffentlichkeit haben sich seit 2005 stetig weiterentwickelt. Nachdem die angebotenen Qualifizierungen zu Beginn nicht selten zur eigenen Fortbildung zum Kinderschutz genutzt wurden – unabhängig davon, ob überhaupt eine Tätigkeit als ieF angestrebt wurde – konnte der beratende und begleitende Aspekt im Verlauf immer stärker herausgearbeitet und auch methodisch untermauert werden. Während es zu Beginn der Implementierung eher auch um Vermittlung von rechtlichen und fachlichen Grundlagen des Kinderschutzes ging, traten zunehmend die Ausgestaltung des Beratungssettings und die Qualifizierung zur Prozessbegleitung bzw. Standards der Beratung stärker in den Vordergrund. Darüber hinaus zeigt sich, dass auch grundsätzlich seit Einführung der ieF eine Qualifizierung zum Kinderschutz stattgefunden hat – nicht nur bei den betreffenden ieFs, sondern generell in der Kinder- und Jugendhilfe und auch darüber hinaus in angrenzenden Arbeitsfeldern und Systemen. Hierzu trägt sicherlich auch die Tätigkeit der ieF bei, indem sie als „Wissensvermittlerin“ (Moch/ Juncker-Moch 2009) fungiert. Mit Blick auf die Ergebnisse zur Evaluation des BKiSchG avanciert die ieF auch außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe zu einer bekannten und immer häufiger in Anspruch genommenen Beratungsleistung. Die Intention des Gesetzgebers, Personen und Institutionen zu sensibilisieren und bezogen auf die eigene Handlungsfähigkeit zu qualifizieren, auch wenn sie in ihrem Arbeitsalltag nicht ständigmit Kindeswohlgefährdungen konfrontiert sind und daher weniger Erfahrungen mit der Einschätzung von Gefährdungslagen haben, hat sich damit erfüllt. Gleichzeitig darf an dieser Stelle jedoch nicht verschwiegen werden, dass bei einem Verständnis von Kinderschutz als Kooperationshandeln auch auf Seiten der ieFs mehr Wissen über die jeweils anderen Systeme (beispielhaft seien hier Schule

Neue Akteure in der Sozialen Arbeit durch rechtliche Reformen

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und Gesundheitswesen genannt) erforderlich ist. Fortbildungen können ein adäquates Mittel sein, um die Beratung der ieFs gegenüber ihren erweiterten Zielgruppen aus anderen Systemen wie Gesundheitswesen und Schule zu qualifizieren. Darüber hinaus weisen aktuelle Befunde auf weitere Qualifizierungserfordernisse der ieFs hin, z.B. Kultursensibilität im Kinderschutz und der stärkeren Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Eltern bei der Gefährdungseinschätzung (vgl. DKSB NRW 2018, S. 49). Auf der anderen Seite kann man natürlich auch zur Diskussion stellen, inwiefern nicht das „Monopol“ der Kinder- und Jugendhilfe in diesem Bereich aufgehoben werden sollte und auch andere Professionen die Beratung einer ieF durchführen können. Zwar hat die Kinder- und Jugendhilfe nach § 79 SGB VIII die Gesamtverantwortung für die Erfüllung der Aufgaben nach dem SGB VIII. Da jedoch mit dem KKG eine Erweiterung des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung auf Berufsgruppen außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe erfolgt ist, sollte auch darüber nachgedacht werden, inwiefern diese Berufsgruppen eigene ieFs zur Beratung qualifizieren und einsetzen. Faktisch gibt es dies bereits im Bereich der Medizin12. Hier beraten Rechtsmediziner Ärzt_innen bei Verdachtsfällen. Denkbar ist beispielsweise auch die Einbeziehung von Schulpsychologischen Beratungsstellen im Kontext Schule. Auch wenn hier noch weitere Entwicklungspotenziale für einen verbesserten Schutz von Kindern und Jugendlichen durch die Beratung der ieF festgestellt werden können, so kann man dennoch sagen, dass sich die ieF seit ihrer Einführung – trotz diffuser Aufgaben- und Rollenbeschreibungen – zu einem zentralen Akteur im lokalen Kinderschutz entwickelt und zudem zur Qualifizierung von unterschiedlichsten Berufsgruppen und Institutionen beigetragen hat. Abschließend lässt sich sagen, dass sich beginnend mit den medialen Reaktionen auf misslungene Kinderschutzfälle seit etwa Mitte der 1990er Jahre insbesondere durch intensiven Fachdiskurs und damit verbundene Gesetzesreformen Instrumente und Institutionen entwickelt haben, die auf allen gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Ebenen ein stärkeres Bewusstsein für Belange des Kindeswohls und auch damit verbundene Gefährdungslagen hervorgebracht haben. Die ieF stellt dabei eine mittlerweile erprobte und bewährte Beratungsinstanz dar, die dazu beiträgt, sehr unterschiedliche Institutionen und Professionen im Kinderschutz zu begleiten und diese gleichzeitig auch zu qualifizieren. Da die ieF bislang in der Regel noch in der Kinder- und Jugendhilfe angesiedelt ist und damit vielfach aus dem Bereich der Sozialen Arbeit kommt, kann ihre Implementierung

z.B. über Remed Online (www.remed-online.de), einem kostenlosen konsiliarischen Onlinedienst der Kinderschutzambulanz des Instituts für Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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Sigrid Bathke

in die lokale Kinderschutzarbeit auch als Reaktion auf die gesellschaftliche Herausforderungen des Schutzes von Kindern und Jugendlichen vor Gefahren für ihr Wohl verstanden werden. Literatur Althoff, M.; Bücken, M.; Eberitzsch, S.; Günther, C.; Pudelko, J. (2013): Kooperativer Kinderschutz als Leitbild – Kinderschutzfachkräfte in neuen Handlungsfeldern. In: ISAJahrbuch zur Sozialen Arbeit 2013. Münster, New York: Waxmann. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (2012a): Sozialgesetzbuch VIII auf dem Stand des Bundeskinderschutzgesetzes. Gesamttext und Begründungen. Berlin: AGJ. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (2012b): Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz BKiSchG). Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ vom 16. Februar 2011. Stuttgart: AGJ. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – BMFSFJ (2015): Bericht der Bundesregierung. Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes. https://www.bmfsfj.de/blob/93348/a41675e1f53ec6f743359b6b75fec3e2/berichtder-bundesregierung-evaluation-des-bundeskinderschutzgesetzes-data.pdf, [17.12.2016]. Deinet, U. (2006): Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung – Kinder- und Jugendarbeit. Eine Expertise. http://abafachverband.org/fileadmin/user_upload/user_upload_2006/Deinet_Kindeswohl.pdf, [17.12.2016]. Deutscher Kinderschutzbund Landesverband NRW – DKSB NRW (o.J.): Die Landeskonferenz – Vernetzung von Kinderschutzfachkräften. http://www.kinderschutz-innrw.de/fileadmin/medien/Materialien/Flyer_Landeskonferenz.pdf [14.05.2018]. Deutscher Kinderschutzbund Landesverband NRW – DKSB NRW (Hrsg.) (2018): Untersuchung der Wirksamkeit der Fachberatung durch die Kinderschutzfachkraft gemäß § 8a SGB VIII. Eine explorative qualitative Studie. Wuppertal: DKSB NRW. Deutscher Kinderschutzbund Landesverband NRW – DKSB NRW (2014): Fachberatung im Kinderschutz. Expertise zur Praxis der Kinderschutzfachkräfte in NRW. Wuppertal: DKSB NRW. Deutsches Jugendinstitut/Technische Universität Dortmund – DJI/TU Dortmund (2015): Wissenschaftliche Grundlagen für die Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes. Bericht der wissenschaftlichen Begleitung der Kooperationsplattform Evaluation Bundeskinderschutzgesetz. Dortmund: Deutsches Jugendinstitut/Technische Universität Dortmund. http://www.forschungsverbund.tu-dortmund.de/fileadmin/Files/Aktuelles/Publikationen/Wissenschaftliche_Grundlagen_Eval_BKiSchG_Bericht_AKJStat_2015 [15.12.2016]. Discher, B. (2012): Die Kinderschutzfachkraft – „externer Notnagel“ für eine Qualitätssicherung im Prozess der Gefährdungseinschätzung? In: Das Jugendamt (85), H. 5, S. 240 – 243.

Neue Akteure in der Sozialen Arbeit durch rechtliche Reformen

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Discher, B.; Schimke, H.-J. (2011): Die Rolle der insoweit erfahrenen Fachkraft nach § 8a Abs. 2 SGB VIII in einem kooperativen Kinderschutz. In: Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe (6), H. 1, S. 275 – 280. Groß, K. (2008): Die „insoweit erfahrene Fachkraft“: Anlass, Hintergrund und Gestaltung einer Fachberatung im Sinne des § 8a SGB VIII. In: ISA-Jahrbuch zur Sozialen Arbeit 2008. Münster, New York, München, Berlin: Waxmann, S. 177 – 198. Hüttermann, C. (2012): Die Jahrestagungen der Kinderschutzfachkräfte im Zeitraum von 2007 bis 2012 – eine Plattform für Austausch und Fachdiskurs. In: Institut für soziale Arbeit/Deutscher Kinderschutzbund Landesverband NRW/Bildungsakademie BiS: Die Kinderschutzfachkraft – eine zentrale Akteurin im Kinderschutz. Münster: ISA/DKSB NRW/BiS. Institut für soziale Arbeit – ISA (Hrsg.) (2006): Der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung. Arbeitshilfe zur Kooperation zwischen Jugendamt und Trägern der freien Kinder- und Jugendhilfe. Münster: Institut für soziale Arbeit. Institut für soziale Arbeit – ISA (2010): Praxisrelevante Entwicklungen zur Minderung des Gefährdungsrisikos. In: Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen – MGFFI (Hrsg.): Studie Kindeswohlgefährdung. Ursachen, Erscheinungsformen und neue Ansätze der Prävention. Düsseldorf: MGFFI, S. 180 – 229. Institut für soziale Arbeit/Deutscher Kinderschutzbund Landesverband NRW /Bildungsakademie BiS – ISA/DKSB NRW/BiS (2013): Zehn Empfehlungen zur Ausgestaltung der Rolle der Kinderschutzfachkraft nach den §§ 8a Abs. 4, 8b Abs. 1 SGB VIII und § 4 KKG. In: Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe (8), H. 3, S. 115 – 120. Institut für soziale Arbeit/Deutscher Kinderschutzbund Landesverband NRW/Bildungsakademie BiS – ISA/DKSB NRW/BiS (2010): Überlegungen zur Ausgestaltung der Rolle der Kinderschutzfachkraft. In: Das Jugendamt (83), H. 1. S. 15 – 18. Institut für soziale Arbeit/Deutscher Kinderschutzbund Landesverband NRW/Bildungsakademie BiS – ISA/DKSB NRW/BiS (2012): Die Kinderschutzfachkraft – eine zentrale Akteurin im Kinderschutz. Münster. Jordan, E. (2006): Kindeswohlgefährdung im Spektrum fachlicher Einschätzungen und rechtlicher Rahmenbedingungen. In: Jordan, E. (Hrsg.): Kindeswohlgefährdung. Rechtliche Neuregelungen und Konsequenzen für den Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe. Weinheim und München: Juventa, S. 23–37. Köckeritz, C.; Dern, S. (2012): Insoweit erfahrene Fachkräfte: Wer sind sie und was machen sie? Empirische Einblicke in ein neu etabliertes Aufgabenfeld der Jugendhilfe. In: Das Jugendamt (85), H. 11, S. 562 – 567. Kohaupt, G. (2006): Expertise zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung aus der Sicht eines Mitarbeiters der Kinderschutz-Zentren. http://2014.nachbarschaftshaus.de/fileadmin/DATEN/PDF/Kinderschutzkonferenz/G.Kohaupt_SchutzAuftrag.pdf, [17.12.16]. Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg - KVJS (2012): Umsetzung von § 8 a SGB VIII (Schutzauftrag) in Baden-Württemberg. Abschlussbericht. Stuttgart: KVJS. Menne, K. (2006): Schutzauftrag aus Sicht der Erziehungsberatung. Expertise. Unveröffentlichtes Manuskript.

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Sigrid Bathke

Meysen, T.; Eschelbach, D. (2012): Das neue Bundeskinderschutzgesetz. Baden-Baden: Nomos. Moch, M.; Junker-Moch, M. (2009): Kinderschutz als Prozessberatung – Widersprüche und Praxis der ieF nach § 8a SGB VIII. In: Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe (4), H. 4. S. 148 – 151. Slüter, R. (2007): Die „insoweit erfahrene Fachkraft“: Überlegungen zu Standards der Fachberatung nach § 8a SGB VIII. In: Das Jugendamt (80), H. 11. S. 515 – 520.

Soziale Unterstützung bei alkoholabhängigen Menschen. Die Perspektive Klinischer Sozialarbeit. Katrin Liel

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Einleitung

Klinische Sozialarbeit mit alkoholabhängigen Menschen findet in unterschiedlichen Kontexten und Settings statt. Soziale Unterstützungsprozesse sind hierbei, sofern sie als dysfunktional oder nicht ausreichend wahrgenommen werden, als potentielle Suchtursache oder im positiven Sinne als ein mögliches Behandlungsziel im Fokus. Beide Aspekte können Gegenstand der Klinischen Sozialarbeit als behandelnde Profession sein. Ausgangspunkt der vorliegenden Forschungsarbeit war die Idee der Psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle Prop e.V. aus Erding (Betreutes Einzelwohnen: BEW) das Ausmaß der sozialen Unterstützung bei aktuellen Klient_innen zu eruieren, um eventuell in einem nächsten Schritt eine zielgerichtete Intervention daraus ableiten zu können. Dieser Aufgabe wurde im Rahmen einer Forschungswerkstatt an der Hochschule Landshut im Sommersemester 2015 gemeinsam mit Studierenden nachgegangen. An dieser Stelle gilt es also sowohl den 18 teilnehmenden Studierenden als auch dem Praxispartner Prop. e.V. für den konstruktiven Diskurs zu danken. 2

Stand der Wissenschaft

2.1 Soziale Unterstützung Der Begriff soziale Unterstützung wird in der Praxis oftmals als Sammelbegriff für verschiedene Konstrukte verwendet. Mit Verweis auf Dunkel-Schetter et al. (1992) definieren Kienle et al. (2006, S. 107-109) soziale Unterstützung als „Interaktion, in welcher der Unterstützungsempfänger Belastungen erlebt und der Unterstützungsgeber versucht, Unterstützung zu leisten“. Dabei kann zwischen informationeller (Rat, Informationsweitergabe), instrumenteller (praktische und finanzielle Hilfe) und emotionaler Unterstützung (Trost, Zuspruch) unterschieden werden. Ferner handelt es sich nur um eine Unterstützungsleistung, wenn die Interaktion sowohl vom Unterstützungsgeber, als auch vom Unterstützungsempfänger

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Borrmann et al. (Hrsg.), Soziale kohäsion und gesellschaftliche Wandlungsprozesse, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25759-0_9

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Katrin Liel

und im besten Falle von einem nicht teilnehmenden Beobachter als solche empfunden wird. Die soziale Unterstützungsleistung bildet dabei den qualitativen Aspekt der sozialen Interaktion. Das soziale Netzwerk hingegen stellt den quantitativen Aspekt sozialer Interaktionen dar und umfasst ein „informelles und alltägliches Hilfesystem durch Verwandte, Eltern, Freunde, Bekannte usw.“ (Kienle et al. 2006, S. 108). Ditzen und Heinrichs (2007, S. 143-157) unterscheiden bei sozialer Unterstützung zwischen wahrgenommener und erhaltener Unterstützung. Bei der wahrgenommenen Unterstützung handelt es sich um den Zustand bzw. die allgemeine Erwartung unterstützt zu werden. Die wahrgenommene soziale Unterstützung, die stark von Bindungserfahrungen der Kindheit geprägt ist, hängt erstaunlicherweise nur gering mit der tatsächlich erhaltenen Unterstützung zusammen. Gesunde Menschen können eher enge und dauerhafte Bindungen eingehen (Selektionshypothese) und werden auch eher als Bindungspartner_innen ausgewählt, als kranke Personen. Für Suchtkranke könnte dies bedeuten, dass sie Schwierigkeiten damit haben, soziale Unterstützung zu erfahren, oder jemand anderen unterstützen zu können. Das Robert Koch-Institut beschreibt das Ausmaß der sozialen Unterstützung in Deutschland anhand der Ergebnisse der GEDA-Studie von 2010 (RKI 2012, S. 134-136). Demnach erfährt ein Großteil der deutschen Bevölkerung ausreichend soziale Unterstützung, wobei mit steigendem Alter der Anteil der Menschen mit ausreichender sozialer Unterstützung sinkt. Bemerkenswert ist, dass 15,1% der Frauen im Alter von 45 - 64 Jahren und 16,5% der Männer der gleichen Altersgruppe angeben, nur eine geringe soziale Unterstützung zu erfahren. Personen aus den unteren Bildungsgruppen erfahren in allen Altersgruppen eine geringere soziale Unterstützung als Personen mit höherem Bildungsstand. 2.2 Soziale Unterstützung und Gesundheit Wenn Gesundheit, wie in der WHO-Definition (WHO, 1946) beschrieben, biopsycho-sozial gedacht wird, dann bleibt die Frage, was genau der soziale Aspekt von Gesundheit umfasst. Das Ausmaß sozialer Unterstützung kann als ein Aspekt des Ausdrucks sozialer Gesundheit betrachtet werden. Damit ist soziale Unterstützung ein Kernthema Klinischer Sozialarbeit, die sich selbst als gesundheitsbezogene Fachsozialarbeit versteht (Pauls 2011). Soziale Unterstützung als eine Form der sozialen Gesundheit unterliegt selbstverständlich vielfältigen Wechselwirkungen zu biologischen und psychologischen Aspekten von Gesundheit. In der Forschung werden unterschiedliche Auswirkungen von sozialer Unterstützung auf biologische und psychologische Aspekte von Gesundheit diskutiert. Nestmann (2010, S. 6) beschreibt grundsätzlich zwei Effekte: Beim Puffereffekt wirkt die soziale Unterstützung wie ein Polster zwischen Belastungen, kritischen

Soziale Unterstützung bei alkoholabhängigen Menschen

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Lebensereignissen bzw. Stresserlebnissen und Gesundheit. Beim Haupteffekt hingegen geht der Autor davon aus, dass soziale Unterstützung auch ohne einen Belastungsansatz eine positive Wirkung auf den Menschen hat. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der Puffereffekt stressmindernd und der Haupteffekt gesundheitsfördernd wirkt. Nestmann (2010, S. 19f.) erläutert dies anhand des biopsycho-sozialen Erklärungsmodells. Es gibt demnach Support-Dimensionen auf biologischer, psychologischer und sozialer Ebene. Bei der biologischen Ebene wirkt sich beispielsweise positiv erlebte Gemeinsamkeit förderlich auf das Immunsystem aus. Soziale Unterstützung wirkt über psychologische Effekte, indem zum Beispiel sozialer Rückhalt positiv für das Selbstbewusstsein ist. Bei der sozialen Komponente zeigt sich, dass Gesundheits- und Verhaltensweisen sozial beeinflusst werden, zum Beispiel durch die (soziale) Vermittlung von Werten und Normen. Im psychobiologischen Kontext wurde von Ditzen und Heinrichs (2007, S. 143-157) herausgefunden, dass soziale Unterstützung direkt auf körperliche Symptome wirkt und zwar am stärksten im Sinne des Puffereffektes unter Stressbedingungen. Es zeigte sich, dass soziale Unterstützung sowie soziale Einbindung mit belohnungsrelevanten und angstreduzierenden Strukturen und Transmittersystemen, welche Stress reduzieren, assoziiert werden können. Soziale Unterstützung reduziert den Stress und erhöht die Ausschüttung von Dopamin, was zu einer inneren Zufriedenheit führt. Hartung (2011, S. 235-254) verknüpft die soziale Unterstützung mit der Sichtweise der Salutogenese (Antonovsky 1997), in der das Kohärenzgefühl eine zentrale Komponente ist, und dem Konzept des Sozialkapitals (Bourdieu 1983). Das Kohärenzgefühl ist zu verstehen als grundlegende Lebenseinstellung, die sich zusammensetzt aus der Fähigkeit, die Herausforderungen des Lebens zu verstehen, der Überzeugung das eigene Leben gestalten zu können und dem Glauben an den Sinn des Lebens (Bengel et al. 2001). Personen mit einem hohen Kohärenzgefühl verhalten sich gesundheitsförderlicher, indem sie beispielsweise belastenden Stressoren eher ausweichen oder eher professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Sozialkapital gilt als Voraussetzung für soziale Unterstützung, da es die Anzahl und Reziprozität vertrauensvoller Kontakte beschreibt. Soziale Unterstützung wirkt sich positiv auf die Gesundheit aus und beeinflusst die Höhe des Kohärenzgefühls, was sich wiederum indirekt und direkt auf die psychische und körperliche Gesundheit auswirkt. Des Weiteren weist Hartung auf eine sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheit hin, welche durch die unterschiedlichen je nach sozialer Schicht zur Verfügung stehenden Ressourcen bedingt ist und die Gesundheit negativ beeinflusst.

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2.3 Soziale Unterstützung und Alkoholabhängigkeit Der Zusammenhang von sozialer Unterstützung und Alkoholismus war Gegenstand der Forschung Blagojevic-Damaseks (2012, S. 5-12). Er zeigt, dass soziale Unterstützung und internale Kontrollüberzeugung die Abstinenzdauer positiv beeinflussen. Zudem wirkt sich wahrgenommene soziale Unterstützung auf die Verringerung der Stresswahrnehmung aus und fördert somit den Einsatz von Bewältigungsstrategien. Dies begünstigt wiederum die Aufrechterhaltung der Abstinenz. Soziale Unterstützung war auch in weiteren Studien Gegenstand von Praxisforschung in der Suchthilfe. So haben Schiepek et al. (2001, S. 243-250) in einer stationären Rehabilitationsmaßnahme für alkoholabhängige Patient_innen in Hirtenstein (Allgäu) eine Evaluation ihres systemisch-ressourcenorientierten Rehabilitationskonzeptes durchgeführt. Für die Untersuchung wurde unter anderem der Fragebogen zur Sozialen Unterstützung (F-SozU) verwendet. Die Stichprobe bestand aus 44 männlichen alkoholabhängigen Patienten (Durchschnittsalter 43,6 Jahre), die zudem verschiedene somatische und psychische Verhaltensstörungen durch Alkohol aufwiesen. Auffällig war zunächst die Tatsache, dass Alkoholabhängige generell ein geringeres Ausmaß an sozialer Unterstützung im Vergleich zur Bevölkerungsnorm zeigten. Es wurde festgestellt, dass die Ausgangswerte der sozialen Unterstützung bei Langzeitpatient_innen im Vergleich zu den Kurzzeitpatienten deutlich geringer waren. Als Gründe wurden diskutiert, dass die Erfahrungen mit sozialer Unterstützung primär außerhalb der Klinik zu machen sind und Langzeitpatienten bei den Möglichkeiten soziale Unterstützung zu erhalten deutlich eingeschränkter sind. Daraus resultiere ein deutlicher Handlungsdruck zur Förderung der sozialen Unterstützung vor allem bei den Langzeitpatient_innen. Das evaluierte systemisch-ressourcenorientierte Konzept wurde von den Patient_innen als sehr positiv bewertet. Erim (2006, S. 352-355) befasste sich in einer Studie mit der Stabilisierung der Abstinenz für alkoholabhängige Patient_innen (n=49) vor einer Lebertransplantation. Das Ergebnis zeigt, dass soziale Unterstützung negativ mit Depressivität korreliert, d.h. hier liegt ein Zusammenhang zwischen hoher sozialer Unterstützung und geringer Depressivität vor. Ebenfalls konnte gezeigt werden, dass sich die Abstinenz durch eine hohe soziale Unterstützung und eine längerfristige Psychoedukation 6 Monate nach der Organtransplantation stabilisieren ließ. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass soziale Unterstützung demnach ein wesentlicher Anknüpfungspunkt in der Behandlung Alkoholabhängiger ist. 2.4 Die Förderung sozialer Unterstützung Die Darstellung der Folgen sozialer Unterstützun gauf die Gesundheit impliziert die Frage nach Möglichkeiten zur Förderung von sozialen Unterstützungsprozes-

Soziale Unterstützung bei alkoholabhängigen Menschen

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sen. In der Literatur werden hierzu mehrere Aspekte diskutiert, die bei der Konzeption und Durchführung von Interventionen zur Förderung sozialer Unterstützung berücksichtigt werden sollten. Nestmann (2005, S. 135-137, S 141-152; 2010 S. 27-34) untersucht Anforderungen an die Interventionspraxis, welche zur Förderung sozialer Unterstützung gegeben sein müssen. Zentrale Aspekte sind die verschiedenen Ebenen, an denen mit Interventionen angesetzt werden kann, wobei beispielhaft die Individualebene, die Netzwerkebene oder die makrosoziale Ebene genannt werden können. Darüber hinaus sind die Gewährleistung einer freiwilligen Teilnahme und einer möglichst umfassenden Partizipation der Zielgruppe bei der Gestaltung von Interventionen zur Förderung sozialer Unterstützung zu beachten. Eine weitere zentrale Anforderung ist nach Nestmann (a.a.O.) die Herstellung von Reziprozität. Klient_innen müssen die Möglichkeit haben, nicht nur Hilfeempfänger_in zu sein, sondern selbst Hilfe anbieten zu können. Entscheidend ist zudem, „wer bei welcher Belastung in welcher Situation welche Art von Hilfe von wem erhält“ (Nestmann 2005, S. 145). Es muss somit eine Passung der Hilfe hinsichtlich Interventionspartner_innen, Kontext und Zeit hergestellt werden. Die Tatsache, dass es unterschiedliche soziale Unterstützungsprozesse bei Männern und Frauen gibt, muss bei der Gestaltung von Interventionen ebenfalls berücksichtigt werden. Antonucci und Akiyama (1987, S. 111, zitiert nach Kienle et al. 2006) stellten zunächst grundlegend fest, dass Frauen ein größeres Maß an wahrgenommener Unterstützung haben und meist zufriedener mit der Unterstützung sind, welche sie erhalten. Nestmann (2010, S. 15) führt an, dass Frauen paradoxerweise häufig höhere Krankheitsraten und Gesundheitsprobleme trotz besserer Unterstützungskonstellationen haben. Dies hänge damit zusammen, dass Frauen sich oftmals von Belastungs- und Stresssituationen ihrer Unterstützungsnehmer_innen anstecken lassen. Daraus kann angenommen werden, dass bei Frauen mit einer hohen Anzahl von Unterstützungspartner_innen ein erhöhtes Risiko von gesundheitlichen Problemen wahrscheinlich ist. Sowohl Ditzen und Heinrichs (2007), als auch Nestmann (2010) deuten daher die Notwendigkeit an, dass Frauen eine besonders für sie ausgelegte Form der Förderung sozialer Unterstützung benötigen, die gleichzeitig Abgrenzungsmöglichkeiten gegenüber Problemen und Belastungen anderer Menschen aufzeigt. 2.5 Betreutes Einzelwohnen für Menschen mit Alkoholabhängigkeit Die Zielgruppe, für die der Praxispartner der vorliegenden Studie die Frage nach dem Ausmaß der sozialen Unterstützung stellt, sind Menschen mit Alkoholabhängigkeit in betreutem Einzelwohnen. Die Diagnose der Alkoholabhängigkeit wird hierbei nach den Kriterien des ICD-10 (Dilling et al. 1999) gestellt. Das Angebot des betreuten Einzelwohnens

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ist primär auf abhängigkeitskranke Menschen „mit einer wesentlichen Behinderung i. S. der SGB IX und XII“ (Schay 2013, S. 104) ausgerichtet. Rechtsgrundlage für diese Hilfeform sind insofern die Eingliederungshilfen für Menschen mit Beeinträchtigung (SGB XII §§ 53f., 67f.). Gründe gegen eine Aufnahme in das betreute Einzelwohnen sind eine mangelnde Motivation oder fehlende Kooperationsbereitschaft seitens des_r Klient_in sowie einige psychiatrische, körperliche und kognitive Diagnosen (Schay 2013, S. 104f.). Das betreute Einzelwohnen umfasst sowohl sozialarbeiterische, als auch therapeutische und medizinische Hilfen mit dem Ziel den Menschen mit Alkoholabhängigkeit „ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und zu sichern“ (Schay 2013, S. 102). Dieses ganzheitliche, multifaktorielle Angebot wird auf jede_n Klient_in durch verschiedene Angebote zeitlich und in seiner Intensität variabel zugeschnitten. Neben dem Ziel, abstinent zu leben, soll das Angebot außerdem dazu dienen, eine Bandbreite weiterer, diesem Ziel zuträglicher Erfolge zu erreichen. Hierzu gehören „Aufarbeitung der individuellen Problematik […] [sowie der Versuch], Schwellenängste zu anderen Institutionen wie Jobcenter, Sozialamt, Wohnungsamt, Freizeitverein etc. abzubauen“ (Schay 2013, S. 105). Dieses Vorgehen sowie das Bemühen der Betreuer_innen, sich im Verlauf der Hilfe immer weiter zurückzuziehen und entbehrlich zu machen, soll dazu führen, dass die Klient_innen ihr Leben wieder selbstständig und wenn möglich suchtfrei bewältigen können (Schay 2013, S. 105). 3

Fragestellung und Hypothesen

Dieser Forschungsarbeit liegt die primäre Frage nach dem Ausmaß der sozialen Unterstützung bei alkoholabhängigen Menschen im Betreuten Wohnen bei Prop e.V. in den Landkreisen Freising, Erding und Pfaffenhofen/Ilm zu Grunde. In einem zweiten Schritt soll herausgefunden werden, für welche Zielgruppe die Entwicklung gezielter Interventionen zur Förderung von sozialer Unterstützung besonders indiziert erscheint. Zur besseren Operationalisierbarkeit wurden auf Basis der vorhandenen Forschungsliteratur fünf Forschungshypothesen gebildet: a. Klient_innen des BEW von Prop e.V. haben ein geringeres Ausmaß an wahrgenommener sozialer Unterstützung als die deutsche Normbevölkerung. b. Klient_innen, die länger im BEW leben, haben ein geringeres Ausmaß an wahrgenommener sozialer Unterstützung. c. Frauen, die im BEW leben, nehmen mehr soziale Unterstützung als die dort lebenden Männer wahr.

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Jüngere Klient_innen im BEW erfahren mehr soziale Unterstützung als ältere Klient_innen. Klient_innen, die in einem ländlichen Gebiet wohnen, erfahren mehr soziale Unterstützung als jene, die in der Stadt wohnen.

Erhebungsinstrument und Vorgehensweise der wissenschaftlichen Untersuchung

Als Erhebungsinstrument diente der standardisierte Fragebogen F-SozU S-54 (Fydrich et al. 2007). Dieser operationalisiert das Konstrukt `wahrgenommene soziale Unterstützung´ durch die Kombination der drei Subskalen `emotionale Unterstützung´, `praktische Unterstützung´ und `soziale Integration´. Der Begriff `wahrgenommene soziale Unterstützung´ wird von den Autoren vorgeschlagen, da das Konstrukt auf Selbstaussagen beruht und damit die individuelle Wahrnehmung der Befragten beschreibt. Da die Literatur zeigt, dass vor allem die subjektiv wahrgenommene soziale Unterstützung Effekte auf die Gesundheit hat (Ditzen/ Heinrichs 2007), ist die Forderung nach einem objektiveren Messverfahren obsolet. Darüber hinaus ist eine differenzierte Auswertung des F-SozU zu weiteren Teilaspekten sozialer Unterstützung anhand zusätzlicher Subskalen möglich (s. Abb. 1). Wahrgenommene Unterstützung

soziale

Emotionale Unterstützung Praktische Unterstützung

Soziale Integration

Soziale Belastung

Gesamtauswertung der Subskalen emotionale Unterstützung, praktische Unterstützung und soziale Integration von anderen gemocht und akzeptiert werden; Gefühle mitteilen können; Anteilnahme erleben praktische Hilfen bei alltäglichen Problemen erhalten können, z.B. etwas ausleihen, praktische Tipps erhalten oder von Aufgaben entlastet werden Zugehörigkeit zu einem Freundeskreis, gemeinsame Unternehmungen durchführen; Menschen mit ähnlichen Interessen und Wertvorstellungen kennen das Ausmaß der erlebten Belastung aus dem sozialen Netzwerk, z.B. Wahrnehmung potenziell negativer oder belastender Merkmale

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Reziprozität sozialer Unterstützung Verfügbarkeit einer Vertrauensperson Zufriedenheit mit sozialer Unterstützung

bzw. Selbsteinschätzung gegenüber Ablehnung, Kritik, Überforderung und Eingeengtheit Erfassung des Ausmaßes mit dem die Personen von anderen um soziale Unterstützung gebeten werden bzw. diesen Unterstützung zukommen lassen Einschätzung der Verfügbarkeit einer nahe stehenden Person, zu der eine vertrauensvolle Beziehung besteht Erfassung des Wunsches nach mehr Unterstützung

Abb. 1: Skalen des F-SozU

Mitarbeiter_innen von Prop e.V. haben den Fragebogen F-SozU an ca. 50 Klient_innen im ambulant betreuten Einzelwohnen an den Standorten Erding, Freising und Pfaffenhofen/Ilm ausgeteilt. Darüber hinaus erfolgte eine Aufklärung über Ziel und Ablauf der wissenschaftlichen Studie sowie über die Wahrung des Datenschutzes. Die Betroffenen konnten selbst über eine Teilnahme an der Studie entscheiden und es wurde ihnen zugesichert, dass die anonymisierten Fragebögen in einem verschlossenen Umschlag an die Hochschule geschickt werden. Es nahmen 31 Klient_innen an der Befragung teil. Zusätzlich zum standardisierten Fragebogen wurden einige wenige soziodemographische Daten erhoben (Erhebungsdatum des Fragebogens; Geburtsjahr; Geschlecht; Stadt oder Landkreis für Erding, Freising, Pfaffenhofen/Ilm; bisherige Betreuungsdauer) und gesondert auf den einzelnen Fragebögen festgehalten. Die ausgefüllten und anonymisierten Fragebögen wurden anschließend ausgewertet. Die Dateneingabe erfolgte mittels des Programms SPSS (Version 22), wobei die Rahmenbedingungen eine doppelte Dateneingabe ermöglichten, d.h. es erfolgte ein Datenabgleich zweier Datenbanken zur Identifizierung potentieller Falscheingaben. Der so bereinigte Datensatz diente zur Grundlage der Berechnungen. 5

Ergebnisse

5.1 Beschreibung der Studienteilnehmer_innen Die Daten wurden vom 09.01.2015 bis zum 25.03.2015 erhoben. Insgesamt lagen Daten von 31 Studienteilnehmer_innen vor (s. Abb. 2).

Soziale Unterstützung bei alkoholabhängigen Menschen

Alter

46,7 Jahre (27-67 Jahre)

Geschlecht

19 Männer (61,3%)

149

12 Frauen (38,7%) Durchschnittliche Verweildauer im Betreuten Wohnen

2,7 Jahre (0,5-8 Jahre)

Probanden aus ländlicher Region

21 (68%)

Probanden aus städtischer Region

10 (32%)

Abb. 2: Beschreibung des Studienkollektivs (n = 31)

Bei der regionalen Verteilung der Studienteilnehmer_innen wurde zwischen Stadt und Landkreis (Land) unterschieden, um zwischen eher städtischen und eher ländlichen Regionen differenzieren zu können (s. Abb. 3). Aus Freising-Stadt wurde kein_e Studienteilnehmer_in erfasst.

Abb. 3: regionale Verteilung der Studienteilnehmer_innen

150

Katrin Liel

5.2 Beschreibung der zentralen Ergebnisse Als Hauptergebnis misst der Fragebogen F-SozU die wahrgenommene soziale Unterstützung mit einer fünf-stufigen Likert-Skala. Die Ausprägung der wahrgenommenen Unterstützung bei der hier durchgeführten Untersuchung zeigt einen Mittelwert von 3,14 (Standardabweichung 0,63293). Da dieser Wert an sich wenig aussagekräftig ist, erfolgt üblicherweise eine Zuordnung der einzelnen Werte in Prozentränge. Der Prozentrang (PR) gibt an, welcher Prozentsatz der Normstichprobe eine gleich hohe oder kleinere Eigenschaftsausprägung aufweist. Ein PR von 50 bedeutet ein durchschnittliches Ergebnis, ein PR von 10 dagegen, dass 10% der Normstichprobe ein gleiches oder kleineres Ergebnis hatten. Prozentrang

Häufigkeit

Gültige Prozent

10 20 30 40 50 60 70

13 5 5 2 2 1 3

41,9 16,1 16,1 6,5 6,5 3,2 9,7

Kumulative Prozente 41,9 58,1 74,2 80,6 87,1 90,3 100,0

Abb. 4: Prozentränge der wahrgenommenen sozialen Unterstützung

Aus Abbildung 4 ist zu entnehmen, dass 87,1% der hier befragten Klient_innen eine wahrgenommene soziale Unterstützung zeigen, die niedriger ist, als der Durchschnitt der Normstichprobe. Insgesamt gaben neun Teilnehmer_innen eine WasU von weniger als 2,5 an, was einem Prozentrang von 1 entspricht. Das heißt neun der Teilnehmer_innen (43%) haben eine niedrigere WasU als 99 Prozent der Vergleichsgruppe. Damit lässt sich eindeutig feststellen, dass Klient_innen des BEW von Prop e.V. ein geringeres Ausmaß an wahrgenommener sozialer Unterstützung als die deutsche Bevölkerung haben. Der Bedarf an Interventionen scheint demnach grundsätzlich gegeben. Die Auswertung der Subskalen zeigt leicht variierende Mittelwerte (s. Abb. 5). Für die Subskala Praktische Unterstützung wurden bei einer Person zu viele fehlende Werte bei den einzelnen Fragen gezählt, sodass dieser nicht in die Gesamtauswertung aufgenommen werden konnte. Bei allen anderen Subskalen flossen die Werte von 31 Studienteilnehmer_innen ein.

Soziale Unterstützung bei alkoholabhängigen Menschen

Subskala (n) Emotionale Unterstützung (31) Praktische Unterstützung (30) Soziale Integration (31) Soziale Belastung (31) Reziprozität (31) Zufriedenheit mit sozialer Unterstützung (31) Vertrauensperson (31)

151

Mittelwert (Standardabweichung) 3,20 (0,86) 3,10 (0,84) 3,07 (0,48) 2,50 (0,71) 3,07 (0,98) 3,08 (0,73) 3,34 (1,27)

Abb. 5: Auswertung der Subskalen

Die Subskala Belastung fällt im Durchschnitt, verglichen mit den Mittelwerten aller anderen Subskalen, eher niedrig aus. Daraus lässt sich schließen, dass sich die Studienteilnehmer_innen eher weniger potenziell negativer oder belastender Merkmale aus dem sozialen Netzwerk ausgesetzt sehen. Die Subskala Verfügbarkeit einer Vertrauensperson hat den höchsten Mittelwert, d. h. dass viele Teilnehmer_innen angeben, eine nahestehende Person zu haben, zu der eine vertrauensvolle Beziehung besteht. 5.3 Überprüfung der Hypothesen Neben dem generellen Ausmaß der wahrgenommen sozialen Unterstützung (Hypothese a) wurde untersucht, ob Klient_innen ein geringeres Ausmaß an sozialer Unterstützung wahrnehmen, je länger Sie im BEW leben (Hypothese b). Die Ergebnisse lassen zwar keine eindeutige Aussage über den Zusammenhang zwischen Betreuungsdauer und Ausmaß an wahrgenommener sozialer Unterstützung zu, ermöglichen jedoch eine Aussage über einen Trend. Zum einen zeigt die Korrelation zwischen der Dauer des betreuten Wohnens und der wahrgenommenen sozialen Unterstützung eine sehr geringe negative Korrelation (Spearman-Rho = - 0,178), was bedeuten würde, dass die wahrgenommene soziale Unterstützung sinkt, je länger Klient_innen im Betreuten Wohnen leben. Dieses Ergebnis ist jedoch nicht signifikant. Bei einer anderen Berechnung zeigt sich jedoch ebenfalls: Die Wahrnehmung der sozialen Unterstützung bei der Gruppe mit kürzerer Betreuungsdauer (n=17) von weniger als 2,7 Jahren im Vergleich zur Gruppe mit einer Betreuungsdauer von mehr als 2,7 Jahren (n= 14) ist leicht erhöht (MW 3,40: MW 2,98). So scheint die wahrgenommene soziale Unterstützung bei Klient_innen, die erst kurz im BEW leben, im Allgemeinen etwas höher zu liegen.

152

Katrin Liel

Hypothese c besagte, dass Frauen, die im BEW leben, mehr soziale Unterstützung als die dort lebenden Männer wahrnehmen. Dies lässt sich anhand mehrerer Ergebnisse bestätigen. Zum einen lag der Mittelwert der wahrgenommen sozialen Unterstützung bei Frauen um 0,29 Punkte über dem allgemeinen Mittelwert. Zudem tauchte der höchste Individualwert der wahrgenommenen sozialen Unterstützung bei einer Frau auf (4,22) und der niedrigste bei einem Mann (1,92). Der Test zweier unabhängiger Stichproben (Männer/Frauen) auf Unterschiede (MannWhitney-U-Test) zeigt bei der Skala “Wahrgenommene soziale Unterstützung” ebenfalls einen signifikanten geschlechtsspezifischen Unterschied (U= 63,000; p= 0,039). Die Hypothese, dass Frauen, die im BEW leben, mehr soziale Unterstützung wahrnehmen als die dort lebenden Männer, kann somit bestätigt werden. Es wurde auch der Frage nachgegangen, ob jüngere Klient_innen im BEW mehr soziale Unterstützung erfahren als ältere Klient_innen (Hypothese d). Obwohl der Vergleich der Mittelwerte zwischen „Jüngeren“ und „Älteren“ (aufgeteilt in 2 Gruppen anhand des Mittelwertes des Alters: 46,7 Jahre) einen diesbezüglichen Unterschied zeigt, kann die Hypothese nicht bestätigt werden, da keine signifikante Korrelation zwischen dem Alter und der wahrgenommenen sozialen Unterstützung ermittelt werden konnte. Interessant schien es auch zu untersuchen, ob Klient_innen, die in einem ländlichen Gebiet wohnen, mehr soziale Unterstützung erfahren als jene, die in der Stadt wohnen (Hypothese e). Die Betrachtung der wahrgenommenen sozialen Unterstützung nach Regionen zeigt, dass die WasU sich regionsübergreifend um den Wert 3 verteilt, lediglich im Landkreis Freising liegt diese mit 2,62 deutlich niedriger (s. Abb. 6). Anzufügen hierbei ist noch, dass bei der Befragung keine Teilnehmer_innen aus Freising Stadt teilgenommen haben.

Soziale Unterstützung bei alkoholabhängigen Menschen

153

4 3,5 3,18

3,35

3,17

3

2,62

2

1

0

0 Erding Stadt

Erding Lkr

Freising Stadt

Freising Lkr

Pfaffenhofen Stadt

Pfaffenhofen Lkr

Abb. 6: Mittelwert wahrgenommene soziale Unterstützung in Bezug auf die Region

Die 21 Studienteilnehmer_innen, die in ländlichen Bereichen leben (Landkreise Pfaffenhofen, Freising, Erding), zeigen eine mittlere WasU von MW = 3,05. Die 10 Studienteilnehmer_innen aus städtischen Bereichen (Erding und Pfaffenhofen / Ilm) hingegen weisen eine mittlere WasU von MW = 3,34 auf. Dieser erste Vergleich liefert also Hinweise darauf, dass Proband_innen in ländlichen Bereich eher eine niedrigere wahrgenommene soziale Unterstützung angeben. Die Datenlage ist insgesamt eher schwach, eine Korrelation kann aufgrund der Variablenqualität nicht berechnet werden. Diese Hypothese kann also nicht bestätigt werden, es zeigen sich sogar eher Hinweise auf ihr Gegenteil. 6

Diskussion

6.1 Diskussion der Methoden Für die vorliegende Studie wurde ein standardisierter Fragebogen als Messinstrument angewandt, was zunächst einmal Rückschlüsse auf die Reliabilität und interne Validität zulässt. Beide können aufgrund vorheriger Testergebnisse als gut eingeschätzt werden (Fydrich et al. 2007). Um über die mögliche Repräsentativität Aussagen treffen zu können, müssen die Bedingungen/Voraussetzungen der Forschung kritisch betrachtet werden. So

154

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stellt sich die Frage, ob die geringe Teilnehmerzahl (n=31) Rückschlüsse auf die gesamten Bewohner_innen des BEW von Prop e.V. zulassen, oder ob die Studie eine externe Validität für alle suchtkranken Menschen in Deutschland beweisen soll. Letzteres ist äußerst kritisch zu sehen, da nicht bekannt ist, inwiefern sich die Referenzpopulation z.B. hinsichtlich Geschlecht, Alter, Migrationshintergrund, Kinder, etc. zusammensetzt und ob daher die hier gewonnene Stichprobe repräsentativ sein kann. Außerdem ist die Art, wie die Auswahl (Zufall oder Freiwilligkeit) der befragten Klient_innen getroffen wurde, zu diskutieren. Erfahrungsgemäß melden sich bei freiwilligen wissenschaftlichen Untersuchungen vor allem die zuverlässigen Klient_innen mit hoher Compliance. Die so gewonnen Daten zeigen eine Verzerrung und legen die Vermutung nahe, dass die Fragen eher positiv beantwortet wurden. Die Objektivität einer Studie setzt sich aus der Durchführungs-, Auswertungs- und Interpretationsobjektivität zusammen. In diesem Bezugsrahmen ist eine hohe Durchführungsobjektivität anzunehmen, da bei der Befragung der Proband_innen mit einem standardisierten Fragebogen als Messinstrument gearbeitet wurde. Auch die Auswertungsobjektivität und die Interpretationsobjektivität sind als gut einzuschätzen, da die Datenauswertung und Interpretation in einer Gruppe geschah. Dabei wurde u.a. geprüft ob sich die bestehenden Hypothesen in verschiedenen Kleingruppen wiederholend gleich beantworten lassen, was sich hier bestätigen lässt. Außerdem erfolgte die Dateneingabe von allen Student_innen in der Forschungswerkstatt in eigener Arbeit und unabhängig voneinander. Die Objektivität der vorliegenden Studie ist also insgesamt als hoch zu bewerten. 6.2 Diskussion der Ergebnisse Wie aus der Hypothese a hervorgeht, fällt die wahrgenommene soziale Unterstützung der Studienteilnehmer_innen (MW=3,14), wie erwartet im Vergleich zur Normbevölkerung (MW=3,9) (Fydrich et al. o.J.) niedriger aus. Dieser geringere Mittelwert könnte damit zusammenhängen, dass die Bewohner_innen aufgrund ihrer Suchterkrankung sozial zurückgezogener leben als die Durchschnittsbevölkerung und somit weniger in die Gesellschaft integriert sind. Das Ausmaß an Zurückgezogenheit hängt möglicherweise ebenfalls mit der Schwere der Erkrankung (Komorbidität, Dauer der Abhängigkeit, etc.) zusammen. Vorstellbar ist außerdem, dass ein suchtmittelabhängiger Mensch weniger attraktiv als Bindungspartner_in auf Andere wirkt (siehe auch Ditzen/ Heinrichs 2007, S. 143-157). Weiterhin können interessante Schlüsse aus den Ergebnissen der Subskalen gezogen werden. Der Mittelwert der Subskala Belastung ist im Vergleich zu den anderen Subskalen am niedrigsten ausgeprägt. Die Inhalte dieser Skala beziehen sich hierbei auf die Wahrnehmung von potenziell negativen oder belastenden Merkmalen bzw. auf Verhaltensweisen von Personen des sozialen Umfeldes.

Soziale Unterstützung bei alkoholabhängigen Menschen

155

Grund dafür kann der geschützte Rahmen (jederzeit erreichbare Betreuer_innen und multiprofessionelles Team) des BEW sein. Innerhalb dieses Settings wird vermutlich versucht, die Belastungen für die Bewohner_innen bewusst niedrig zu halten, um mögliche Überforderungen zu vermeiden. Eine Frage, die sich aus diesen Überlegungen ableiten lässt, ist, ob diese künstlich niedrig gehaltene Belastung der Klient_innen in Bezug auf die Realitätserprobung sinnvoll ist. Ziel der Sozialen Arbeit sollte es sein, sich nach und nach zurückzuziehen, sodass die Klient_innen im Ansatz des Empowerments lernen, sich die benötigte soziale Unterstützung selbst zu organisieren. Die Ergebnisse könnten andererseits auch vermuten lassen, dass die Frustrationsgrenze der Klient_innen von Prop e.V. aufgrund früherer (schlechter) Erfahrungen höher angelegt ist, weshalb sie sich im Durchschnitt weniger belastet fühlen. Die Subskala der Zufriedenheit erweist sich dagegen als vergleichsweise hoch. Eine Erklärungsmöglichkeit wäre die bereits bestehende soziale Unterstützung im BEW, welche sich als ausreichend für die Klient_innen beschreiben lassen könnte. Ein weiterer Interpretationsgedanke wäre, dass durch den Eintritt ins Betreute Wohnen eine Besserung der Lebensumstände für die zu Betreuenden bereits eingetreten sein könnte. Während die Klient_innen möglicherweise vor dem BEW alleine waren mit ihren Problemen und ihrer Krankheit, können sie nun die reziproke Solidarität der Gemeinschaft der anderen Klient_innen erfahren. Der Mittelwert der Subskala Vertrauen erreicht den höchsten Wert. Daraus lässt sich ableiten, dass der Durchschnitt der Klient_innen von Prop e.V. glaubt mindestens eine nahe stehende Person, zu der eine vertrauensvolle Beziehung besteht, zur Verfügung zu haben. Hier liegt die Vermutung nahe, dass diese Vertrauensperson ein_e zuständige_r Sozialarbeiter_in sein könnte. Zunächst kann die Situation, dass der_die Sozialarbeiter_in als Vertrauensperson wahrgenommen wird, als Vorteil für die weitere Interventionsarbeit in der Einrichtung gesehen werden, auf Dauer sollte sich die Soziale Arbeit jedoch wie bereits erwähnt zurückziehen und die Klient_innen dazu befähigen, eigenständige vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen. Weiterhin kann gesagt werden, dass es in der vorliegenden Studie keine aussagekräftige Verbindung zwischen der Dauer des BEW und dem Ausmaß an sozialer Unterstützung zu geben scheint, widersprüchliche Ergebnisse lassen hier keine eindeutige Interpretation zu. Auf Grund der zu geringen Anzahl der befragten Personen (N = 31), lassen sich hier keine relevanten Aussagen treffen. Ein anderes Forschungsergebnis schließt sich an den allgemeinen Stand der Wissenschaft an. Wie Antonucci und Akiyama (1987, S. 111, zitiert nach Kienle et al. 2006) festgestellt haben, konnte auch in diesem Forschungsbericht bestätigt werden, dass Frauen mehr soziale Unterstützung wahrnehmen als Männer.

156

Katrin Liel

Die Ergebnisse verdeutlichen insgesamt, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Alter und der wahrgenommenen sozialen Unterstützung ermittelt werden konnte. Jedoch gibt es Hinweise, dass mit steigendem Alter die WasU abnimmt. Aufgrund der zu geringen Anzahl der befragten Personen (N = 31), lassen sich hier ebenfalls keine relevanten Aussagen treffen. Um ein aussagekräftiges Ergebnis zu erhalten, wäre eine größere Stichprobe erforderlich. Wie bereits beschreiben, ist für das Ausmaß der WasU aber vermutlich die Schwere der Erkrankung relevanter, als das Alter der Klient_innen und deren Aufenthaltsdauer im BEW. Der Gedanke, dass auf dem Land mehr soziale Unterstützung vorliegt, kann hier nicht bestätigt werden. Möglicherweise ist für die hier befragte Zielgruppe die Erreichbarkeit von Hilfsangeboten, die im städtischen Raum aufgrund der öffentlichen Verkehrsmittel gegeben ist, ausschlaggebend. Eine weitere Erklärung könnte sein, dass die soziale Fluktuation auf dem Land geringer ist als in der Stadt. Die BEW-Bewohner_innen auf dem Land sind (eventuell wegen fehlender Verkehrsanbindung und Angst vor Stigmatisierung) vermehrt auf Kontakt zu den anderen Bewohner_innen angewiesen als die Klient_innen aus der Stadt. Bei fehlender Sympathie zu den anderen Klient_innen, kann die Wahrnehmung an sozialer Unterstützung abnehmen. Weiterhin kann vermutet werden, dass die Bewohner_innen aus den ländlichen Regionen eine größere Angst vor Stigmatisierung haben, da die Anonymität auf dem Land im Allgemeinen geringer ist. Infolgedessen kann es sein, dass der Kontakt zu anderen Mitmenschen eher vermieden wird, als in der Stadt, wodurch letztlich auch das Ausmaß an wahrgenommener sozialer Unterstützung abnehmen kann. 7

Fazit und Empfehlungen für die Praxis

Aus den hier vorliegenden Forschungsergebnissen können Empfehlungen für Interventionen zur Förderung sozialer Unterstützung abgeleitet werden. Diese sind jedoch auf die Antworten der 31 Studienteilnehmer_innen bezogen und somit nur eingeschränkt übertragbar. o

Die Forschungsergebnisse zeigen, dass die Förderung sozialer Unterstützung für Menschen mit Alkoholabhängigkeit notwendig und unabdingbar ist. Bei der Gestaltung zukünftiger Intervention sollte dieser Aspekt beachtet werden.

o

Ein besonderes Augenmerk sollte vor allem auf die Klient_innen in ländlichen Gebieten gelegt werden, da sich vor allem dort wenig wahrgenommene soziale Unterstützung zeigt.

Soziale Unterstützung bei alkoholabhängigen Menschen

157

o

Eine weitere besondere Zielgruppe scheinen Männer zu sein, da diese soziale Unterstützung weniger wahrnehmen als Frauen.

o

Wenn neue Interventionen geplant werden, kommt es dabei nicht zwingend auf die von Klient_innen verbrachte Dauer im betreuten Einzelwohnen an. Der Bedarf ist unabhängig von der Betreuungsdauer.

o

Auch das Alter von Klient_innen spielt im Hinblick auf Interventionen keine Rolle, jede Altersgruppe zeigt einen hohen Bedarf.

o

Es sollte im Anschluss an die Ausgestaltung von Interventionen zur Förderung sozialer Unterstützung darauf geachtet werden, dass nach Beendigung der Maßnahme auch außerhalb des BEW Vertrauenspersonen verfügbar sind und diese Netzwerke ggf. bereits während der Intervention aufgebaut und gefördert werden. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die professionelle Bezugsperson die Rolle der Vertrauensperson einnimmt und sich selbst unersetzlich macht.

o

Trotz Enthusiasmus in der Planung und Ausgestaltung von Interventionen zur Förderung sozialer Unterstützung ist zu beachten, dass es durchaus Klient_innen gibt, die mit weniger sozialer Unterstützung zufrieden sind.

Literatur Antonovsky, A. (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: DGTV-Verlag. Antonucci, T. C.; Akiyama, H. (1987): An examination of sex differences in social support among older man and women. Sex Roles 17, S. 737–749. In: R. Kienle, N. Knoll, B. Renneberg (2006), Soziale Ressourcen und Gesundheit: soziale Unterstützung und dyadisches Bewältigen. In: B. Renneberg / P. Hammelstein (Hrsg.): Gesundheitspsychologie . Heidelberg: Springer Medizin Verlag, S. 107-122 Bengel, J. et al. (2001): Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese - Diskussionsstand und Stellenwert. 3. Aufl. Köln: BZgA (Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung, 6). Blagojevic-Damasek, N. et al. (2012): Locus of control, social support and alcoholism. Journal on Alcoholism & Related Addictions,. Jg. 48, H. 1, S. 5-12. Bourdieu, P. (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, R. (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt. Göttingen: Verlag Otto Schwartz & Co, S. 183 – 198. Dilling, H. et al. (Hrsg.) (1999): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD10, Kapitel V(F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. World Health Organization. 3. Aufl. Bern: Verlag Hans Huber.

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Katrin Liel

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Die Pflegearbeit von Angehörigen im Care-Regime „Demenz“ Hubert Beste und Anja Wiest

1

Einleitung

Demenzielle Erkrankungen stellen eine enorme gesundheits- und gesellschaftspolitische Herausforderung dar. Gefördert durch den demographischen Wandel und der damit verbundenen Umschichtung innerhalb der Altersstruktur wird die Zahl der über 65-Jährigen in Deutschland von 2000 bis 2030 um jährlich 270.000 Personen anwachsen und sich in diesem Zeitraum von knapp 14 Mio. auf fast 22 Mio. erhöhen. Aufgabe der deskriptiven Epidemiologie ist es in diesem Kontext, Daten über den Krankenbestand und die Anzahl der Neuerkrankungen zu ermitteln, um zu einer Bedarfsplanung hinsichtlich der benötigten medizinischen, pflegerischen und sozialen Dienste zu gelangen. Diese Daten sind wiederum relevant für die entsprechende Planung von Hilfsangeboten und Versorgungseinrichtungen (vgl. Bickel 2017). Was den auf das Jahr 2014 bezogenen Stand von Demenzerkrankungen in Deutschland betrifft, so wird von einer Zahl von 1,55 Millionen Menschen – allerdings mit deutlich steigender Tendenz – ausgegangen. Davon sind 1,04 Millionen weiblichen und 0,51 Millionen männlichen Geschlechts (vgl. Dossier Demenzerkrankungen 2017, statista, Online-Version, S. 19). Wiederum bezogen auf das Jahr 2030 wird die Anzahl der Demenzerkrankten auf ca. 2,5 Mio. beziffert, da die Prävalenz von Demenz mit dem Lebensalter stark zunimmt. Ein Großteil der Demenzkranken wird zu Hause in erster Linie von Angehörigen und teilweise mit Unterstützung von ambulanten Pflegediensten unter Hinzuziehung ihrer jeweiligen Hausärzt_innen versorgt. Die Pflege eines_r Demenzkranken greift tief in das Familiensystem ein und sowohl Demenzkranke als auch die Angehörigen bilden höchst vulnerable Gruppen. So stellt denn auch die subjektive Belastung der pflegenden Angehörigen einen entscheidenden Indikator beim Übergang in die institutionelle Betreuung und Versorgung dar (Dorschner/ Schaefer 2007, S. 91). In diesem Kontext betrachtet ist der große Verdienst von Katharina Rensch (2012) die „Black Box“ der häuslichen Pflege und Versorgung erstmals umfassend analysiert und durchleuchtet zu haben.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Borrmann et al. (Hrsg.), Soziale kohäsion und gesellschaftliche Wandlungsprozesse, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25759-0_10

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Hubertus Beste, Anja Wiest

Als primäre Zielgruppe der hier vorgestellten Studie werden die Angehörigen bzw. die nicht-professionell helfenden Bezugspersonen von Demenzkranken umschrieben und definiert. Eingangs wurde schon kurz auf die ganz erheblichen Belastungsfaktoren hingewiesen, die auf die Angehörigen und Bezugspersonen demenzkranker Menschen einwirken. Dabei handelt es sich in erster Linie um unbezahlte soziale Dienstleistungen in Bezug auf Beaufsichtigung, Anleitung, Betreuung und Pflege (vgl. Bickel 2017, S. 14; umfassend die Beiträge in Aulenbacher et al. 2014). Ohnehin wird häufig übersehen, dass weitestgehend unbezahlte Hausarbeit, Angehörigenbetreuung oder auch Kindererziehung einen Großteil unserer alltäglichen Arbeiten und Aktivitäten ausmachen. Sozial- und Gesundheitspolitik tendiert in diesem Kontext verstärkt dazu, das Leben jener Menschen, die es ohnehin schon schwer genug haben, noch schwerer zu machen. Auch heute noch werden ca. 70 % aller demenzkranken Patient_innen in der Familie hauptsächlich von Ehefrauen, Schwestern, Töchtern, Schwiegertöchtern und zunehmend auch von unterbezahlten, häufig auch gering qualifizierten osteuropäischen Frauen versorgt. Die Einführung der Pflegeversicherung, von der eine erhebliche Zunahme an Arbeitsplätzen in der ambulanten Pflege erwartet wurde, hat in erster Linie jedoch dazu geführt, dass die anspruchsberechtigten Personen weniger Pflegeleistungen, sondern mehrheitlich Geldleistungen beantragten, die zur Entschädigung der weiblichen Pflegekräfte und einer zusätzlichen (vorwiegend statistisch dargestellten) Entlastung der diesbezüglichen Arbeitsmarktsituation führten (AG-linksnetz 2010, S. 184). Durch das zweite Pflegestärkungsgesetz (PSG II) gelten seit 2017 allerdings deutliche Veränderungen im Pflegesystem. So können Angehörige entsprechendes Pflegegeld in Höhe von 316 € (Pflegegrad 2) bis 901 € (Pflegegrad 5) pro Monat erhalten. Die Pflegesachleistungen (ambulanter Pflegedienst) belaufen sich auf 689 € (Pflegegrad 2) bzw. auf 1995 € (Pflegegrad 5) pro Monat. Im vorliegenden Zusammenhang stehen insoweit Wissensformen und Unterstützungsleistungen im Vordergrund, die angehörigenzentriert systematisch generiert, gesammelt und zusammengeführt werden sollen. Es handelt sich zunächst um fachmedizinische, fachpsychologische, fachpflegerische sowie sozialpädagogische Wissensbestände und ihre praktischen sowie unterstützungsbezogenen Ableitungsformen. Ganz entscheidend ist hier allerdings die Grundkonzeption, dass dieses Wissenskapital nicht im engen Familien- oder Bezugspersonenkontext verbleibt, sondern auf lokaler Ebene in ein Netzwerksystem eingespeist wird, das sich in beständiger Dynamik und Weiterentwicklung befindet. Wenn die sozialpädagogische Ortsbestimmung einer „lokalen Community“ einen Sinn haben soll, dann wäre er genau bei solchen (zukünftigen) Herausforderungen zu suchen, die in ihrer ganzen Schärfe erst noch eintreten werden. An dieser Stelle wären im Weiteren sodann auch Anknüpfungspunkte zu suchen, die mit dem Begriff der „Zivilgesellschaft“ figurieren. Als Ziel könnte eine „demenzfreundliche Kommune“ (Wissmann/ Gronemeyer 2008, S. 145) umschrieben werden, die den aktiven Umgang

Die Pflegearbeit von Angehörigen im Care-Regime „Demenz“

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mit Situationen sucht, die häufig nur als „Alter“ und „Krankheit“ auf der Bildfläche erscheinen und in den wenig sichtbaren Privat- oder auch Heimsektor abgedrängt werden. In diesem Sinne wäre der lokale Raum, bestehend aus professionellen, semi-professionellen und ehrenamtlichen Kräften, noch am ehesten dazu in der Lage, die enormen Belastungsmomente für das unmittelbare soziale Umfeld abzufedern. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, und das haben aktuelle Studien recht deutlich gezeigt, dass das informelle Pflegepotenzial auf Basis von Freiwilligenengagement zukünftig abnehmen wird. Dies liegt vor allem an der immer prekärer werdenden Kombination von Freiwilligenarbeit und Erwerbsarbeit, so dass Ansätze einer „neuen Pflegekultur“ als nachhaltiger Mix von Erwerbs- und Familienarbeit gefragt sind (vgl. z.B. Strasser/ Stricker 2007).

2

Methodische Vorgehensweise der DemConLA-Studie und Ergebnisse der narrativen Interviews

Das Projekt „Demenz-Context Landshut“ (DemConLA) wurde durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert (Förderlinie „Soziale Innovationen für Lebensqualität im Alter“: SILQUA-FH 2012) und war am Institut Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung (IKON) der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Landshut angesiedelt. Das Projekt war durch zwei ineinandergreifende Bausteine gekennzeichnet, die im Rahmen eines intensiven Wissenschaft-Praxis-Transfers das Gesamtkonzept des Vorhabens abbildeten. Damit ist einerseits ein praxisorientierter Ansatz zur Verbesserung demenzbezogener Versorgungsstrukturen gemeint sowie andererseits eine wissenschaftliche Begleitforschung, deren Inhalte im Folgenden näher konkretisiert werden. Ziel war es, in enger Kooperation mit den wesentlichen Akteur_innen der Freien Wohlfahrtspflege Niederbayerns den Aufbau, die Etablierung und die Erprobung eines demenzbezogenen Verbundsystems zur Unterstützung und Beratung von Menschen mit Demenz und deren Angehörigen in der Stadt Landshut zu verwirklichen. Bei der Entwicklung des Verbundsystems stand die Vernetzung bestehender und die Entwicklung neuer stationärer, teilstationärer und ambulanter Beratungs- und Unterstützungsangebote im Vordergrund. Ziel der Begleitforschung war es, die Situation pflegender Angehöriger demenziell Erkrankter vor dem Hintergrund bestehender Versorgungsstrukturen aus wissenschaftlicher Perspektive zu durchleuchten. Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses der Begleitforschung stand unter anderem die Beantwortung folgender Fragestellungen: (1) Welche Belastungsformen gehen mit der Pflege demenziell Erkrankter einher? (2) Inwiefern sind Berufstätigkeit und die Pflege eines Angehörigen zu vereinbaren? (3) Wie informiert

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sind pflegende Angehörige über mögliche Leistungen, die sie in Anspruch nehmen können? (4) Welche Formen der Unterstützung (z.B. Beratung, Selbsthilfegruppen, ambulante und teilstationäre Angebote) nutzen pflegende Angehörige? (5) Wo bestehen Lücken in der (lokalen) Demenzversorgung? Die Beantwortung dieser Fragen war zentral für die wissenschaftliche Begleitforschung, die sich aus folgenden Bestandteilen zusammensetzte: Vier qualitative Fallstudien stellten einen eigenen Untersuchungsschritt dar und sollten die spezifischen Pflegearrangements (Pflege-, Versorgungs- und Belastungssituationen) pflegender Angehöriger hinsichtlich ihrer belastungsorientierten Tiefenstrukturen durchleuchten. In methodischer Hinsicht setzten sich die Fallstudien mit den Schwerpunkten (1) ambulante, (2) teilstationäre, (3) stationäre Versorgung und (4) Versorgungsmix aus der Durchführung von leitfadengestützten Interviews, Gruppendiskussionen und narrativen Interviews mit pflegenden Angehörigen zusammen. Insgesamt wurden im Rahmen dieser Erhebungsschritte 55 pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz erreicht, die entweder interviewt wurden oder an Gruppendiskussionen teilnahmen. Darüber hinaus wurden leitfadengestützte Interviews, fragebogengestützte Befragungen und Gruppendiskussionen mit Pflegefachkräften, Sozialarbeiter_innen und Führungspersonen unterschiedlicher Versorgungsbereiche (ambulant, teilstationär, stationär) durchgeführt, um das Gesamtbild der Begleitforschung mit erweiterten Erkenntnissen im Hinblick auf das bestehende Versorgungsystem abzurunden. Dabei konnten 32 Interviewpartner_innen erreicht werden, die alle über langjährige Erfahrungen im Bereich der professionellen Pflege verfügen. Neben der Begleitforschung wurden verschiedene Maßnahmen getroffen, um das demenzbezogene Verbundsystem (Sichtwort: Demenznetzwerk) zur Unterstützung und Beratung von Menschen mit Demenz aufzubauen: (1) Kontinuierliche Trägertreffen aller Kooperationspartner, (2) Steuerungsgruppentreffen zur Abstimmung des Wissenschafts-Praxis-Transfers und (3) gemeinsame öffentlichkeitswirksame Unternehmungen, Projektworkshops, Tagungen und Gesundheitsmessen. Im Rahmen der Modifizierung des Forschungsdesigns zu einer rein qualitativ ausgerichteten Vorgehensweise wurden zehn narrative Interviews geführt, um die subjektiven Sichtweisen und Erfahrungsschätze pflegender Angehöriger demenziell Erkrankter aus einem weiteren Blickwinkel zu betrachten. Für narrative Interviews wird speziell die offene Form der Interviewführung sowie ein hohes Maß an Selbstbestimmung auf Seiten der Interviewten als kennzeichnend erachtet. Im Rahmen der durchgeführten Interviews können Erklärungsphase, Stehgreiferzählung, Nachfragephase und Bilanzierung unterschieden werden. Die Stehgreiferzählung, das Kernstück narrativer Interviews, wurde durch folgenden Erzählstimulus angeregt: „Erinnern Sie sich bitte zurück an die Zeit, als Sie bei Ihrem Angehörigen erste Veränderungen festgestellt haben. Wie fing damals alles an und wie

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hat sich das bis zum heutigen Tag entwickelt?“ Die Interviews wurden mit einer Software für qualitative Datenanalyse (MAXQDA) in Form einer strukturierenden und qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2016) bzw. Mayring (2015) ausgewertet (vgl. auch Gläser/ Laudel 2010). Die Kategorien wurden rein induktiv, das heißt aus dem Transkriptionsmaterial gewonnen. Der Hilfesuchverlauf stand meist zu Beginn der Erzählung und förderte zu Tage, dass eine zügige Diagnosestellung und adäquate Informationen über das Versorgungsnetzwerk ausbleiben. Kenntnisse über das Krankheitsbild sowie ein Verständnis demenzspezifischer Symptome sind bei den Befragten nur zum Teil vorhanden. Aus folgender exemplarischer Aussage geht Letzteres hervor: „Ich war verunsichert. Natürlich, ich wusste ja nicht, wie soll ich jetzt mit meiner lieben Frau umgehen? Verletzen wollte ich sie nicht, das ist klar. Ich wollte auch nicht sagen, ‚ja du hast ja wohl nicht alle beinander oder was‘?“ (A3_50). Alle pflegenden Angehörigen gaben an, dass die Pflege sich nicht durch Leistungen der Pflegekasse vollständig finanzieren lässt. Häufig wurden Leistungen der Pflegekassen zunächst abgelehnt, wie etwa aus folgendem Ankerbeispiel hervorgeht: „Und dann haben sie mir die Pflegestufe das erste Mal abgewiesen und des krieg ich jetzt erst seit letztem Jahr“ (A7_1148). Zudem wurde der Aufwand, der für die Beantragung von bestimmten Pflegeleistungen betrieben werden muss, als Hürde und Belastung benannt. Ein weiteres Problem kann in der sozialen Isolation pflegender Angehöriger demenziell Erkrankter identifiziert werden. Zeit für Freizeit und Erholung verneinten fast alle interviewten Personen. Exemplarisch kann das an folgendem Zitat verdeutlicht werden: „Äh, ich bin zwei bis dreimal die Woche gewalkt und mir samma ganz viel geradelt im Sommer. Ja und dann so vereinsmäßig gab es ja auch Abende, aber des geht halt jetzt alles nimmer“ (A4_891). Im Rahmen der narrativen Interviews kristallisierte sich in besonderer Weise heraus, wie stark mit einer Demenzerkrankung die Themen Abschiednehmen und Verlust des Gesprächspartners verknüpft sind. Auch das Thema Rollenumkehr erweist sich in diesem Kontext als ein Muster, das mehrfach benannt wurde: „Also mir is schon so gegangen, dass i mir gedacht hab, des is mei Vater ja, aber es hod sich ja komplett alles jetzt umgedreht“ (A9_1361). Die Motivation zur Pflegeübernahme wird überwiegend damit begründet, dass es sich dabei um eine nicht in Frage zu stellende Selbstverständlichkeit handelt. Soziale Verpflichtung und Fürsorge spielen ebenfalls eine Rolle. Insbesondere bei Angehörigen der älteren Generation waren diese Aspekte sehr ausgeprägt. Exemplarisch kann das an folgendem Zitat verdeutlicht werden: „Naja und dann hab ich halt beschlossen, mich hier um sie zu kümmern, da sie ja für mich doch das Liebste ist, was ich in meinem Leben erfahren durfte. Wir sind mittlerweile 57 Jahre verheiratet und ja, da dachte ich mir, so salopp, gut, das alles Gute, was Sie mir getan hat, das gebe ich ihr jetzt zurück“ (A5_98). Die Pflege- und Betreuungs-

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aufgaben wurden im Vergleich zu den leitfadengestützten Interviews im geringeren Umfang erhoben, da sie nicht im Vordergrund der Untersuchung standen. Trotzdem kann auch in Bezug auf die Ergebnisse der narrativen Interviews festgehalten werden, dass die Pflege sich bei einem Großteil der Befragten äußerst aufwendig gestaltet und zu einer anhaltenden Überforderungssituation mutiert. Professionelle Unterstützung wird selten in Anspruch genommen und es herrscht darüber hinaus eine gewisse Unsicherheit bei der Inanspruchnahme von Unterstützungsleistungen. Eine besondere Skepsis zeigt sich hinsichtlich der stationären Pflege, die die meisten Interviewten nach Möglichkeit vermeiden möchten, obwohl sich ihre Angehörigen bereits in einem fortgeschrittenen Demenzstadium befinden. Dies kann abschließend an folgender Aussage dargelegt werden: „Und mir hoffen, dass man so lange wies geht daheim behalten können, weil ich hab ja selber schon im Altenheim gearbeitet. Und dass da ned immer so schön is, des woas a jeder oder hat a jeder schon mal was gehört davon“ (A10_88). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die narrativen Interviews eine sinnvolle Ergänzung des bisherigen Methodenrepertoires darstellten, weil durch die selbstbestimmte Erzählung der Interviewten einige neue Erkenntnisse über die Situation pflegender Angehöriger demenziell Erkrankter gewonnen wurden.

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Zentrale Befunde: Organisation und Vernetzung von Pflegearbeit

Im Hinblick auf das angestrebte Verbundsystem zur Verbesserung der lokalen Versorgung von Menschen mit Demenz und deren Angehörigen kann festgehalten werden, dass es gelungen ist, den Austausch und die Vernetzung relevanter Versorgungsdienstleister zu verbessern, was zu einem intensiveren Informationsfluss untereinander führte. Weiterhin zeigte sich die Vernetzung im Hinblick auf bestehende Angebote, indem neue Kooperationen entstanden und in abgestimmter Vorgehensweise Versorgungslücken geschlossen werden konnten. Das betrifft insbesondere die Etablierung folgender Unterstützungsangebote für die genannte Zielgruppe: (1) Ausbau der niedrigschwelligen Angebote, (2) Entwicklung neuer Beratungsformen, (3) Angebote zur gesellschaftlichen und gesundheitlichen Teilhabe zur Verbesserung der psychosozialen Gesundheit, (4) Entwicklung eines Konzepts zur Etablierung einer zentralen Demenz-Beratungsstelle. Die wissenschaftliche Begleitforschung förderte zu Tage, dass pflegende Angehörige demenziell erkrankter Menschen ganz erheblichen Belastungen psychischer und körperlicher Art ausgesetzt sind. Zu nennen sind insbesondere Versagensängste, Gewissenskonflikte (z.B. im Hinblick auf die Inanspruchnahme professioneller Pflege), Rückenbeschwerden, Trauer, Überforderungskrisen (z.B. Burn-out-Syndrom und depressive Symptome), Belastungen durch spezifische

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Verhaltensweisen, die aufgrund der demenziellen Erkrankung auftreten sowie eklatanter Schlafmangel. Überdies kann festgehalten werden, dass die Zielgruppe teilweise große Informationsdefizite und/oder Vorbehalte im Hinblick auf die Nutzung von Unterstützungsangeboten und die Durchsetzung ihrer rechtlichen Ansprüche hat. Ferner stellte sich heraus, dass eine Vereinbarkeit von Pflege und Beruf bei fast allen Angehörigen, die noch berufstätig waren, kaum zu organisieren ist. Einige Interviewpartner_innen berichteten, dass sie ihren Beruf ganz oder teilweise zur Realisierung der Pflege aufgeben mussten. Das von vielen pflegenden Angehörigen wahrgenommene gesellschaftliche Stigma „Demenz“ und die Reaktionen des sozialen Umfeldes münden zum Teil in eine soziale Isolierung. Auch stellte sich heraus, dass bestimmte Unterstützungsangebote nicht ausreichend vorhanden oder nur mit sehr viel Aufwand für die pflegenden Angehörigen zu erreichen sind (z.B. Kurzzeit-, Tages- und Nachtpflegeangebote, spezialisierte Demenz-Beratungsangebote, auf Demenz spezialisierte Pflegeheime etc.). Die Finanzierung der Pflege allein über die Leistungen der Pflegekasse reicht zudem in aller Regel nicht aus, was die Inanspruchnahme von Privatvermögen erforderlich macht. Ferner bestehen aus der Perspektive pflegender Angehöriger vielfach Hürden bei der Beantragung von Leistungen (z.B. Überforderung im Kontakt mit dem medizinischen Dienst der Krankenkassen, MDK; hoher „Papieraufwand“, der neben der Pflege organisiert werden muss). Zudem äußerten sowohl pflegende Angehörige als auch Expert_innen aus dem Bereich der Pflege, dass die ärztliche Betreuung und diagnostische Abklärung zum Teil Mängel aufweist (z.B. späte Diagnosestellung und nur wenige stationäre Plätze zur medikamentösen Einstellung). Die exemplarisch aufgezeigten Ergebnisse verdeutlichen, dass pflegende Angehörige eine höchst vulnerable Gruppe sind, die durch das bestehende Versorgungsystem nicht ausreichend Unterstützung erfährt. Gleichzeitig stellen demenzbezogene Verbundsysteme, die sich aktiv mit der Schließung von Versorgungslücken auseinandersetzen eine Bereicherung dar, weshalb die Etablierung dieses Konzept auch in anderen Regionen begrüßenswert wäre. Das sog. „5-Säulen-Programm“ fungierte über die gesamte Projektlaufzeit als übergeordnetes Modell zur Verbesserung der Pflege- und Versorgungssituation von Menschen mit Demenz und ihren pflegenden Angehörigen in Landshut und wurde über den Projektzeitraum mehrfach ausdifferenziert: Säule 1 – Entwicklung eines auf Demenz spezialisierten Informations- und Beratungssystems; Säule 2 – Ausbau eines flexiblen ambulanten Betreuungsangebots unter besonderer Berücksichtigung von niedrigschwelligen Hilfen; Säule 3 – Ausbau eines Tagesstättensystems zur Erweiterung der teilstationären Versorgung; Säule 4 – Etablierung von Angeboten zur sozialen, kulturellen und gesundheitlichen Teilhabe von pflegenden Angehörigen und Menschen mit Demenz; Säule 5 – gezielte Öffentlichkeitsarbeit zur lokalpolitischen Verankerung integrierter Demenzversorgung im Sinne kommunaler Sozialstaatlichkeit. Im letzten Abschnitt des Projektes

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ging es vor allem darum, das Fortbestehen des 5-Säulen-Programms für die Zeit nach dem Projektabschluss zu sichern, die nicht mehr von der Hochschule Landshut moderiert und betreut wird. Im Jahr 2015 lag daher der Schwerpunkt auf der Erarbeitung eines Konzepts zum Fortbestehen eines Praxisverbundes DemenzContext Landshut. Ende 2014 gestaltete sich der Praxisverbund mit den verschiedenen Arbeitspaketen der Abbildung 1 entsprechend.

Abb. 1: Entlastungsangebote und arbeitsteilige Fokussierung der Kooperationspartner im Rahmen des 5-Säulen-Programms

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die meisten Fortschritte in den folgenden Arbeitssäulen erzielt werden konnten: Entwicklung eines auf Demenz spezialisierten Informations- und Beratungssystems (Säule 1), Ausbau eines flexiblen ambulanten Betreuungsangebots unter besonderer Berücksichtigung von niedrigschwelligen Hilfen (Säule 2) sowie gezielte Öffentlichkeitsarbeit zur lokalpolitischen Verankerung integrierter Demenzversorgung im Sinne kommunaler Sozialstaatlichkeit (Säule 5). Im Rahmen des Demenzverbundes sind die öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten deutlich angestiegen. Zuletzt wurde beispielsweise mit Unterstützung der Hochschule Landshut ein Demenzleitfaden für demenziell Erkrankte und ihre Angehörigen entwickelt, der über das Versorgungsnetzwerk in allen relevanten Bereichen in der Stadt Landshut und ihrer Umgebung informiert. Die zentrale Demenzberatungsstelle, die bereits im zweiten Forschungsjahr ausführlich thematisiert wurde, konnte im Rahmen der Projektlaufzeit aufgrund unsicherer Finanzierungsbedingungen nicht mehr verwirklicht werden, wobei zumindest die Suche nach Geldgebern, insbesondere Stiftungen, in der Zwischenzeit deutlich vorangeschritten ist. Durch das eingerichtete Beratungstelefon „DemConLA - Hilfe bei Demenz“ im Jahr 2014 und die bisherigen Beratungsstellen (z.B. Demenzberatung der AWO Landshut) wurden jedoch nach Angaben der

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Kooperationspartner mehr pflegende Angehörige von Demenzkranken in der Stadt Landshut erreicht, was auch mit der verstärkten Öffentlichkeitsarbeit über örtliche Medien im Rahmen des Projektes zusammenhängen könnte. Deutliche Fortschritte wurden auch im Bereich der niedrigschwelligen Betreuungsangebote erzielt, sowohl hinsichtlich der Flexibilisierung von Öffnungszeiten bei einzelnen Kooperationspartnern (z.B. Betreuungsgruppe der AWO), als auch die Angebotsvielfalt und Zunahme an niedrigschwelligen Angeboten betreffend (z.B. tiergestützter und allgemeiner Besuchsdienst des Landshuter Netzwerks). Die Arbeitssäule 4 „Etablierung von Angeboten zur sozialen, kulturellen und gesundheitlichen Teilhabe von pflegenden Angehörigen und Menschen mit Demenz“ ist im Laufe des Projektes neu hinzugekommen und befand sich zuletzt noch in einer fortgeschrittenen Entwicklungsphase, wobei schon vereinzelte Angebote zur kulturellen Teilhabe in der Stadt Landshut etabliert werden konnten (insbesondere durch Arbeiterwohlfahrt Landshut und Landshuter Netzwerk). Problematisch war über die gesamte Projektlaufzeit der angestrebte Ausbau eines Tagesstättensystems zur Erweiterung der teilstationären Versorgung (Säule 3). Von Seiten der Kooperationspartner werden dabei vor allem Finanzierungshürden und die sehr hohen einzuhaltenden konzeptionellen Standards für Tagespflegeeinrichtungen angeführt. Es erscheint aus Sicht der Kooperationspartner als „nicht lohnenswert“, sich dieser Thematik stärker zu widmen, obwohl nach wie vor deutlich zu wenige teilstationäre Versorgungsplätze in Landshut verfügbar sind (26). Dieser Umstand ist für die Versorgungssituation der Stadt Landshut nach wie vor problematisch, weil Tagespflegeeinrichtungen eine wirklich effektive Entlastungsmöglichkeit für pflegende Angehörige von Demenzkranken darstellen. Es kann als wahrscheinlich angesehen werden, dass lediglich entsprechende gesetzliche Änderungen Finanzierungsanreize schaffen könnten und so die Motivation der in Frage kommenden Träger nach und nach dahingehend steigern, sich dieser Angebotsform stärker anzunehmen. Ein Großteil der Kooperationspartner entschloss sich im zweiten Quartal 2015 dazu, über die geförderte Projektlaufzeit hinaus das 5-Säulen-Programm und den Fortbestand des Praxisverbundes Demenz-Context Landshut weiterzuverfolgen. Zur Sicherstellung des Verbundes wurden zwei Maßnahmen ergriffen. Zum einen der Beschluss einer neuen Kooperationsvereinbarung und zum anderen eine gemeinsame Homepage mit einem integrierten Veranstaltungskalender aller demenzbezogenen Trägeraktivitäten. Die Kooperationsvereinbarung beinhaltet ausdifferenziert die folgenden Punkte: Leitbild und Ziele des Demenzverbundes, Maßnahmen des Demenzverbundes, Demenzverbundpartner, Inhalte und Aufgaben des Demenzverbundes, Finanzierung gemeinsamer Kosten sowie Organisation und Koordinierung des Demenzverbundes. Der Demenzverbund „Demenz-Context Landshut“ (DemConLA) wird im Leitbild als ein Zusammenschluss sozial engagierter Einrichtungen definiert, die

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es sich zur Aufgabe machen, ein lokales Netzwerk zur Beratung und Unterstützung pflegender Angehöriger von Menschen mit Demenz in der Stadt Landshut und Umlaufgemeinden aufzubauen und sich den bisherigen Arbeitspaketen des 5Säulen Programms zu widmen (Maßnahmen des Demenzverbundes). Als verpflichtend wurde die Teilnahme an vier Trägertreffen pro Jahr definiert, um sich über den aktuellen Stand der Verbundaktivtäten abzustimmen. Alle weiteren Aktivitäten werden wie bisher gemeinsam beschlossen, zudem können Arbeitsgruppentreffen in einem Kalenderjahr zur Bearbeitung konkreter Aufgaben (z.B. Öffentlichkeitsarbeit) gebildet werden (Inhalte und Aufgaben des Demenzverbundes). Darüber hinaus wurde eine kostenanteilige Finanzierung des Beratungstelefons „DemConLA - Hilfe bei Demenz“ und einer neuen Homepage bewerkstelligt. Die Organisation und Koordinierung des Demenzverbundes wird fortan im rollierenden System zu Beginn eines Kalenderjahres durch zwei Träger des DemenzContext Landshut für das laufende Kalenderjahr festgelegt.

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Problemkomplex „Care“ und herrschende Care-Regime

Das Problem im angehörigenzentrierten Umgang mit demenzkranken Menschen besteht gegenwärtig nicht so sehr in einem defizitären wissenschaftlichen Wissen, sondern vor allem in Implementierungsdefiziten hinsichtlich entsprechender Programme und Projekte. So lassen sich in Bezug auf die Dimensionen und Bedingungen des Belastungserlebens sechs Ebenen voneinander unterscheiden: (1) Ebene des körperlichen Befindens und der Gesundheit; (2) Ebene des tatsächlichen Gesundheitsverhaltens; (3) Ebene der psychischen Befindlichkeit; (4) Ebene der sozialen Beziehungen; (5) Ebene des Alltags; (6) Ebene der ökonomischen Lage. In diesem Kontext haben sich speziell zwei Interventionsrichtungen herausgebildet, die sodann in konkrete Interventionsansätze überführt werden können: (a) psychoedukative Interventionsformen und (b) psychotherapeutische Angehörigengruppen. Das bedeutet im engeren Sinne, dass die Angehörigen in der klinischen Arbeit mit demenzkranken Menschen eine ganz zentrale Rolle spielen. Die vielfältigen Belastungen und Veränderungen formen sie selbst zu einer Risikogruppe für psychische und physische Krankheiten (vgl. Gunzelmann/ Wilz 2017, S. 304-306). Genau an diesem Punkt ist anzusetzen, um weiterführende Interventionsstrategien auf lokaler Ebene zu entwickeln. Denn pflegende Angehörige leiden sehr stark unter mangelnder gesellschaftlicher Anerkennung und erhöhter sozialer Isolation. Insoweit stellt sich die Frage nach einer bedürfnisorientierten Pflegeberatung nach § 7a SGB XI (vgl. Allwicher 2010). Andererseits zeigen die Befunde der sogenannten AENEAS-Studie (vgl. Kurz et al. 2006), dass der beratenden Intervention für pflegende Angehörige, etwa

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im Rahmen der durch die Deutsche Alzheimer Gesellschaft 2002 ins Leben gerufenen Schulungsreihe „Hilfe beim Helfen“ (vgl. Schneider-Schelte 2009), relativ enge Grenzen gesetzt sind. Im Mittelpunkt stehen insoweit verbesserte Stimmung und Lebensqualität der Angehörigen sowie eine damit verbundene Zurückdrängung von Heimumzügen auf Seiten der Demenzkranken. Beide Effekte konnten jedoch in statistisch signifikanter Weise nicht nachgewiesen werden (vgl. auch Wettstein et. al. 2005). Die sogenannte EDe-Studie (Emme von der Ahe et al. 2010, 2012) kommt allerdings zu abweichenden Ergebnissen. Die neu entwickelte Schulungsreihe „Mit Altersverwirrtheit umgehen“ will konsequent bei den Bedürfnissen der pflegenden Angehörigen ansetzen. Es entwickelt sich, auch aufgrund internationaler Meta-Analysen, die Notwendigkeit einer stärker individualisierten und noch intensiveren Interventionsform in der unmittelbaren Umgebung der Teilnehmer. Aus gesundheitsökonomischer Perspektive mag eine Verzögerung oder gar Vermeidung der Heimaufnahme wünschenswert sein; was das Interesse der betroffenen Angehörigen angeht, sind nicht selten abweichende Grundkonstellationen im direkten sozialen Umfeld für eine institutionelle Versorgungsform maßgebend. Die Analyse der angehörigenbezogenen Demenzstrategien in der Stadt Landshut fördert zu Tage, dass zwar unterschiedlichste Institutionen, Instanzen und motivierte Personengruppen am Werke sind, diese aber nicht auf eine alle Aktivitäten einbindende und koordinierende Netzwerkstruktur zurückgreifen können. Nun ist dieser Umstand, und das bezieht sich mindestens auf den nationalstaatlichen Kontext, angesichts der post-wohlfahrtstaatlichen Transformation (vgl. Kessl 2009) und der damit einhergehenden zunehmenden Konkurrenz zwischen öffentlichen, freien und privatwirtschaftlichen Trägern, wenig erstaunlich. Bei nüchterner Betrachtung ergeben sich indes für alle beteiligten Instanzen entsprechende Handlungsspielräume und Gestaltungsmöglichkeiten, die genutzt werden sollten. Dringend geboten erscheint insbesondere die Überwindung der starren Grenzen zwischen ambulanten und stationären Versorgungslogiken im Bereich der Demenz (vgl. Klie et al. 2005). Die Studie „Community Health Assessment – Stadt Landshut“ (Kurka-Wöbking 2010) geht der Forschungsfrage nach, wie die Stadt Landshut ihre älteren Mitbürger_innen mit einem (potentiellen) Hilfe- und Pflegebedarf versorgt. Die aus dem amerikanischen Raum stammende Methode „Community Health Assessment“ (CHA), die dort im Bereich des Community Health Nursing Verwendung findet, dient dabei als ein nützliches Instrument, das in sozial- und gesundheitspolitischer Hinsicht Aufschluss gibt über eine definierte Bevölkerungsgruppe mit einem entsprechenden Hilfe- und Unterstützungsbedarf. Insoweit kann dieser Ansatz als Grundlage für weitere Planungen und Prozesse im Sozial-, Pflege- und Gesundheitsbereich herangezogen werden.

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Aus den Ergebnissen der Datenanalyse der Studie erscheint die folgende Auswahl in Bezug auf die Versorgung der (potentiellen) Hilfe- und Pflegebedürftigen zentral: (1) Die Stadt Landshut verfügt aufgrund der auch zukünftig prognostizierten Zunahme der Bevölkerung über ein potentiell höheres Pflegepotential; (2) das medizinische Versorgungsniveau in Kliniken der Stadt Landshut ist als hoch einzustufen. Dies gilt auch für das Bereitstellen von Plätzen in stationären Senior_inneneinrichtungen; (3) in den Projekten Betreutes Wohnen, Mehrgenerationenhaus, Freiwilligen-Agentur, Soziale Stadt und dem Gesprächskreis Seniorenarbeit wird ein Koordinations- und Vernetzungspotential gesehen; (4) im Bereich der Versorgungsstrukturen wurde in der Stadt Landshut eine extrem erhöhte Versorgungsanzahl in stationären Dauerpflegeeinrichtungen ermittelt. Die Auslastung dieser Einrichtungen liegt mit 85,9% knapp 3% unter dem Bundesdurchschnitt; (5) auffällig ist für die Stadt Landshut eine höchst niedrige Anzahl an Pflegegeldempfänger_innen (29,1%) mit 17% unter dem Bundesdurchschnitt; (6) die Unübersichtlichkeit der ambulanten Pflegelandschaft führt zu Irritationen und Unsicherheiten bei den (potentiellen) Leistungsnehmer_innen und deren Angehörigen; (7) die zwar in Form von „Insellösungen“ in der Stadt Landshut vorhandenen, aber nicht koordinierten und kommunal gesteuerten Informations-, Beratungs- und Versorgungsstrukturen sprechen für die Implementierung eines Pflegestützpunktes, welcher potentiell auch kommunal verortet werden sollte, um einer Daseinsvorsorge für die ausgewählte Community nachzukommen. Ziel eines solchen Pflegestützpunktes wäre eine möglichst quartierbezogene sowohl interdisziplinäre, als auch träger, einrichtungs- und referatsübergreifende Zusammenarbeit unter Einbezug des bürgerschaftlichen Engagements. Die diesbezüglich zu erwartenden synergetischen Effekte können einerseits die Versorgung älterer Mitbürger_innen mit (potentiellen) Hilfe- und Pflegebedarf verbessern und deren längeren Verbleib im häuslichen Umfeld bewirken, anderseits aus finanzieller Sicht eine kostengünstigere Alternative zur stationären Dauerpflege finden und implementieren (vgl. Kurka-Wöbking 2010, S. 134 f.). Die in Deutschland herrschenden Care-Regime in der Altenpflege können unter dem Dach des Subsidiaritätsmodells subsummiert werden. Die Hauptlast der Pflege- und Sorgearbeit liegt im Normalfall bei der Familie. Während die stationäre Unterbringungsquote der über 65-Jährigen vergleichsweise hoch ausfällt, ist der Anteil derjenigen, die mittels ambulanter Dienste versorgt werden, relativ niedrig. Das Cluster der informellen, privat geleisteten Sorgearbeit ist insoweit die entscheidende Komponente. Diese wird flankiert durch staatliche Leistungen, soziale Dienste und unterstützenden Einrichtungen, die in erster Linie von den großen Wohlfahrtsverbänden (Caritas, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt) gestellt werden. Insgesamt betrachtet muss allerdings immer noch davon ausgegangen werden, dass sich die deutschen Care-Regime durch eine deutliche Familienorientierung

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nach dem Prinzip der Subsidiarität kennzeichnen lassen (vgl. Auth 2017, S. 123125; Theobald 2014).

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Zusammenfassung und Ausblick

Das Forschungsprojekt „DemConLA“ fokussierte in erster Linie pflegende Angehörige und lokale Netzwerk- und Versorgungsstrukturen. Es konnte erreicht werden, dass die Partner der Wissenschafts-Praxis-Kooperation (WPK) ein funktionierendes Entlastungsangebot und eine arbeitsteilige Fokussierung im Rahmen des 5-Säulenprogramms aufbauen konnten. Die Stadt Landshut verfügt jetzt über ein Modellprogramm „Demenz“, das seine Strahlkraft zumindest im Raum Niederbayern entfaltet. Das Programm ist, gerade was eher ländlich strukturierte Regionen betrifft, bundesweit übertragbar. Das Vorhaben „DemConLA“ hat gezeigt, dass auf lokaler Ebene die Einrichtung eines Versorgungssystems für demenzkranke Patient_innen, welches die pflegenden Angehörigen in den Mittelpunkt stellt, in grundsätzlicher Weise auf erfolgversprechende Perspektiven verweist. Wichtig ist dabei die ressourcenbezogene Arbeitsteilung, die jeweils auf die Schwerpunktsetzung der beteiligten Verbundpartner sowie ihre entsprechende Koordination abstellen sollte. Aufgrund der durch das Projekt „DemConLA“ initiierten Verbundstruktur wird sich die Unterstützung pflegender Angehöriger in der Stadt Landshut weiter merklich verbessern. Das wird sich bereits für den Zeitraum bis 2020 nachweisen lassen. In wirtschaftlicher Hinsicht dürfte es zu einer Verlängerung der häuslichen Pflege und zu einer Verminderung der kostenintensiveren stationären Pflege kommen. Langfristig muss allerdings auch im ländlichen Raum von einem tendenziell abnehmenden informellen Pflegepotential ausgegangen werden. Der Demenz-Context Landshut wird mittelfristig (bis 2025) eine Modellfunktion für ländlich strukturierte Regionen in Deutschland einnehmen können. Das betrifft insbesondere die Kooperationsstrukturen innerhalb des 5-Säulen-Programms. Wichtig ist dabei die Orientierung an einem möglichst lückenlosen Versorgungssystem, das die gesamte Bandbreite aller Pflegetypen abdeckt. Auf diese Weise könnte „DemConLA“ eine Art von „Prototyp-Funktion“ entwickeln. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass am Forschungsinstitut „Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung“ (IKON) diverse Anschlussprojekte geplant sind. Diese sollen sich insbesondere auf die Aktivitäten des Innovationsfonds beziehen, der vom Bundesministerium für Gesundheit ab 2017 aufgelegt worden ist. Weiterhin ist darauf zu verweisen, dass hinsichtlich des aufgebauten Demenznetzwerkes in der Stadt Landshut noch erheblicher Ergänzungs- und Erweiterungsbedarf besteht. Deshalb ist eine weitere Stärkung des wissenschaftlichen Know-hows

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erforderlich, um zu einer Effizienzsteigerung im Bereich der eingesetzten ökonomischen Ressourcen zu gelangen. Da die Forschungsressourcen innerhalb des Projekts ohnehin sehr knapp bemessen waren, wurden jene Forschungsschritte, die wenig Aussicht auf Erfolg versprachen, schnellstmöglich modifiziert. Das bezog sich etwa auf eine vollstandardisierte Erhebung in Bezug auf pflegende Angehörige mittels Fragebogen, die bereits frühzeitig eingestellt wurde, da die notwendige Adressenzielgröße (ca. 200) nicht zu erreichen war. Das Forschungsdesign wurde daraufhin komplett auf qualitative Verfahren umgestellt. Die Programmierung von Pflegearbeit in Deutschland unterliegt nach wie vor einer Privatisierungslogik im Kontext eines neoliberalen Reproduktionsregimes (zu Neoliberalismus instruktiv: Brown 2015; Mirowski 2015). Dabei sind sämtliche Formen der Pflegearbeit von der professionellen bis zur informellen Variante durch eine „Wert-Abjektion“ gekennzeichnet (Müller 2016), die sich aus geringer Entlohnung bzw. unbezahlter Arbeit, Überforderung, Diskriminierung, sozialer Isolation und Ausgrenzung speist. „Das Leitbild ist nicht mehr das male-breadwinner-, sondern das adult-worker-Modell, bei dem alle Erwachsenen einer Lohnarbeit nachgehen. Gleichzeitig ist die soziale Reproduktion im globalen Norden durch Reprivatisierungen vormals sozialstaatlich organisierter Elemente geprägt (z.B. im Bereich Gesundheit, Bildung etc.), durch Ökonomisierung und damit etwa durch Einzug von Wettbewerbskriterien in vormals wohlfahrtsstaatliche Organisationen und durch Kommodifizierung, das bedeutet, dass vormals nicht-warenförmig geleisteten Care-Tätigkeiten ‚zur-Ware-Werden‘“ (ebda., S. 88; Hervorhebungen im Original). Es bildet sich eine ganze „Care-Industrie“ heraus, die die komplette Palette von Pflegedienstleistungen zwar anbietet, dabei aber neue soziale Ungleichheiten im Rahmen eines immer größer werdenden Kostendrucks herausbildet: „Resümierend kann daher festgehalten werden, dass die soziale Reproduktion und Care-Arbeit im neoliberalen Kapitalismus zwar in vielfältiger Weise anders als im Fordismus organisiert ist, sich aber durch die Konstante auszeichnet, dass große Teile dieser Arbeit als abjektive Arbeit unbezahlt organisiert sind“ (ebda., S. 91). Im Care-Sektor laufen unbezahlte und prekär bezahlte Arbeit häufig zusammen, so dass es zu doppelten Benachteiligungen und damit verbundenen Ausgrenzungen kommt, in die nicht selten migrantische Care-Arbeiterinnen involviert sind (vgl. Lutz/ Palenga-Möllenbeck 2014). Professionelle Sorgearbeit unterliegt einem immensen Kostendruck, da sie als nur sehr eingeschränkt rationalisierbar und wenig produktiv eingestuft wird. Das Konzept der „kapitalistischen Landnahme“ scheint insoweit geeignet, auf diesem schwierigen Terrain theoretische Aufklärung leisten zu können (vgl. Dörre et al. 2014). Ohne das Modell an dieser Stelle auch nur ansatzweise ausrollen zu können, seien, gleichsam stellvertretend, fünf Punkte genannt, die es weiter zu explizieren gilt (vgl. ebda., S. 118-120): Die Abwertung bezahlter Sorgeleistungen

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wird über eine Wettbewerbssteigerung des Exportsektors weitgehend kompensiert; geschlechtsspezifische Ausgrenzungen dieser Arbeitsdomäne von Frauen bleiben unberührt (1). Jenseits von Haushalten mit hohem Einkommen wird CareWork zu einer beständigen Herausforderung unter den Voraussetzungen eines staatlichen Pflegeregimes (2). Sorgearbeiten erzeugen in ihrer Vielschichtigkeit eine Art „Balance-Imperialismus“ (ebda., S 119; Negt/ Kluge 1993), da die prekären Bedingungen dieser Reproduktionsarbeit zu beständigen Störungen gesellschaftlicher Kohäsion führen (3). Die im Reproduktionssektor bestehenden Ausbeutungsverhältnisse verstärken noch jene Prekarisierungsprozesse, die bereits im Produktionsbereich zu beobachten sind und stellen von daher ein zusätzliches Mobilisierungshemmnis dar (4). Dass die Produktivität von Sorgeleistungen in kapitalistischer Verwertungslogik als minimal eingestuft werden muss, kann nicht einfach übersprungen werden. Die Vision einer gesellschaftlichen Gleichwertigkeit von Sorgearbeit bleibt zukünftigen Auseinandersetzungen und Arbeitskämpfen überlassen (5). Abschließend kann kein Zweifel daran bestehen, dass die „Neuvermessungen“ im Bereich der Sorgearbeit gegenwärtig in vollem Gange sind (Aulenbacher et al. 2014). Die durch den Markt vorwärtsgetriebene „Landnahme“ dieses Sektors erzeugt mannigfache Widersprüche entlang der Ungleichheitsschiene von RasseKlasse-Geschlecht. Ob Digitalisierung oder Roboterisierung hier sinnvolle Richtungsalternativen darstellen können, dürfte nicht ohne eine gewisse Skepsis betrachtet werden. Schließlich zählt Care-Work zu den extrem menschenbezogenen Tätigkeitsformen, die sich einer maschinengesteuerten Transformation weitestgehend widersetzen. Wir können nicht umhin. Wir müssen uns der permanenten Abwertung von Sorgearbeit widersetzen und sie damit in gesellschaftliche Bahnen lenken, die jenseits von Markt und Staat die Prinzipien von Solidarität und Geselligkeit wiedergewinnen. Veränderungen der Gesellschaft sind noch nie durch den „Huge Bang“ ausgelöst worden. Und auch Lohnarbeit ist mitnichten die entscheidende Variante von menschlicher Arbeit insgesamt. Jenseits entfremdeter Arbeit und Warenfetisch existieren immer schon gesellschaftliche Zonen, in denen sich Menschen wirklich treffen und soziale Praxis neu definieren und hervorbringen (vgl. Resch/ Steinert 2009). Literatur AG-links-netz: Hirsch, J. et al. (2010): Sozialpolitik als Infrastruktur – Der Gesundheitsbereich. In: Kritische Justiz. Jg. 43, H. 2, S. 180-193. Allwicher, V. (2010): Welche Beratung brauchen pflegende Angehörige? Konzeption einer bedürfnisorientierten Angehörigenberatung aus pflegewissenschaftlicher Perspektive. Norderstedt: Books on Demand.

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Hubertus Beste, Anja Wiest

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Normalität und Verstrickung. Über die Notwendigkeit einer rassismuskritischen Sozialen Arbeit Veronika Knauer

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Einleitung: zur kulturalisierenden Deutung gesellschaftlicher Probleme

65,3 Millionen Menschen waren gegen Ende des Jahres 2015 auf der Flucht. Das ist die höchste Zahl, die jemals vom United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) verzeichnet wurde (Castro Varela/ Mecheril 2016, S. 12). Innerhalb Europas löste dies bei großen Teilen der Bevölkerung ein Gefühl der Bedrohung sowie Affekte der Angst und Wut aus. Diese schlugen, begleitet von Wertediskussionen, nicht selten in Hass und Gewalt um. Das Thema Zuwanderung, insbesondere die Zuwanderung geflüchteter Menschen aus den Kriegsgebieten Afrikas und Vorderasiens, prägt die politischen wie gesellschaftlichen Diskussionen der letzten Monate. Ein Thema, das im letzten Jahr immer wieder die Gemüter erhitzte ist das Thema sexualisierte Gewalt, das – folgt man den öffentlichen Debatten – von den zahlreich zugewanderten Muslimen auszugehen scheint. Auf diese Debatte möchte ich im Folgenden kurz eingehen um daran anschließend aufzuzeigen, warum rassismuskritische Soziale Arbeit und insbesondere rassismuskritische Bildungsarbeit heute notwendiger ist denn je. María Do Mar Castro Varela und Paul Mecheril stellen fest: „Die Zeit des Zelebrierens von ‚Diversity‘ scheint erstmal vorbei zu sein. Immer mehr ruft die Allgemeinheit nach Ausgrenzung, Homogenisierung und auch nach einfachen Antworten auf immer komplexer werdende soziale und politische Realitäten.“ (ebd. 2016, S. 12)

Der gesellschaftliche Umgang mit Themen wie Zuwanderung, Terror und sexualisierte Gewalt machen dies deutlich. Insbesondere die Debatten um die Ereignisse der Silvesternacht in Köln 2015/2016 zeigen eindrücklich wie tief verwurzelt rassistische Zuschreibungsmechanismen und dichotome Kategorien in unserer Gesellschaft sind. In dieser Nacht fanden am und um den Kölner Hauptbahnhof scheinbar zahlreiche sexuelle Übergriffe auf Frauen statt. Die Täter wurden allesamt als nordafrikanisch und arabisch aussehend beschrieben. In den sozialen Medien verbreiteten sich die Meldungen über diese Vorgänge in Windeseile und lösten eine erhitzte politische wie mediale Diskussionen über ‚die Muslime‘ und die scheinbar frauenverachtenden und sexistischen Werte der (vorgestellten) ‚islamischen Kultur‘ aus. Im Kontext dieser Ereignisse stellt Astrid Messerschmidt fest: © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Borrmann et al. (Hrsg.), Soziale kohäsion und gesellschaftliche Wandlungsprozesse, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25759-0_11

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„Es wäre kompliziert über diese Realitäten genauer zu sprechen, weil dann die Kontexte der Männer, die hier zu Tätern geworden sind genauer angeschaut werden müssten“ (ebd. 2016, S. 159). Stattdessen wurde „Köln“ zu einem Topos für eine angeblich zu durchlässige Migrationspolitik gemacht (ebd.). An dieser Stelle gilt es zu betonen, dass eine Kritik an sexueller Gewalt gegen Frauen, so wie sie sich hier offenbar ereignet hat, unumgänglich und wünschenswert ist und dass die Verwerflichkeit dieser Übergriffe keineswegs infrage gestellt werden soll. Aber gleichzeitig ist es notwendig, die pauschalisierenden Verallgemeinerungen und die gnadenlose mediale Kollektivverurteilung zu hinterfragen, die an den darauffolgenden Silversterfeierlichkeiten gar in handfesten rassistischen Praktiken wie die Praktik des racial profiling mündeten. „Der Affekt, den wir gegenwärtig erleben, die Intensität mit der eine ganze Gruppe abgeurteilt wird,“ bemerkte Paul Mecheril in seiner Gastrede am Neujahrsempfang 2016 in Bremen1, „kann nur erklärt werden, wenn wir uns klar machen, dass es um den Kampf um Herrschaft und Privilegien geht und dass in diesem Kampf Bilder und Vorstellungen und Imaginationen der Anderen notwendig sind“ (ebd. 2016). An dieser Imagination des Anderen – hier das „arabische“, „nordafrikanische“, „muslimische“ – wird nicht zuletzt auch das bekämpft, was ich an mir selbst nicht zulassen darf. Das erklärt, warum diese Ereignisse keine generelle Diskussion über sexuelle Gewalt an Frauen, die auch innerhalb der deutschen Mehrheitsbevölkerung stattfindet, ausgelöst hat. Das mediale Sprechen über dieses Problem konzentrierte sich stattdessen auf die kulturelle und nationale Zuordnung der vermeintlichen Täter. „Europa befindet sich aus mehreren Gründen in einer grundlegenden Krise“ so Mecheril weiter, „und inszeniert sich (…) als Ort des auserwählten Guten, der Werte, als Hort der Geschlechteregalität, zynischer Weise der Menschenrechte und im Lichte und Spiegel einer ausgeprägten und zunehmenden sozialen Ungleichheit doppelzüngig als Raum der Gerechtigkeit. Für diese Inszenierung brauchen wir die Anderen, ihre Hässlichkeit, ihre Gefährlichkeit, ihre Unzivilisiertheit“ (ebd). Auch Astrid Messerschmidt stellt fest, dass im Zusammenhang von Migration und Interkulturalität die Geschlechterkategorie immer dann zum Thema wird, wenn es darum geht, ein nationales Selbstbild aufgeklärter Fortschrittlichkeit zu behaupten (ebd. 2016, S. 162f.). Diesem Selbstbild wird das Fremdbild des muslimischen Mannes als Frauenfeind bzw. das der muslimischen Frau als Ausdruck kultureller Rückständigkeit und religiöser Unterdrückung gegenübergestellt. Indem die muslimische Frau als defizitär, unemanzipiert, rückständig und unterdrückt beschrieben wird, wird sie zum Gegenstück der europäischen aufgeklärten, Die Rede von Paul Mecheril ist online nachzulesen unter http://www.weser-kurier.de/bremen/bremen-politik-wirtschaft_artikel,-Die-Gastrede-von-Paul-Mecheril_arid,1291009.html [26.01.2017].

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Rassismuskritische Soziale Arbeit

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emanzipierten Frau. Als orientalisierte Andere symbolisiert sie das, was westliche Frauen und die ganze westliche Gesellschaft scheinbar hinter sich gelassen haben. Die Verhandlung von Geschlechterverhältnissen wird damit zur Kontrastfolie für ein europäisches Selbstbild emanzipierter Fortschrittlichkeit. Ungerechte oder gewalttätige Geschlechterverhältnisse werden nicht mehr hinsichtlich der weißen, als deutsch imaginierten Gesellschaft diskutiert, sondern auf eine angenommene muslimische Kultur projiziert. Solche Debatten sind durch Ausblendungen, Problemverschiebungen und rassistische Zuschreibungen gekennzeichnet. Wollen wir aber eine kritische Haltung gegenüber in der Gesellschaft aktuell vorherrschenden Rassismen und rassistischen Praktiken einnehmen, so müssen wir verstehen, wie Rassismus funktioniert und wie er in gesellschaftliche Strukturen eingebettet ist. Wir müssen lernen vermeintlich Normales zu hinterfragen und unser Denken sowie unsere Handlungen kritisch zu reflektieren. Nur so kann Rassismus in unserer Gesellschaft bekämpft und abgebaut werden. Einen Beitrag zu einer solchen Haltung kann eine rassismuskritische Soziale Arbeit, insbesondere die rassismuskritische Bildungsarbeit, leisten. 2

Rassismus und rassismuskritische Perspektiven

2.1 Rassismus und Rassismuskritik Im Folgenden soll zunächst geklärt werden, was Rassismus eigentlich heißt und was man sich unter einer rassismuskritischen Perspektive vorzustellen hat. Das diesem Beitrag zugrundeliegende Verständnis von Rassismus ist eines, welches Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis versteht. Das bedeutet, Rassismus ist etwas, was uns alle angeht und nicht nur das Problem einer kleinen rechtsextremen Minderheit. Es ist etwas, das wir ebenso in den Aussagen und Handlungen gebildeter Bürger_innen finden sowie in denen hochrangiger Politiker_innen (und das nicht nur in denen der sogenannten rechtspopulistischen Parteien). Rassismus bezieht sich nicht (nur) auf individuelle Vorurteile Einzelner, sondern auf allgemein wirksame Zusammenhänge, die auf generelle Muster der Unterscheidung von Menschen verweisen. Rassismus ist stets mit einer spezifischen Form der Diskriminierung bzw. Ausgrenzung verbunden, dabei ist aber nicht entscheidend, dass die Ausgrenzung oder Diskriminierung von den Akteure_innen absichtlich bzw. bewusst gemacht wird. Es geht also nicht um die Frage der Intention einzelner Individuen, vielmehr handelt es sich um eine bestimmte gesellschaftliche Struktur, in die wir eingebunden sind, innerhalb der wir sozialen Sinn (re)produzieren und durch die wir die Gesellschaft auf eine bestimmte Art und Weise wahrnehmen. Rassismus kann daher als strukturierendes Prinzip gesellschaftlicher Wirklichkeit betrachtet werden, das uns alle betrifft und das auf allen Ebenen der Gesellschaft

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sowohl (re)produziert als auch wirksam wird. In diesem System rassistischer Unterscheidungen sind wir unterschiedlich positioniert und abhängig von dieser Positionierung machen wir unterschiedliche Erfahrungen. Rassismus ist damit in der Mitte der Gesellschaft lokalisiert. Im Anschluss an Paul Mecheril und Claus Melter (2011) kann Rassismus definiert werden als „machtvolles, mit Rassenkonstruktionen operierendes oder an diese Konstruktionen anschließendes System von Diskursen und Praxen […], mit welchem Ungleichbehandlung und hegemoniale Machtverhältnisse erstens wirksam und zweitens plausibilisiert werden“ (Mecheril/ Melter 2011, S. 15f). Zudem handelt es sich um einen Rassismus, dessen vorherrschendes Thema nicht mehr die biologische Vererbung ist, sondern die Unaufhebbarkeit kultureller Differenzen. Die Unterscheidung von Menschen und ihre Einteilung in materiell und symbolisch hierarchisch geordnete Gruppen sind dabei verbunden mit der Zuschreibung von Eigenschaften und Wesensmerkmalen, welche als quasi natürlich vorgestellt und als unveränderlich verstanden werden. Dabei wird nicht mehr die Überlegenheit bestimmter Gruppen oder Völker über andere postuliert, sondern sich darauf beschränkt, die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweisen und Traditionen zu behaupten. Étienne Balibar bezeichnet dies als Rassismus ohne Rassen (ebd. 1990). Rassistische Diskriminierungs- und Distinktionspraktiken beziehen sich neben körperlichen Merkmalen auch auf kulturelle Merkmale, wie religiöse und kulturelle Symbole. Sie zielen auf Zuschreibungen und Konstruktionen, in denen ein natio-ethno-kulturell kodiertes ‚Wir‘ von einem ‚Nicht-Wir‘ (Mecheril 2012, S. 18) unterschieden wird. Rassistische Zuschreibungen produzieren und bestätigen damit – auch unabhängig von der Intention der beteiligten Akteur_innen – gesellschaftliche Dominanzverhältnisse. (Castro Varela/ Mecheril 2016, S. 16f.) Die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen beschreiben María Do Mar Castro Varela und Paul Mecheril als „fortschreitende Normalisierung rassistischer Praxis (…), eine Praxis, in der es immer selbstverständlicher wird, bestimmten Menschengruppen allgemeine Anrechte auf Formen würdevollen Lebens vermeintlich legitimer Weise vorzuenthalten“ (ebd., S. 17). Doch was bedeutet es nun, eine rassismuskritische Perspektive einzunehmen? Eine solche Perspektive fokussiert die Analyse gewöhnlicher gesellschaftlichen Verhältnisse: „Die epistemische und erkenntnispolitische Praxis der Rassismuskritik zielt darauf, zu untersuchen, in welcher Weise, unter welchen Bedingungen und mit welchen Konsequenzen Selbstverständnisse, Handlungsweisen und das Handlungsvermögen von Individuen, Gruppen und Institutionen durch Rassismus vermittelt sind sowie zu analysieren, welche Veränderungsoptionen und alternativen Selbstverständnisse und Handlungsweise, von denen weniger Gewalt ausgeht, realisierbar sind.“ (Castro Varela/ Mecheril 2016, S. 17)

Rassismuskritische Soziale Arbeit

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Mit dem rassismuskritischen Blick auf migrationsgesellschaftliche Differenzverhältnisse wird jedoch nicht behauptet, dass jeder natio-ethno-kulturell codierte Unterschied und jede Form der Ausgrenzung, Benachteiligung und Diskriminierung von rassistisch Diskreditierbaren rassistisch sei. Mit rassismustheoretischem Wissen wird es aber möglich, die zumeist eher implizit an Rassenkonstruktionen anschließenden, Unterscheidungen zu erkennen, offenzulegen und schließlich den Bedingungen ihres Wirksamwerdens nachzugehen. (ebd., S. 16) 2.2 Rassismuskritische Soziale Arbeit Aus einer solchen Perspektive heraus kann der pädagogische Umgang mit Rassismus nicht im Sinne eines Täter-Opfer-Schemas erfolgen, das nach „Schuldigen“ sucht. Es müssen vielmehr gesellschaftliche Strukturen, sowie Handlungs-, Erfahrungs- und Denkformen hinterfragt und analysiert werden. Für die Praxis der Sozialen Arbeit stellt sich dabei die Frage, inwieweit sie das System des Rassismus auf verschiedenen Ebenen stärkt, oder inwieweit stattdessen eine rassismuskritische Haltung und Handlungspraxis realisiert wird, die Ideologie und Wirkung gesellschaftlicher Rassismen aufzudecken, zu schwächen und zu verändern vermag. Empirische Studien zeigen jedoch, so Claus Melter, dass Pädagog_innen häufig wenig interessierte bis ignorante oder gar leugnende Handlungspraxen gegenüber den Adressat_innen und ihren Diskriminierungs-, Ungleichheits- und Rassismuserfahrungen an den Tag legen (ebd. 2015, S. 15f.): „Soziale Arbeit und Bildung spiegeln oftmals die Haltung der Mehrheitsgesellschaft in Bezug auf Rassismus wieder: Rassismus wird vielfach nicht thematisiert, in seiner Alltäglichkeit und institutionellen Verankerung nicht wahrgenommen, individualisiert, naturalisiert, pathologisiert oder als quasi unumgängliche Folge der allgemeinen wirtschaftlichen Rezension dargestellt.“ (ebd., S. 16)

In der pädagogischen Arbeit besteht darüber hinaus häufig die Gefahr, Rassismen als vornehmlich auf der individuellen Ebene existierend, im Sinne von Vorurteilen, wahrzunehmen. Rassismus wird dann als „falsche“ Einstellung einzelner Personen, für die diese Personen individuell verantwortlich gemacht werden, wahrgenommen. Ein solches Konzept von Rassismus greift aber deutlich zu kurz und ist nicht geeignet, bestehende Strukturen zu kritisieren und zu verändern. Versteht man Rassismus, wie oben beschrieben, als Strukturierungsmechanismus gesellschaftlicher Wirklichkeit, der alle Mitglieder dieser Gesellschaft betrifft und beeinflusst, so wird die „Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein“ (Kalpaka/ Rätzel 1986) deutlich und damit auch die Notwendigkeit, die gesellschaftlichen Muster der Unterscheidung von Menschen zu erkennen und zu hinterfragen. Als Mitglieder dieser Gesellschaft begegnen wir uns alle in einem Raum, der auf unterschiedlichen Ebenen (individuelle, strukturelle, institutioneller Ebene) mit Rassismen durchzogen ist. Keiner bleibt unbeeinflusst von den rassistischen Wissensbeständen, Praxen und Diskursen, die uns umgeben. Rassismus ist nicht nur

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in gewalttätige Übergriffe, sondern oftmals sehr subtil in Formen des Alltagshandelns eingebettet. Verstrickt in rassistische Strukturen, Diskurse und Praxen sind Individuen und soziale Gruppen – in unterschiedlichem Maße – auch immer an der Reproduktion der rassistischen Verhältnisse beteiligt. In Anlehnung an den aus der Geschlechterforschung stammenden Begriff des doing gender spricht Wiebke Scharathow daher diesbezüglich von einem „doing racism“ (Scharathow 2011, S. 16). Dennoch ist unsere Handeln nicht vollständig durch das Eingebunden sein in rassistische Strukturen determiniert. Rassistische Deutungsmuster stehen in Konkurrenz mit alternativen, bei Individuen vorhandenen Deutungsmustern und wir können uns, im Rahmen unserer Möglichkeiten, bewusst zu ihnen verhalten. Diese Räume, in denen kritisches, widerständiges und solidarisches Handeln von Subjekten möglich ist, gilt es zu erkennen, pädagogisch zu nutzen und auszuweiten. (ebd., S. 17) Eine rassismuskritische Soziale Arbeit bzw. Bildungsarbeit muss den Anspruch haben, die Mechanismen zu erkennen, die hinter rassistischen Zuschreibungen, Hierarchisierungen und Benachteiligungen stehen und zu hinterfragen. Sie muss zur kritischen Reflektion von Denken und Handeln anregen und Handlungsalternativen aufzeigen. Pädagog_innen stehen in diesen Prozessen selbstverständlich nicht außerhalb des Diskurses. Sie sind ebenfalls auf eine bestimmte Weise im gesellschaftlichen Bedeutungsgefüge positioniert und müssen diese Positionierung in ihrer pädagogischen Arbeit beständig hinterfragen und reflektieren. Betrachtet man den Umgang mit bestimmten Ereignissen in Deutschland, wie ich sie zu Beginn geschildert habe, so wird schnell deutlich, dass hier ein großer Handlungsbedarf besteht. Im Bereich der Sozialen Arbeit ganz allgemein, wie im Bereich der pädagogischen Bildungsarbeit im Speziellen sehe ich sowohl die Notwendigkeit, als auch die Möglichkeit diesen Entwicklungen zu begegnen, da die Soziale Arbeit eine wichtige Akteurin bei der Bekämpfung von Ungleichheit und Diskriminierungsverhältnissen ist. Rassismuskritische Soziale Arbeit und Bildung meint in dieser Hinsicht zweierlei: Zum einen eine rassismuskritische (Selbst-)Reflektion der pädagogischen Praxis und zum anderen die Vermittlung rassismuskritischer Perspektiven in der praktischen Bildungsarbeit. Auf beide Dimensionen rassismuskritischer Sozialer Arbeit werde ich im Folgenden genauer eingehen.

Rassismuskritische Soziale Arbeit

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Rassismuskritische Reflexion der pädagogischen Praxis

3.1 Soziale Arbeit in gesellschaftlichen Macht- und Dominanzverhältnissen Soziale Arbeit findet niemals in einem Vakuum statt, sondern ist stets eingebettet in einen kulturellen, politischen und rechtlichen Kontext. Durch diesen wird auch ihr Wirkungsbereich bestimmt, ebenso wie der konkrete Hilfeauftrag und die Ressourcen, die dabei zum Einsatz kommen. Staatliche und gesellschaftliche Machtstrukturen sind ein wichtiger Teil dieses Kontextes, sie geben den Rahmen für die Praxis vor und delegieren Bildungsaufträge, Kontrollaufgaben und Care-Tätigkeiten an die Soziale Arbeit. Der Umgang mit dem Thema ‚Macht‘ innerhalb der Sozialen Arbeit ist jedoch durch Ambivalenz geprägt (Großmaß 2015, S. 215): „Das Thema ‚Macht‘ trifft in auffälliger Weise den Kern der professionellen Identität, was immer dann deutlich wird, wenn die berufliche Praxis angesprochen ist. So löst die ‚Machtfrage‘ im kollegialen Austausch häufig Irritationen aus – als habe man etwas falsch gemacht, wenn man überhaupt mit Macht in Verbindung gebracht werden kann.“ (ebd.)

In der Praxisreflexion positionieren sich die meisten Praktiker_innen im Bereich potentieller Ohnmächtigkeit, in dem sie sich von Mittelkürzungen, neoliberaler Politik und geringer gesellschaftlicher Wertschätzung betroffen sehen, nicht aber als machtvolle politische Akteure. Insgesamt, so stellt Ruth Großmaß fest, ist die Analyse des Verhältnisses der Sozialen Arbeit zur Macht keine die Profession selbstverständlich begleitende. Sie bleibt in der Regel der ‚kritischen Sozialen Arbeit‘ vorbehalten, ohne von da aus in die fachliche Diskussion und die konkrete Praxis zurückzuwirken (ebd. 2015, S. 215. In vielen Bereichen der Sozialen Arbeit ist jedoch erkennbar, dass die Soziale Arbeit machtvolle gesamtgesellschaftliche Funktionen erfüllt. Zu nennen seien hier beispielsweise eine staatliche Befriedungsfunktion im Hinblick auf Armut und soziales Elend oder Steuerungsfunktionen hinsichtlich Bildung, Gesundheit, Arbeits- und Marktfähigkeit. Die soziale Arbeit als Profession ist also beteiligt an staatlichen Lenkungsinteressen, die sich an so etwas wie „Normalität“ orientieren2. Viele Methoden der sozialen Arbeit lassen sich daher auch als Techniken beschreiben, mit denen ‚normale Jugendliche‘, ‚normale Familien‘, ‚normale Gemeinwesen’, etc. (re)produziert werden. (ebd., S. 218ff.) Vertreter_innen der Sozialen Arbeit sind damit als Akteur_innen an der Lenkung von Normalisierungs- und Inklusionsprozessen der sich liberalisierenden modernen Staaten beteiligt. Sie sind dabei auf verschiedenen Ebenen in

Bevölkerungen sind dann regierbar, wenn die Individuen in Verhalten, Lebensstil, und Selbstwahrnehmung zu einer Art Konformität gebracht werden können, die für das Arbeitsleben, die Kultur und die Reproduktion der Gesellschaft ‚passt‘. (Großmaß 2015, S. 223f.) 2

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gesellschaftliche Machtstrukturen eingebunden. So leisten sie beispielsweise einen Beitrag zur Stabilisierung von Machtverhältnissen als sozialstaatlich etablierte Struktur, oder sind beteiligt an der Definition von sozialen Problemen, prekären Bevölkerungsgruppen sowie Einsatzstellen für soziale Hilfeleistungen (ebd., S. 224). Will die Soziale Arbeit also innerhalb dieses Kontextes herrschafts- und rassismuskritisch agieren, so müssen Räume geschaffen werden, in denen verstärkt Zusammenhänge zwischen dem pädagogischen Handeln und den strukturellen Rahmenbedingungen des Handelns hergestellt werden und die dadurch zu Tage beförderten Widersprüche und Dilemmata sichtbar, thematisierbar und reflektierbar gemacht werden können (Kalpaka 2011, S. 35f.). 3.2 Ausblendungen und Problemverschiebungen Doch wie wird in der Praxis der Sozialen Arbeit mit diesem Dilemma umgegangen? In medialen und gesellschaftlichen Diskursen werden Menschen mit (zugeschriebenem) Migrationshintergrund häufig als nicht integrationswillig und als nicht aktiv repräsentiert. Diese Repräsentationen finden (meist unbewusst) als interpretatives Repertoire Eingang in die Erklärungsmuster von Pädagog_innen. Das kann jedoch dazu führen, dass aus einem pädagogischen Problem, z.B. Schwierigkeiten mit den Eltern in einem pädagogischen Kontext, ein ethnisch-kulturelles gemacht wird: „Als kulturelles Problem – nämlich das der Eltern mit dem Migrationshintergrund – scheint es nicht weiter bearbeitungspflichtig zu sein, da es scheinbar außerhalb der Verantwortung der Fachkräfte liegt“ (Wagner/ Sulzer 2011, S. 218). Die Folge einer solchen Umdeutung des Problems führt nicht selten zu einer (ungewollten) Benachteiligung der Kinder, da die Ursachen der Probleme nicht behoben und die Kinder daher auch nicht richtig gefördert werden können. Auch wenn dies nicht von den Pädagog_innen intendiert ist, so tragen diese Mechanismen im Kontext weißer Dominanzverhältnisse dazu bei, Zugänge für Kinder mit (vermeintlichem) Migrationshintergrund zu gesellschaftlichen Ressourcen wie Bildung zu erschweren (ebd.). Die Reaktionen auf solche scheinbar kulturellen Probleme liegen seitens der Pädagog_innen häufig in der Förderung von ‚interkultureller Kompetenz‘. Gegenwärtige Ansätze und Vermittlungsformen ‚interkultureller Kompetenz‘ sind jedoch häufig blind für die Thematisierung und Reflexion gesellschaftlicher Machtverhältnisse im Allgemeinen und Rassismus im Speziellen. Solche Ansätze erweisen sich dann aber eher als Teil des Problems, da sie auf das Verstehen der ‚Anderen‘ oder der ‚anderen Kultur‘ ausgerichtet sind und nicht an der pädagogischen Praxis und den Alltagssituationen innerhalb der Einrichtung anknüpfen. Auf diese Weise werden die problematischen kulturalisierenden Deutungen pädagogischer oder anderer Probleme lediglich verstärkt (Wagner/ Sulzer 2011, S. 219).

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Werden Pädagog_innen auf eine diskriminierende Praxis hingewiesen, fühlen sie sich oft angegriffen und verteidigen sich und ‚ihre‘ Institution, statt reflexiv mit der Kritik umzugehen. Oftmals sehen sie sich gar nicht als Teil des Systems, in der Beschreibung konkreter Praxis sowie bei der Suche nach Lösungen argumentieren und handeln sie aber systemimmanent, indem sie auf vorherrschenden Deutungen und Problemerklärungen zurückgreifen, welche jedoch wiederum institutionelle Diskriminierung hervorrufen und absichern (Kalpaka 2011, S. 33): „Pädagoginnen und Pädagogen handeln im Kontext von Institutionen, die in ihrem Selbstverständnis weiterhin ethnozentristisch, monokulturell, monolingual sind, die der Tatsache und der Zusammensetzung der Einwanderungsgesellschaft nicht entsprechen. (…) Maßnahmen, die aus der Notwendigkeit entstanden sind mit Migrationsfolgen umzugehen sind meist additiv drangehängt, haben den Status von besonderen Maßnahmen, wecken die Hoffnung, dass sie vorübergehend sind, und haben in den seltensten Fällen die Funktion , das ‚Normale‘, das Bestehende grundsätzlich zu erschüttern oder zu verändern“ (ebd.).

Da Heterogenität innerhalb der Einrichtungen nach wie vor nicht als Normalität aufgefasst wird, werden Kinder oder andere Klient_innen mit vermeintlichem Migrationshintergrund meist als Belastung bzw. als Problem betrachtet. Die Lösung wird in Homogenisierungen gesucht – Pädagog_innen betätigen sich so (ungewollt) als ‚Normalisierungsagent_innen‘ und produzieren ‚Leitkultur‘. (ebd., S. 33f.). Als Beispiel kann hier das Verbot anderer Sprachen als Deutsch in Schulen oder Jugendeinrichtungen genannt werden. Um nicht ungewollt oder unreflektiert rassistische und normalisierende Strukturen zu reproduzieren ist es also auch für Praktiker_innen der Sozialen Arbeit wichtig zu erkennen, dass sie nicht in einem machtfreien Raum arbeiten und dass gesellschaftliche Dominanzverhältnisse nicht nur außerhalb der Türen ihrer Einrichtung wirken, sondern in komplexer Weise auch in der Einrichtung selbst. (Wagner/ Sulzer 2011, S. 219) Dennoch tun sie sich auch heute weiterhin schwer, das eigene Handeln in den Kontext von institutioneller Diskriminierung und Rassismus zu stellen: „Sich nichts ‚zuschulden kommen zu lassen‘, scheint nach wie vor wichtiger zu sein als die Konsequenzen, die pädagogisches Handeln unter rassistischen Bedingungen für die von Rassismus und Diskriminierung Betroffenen haben kann oder hat“ (Kalpaka 2011, S. 25). 3.3 Grundvoraussetzungen für eine rassismuskritische pädagogische Praxis Doch welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, um eine herrschafts- und rassismuskritische praktische Soziale Arbeit zu ermöglichen? Zunächst einmal muss die Bereitschaft bestehen überhaupt anzuerkennen, dass es Rassismus in unserer Gesellschaft gibt und dass auch die Akteure_innen der Sozialen Arbeit ein Teil davon sind. Dabei kommt es insbesondere darauf an, die eigene Beziehung

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zum Rassismus zu thematisieren und der eigenen ‚weißen Dominanzposition‘ gewahr zu werden. (Messerschmidt 2012, S. 12) Darüber hinaus muss sich auch die pädagogische Praxis immer wieder mit der aktuellen Theoriebildung auseinandersetzen und reflektieren, inwieweit sie den theoretischen Prämissen standhält. Gleichzeitig muss sich Theoriebildung natürlich auch an den Erfahrungen der Praxis messen. (Broden 2012, S. 28) Konflikte, bei denen Beteiligten ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, werden (wie oben beispielhaft dargestellt) oft reflexartig als Kulturkonflikte betrachtet. Ganz abgesehen davon, dass es bei Konflikten generell auch immer darum gehen muss, konkrete Sachfragen und Interessenlagen zu klären, liegt eine rassismuskritische Erweiterung der Perspektive zweifellos darin, wahrzunehmen, dass solche Konflikte auch mit anderen Unterschieden verbunden sein können (Leiprecht 2011, S. 251). Diese können beispielsweise Generationenunterschiede, Geschlechterunterschiede, Unterschiede in der sozialen Schicht, etc. sein. Eine Bearbeitung des Konfliktes, die sich in solchen Fällen auf vermeintliche Kulturunterschiede beschränkt, ist nicht nur unangemessen, sondern unterstützt auch die Sortierung von Menschen in vorgefertigte Schubladen. Der Umgang mit verschiedenen Diskriminierungsformen wie Geschlecht, Homosexualität oder Rassismus ist daher stets als Querschnittsaufgaben zu sehen3 (ebd., S. 252). Dies führt uns zu einem weiteren zentralen Element rassismuskritischer Sozialer Arbeit, nämlich der bereits mehrfach angesprochenen Thematisierung und Reflexion der eigenen Verstrickung in die rassistischen Verhältnisse. Dabei geht es insbesondere um Fragen wie: Wo werde ich durch rassistische (Wahrheits-)Diskurse beeinflusst, inwiefern profitiere ich von diesen Diskursen, wie positioniere ich mich gegenüber diesen Diskursen, etc. Der pädagogische Umgang mit diesen Fragen ist jedoch „ein schwieriges Unterfangen, da leicht der Eindruck entstehen kann, jemanden des Rassismus überführen zu wollen bzw. des Rassismus überführt worden zu sein“ (Machold 2011, S. 392). In Deutschland dominieren nach wie vor individualistische Erklärungsansätze, wie Vorurteilskonzepte und psychologische Erklärungen zu Fremdenfeindlichkeit, die das Phänomen individualisieren, pathologiesieren und einer marginalen gesellschaftlichen Gruppe zuordnen. Dadurch entsteht das Gefühl der persönlichen Unzulänglichkeit und Schuldhaftigkeit, sobald die eigene Verstricktheit in rassistische Strukturen adressiert wird. Rassismus als gesellschaftliches Problem wird darüber hinaus bis heute in der deutschen Öffentlichkeit mit der nationalsozialistischen Diktatur verbunden, was Zu beachten ist dabei aber stets, dass auch genannte Differenzlinien wie Geschlecht, Generation, soziale Schicht wiederum mit Zuschreibungsprozessen und Festlegungen verbunden sein können. Ein Ignorieren solcher Ungleichheitsdimensionen würde jedoch mögliche Veränderungsprozesse verhindern und dazu beitragen, dass Macht, Dominanz und Privilegien auf der Seite derjenigen, die sich diesbezüglich eine Ignoranz am ehesten leisten können, nicht thematisiert werden.

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nicht zuletzt zu einer Tabuisierung des Begriffes geführt hat. (ebd., S. 392f.) Als erfolgversprechend für die Thematisierung eigener Verstrickung betrachtet Astrid Messerschmidt daher den Einsatz der Analysekategorie „Whiteness“. Diese steht für eine Markierung, die Weißen auch in einer postnationalen Konstellation die Privilegierung nationaler Zugehörigkeiten sichert, ohne dass sie als solche benannt werden muss. Die Kategorie Whiteness beschreibt daher auch keine Identität, sondern macht darauf aufmerksam, dass jeder Person – auch weißen Menschen – ein Platz im rassistischen Machtverhältnis zugeschrieben wird. (Messerschmidt 2012, S. 16): „Wer Rassismen analysieren will stößt auf die eigene strukturelle Verwobenheit mit dem Problem – sei es, aufgrund seiner eigenen Diskriminierungserfahrung oder aufgrund der eigenen privilegierten sozialen Position, in der Whiteness unsichtbar gemacht wird, weil sie der unausgesprochenen Norm entspricht“ (ebd.).

Aus einer solchen Perspektive heraus kann kein Standpunkt eingenommen werden, der außerhalb rassistischer Normalität liegt. Genau davon auszugehen wäre ein Ansatzpunkt für eine rassismuskritische Analyse der eigenen Praxis. Eine in diesem Sinne rassismuskritische Reflexion der konkreten pädagogischen Praxis bezieht sich dabei stets auf die jeweils Handelnden und nimmt sie in ihren Handlungsbedingungen und Handlungsmöglichkeiten ernst indem sie nach den Folgen für diese fragt. Es geht also darum, „kritisch zu befragen, welches Wissen ihr professionelles Denken und Handeln leitet, und zwar vor allem im Hinblick auf ausgrenzende Normalitätsvorstellungen“ (Wagner/ Sulzer 2011, S. 221). Unerlässlich ist in diesem Zusammenhang ein sensibler Umgang mit Kulturalisierungen, Ethnisierungen und Essentialisierungen, sowie deren Folgen. Dazu gehört selbstverständlich auch, die eigenen Kategorien im Hinblick auf ihre Funktionalität und herrschaftsstabilisierende Funktion zu reflektieren. Dabei geht es nicht zuletzt auch um die Reflexion des vorherrschenden „Normalitätswahns“ (Broden 2012, S. 30f), also darum zu hinterfragen, wo das ‚eigene‘ stets als das ‚normale‘ betrachtet wird. Das Ziel ist es, diese Normalitätsvorstellungen zur Disposition zu stellen, zu hinterfragen und immer wieder auf’s Neue eine kritische Haltung gegenüber Normalisierungspraktiken und Normalitätsansprüchen zu erarbeiten. Auf diese Weise kann pädagogische Arbeit einen Rahmen schaffen, der es allen Beteiligten ermöglicht, sich als in Herrschaftsverhältnissen selbsttätig Handelnde gleichzeitig aber nicht vollständig von Herrschaft durchdrungene bzw. durch sie determinierte Subjekte zu verstehen (Kalpaka 2011, S. 38). 4

Rassismuskritische Bildungsarbeit

Aufbauend auf den vorangegangenen Überlegungen möchte ich im Folgenden danach fragen, inwieweit eine rassismuskritische Bildungsarbeit zu einem reflexiven

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und differenzierten Umgang mit Ereignissen, wie eingangs beschrieben, beitragen kann. Wie bereits erwähnt, wird die Lösung vermeintlich ‚kultureller Probleme‘ oftmals im Erwerb sogenannter ‚interkultureller Kompetenz‘ gesehen. Die Problematik vieler sogenannter interkultureller Ansätze ist jedoch, dass sie auf einem Bildungsverständnis beruhen, welches auf die Vermittlung „technischen Wissens“ abhebt. Dieses Wissen über die vermeintlich ‚andere Kultur‘ wird dann als hinreichende Kompetenz im Umgang mit den Anderen verstanden (Broden 2011, S. 121). Solche Ansätze werden aber der komplexen gesellschaftlichen Realität aus macht- und rassismuskritischer Perspektive keineswegs gerecht. Dass sich solche Konzepte trotzdem nach wie vor durchsetzen, verweist nicht zuletzt auch auf ihre Funktionalität und auf die Wirkmächtigkeit herrschender Logiken. (Kalpaka 2011, S. 29) In Abgrenzung zu gängigen pädagogischen Konzepten und deren „Stolpersteinen“ (Broden, 2012, S. 29) werde ich daher im Folgenden herausarbeiten, wie Rassismus zum Gegenstand pädagogischer Bildungsarbeit gemacht werden kann, mit dem Ziel Individuen zu einer reflexiven, rassismus- und machtkritischen Perspektive auf gesellschaftlichen Entwicklungen und einem kritischeren Umgang mit medialen Repräsentationen zu befähigen. 4.1 Kritik an Ansätzen interkultureller und antirassistischer Bildungsarbeit Der Fokus interkultureller Bildungsarbeit liegt meist auf ‚kulturellen Differenzen‘ und ‚interkulturellen Konflikte‘. Dies hat zur Folge, dass soziale Probleme und Ungleichheiten in der Einwanderungsgesellschaft als vorrangig kulturell bedingt angesehen werden, denen man durch ‚Begegnung‘, ‚Kennen lernen‘ und ‚Toleranz‘ entgegenwirken könne. Bei einer solchen Herangehensweise geraten jedoch rassistische Gesellschaftsstrukturen und alltägliche Formen von Diskriminierung aus dem Blickfeld. (Elverichet al. 2006, S. 9) Die Problematik des Ansatzes zeigt sich bereits in dem Begriff ‚interkulturell‘, der die Vorstellung von Kulturen als homogene Gebilde, welche einander gegenübergestellt werden können und denen Menschen jeweils zuzuordnen sind, transportiert. Die Logik des Interkulturellen folgt dabei einer horizontalen Differenz und betont das Nebeneinander verschiedener Gruppen und deren kulturellen Unterschiede. Dabei verkennt sie, dass diese vorgestellten Gruppen nicht herrschaftsfrei und gleichberechtigt nebeneinander stehen, sondern unterschiedliche (Macht-)Positionen in der Gesellschaft innehaben. ‚Vertikale‘ rassistische Strukturen werden durch die ‚horizontalen‘ Thematisierung von Interkulturalität verschwiegen. (Foitzik 2012, S. 266) Darüber hinaus wird ‚Kultur‘ als homogene Einheit gedacht, die fixiert, nicht wandelbar und durch Essentialisierungen geprägt ist. Probleme werden beinahe reflexartig auf eine vorgestellte kulturelle (bzw. ethnische) Herkunft zurückgeführt, oft gekoppelt an Dimensionen wie Religions- und Geschlechtszugehörigkeit. Als Migrant_innen

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wahrgenommenen Personen fungieren dabei als lebendige Beispiele bzw. Repräsentant_innen ihrer vermeintlichen Kultur. Die auf diese Weise konstruierten Anderen werden nicht als Subjekte angesprochen, vielmehr werden sie durch die Vermittlung dieses sogenannten ‚kulturspezifischen Hintergrundwissens‘ in den Bildungskonzepten erst erzeugt. (Broden 2011, S. 120f; Kalpaka 2011, S. 26) Der vermeintlich gewährte Raum ist somit von Fremdzuschreibungen dominiert. Dabei bleibt der Ort, von dem aus die Zuschreibungen vorgenommen werden und das ‚Wir‘, das die Position vermeintlicher ‚Normalität‘ verkörpert und das stets unausgesprochen mitkonstruiert wird, dethematisiert. Die Dichotomisierung der Gesellschaft in ein dazugehöriges ‚wir‘ und ein ausgeschlossenes ‚sie‘ wird durch einen interkulturellen Ansatz nicht aufgebrochen und ist daher nicht geeignet, strukturelle Diskriminierungsformen in den Blick zu nehmen. Rassismus wird vielmehr als individuelles Problem gesehen, welches auf falsches oder fehlendes Wissen zurückzuführen ist und welches durch die Vermittlung ‚richtigen Wissens‘ gelöst werden kann. Ansätze, die Kultur in dieser Weise thematisieren werden somit oft selbst zum Problem. „Interkulturelle Ansätze“, so Rudolf Leiprecht, „müssen also auf jeden Fall mit rassismuskritischen Perspektiven verbunden werden“ (ebd. 2011, S. 251). Auch an Konzepten der antirassistischen Bildungsarbeit wurde vielfach Kritik geübt und auch hier ist bereits der Titel problematisch. So suggeriert der Begriff „antirassistisch“, es gäbe einen Ort außerhalb rassistischer Verhältnisse, einen Ort, von dem aus eine solche antirassistische Arbeit praktiziert werden könne (Elverich et al. 2006, S. 16). Eine weitere Schwierigkeit vieler dieser Ansätze ist, dass antirassistischen Konzepten meist ein moralisierender Unterton inhärent ist. Rassismus wird als moralisch verwerflich betrachtet und damit individualisiert. Es herrscht ein Regime der (politischen) Korrektheit. Dieser Moralismus und die damit einhergehende Normativität verhindern dann oftmals gerade die Thematisierung und Auseinandersetzung mit den eigenen Rassismen. Eine solche De-Thematisierung der eigenen Verstrickung in rassistische Strukturen führt jedoch nicht zum Abbau rassistischer Realitäten (Broden 2012, S. 27ff.). Auch häufig angeführte Nützlichkeitsargumente, die die diskriminierten ‚Anderen‘ in Schutz nehmen und darstellen warum ‚wir‘ die ‚Anderen‘ brauchen, sind aus rassismuskritischer Sicht eher kontraproduktiv 4. So wird durch die Betonung der Bereicherung ‚unserer‘ Kultur durch die Kulturen der ‚Anderen‘ lediglich die gesellschaftliche Dichotomisierung sowie die Homogenisierung und Essentialisierung gestärkt. Die Anderen werden konstruiert indem sie auf ein statisches kulturelles Phänomen reduziert werden. Während ‚wir‘ die Möglichkeit haben ‚uns‘ Zu nennen sei hier zum Beispiel der Verweis auf die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland mit einer rückläufigen Geburtenrate und dem Argument, ‚wir‘ bräuchten ‚die Migrant_innen‘ für die Sicherung ‚unseres‘ Rentensystems, oder der Bereicherung ‚unserer‘ Gesellschaft durch kulturelle Vielfalt, verstanden als Folklore. 4

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selbst zu erfinden, werden ‚sie‘ mit Zuschreibungen und Essentialisierungen belegt (Broden 2012, S. 29). Zudem ist solchen Nützlichkeitsargumentationen häufig auch ein (wohlmeinender) Paternalismus inhärent, der die vermeintlichen Opfer zu passiven Objekten macht. (Machold 2011, S. 387) Schließlich festigen sie vorhandene Machtasymmetrien eher anstatt sie zu dekonstruieren, da die ‚Anderen‘ stets auf die Legitimierung ihres Daseins durch ‚uns‘ angewiesen sind (Broden 2012, S. 29). 4.2 Konsequenzen für eine rassismuskritische Bildungsarbeit An diese Kritik anknüpfend und um deutlich zu machen, dass „Antirassismus“ innerhalb rassistischer Verhältnisse ein nicht einzulösender Anspruch ist, schlägt Paul Mecheril den Begriff „rassismuskritisch“ vor (ebd. 2012, S. 19). Nach Claus Melter versteht ein diskriminierungs- und rassismuskritischer Bildungsansatz Bildung – im Gegensatz zur reinen Vermittlung „technischen Wissens“ – als reflexive und gerechtigkeitsorientierte selbst- und gruppenbezogene Auseinandersetzung, als Aneignungs-, Kommunikations- und Lebensbewältigung sowie als Wissensund Handlungsmöglichkeitszuwachs und Reflexionspraxis, die im Angewiesensein auf und in der Kommunikation mit anderen Personen und Inhalten entstehen kann und auf gerechtere Lebensverhältnisse und gleiche Rechte für alle abzielt (ebd. 2015, S. 14f.). Doch wie kann eine solche Bildungsarbeit nun praktisch aussehen? Eher wenig überraschend mag die Prämisse sein, Wissen über Rassismus zu vermitteln. Dabei geht es sowohl um die Vermittlung allgemeinen rassismustheoretischen Wissens, als auch um die Vermittlung von geschichtlichem Wissen sowie von Kenntnissen der empirischen Rassismusforschung (Mecheril 2012, S. 20) Darüber hinaus ist es wichtig, sich mit sprachlichen Gewohnheiten, bestimmten Begriffen, deren Bedeutung und gesellschaftlicher Funktion auseinanderzusetzen und diese zu reflektieren und zu hinterfragen5. Die Arbeit an und mit Begriffen ist von Bedeutung, da es keine herrschaftsfreie Sprache gibt und ein unreflektierter

5 Als Beispiel könnte hier der Umgang mit und die Hintergründe von diskriminierenden Begriffen, wie dem „N-Wort“ diskutiert werden. Aber auch die Auseinandersetzung mit Begriffen, die auf den ersten Blick nicht rassistisch sind spiegeln unter Umständen dichotome und ausgrenzende Logiken wider. So lohnt sich beispielsweise eine Auseinandersetzung mit dem Begriff „Ausländerfeindlichkeit“: Beschreibt dieser tatsächlich nur Phänomene, die Ausländer betreffen – also Personen, die keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen? Und betrifft er auch alle Ausländer, zum Beispiel amerikanische Touristen? Was ist dann mit einer Feindlichkeit gegenüber Personen mit deutschem Pass, die aber arabisch aussehen? Und ist „Ausländerfeindlichkeit“ tatsächlich im Sinne einer „Feindlichkeit“ stets auf der individuellen (Vorurteils-)Ebene zu verorten? Was ist mit strukturellen Ausgrenzungen? Etc.

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Gebrauch dieser dazu führt, Dominanzverhältnisse zu reproduzieren und festzuschreiben. (Elverich et al. 2006: S. 17) Sprache kann dazu genutzt werden, die Aushandlungsprozesse eines rassismuskritischen Diskurses widerzugeben, sie ist eine Arena, in der sich Entwicklungen hin zu einer Anerkennung von Pluralität vollziehen können. Eine rassismuskritische Sprache ist sich ihrer Unabgeschlossenheit und Relativität bewusst. In der Auseinandersetzung um die Dilemmata der Bezeichnungen ist es jedoch wichtig zwischen selbstgewählten und fremd zugeschriebenen Bezeichnungen zu unterscheiden (Broden 2012, S. 29). Eine – wenn nicht die – zentrale Kompetenz für das Erkennen und Hinterfragen der eigenen Verstrickung in gesellschaftliche Machtstrukturen, ist die Fähigkeit zur (Selbst-)Reflexion. Eine Stärkung dieser Fähigkeit muss daher ein zentrales Anliegen rassismuskritischer Bildungsarbeit sein. Nur so können Personen in die Lage versetzt werden, ihre eigene Position in dieser Gesellschaft, die Bedeutung und Auswirkungen bestimmter Begriffe sowie rassistischer Wissensbestände, vorherrschende Normalitätsvorstellungen und Dichotomien, etc. kritisch zu reflektieren und infrage zu stellen. Der Blick auf die Anderen muss dabei aus einer rassismuskritischen Perspektive jedoch stets in dialogischen Prozessen und auf der Basis gegenseitiger Anerkennung geschehen (Broden 2012, S. 30f; Broden 2011, S. 130). Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen machtvoller Repräsentationsverhältnisse. Das bedeutet, es muss stets reflektiert und transparent gemacht werden, wer über wen aus welcher Position heraus spricht. Wer wird dabei zur Darstellung gebracht? Und wer profitiert davon? Dies eröffnet einen Blick auf Partizipationschancen und -verweigerungen und sensibilisiert für unterschiedliche Perspektiven und differierende Positionen von Minderheits- und Mehrheitsangehörigen (Broden 2011, S. 123). Die Thematisierung von Zugehörigkeitserfahrungen und Zuschreibungsmustern ist ein weiterer wichtiger Baustein rassismuskritischer Pädagogik. Dabei geht es zum einen um pädagogische Ansätze, die sich mit Erfahrungen, Selbst- und Fremdwahrnehmungen und Zugehörigkeitsmustern, aber auch um den Umgang mit eigenen Rassismen beschäftigen. Zuschreibungen von ‚Anderssein‘ und ‚Fremdheit‘, die an rassistische Unterscheidungen anschließen, müssen gemeinsam reflektiert werden und es muss über alternative Zugehörigkeitsmöglichkeiten nachgedacht werden. Dies soll nicht zuletzt die Ausbildung pluraler Identitäten durch das Pendeln zwischen verschiedenen Zugehörigkeitskontexten ermöglichen und befördern (Broden 2011, S. 128). Wichtig ist dabei aber immer mitzudenken, dass durch die Beschäftigung mit Zugehörigkeitserfahrungen stets die Gefahr besteht, Dominanz zu reproduzieren. Daher ist es entscheidend, dass parallel dazu eine eingehende Beschäftigung mit den Räumen und Kontexten, in denen diese stattfindet, erfolgt (Mecheril, 2012, S. 20).

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Last but not least muss in und durch rassismuskritische Bildungsarbeit eine Dekonstruktion binärer Schemata stattfinden. Der Kern rassistischen Denkens besteht in der simplen Figur der herabwürdigenden und benachteiligenden Unterscheidung zwischen einem natio-ethno-kulturellen ‚Wir‘ und ‚Nicht-Wir‘, die durch ein komplexes System gesellschaftlicher Praktiken (von der Gesetzgebung über Mediendarstellungen bis hin zu individuellen Habitualisierungen) aufrechterhalten wird. Durch eine reine Umverteilung materieller und symbolischer Güter bliebe diese binäre Logik jedoch nicht nur unangetastet, sondern würde sogar noch bestätigt. Die Methode der Dekonstruktion ist geeignet um binäre Oppositionen freizulegen, zu hinterfragen und damit die Veränderlichkeit von Bedeutungen aufzudecken. Das Ziel dabei ist die Abgrenzung von einer Lesart, die Identitäten als voneinander disparate und unterscheidbare Einheiten betrachtet, hin zu einer Lesart von Mehrfachzugehörigkeiten und hybriden Identitäten. Es geht darum, dekonstruktive Strategien zu etablieren, die mit binären Oppositionen einhergehende Wertungen und Ausschlüsse deutlich und sichtbar machen und die Heterogenität der Identitäten hervorheben (Mecheril 2012, S. 19f). Im Kern bedeutet rassismuskritische Bildungsarbeit also, verstehens- und herrschaftskritische sowie selbstreflexive Prozesse in den Mittelpunkt der praktischen Arbeit zu stellen (Broden 2011, S. 131). 5

Rassismuskritische Soziale Arbeit – ein herausforderndes aber notwendiges Unterfangen

Rassismuskritische Soziale Arbeit muss also als ein Prozess begriffen werden, der eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit und Wachsamkeit gegenüber den häufig subtilen Mechanismen von Privilegien, ausgrenzenden Normalitätsvorstellungen und Diskriminierung erfordert (Wagner/ Sulzer 2011, S. 221). Dies mag nicht immer ganz einfach und in der Praxis durchaus mit verschiedenen Schwierigkeiten verbunden sein. Hier seien beispielsweise die vielschichtigen, sich verändernden und manchmal widersprüchlichen Bedeutungen von Ethnizität und Rassismus in der subjektiven Erfahrungswelt der beteiligten Kinder und Jugendlichen, Eltern oder pädagogischen Fachkräfte genannt (Gomolla 2011, S. 55). Auch kann im Kontext von Ausgrenzung und Ungleichbehandlung ein Spannungsverhältnis entstehen, zwischen dem Anspruch Kinder gleich zu behandeln (und der damit verbundenen Gefahr Erfahrungen von Rassismus und Diskriminierung auszublenden und nicht zu intervenieren) und der Gefahr Kinder zu besonderen, indem von Rassismus betroffene Kinder besondere Beachtung und Behandlung erfahren und sie damit etikettiert werden (Wagner/ Sulzer 2011, S. 220). Schließlich besteht eine der größten Herausforderungen rassismuskritischer Arbeit darin, dass man, um die ausgrenzenden Folgen von Festschreibungen in Gesetzen

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und Praxen sichtbar zu machen und die daraus zu ziehenden Konsequenzen zu begründen, diese benennen muss. So muss man sich stets auf Kategorien beziehen, die man eigentlich dekonstruieren und auflösen möchte und läuft Gefahr, diese dadurch zu reproduzieren und festzuschreiben – was einen reflexiven Umgang mit diesen Kategorien umso wichtiger macht. (Kalpaka 2011, S. 29) Eine rassismuskritische Perspektive einzunehmen ist damit, wie es Wiebke Scharathow (2014) in ihrer Studie zu Rassismuserfahrungen bei Jugendlichen treffend formulierte, „ein ambivalentes, komplexes und herausforderndes Unterfangen. Es bedeutet […] vermeintliche Selbstverständlichkeiten und Normalitäten zu hinterfragen sowie etablierte Kategorien und ihre Bedeutungsinhalte hinsichtlich ihrer Machtförmigkeit und der ihr inne wohnenden Herrschaftsinteressen kritisch zu beleuchten, Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen subjektivem Erleben und Handeln und gesellschaftlichen Verhältnissen deutlich zu machen sowie Strukturen und Bedingungen der ungleichen Repräsentationsverhältnisse und Handlungsmöglichkeiten zu identifizieren und zu kritisieren“ (ebd., S. 79f).

Rassismus, seine Thematisierung und der Widerstand gegen ihn wird immer ein heikles Thema bleiben und mit Verunsicherung einhergehen. „Aus diesem Grund bedarf es des Mutes, Verunsicherung, Mehrdeutigkeit, Fehlermöglichkeit, Machtabgabe in der Pädagogik und insbesondere für pädagogisches Handeln ernst zu nehmen“ (Machold 2011, S. 394). Dennoch ist es ein unverzichtbares Unterfangen, wollen wir den gesellschaftlichen Entwicklungen, wie zu Beginn beschrieben, etwas entgegensetzen. Der politische, mediale und gesellschaftliche Umgang mit Ereignissen wie sie sich in Köln zugetragen haben, zeigen, dass Rassismus nicht als Problem einer rechtsextremen Minderheit betrachtet werden kann. Ebenso wenig kann es auf die Vorurteile Einzelner reduziert werden. Rassismus muss vielmehr als gesellschaftliches Verhältnis betrachtet werden. Das bedeutet, dass wir alle darin verstrickt sind – ob wir wollen oder nicht. Herrschafts- und rassismuskritische Soziale Arbeit kann und muss einen Raum bereitstellen, in dem diese Verstrickungen aufgedeckt und diskutiert werden. Ihr Ziel ist es daher, die Sensibilität gegenüber sozialen Machtverhältnissen und gesellschaftlichen Ungleichheiten zu erhöhen, indem bestehende Normalitätsvorstellungen, Zugehörigkeitskategorien und Dichotomien, reflektiert und dekonstruiert werden. Die Aufgabe rassismuskritischer Bildungsarbeit ist es, Menschen dazu zu befähigen, in einer selbstreflexiven und kritischen Weise mit diesen Themen umzugehen.

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Autorinnen und Autoren Baldschun, Andreas, M.Soc.Sc.-International Social Work, Dipl.-Soz.-Päd., staatlich anerkannter Sozialarbeiter in Deutschland und Finnland. Die Dissertation in Sozialwissenschaften zum Thema berufliches Wohlbefinden von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen ist bei Erscheinung dieses Buches zur Begutachtung eingereicht. Arbeitsschwerpunkte: Erwachsenensozialarbeit, Sozialarbeit mit Flüchtlingen und Migranten, Kinder- und Jugendhilfe, insbes. ergänzende Hilfen zur Erziehung, systemisches Denken und Handeln, Sozialpädagogik, Internationale Soziale Arbeit, berufliches Wohlbefinden von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen. Kontakt: [email protected] Bathke, Sigrid A., Prof. Dr. phil., Dipl.-Päd., Dipl.-Soz.päd, Professorin für Soziale Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe an der Fakultät Soziale Arbeit der Hochschule für angewandte Wissenschaften Landshut. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe, Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung, Frühe Hilfen, Kooperation zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Schule. Kontakt: [email protected] Beste, Hubert, Prof. Dr. phil. habil., Politologe und Soziologe, Leiter des Projekts „Demenz-Context Landshut - DemConLA“ (BMBF, Silqua-FH, 2012-2015); seit 2005 Hochschullehrer für Sozialarbeitswissenschaft und Sozialarbeitsforschung an der Fakultät Soziale Arbeit der Hochschule für angewandte Wissenschaften Landshut. Kontakt: [email protected] Borrmann, Stefan, Prof. Dr. phil., Dipl.-Päd., Professor für internationale Sozialarbeitsforschung an der Fakultät Soziale Arbeit der Hochschule für angewandte Wissenschaften Landshut, Dekan der Fakultät, Mitglied des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA). Arbeitsschwerpunkte: Theorien der Sozialen Arbeit, Jugend und Jugendarbeit, Internationale Aspekte der Sozialen Arbeit. Kontakt: [email protected] Fedke, Christoph, Prof. Dr. phil. , Dipl. Pol., Dipl. Soz. Päd. (FH), Professor für Sozialwirtschaft und politische Aspekte der Sozialen Arbeit mit Schwerpkt. (Europäische) Sozialpolitik an der Fakultät Soziale Arbeit der Hochschule Landshut. Kontakt: [email protected] Knauer, Veronika, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Interdisziplinäre Studien und Lehrbeauftragte an der Fakultät für Soziale Arbeit der Hochschule für angewandte Wissenschaften Landshut. Arbeitsschwerpunkte: rassismuskritische sowie macht- und herrschaftskritische Perspektiven auf die Migrationsgesellschaft. Kontakt: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Borrmann et al. (Hrsg.), Soziale kohäsion und gesellschaftliche Wandlungsprozesse, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25759-0

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Autorinnen und Autoren

Kühbeck, Bettina, Prof. Dr. jur., Professorin für Recht an der Fakultät Soziale Arbeit der Hochschule für angewandte Wissenschaften Landshut. Arbeitsschwerpunkte: Grundlagen des Rechts in der Sozialen Arbeit, insb. Europarecht, Familienrecht, Sozialrecht und Strafrecht. Kontakt: [email protected] Liel, Katrin, Prof. Dr. rer. biol. hum., M.A., Dipl. Sozialpäd. (FH), Professorin für Soziale Arbeit und Gesundheit an der Fakultät Soziale Arbeit der Hochschule für angewandte Wissenschaften Landshut. Vorstandsmitglied des BayWISS Verbundkollegs Sozialer Wandel, Leiterin der Fachgruppe „Gesundheitsförderung und Prävention“ der Deutschen Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen (DVSG). Arbeitsschwerpunkte: Gesundheitsbezogene Soziale Arbeit, Gesundheitsförderung, Prävention, Suchthilfe, Klinische Sozialarbeit. Kontakt: [email protected] Moisl, Dominique, Prof. Dr. rer. medic., Dipl.-Soz., Professor für sozialwissenschaftliche Aspekte der Sozialen Arbeit und Sozialplanung an der Fakultät Soziale Arbeit der Hochschule für angewandte Wissenschaften Landshut. Arbeitsschwerpunkte: Gesellschaftsstruktur, gesellschaftlicher Wandel und gesellschaftliche Steuerung, Organisation sozialer Dienste, Methoden der empirischen Sozialforschung, Sozialplanung, Organisationsforschung und Organisationsentwicklung. Kontakt: [email protected] Spatscheck, Christian, Prof. Dr. phil., Dipl.-Päd., Dipl.-Soz.-Arb., Professor für Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit an der Fakultät Gesellschaftswissenschaften der Hochschule Bremen, Visiting Scholar an der Universität Lund, Visiting Professor an der Universität Pisa. Mitglied des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA). Arbeitsschwerpunkte: Theorien und Methoden Sozialer Arbeit, insbes. sozialraumbezogene Arbeitsansätze, systemisches Denken und Handeln, Sozialpädagogik, Kinder- und Jugendhilfe, insbes. Jugendarbeit, sowie Internationale Soziale Arbeit. Kontakt: [email protected] Thiessen, Barbara, Prof. Dr. phil., Dipl. Sozialpädagogin und Supervisorin, Professorin für Gendersensible Soziale Arbeit an der Hochschule Landshut, Leiterin des Instituts Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung (IKON), Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA); Arbeitsschwerpunkte: Genderdynamiken in intersektioneller Perspektive, Gender und Care im Kontext sozialer Ungleichheitslagen und Migration, Familie und Familienpolitik im sozialen Wandel, Professionalisierung in personenbezogenen Dienstleistungen. Kontakt: [email protected]

Autorinnen und Autoren

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Wiest, Anja Katharina Helga Theresa, M.A. Klinische Sozialarbeit und B.A. Soziale Arbeit an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Landshut, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Landshut im Forschungsprojekt „Demenz-Context Landshut - DemconLA“ (2012-2015), seit 2016 in postgradualer Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin am Centrum für integrative Psychotherapie (CIP) München Kontakt: [email protected] Wolff, Mechthild, Prof. Dr. phil., Magister Artium (M.A.) Erziehungswissenschaft, Kinderund Jugendpsychiatrie, Evangelische Theologie, Professorin für erziehungswissenschaftliche Aspekte Sozialer Arbeit, Studiengangsleiterin des BA-Studiengangs Soziale Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe, Leiterin der Forschungsgruppe „Kinderschutz in Institutionen“ an der Hochschule Landshut. Sprecherin der Lehrbuchreihe „Studienmodule Soziale Arbeit“ bei Beltz Juventa, Mitglied des Beirats beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM). Arbeitsschwerpunkte: Erziehungswissenschaftliche Grundlagen, Kinder- und Jugendhilfe, Beteiligung und Schutz als pädagogische Grundprämissen, Schutzkonzepte und Kinderschutz in Organisationen. Kontakt: [email protected]